Kirche Weitental

†  Gott ist die Liebe - Er liebt dich  †

 Gott ist der beste und liebste Vater, immer bereit zu verzeihen, Er sehnt sich nach dir, wende dich an Ihn
nähere dich deinem Vater, der nichts als Liebe ist. Bei Ihm findest du wahren und echten Frieden, der alles Irdische überstrahlt

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Heiligste Dreifaltigkeit, ein Gott Maria Valtorta - Der Gottmensch

Band 6

 

Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte. Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.

Das Werk kann man hier in Buchform erwerben:

Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch

Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
 



Nur zu Testzwecken!

Inhalt
 

Band VI:
Drittes Jahr des öffentlichen Lebens Jesu (Fortsetzung)

365. Sturm und Wunder auf dem Schiff. S. 9
366. Ankunft und Landung in Seleucia. S. 14
367. Von Seleucia nach Antiochia. S. 18
368. Sie begeben sich nach Antigonea. S. 25
369. Der Abschied von Antiochia. S. 32
370. Die Rückkehr der acht Apostel in Achsib. S. 43
371. Aufenthalt in Achsib mit sechs Aposteln. S. 51
372. Verkündigung der Frohen Botschaft auf dem Wege nach Phönizien. S. 53
373. Jesus in Alexandroscenae. S. 57
374. Am Tag danach in Alexandroscenae. S. 61
375. Der Hirte Ann begleitet Jesus nach Achsib. S. 75
376. Die Kananäische Mutter. S. 80
377. Bartholomäus versteht den Grund. S. 91
378. Auf dem Rückweg nach Galiläa. S. 96
379. Begegnung mit Judas Iskariot und Thomas. S. 98
380. Ismael Ben Fabi. S. 106
381. Jesus mit seinen Vettern und mit Petrus und Thomas in Nazareth. S. 119
382. Die gekrümmte Frau von Chorazim. S. 123
383. Der unfruchtbare Feigenbaum; Auf dem Weg nach Sefed. S. 127
384. Auf dem Weg nach Meiron. S. 134
385. Am Grabe Hillels in Gischala. S. 138
386. Der an der phönizischen Grenze geheilte Taubstumme. S. 145
387. Jesus in Kedes. S. 150
388. Auf dem Weg nach Caesarea Philippi. S. 159
389. In Caesarea Philippi. S. 164
390. Auf der Burg von Caesarea Philippi. S. 171
391. Jesus sagt zum ersten Mal seine Leiden voraus; Petrus wird getadelt. S. 175
392. Prophezeiungen über Petrus und Margziam; Der Blinde Bethsaida. S. 185
393. Von Kapharnaum nach Nazareth mit Manaen den Jüngerinnen. S. 188
394. Die Verklärung die Heilung des Epileptiker. S. s200
395. Belehrung der Apostel nach der Verklärung. S. 210
396. Die Tempelabgabe und die Münze im Schlund des Fisches. S. 212
397. Der Grösste im Himmelreich. Der kleine Benjamin von Kapharnaum. S. 216
398. Benjamin blieb treu bis in den Tod. S. 229
399. Die zweite Brotvermehrung. S. 229
400. Das geistige Wunder der Vermehrung des Wortes. S. 232
401. Das Brot das vom Himmel. S. 234
402. Der neue Jünger: Nikolaus von Antiochia. S. 247
403. Jesus auf dem Weg nach Gadara. S. 253
404. Die Nacht in Gadara und die Abreise; Die Ehescheidung. S. 259
405. Jesus in Pella. S. 269
406. Jenseits Jabes Galaadim Hause des Matthias. S. 277
407. Die geheilte 'Aussätzige' (Die Rose von Jericho). S. 285
408. Wunder am Jordan bei Hochwasser. S. 297
409. Am anderen Ufer; Begegnungen mit der Mutter. S. 307
410. In Rama; Die Zahl der Auserwählten. S. 313
411. Jesus im Tempel; Vaterunser; Gleichnis über die Söhne. S. 321
412. Jesus in Gethsemane und in Bethanien. S. 330
413. Die Briefe aus Antiochia. S. 343
414. Der Donnerstag vor dem Passafest (Erster Teil). S. 354
415. Der Donnerstag vor dem Passafest (Zweiter Teil: Im Tempel ). S. 356
416. Der Donnerstag vor dem Passafest (Dritter Teil: Verschiedene Unterweisungen). S. 366
417. Der Donnerstag vor dem Passafest (Vierter Teil: Im Haus der Johanna). S. 372
418. Der Donnerstag vor dem Passafest (Fünfter Teil). S. 388

 

 

 

365. STURM UND WUNDER AUF DEM SCHIFF

Das Mittelmeer ist eine riesige, grünblaue Wasserfläche, auf der sich hohe Wellen mit schaumigen Kämmen türmen. Kein Dunst ist heute weit und breit zu sehen. Aber das Meerwasser zerstäubt bei den ständigen Brechern und verwandelt sich in salzigen, brennenden Gischt, der durch die Kleider dringt, die Augen rötet, die Nase reizt und die Luft erfüllt wie ein dichter Nebel. Alle Dinge scheinen wegen der kleinen Salzkristalle wie mit Mehlstaub überzogen. Allerdings nur da, wo die klatschenden Wellen oder die starken Sturzseen hingelangen, die das Deck von der einen zur anderen Seite überspülen, indem sie über die Reling schlagen und dann durch die Löcher wieder ins Meer zurückfließen.

Das Schiff hebt und senkt sich wie ein Halm in der Gewalt des Ozeans. Es ist zu einem Nichts geworden und knarrt und ächzt vom Kiel bis zum Mastbaum... Das Meer ist wahrhaftig zum Gebieter geworden, der das Schiff zu seinem Spielzeug macht...

Außer den Diensttuenden ist niemand mehr an Deck, und auch keine Ware mehr. Nur die Rettungsboote und die Seeleute, besonders der Kreter Nikomedes, die fast völlig nackt sind und schwankend, wie auch das Schiff schwankt, hin und her laufen, um Vorkehrungen zu treffen und zu manövrieren, was aber auf dem überfluteten, glitschigen Deck immer schwieriger wird.

Die verriegelten Schiffsluken gestatten nicht zu sehen, was auf dem Deck vor sich geht. Aber ich kann mir denken, daß die Menschen drinnen nicht gerade ruhig sind...

Ich verstehe auch nicht, wo sich das Schiff nun befindet, denn ringsum ist nur Meer, und das Ufer, das sehr gebirgig zu sein scheint – es sind wirkliche Berge, nicht nur Hügel – ist fern. Ich glaube, es muß schon mehr als ein Tag seit der Abreise vergangen sein, denn es sieht so aus, als ob es Morgen wäre, da die Sonne, die hinter dichten Wolken hervorkommt und wieder verschwindet, von Osten her scheint.

Ich glaube, daß das Schiff trotz des heftigen Schaukelns doch langsam vorwärtskommt, aber das Meer scheint immer unruhiger zu werden.

Mit ohrenbetäubendem Krachen stürzt der obere Teil des Mastbaumes herab und reißt, erfaßt von einer sich über das Deck ergießenden Wasserflut und einem gleichzeitigen Wirbelwind, ein Stück der Reling ein.

Diejenigen, die sich im Innern des Schiffes befinden, müssen das Gefühl haben, Schiffbruch zu erleiden... Und tatsächlich sieht man bald

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darauf, daß eine Luke geöffnet wird und das graue Haupt des Petrus zum Vorschein kommt. Er schaut umher und kann gerade noch rechtzeitig die Luke wieder schließen, um zu verhindern, daß ein Wasserfall zu ihm hinunterströmt. Doch als sich die Wellen einen Augenblick beruhigen, öffnet er wieder und springt heraus. Er klammert sich an die Haltestangen und beobachtet diese Hölle von einem Meer, stößt als einzigen Kommentar einen Pfiff aus und knurrt.

Nikomedes sieht ihn und schreit: «Fort, fort! Schließ die Luke. Wenn das Schiff Wasser aufnimmt, gehen wir unter. Ich bin schon froh, wenn ich die Ladung nicht über Bord werfen muß... Ich habe noch nie ein solches Unwetter erlebt! Fort, sage ich dir! Ich will keine Leute vom Festland hier. Dies hier ist keine Arbeit für Gärtner und ...» Er kann nicht weiterreden, denn eine neue Welle fegt über das Deck.

«Siehst du?» schreit er Petrus zu, der von Wasser trieft.

«Ich sehe es. Aber es regt mich nicht auf. Ich kann nicht nur Gärten pflegen. Ich bin am Wasser geboren, zwar nur an einem See... aber auch der See! ... Bevor ich Gärtner wurde, war ich Fischer, und weiß...»

Petrus ist ganz gelassen und weiß, sich mit seinen gespreizten, muskulösen Beinen auf dem schwankenden Schiff im Gleichgewicht zu halten. Der Kreter beobachtet ihn, während er versucht, sich ihm zu nähern.

«Hast du keine Angst», fragt er ihn.

«Nicht im Traume!»

«Und die anderen?»

«Drei sind Fischer wie ich, das heißt, sie waren es einmal... Die anderen, mit Ausnahme des Kranken, sind starke Leute.»

«Auch die Frau? ... Paß auf! Paß auf! Halte dich fest!»

Eine neue Wasserflut stürzt mit Macht über das Deck. Petrus wartet, bis sie vorüber ist, und sagt dann: «Diese Abkühlung hätte ich im Sommer brauchen können... Geduld! Du hast gefragt, was die Frau tut? Sie betet... und du tätest gut daran, es auch zu tun. Aber wo befinden wir uns denn jetzt genau? In der Meerenge von Zypern?»

«Wenn es nur so wäre! Dann würde ich an der Insel anlegen und abwarten, bis die Elemente sich beruhigt haben. Wir sind kaum auf der Höhe der Siedlung Julia, oder Berytus, wenn dir das besser gefällt. Aber jetzt kommt das Schlimmste... Das dort sind die Berge des Libanon.»

«Könntest du nicht die Ortschaft dort anlaufen?»

«Der Hafen ist nicht gut, es gibt Klippen und Riffe. Es geht nicht. Aufgepaßt!»

Wieder ein Wirbelwind, und abermals bricht ein Stück vom Mastbaum ab, und trifft einen Mann, der nur deshalb nicht weggeschwemmt wird, weil die Wellen ihn gegen ein Hindernis geschleudert haben.

«Geh hinein, geh hinein! Siehst du?»

«Ich sehe, ich sehe... Aber jener Mann ... ?»

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«Wenn er nicht tot ist, wird er wieder zu sich kommen. Ich kann nicht auch noch auf ihn aufpassen... siehst du! ...» Der Kreter muß wirklich ein Auge auf alles und das Leben aller haben.

«Bringe ihn mir. Die Frau wird ihn pflegen...»

«Alles, was du willst, aber geh weg! ...»

Petrus bewegt sich kriechend zu dem reglosen Mann hin, packt ihn an einem Fuß und zieht ihn zu sich heran. Er schaut ihn an und pfeift... Dann murmelt er: «Sein Kopf ist gespalten wie ein reifer Granatapfel. Der Herr müßte hier sein... Oh, wenn er hier wäre! Herr Jesus! Mein Meister, warum hast du uns verlassen?» Ein großer Schmerz liegt in seiner Stimme...

Er nimmt den Sterbenden auf seine Schulter, wobei er sich gehörig mit dessen Blut befleckt, und kehrt zur Luke zurück. Der Kreter ruft ihm zu: «Vergebliche Mühe. Nichts mehr zu machen. Du siehst es ja... !»

Aber Petrus gibt ihm, obwohl er so schwer beladen ist, ein Zeichen, als wolle er sagen: «Wir werden sehen», und er drückt sich an einen Mast, um einer neuen Woge zu entgehen. Dann öffnet er die Luke und schreit: «Jakobus, Johannes, kommt her!» und mit ihrer Hilfe läßt er den Verletzten hinab, steigt selbst hinunter und verriegelt die Luke.

Beim rauchenden Licht der Öllampen sehen sie, daß Petrus blutbefleckt ist, und fragen: «Bist du verletzt?»

Ich nicht. Das Blut ist von dem da... Aber... betet nur, daß... Syntyche, schau her! Du hast einmal zu mir gesagt, daß du Verwundete pflegen kannst. Schau dir diesen Kopf an...»

Syntyche läßt den sehr leidenden Johannes von Endor, den sie bis dahin gestützt hat, los, um zum Tisch zu gehen, auf den man den Unglücklichen gelegt hat, und betrachtet ihn.

«Eine schlimme Wunde! Zweimal habe ich eine solche bei Sklaven gesehen. Der eine wurde von seinem Herrn geschlagen und der andere in Kaprarola von einem Steinschlag getroffen. Ich brauche Wasser, viel Wasser, um die Wunde reinigen und das Blut stillen zu können...»

«Wenn du nur Wasser willst... das gibt es mehr als genug! Komm, Jakobus, nimm den Zuber. Zu zweit geht es besser.»

Sie gehen hinaus und kommen triefend zurück. Syntyche wäscht mit den eingetauchten Tüchern das Blut ab und legt Umschläge auf den Nacken... Aber es ist eine schlimme Wunde. Von der Schläfe bis zum Nacken ist der Knochen freigelegt. Dennoch öffnet der Mann etwas die Augen, stöhnt und röchelt. Instinktiv ergreift ihn die Angst, sterben zu müssen...

«Sei beruhigt, jetzt wirst du wieder gesund», tröstet ihn mütterlich die Griechin. Sie sagt es auf Griechisch, da es seine Sprache ist.

Der Mann, so benommen er auch ist, schaut Syntyche erstaunt, mit einem schwachen Lächeln an, weil er seine Muttersprache hört, und sucht

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nach ihrer Hand ... Im leidenden Mann erwacht das Kind, das sich in solchen Fällen stets nach einer Frau sehnt, die ihm Mutter ist.

«Ich versuche es mit der Salbe von Maria», sagt Syntyche, als das Blut nicht mehr so stark fließt.

«Aber sie hilft doch gegen Schmerzen...» bemerkt Matthäus, der totenbleich geworden ist, ich weiß nicht, ob wegen des Meeres, wegen des Blutes, oder wegen beidem.

«Oh, Maria hat sie mit ihren Händen zubereitet! Und ich verwende sie und bete dabei... Betet auch ihr! Schaden kann es nicht. Öl ist immer heilsam ...»

Sie geht zur Tasche des Petrus, holt, glaube ich, ein bronzenes Gefäß hervor, öffnet es, entnimmt ihm etwas Salbe und erwärmt diese im Deckel des Gefäßes an einer Lampe. Dann gießt sie die Salbe auf ein gefaltetes Linnen, gibt es auf die Kopfwunde, und legt mit Linnenstreifen einen festen Verband an. Dann bettet sie das Haupt des Verletzten, der sich allmählich zu beruhigen scheint, auf einen zusammengerollten Mantel und setzt sich betend an seine Seite. Auch die anderen beten.

Oben geht das Getöse weiter, während das Schiff unaufhörlich auf und nieder stampft. Nach einer Weile öffnet sich die kleine Luke und ein Seemann stürzt herein.

«Was ist los?» fragt Petrus.

«Wir sind in Gefahr. Ich komme, um Weihrauch und Gaben für ein Opfer zu holen ...»

«Lass diese Geschichten!»

«Aber Nikomedes will der Venus ein Opfer darbringen, denn wir sind auf ihrem Meere ...»

«Das genauso stürmisch ist wie sie», murmelt Petrus leise. Dann sagt er etwas lauter: «Kommt mit! Wir gehen auf Deck. Vielleicht gibt es etwas zu tun... Hast du Angst, bei dem Verletzten und den beiden zu bleiben?» Damit sind Matthäus und Johannes von Endor gemeint, welchen die Seekrankheit alle Kräfte genommen hat.

«Nein, nein, geht nur», antwortet Syntyche.

Während sie sich auf Deck begeben, begegnen sie dem Kreter, der versucht, den Weihrauch anzuzünden, und sie wütend anschreit, um sie zurückzuschicken: «Aber seht ihr denn nicht, daß wir ohne ein Wunder Schiffbruch erleiden? Zum ersten Mal! Zum ersten Mal, seit ich zur See fahre!»

«Paß auf, jetzt wird er dann gleich sagen, daß wir die Unheilbringer sind!» flüstert Judas des Alphäus.

Tatsächlich schreit der Mann noch lauter: «Ihr verfluchten Israeliten, was habt ihr an euch? Ihr hebräischen Hunde, ihr habt mich verwünscht! Geht weg! Jetzt bringe ich der aufsteigenden Venus ein Opfer dar...»

«Nein, durchaus nicht! Wir werden opfern ...»

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«Geht weg! Ihr seid Heiden, ihr seid Dämonen, ihr seid...»

«Höre nur, was er sagt! Ich schwöre dir, wenn du uns machen läßt, wirst du das Wunder sehen!»

«Nein! Fort mit euch!» und er zündet den Weihrauch an und schüttet, so gut er kann, Flüssigkeiten ins Meer, die er zuvor geopfert und gekostet hat, und ebenso Pulver, die ich nicht kenne. Doch die Wellen löschen den Weihrauch aus, und anstatt sich zu beruhigen, wütet das Meer immer wilder und schwemmt alle Gegenstände des Ritus und beinahe auch Nikomedes selbst fort...

«Deine Göttin gibt dir eine schöne Antwort! Nun sind wir dran. Auch wir haben eine. Sie ist aber reiner als dieses Schaumgebilde... Sing, Johannes, sing wie gestern, und wir werden einstimmen, und dann wollen wir sehen! ...»

«Ja, wir werden sehen! Aber wenn es schlimmer wird, dann werfe ich euch als Sühneopfer ins Meer.»

«Gut. Los, Johannes!»

Johannes stimmt sein Lied an, in das die anderen einfallen und sogar Petrus, der, da er unmusikalisch ist, sonst nie singt. Der Kreter schaut sie mit verschränkten Armen und einem halb erstaunten, halb spöttischen Lächeln an.

Nach Beendigung des Liedes beten sie mit ausgebreiteten Armen. Es muß das "Vater unser" sein; doch sie sagen es auf Hebräisch und ich verstehe nichts. Danach singen sie noch lauter, und so wechseln sie ohne Unterbrechung mit Gesang und Gebet ab, ohne sich um die Wellen zu kümmern, die ihnen ins Gesicht schlagen. Sie halten sich nicht einmal am Geländer fest, und doch stehen sie so sicher da, als ob sie mit dem Holz des Decks verwachsen wären. Und wirklich verlieren die Wellen langsam an Wildheit. Sie beruhigen sich nicht völlig, wie auch der Sturm sich nicht gänzlich legt: doch ist das Toben von kurz zuvor vorbei und die Wogen erreichen das Deck nicht mehr.

Der verwunderte Gesichtsausdruck des Kreters ist ein Gedicht... Petrus betrachtet ihn verstohlen und hört dabei nicht auf zu beten. Johannes lächelt und singt lauter... Die anderen stimmen in seinen Gesang ein und übertönen bald deutlich das Getöse der Wellen, das nach und nach abnimmt, so wie auch das Meer ruhiger wird und der Wind sich legt.

«Und jetzt? Was sagst du nun? ...»

«Aber was habt ihr denn gesagt? Was ist dies für eine Formel?»

«Die des wahren Gottes und der heiligen Jungfrau. Hisse nur die Segel und bringe sie wieder in Ordnung. Dort... ist das nicht eine Insel?»

«Ja, es ist Zypern... Und das Meer ist in der Enge noch ruhiger... Seltsam! Aber wer ist dieser Stern, den ihr anbetet? Wohl auch Venus, nicht wahr?»

«Den ihr verehrt, sagt man. Nur Gott betet man an. Aber nicht Venus,

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sondern Maria ist es. Maria von Nazareth, Maria die Jüdin, die Mutter Jesu, des Messias von Israel.»

«Und das andere, was war das? Das war kein reines Hebräisch ...»

«Nein, es war die Mundart unserer Heimat am See. Aber das können wir dir, der du ein Heide bist, nicht sagen. Es war das Gespräch mit Jahwe, und nur die Gläubigen können es verstehen. Leb wohl, Nikomedes, und weine dem, was versunken ist, nicht nach. Ein... Zauber weniger, der dir Unglück bringt. Leb wohl... He! Bist du zur Salzsäule erstarrt?»

«Nein... Aber... Verzeiht... Ich habe euch vorhin beschimpft!»

«Oh, das macht nichts! Auswirkungen des... des Venuskultes. Kommt, ihr Burschen, gehen wir zu den anderen...» und Petrus nähert sich glücklich lächelnd der kleinen Türe.

Der Kreter folgt ihnen: «Hört! Was ist mit dem Mann geschehen? Ist er tot?»

«Aber nein! Vielleicht können wir ihn dir bald gesund zurückgeben... Noch ein Scherz unserer... Zauberei...»

«Oh, verzeiht, verzeiht! Aber sagt, wo kann man sie erlernen, um sich damit Hilfe zu verschaffen? Ich wäre bereit, dafür zu bezahlen ...»

«Leb wohl, Nikomedes. Es ist eine lange Geschichte... und nicht erlaubt. Heilige Dinge soll man nicht den Heiden geben! Leb wohl! Alles Gute, Freund! Alles Gute!»

Petrus begibt sich, von allen gefolgt, nach unten und lacht, während auch die ruhige See lacht und ein guter Nordwestwind bläst, der die Schifffahrt begünstigt. Die Sonne geht unter, und im Osten zeigt sich ein Mond, der schon zum Vollmond neigt...

366. ANKUNFT UND LANDUNG IN SELEUCIA

In einem herrlichen Sonnenuntergang erscheint die Stadt Seleucia, eine Ansammlung weißer Gebäude am Ende der blauen Wasser des ruhigen, friedlichen Meeres. Ein heiteres Wellenspiel, das sich mit dem wolkenlosen Kobalt des Himmels und dem Purpurrot des Sonnenunterganges vermischt. Das Schiff steuert mit seinen geblähten Segeln rasch auf die ferne Stadt zu, die sich für das Fest der bevorstehenden Ankunft mit Freudenfeuern zu entzünden scheint, so sehr hat sie die sinkende Sonne mit ihren Farben bemalt.

Auf Deck stehen die Passagiere inmitten der Seeleute, die nun nicht mehr geschäftig und unruhig sind, und betrachten das immer näher kommende Ziel. Neben Johannes von Endor, der noch hagerer aussieht als bei der Abreise, sitzt der verletzte Seemann. Sein Kopf ist noch mit einer leichten Binde umwickelt und wegen des großen Blutverlustes ist er bleich

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wie Elfenbein. Doch er lächelt und spricht mit seinen Rettern und den Kameraden, die ihn im Vorbeigehen beglückwünschen, da sie ihn nun wieder an Deck sehen.

Auch der Kreter bemerkt ihn und verläßt kurz seinen Posten, den er dem Haupt der Schiffsmannschaft übergibt, um hinzugehen und seinen "guten Demetrios" zu begrüßen, der nach seiner Verletzung zum ersten Mal an Deck gekommen ist.

«Besten Dank euch allen», sagt er zu den Aposteln. «Ich habe nicht geglaubt, daß er noch davonkommen würde, nachdem er von dem schweren Mast und dem noch schwereren Eisen getroffen worden war. Wahrlich, o Demetrios, sie haben dich dem Leben zurückgegeben, denn du warst nicht nur einmal, sondern zweimal tot. Das erste Mal, als du auf Deck lagst, durch den Blutverlust ohnmächtig wurdest und durch den Wellengang ins Reich des Neptun zu den Nereiden und Tritonen geschleppt worden wärest, und das zweite Mal, als du mit diesen wunderbaren Salben geheilt worden bist. Zeige mir nun deine Wunde!»

Der Mann löst die Binde und zeigt die gut verheilte, glatte Narbe, die wie ein roter Strich am Haaransatz – die Haare sind vielleicht von Syntyche etwas abgeschnitten worden – von der Schläfe bis zum Nacken verläuft.

Nikomedes fährt mit den Fingern leicht über dieses Mal: «Auch der Knochen ist gut zusammengewachsen. Die Venus des Meeres war dir gut gesinnt! Sie wollte dich nur an der Meeresoberfläche und an den Gestaden Griechenlands haben. Möge Eros dir gewogen sein, jetzt, da wir an Land gehen, und möge er dir die Erinnerung an das Unglück und den Schrecken des Thanatos nehmen, der dich schon umklammerte.»

Welch ein Mienenspiel auf dem Gesicht des Petrus, während er sich alle diese gewählten, mythologischen Phrasen anhören muß. An den Mast eines Segels gelehnt, die Arme hinter dem Rücken, sagt er kein Wort, doch alles an ihm läßt darauf schließen, daß er daran ist, dem Heiden Nikomedes eine gesalzene Antwort zu geben, um seinen ganzen Abscheu vor dem Heidentum zum Ausdruck zu bringen.

Auch die anderen sind in der gleichen Lage... Judas des Alphäus hat das verschlossene Gesicht seiner schlimmsten Augenblicke und sein Bruder ist in sich versunken und zeigt mehr Interesse für das Meer. Jakobus des Zebedäus und Andreas ziehen es vor, die andern zu verlassen und hinabzusteigen, um das Gepäck und den Webstuhl zu holen. Matthäus spielt mit seinem Gürtel und der Zelote tut es ihm nach, indem er seine Sandalen betrachtet, als ob sie etwas Neues wären. Johannes des Zebedäus läßt sich vom Anblick des Meeres entrücken.

So offenkundig sind Verachtung und Langeweile der acht Apostel – ebenso das Schweigen der beiden Jünger, die bei dem Verletzten sitzen – daß der Kreter es bemerkt und sich entschuldigt: «Es ist unsere Religion,

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wißt ihr? So wie ihr an eure glaubt, so glaube ich, und wir alle, an unsere...»

Niemand antwortet ihm, und der Kreter sieht ein, daß es besser ist, seine Götter in Ruhe zu lassen und vom Olymp zur Erde oder besser aufs Meer, auf sein Schiff, zurückzukehren und die Apostel zu bitten, sich auf das Vorderdeck zu begeben, um sich die näher kommende Stadt anzusehen... «Seht ihr? Seid ihr schon einmal hier gewesen?»

«Ich einmal, doch bin ich auf dem Landweg gereist», sagt der Zelote ernst und kurz.

«Ah, gut! Dann weißt du also, daß der wirkliche Hafen von Antiochia Seleucia ist, daß er am Meere an der Mündung des Orontes liegt und auch Schiffe aufnehmen kann; in der wasserreichen Zeit kann man auf leichten Barken bis nach Antiochia hinauffahren. Das, was ihr dort seht, ist Seleucia, die eigentliche Stadt, das andere im Süden ist keine Stadt, es sind nur die Ruinen einer verwüsteten Ortschaft. Sie täuschen, aber es ist ein toter Ort. Die Bergkette dort ist das Pieria-Gebirge, nach dem die Stadt Seleucia Pieria genannt wird. Jene Anhöhe im Landesinnern, jenseits der Ebene, ist der Berg Casius, der sich wie ein Riese in der Ebene von Antiochia erhebt. Die Kette im Norden ist das Amanus-Gebirge. Oh, ihr werdet sehen, was für Bauwerke die Römer in Seleucia und Antiochia errichtet haben! Größere hätten sie nicht errichten können. Ein Hafen mit drei Becken, einer der besten, sowie Kanäle, Werften und Dämme. So etwas gibt es in Palästina nicht. Doch Syrien verhält sich besser als andere Provinzen des Reiches...»

Seine Worte treffen auf eisiges Schweigen. Auch Syntyche, die als Griechin weniger zurückhaltend ist als die anderen, verschließt die Lippen, und ihr Gesicht erinnert mehr denn je an die Schärfe eines auf eine Medaille ziselierten oder in ein Flachbildwerk gemeißelten Antlitzes: an das Antlitz einer Göttin, die jede Berührung mit irdischen Dingen verachtet.

Der Kreter bemerkt dies und entschuldigt sich: «Was soll ich euch sagen, im Grunde genommen mache ich meine Geschäfte mit den Römern ...»

Die Antwort der Syntyche ist scharf wie ein Schwerthieb: «Das Gold nimmt dem Schwert der nationalen Ehre und Freiheit die Schärfe», und sie sagt es auf eine solche Art und in einem so perfekten Latein, daß der andere wie vom Donner gerührt dasteht...

Schließlich wagt er zu fragen: «Bist du nicht Griechin?»

«Ich bin Griechin. Aber dir gefallen die Römer. Ich spreche zu dir in der Sprache deiner Herren, nicht in meiner, jener meines gequälten Vaterlandes.»

Der Kreter ist verwirrt, und die Apostel sind insgeheim begeistert über die Lektion, die sie dem Lobredner der Römer erteilt hat. Dieser hält es

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für besser, das Thema zu wechseln, und erkundigt sich, mit welchem Transportmittel sie wohl Antiochia erreichen könnten.

«Zu Fuß, Mann», antwortet Petrus.

«Aber es dämmert schon. Es wird Nacht sein, wenn ihr an Land geht...»

«Wir werden schon einen Platz zum Schlafen finden.»

«Oh, gewiß! Aber ihr könntet bis morgen auch hier schlafen...»

Judas Thaddäus, der gesehen hat, daß man schon alles für ein Opfer zu Ehren der Götter herbeigetragen hat, das vielleicht bei der Ankunft im Hafen dargebracht werden soll, sagt: «Das ist nicht notwendig. Wir sind dir dankbar für deine Güte, doch wir ziehen es vor, an Land zu gehen. Nicht wahr, Simon?»

«Ja, ja. Auch wir müssen unsere Gebete verrichten und ... du betest zu deinen Göttern und wir zu unserem Gott.»

«Tut, was ihr für richtig haltet. Es wäre mir eine Freude gewesen, dem Sohn des Theophilus einen Liebesdienst zu erweisen.»

«Auch wir wollten dem Sohne Gottes einen Liebesdienst erweisen, indem wir dich davon überzeugen, daß es nur einen Gott gibt. Aber du läßt dich von deiner felsenfesten Überzeugung nicht abbringen. Wie du siehst, geht es uns wie dir. Doch wer weiß, ob wir uns nicht eines Tages wiedersehen werden und ob du dann weniger hartnäckig sein wirst ...» sagt der Zelote ernst.

Nikomedes macht eine Gebärde, wie um zu sagen: «Wer weiß, wann?» Es ist eine Gebärde spöttischer Gleichgültigkeit als Antwort auf die Aufforderung, den wahren Gott anzuerkennen und von den falschen Göttern abzulassen. Dann begibt er sich an seinen Platz als Steuermann, denn der Hafen ist nahe.

«Laßt uns hinuntergehen und die Kisten holen; wir machen es selber. Ich kann es nicht mehr erwarten, mich von diesem heidnischen Gestank zu entfernen», sagt Petrus. Mit Ausnahme von Syntyche und Johannes gehen alle hinunter.

Sie, die beiden Verbannten, sitzen nebeneinander und betrachten das Ufer, das immer näher heranrückt.

«Syntyche, ein weiterer Schritt ins Unbekannte, wieder eine Trennung von der süßen Vergangenheit, und wiederum Todesangst. Syntyche... ich halte es nicht mehr aus...»

Syntyche ergreift seine Hand. Sie ist sehr bleich und sichtlich betrübt, jedoch stets die starke Frau, die Kraft zu vermitteln imstande ist. «Ja, Johannes: wieder eine Trennung, wiederum Todesangst, doch darfst du nicht sagen: ein weiterer Schritt ins Unbekannte... denn das ist nicht richtig. Wir kennen unsere Sendung hier. Jesus hat sie uns erläutert. Wir gehen daher nicht ins Unbekannte, sondern wir verschmelzen uns immer mehr mit dem, was wir schon kennen, mit dem Willen Gottes. Es ist auch

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nicht richtig zu sagen: "Wieder eine Trennung", denn wir vereinigen uns ja mit seinem Willen. Eine Trennung entzweit, wir aber vereinigen uns mit ihm, und deshalb werden wir nicht getrennt sein. Wir entbehren nur aller fühlbaren Wonnen unserer Liebe zu ihm, unserem Lehrer, indem wir uns die übersinnlichen Freuden vorbehalten und Liebe und Pflicht auf eine überirdische Ebene verlegen. Bist du nicht überzeugt, daß es so ist? Ja? Dann darfst du auch nicht sagen: "Wiederum eine Todesangst." Todesangst setzt den bevorstehenden Tod voraus. Doch wir, die wir es erreicht haben, die geistigen Vorhaben zu unserer Wohnstatt, unserem Odem und unserer Nahrung zu machen, wir sterben nicht, sondern, wir "leben". Denn das Geistige währt ewig. Daher steigen wir hinauf zu einem lebendigerem Leben, einer Vorwegnahme des großen himmlischen Lebens. Mut also! Vergiß, daß du der Mensch Johannes bist, und bedenke, daß du für den Himmel bestimmt bist. Überlege, wirke, denke und hoffe einzig und allein als Bürger dieser unvergänglichen Heimat ...»

Die anderen kommen mit ihrem Gepäck zurück, während das Schiff majestätisch in den weiten Hafen von Seleucia einläuft.

«Nun, beeilen wir uns, damit wir so schnell als möglich zur erstbesten Herberge, die wir sehen, kommen. Gewiß gibt es einige in der Nähe, und morgen ... werden wir entweder mit einem Boot oder mit einem Wagen unser Ziel erreichen.»

Unter scharfen Kommandopfiffen legt das Schiff an, und der Landungssteg wird hinuntergelassen.

Nikomedes nähert sich den Scheidenden.

«Leb wohl, Mann, und besten Dank», sagt Petrus im Namen aller.

«Sei gegrüßt, Hebräer, und Dank auch meinerseits. Wenn ihr den Weg dort einschlagt, werdet ihr gleich eine Herberge finden. Lebt wohl!»

Die Apostel steigen aus und gehen nach einer Seite, und Nikomedes nach der anderen, wo sein Altar steht, und während Petrus und die Seinen sich wie Gepäckträger beladen auf den Weg zur Herberge machen, beginnt der Heide seinen nutzlosen Ritus...

367. VON SELEUCIA NACH ANTIOCHIA

«Auf den Märkten werdet ihr bestimmt einen Wagen finden, doch wenn ihr meinen Wagen wollt, gebe ich ihn euch in Erinnerung an Theophilus, denn daß ich als ruhiger Mensch lebe, verdanke ich ihm. Er verteidigte mich, weil es gerecht war, und gewisse Dinge vergißt man nicht», sagt der alte Gastwirt, der in der ersten Morgensonne vor den Aposteln steht.

«Aber wir würden deinen Karren mehrere Tage benötigen... und wer

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würde ihn lenken? Mit einem Esel würde ich noch fertig... aber mit Pferden...»

«Das ist doch dasselbe, mein Lieber! Ich werde dir kein unbändiges Füllen geben, sondern ein kluges Zugpferd, sanft wie ein Lamm. Ihr werdet rasch und mühelos vorankommen und um die neunte Stunde in Antiochia sein, umso mehr, als das Pferd den Weg kennt und von alleine geht. Du kannst es mir zurückgeben, wann du willst, ohne daß ich dafür etwas haben will. Ich möchte nur dem Sohn des Theophilus eine Freude bereiten, indem ihr ihm mitteilt, daß ich ihm noch viel schulde, daß ich an ihn denke und mich als seinen Diener betrachte.»

«Was machen wir?» fragt Petrus die Gefährten.

«Das, was du für richtig hältst. Entscheide du, und wir gehorchen...»

«Versuchen wir es mit dem Pferd? Ich denke an Johannes... und es ist auch, damit wir schneller vorankommen... Mir ist, als würde ich jemanden zum Tode führen, und ich kann es nicht erwarten, daß alles vorbei ist...»

«Du hast recht», sagen alle.

«Gut, dann nehme ich dein Angebot an, Mann.»

«Mir ist es eine Freude, euch entgegenzukommen. Ich will das Gefährt vorbereiten.»

Der Wirt entfernt sich. Petrus läßt seinen Gedanken freien Lauf.

«Ich habe in diesen wenigen Tagen die Hälfte der mir noch verbleibenden Lebenszeit verbraucht. Welche Mühe! Welche Mühe! Hätte ich doch den Wagen des Elias, den Mantel des Elisäus gehabt, alles, nur um schnell voranzukommen... Vor allem hätte ich um jeden Preis etwas finden wollen, um diesen Armen Trost zu spenden, um sie vergessen zu lassen, um sie... Ich weiß nicht! ... Um sie nicht so sehr leiden zu sehen... Aber wenn es mir gelingt zu erfahren, wer die Hauptschuld an diesem Schmerz trägt, dann bin ich nicht mehr Simon des Jonas, wenn ich ihn nicht würge, wie man einen Lappen auswringt. Das heißt noch nicht, daß ich ihn töten würde, pfui. Aber ich würde ihm den Spaß verderben, so wie er diesen beiden Armen die Freude und das Leben verdorben hat...»

«Du hast recht, es ist gewiß eine große Pein, aber Jesus sagt, daß man Beleidigungen verzeihen soll...» sagt Johannes des Alphäus.

«Wenn man es mir angetan hätte, dann müßte ich verzeihen und wäre dazu auch imstande, denn ich bin stark und gesund und wenn mich jemand kränkt, dann habe ich genügend Kraft um zu reagieren und den Schmerz zu überwinden. Doch der arme Johannes! Nein, ich kann die Kränkung nicht verzeihen, die dem Erlösten des Herrn zugefügt wurde, einem Menschen, der dadurch vor Kummer stirbt...»

«Ich denke an die Stunde, da wir ihn endgültig verlassen werden», seufzt Andreas.

«Ich auch. Es ist ein unabweislicher Gedanke, der umso ausgeprägter wird, je mehr der Augenblick näherrückt ...» findet Matthäus.

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«Machen wir schnell, aus Mitleid», sagt Petrus.

«Nein, Simon! Verzeih, wenn ich dich darauf aufmerksam mache, daß du im Unrecht bist, wenn du das willst. Deine Nächstenliebe gerät auf Abwege, und so etwas sollte bei dir, der du immer rechtschaffen bist, nicht vorkommen», sagt der Zelote ruhig, indem er seine Hand auf die Schulter des Petrus legt.

«Warum, Simon? Du bist gebildet und gut. Erkläre mir mein Unrecht, und wenn ich es als solches einsehe, werde ich dir recht geben.»

«Deine Liebe wird ungesund, weil sie sich allmählich in Egoismus verwandelt.»

«Wie? Ich gräme mich ihretwegen und soll deshalb ein Egoist sein?»

«Ja, Bruder, weil du aus übertriebener Liebe – jede Übertreibung ist Unordnung und führt deshalb zur Sünde – schwach wirst. Du willst nicht leiden, indem du andere leiden siehst. Das ist Egoismus, Bruder, im Namen des Herrn!»

«Das ist wahr! Du hast recht, und ich bin dir dankbar, daß du mich darauf aufmerksam gemacht hast. So soll man sich unter guten Gefährten verhalten. Gut, nun werde ich keine Eile mehr haben... Aber sagt doch... gebt es zu... ist es nicht ein Elend?»

«Ja, ja», sagen alle.

«Wie werden wir sie verlassen können?»

«Ich schlage vor, daß wir, nachdem Philippus sie aufgenommen hat, vielleicht noch einige Zeit in Antiochia versteckt bleiben und uns bei Philippus erkundigen, ob und wie sie sich einleben...» rät Andreas.

«Nein, bei einem so plötzlichen Abschied würden sie zu sehr leiden», sagt Jakobus des Alphäus.

«Dann nehmen wir den Rat des Andreas zur Hälfte an. Wir bleiben in Antiochia, jedoch nicht im Hause des Philippus, und besuchen sie in immer größer werdenden Abständen... bis wir nicht mehr hingehen», sagt der andere Jakobus.

«Das wäre ein immer wieder erneuerter Schmerz und eine grausame Enttäuschung. Nein, so geht es nicht», sagt Thaddäus.

«Was sollen wir tun, Simon?»

«Ach, was weiß ich! Lieber wäre ich an ihrer Stelle, als sagen zu müssen: "Lebt wohl"», sagt Petrus verzagt.

«Ich möchte etwas vorschlagen. Wir gehen mit ihnen zu Philippus und verweilen dort. Dann gehen wir zusammen nach Antigonea – es ist ein freundlicher Ort – und bleiben eine Weile dort. Wenn sie sich dann eingelebt haben, ziehen wir uns zurück, schmerzerfüllt, aber mit fester Entschlossenheit. Dies wäre mein Vorschlag, es sei denn, daß Petrus nicht andere Anweisungen vom Meister erhalten hat», sagt Simon der Zelote.

«Ich? Nein. Er hat zu mir gesagt: "Mach alles gut, liebevoll, ohne Trägheit, ohne Hast, so wie du es für richtig hältst." Bis jetzt scheint mir,

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daß ich danach gehandelt habe. Ich kann mir nur vorwerfen, gesagt zu haben, daß ich Fischer bin! ... Aber, wenn ich das nicht gesagt hätte, hätte er mich nicht auf Deck gelassen.»

«Mach dir keine dummen Vorwürfe, Simon. Das sind Einflüsterungen des Bösen, um dich zu beunruhigen», tröstet Thaddäus.

«O ja, genau das. Ich glaube, daß er uns mehr denn je nachstellt, uns Hindernisse in den Weg legt und Angst einjagt, um uns zur Feigheit zu verleiten», sagt der Apostel Johannes und fügt leise hinzu: «Ich glaube, daß er die beiden zur Verzweiflung treiben wollte, indem er sie in Palästina zurückhielt ... und nun, da sie seinen Nachstellungen entgangen sind, rächt er sich an uns.. Ich fühle ihn in meiner Nähe wie eine im Gras versteckte Schlange, ja, schon seit Monaten verspüre ich dies. Doch da kommt der Gastwirt von der einen, und Johannes mit Syntyche von der anderen Seite. Ich werde euch das übrige sagen, wenn wir allein sind, falls es euch interessiert.»

In der Tat nähert sich von der einen Seite des Hofes das schwere Gefährt mit einem vorgespannten kräftigen Pferd, das vom Wirt geführt wird, während von der anderen Seite die beiden Jünger kommen.

«Ist es Zeit, aufzubrechen?» fragt Syntyche.

«Ja, es ist Zeit. Bist du warm gekleidet, Johannes? Geht es dir besser mit deinen Schmerzen?»

«Ja, ich bin in Wolldecken eingehüllt, und das Einreiben mit der Salbe hat mir gut getan.»

«Dann steig auf, wir kommen auch gleich...»

Nachdem sie ihr Gepäck aufgeladen haben und alle aufgestiegen sind, fahren sie zum weiten Tore hinaus, gefolgt von wiederholten Beteuerungen des Gastwirts über die Fügsamkeit des Pferdes.

Sie überqueren einen Platz, der ihnen genannt wurde, und schlagen eine Straße längs der Stadtmauer ein. Dann verlassen sie die Stadt durch ein Tor und fahren zunächst an einem tiefen Kanal und schließlich am Fluß selbst entlang.

Es ist eine schöne, gut gepflegte Straße, die in Richtung Nordosten führt, aber stets den Windungen des Flusses folgt. Auf der anderen Seite sieht man die an ihren Hängen, in ihren Einschnitten und Schluchten tiefgrünen Berge, und an sonnigen Stellen weisen die Äste des Unterholzes schon unzählige Knospen auf.

«Wie viele Myrten!» ruft Syntyche aus.

«Und Lorbeer!» fügt Matthäus hinzu.

«In der Nähe von Antiochia ist ein dem Apollo geweihter Ort», sagt Johannes von Endor.

«Vielleicht haben die Winde die Samen bis hierher geweht...»

«Vielleicht. Aber hier wachsen die verschiedensten schönen Pflanzen», sagt der Zelote.

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«Du bist schon hier gewesen, glaubst du, daß wir an Daphne vorbeikommen?»

«Gewiß. Ihr werdet eines der schönsten Täler der Welt sehen. Abgesehen von dem zu obszönen und immer wilder werdenden Orgien ausgearteten Kult, ist es ein Tal des irdischen Paradieses, und wenn dort der Glaube Einzug hält, wird es ein wahres Paradies werden. Oh, wieviel Gutes werdet ihr dort tun können! Ich wünsche euch aufnahmebereite Herzen, so fruchtbar wie Erdboden», sagt der Zelote, um tröstliche Gedanken in den beiden zu wecken. Doch Johannes neigt das Haupt, und Syntyche seufzt.

Das Pferd trabt gleichmäßigen Schrittes dahin, und Petrus schweigt und ist ganz angespannt mit dem Lenken beschäftigt, obwohl das Tier sehr sicher geht und weder Antrieb noch Führung benötigt. Sie kommen daher ziemlich rasch voran, bis sie bei einer Brücke anhalten, um etwas zu essen und das Tier ausruhen zu lassen. Die Sonne steht im Mittag, und die schöne Natur erstrahlt in ihrer ganzen Pracht.

«Aber... ich ziehe es doch vor, hier zu sein, statt auf dem Meere», sagt Petrus, indem er sich umschaut.

«Welch eine Unwetter!»

«Der Herr hat für uns gebetet. Ich habe ihn in meiner Nähe gespürt, als wir auf Deck gebetet haben... und zwar so nahe, als wäre er mitten unter uns ...» sagt Johannes lächelnd.

«Wo wird er wohl sein? Ich finde keinen Frieden, wenn ich daran denke, daß er keine Kleider zum Wechseln hat, wenn er naß wird? Was wird er wohl essen? Er ist imstande zu fasten...»

«Du kannst sicher sein, daß er es tut, um uns dadurch zu helfen», sagt Jakobus des Alphäus mit Nachdruck.

«Auch noch aus einem anderen Grunde. Unser Bruder ist seit einiger Zeit sehr betrübt. Ich glaube, daß er sich unaufhörlich kasteit, um die Welt zu besiegen», sagt Thaddäus.

«Du willst wohl sagen, den Dämon, der auf der Welt ist», sagt Jakobus des Zebedäus.

«Das ist dasselbe.»

«Doch mein Herz ist voll von tausend Ängsten, daß es ihm nicht gelingen wird...» seufzt Andreas.

«Oh! Nun da wir fern sind, wird alles besser gehen», sagt Johannes von Endor etwas verbittert.

«So darfst du nicht denken. Du und sie, ihr wart nichts im Vergleich zu den "großen Fehlern" des Messias in den Augen der Großen Israels», sagt Thaddäus mit Bestimmtheit.

«Bist du dessen sicher? Zu meinem Leiden hat sich auch noch dieser Stachel in meinem Herzen gesellt: daß mein Kommen die Ursache war, daß Jesus viel Unrecht geschehen ist. Wäre ich sicher, daß es nicht so ist, würde ich weniger leiden», sagt Johannes von Endor.

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«Hältst du mich für glaubwürdig, Johannes?» fragt Thaddäus.

«Ja, selbstverständlich!»

«Dann versichere ich dir im Namen Gottes und in meinem eigenen Namen, daß du Jesus nur ein Leid zugefügt hast: jenes, das er dich hierher schicken mußte. Mit allen seinen anderen Leiden, den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, hast du nichts zu tun.»

Das erste Lächeln nach so vielen traurigen Tagen der Niedergeschlagenheit erhellt das eingefallene Gesicht des Johannes von Endor, der sagt: «Welch eine Erleichterung verschaffst du mir! Der Tag scheint mir strahlender, mein Leiden erträglicher, mein Herz ist ruhiger... Danke, Judas des Alphäus. Danke!»

Sie besteigen wieder den Wagen, fahren über die Brücke und nehmen die Straße am anderen Ufer, die durch eine äußerst fruchtbare Gegend nach Antiochia führt.

«Seht dort! In dem malerischen Tal liegt Daphne mit seinem Tempel und seinen Hainen, und dort, in der Ebene, ist Antiochia mit seinen turmbewehrten Stadtmauern. Wir werden die Stadt durch das Tor beim Fluß betreten. Das Haus des Lazarus ist nicht weit von der Mauer entfernt. Seine schönsten Häuser sind verkauft worden. Dieses einzige, das er behalten hat, diente einst als Aufenthaltsort für die Diener und die Kunden des Theophilus. Es ist mit vielen Pferdeställen und Getreidespeichern ausgestattet. Nun lebt Philippus dort. Ein guter alter Mann, ein Getreuer des Lazarus. Ihr werdet euch dort wohlfühlen. Dann werden wir uns zusammen nach Antigonea begeben, wo das Haus war, das Eucheria mit ihren Kindern bewohnt hat, die damals noch klein waren ...»

«Diese Stadt scheint gut befestigt zu sein, nicht wahr?» fragt Petrus, der nun aufatmet, da er sieht, daß sein erster Versuch als Wagenlenker geglückt ist.

«Sehr gut. Mauern von eindrucksvoller Höhe und Breite, über hundert Türme, die, wie ihr seht, auf der Mauer stehenden Riesen gleichen, und unten die Gräben, die unüberwindlich sind. Auch der Silpius hat seine Gipfel zur Verteidigung der Stadt und zur Verstärkung der Mauer an ihrer schwächsten Stelle hergegeben ... Hier ist das Tor. Es ist besser, du hältst an und gehst hinein, indem du das Pferd am Zügel führst. Ich werde dir den Weg weisen, denn ich kenne ihn ...»

Sie fahren durch das von den Römern bewachte Tor.

Johannes, der Apostel, sagt: «Wer weiß, ob der Soldat vom Fischtor hier ist ... Jesus würde sich freuen, es zu erfahren.»

«Wir werden ihn suchen, doch nun beeile dich», befiehlt Petrus, von dem Gedanken beunruhigt, in ein fremdes Haus gehen zu müssen.

Johannes gehorcht ohne Widerrede, schaut aber jeden Soldaten, den er sieht, genau an.

Nach einer kurzen Wegstrecke erblickt man ein solide gebautes,

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einfaches Haus, oder vielmehr eine hohe Mauer ohne Fenster, und in der Mitte ein Tor.

«Wir sind da, halt an», sagt der Zelote.

«O Simon! Sei so gut, sprich du jetzt.»

«Aber ja, wenn ich dir damit einen Gefallen tun kann, will ich reden», und der Zelote klopft an das schwere Tor. Er gibt sich als Bote des Lazarus zu erkennen und geht allein hinein. Dann kehrt er mit einem hochgewachsenen, würdevollen Greis zurück, der sich tief verneigt und einem Diener befiehlt, das Tor zu öffnen, um Pferd und Wagen einzulassen. Er entschuldigt sich, daß er sie alle hier und nicht durch die Haustüre eintreten läßt.

Der Wagen bleibt in einem weiten Hof stehen, der von einer Säulenhalle umgeben ist und in dem vier große Platanen in den Ecken stehen und zwei in der Mitte zum Schutz eines Brunnens und eines Beckens, das als Pferdetränke dient.

«Sorge du für das Pferd», gebietet der Verwalter dem Diener. Dann wendet er sich an die Gäste: «Ich bitte euch, tretet ein. Gott, der mir seine Diener und die Freunde meines Herrn sendet, sei gesegnet. Befehlt, und euer Diener wird euch gehorchen.»

Petrus errötet, denn diese Worte und Verbeugungen gelten ihm, und er weiß nicht, was er sagen soll... Der Zelote kommt ihm zu Hilfe.

«Die Jünger des Messias von Israel, von denen Lazarus des Theophilus dir berichtet und die von nun an in deinem Hause leben werden, um dem Herrn zu dienen, brauchen nichts als Ruhe. Würdest du uns zeigen, wo sie wohnen können?»

«Oh, es sind immer Zimmer für Pilger bereit, wie es schon zu den Zeiten meiner Herrin Brauch war. Kommt, kommt...» und, von allen gefolgt, geht er einen Gang entlang und dann über einen kleinen Hof, in dessen Hintergrund sich das eigentliche Haus befindet. Er öffnet die Türe, geht durch eine Vorhalle und wendet sich dann nach rechts. Sie gelangen zu einer Treppe und steigen hinauf. Wiederum ein Korridor mit Zimmern auf beiden Seiten.

«Wir sind angelangt, und ich wünsche euch einen angenehmen Aufenthalt. Nun werde ich für Wasser und Wäsche sorgen. Gott sei mit euch», sagt der Greis und entfernt sich.

In den Räumen, die sie gewählt haben, öffnen sie die Fensterläden. Auf der einen Seite sieht man die Mauern und die Festungen von Antiochia, auf der anderen den ruhigen Innenhof mit den Kletterrosen, die nun der Jahreszeit entsprechend einen etwas elenden Anblick bieten.

Nach der langen Reise endlich ein Heim, ein Zimmer, ein Bett... Ein zeitweiliger Aufenthalt für die einen, das Ziel für die anderen...

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368. SIE BEGEBEN SICH NACH ANTIGONEA

«Mein Sohn Tolmai ist zum Markt gekommen. Heute, zur sechsten Stunde, wird er nach Antigonea zurückkehren. Es ist ein milder Tag. Wollt ihr nun mit ihm gehen?» fragt der alte Philippus, während er den Gästen dampfende Milch anbietet.

«Wir werden ganz gewiß mitgehen. Wann, hast du gesagt?»

«Um die sechste Stunde. Ihr könnt morgen wiederkommen, wenn ihr wollt, oder am Vorabend des Sabbat, wenn euch dies angenehmer ist. Dann werden alle Diener, die Juden sind oder den jüdischen Glauben angenommen haben, zum Gottesdienst des Sabbat kommen.»

«So werden wir es machen. Es ist nicht gesagt, daß die beiden sich nicht dort niederlassen werden.»

«Es würde mich freuen, auch wenn ich sie dadurch verliere, denn das Klima dort ist sehr heilsam, und sie könnten unter den Dienern, von denen einige schon beim alten Herrn im Dienst waren, viel Gutes wirken. Andere sind dank der Güte der gesegneten Herrin dort, die sie von grausamen Besitzern freigekauft hat. Daher sind nicht alle Israeliten, aber auch nicht mehr wirkliche Heiden. Ich spreche von den Frauen. Die Männer sind alle beschnitten. Ihr braucht keinen Abscheu zu empfinden... Doch sie sind noch weit von der Gerechtigkeit Israels entfernt. Die Heiligen des Tempels würden Anstoß an ihnen nehmen, sie, die vollkommen sind...»

«Sie, ja, ja! ... Gut! Nun werden sie Fortschritte machen können, indem sie von den Gesandten des Herrn Wissen und Güte empfangen... Hört ihr, wieviel ihr zu tun habt?» schließt Petrus, indem er sich an die beiden wendet.

«Wir werden es tun und werden den Meister nicht enttäuschen», verspricht Syntyche und geht hinaus, um das Nötige vorzubereiten.

Johannes von Endor fragt Philippus: «Glaubst du, daß ich in Antigonea auch anderen etwas behilflich sein könnte, indem ich als Erzieher arbeite?»

«Sehr gut. Der alte Plautus ist seit drei Monaten tot, und die heidnischen Kinder haben keine Schule. Was die jüdischen betrifft, so fehlt ihnen der Lehrer, denn all die unsrigen fliehen aus jenem Ort bei Daphne. Es bräuchte einen, der... der ist... wie Theophilus war... ohne Härte gegen... gegen...»

«Ja, ohne Pharisäertum, willst du wohl sagen», beendet Petrus schleunigst.

«So ist es, ja... Ich will niemanden kritisieren... aber ich denke... verwünschen hilft nicht. Besser wäre es, zu helfen... Wie es die Herrin tat, die mit ihrem Lächeln mehr Menschen zum Gesetz hinführte als ein Rabbi.»

«Gerade deshalb hat mich der Meister hierher gesandt. Ich bin genau

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der Mensch, der dazu die richtigen Voraussetzungen hat... Oh, ich werde seinen Willen tun bis zum letzten Atemzug. Nun glaube ich wirklich und bin überzeugt davon, daß meine Sendung nichts anderes ist als eine bevorzugte, besondere Mission. Ich werde es Syntyche sagen, und ihr werdet sehen, daß wir uns dort niederlassen werden. Ich gehe, um es ihr zu sagen.»Begeistert wie schon lange nicht mehr, geht er hinaus.

«Höchster Herr, ich danke dir und preise dich. Er wird noch leiden, doch nicht mehr wie früher... Ach, welch eine Erleichterung!» ruft Petrus aus, und fühlt sich sodann verpflichtet, Philippus auf seine Art über den Grund seiner Freude einigermaßen aufzuklären. «Du mußt wissen, daß Johannes von den... "Unbeugsamen" Israels aufs Korn genommen worden ist. Du nennst sie: die "Unbeugsamen"...»

«Ach, ich verstehe! Ein politisch Verfolgter, wie... wie...» und betrachtet den Zeloten.

«Ja, wie ich, und mehr noch aus anderen Gründen. Mehr als durch seine Zugehörigkeit zu einer unterschiedlichen Kaste, erregte er sie durch seine Zugehörigkeit zum Messias. Daher, und dies sei ein für allemal gesagt, sind er und sie deiner Treue anvertraut... Verstehst du?»

«Ich verstehe und werde mich danach richten.»

«Wie wirst du sie den anderen vorstellen?»

«Als zwei Erzieher, die mir von Lazarus des Theophilus empfohlen worden sind: er für die Knaben, sie für die Mädchen. Ich sehe, daß sie Stickereien und Webstühle hat... Und in Antiochia werden viele Handarbeiten von Frauen hergestellt und an Fremde verkauft. Doch sind es plumpe, grobe Arbeiten. Gestern habe ich einmal eine Arbeit gesehen, die mich an meine gute Herrin erinnert hat... diese werden sehr gefragt sein ...»

«Einmal mehr sei der Herr gepriesen», sagt Petrus.

«Ja, das wird uns den Abschied vor unserer baldigen Abreise erleichtern.»

«Wollt ihr denn schon abreisen?»

«Wir müssen! Das Unwetter hat uns eine Verzögerung auf unserer Reise verursacht, und zu Anfang des Schebat müssen wir beim Meister sein. Wir haben uns verspätet und er wartet schon auf uns», erklärt Thaddäus.

Sie trennen sich und jeder geht seinen Obliegenheiten nach, Philippus zu einer Frau, die nach ihm fragt, und die Apostel steigen auf eine sonnige Anhöhe.

«Wir könnten am Tag nach dem Sabbat abreisen. Was meint ihr?» fragt Jakobus des Alphäus.

«Sofort einverstanden... Stell dir vor, jeden Morgen erwache ich mit dem quälenden Gedanken an Jesus, der allein ist, ohne Kleider und ohne einen Menschen, der sich seiner annimmt, und jeden Abend lege ich mich mit derselben Sorge zu Bett. Doch heute werden wir uns entscheiden.»

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«Sagt einmal, wußte denn der Meister über alle diese Dinge Bescheid? Seit Tagen frage ich mich, wie er wissen konnte, daß wir den Kreter finden würden, wie er die Arbeit des Johannes und der Syntyche vorhersehen konnte und wie, wie... viele Dinge eben», sagt Andreas.

«Ich nehme an, daß sich der Kreter zu bestimmten Zeiten regelmäßig in Seleucia aufhält. Vielleicht hat Lazarus dies Jesus gesagt, und deshalb hat er ihre Abreise beschlossen, ohne das Osterfest abzuwarten ...» erklärt der Zelote.

«Ja! Sicher! Doch wie wird sich Johannes an Ostern verhalten?» fragt Jakobus des Alphäus.

«Nun, wie alle Israeliten ...» sagt Matthäus.

«Nein, das würde heißen, dem Wolf in den Rachen laufen.»

«Wieso, wer wird ihn unter so vielen Menschen entdecken?»

«Der Iskar... Oh, was sage ich! Denkt nicht daran. Es ist ein Scherz meines Geistes...» Petrus errötet, beschämt über seinen Ausspruch.

Judas des Alphäus legt ihm eine Hand auf die Schulter, und mit einem Lächeln auf seinem mehr oder weniger ernsten Gesicht fügt er hinzu: «Ach was! Wir denken doch alle dasselbe... aber sagen wir es niemandem, und danken wir dem Ewigen dafür, daß er den Geist des Johannes vor dieser Vermutung verschont hat.»

Alle schweigen nachdenklich. Aber als echte Israeliten machen sie sich Sorgen darüber, wie der verbannte Jünger Ostern in Jerusalern wird feiern können... und sie nehmen dieses Gespräch erneut auf.

«Ich glaube, daß Jesus vorsorgen wird, und daß es Johannes wahrscheinlich weiß; wir brauchen ihn ja nur zu fragen», sagt Matthäus.

«Tut es nicht. Weckt nicht Sehnsucht und Kummer, wo der Friede eben erst wieder einkehrt», fleht der Apostel Johannes.

«Ja, es ist besser, den Meister selbst zu fragen», bestätigt Jakobus des Alphäus.

«Wann werden wir ihn sehen? Was meint ihr?» fragt Andreas.

«Oh, wenn wir am Tage nach dem Sabbat abreisen, werden wir bestimmt am Ende des Monats in Ptolemais sein ...» sagt Jakobus des Zebedäus.

«Vorausgesetzt, daß wir ein Schiff finden ...» bemerkt Judas Thaddäus.

Sein Bruder fügt hinzu: «Und wenn kein Unwetter kommt.»

«Schiffe nach Palästina gibt es immer, und wenn wir zahlen, werden wir in Ptolemais von Bord gehen können, selbst wenn das Schiff nach Joppe fährt. Hast du noch Geld, Simon?» fragt der Zelote den Petrus.

«Ja, obwohl mich der Dieb von einem Kreter trotz seinen Beteuerungen, er wolle Lazarus einen Gefallen erweisen, ordentlich geschröpft hat. Doch muß ich noch für die Aufbewahrung des Bootes und des Esels bezahlen... Den Betrag, der mir für Johannes und Syntyche gegeben wurde,

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rühre ich nicht an, er ist mir heilig. Selbst wenn wir nichts zu essen hätten, würde ich ihn nicht antasten.»

«Du hast recht. Jener Mann ist sehr krank und glaubt, als Erzieher arbeiten zu können; ich aber bin überzeugt, daß er bald zu gebrechlich sein wird ...» meint der Zelote.

«Ja, das glaube ich auch. Syntyche wird mehr Salben als Handarbeiten herstellen müssen», bestätigt Jakobus des Zebedäus.

«Aber die Salbe! Welch ein Wunder! Syntyche hat mir gesagt, sie wolle sie wiederum herstellen und verwenden, um damit Zugang zu den hiesigen Familien zu finden», sagt Johannes.

«Eine gute Idee! Ein Kranker, der gesund wird, ist immer ein gewonnener Jünger, und mit ihm seine Angehörigen!» ruft Matthäus aus.

«Oh, sag das nicht!» wiederspricht ihm Petrus.

«Wie? Willst du damit sagen, daß Wunder die Menschen nicht zum Herrn führen?» fragt Andreas, und mit ihm zwei oder drei andere.

«O Kinder! Es scheint, als ob ihr gerade vom Himmel gefallen wäret. Aber seht ihr denn nicht, was man Jesus antut? Hat sich Eli von Kapharnaum etwa bekehrt? Und Doras? Und Oseas von Chorazim? Und Melchias von Bethsaida? Und – entschuldigt, ihr von Nazareth – und ganz Nazareth nach den fünf, sechs, zehn geschehenen Wundern, bis zum letzten, dem an eurem Neffen?» fragt Petrus.

Niemand widerspricht ihm, denn es ist die bittere Wahrheit.

«Wir haben den römischen Soldaten noch nicht gefunden. Jesus hat es uns zu verstehen gegeben...» sagt Johannes nach einer Weile.

«Wir werden es denen sagen, die zurückbleiben. Es wird dies ein Ansporn mehr in ihrem Leben sein», antwortet der Zelote.

Philippus kehrt zurück: «Mein Sohn ist bereit. Er hat sich beeilt und ist nun bei der Mutter, welche die Geschenke für die Enkel vorbereitet.»

«Deine Schwiegertochter ist gut, nicht wahr?»

«Ja, sehr gut. Sie hat mich über den Tod meines Joseph hinweggetröstet. Sie ist wie eine Tochter. Einst war sie eine Magd der Eucheria und wurde von ihr erzogen. Kommt und stärkt euch vor der Abreise. Die anderen sind schon dabei.»

Dem Wagen des Tolmai, des Enkels von Philippus, folgend, begeben sie sich nach Antigonea... Das Städtchen ist bald erreicht. Es ist in üppige Gärten eingebettet und durch eine Hügelkette, die sich in einem angemessenen Abstand befindet, um nicht bedrückend zu wirken, vor den Winden geschützt; doch liegt sie nahe genug, um den Ort zu schützen, und über ihn die Düfte des Harzes der Wälder und der Gewürzpflanzen auszuströmen. Unter der warmen Sonne erquickt Antigonea das Auge und das Herz schon beim Durchwandern.

Die Gärten des Lazarus liegen im Süden der Stadt, und eine Allee, deren Bäume nun kahl sind und an der sich die Häuser der Gärtner reihen,

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führt dorthin. Ich sehe niedrige gepflegte Häuser, an deren Türen sich Kinder und Frauen zeigen, die neugierig herumschauen und lächelnd grüßen. An den verschiedenen Gesichtern erkennt man die Rassen.

Kaum hat Tolmai das Tor hinter sich, bei dem das Besitztum beginnt, knallt er vor jedem Haus auf besondere Art mit seiner Peitsche, was wohl ein Zeichen sein muß. Gleich darauf gehen die Leute in ihre Häuser, kommen wieder heraus, schließen die Türe und laufen hinter den beiden Karren her, die langsam fahren und dann in der Mitte eines runden Platzes anhalten, von dem aus, gleich den Speichen eines Rades, Wege in alle Richtungen führen. Rundherum sind Felder, wie Beete angelegt, einige brach, andere mit immergrünen Gewächsen. Sie werden von Lorbeer- oder Akazienbäumen geschützt, und von noch anderen Bäumen, die aus Einschnitten in ihren Rinden wohlriechende Milch und Harze absondern. Ein Gemisch von balsamischen und harzigen Aromen liegt in der Luft. Bienenstöcke überall. Bewässerungsbecken, an denen schneeweiße Tauben trinken. In besonderen Arealen scharren im frischgepflügten unbepflanzten Erdreich weiße Hühner, die von Kindern gehütet werden.

Tolmai knallt mehrere Male mit seiner Peitsche, bis alle Untergebenen seines kleinen Reiches sich um die Angekommenen versammelt haben.

Dann beginnt er seine Ansprache: «Also, Philippus, unser Oberhaupt, der Vater meines Vaters, schickt und empfiehlt euch diese Heiligen Israels, die auf Wunsch unseres Herrn hierher gekommen sind. Gott möge ihn und sein Haus stets beschützen. Viele haben sich beklagt, daß hier die Stimmen heiliger Lehrer fehlen. Seht, nun hat die Güte Gottes und unseres Herrn, der zwar fern ist, uns jedoch liebt – Gott möge ihm alles vergelten, was er Gutes an seinen Dienern tut – uns gewährt, was unser Herz ersehnt. In Israel ist der allen Völkern Verheißene erschienen. Man hat es uns bei den Festen im Tempel und im Hause des Lazarus gesagt. Nun ist für uns wahrlich die Zeit der Gnade angebrochen, denn der König Israels hat an die Geringsten unter seinen Knechten gedacht und seine Diener ausgesandt, damit sie uns seine Worte verkünden. Diese sind seine Jünger, und zwei von ihnen werden bei uns, hier oder in Antiochia, leben und die Wahrheit lehren, damit wir weise seien für den Himmel, und wissen, was auf Erden notwendig ist. Johannes ist Lehrer und ein Jünger Christi. Er wird unsere Kinder die eine und die andere Weisheit lehren. Syntyche, eine Jüngerin und Meisterin der Nadel, wird den Mädchen die Wissenschaft der Liebe Gottes und die Kunst der weiblichen Arbeiten beibringen. Nehmt sie auf als einen Segen des Himmels und liebt sie, wie Lazarus des Theophilus und der Eucheria sie liebt – Ehre und Friede ihren Seelen – und wie die Töchter des Theophilus sie lieben: Martha und Maria, unsere geliebten Herrinnen und Jüngerinnen Jesu von Nazareth, des Rabbi Israels, des Verheißenen, des Königs.»

Die kleine Gruppe, Männer mit kurzen Tuniken bekleidet und

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Gartengeräte in ihren erdigen Händen, Frauen und Kinder jeglichen Alters, hört erstaunt zu, flüstert, und verneigt sich schließlich tief.

Tolmai beginnt mit Jer Vorstellung der einzelnen Personen: «Simon des Jonas, das Haupt der Gesandten des Herrn; Simon der Kananäer, ein Freund unseres Herrn; Jakobus und Judas, Brüder des Herrn; Jakobus und Johannes, Andreas und Matthäus.» Dann wendet er sich an die Apostel und Jünger: «Anna, meine Frau, aus dem Geschlechte Juda, wie auch meine Mutter; denn wir sind rein und sind mit Eucheria aus Judäa gekommen. Joseph, der dem Herrn geweihte Knabe, und Theocheria, die Älteste, die in ihrem Namen das Andenken an den gerechten Herrn und die gerechte Herrin vereint; eine weise Tochter, die Gott als wahre Israelitin liebt; Nikolaus und Dositheus. Nikolaus ist Nasiräer. Dositheus, der Drittgeborene, ist schon seit mehreren Jahren mit Hermione verheiratet (ein tiefer Seufzer begleitet diese Ankündigung). Komm her, Frau ...»

Eine sehr junge Brünette nähert sich mit einem Säugling im Arm.

«Hier ist sie! Sie ist die Tochter eines Proselyten und einer Griechin. Mein Sohn sah sie in Alexandroscenae in Phönizien, als er geschäftehalber dort war, und wollte sie zur Frau haben; Lazarus widersetzte sich mir nicht, sondern sagte: "Besser so, als zum Bösen, und es ist ja nichts Schlimmes dabei." Doch ich hätte ein Geblüt aus Israel vorgezogen.»

Die arme Hermione steht wie eine Angeklagte mit geneigtem Haupt da. Dositheus zittert und leidet. Anna, die Mutter und Schwiegermutter, hat einen traurigen Blick...

Johannes, obgleich der Jüngste von allen, fühlt sich angetrieben, die gedemütigten Seelen zu trösten, und sagt: «Im Reiche des Herrn werden es nicht mehr Griechen oder Israeliten, Römer oder Phönizier sein, sondern einzig und allein Kinder Gottes. Wenn du einst durch diese beiden Jünger das Wort Gottes kennenlernen wirst, dann wird sich dein Geist zu neuem Licht erheben, und diese hier wird nicht mehr "die Fremde" sein, sondern wie du und alle anderen, eine Jüngerin unseres Herrn Jesus.»

Hermione hebt das gedemütigte Haupt und lächelt Johannes dankbar zu. Auch auf den Gesichtern des Dositheus und der Anna ist der gleiche Ausdruck der Dankbarkeit sichtbar.

Tolmai antwortet ernst: «Gott möge es so fügen, denn außer ihrer Abstammung habe ich der Schwiegertochter nichts vorzuwerfen. Das Kind in ihren Armen ist Alphäus, der Jüngste, der von ihrem Vater, einem Proselyten, den Namen bekommen hat. Die Kleine mit den himmelblauen Augen, die unter den ebenholzfarbenen Locken hervorschauen, ist Myrtiche; ihr Name ist der der Mutter Hermiones; dieser, der Erstgeborene, heißt Lazarus, weil der Herr es so gewünscht hat, und der andere ist Hermas.»

«Das fünfte Kind soll Tolmai heißen, und das sechste Anna, um dem Herrn und den Menschen zu bezeugen, daß sich dein Geist neuen Einsichten geöffnet hat», sagt wieder Johannes.

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Tolmai verneigt sich stumm. Dann fährt er fort: «Diese beiden sind Geschwister aus Israel: Miriam und Silvanus, aus dem Stamme Nephthali; diese hier sind Elbonides, Danita und Simon, ein Judäer. Dann hier die Proselyten, früher Römer oder zumindest römischer Abstammung, die dank der Liebe der Eucheria dem Joch des Sklaventums und des Heidentums entrissen wurden: Lucius, Marcellus und Solon, der Sohn des Elatheus.»

«Ein griechischer Name», bemerkt Syntyche.

«Aus Thessalien. Sklave eines Dieners Roms», und Verachtung spricht aus den Worten: «Ein Diener Roms!» «Eucheria nahm ihn in einer schweren Stunde zusammen mit seinem sterbenden Vater auf. Auch wenn der Vater als Heide gestorben ist, so ist doch Solon Proselyt... Priscilla, komm mit den Kindern nach vorne...»

Eine hochgewachsene, hagere Frau mit einem Adlergesicht tritt vor. Sie schiebt ein Mädchen und einen Knaben vor sich her, während sich zwei kleine Kinder an ihren Rock hängen.

«Das ist die Frau des Solon, die Freigelassene einer bereits verstorbenen Römerin, und ihre Kinder Marius und Cornelia sowie die Zwillinge Maria und Martilla. Priscilla ist sehr kundig im Zubereiten von Essenzen. Amiclea, komm mit den Kindern. Sie ist eine Tochter von Proselyten, und Proselyten sind auch die beiden Knaben Cassius und Theodor. Thekla, versteck dich nicht! Sie ist die Frau des Marcellus. Ihr Leid ist, unfruchtbar zu sein. Auch sie ist ein Kind des Proselyten. Das sind die Gärtner. Nun gehen wir zu den Gärten. Kommt!»

Er führt sie durch das ausgedehnte Besitztum, gefolgt von den Gärtnern, die ihre Kulturen und die Gartenarbeiten erklären, während die Kinder zu ihren Hühnern zurückkehren, die die Abwesenheit ihrer Hüter abgenützt haben, um sich in andere Gärten zu zerstreuen.

Tolmai erklärt: «Sie werden hierher gebracht, um die Schollen vor der alljährlichen Aussaat von den Raupen zu säubern.»

Johannes lächelt über die gackernden Hühner und sagt: «Sie sind wie die meinen von früher» und beugt sich nieder, um Brotkrumen zu streuen, die er aus der Tasche geholt hat, so daß er bald von Hühnern umringt ist und lachen muß, weil eines von ihnen ihm gierig das Brot aus der Hand pickt.

«Ach, welch ein Glück!» ruft Petrus aus, indem er Matthäus mit dem Ellbogen anstößt und auf Johannes, der sich mit den Hühnern vergnügt, und auf Syntyche, die mit Solon und Hermione Griechisch spricht, deutet. Dann kehren sie zum Haus Tolmais zurück, der erklärt: «Das wäre der Ort. Doch wenn ihr unterrichten wollt, dann können wir Platz schaffen. Nun, bleibt ihr hier oder ...»

«Ja, Syntyche! Hier! Es ist schöner. Antiochia bedrückt mich mit Erinnerungen», bittet Johannes leise seine Gefährtin.

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«Aber ja... Wie du willst, wenn es dir gefällt, ist mir alles recht. Ich schaue nicht mehr zurück... nur noch vorwärts, vorwärts ... Mut, Johannes! Hier wird es uns gut gehen. Kinder, Blumen, Tauben und Hühner für uns arme Geschöpfe, und für unsere Seelen die Freude, dem Herrn dienen zu dürfen. Was sagt ihr dazu?» fragt sie, sich den Aposteln zuwendend.

«Wir sind derselben Meinung wie du.»

«Dann soll es dabei bleiben.»

«Sehr gut! So können wir zufrieden abreisen ...»

«Oh, reist noch nicht ab! Ich werde euch nie wiedersehen! Warum jetzt schon? Warum? ...» Johannes fällt in seine Trübsal zurück.

«Aber wir reisen doch nicht jetzt ab. Wir bleiben hier... bis du ...» Doch Petrus weiß nicht, wie er sich Johannes gegenüber ausdrücken soll, und um zu verbergen, daß auch er den Tränen nahe ist, umarmt er den weinenden Johannes und versucht, ihn auf diese Weise zu trösten.

369. DER ABSCHIED VON ANTIOCHIA

Die Apostel befinden sich wiederum im Haus zu Antiochia, und bei ihnen sind die beiden Jünger und alle Männer aus Antigonea; letztere tragen jetzt nicht mehr die geschürzten Arbeitskleider, sondern lange, festliche Gewänder. Daraus schließe ich, daß es Sabbat sein muß.

Philippus bittet die Apostel, wenigstens einmal vor der kurz bevorstehenden Abreise zu allen zu sprechen.

«Worüber?»

«Worüber ihr wollt. Ihr habt in diesen Tagen unsere Gespräche gehört, richtet euch danach.»

Die Apostel schauen einander an. Wer ist dran ?

Petrus, natürlich. Er ist das Haupt! Doch Petrus möchte nicht sprechen, er möchte Jakobus des Alphäus oder Johannes des Zebedäus diese Ehre überlassen. Erst als er sieht, daß diese sich unerbittlich zeigen, entschließt er sich zu reden.

«Heute haben wir in der Synagoge gehört, wie das 52. Kapitel des Isaias erklärt wurde; dem Geist der Welt entsprechend sehr gelehrt, jedoch im Licht der Weisheit betrachtet, war diese Auslegung sehr mangelhaft.

Doch man kann den Erläuterer deshalb nicht tadeln, denn mit seinem beschränkten Wissen hat er sein Bestes gegeben; aber ihm fehlt die Kenntnis über den Messias und die mit ihm beginnende Zeit. Wir wollen nicht kritisieren, sondern beten, auf daß er diese beiden Gnaden erkenne und sie ohne Widerstand annehme.

Ihr habt mir gesagt, daß ihr am Passahfest mit Glauben als auch mit Verachtung über den Meister habt reden hören, und daß ihr nur dank des

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großen Glaubens, der die Herzen aller im Hause des Lazarus erfüllt, das Unbehagen, das die Verdächtigungen der anderen in euch erregte, ertragen konntet, umso mehr, als diese anderen ausgerechnet die Rabbis von Israel waren.

Doch, gelehrt sein heißt weder heilig sein, noch die Weisheit besitzen.

Die Wahrheit ist diese: Jesus von Nazareth ist der verheißene Messias, der Erlöser, von dem die Propheten sprechen. Der letzte dieser Propheten ruht seit kurzem im Schoß Abrahams, nachdem er den ruhmvollen Märtyrertod für die Gerechtigkeit erlitten hat. Johannes der Täufer hat gesagt – und hier sind einige zugegen, die diese Worte gehört haben – : "Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt."

Die Demütigsten unter den Anwesenden haben seinen Worten geglaubt, weil die Demut hilft, zum Glauben zu gelangen. Dagegen erreichen die mit viel nutzlosem Tand beladenen Stolzen den Gipfel des Berges, auf dem der Glaube rein und leuchtend lebt, nur mühsam. Die Demütigen aber haben es verdient, die ersten in der Schar des Herrn Jesu zu sein, weil sie voller Demut geglaubt haben.

Erkennet daher, wie notwendig die Demut für einen bereitwilligen Glauben ist, und wie der Glaube auch gegen allen äußeren Anschein belohnt wird.

Ich ermahne und ermuntere euch, diese beiden Tugenden in euch zu pflegen, denn dann werdet auch ihr zum Gefolge des Herrn gehören und das Himmelreich erwerben...

Nun bist du dran, Simon der Zelote. Ich habe gesprochen, nun fahre du fort.»

Der Zelote, der so unvermittelt und klar zum zweiten Redner ernannt worden ist, muß nun ohne zu zögern oder zu widersprechen hervortreten. Er sagt:

«Ich werde die Rede des Simon Petrus fortsetzen, der dem Willen des Herrn gemäß unser Oberhaupt ist. So werde ich fortfahren, das 52. Kapitel des Isaias auszulegen, als einer, der die menschgewordene Wahrheit kennt, deren Diener er für immer ist. Es steht geschrieben: "Erwache, erwache, ziehe deine Stärke an, Sion; hülle dich in deine Prachtgewänder, Jerusalern, heilige Stadt."

So sollte es in Wahrheit sein. Denn wenn eine Verheißung sich erfüllt, ein Friede geschlossen, ein Urteil aufgehoben wird, und die Zeit der Freude kommt, sollten sich Herzen und Städte festlich kleiden und gebeugte Häupter sich erheben, da sie nun wissen, daß sie nicht mehr verhaßt, besiegt und geschlagen, sondern geliebt und befreit sind.

Wir sind nicht hier, um über Jerusalern zu richten. Die Liebe, die erste der Tugenden, verbietet es. Lassen wir also davon ab, die Herzen der anderen zu betrachten, und schauen wir auf unser eigenes. Bekleiden wir also unser Herz mit der Kraft des Glaubens, von der Petrus eben gesprochen

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hat. Kleiden wir uns festlich, weil unsere jahrhundertalte Hoffnung auf den Messias nun gekrönt wird durch die Erfüllung der Verheißung.

Der Messias, der Heilige, das Wort Gottes, ist wirklich unter uns. Den Beweis dafür besitzen nicht nur jene Menschen, die Worte der Weisheit, die bestärken und Heiligkeit und Frieden einflößen hören, sondern auch die, die durch den Heiligen, dem der Vater alles gewährt, von den schrecklichsten Krankheiten und selbst vom Tode befreit werden, auf daß in den Ländereien und Tälern unseres Vaterlandes Israel wieder das Hosanna auf den Sohn Davids und den Allerhöchsten erschalle; denn Gott hat sein Wort gesandt, gemäß seiner Verheißung an die Patriarchen und Propheten.

Ich war aussätzig und dazu verurteilt, nach Jahren grausamer Angst in der wilden Einsamkeit der Aussätzigen zu sterben. Ein Mann sagte zu mir: "Geh zu ihm, dem Rabbi von Nazareth, und du wirst geheilt werden." Ich hatte Glauben und ging. Ich wurde geheilt, an Leib und Seele. Der Leib ist nun von der Seuche, die vom Menschen trennt, befreit, und meine Seele ist frei von feindseligen Gefühlen, die von Gott trennen. Mit neuem Mut bin ich aus einem Geächteten, Kranken, Ruhelosen zu seinem Diener geworden, berufen zur seligen Sendung, unter die Menschen zu gehen, um sie in seinem Namen zu lieben und sie in der einzig notwendigen Lehre zu unterrichten: Jesus von Nazareth ist der Erlöser und alle, die an ihn glauben, werden selig werden.

Sprich du jetzt, Jakobus des Alphäus.»

«Ich bin der Bruder des Nazareners. Mein Vater und sein Vater waren Brüder aus einem Schoß, und trotzdem kann ich mich nicht Bruder nennen, sondern nur Diener, weil die Vaterschaft Josephs, des Bruders meines Vaters, eine geistige Vaterschaft war; und wahrlich, ich sage euch, der wahre Vater Jesu, unseres Meisters, ist der Allerhöchste, den wir alle anbeten; er, der zugelassen hat, daß seine eine und dreieine Gottheit in der zweiten Person Fleisch angenommen hat und auf die Erde gekommen ist, und doch gleichzeitig mit denen im Himmel vereint bleibt.

Gott kann dies vollbringen, da er allmächtig ist, und er vollbringt es aus Liebe, die seine Natur ist.

Jesus von Nazareth ist unser Bruder, o Menschen, denn er ist aus einer Frau geboren worden und ist uns durch seine Menschheit ähnlich. Er ist unser Meister, da er die Weisheit ist, das Wort Gottes selbst, das gekommen ist, um zu uns zu sprechen und uns für Gott zu gewinnen. Er ist unser Gott, der eins ist mit dem Vater und dem Heiligen Geist, stets mit ihnen durch Liebe, Macht und Wesen vereint.

Diese Wahrheit, die dem Gerechten, der mein Verwandter war, durch die an ihn ergangenen Offenbarungen zu erkennen gewährt wurde, möge auch zu eurer Erkenntnis werden. Der Welt, die versucht, euch von Christus loszureißen, indem sie sagt: "Er ist ein Mensch wie alle", sollt ihr antworten: "Nein, er ist der Sohn Gottes; er ist der Stern, der aus Jakob

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aufgegangen ist, das Zepter, das sich aus Israel erhebt; er ist der Herrscher." Laßt euch durch nichts davon abbringen. Das ist der Glaube!

Nun ist es an dir, Andreas.»

«Das ist der Glaube. Ich bin ein armer Fischer vom Galiläischen Meer. In stillen Nächten beim Fischfang unter dem Sternenschein führte ich stumme Selbstgespräche. "Wann wird er kommen? Werde ich dann wohl noch leben? Viele Jahre fehlen noch, gemäß der Prophezeiung." Für den Menschen mit seinem begrenzten Leben scheinen wenige Jahrzehnte Jahrhunderte zu sein... Ich fragte mich: "Wie wird er kommen? Wo? Wessen Sohn wird er sein." Meine menschliche Stumpfheit ließ mich träumen von königlichem Glanz, von königlichen Palästen und Höfen, Prunk, Macht und von unerträglicher Majestät... Dann fragte ich mich: "Wer wird diesen großen König anblicken können?" Ich stellte ihn mir erschreckender vor als Jahwe auf dem Sinai, und sagte mir: "Die Hebräer sahen dort den Berg aufleuchten, wurden jedoch nicht zu Asche, weil der Ewige in dichtem Gewölk war. Aber diesmal wird er seinen tödlichen Blick auf uns richten, und wir werden sterben..."

Ich war ein Jünger des Täufers, und wenn ich nicht beim Fischfang war, ging ich mit Gefährten zu ihm. Es war ein Tag dieses Monats... an den Ufern des Jordan versammelten sich viele Menschen, die bei den Worten des Täufers erzitterten. Ich erblickte einen schönen, ruhigen Jüngling, der auf einem Weg auf uns zukam. Bescheiden war sein Gewand, sanft sein Gesichtsausdruck, und er schien um Liebe zu bitten und Liebe zu schenken. Seine blauen Augen ruhten einen Augenblick auf mir, und ich fühlte etwas, was ich noch nie empfunden hatte. Es schien mir, als sei meine Seele liebkost und von Engelsflügeln gestreift worden. Einen Augenblick fühlte ich mich so fern von der Erde, so verwandelt, daß ich dachte: "Nun sterbe ich. Das ist der Ruf Gottes an meine Seele."

Doch ich bin nicht gestorben. Ich verweilte fasziniert in der Betrachtung des unbekannten Jünglings, der seine blauen Augen auf den Täufer gerichtet hatte. Da wandte sich der Täufer um, lief hin und verneigte sich vor ihm. Sie sprachen miteinander, und da die Stimme des Johannes einem ständigen Donner gleich erklang, drangen die geheimnisvollen Worte bis zu mir. Ich hörte gespannt zu, denn ich war von dem Wunsch beseelt zu erfahren, wer der unbekannte Jüngling wohl sein mochte. Meine Seele ahnte, daß er anders als alle anderen war. Ich hörte: "Ich müßte von dir getauft werden." "Warte noch. Es ziemt sich, daß alle Gerechtigkeit erfüllt werde."

Johannes, sein Vorläufer und letzter Prophet, hatte schon gesagt: "Es wird jener kommen, dessen Schuhriemen zu lösen ich nicht würdig bin." Er hatte auch bereits gesagt: "Unter euch in Israel ist einer, den ihr nicht kennt. Schon hat er die Wurfschaufel in der Hand und wird seine Tenne säubern und das Stroh im unauslöschlichen Feuer verbrennen."

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Ich hatte vor mir einen Jüngling aus dem Volk, mit einem sanften, demütigen Antlitz, und doch fühlte ich, daß es jener sein mußte, den wir nicht kannten. Aber ich fürchtete mich nicht, denn als Johannes, nach dem unbeschreiblichen Donner Gottes und dem unfaßlichen Lichtschein in Form einer Friedenstaube, sagte: "Hier ist das Lamm Gottes" ' da frohlockte meine Seele, da ich in dem Jüngling mit dem sanften, demütigen Aussehen den Messias-König erkannt hatte, und die Stimme meines Geistes erhob sich: "Ich glaube!", und durch diesen Glauben wurde ich zu seinem Diener. Werdet auch ihr es, und ihr werdet Frieden haben.

Nun ist es an dir, Matthäus, von den anderen Herrlichkeiten des Herrn zu erzählen.»

«Ich kann nicht die frohen Worte des Andreas gebrauchen. Er war stets ein Gerechter, ich aber war ein Sünder. Deshalb sind meine Worte nicht von festlichem Gepräge, wohl aber voll des vertrauensvollen Friedens eines Psalms.

Ich war ein Sünder, ein großer Sünder, und lebte in vollkommenem Irrtum. Ich war darin verhärtet, fühlte ich mich jedoch nicht beschwert. Wenn mich manchmal Pharisäer oder der Synagogenvorsteher mit ihren Beleidigungen oder Anklagen geißelten und mich an Gott, den unerbittlichen Richter, erinnerten, überkam mich für einen Augenblick die Angst... doch sogleich beruhigte ich mich mit dem törichten Gedanken: "Was soll's, ich bin ein Verdammter. Genießt, meine Sinne, solange ihr könnt", und immer mehr versank ich in der Sünde.

Vor zwei Jahren kam ein Unbekannter nach Kapharnaum, der auch für mich ein Unbekannter war. Für alle war er es, denn er war noch am Anfang seiner Sendung. Nur wenige Menschen kannten ihn als den, der er wirklich war, die hier Anwesenden und noch einige andere. Seine strahlende Männlichkeit, reiner als die Reinheit einer Jungfrau, setzte mich in Erstaunen und beeindruckte mich als erstes tief. Ich sah ihn würdevoll, aber gleichzeitig bereit, die Kinder anzuhören, die zu ihm kamen wie die Bienen zur Blume. Seine einzige Ablenkung waren ihre unschuldigen Spiele und ihr unbefangenes Geplauder. Als nächstes setzte mich seine Macht in Erstaunen. Er wirkte Wunder. Ich dachte, er sei ein Exorzist, ein Heiliger, und kam mir neben ihm so schändlich vor, daß ich ihn meiden wollte.

Ich hatte jedoch den Eindruck, daß er mich suchte, denn nicht ein einziges Mal ging er an meiner Bank vorüber, ohne mich mit seinen sanften, etwas wehmütigen Augen anzuschauen. Jedesmal war es wie ein plötzliches Erwachen meines abgestumpften Gewissens, das sich ganz allmählich läuterte und nicht mehr in seiner Stumpfheit verharrte.

Eines Tages – das Volk lobpries stets seine Worte – sehnte ich mich danach, ihn zu hören. Ich verbarg mich hinter einer Hausecke und hörte ihn zu einer kleinen Gruppe Menschen sprechen. Mit einfachen Worten

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erklärte er, daß die Nächstenliebe wie ein Ablaß für unsere Sünden sei... Von diesem Abend an wollte ich, habgierig und hartherzig wie ich war, für alle meine vielen Sünden Verzeihung von Gott erlangen. Ich handelte im geheimen... doch er wußte, daß ich es war, denn er weiß alles. Ein andermal hörte ich ihn das 52. Kapitel von Isaias auslegen. Er sagte, daß in sein Reich, das himmlische Jerusalern, keine Unreinen und im Herzen Unbeschnittene eingehen werden, und versprach, daß diese himmlische Stadt für alle sei, die ihm nachfolgen würden. Er beschrieb ihre Schönheit mit so überzeugenden Worten, daß ich Sehnsucht danach verspürte.

Dann ... dann aber... Oh! An jenem Tag war es nicht ein trauriger, sondern einen gebieterischer Blick, der mir galt. Er zerriß mir das Herz und ließ mich meine Seele klar erkennen. Er traf sie wie ein Feuer. Er umklammerte sie mit seiner Hand, diese arme, kranke Seele, und bedrängte sie mit seiner anspruchsvollen Liebe; und meine Seele war erneuert. Voller Reue und Sehnsucht ging ich zu ihm. Er wartete nicht auf mein: "Herr, erbarme dich!", sondern sagte: "Folge mir nach."

Der Sanftmütige hatte Satan im Herzen des Sünders besiegt. Zieht daraus die Lehre: Wenn einer von euch von Sünden gequält wird, dann gehe er zu ihm, dem guten Retter, und fliehe nicht vor ihm; je mehr man mit Sünden beladen ist, umso eher soll man reuevoll und demütig vor ihn hintreten und ihn um Verzeihung bitten.

Jakobus des Zebedäus, sprich du jetzt.»

«Ich weiß wahrlich nicht, was ich sagen soll. Ihr habt schon alles gesagt, was ich gesagt hätte, denn das ist die Wahrheit, und sie kann nicht geändert werden.

Auch ich war mit Andreas am Jordan, doch ich wurde seiner erst gewahr, als der Ausruf des Täufers mich auf ihn aufmerksam machte. Auch ich habe sofort geglaubt, und nachdem er sich nach seiner erleuchtenden Offenbarung entfernt hatte, blieb ich zurück wie einer, der von einem sonnigen Gipfel in einen dunklen Kerker geworfen worden ist. Verzweifelt suchte ich nach der Sonne. Nachdem mir das Licht Gottes erschienen und dann entschwunden war, erschien mir die ganze Welt ohne Licht. Ich war einsam unter den Menschen. Während ich mich satt aß, hungerte ich. Im Schlafe wachte mein Geist, und Geld, Beruf, Beziehungen, alles blieb zurück hinter dieser meiner Begeisterung für ihn, weit zurück und ohne Anziehungskraft. Wie ein Kind, das die Mutter verloren hat, jammerte ich: "Komm zurück, Lamm Gottes." Allerhöchster, wie du Raphael gesandt hast, damit er Tobias leite, so sende nun deinen Engel, damit er mich auf den Wegen des Herrn führe, damit ich ihn finde, finde, finde!

Doch als uns nach Wochen vergeblichen Wartens und angstvollen Suchens – die uns den Verlust unseres Johannes, der zum erstenmal gefangengenommen wurde, noch schmerzlicher erscheinen ließen – Jesus, der

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aus der Wüste kam, auf einem Feldweg erschien, da erkannte ich ihn nicht sogleich wieder.

Nun, Brüder im Herrn, will ich euch einen anderen Weg weisen, um zu ihm zu gelangen und ihn zu erkennen.

Simon des Jonas hat gesagt, Glaube und Demut seien erforderlich, um ihn zu erkennen, und Simon der Zelote hat wiederum beteuert, daß der Glaube unerläßlich sei, um in Jesus von Nazareth den zu erkennen, der er im Himmel und auf Erden ist, wie es in der Schrift steht. Simon der Zelote brauchte einen sehr großen Glauben, um auch für seinen unheilbar kranken Körper hoffen zu können. Daher sagt Simon der Zelote, daß Glaube und Hoffnung die Wege sind, um den Sohn Gottes zu finden. Jakobus, der Bruder des Herrn, spricht von der Macht der Willensstärke, durch die man bewahren kann, was man gefunden hat, da sie verhindert, daß die Nachstellungen der Welt und Satans uns des Glaubens berauben. Andreas weist auf die Notwendigkeit hin, unseren Glauben mit einem heiligen Durst nach Gerechtigkeit zu verbinden, indem man danach strebt, die Wahrheit zu erkennen und zu bewahren – welches auch immer der Mund sein möge, der sie verkündet; und zwar nicht aus menschlichem Hochmut, gelehrt sein zu wollen, sondern aus dem Verlangen heraus, Gott zu erkennen. Wer sich in der Wahrheit bildet, findet Gott.

Matthäus, einst ein Sünder, zeigt euch einen anderen Weg, auf dem man zu Gott gelangen kann: sich der Sinne zu entäußern im Geiste der Nachfolge, ich würde sagen, als Widerschein Gottes, der die unendliche Reinheit ist. Er, der Sünder, ist vor allem von der "reinen Männlichkeit" des Unbekannten, der nach Kapharnaum gekommen ist, beeindruckt; und es ist ihm, als ob durch deren Macht seine verlorene Enthaltsamkeit zu neuem Leben erweckt würde, und so enthält er sich als erstes der sinnlichen Begierden und macht den Weg frei für die Ankunft Gottes und die Wiederbelebung aller nicht mehr von ihm geübten Tugenden. Von der Enthaltsamkeit geht er über zur Barmherzigkeit, von dieser zur Reue, von der Reue zur Überwindung seines ganzen Seins und zur Vereinigung mit Gott. "Folge mir!" "Ich komme." Doch seine Seele hatte schon gesprochen: "Ich komme", und der Erlöser hatte schon gesagt: "Folge mir" ' als die Tugend des Meisters zum erstenmal die Aufmerksamkeit des Sünders auf sich gelenkt hatte.

Macht es wie er. Denn jede menschliche Erfahrung, so schmerzlich sie auch sein mag, ist stets eine Führung für alle guten Willens, um das Böse zu meiden und das Gute zu finden.

Ich sage, je mehr sich der Mensch bemüht, aus dem Geist zu leben, umso eher ist er imstande, den Herrn zu erkennen, und ein engelgleiches Leben begünstigt dies am meisten. Unter uns, den Jüngern des Johannes, war derjenige, der ihn nach seiner Abwesenheit wiedererkannte, die reine Seele. Eher als Andreas erkannte er ihn wieder, obgleich die Buße das

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Antlitz des Lammes Gottes verändert hatte. Daher sage ich: "Seid keusch, damit ihr ihn erkennen könnt."

Judas, willst du jetzt reden?»

«ja. Seid keusch, um ihn erkennen zu können. Aber seid es auch, um ihn in euch zu bewahren mit seiner Weisheit, seiner Liebe und seinem ganzen Sein. Wiederum ist es Isaias, der im 52. Kapitel sagt: "Berührt Unreines nicht... reinigt euch, ihr, die ihr die Gefäße des Herrn tragt." Wahrlich, jede Seele, die seine Jüngerin wird, gleicht einem Gefäß, das von Gott erfüllt ist, und der Leib, in dem sie innewohnt, ist wie einer, der ein dem Herrn geweihtes Gefäß trägt. Wo Unreinheit herrscht, kann Gott nicht sein.

Matthäus wiederholte die Worte des Herrn und sagte, daß nichts Unreines und von Gott Getrenntes das himmlische Jerusalern betreten wird. Ja, man darf auf Erden nicht unrein und von Gott getrennt sein, um einst dort eingehen zu können. Unglücklich jene, die mit ihrer Reue bis zur letzten Stunde warten, denn nicht immer wird ihnen Zeit zur Reue verbleiben, so wie jenen, die ihn jetzt verleumden; sie werden keine Zeit mehr haben, sich im Augenblick seines Triumphes ein neues Herz zu schaffen, und werden sich daher der Früchte seines Triumphes nicht erfreuen können.

Alle, die hoffen, daß der heilige und demütige König ein Monarch dieser Welt sein wird, und mehr noch die, die ihn als solchen fürchten, werden in jener Stunde unvorbereitet sein, betrogen und enttäuscht von ihrem Gedanken, der nicht der Gedanke Gottes, sondern ein armer, menschlicher Gedanke ist, und werden immer weiter sündigen.

Wir müssen erwägen, daß die Erniedrigung, Mensch zu sein, auf ihm lastet. Isaias sagt, daß alle unsere Sünden die Demütigung der göttlichen Person in der menschlichen Gestalt bewirken. Wenn ich bedenke, daß alles Elend der Menschheit das Wort Gottes wie eine schmutzige Kruste umgibt, dann denke ich mit tiefem Mitleid und tiefstem Mitgefühl an die Leiden, die seine schuldlose Seele erdulden muß. Ich stelle mir den Abscheu eines Gesunden vor, den man mit den Lumpen und dem Schmutz eines Aussätzigen bedeckt. So ist er wahrlich der von unseren Sünden Durchbohrte, der durch alle Begierden des Menschengeschlechtes Verwundete. Seine unter uns lebende Seele muß erschauern bei der Berührung mit uns, wie wenn sie von Fieber befallen wäre.

Doch er sagt nichts, er öffnet nicht seinen Mund, um auszurufen: "Ich empfinde Abscheu vor euch"; er öffnet ihn vielmehr nur, um uns einzuladen: "Kommt zu mir, damit ich eure Sünden von euch nehme", denn er ist der Erlöser. In seiner unendlichen Güte wollte er seine erhabene Schönheit verhüllen, denn wäre er uns so erschienen, wie er im Himmel ist, hätte er uns zu Asche verbrannt, wie Andreas sagte. Er erscheint uns anziehend wie ein sanftes Lamm, um sich uns nähern und uns retten zu können.

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Seine Unterdrückung, seine Verurteilung wird andauern, bis er, verzehrt von der Mühe, der vollkommene Mensch unter den unvollkommenen Menschen zu sein, im Triumph seines heiligen Königtums über die große Schar der Erlösten erhöht sein wird. Gott, der den Tod erleidet, um uns zum Leben zu erretten!

Diese Gedanken sollen ihn euch über alles liebenswert machen. Er ist der Heilige. Ich kann es sagen, ich, der ich mit ihm und Jakobus aufgewachsen bin. Ich beteuere, daß ich bereit bin und stets bereit sein werde, mein Leben zu opfern, um dieses Bekenntnis abzulegen, auf daß die Menschen an ihn glauben und das Ewige Leben erlangen.

Johannes des Zebedäus, nun bist du an der Reihe.»

«Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten! Frieden kündet er, bringt frohe Botschaft. Heil kündet er, zu Sion spricht er: "Dein Gott ist König." Diese Füße gehen schon seit zwei Jahren unermüdlich über die Berge Israels, um die Schafe der Herde Gottes sammeln, trostbringend, heilbringend, verzeihend und Frieden schenkend, seinen Frieden!

Wahrlich, ich bin erstaunt zu sehen, daß die Hügel nicht vor Freude hüpfen und die Flüsse des Vaterlandes nicht frohlocken bei der Berührung mit seinem Fuß. "Preis dem Herrn! Der Erwartete ist gekommen! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!" Jener, der Gnaden und Segen, Frieden und Heil aussendet und zum Reich aufruft, indem er uns den Weg weist. Jener, der vor allem durch alle seine Worte und Werke, mit jedem Blick und jedem Atemzug Liebe ausströmt.

Was ist diese Welt, daß sie so blind ist für das Licht, das unter uns lebt? Welche Platten, dicker als die Steine an den Eingängen der Gräber, hat sie vor den Augen des Geistes, um dieses Licht nicht zu sehen? Welche Berge von Sünden lasten auf ihr, da sie so verstockt, blind, taub, gefesselt und gelähmt ist, daß sie sich dem Erlöser gegenüber so gleichgültig verhalten kann.

Was ist der Erlöser? Er ist das mit der Liebe verschmolzene Licht. Der Mund meiner Brüder frohlockt im Lobpreis des Herrn, indem er seine Werke verkündet und die Tugenden wachruft, die geübt werden müssen, um seinen Weg zu finden. Ich sage euch: Liebt! Es gibt keine größere Tugend, keine, die euch seinem Wesen so sehr ähnlich werden läßt. Wenn ihr liebt, dann übt ihr mühelos alle Tugenden, angefangen bei der Keuschheit. Es wird euch nicht schwerfallen, keusch zu sein; denn wenn ihr Jesus liebt, werdet ihr niemanden mehr ungeordnet lieben. Demütig werdet ihr sein, denn mit den Augen eines Liebenden werdet ihr seine unendlichen Vollkommenheiten erkennen und daher nicht auf eure geringen Vorzüge stolz sein. Ihr werdet zum Glauben finden, denn wer glaubt nicht dem, den er liebt? Ihr werdet zerknirscht sein vor Schmerz, nicht der Strafe wegen, die ihr verdient habt; denn es wird euch von Herzen leid tun, daß ihr

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ihm Schmerz zugefügt habt, und diese Reue rettet euch. Ihr werdet stark sein, o ja, denn wer mit Gott vereint ist, ist stark und standhaft in allem. Ihr werdet voller Hoffnung sein, weil ihr an der Großmut des göttlichen Herzens, das euch mit seinem ganzen Wesen liebt, nicht zweifeln werdet. Ihr werdet weise sein, alles werdet ihr sein! Liebt ihn, der die wahre Glückseligkeit und das Heil verkündet und unermüdlich über Berge und Täler wandert, um die Herde zu sammeln. Auf seinen Wegen ist der Friede, und Friede ist in seinem Reich, das nicht von dieser Welt, aber wirklich ist, wie Gott wirklich ist.

Verlaßt jeden Weg, der nicht der seine ist. Befreit euch von allen Nebeln und geht zum Licht. Seid nicht wie die Welt, die das Licht nicht sehen und nicht erkennen will. Geht zu unserem Vater, dem Vater allen Lichtes, des unendliches Lichtes, durch den Sohn, der das Licht der Welt ist, um euch an Gott zu erfreuen in Vereinigung mit dem Paraklet, dem Strahlen der Lichter in einer einzigen Glückseligkeit der Liebe, welche die Drei zu Einem vereint. Unendlicher Ozean der Liebe, ohne Stürme, ohne Finsternis, nimm uns alle in deinen Frieden auf, die Unschuldigen wie die Bekehrten, alle, alle, für alle Ewigkeit! Alle auf Erden, auf daß sie dich, o Gott, und den Nächsten lieben, wie du es willst, alle im Himmel, damit wir nicht nur dich und die Himmelsbewohner, sondern auch die Brüder, die auf Erden in Erwartung des Friedens kämpfen, lieben und sie in den Kämpfen und gegen die Versuchungen wie Engel der Liebe verteidigen und stärken, auf daß sie einst bei dir seien in deinem Frieden, zum ewigen Ruhm unseres Herrn Jesu, des Erlösers, der die Menschen mit einer unendlichen Liebe liebt, bis zum höchsten Opfer seiner selbst.»

Wie immer, wenn sich Johannes in seinen Entrückungen zu den Höhen zartester Liebe und mystischer Stille emporschwingt, zieht er alle Seelen mit sich.

Erst nach geraumer Zeit finden die verstummten Zuhörer wieder die Sprache, und der erste, der wieder sprechen kann, ist Philippus, der sich an Petrus wendet: «Wie, Johannes, der Lehrer, spricht nicht?»

«Er wird noch oft an unserer Stelle zu euch sprechen. Laßt ihn nun in Ruhe und laßt uns noch ein wenig mit ihm zusammen sein. Du, Saba, tue, was ich dir vorher gesagt habe, und auch du, gute Berenice...»

Alle gehen hinaus, und in dem geräumigen Zimmer bleiben die acht Apostel mit den beiden Jüngern zurück.

Er herrscht eine bedrückende Stille. Alle sind bleich, die Apostel, weil sie wissen, was bevorsteht, und die beiden Jünger, weil sie es ahnen.

Petrus ergreift das Wort, aber er vermag nur zu sagen: «Laßt uns beten.» Dann beginnt er das "Vater unser". So kreidebleich, wie er vielleicht nicht einmal im Sterben sein wird, sagt er, indem er sich den beiden nähert und seine Hände auf ihre Schultern legt: «Kinder, die Abschiedsstunde ist gekommen. Was soll ich dem Herrn in eurem Namen

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sagen? Ihm, der sicher darum besorgt ist, daß ihr heil und wohlbehalten seid?»

Syntyche sinkt auf die Knie und bedeckt ihr Gesicht mit den Händen, und Johannes macht es ihr nach. Zerstreut streichelt Petrus die beiden Jünger zu seinen Füßen und tut sich Gewalt an, um seiner Rührung nicht nachzugeben.

Johannes von Endor erhebt sein vor Schmerz gezeichnetes Gesicht und stammelt: «Du kannst dem Meister sagen, daß wir seinen Willen tun.»

«Und daß er uns helfen möge, ihn bis zum Ende zu erfüllen...», fügt Syntyche bei.

Doch Tränen hindern sie daran, mehr zu sagen.

«Also gut! Wir wollen uns den Abschiedskuß geben. Diese Stunde mußte kommen ...» Auch die Stimme des Petrus wird von aufsteigenden Tränen erstickt.

«Segne uns zuerst», bittet Syntyche.

«Nein, nicht ich. Es ist besser, wenn es einer der Brüder Jesu tut.»

«Nein, du bist das Oberhaupt. Wir werden sie mit unserm Kuß segnen, und du, segne sowohl uns, die wir abreisen, als auch jene, die zurückbleiben», sagt Thaddäus und kniet als erster nieder.

Petrus, der arme Petrus, ganz rot von der Anstrengung, eine feste Stimme zu bewahren, und der Aufregung, mit ausgebreiteten Armen die kleine Schar zu seinen Füßen zu segnen, erteilt mit einer durch die Tränen noch rauher gewordenen Stimme, der Stimme eines Alten, den mosaischen Segen.

Dann neigt er sich, küßt die Frau auf die Stirn, als wäre sie seine Schwester, umarmt und küßt Johannes innig und verläßt mutig den Raum, während die anderen es ihm nachtun.

Draußen steht der Wagen schon bereit. Nur Philippus, Berenice und der Diener, der das Pferd hält, sind zugegen. Petrus ist schon auf dem Wagen...

«Richte dem Herrn aus, daß er beruhigt sein kann wegen seiner Schützlinge», sagt Philippus zu Petrus.

«Du kannst Maria sagen, daß ich den Frieden Eucherias verspüre, seit sie Jüngerin ist», flüstert Berenice dem Zeloten zu.

«Ihr sagt dem Meister, Maria und allen, daß wir sie lieben und daß... Lebt wohl! Lebt wohl! Oh, wir werden sie nie wiedersehen! Lebt wohl, Brüder! Lebt wohl ...»

Die beiden Jünger eilen auf die Straße hinaus... Doch der Wagen, der im Trab davongefahren ist, ist schon um eine Ecke gebogen ... und entschwunden.

«Syntyche!»

«Johannes!»

«Nun sind wir allein!»

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«Gott ist doch mit uns! ... Komm, armer Johannes, nun geht die Sonne unter, und es ist nicht gut für dich, hier zu verweilen ...»

«Für immer ist die Sonne für mich untergegangen ... und erst im Himmel wird sie wieder aufgehen.»

Nach ihrer Rückkehr in den Raum in dem sie vorhin mit den anderen zusammen waren, lassen sie sich auf eine Bank nieder und weinen sich hemmungslos aus...

Jesus sagt:

«Es ist die Qual, die vom Bösen im Menschen nicht willentlich verursacht worden ist und nun endet, wie ein Fluß, der sich in einen See ergießt, nachdem seine Wasser das Ende seines Laufes erreicht haben...

Ich mache dich darauf aufmerksam, daß auch Judas des Alphäus, obgleich er mehr als die anderen in der Weisheit unterrichtet worden war, den Abschnitt des Isaias betreffend meine Leiden als Erlöser in menschlichem Sinn erklärt hat, und so weigerte sich auch ganz Israel, die prophetische Wirklichkeit anzuerkennen und betrachtete die Prophezeiungen über meine Leiden als Allegorien und Symbole.

Wegen dieses großen Irrtums vermochten in der Stunde der Erlösung nur wenige in Israel den Messias in dem Verurteilten zu erkennen. Der Glaube ist nicht nur ein Blumengewinde, er hat auch Dornen. Heilig ist der, der nicht nur in den Stunden der Freude, sondern auch in schweren Stunden glauben kann und Gott immerzu liebt, ob er ihn nun mit Blumen bedeckt oder auf Dornen bettet.»

370. DIE RÜCKKEHR DER ACHT APOSTEL. IN ACHSIB

Jesus, ein Jesus, der sehr mager, bleich, ich möchte fast sagen, wehmütig und leidend aussieht, steht auf dem Gipfel, dem höchsten Gipfel eines kleinen Berges, auf dem auch eine Ortschaft liegt. Doch Jesus ist nicht im Dorf selbst, das auf der Höhe, jedoch in Richtung der südlichen Hänge liegt. Er steht auf einem kleinen Felsvorsprung, dem höchsten, der gegen Nordwesten gelegen ist.

Jesus, der nach mehreren Seiten Ausschau hält, sieht eine wellenartige Bergkette, deren nord- und südwestliche Ausläufer ins Meer tauchen. Im Südwesten liegt der Carmel, der, weit entfernt, an diesem klaren Tage wie in Dunst getaucht erscheint; im Nordwesten hingegen endet die Kette wie ein scharfes Kap, wie ein Schiffskiel; es gleicht unseren Apuanischen Alpen wegen der Felskämme, die in der Sonne weiß aufleuchten.

Von dieser Gebirgskette fließen Gießbäche und Flüßchen herab, die in dieser Jahreszeit reichlich Wasser führen und durch die Küstenebene dem Meer zustreben. Bei der weiten Bucht von Sycaminon mündet der wasserreichste Fluß, der Kischon, ins Meer, nachdem er vorher beim Zufluß eines anderen Baches, vor der Mündung ein Wasserbecken gebildet hat. Die Mittagssonne eines heiteren Tages läßt die Wasserläufe golden und

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bläulich erscheinen, während das Meer wie ein riesiger, mit feinen Perlenketten durchzogener Saphir daliegt. Der Frühling kündet sich schon an mit den neuen Blättern, die aus den aufgesprungenen Knospen quellen, zart leuchtend, ich möchte sagen jungfräulich, so frisch sind sie, da sie weder Staub noch Unwetter, weder Insektenbisse noch die Berührung mit den Menschen kennen. Die Zweige der Mandelbäume sind weich und luftig wie Wölkchen aus weißrosa Schaum und erwecken den Eindruck, als wollten sie sich vom Stamm lösen und durch die heitere Luft segeln wie kleine Wolken. Auch auf den Feldern in der nicht weiten, aber fruchtbaren Ebene, die zwischen dem Kap im Nordwesten und dem im Südwesten eingeschlossen ist, zeigen sich die zarten Keime des Getreides, das diesen Feldern, die kurz zuvor noch kahl waren, die traurige Stimmung nimmt.

Von der Stelle, an der er sich befindet, hält Jesus Ausschau und sieht drei Straßen: Eine, die beim Dorf beginnt und hier endet, ein Saumpfad; und zwei weitere, die vom Dorf herabführen und nach Nordwesten und Südwesten laufen.

Jesus sieht mitgenommen aus wie noch nie! Er ist noch viel stärker von der Buße gezeichnet als damals, als er in der Wüste gefastet hatte. Damals war er ein blasser, aber noch junger und starker Mann. Jetzt ist er ein gebrochener Mensch, abgezehrt durch alle Leiden, die ihn bedrücken und seine körperlichen und seelischen Kräfte geschwächt haben.

Sein Blick ist von sanfter und zugleich tiefster Wehmut gezeichnt. Die eingefallenen Wangen betonen die Geistigkeit seines Profils, mit der hohen Stirn, der langen, geraden Nase, dem Mund und den Lippen ohne jegliche Sinnlichkeit, noch stärker. Ein engelgleiches Antlitz, so sehr schließt es alles Körperliche aus. Der Bart ist länger als sonst; er ist auch an den Seiten gewachsen, wo er in die Haare übergeht, die über seine Ohren fallen, so daß man von seinem Gesicht nur Stirn, Augen, Nase und das elfenbeinfarbene Jochbein sieht. Die langen Haare sind geordnet, aber es haften ihnen noch Teilchen von trockenem Laub und Halmen an, die an die Höhle erinnern, in der er gewesen ist. Auch sein zerknittertes, staubiges Gewand und der Mantel, die er ununterbrochen getragen und benützt hat, verraten den wilden Ort.

Jesus schaut vor sich hin... Die Mittagssonne erwärmt ihn, und er scheint Gefallen daran zu finden, denn er meidet den Schatten einiger Sträucher, um ganz in der Sonne zu stehen. Doch obwohl es eine helle, strahlende Sonne ist, verleiht sie seinem verstaubten Haar und seinen müden Augen keinen Glanz und seinem abgemagerten Gesicht keine Farbe.

Nicht die Sonne stärkt ihn und belebt sein Antlitz, sondern der Anblick seiner treuen Apostel, die gestikulierend und umherspähend auf der leicht ansteigenden Straße von Nordwesten zur Ortschaft hinaufgehen. Nun wandelt er sich, sein Auge belebt sich und sein Antlitz erscheint, durch einen rosigen Schimmer, der die Wangen überzieht, und mehr noch

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durch das Lächeln, das es erhellt, weniger hager. Er breitet die verschränkten Arme aus und ruft mit erhobenem Antlitz, die Augen ins Weite schweifend, als wolle er Halmen, Bäumen, dem heiteren Himmel und der schon frühlingshaften Luft seine Freude mitteilen: «Meine Teuren!»

Er rafft seinen Mantel, damit er sich im Dorngestrüpp nicht verfängt, und geht ihnen, die ihn noch nicht erblickt haben, auf einem Abkürzungsweg entgegen. Als er in Hörweite gelangt ist, ruft er ihnen zu, um sie auf ihrem Weg zum Dorf aufzuhalten.

Obwohl sie Jesus von der Stelle, an der sie sich befinden, noch nicht sehen, denn sein dunkles Gewand hebt sich nicht von dem dichten Gebüsch ab, das den Abhang bedeckt, vernehmen sie den fernen Ruf.

Sie schauen umher und gestikulieren. Jesus ruft noch einmal... Schließlich erblicken sie ihn in einer Lichtung, wie er in der Sonne steht und ihnen die Arme entgegenstreckt, als wolle er sie umarmen.

Nun ertönt ein lautes Rufen, das an den Hängen widerhallt: «Der Meister!» und es beginnt ein großes Laufen durch die Büsche. Sie verlassen die Straße, verfangen sich in den Dornen, stolpern und keuchen. Doch sie spüren weder die Last ihres Gepäcks, noch das mühsame Vorwärtskommen... denn sie sind voller Freude über das Wiedersehen.

Natürlich sind es die Jüngsten, die am behendesten sind und ihn zuerst erreichen, die beiden Söhne des Alphäus, die mit dem sicheren Schritt eines Bewohners der Berge laufen, und Johannes und Andreas, die wie zwei Rehe herbeieilen und glücklich lachen. Sie fallen ihm zu Füßen, liebevoll und ehrerbietig, glücklich, überglücklich... Dann kommt Jakobus des Zebedäus an, und zuletzt, fast gleichzeitig, die drei, die weniger ans Laufen und an die Berge gewohnt sind, Matthäus, der Zelote und schließlich Simon Petrus.

Aber er bahnt sich einen Weg. O ja, er schafft sich Platz, um zum Meister zu gelangen, dem schon die zuerst Angekommenen zu Füßen liegen und nicht müde werden, sein Gewand und seine Hände zu küssen. Er packt Johannes und Andreas energisch an, die sich, wie Austern an eine Klippe, an die Kleider Jesu hängen, und, noch keuchend, schiebt er sie so weit beiseite, daß er Jesus zu Füßen fallen kann, und stammelt: «O mein Meister! Jetzt lebe ich wieder auf! Es war nicht mehr auszuhalten, ich bin gealtert, abgemagert, als ob ich schwer krank gewesen wäre. Schau, ob es nicht wahr ist, Meister! ...», und er erhebt sein Gesicht, um sich von Jesus ansehen zu lassen. Doch dabei bemerkt er die Veränderung im Antlitz Jesu, springt auf, und schreit: «Meister! Aber was hast du getan? Dummköpfe! Schaut ihn an! Seht ihr denn nichts? Jesus ist krank gewesen! Meister, mein Meister, was ist dir geschehen? Sage es deinem Simon!»

«Nichts, Freund.»

«Nichts? Mit diesem Antlitz? Dann hat man dir wohl Böses angetan?»

«Aber nein, Simon.»

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«Das ist unmöglich! Entweder bist du krank gewesen, oder man hat dich verfolgt! Ich habe doch Augen! ...»

«Ich auch, und ich sehe auch, daß du tatsächlich abgemagert und gealtert bist. Warum bist du das denn?» fragt der Herr seinen Petrus lächelnd, der ihn prüft, als wolle er die Wahrheit an Haaren, Haut und Bart Jesu ablesen.

«Aber ich habe gelitten und leugne es nicht. Glaubst du, es wäre ein Vergnügen gewesen, so viel Leid mit ansehen zu müssen?»

«Du sagst es! Auch ich habe aus demselben Grund gelitten...»

«Wirklich nur deswegen, Jesus?» fragt Judas des Alphäus mitleidig und liebevoll.

«Wegen des Leides, ja, mein Bruder. Wegen des Leides, weil wir gezwungen waren, sie fortzuschicken, wegen...»

«Und des Leides, dazu gezwungen gewesen zu sein ...»

«Ich bitte dich! ... Schweige! Für meine Wunde ist es heilsamer, Schweigen zu bewahren, als mir mit tröstenden Worten sagen zu wollen: "Ich weiß, weshalb du gelitten hast!" Übrigens sollt ihr wissen, daß ich vieler Dinge wegen gelitten habe, nicht nur wegen dieser Angelegenheit, und wenn mich Judas nicht unterbrochen hätte, hätte ich es euch gesagt.»Jesus sagt dies mit würdevollem Ernst und alle sind eingeschüchtert.

Petrus, der erste, der sich wieder faßt, fragt: «Sage, Meister, wo bist du gewesen, und was hast du gemacht?»

«Ich bin in einer Höhle gewesen... um zu beten... um zu betrachten... um meinen Geist zu stärken... um Kraft für euch zu erbitten für eure Mission und Stärke für Johannes und Syntyche in ihrem Leid.»

«Aber wo, wo warst du ohne Kleider, ohne Geld! Wie hast du es geschafft?» fragt Simon ganz aufgeregt.

«In einer Höhle hatte ich nichts nötig.»

«Aber Nahrung ? Feuer? Ein Bett? ... Alles eben! Ich dachte wenigstens, daß du wie ein verirrter Pilger bei jemandem in Jiphtael oder in sonst einem Haus zu Gast wärest, und das beruhigte mich etwas. Aber so? Sagt ihm, wie mich der Gedanke an ihn, daß er ohne Kleidung, ohne Nahrung war und keine Möglichkeit und besonders auch nicht den Willen hatte, sich beides zu beschaffen, immerzu beschäftigte. Ach Jesus, das hättest du nicht tun dürfen, und darfst es mir nie mehr antun! Keine Stunde mehr werde ich dich allein lassen. Ich hänge mich an dein Gewand, um immer hinter dir her zu sein wie ein Schatten, ob du es willst oder nicht. Nur wenn ich sterbe, werde ich mich von dir trennen.»

«Oder wenn ich sterbe.»

«Oh, du! Nein! Du darfst nicht vor mir sterben. Sage das nicht! Willst du mich denn noch gänzlich traurig machen?»

«Nein, vielmehr möchte ich mich mit dir und mit allen freuen in dieser schönen Stunde, die mir meine lieben, vielgeliebten Freunde

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zurückbringt. Schaut, ich fühle mich schon besser, weil eure aufrichtige Liebe mich nährt, erwärmt und mich über alles hinwegtröstet»; und er liebkost einen nach dem anderen, wobei ihre Gesichter aus Rührung über diese Worte in seligem Lächeln erstrahlen, ihre Augen leuchten, ihre Lippen beben und sie unentwegt fragen: «Wirklich, Herr? Ist es wirklich so, Meister?» «Du hast uns so lieb?» «Sind wir dir so lieb?»

«Ja, ihr seid mir sehr lieb! Habt ihr etwas zu essen bei euch?»

«Ja. Ich ahnte, daß du erschöpft sein würdest und habe unterwegs Brot, gebratenes Fleisch, Milch, Käse und Äpfel besorgt, und außerdem eine Flasche edlen Weines und Eier für dich. Wenn sie nur nicht zerbrochen sind ...»

«Dann wollen wir uns also hier niederlassen und unter dieser schönen Sonne essen. Während wir essen, werdet ihr mir erzählen...»

Sie setzen sich auf einen sonnenbeschienenen Felsvorsprung, und Petrus öffnet seine Tasche und betrachtet seine Schätze. «Alles heil», ruft er aus. «Auch der Honig von Antigonea. Nun ja, ich habe es doch gesagt: Selbst wenn wir uns auf dem Rückweg in ein Faß gesetzt hätten und dieses von einem Verrückten ins Rollen gebracht worden wäre, selbst wenn wir uns bei Unwetter auf einem Boot ohne Ruder, und meinetwegen mit einem Leck, befunden hätten, wären wir heil und gesund angekommen... Aber ich bin immer mehr davon überzeugt, daß es der Dämon war, der uns auf dem Hinweg Schwierigkeiten machte, weil er nicht wollte, daß wir jene Armen begleiteten ...»

«Ja, so ist es! Jetzt hat er keinen Grund mehr gehabt...», bestätigt der Zelote.

«Meister, hast du unseretwegen Buße getan?», fragt Johannes, der sogar zu essen vergißt, um Jesus zu betrachten.

«Ja, Johannes. Ich war in Gedanken bei euch. Ich habe eure Gefahren und Sorgen gespürt und euch so gut ich konnte geholfen...»

«Oh, das habe ich gefühlt! Ich habe es euch auch gesagt. Erinnert ihr euch? ...»

«Ja, das ist wahr», bestätigen alle.

«Nun gebt ihr mir zurück, was ich euch gegeben habe.»

«Hast du gefastet, Herr?» fragt Andreas.

«Notgedrungen! Selbst wenn er hätte essen wollen, wie hätte er es anstellen können, in einer Höhle, ohne Geld?» antwortet ihm Petrus.

«Unseretwegen! Wie tut mir das leid!» sagt Jakobus des Alphäus.

«O nein! Grämt euch deswegen nicht. Wie zu Beginn meiner Mission, so habe ich auch jetzt getan, und nicht nur euretwegen, sondern für die ganze Welt. Damals wurde ich am Ende meines Fastens von den Engeln getröstet, und nun von euch, und glaubt mir, dies ist für mich eine doppelte Freude, weil der Dienst der Liebe zur Natur der Engel gehört, bei den Menschen aber weniger leicht zu finden ist. Ihr übt Liebe, und aus

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Menschen seid ihr durch die Liebe zu mir Engel geworden, weil ihr die Heiligkeit über alles gesetzt habt. Daher macht ihr mich glücklich, sowohl als Gott wie auch als Gott-Mensch, weil ihr mir schenkt, was Gott gehört: die Liebe; und ihr gebt mir, was dem Erlöser zusteht: euer Streben nach Vollkommenheit. Das kommt mir von euch zu und ist nahrhafter als jegliche Speise. Damals in der Wüste wurde ich nach dem Fasten mit Liebe genährt und gestärkt, wie auch jetzt! Alle haben wir gelitten, ich und ihr, aber es war kein nutzloses Leiden. Ich glaube und weiß, daß es euch mehr genützt hat als ein ganzes Jahr der Unterweisung. Der erlittene Schmerz, die Betrachtung dessen, was ein Mensch seinesgleichen an Leid zufügen kann, und Mitleid, Glaube, Hoffnung und Liebe, die ihr habt üben müssen, und dazu noch allein, hat euch reif werden lassen wie Kinder, die zu Männern heranwachsen...»

«O ja, ich bin älter geworden. Ich werde nie mehr der Simon des Jonas sein, der ich bei der Abreise war. Ich habe verstanden, wie schmerzlich und mühsam unsere Mission bei all ihrer Schönheit ist...» seufzt Petrus.

«Nun sind wir ja wieder beisammen. Erzählt also ...»

«Sprich du, Simon, du kannst besser reden als ich», fordert Petrus den Zeloten auf.

«Nein, du als tüchtiges Oberhaupt, kannst im Namen aller berichten», entgegnet der andere.

Petrus beginnt mit der Bedingung: «Aber ihr müßt mir helfen.»

Zuerst berichtet er der Reihe nach alles bis zur Abreise von Antiochia, und dann beginnt er, die Rückreise zu beschreiben.

«Weißt du, wir haben alle gelitten, und die letzten Worte der beiden werde ich nie mehr vergessen...» Petrus wischt sich mit dem Handrücken zwei dicke Tränen ab, die plötzlich über seine Wangen kollern... «Sie kamen mir vor wie der letzte Schrei eines Ertrinkenden... Ach, redet ihr... ich kann nicht mehr ...», und er steht auf und geht etwas abseits, um seine Rührung zu verbergen.

«Nun», sagt der Zelote, «wir haben lange Zeit nicht gesprochen... Wir konnten nicht reden... Es würgte uns im Hals, so sehr mußten wir gegen die Tränen ankämpfen... und wir wollten nicht weinen... denn, hätte auch nur ein einziger von uns geweint, wäre alles aus gewesen. Ich hatte die Zügel ergriffen, denn Simon des Jonas hatte sich, um sich seinen Schmerz nicht anmerken zu lassen, hinten im Karren hingesetzt und in den Taschen gekramt. Dann hielten wir auf halbem Wege, in einem Dorfe zwischen Antiochia und Seleucia an. Obwohl der Mond immer heller schien, je weiter die Nacht fortschritt, haben wir doch dort angehalten, weil wir nicht sehr ortskundig waren, und sind auf unserem Gepäck eingeschlafen. Wir hatten nichts gegessen, keiner von uns, denn... wir konnten nicht. Wir mußten stets an die beiden denken... Beim ersten Morgengrauen haben wir die Brücke passiert und vor der dritten Stunde sind wir in Seleucia

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angekommen. Pferd und Wagen haben wir dem Wirt zurückgegeben und uns mit ihm – er ist ein guter Mensch – wegen des Schiffes beraten. Er sagte: "Ich komme mit zum Hafen. Ich bin dort bekannt und kenne mich aus." Er kam und fand drei Schiffe, die zur Abreise in unsere Häfen bereit waren. Aber auf einem waren gewisse... Leute, die wir nicht gerne in der Nähe haben wollten. Der Mann hatte es uns gesagt, da er es vom Kapitän des Schiffes erfuhr. Das zweite fuhr nach Askalon, und man wollte nicht unseretwegen in Tyrus anlegen, oder zumindest nur gegen einen Geldbetrag, über den wir nicht mehr verfügten. Das dritte war ein ziemlich elendes Schifflein und mit rohem Holz beladen, ein einfaches Boot mit einer kleinen und, ich glaube, sehr armen Schiffsmannschaft. Obwohl ihr Ziel Caesarea war, erhielten wir die Zusage, daß sie gegen Bezahlung des Taglohnes und Verpflegung für die ganze Mannschaft in Tyrus anlegen würden. Wir gingen darauf ein, aber ich und Matthäus hatten Bedenken, denn es war die Zeit der Seestürme... und du weißt, wie es uns bei der Hinreise ergangen ist. Aber Simon Petrus sagte: "Es wird nichts passieren", und so stiegen wir ein. Es schien, als wären die Segel des Schiffes Engel, so rasch und leicht ging es voran. Wir brauchten bis nach Tyrus nur halb so lang wie bei der Hinfahrt. Dort war der Kapitän so gut, unser Boot bis Ptolemais ins Schlepptau zu nehmen. Petrus, Andreas und Johannes stiegen zum Manövrieren ins Boot, doch sie hatten nicht viel zu tun... Es war nicht wie bei der Hinreise. In Ptolemais trennten wir uns und waren so zufrieden, daß wir zu der vereinbarten Summe noch etwas hinzufügten, bevor wir alle ins Boot stiegen, wo bereits unsere Sachen lagen. In Ptolemais ruhten wir uns einen Tag aus, und kamen dann hierher... Doch nie werden wir vergessen, was wir durchgestanden haben. Simon des Jonas hat recht.»

«Haben wir nicht auch recht, wenn wir sagen, daß der Teufel uns nur auf der Hinfahrt Hindernisse in den Weg gelegt hat?» fragen mehr als einer.

«Ihr habt recht. Jetzt hört. Eure Mission ist erfüllt, und nun werden wir nach Jiphtael zurückkehren und auf Philippus und Nathanael warten. Es muß rasch geschehen, denn dann werden die anderen kommen... Indessen werden wir hier an den Grenzen von Phönizien und in Phönizien selbst die Frohe Botschaft verkünden. Was vorgefallen ist, sei jedoch für immer in unseren Herzen begraben. Auf keine Frage wird geantwortet!»

«Auch nicht Philippus und Nathanael? Sie wissen, daß wir mit dir gekommen sind ...»

«Ich werde mit ihnen sprechen. Ich habe viel gelitten, Freunde, ihr habt es gesehen, und habe mit meinen Leiden für den Frieden des Johannes und der Syntyche bezahlt. Sorgt dafür, daß mein Leiden nicht umsonst gewesen ist, und belastet meine Schultern nicht noch mehr, denn ich trage schon eine große Last! ... und sie wächst von Tag zu Tag, von Stunde zu

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Stunde... Sagt Nathanael und Philippus, daß ich viel gelitten habe und daß sie gut sein sollen. Sagt es auch den anderen beiden. Aber sagt nicht mehr. Es entspricht der Wahrheit, daß ihr verstanden habt, daß ich gelitten und euch dies bestätigt habe. Mehr ist nicht nötig.»

Jesu Stimme klingt erschöpft ... Die acht betrachten ihn betrübt, und Petrus, der neben ihm steht, wagt es, sein Haupt zu streicheln. Jesus erhebt seinen Blick und schaut seinen ehrlichen Simon mit einem traurigen Lächeln voller Liebe an.

«Oh, ich kann dich so nicht sehen! Es ist mir, als wäre die Freude unseres Wiedersehens entschwunden und als bliebe von ihr nur die Heiligkeit, nur sie! Indes ... Gehen wir nach Achsib. Dort wirst du dein Gewand wechseln, deine Wangen rasieren und deine Haare in Ordnung bringen. So kann es nicht bleiben! So kann ich dich nicht sehen... Du scheinst mir wie einer, der aus den Händen grausamer Verbrecher entflohen ist, ein Geschlagener, ein Erschöpfter... Du kommst mir vor wie Abel von Bethlehem in Galiläa, der von seinen Feinden befreit wurde ...»

«Ja, Petrus, aber das Herz deines Meisters ist es, das mißhandelt worden ist... und das wird nie mehr heilen... Ja, es wird immer mehr verwundet werden. Laßt uns gehen ...»

Johannes seufzt: «Es tut mir leid... Ich hätte Thomas, der deine Mutter so sehr liebt, gerne vom Wunder des Liedes und der Salbe erzählt...»

«Du wirst es eines Tages erzählen können... Aber nicht jetzt. Eines Tages werdet ihr alles sagen können. Ich selbst werde euch dann auftragen: "Gehet hin und berichtet alles, was ihr wißt." Doch vorerst sollt ihr im Wunder die Wahrheit erkennen, und zwar: die Macht des Glaubens. Sowohl Johannes als auch Syntyche haben das Meer beruhigt und den Mann geheilt, und dies nicht mit Worten und auch nicht mit der Salbe, sondern durch ihren Glauben, mit dem sie den Namen Marias genannt und die von ihr zubereitete Salbe angewandt haben. Dies ist auch geschehen, weil ihr Glaube von eurem Glauben und eurer Liebe umgeben war. Liebe zu dem Verletzten. Liebe gegenüber dem Kreter. Dem einen habt ihr das Leben erhalten, dem anderen den Glauben geben wollen. Aber wenn es auch leicht ist, den Leib zu heilen, so ist es doch sehr schwer, die Seele zu heilen... Kein Leid ist schwerer zu besiegen als das der Seele...», endet Jesus und seufzt tief.

Achsib kommt in Sicht. Petrus geht mit Matthäus voraus, um eine Unterkunft zu suchen, und die anderen folgen ihnen, eng um Jesus geschart. Während sie die Ortschaft betreten, geht die Sonne rasch unter...

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371. AUFENTHALT IN ACHSIB MIT SECHS APOSTELN

«Herr, diese Nacht habe ich gedacht... Warum willst du weit fortgehen, um dann an die phönizische Grenze zurückzukehren? Laß mich mit einem anderen gehen. Ich werde Antonius verkaufen... Obwohl es mir leid tut... aber nun ist er uns nicht mehr dienlich und würde nur auffallen. Ich werde Philippus und Bartholomäus entgegengehen. Sie können nur auf dieser Straße kommen, und so muß ich ihnen ja begegnen. Du kannst sicher sein, daß ich nichts sagen werde, denn ich möchte dir keinen Schmerz zufügen, ich... Du kannst dich hier mit den anderen ausruhen, und wir ersparen allen den weiten Weg nach Jiphtael... und kommen zudem schneller voran», sagt Petrus, während sie das Haus verlassen, in dem sie geschlafen haben. Sie sehen jetzt nicht mehr so entkräftet aus, denn sie tragen saubere Kleider, und Bart und Haare sind von kundiger Hand in Ordnung gebracht worden.

«Dein Gedanke ist gut, und ich halte dich nicht davon ab, ihn zu verwirklichen. Suche dir nur einen Gefährten aus, mit dem du gehen willst.»

«Ich gehe mit Simon, Herr, und bitte dich, uns zu segnen.

Jesus umarmt sie und sagt: «Mit einem Kuß. Geht nun.»

Sie sehen ihnen nach, wie sie rasch zur Ebene hinabsteigen.

«Wie gut ist er doch, unser Simon des Jonas! In diesen Tagen habe ich ihn schätzen gelernt wie nie zuvor», sagt Judas Thaddäus.

«Auch ich», sagt Matthäus. «Nie selbstsüchtig, nie stolz, nie anmaßend.»

«Er hat seine Stellung als Oberhaupt nie ausgenützt. Im Gegenteil! Er schien der Letzte von uns zu sein, obschon er stets seines Ranges eingedenk gehandelt hat», fügt Jakobus des Alphäus hinzu.

«Uns überrascht das nicht, denn wir kennen ihn seit Jahren als feurigen, aber herzensguten Menschen, und zudem ist er so ehrlich!», sagt Jakobus des Zebedäus.

«Mein Bruder ist gut, auch wenn er rauh ist, aber seit er bei Jesus ist, ist er doppelt so gut geworden. Ich habe einen ganz anderen Charakter als er. Zuweilen hat ihn dies beunruhigt; doch nur, weil er spürte, daß ich selbst darunter litt, war er um mich besorgt. Wenn man verstanden hat wie er ist, kommt man gut mit ihm aus», sagt Andreas.

«In diesen Tagen haben wir uns immer verstanden und sind ein Herz und eine Seele gewesen», beteuert Johannes.

«Ja, das habe auch ich festgestellt, denn während des ganzen Monats, auch in Augenblicken der Aufregung, hat es nie Mißstimmung gegeben. Während manchmal,... ich weiß nicht warum...» sagt Jakobus des Zebedäus zu sich selbst.

«Warum? Nun, das ist leicht verständlich. Wir alle haben ehrliche Absichten. Vollkommen sind wir nicht, aber rechtschaffen, und deswegen

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nehmen wir das Gute an, das einer uns vorschlägt, und weisen das Böse zurück, wenn es uns einer von uns, wenn wir es nicht erkannt haben, als solches nachweist. Warum? Nun, das ist leicht zu erklären. Wir acht hegen nur den einen Gedanken, alles so zu tun, daß Jesus Freude daran haben kann, und das ist es!», ruft Thaddäus aus.

«Ich glaube nicht, daß die übrigen andere Gedanken haben», sagt Andreas beschwichtigend.

«Nein, weder Philippus, noch Bartholomäus, obgleich dieser älter und sehr israelitisch gesinnt ist... Nicht einmal Thomas, der doch eher zum Menschlichen als zum Geistigen neigt. Ich würde ihnen unrecht tun, wenn ich sie beschuldigte... Jesus, du hast recht. Verzeihe! Aber wenn du wüßtest, was es für mich bedeutet, dich leiden zu sehen, und dann noch seinetwegen! Ich bin dein Jünger wie alle anderen. Doch zudem bin ich auch dein Freund und Bruder, und das hitzige Blut des Alphäus ist in mir. Jesus, schau mich nicht so streng und traurig an. Du bist das Lamm, und ich... der Löwe. Glaube mir, daß ich Mühe habe, mich zu beherrschen, um nicht mit einer Pranke das Netz der Verleumdungen, das dich umgibt, zu zerreißen und das Visier zu zerstören, hinter dem sich der wahre Feind verbirgt. Ich möchte sein wirkliches geistiges Gesicht sehen, dem ich einen Namen gebe – und vielleicht verleumde ich auf diese Weise – dem ich, wenn es mir gelänge, ihn unfehlbar zu erkennen, einen Denkzettel verpassen würde. Ich würde ihm für immer die Lust, dir zu schaden, austreiben», droht Thaddäus, der, als er zu sprechen begonnen hat, durch einen Blick Jesu zurechtgewiesen worden ist.

Jakobus des Zebedäus antwortet ihm: «Du müßtest halb Israel einen Denkzettel verpassen! ... Aber Jesus wird trotz allem seinen Weg gehen. Du hast es in diesen Tagen gesehen, daß niemand etwas gegen ihn vermag. Was machen wir jetzt, Meister? Hast du hier gesprochen?»

«Nein. Ich bin noch nicht einmal einen Tag hier auf diesen Hängen. Ich habe im Wald geschlafen.»

«Weil sie dich nicht aufgenommen haben?»

«Ihr Herz hat den Pilger abgewiesen... ich hatte kein Geld ...»

«Dann haben sie Herzen aus Stein! Was haben sie wohl befürchtet?»

«Daß ich ein Dieb sei... aber das macht nichts. Der Vater, der im Himmel ist, ließ mich eine verirrte oder entflohene Ziege finden. Kommt, ich zeige sie euch, sie lebt mit ihrem Zicklein im Gestrüpp und ist nicht geflohen, als sie mich kommen sah. Sie ließ mich sogar ihre Milch in meinen Mund spritzen... als ob auch ich eines ihrer Jungen wäre. Ich habe neben ihr geschlafen, mit dem Zicklein nahe an meiner Brust. Wie gut ist Gott mit seinem Wort!»

Sie begeben sich an jenen Ort, zu einem, mit dichten, dornigen Brombeersträuchern bewachsenen Fleck Erde, wo sich Jesus gestern aufgehalten hat. Dort steht eine uralte Steineiche. Ich weiß nicht, wie sie

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weiterleben kann mit ihrem mächtigen Stamm, der unten gespalten ist, als ob der Boden sich geöffnet und ihre Wurzeln zerrissen hätte. Sie ist ganz umwunden von grünem Efeu und kahlem Dorngestrüpp. In der Nähe weidet die Ziege mit ihrem Zicklein. Beim Anblick so vieler Menschen hebt sie ihre Hörner zur Verteidigung, doch bald erkennt sie Jesus wieder und beruhigt sich. Sie werfen ihr Brotkrusten zu und ziehen sich zurück.

«Dort habe ich geschlafen», erklärt Jesus, «und dort wäre ich geblieben, wenn ihr nicht gekommen wäret. Dann bekam ich Hunger, und der Zweck des Fastens war erfüllt... es war nicht mehr nötig, für andere Dinge durchzuhalten, die doch nicht mehr zu ändern sind...»

Jesus ist wieder traurig... Die sechs blicken sich gegenseitig verstohlen an, sagen aber nichts.

«Nun? Wohin gehen wir?»

«Heute bleiben wir hier. Morgen werden wir hinuntersteigen, um auf dem Weg nach Ptolemais zu predigen und um an die Grenzen der Phönizier zu gehen und vor dem Sabbat wieder hier zu sein...

Langsam kehren sie ins Dorf zurück.

372. VERKÜNDIGUNG DER FROHEN BOTSCHAFT AUF DEM WEGE NACH PHÖNIZIEN

Die schöne Straße von Phönizien nach Ptolemais führt schnurgerade durch die Ebene zwischen dem Meer und den Bergen, und da sie gut gepflegt ist, wird sie viel benützt. Häufig wird sie von kleinen Straßen gekreuzt, die von den Ortschaften in der Ebene zu denen an der Küste führen. An den meisten Straßenkreuzungen steht ein Haus, ein Brunnen und eine einfache Hufschmiede für die Tiere, die vielleicht neue Hufeisen benötigen könnten.

Jesus legt mit den sechs Aposteln, die bei ihm geblieben sind, ein gutes Stück Straße zurück, zwei Kilometer oder mehr. Es zeigt sich ihnen immer dasselbe Bild. Schließlich hält er an einem dieser Häuser mit Brunnen und Hufschmiede an, an einer Abzweigung bei einem Flüßchen, über das eine Brücke führt. Diese ist zwar solide gebaut, jedoch gerade so breit, daß ein Wagen passieren kann, so daß man oft anhalten muß. Das gibt den Reisenden verschiedener Rassen, wie Phöniziern und eigentlichen Juden, die einander sonst eher feindlich gesinnt sind, Gelegenheit, sich wenigstens in einer Sache einig zu werden, nämlich darin, Rom zu verwünschen... Ohne die Römer hätten sie jedoch nicht einmal diese Brücke und könnten bei Hochwasser nicht auf die andere Seite gelangen. Aber es ist eben so: der Unterdrücker ist immer verhaßt, selbst wenn er nützliche Dinge schafft.

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Jesus bleibt bei der Brücke in einem sonnenbeschienenen Winkel stehen, wo sich das Haus befindet, an dessen dem Gießbach zugewandten Seite die übelriechende Hufschmiede liegt, in der gerade Hufeisen für ein Pferd und zwei Esel geschmiedet werden. Das Pferd ist an einem römischen Wagen geschirrt, auf dem Soldaten sitzen, die sich damit ergötzen, den schimpfenden Hebräern Grimassen zu schneiden. Einem Alten mit langer Nase, der lauter als alle anderen schreit und mit seinem giftigen Mundwerk sicher gerne die Römer beißen würde, werfen sie eine Handvoll Pferdemist nach... Man kann sich vorstellen, was die Folge ist. Der alte Jude rennt brüllend davon, als wäre er vom Aussatz angesteckt worden, und ihm schließen sich im Chor andere Hebräer an. Die Phönizier schreien spöttisch: «Schmeckt euch das neue Manna nicht? Eßt, eßt, um die Kraft zu haben, über die zu schimpfen, die viel zu gut mit euch sind, ihr scheinheiligen Vipern!» Die Soldaten lachen höhnisch... Jesus schweigt.

Der römische Wagen fährt schließlich ab, während jemand den Hufschmied grüßt: «Salve, Titus, und viel Erfolg!» Der Mann, keck, alt, mit einem Stiernacken, einem bartlosen Gesicht, rabenschwarzen Augen über der dicken Nase, einer vorstehenden Stirn und spärlichem kurzem, krausem Haar, hebt den schweren Hammer zum Abschiedsgruß empor und wendet sich dann wieder seinem Amboß zu, auf den ein Junge ein glühendes Eisen gelegt hat, während ein anderer Bursche den Huf eines Esels absengt, um ihn für das Beschlagen vorzubereiten.

«Es sind fast alle Römer, diese Hufschmiede an den Straßen, Soldaten, die nach ihrer Dienstzeit hiergeblieben sind und hier gut verdienen. Nie machen sie Schwierigkeiten, wenn es darum geht, ein Tier zu versorgen... und ein Esel kann auch am Vorabend des Sabbat oder zur Zeit des Lichterfestes ein Hufeisen verlieren ...» bemerkt Matthäus.

«Der, der uns den Antonius beschlagen hat, war mit einer Jüdin verheiratet», sagt Johannes.

«Es gibt doch mehr dumme Frauen als gescheite», meint Jakobus des Zebedäus.

«Wem gehören dann die Kinder an? Gott oder dem Heidentum?» fragt Andreas.

«Gewöhnlich gehören sie dem stärkeren Ehepartner», antwortet Matthäus. Wenn die Frau keine Abtrünnige ist, werden sie Juden; denn diese Männer kümmern sich nicht viel darum. Sie sind nicht sehr... fanatisch, nicht einmal, was ihren Olymp angeht. Ich glaube, sie denken nur ans Geldverdienen, da sie viele Kinder zu versorgen haben.»

«Das sind jedoch verachtungswürdige Verbindungen, ohne einen Glauben, ohne ein wahres Vaterland... bei allen verhaßt!» sagt Thaddäus.

«Nein, da irrst du dich. Rom verachtet sie nicht. Im Gegenteil, es hilft

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ihnen immer. Sie sind so nützlicher als zu der Zeit, da sie die Waffen trugen. Mit der Verderbnis des Blutes dringen sie leichter als mit der Gewalt bei uns ein. Wenn jemand darunter leidet, so ist es die erste Generation. Dann verstreuen sie sich über das ganze Land... und die Welt vergißt», sagt Matthäus, der anscheinend viel Erfahrung in diesen Dingen hat.

«Ja, die Kinder sind es, die darunter leiden. Aber auch die jüdischen Frauen, die so verheiratet sind. Sie leiden ihretwegen und ihrer Kinder wegen... sie tun mir leid. Niemand spricht mehr mit ihnen von Gott. Doch in Zukunft wird es nicht mehr so sein. Diese Trennung zwischen Menschen und Nationen wird es dann nicht mehr geben, denn die Seelen werden vereint sein in einem einzigen Vaterland, dem meinigen», sagt Jesus, der bis dahin geschwiegen hat.

«Aber dann werden sie tot sein!» ruft Johannes aus.

«Nein, sie werden in meinem Namen versammelt werden. Nicht mehr Römer oder Libyer, Griechen oder Pontier, Iberer oder Gallier, Ägypter oder Hebräer werden sie sein, sondern Seelen Christi. Wehe jenen, welche die Seelen, die ich alle in gleicher Weise liebe und für die ich in gleicher Weise gelitten habe, nach ihrer Abstammung unterscheiden wollen. Wer so handelt, würde damit beweisen, daß er die Nächstenliebe, die weltumfassend ist, nicht begriffen hat.»

Die Apostel fühlen den Tadel, der aus diesen Worten spricht, und neigen schweigend ihre Häupter...

Der Lärm, den der Hammer auf dem Amboß erzeugt, verstummt, und schon verlangsamen sich auch die Schläge auf den letzten Eselhuf. Jesus nützt diese Pause, um seine Stimme zu erheben, damit ihn die Menschen hören können. Es scheint, als ob er fortfahren würde, zu den Aposteln zu sprechen. In Wirklichkeit spricht er zu den Vorübergehenden und vielleicht auch zu denen im Hause, wahrscheinlich zu Frauen, denn Frauenstimmen ertönen durch die schwüle Luft.

«Selbst wenn eine Verwandtschaft zwischen Menschen nicht zu bestehen scheint, ist sie doch immer vorhanden, und zwar jene, die auf die Abstammung vom alleinigen Schöpfer zurückgeht. Auch wenn sich die Söhne des einen Vaters getrennt haben, so ist die ursprüngliche Bindung deswegen nicht geändert worden, ebenso wie sich das Blut eines Sohnes nicht ändert, wenn er das väterliche Haus ablehnt. In den Adern Kains floß das Blut Adams, auch nach dem Verbrechen, das ihn zur Flucht durch die weite Welt trieb. In den Adern der Söhne, die nach dem Schmerz Evas über den ermordeten Sohn geboren wurden, floß dasselbe Blut, das auch in den Venen des fernen Kain kochte.

Ebenso, und noch ausgeprägter, verhält es sich mit der Gleichheit unter den Kindern des Schöpfers. Verirrt? Ja. Verbannt? Ja. Abtrünnig? Ja. Schuldig? Ja. Sie sprechen andere Sprachen und haben einen Glauben, den wir verabscheuen? Ja. Sie sind verdorben durch ihre Verbindungen

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mit Heiden? Ja, doch ihre Seele ist immer von einem Einzigen erschaffen worden, auch wenn sie zerrissen, verirrt, verbannt und verdorben ist ... und selbst, wenn sie Ursache des Schmerzes für Gott Vater ist, ist es doch stets eine von ihm erschaffene Seele.

Die guten Söhne eines allgütigen Vaters müssen eine gute Gesinnung haben, gut sowohl gegenüber dem Vater, als auch gegenüber den Brüdern, was auch immer aus ihnen geworden sein mag, denn sie sind Kinder ein und desselben Vaters. Sie müssen gut zum Vater sein und versuchen, ihn in seinem Schmerz über seine Söhne, die Sünder, Abtrünnige oder Heiden sind, zu trösten und sie zu ihm zurückzuführen. Sie müssen gut zu diesen sein, denn sie haben eine von demselben Vater erschaffene Seele, die zwar in einem sündigen Körper wohnt und durch eine falsche Religion beschmutzt und stumpfsinnig geworden ist, aber dennoch vom Herrn kommt und der unseren gleich ist.

Oh, bedenkt, ihr von Israel, daß es niemanden gibt, und wäre es auch der mit seinem Götzenkult von Gott entfernteste Heide oder der Gottloseste unter den Menschen, in dem nicht eine Spur seiner Abstammung zurückgeblieben ist. Ihr, die ihr gefehlt habt, indem ihr euch von der wahren Religion entfernt und euch zu Verbindungen herabgelassen habt, die unsere Religion verbietet, bedenkt: selbst wenn ihr glaubt, daß alles, was jüdisch in euch war, in der Liebe zu einem Menschen anderen Glaubens und anderer Rasse erstorben und erstickt ist, so ist es doch nicht tot, sondern lebt in euch: und das ist Israel! Ihr habt die Pflicht, dieses verglimmende Feuer wieder anzufachen, den Funken, der nach dem Willen Gottes noch glüht, zu nähren, um ihn, über eure fleischliche Liebe erhöht, wieder aufflackern zu lassen. Diese Liebe endet mit dem Tod, aber eure Seele stirbt nicht mit dem Tod. Bedenkt dies! Ihr, wer ihr auch immer sein möget, wenn ihr euch über die Mischehe einer Tochter Israels mit einem Manne anderen Glaubens und anderer Rasse ärgert, dann erinnert euch daran, daß ihr verpflichtet seid, der verirrten Schwester liebevoll beizustehen, auf daß sie die Wege des Vaters wiederfinde.

Die Anhänger des Erlösers sollen Schuld tilgen, wo immer es Schuld zu tilgen gibt, auf daß Gott sich der Seelen erfreue, die in den Schoß des Vaters zurückgefunden haben, und somit das Opfer des Erlösers nicht unfruchtbar oder umsonst sei. Dies ist das neue, heilige und dem Herrn wohlgefällige Gesetz.

Um viel Mehl zu durchsäuern, mischt die Hausfrau ein wenig vom übriggebliebenen Sauerteig der vergangenen Woche – ein Quentchen nur von einer großen Menge – unter den neuen Teig und schützt diesen vorsorglich in der Wärme des Hauses vor schädlichem Luftzug. Ihr wahren Jünger des Göttlichen Gutes, tut auch ihr dasselbe, und ihr Geschöpfe, die ihr euch vom Vater und seinem Reich abgewendet habt. Gebt, ihr Jünger, jenen Geschöpfen ein Quentchen von eurem Sauerteig als Hilfe und

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Stärkung, auf daß sie ihn mit dem Atom von Gerechtigkeit, das noch in ihnen wohnt, vermengen. Schützt den neuen Sauerteig vor den feindlichen Einflüssen des Bösen und bewahrt ihn in der Wärme der Liebe. Laßt die Verirrte fühlen, daß sie noch von Israel geliebt wird, als Tochter Sions und als eure Schwester, damit der gute Wille keime und in die Seelen und für alle Seelen das Reich des Himmels komme.»

«Wer ist er denn? Wer ist er?» fragen die Leute, die keine Eile mehr haben, die Brücke – obwohl diese nun frei ist – zu überqueren oder weiterzugehen, wenn sie schon auf der anderen Seite sind.

«Ein Rabbi!»

«Ein Rabbi von Israel.»

«Hier an der Grenze von Phönizien? Das ist das erstemal, daß so etwas vorkommt!»

«Und doch ist es so, denn Aser hat mir gesagt, daß er der ist, den sie den Heiligen nennen.»

«Dann ist er vielleicht zu uns geflohen, weil sie ihn dort, wo er war, verfolgt haben.»

«Es waren gewisse Schlangen!»

«Es ist gut, daß er zu uns kommt! Er wird Wunder wirken...»

Indessen hat sich Jesus auf einem Weglein durch die Felder entfernt...

373. JESUS IN ALEXANDROSCENAE

Die Straße ist wieder erreicht nach einem langen Umweg durch die Felder und nachdem sie auf einer Brücke aus knarrenden Brettern, die nur für Personen gedacht und eher ein Steg als eine Brücke ist, über einen Gießbach gegangen sind.

Der Marsch geht weiter über die Ebene, die, je näher die Hügel der Küste kommen, immer schmaler wird, so daß die Straße nach einem weiteren Gießbach, mit der unvermeidlichen römischen Brücke, zu einer Bergstraße wird. Von ihr zweigt bei der Brücke eine weniger steile Straße ab, die sich durch ein Tal nach Nordosten fortsetzt, während jene, die Jesus nach dem römischen Wegweiser "Nach Alexandroscenae V Meilen" gewählt hat, zu einer wirklichen Treppe in dem felsigen Berg wird, der seine spitze Nase im Mittelmeer spiegelt, das man, je höher man steigt, immer besser sehen kann. Nur Fußgänger und Maulesel benützen diesen Weg, oder vielmehr diese Treppe. Doch weil er eine starke Abkürzung darstellt, ist er auch viel begangen, und die Leute beobachten neugierig die galiläische Gruppe, die daherkommt und für sie eine ungewohnte Erscheinung ist.

«Das muß wohl das Kap des Sturmes sein», sagt Matthäus und zeigt auf das ins Meer ragende Vorgebirge.

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«Ja, hier unten liegt das Dorf, von dem uns der Fischer sprach», bestätigt Jakobus des Zebedäus.

«Wer mag wohl diese Straße gebaut haben?»

«Wer weiß, wie lange sie schon besteht, und vielleicht ist sie ein Werk der Phönizier ...»

«Von der Höhe werden wir Alexandroscenae sehen, hinter dem sich das "Weiße Kap" befindet. Du wirst ein weites Meer sehen, mein Johannes!»sagt Jesus und legt einen Arm um die Schultern des Apostels.

«Ich freue mich darauf. Doch bald wird es dunkel. Wo werden wir haltmachen?»

«In Alexandroscenae. Siehst du? Die Straße fällt schon ab, und dann ist alles Flachland bis zur Stadt, die man dort unten sieht.»

«Es ist die Stadt der Frau von Antigonea... Wie können wir es machen, um ihrem Wunsch nachzukommen?» sagt Andreas.

«Weißt du, Meister, sie hat uns gesagt: "Geht nach Alexandroscenae. Dort haben meine Brüder, die Proselyten sind, Warenlager. Sorgt dafür, daß sie vom Meister hören. Auch wir sind Kinder Gottes..." Sie hat geweint, denn da sie als Schwiegertochter nicht gern gesehen ist, besuchen sie die Brüder nie und sie weiß nichts von ihnen», erklärt Johannes.

«Wir werden die Brüder der Frau aufsuchen, und wenn sie uns als Wanderer aufnehmen, werden wir Gelegenheit haben, den Wunsch der Frau zu erfüllen...»

«Aber wie können wir ihnen sagen, daß wir sie gesehen haben?»

«Sie ist eine Untergebene des Lazarus, und wir sind Freunde des Lazarus», sagt Jesus.

«Das ist wahr. Wirst du dann sprechen ...»

«Ja. Doch beeilt euch, damit wir das Haus finden. Wißt ihr, wo es ist?»

«Ja, bei der Festung. Diese Leute haben gute Beziehungen zu den Römern, denen sie vieles verkaufen.»

«Gut so.»

Sie gehen raschen Schrittes auf der schönen, ebenen Straße weiter, einer wahren Prachtstraße, die gewiß, nachdem sie stufenweise die felsige Küste entlang geführt hat, mit den Straßen im Landesinnern verbunden ist.

Alexandroscenae ist eher für Soldaten als für Zivilisten erbaut worden und muß eine gewisse militärische Bedeutung haben, die mir nicht bekannt ist. Eingebettet zwischen die beiden Vorgebirge, scheint sie ein Wachtposten für diesen Teil des Meeres zu sein. Nun kann man sowohl das eine als auch das andere Kap sehen und die Wehrtürme, die dicht aneinandergereiht eine Kette bilden mit denen in der Ebene und in der Stadt, wo nahe am Ufer die imposante Festung thront.

Nachdem sie nahe beim Tor einen weiteren Gießbach überquert haben,

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betreten sie die Stadt, begeben sich in dem schroffen Wall der Burg und sehen sich neugierig um, während sie selbst neugierig beobachtet werden.

Die Soldaten sind sehr zahlreich und scheinen in gutem Einvernehmen mit der Bevölkerung zu stehen, was die Apostel zu der geflüsterten Bemerkung veranlaßt: «Phönizisches Volk! Ehrlos!»

Sie gelangen zu den Lagern der Brüder Hermiones, während die letzten Käufer mit den verschiedensten Waren beladen herauskommen; ich sehe Webstoffe, Geschirr, Heu, Getreide, Öl und Lebensmittel. Die Gerüche von Leder, Gewürzen, Heu- und Strohballen und Rohwolle füllen den weiten Torgang, der zum Hof führt, groß wie ein Marktplatz und von Säulenhallen mit den verschiedenen Lagern umgeben ist.

Ein bärtiger, braunhaariger Mann eilt herbei: «Was wollt ihr? Lebensmittel?»

«Ja... und wir suchen auch Unterkunft, wenn du es nicht für unter deiner Würde hältst, Fremdlinge aufzunehmen. Wir kommen von weither und waren noch nie hier. Nimm uns auf im Namen des Herrn.»

Der Mann schaut Jesus, der für alle spricht, aufmerksam an, durchforscht ihn und sagt schließlich: «Wahrlich, ich gebe für gewöhnlich keine Unterkunft, doch du gefällst mir. Du bist ein Galiläer, nicht wahr? Die Galiläer sind besser als die Judäer, die zu hochnäsig sind. Sie verzeihen uns nicht, daß wir nicht von reinem Blut sind, aber sie würden besser daran tun, dafür zu sorgen, selbst eine reine Seele zu haben. Komm, tritt ein, ich komme gleich, ich will nur abschließen, denn es wird schon dunkel.» Tatsächlich ist die Dämmerung bereits sehr vorgeschritten, was sich in dem düsteren, von der Festung beherrschten Hof noch stärker bemerkbar macht.

Sie betreten einen Raum und setzen sich müde auf die umherstehenden Stühle...

Der Mann kommt mit zwei anderen zurück, der eine älter, der andere noch ziemlich jung, deutet auf die Gäste, die sich von ihren Sitzen erheben und grüßen, und sagt: «Hier! Was meint ihr? Sie scheinen ehrliche Leute zu sein ...»

«Ja, du hast gut gehandelt», sagt der Ältere seinem Bruder, und zu den Gästen gewandt, oder besser zu Jesus, der ganz offensichtlich deren Haupt zu sein scheint: «Wie heißt ihr?»

«Jesus von Nazareth, Jakobus und Judas, ebenfalls von Nazareth, Jakobus, Johannes und Andreas von Bethsaida und Matthäus von Kapharnaum.»

«Wie kommt es, daß ihr hier seid? Seid ihr Verfolgte?»

«Nein! Wir verkünden die Frohe Botschaft. Wir haben mehr als einmal Palästina von Galiläa nach Judäa, vom einen zum anderen Meer durchwandert, und sogar in Transjordanien und in der Hauranitis waren wir. Nun sind wir hierhergekommen... um zu lehren.»

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«Ein Rabbi hier? Das verwundert uns, nicht wahr, Philippus und Elias?» fragt der Ältere.

«Sehr. Welcher Kaste gehört ihr an?»

«Keiner! Ich komme von Gott, und die Guten der Welt glauben an mich. Ich bin arm und liebe die Armen, aber ich verachte die Reichen nicht, die ich Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Loslösung vom Reichtum lehre, so wie ich die Armen lehre, ihre Armut zu lieben im Vertrauen auf Gott, der niemanden zugrundegehen läßt. Unter meinen reichen Freunden und Jüngern ist Lazarus von Bethanien...»

«Lazarus? Wir haben eine Schwester, die mit einem seiner Untergebenen verheiratet ist.»

«Ich weiß es, deswegen bin ich auch gekommen, um euch auszurichten, daß sie euch liebt und euch grüßen läßt.»

«Hast du sie gesehen?»

«Ich nicht. Doch diese, die bei mir sind, und von Lazarus nach Antigonea gesandt wurden.»

«Oh, sagt! Was macht Hermione? Ist sie wirklich glücklich?»

«Der Mann und die Schwiegermutter lieben sie sehr. Der Schwiegervater achtet sie», sagt Judas Thaddäus.

«Aber er verzeiht ihr die Abstammung mütterlicherseits nicht, sage es nur.»

«Er wird auch noch soweit kommen, zu verzeihen, denn er hat sie sehr gelobt. Sie haben vier schöne und gute Kinder und das macht sie glücklich. Aber sie denkt stets an euch und wollte, daß der göttliche Meister zu euch kommt.»

«Aber wie... Bist du ... Bist du der, den sie den Messias nennen 7»

«Ich bin es!»

«Bist du wirklich der ... Sie haben uns in Jerusalern gesagt, du bist der, den man... das Wort Gottes nennt. Ist es wahr?»

«Ja!»

«Aber bist du es nur für jene dort oder für alle?»

«Für alle! Könnt ihr glauben, daß ich es bin?»

«Glauben kostet nichts, umso mehr wenn man hofft, daß der, an den man glaubt, imstande ist, wegzunehmen, was Leid schafft.»

«Das ist wahr, Elias, aber sprich nicht so, denn es ist ein sehr unreiner Gedanke, viel unreiner als gemischtes Blut. Freue dich nicht in der Hoffnung, von dem befreit zu werden, was dich als Mensch infolge der Verachtung der anderen kränkt, sondern freue dich über die Hoffnung, das Himmelreich zu gewinnen.»

«Du hast recht. Ich bin ein halber Heide, Herr ...»

«Verzage deshalb nicht, denn ich liebe auch dich und bin deinetwegen gekommen.»

«Sie werden müde sein, Elias, und du hältst sie mit Reden auf. Laßt uns

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nun zum Abendessen gehen und danach führen wir sie zu ihren Nachtlagern. Es sind keine Frauen hier... Keine Israelitin hat uns gewollt, und wir wollten jeweils nur eine von ihnen. Verzeih daher, wenn das Haus dir kahl und kalt vorkommt.»

«Euer gutes Herz wird es schmuck und warm für mich gestalten.»

«Wie lange willst du bleiben?»

«Nicht länger als einen Tag. Ich möchte nach Tyrus und Sidon gehen und vor dem Sabbat in Achsib sein.»

«Das kannst du nicht, Herr! Sidon ist weit entfernt!»

«Morgen möchte ich hier sprechen.»

«Unser Haus ist wie ein Hafen. Ohne es zu verlassen wirst du Zuhörer finden, so viele du willst, umso mehr, als morgen großer Markttag ist.»

«Gehen wir also, und der Herr möge euch eure Güte vergelten.»

374. AM TAG DANACH IN ALEXANDROSCENAE

Der Hof der drei Brüder liegt teils im Schatten, teils in der Sonne. Er ist voll von Menschen, die kommen und gehen, um ihre Einkäufe zu erledigen. Draußen vor dem Tore, auf dem Marktplatz, tobt der Lärm des Marktes von Alexandroscenae. Es ist ein wirres Kommen und Gehen von Händlern und Käufern, die Esel, Schafe, Lämmer und Hühner mit sich führen; denn hier macht man keine Umstände und die Hühner werden zu Markte getragen, ohne daß man irgendwelche Verunreinigungen befürchtet. Das Eselgeschrei, das Geblöke, das Hühnergegacker und das sieghafte Kikeriki der jungen Hähne vermischt sich mit den Stimmen der Menschen zu einem heiteren Chor, der zeitweilig wegen irgendeines Streites hohe, dramatische Töne annimmt.

Auch im Hof der Brüder geht es laut zu, und es fehlt auch nicht an Streit, sei es wegen eines Preises oder weil ein Käufer weggenommen hat, was ein anderer schon vor ihm ausgesucht hatte. Es fehlt auch nicht das Gejammer der Bettler, die auf dem Platz beim Tor mit ihren klagenden Stimmen wie Sterbende ihre unzähligen Unglücksfälle aufzählen.

Römische Soldaten kommen und gehen stolz wie Herren durch das Warenlager und über den Platz. Ich nehme an, daß sie im Dienst sind, denn ich sehe sie bewaffnet und nie einzeln zwischen den Phöniziern, die alle Waffen tragen.

Auch Jesus geht mit seinen sechs Aposteln im Hof hin und her, als warte er auf den geeigneten Zeitpunkt, um zu sprechen. Dann begibt er sich einen Augenblick auf den Platz hinaus zu den Bettlern, denen er eine milde Gabe gibt. Eine Zeitlang werden die Leute von ihren Geschäften abgelenkt, doch dann betrachten sie die galiläische Gruppe und fragen sich,

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wer diese fremden Menschen wohl sein könnten. Manch einer, der sich bei den drei Brüdern erkundigt hat, sagt den anderen Bescheid.

Ein Flüstern folgt den Schritten Jesu, der ruhig dahingeht und die Kinder streichelt, denen er unterwegs begegnet. In dem Geflüster fehlt es nicht an spöttischem Grinsen und wenig schmeichelhaften Bemerkungen über die Hebräer, so wie es auch nicht an ehrlichem Verlangen fehlt, diesen "Propheten", diesen "Rabbi", diesen "Heiligen", diesen "Messias" aus Israel einmal sprechen zu hören; denn das sind die Namen, die sie nennen, während sie auf ihn deuten, je nach dem Grad ihres Glaubens und der Rechtschaffenheit ihres Herzens.

Ich höre zwei Mütter sagen: «Ist es denn wahr?»

«Daniel selbst hat es mir gesagt. Er hat in Jerusalern mit Leuten gesprochen, welche die Wunder des Heiligen gesehen haben.»

«Ja, das ist möglich! Aber er ist auch wirklich derselbe Mann?»

«Oh, Daniel hat mir versichert, daß nur er es sein kann, so wie er spricht.»

«Also, was sagst du? Wird er mir Gnade erweisen, auch wenn ich nur ein Proselyt bin?»

«Ich glaube schon... Versuche es! Vielleicht kommt er später nicht mehr zu uns zurück. Versuche es, versuche es! Er wird dir gewiß nichts Böses antun!»

«Ich gehe hin», sagt das Frauchen und läßt einen Geschirrhändler stehen, mit dem sie gerade um den Preis von Schüsseln gefeilscht hat. Der Verkäufer hat dem Gespräch der beiden zugehört und ist enttäuscht und aufgebracht über den Verlust des Geschäftes; er macht seinem Zorn Luft und läßt ihn an der zurückgebliebenen Frau aus, die er mit Vorwürfen überhäuft: «Verfluchte Proselyten! Jüdisches Blut! Dumme Frau», usw.

USW.

Ich höre zwei würdevolle, bärtige Männer miteinander reden: «Ich möchte ihn gerne hören. Man sagt, daß er ein großer Rabbi ist.»

«Ein Prophet, solltest du sagen. Größer als der Täufer. Elias hat mir gewisse Dinge erzählt! Und was für Dinge! Er muß es wissen, denn er hat eine Schwester, die mit einem Untergebenen eines reichen Israeliten verheiratet ist, und um etwas über sie zu erfahren, befrage die Gefährten. Dieser reiche Mann ist ein enger Freund des Rabbi.»

Ein dritter, vielleicht ein Phönizier, der in der Nähe steht und das Gespräch gehört hat, steckt sein feines, spöttisches Gesicht zwischen die beiden und sagt höhnisch: «Schöne Heiligkeit, die gewürzt ist mit Reichtum! Nach dem, was ich weiß, sollte ein Heiliger in Armut leben!»

«Schweig, Doras, du verleumderische Zunge, du Heide, du bist nicht würdig, über solche Dinge zu urteilen.»

«Ach! Seid ihr wohl dessen würdig, besonders du, Samuel? Du tätest besser daran, mir deine Schuld zurückzuzahlen.»

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«Da hast du dein Geld! Und schleiche nicht mehr um mich herum, du Vampir mit einem Faungesicht!»...

Ich höre einen halbblinden Greis, der von einem kleinen Mädchen begleitet wird, fragen: «Wo ist er? Wo ist der Messias?» und das Mädchen: «Macht dem alten Markus Platz! Sagt dem alten Markus, wo der Messias ist!»

Die beiden Stimmen, die alte schwach und zitternd, die kindliche silbern und bestimmt, erklingen umsonst auf dem Platz bis ein Mann fragt: «Wollt ihr zum Rabbi gehen? Er ist zum Haus des Daniel zurückgekehrt, dort steht er und spricht mit den Bettlern.»

Ich höre zwei römische Soldaten: «Es muß der sein, den die Juden verfolgen! Schon auf den ersten Blick erkennt man, daß er besser ist als sie.»

«Gerade deswegen ist er ihnen lästig.»

«Sagen wir es dem Fähnrich. Das ist Befehl!»

«Sehr töricht, o Cajus! Rom hütet sich vor den Lämmern, und es duldet, oder besser, es schmeichelt den Tigern», sagt Scipio.

«Das scheint mir nicht so, Scipio! Pontius ist schnell bereit zu töten.»

«Ja... aber er verschließt sein Haus den schleichenden Hyänen, die ihm schmeicheln, nicht.»

«Politik, Scipio! Politik!»

«Feigheit, Cajus, und Dummheit! Diesen müßte er sich zum Freunde machen, damit er ihm hilft, dieses asiatische Gesindel zum Gehorsam zu erziehen. Pontius erweist Rom keinen guten Dienst, wenn er diesen Guten nicht beachtet und den Bösen schmeichelt», sagt Scipio.

«Kritisiere den Prokonsul nicht! Wir sind Soldaten, und der Vorgesetzte ist uns heilig wie ein Gott. Wir haben dem göttlichen Caesar Gehorsam gelobt, und der Prokonsul ist sein Stellvertreter», meint Cajus.

«Das mag sein, was die Pflicht dem heiligen unsterblichen Vaterland gegenüber betrifft, aber nicht, was die innere Einstellung anbelangt.»

«Aber der Gehorsam kommt von der inneren Einstellung. Wenn dein Geist sich gegen einen Befehl auflehnt und ihn kritisiert, gehorchst du nicht mehr unbedingt. Rom stützt sich auf unseren blinden Gehorsam, um seine Eroberungen zu sichern», erörtert Cajus.

«Du sprichst wie ein Tribun und du hast recht. Doch wenn Rom auch Königin ist, so sind wir doch nicht ihre Sklaven, sondern ihre Untergebenen. Rom hat keine und darf keine sklavischen Bürger haben. Die Sklaverei zwingt der Vernunft der Bürger das Schweigen auf. Meine Vernunft sagt mir, daß Pontius schlecht handelt, wenn er diesen Israeliten nicht beschützt, sei er nun der Messias, ein Heiliger, ein Prophet oder ein Rabbi, und ich fühle, daß ich das sagen kann, ohne daß mein Glaube an Rom oder meine Liebe zu Rom dadurch beeinträchtigt würden. Vielmehr hoffe ich, daß Pontius sich eines Besseren besinnt, denn ich spüre, daß er zum

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Wohle Roms beiträgt, wenn er Ehrfurcht vor den Gesetzen und deren Vertretern lehrt.»

«Du bist gelehrt, Scipio ... Du wirst Karriere machen. Du bist schon weit voran. Ich bin ein armer Soldat. Aber schau einmal, dort scharen sich die Leute um den Mann. Laß uns die Offiziere benachrichtigen.»

Tatsächlich ist am Tor der drei Brüder eine Volksmenge um Jesus versammelt, den man wegen seiner hohen Gestalt gut sehen kann. Plötzlich ertönt ein Schrei, und Aufregung entsteht unter den Leuten. Noch andere eilen vom Markt herbei, während einige aus der Menge zum Platz und weiter laufen. Fragen... Antworten...

«Was ist vorgefallen?»

«Was gibt es?»

«Der Mann aus Israel hat den alten Markus geheilt.»

«Der Schleier vor seinen Augen ist verschwunden.»

Jesus hat inzwischen, gefolgt von einer Menschenmenge, den Hof betreten. Ganz hinten ist einer der Bettler, der sich mehr auf seinen Händen als auf den Füßen vorwärtsbewegt. Aber während die Beine verkrüppelt und schwach sind, so daß er ohne Krücken nicht vorwärtskommen würde, ist seine Stimme sehr kräftig, und wie eine Sirene durchdringt sie die sonnige Morgenluft: «Heiliger! Heiliger! Messias! Rabbi! Habe Erbarmen mit mir!» schreit er immerzu wie ein Verzweifelter.

Zwei oder drei Personen drehen sich nach ihm um: «Halte deinen Mund! Markus ist Jude und du nicht.»

«Er wirkt nur an wahren Israeliten Wunder, nicht am Gesindel!»

«Meine Mutter war Jüdin ...»

«Ja, und Gott hat sie gestraft, indem er ihr ihrer Sünde wegen einen Krüppel als Sohn gegeben hat. Weg mit dir, Sohn einer Wölfin! Geh an deinen Platz, Schmutz zum Schmutz ...»

Der Mann drängt sich gedemütigt und aus Angst vor den geballten Fäusten an die Mauer ...

Jesus bleibt stehen, wendet sich nach ihm um und gebietet: «Mann, komm hierher!»

Der Mann schaut ihn an und dann die, die ihn bedrohen... und wagt nicht zu gehorchen.

Jesus bahnt sich einen Weg zu ihm durch die kleine Menge. Er nimmt ihn bei der Hand, oder vielmehr, er legt ihm seine Hand auf die Schulter und sagt: «Hab keine Angst, folge mir!» und mit einem Blick auf die Grausamen sagt er streng: «Gott gehört allen Menschen, die ihn suchen und barmherzig sind!»

Jene verstehen die Andeutung, und nun sind sie es, die im Hintergrund bleiben, oder vielmehr, die stehenbleiben, wo sie sind.

Jesus dreht sich wieder um. Er sieht sie dort, verwirrt und bereit, wegzugehen, und sagt zu ihnen: «Nein, kommt nur. Es wird euch guttun,

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wenn sich eure Seele aufrichtet und stärkt, so wie ich diesen aufrichte und stark mache, weil er glauben kann. Mann, ich sage dir: sei geheilt von deiner Krankheit.» Dann nimmt er seine Hand von der Schulter des Krüppels, der wie von einem Stoß geschüttelt worden ist.

Nun richtet sich der Mann auf, steht sicher auf seinen Füßen, wirft die abgenützten Krücken weg und ruft laut: «Er hat mich geheilt! Der Gott meiner Mutter sei gepriesen!» Dann kniet er nieder, um den Saum des Gewandes Jesu zu küssen.

Der Tumult jener, die sehen wollen oder gesehen haben und kommentieren, ist an seinen Höhepunkt gelangt. In dem tiefen Gang, der vom Platz zum Hof führt, hallen die Stimmen wie in einem Brunnen wider, und die Festungsmauern werfen das Echo zurück.

Die Soldaten müssen annehmen, daß ein Streit ausgebrochen ist – was an diesen Orten mit großen Rassen- und Glaubensunterschieden leicht passieren kann – und ein Trupp eilt herbei, macht sich rücksichtslos Platz und erkundigt sich nach dem Vorgefallenen.

«Ein Wunder! Ein Wunder! Jonas, der Krüppel, ist geheilt worden. Dort ist er, bei dem Mann aus Galiläa.»

Die Soldaten schauen sich schweigend an und warten, daß sich die Menge verläuft, hinter der immer neue Menschen folgen, die aus den Läden und von dem Platz kommen, auf dem nur die Verkäufer zurückgeblieben sind, enttäuscht über die unerwartete Ablenkung ihrer Kundschaft, die sie um die Einnahmen des Tages bringt. Als sie nun einen der drei Brüder vorübergehen sehen, fragen sie: «Philippus, weißt du, was der Rabbi nun tut?»

«Er spricht, er lehrt, er ist in meinem Hof t» sagt Philippus frohlockend.

Die Soldaten beraten sich: Hierbleiben? Fortgehen?

«Der Fähnrich hat gesagt, wir sollen ihn überwachen...»

«Wen? Den Mann? Ach, wenn es nur seinetwegen wäre, dann könnten wir auch um einen Krug Zypernwein würfeln gehen», sagt Scipio, der Soldat, der Jesus zuvor dem Kameraden gegenüber verteidigt hat.

«Ich würde sagen, daß eher er es ist, der beschützt werden muß, nicht das Recht Roms. Seht ihr ihn dort? Unter unseren Göttern gibt es keinen mit einem so sanften und doch so männlichen Aussehen. Das Gesindel ist es nicht wert, ihn bei sich zu haben, und da die Unwürdigen stets böse sind, bleiben wir hier, um ihn zu beschützen. Im Notfall werden wir ihm den Rücken decken und diese Verbrecher verprügeln», sagt halb spöttisch, halb bewundernd ein anderer.

«Du hast recht, Pudentius. Vielmehr, damit Procorus, der Fähnrich, der dauernd von Verschwörungen gegen Rom träumt und... von Beförderungen für sich – dank seiner scharfen Wache über das Wohl des göttlichen Caesar und der Göttin Roma, der Mutter und Herrin der Welt – sich

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selbst davon überzeugen kann, daß er sich hier keine Orden oder Auszeichnungen erwerben kann... Geh und rufe ihn, Acius.»

Ein junger Soldat eilt davon, kommt im Laufschritt zurück und sagt: «Procorus kommt nicht. Er schickt den Triarier (Legionsveteran) Aquila ...»

«Gut! Gut! Er ist noch besser als Caecilius Maximus. Aquila hat in Afrika und in Gallien gedient; er war in den grausigen Wäldern Germaniens, die uns Varus und seine Legionen geraubt haben. Er kennt Griechen und Briten und weiß mit gutem Gespür zu unterscheiden... Oh, sei gegrüßt. Da kommt der siegreiche Aquila! Komm und lehre uns Armselige, den Wert eines Menschen zu erkennen!»

«Es lebe Aquila, das Vorbild der Miliz!» schreien alle und schütteln

den alten Soldaten mit dem von Narben gezeichneten Gesicht; und wie das Gesicht, so sind auch die nackten Arme und Waden.

Er lächelt gutmütig und ruft: «Es lebe Rom, das Vorbild der Welt, nicht ich, der arme Krieger. Was gibt es denn zu tun?»

«Den großen Mann zu überwachen, der so blond ist wie das hellste Kupfer.»

«Gut. Aber wer ist er denn?»

«Sie sagen, er sei der Messias. Er heißt Jesus und ist aus Nazareth. Er ist es, weißt du, dessentwegen der Befehl erlassen wurde ...»

«Hm! Ja, ja... Aber mir scheint, daß wir hinter blauem Dunst herlaufen.»

«Sie sagen, er wolle sich zum König machen und Rom stürzen. Das Synedrium und die Pharisäer, die Sadduzäer und Herodianer haben ihn bei Pontius angezeigt. Du weißt, daß die Juden diese Idee im Kopf haben, und ab und zu kommt dabei ein König heraus ...»

«Ja, ja... Aber wenn es deswegen ist! ... Auf jeden Fall wollen wir hören, was er sagt. Mir scheint, er bereitet sich zum Reden vor.»

«Ich habe von dem Soldaten, der beim Centurio dient, erfahren, daß Publius Quintilianus von ihm wie von einem göttlichen Philosophen gesprochen hat... und auch die kaiserlichen Frauen sind begeistert...», sagt ein anderer junger Soldat.

«Das glaube ich gerne! Auch ich wäre begeistert, wenn ich eine Frau wäre, und würde mir wünschen, ihn in meinem Bett zu haben...» sagt lachend ein weiterer junger Soldat.

«Schweig, du Schmutzfink! Die Wollust frißt dich auf!» scherzt ein anderer.

«Und dich nicht, Fabius? Anna, Sira, Alba, Maria?»

«Schweig, Sabinus! Er spricht, und ich will ihm zuhören», befiehlt der Legionsveteran, und alle schweigen.

Jesus ist an der Mauer auf eine Kiste gestiegen und deshalb für alle zu sehen. Sein liebevoller Gruß ist schon durch die Luft erschallt, gefolgt von

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den Worten: «Kinder des einen Schöpfers, hört!» Dann fährt er fort, umgeben vom aufmerksamen Schweigen der Leute.

«Die Zeit der Gnade für alle, nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt, ist gekommen.

Ihr Juden, die ihr aus vielerlei Gründen hier seid, ihr Proselyten, Phönizier, Heiden, hört alle das Wort Gottes, versteht die Gerechtigkeit, erkennt die Liebe. Mit der Weisheit, der Gerechtigkeit und der Liebe habt ihr die Mittel, um zum Reiche Gottes zu gelangen; zu dem Reich, das nicht nur für die Kinder Israels, sondern für all jene bestimmt ist, die von jetzt an den wahren, einzigen Gott lieben und den Worten seines Wortes glauben werden.

Hört! Ich bin von sehr weit her gekommen, aber nicht mit der Absicht eines Unterdrückers oder der Gewalt eines Eroberers. Ich bin nur gekommen, um der Erlöser eurer Seelen zu sein. Herrschaft, Reichtümer und Ehrenstellen ziehen mich nicht an und bedeuten mir nichts. Ich schaue nicht einmal auf sie, oder vielmehr, ich betrachte sie voller Mitleid, da sie ebensoviele Ketten sind, welche eure Seele gefangen halten und sie daran hindern, zum Herrn, zum Ewigen, Einzigen, Allumfassenden, Heiligen und Gesegneten zu gelangen. Ich blicke auf sie und nähere mich ihnen als den größten Armseligkeiten. Ich versuche, sie zu befreien von ihrer betörenden, grausamen Anziehungskraft, damit sich die Menschenkinder ihrer in Gerechtigkeit und Heiligkeit bedienen und sie nicht als grausame Waffen benützen, die den Menschen verwunden und töten, und vor allem den Geist dessen, der sich ihrer nicht in heiliger Weise bedient.

Wahrlich, ich sage euch: es ist für mich leichter, einen entstellten Körper zu heilen als eine entstellte Seele; es ist für mich leichter, erloschenen Pupillen die Sehkraft und einem Sterbenden die Gesundheit wiederzugeben, als den Geist des Menschen zu erleuchten und kranke Seelen zu heilen. Warum das? Weil der Mensch sein wahres Lebensziel aus dem Auge verloren hat und sich zu sehr um das Vergängliche kümmert. Der Mensch weiß nicht, oder erinnert sich nicht, oder wenn er sich noch daran erinnert, will er dem heiligen Gebot des Herrn, Gutes zu tun, nicht gehorchen – und dies gilt auch den Heiden, die mir zuhören – denn es gilt für Rom wie für Athen, für Gallien wie auch für Afrika, weil das Sittengesetz unter jedem Himmel, in jeder Religion und in jedem aufrechten Herzen besteht. Die Religionen, angefangen von jener Gottes bis zur individuellen Moral, sagen alle, daß der bessere Teil von euch überlebt und gemäß seinem Verhalten auf dieser Erde seinen Lohn im anderen Leben erhalten wird.

Demzufolge ist das Ziel des Menschen der Erwerb des Friedens im anderen Leben, und nicht die Völlerei, die Habgier, die Herrschsucht und das Vergnügen, die nur kurze Zeit dauern und eine Ewigkeit lang mit sehr harten Strafen vergolten werden.

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Entweder kennt der Mensch diese Wahrheit nicht, erinnert sich nicht daran oder will sich nicht daran erinnern. Wenn er sie nicht kennt, ist er weniger schuldig; wenn er sie vergißt, ist er schon schuldig, denn die Wahrheit muß wach erhalten bleiben, wie eine heilige Fackel, in Geist und Herz. Doch wenn er sich nicht daran erinnern will oder wenn er bei ihrem Aufflammen seine Augen schließt, um sie nicht zu sehen, weil er sie haßt, wie die Stimme eines schulmeisterlichen Redners: dann ist seine Schuld groß, sehr groß!

Wenn jedoch die Seele ihr schlechtes Handeln verabscheut und sich vornimmt, für den Rest des Lebens das wahre Ziel des Menschen anzustreben, das darin besteht, den ewigen Frieden im Reiche des wahren Gottes zu erlangen, dann verzeiht ihr Gott. Seid ihr bisher den falschen Weg gegangen? Seid ihr betrübt, weil ihr glaubt, es sei zu spät, den richtigen Weg einzuschlagen? Seid ihr untröstlich und sagt: "Ich habe nichts davon gewußt! Ich bin so unwissend und weiß nicht, was ich tun soll." Nein, denkt nicht, daß es sich wie bei materiellen Dingen verhält, daß es viel Zeit und Mühe kostet, das Vergangene wiedergutzumachen. Mit der Heiligkeit verhält es sich anders. Die Güte des Ewigen, des wahren Herrn und Gottes ist so unendlich, daß er euch nicht den bereits zurückgelegten Weg zurückgehen läßt bis an den Scheideweg, an dem ihr den richtigen Weg für den falschen verlassen habt. So groß ist seine Güte, daß er im Augenblick, da ihr sagt: "Ich will der Wahrheit angehören", also Gott, denn Gott ist die Wahrheit, durch ein rein geistiges Wunder die Weisheit in euch eingießt, wodurch ihr von Unwissenden zu Besitzern übernatürlicher Wissenschaft werdet, gleich denen, die sie schon seit Jahren besitzen.

Weisheit ist, nach Gott zu streben, Gott zu lieben, den Geist zu pflegen, das Reich Gottes anzustreben und alles abzuweisen, was Fleisch, Welt und Satan ist. Weisheit ist, dem Gesetz Gottes, welches das Gesetz der Liebe, des Gehorsams, der Enthaltsamkeit und der Rechtschaffenheit ist, zu gehorchen. Weisheit ist, Gott mit seinem ganzen Wesen und den Nächsten wie sich selbst zu lieben. Das sind die beiden unentbehrlichen Grundlagen, um weise gemäß der Weisheit Gottes zu sein. Unsere Nächsten sind nicht nur jene unseres Blutes, unserer Rasse und unserer Religion, sondern alle Menschen, Reiche und Arme, Gelehrte und Unwissende, Juden, Proselyten, Phönizier, Griechen, Römer ...»

Jesus wird von dem drohenden Geschrei gewisser Hetzer unterbrochen. Er schaut sie an und sagt: «Ja, das ist Liebe, denn ich bin kein schmeichlerischer Lehrer und sage die Wahrheit; und so muß ich handeln, um das in euch zu säen, was für das ewige Leben notwendig ist. Ob es euch gefällt oder nicht, ich muß es sagen, um meine Aufgabe als Erlöser zu erfüllen, und an euch ist es, eure Pflicht zu tun, da ihr der Erlösung bedürft. Also, den Nächsten lieben, und zwar mit einer alles umfangenden Liebe, einer heiligen Liebe, und nicht mit einer Liebe, die mit schmutzigen Interessen

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verbunden ist, so daß der Römer, der Phönizier oder der Proselyt zu verfluchen wäre, solange nicht die Sinne oder das Geld im Spiele sind, während im entgegengesetzten Falle jeder Fluch fällt ...»

Erneut entsteht Unruhe in der Menge, während die Römer auf ihrem Platz in der Säulenhalle rufen: «Beim Jupiter! Der Mann spricht gut!»

Jesus wartet, bis sich die Unruhe gelegt hat, und fährt dann fort: «Wir sollen den Nächsten lieben, wie auch wir geliebt werden wollen. Uns mißfällt es, mißhandelt, verachtet, beraubt, unterdrückt, verleumdet und beschimpft zu werden, und die gleiche nationale oder persönliche Empfindlichkeit, die wir haben, haben auch die anderen Menschen. Hüten wir uns also davor, uns gegenseitig etwas Böses anzutun, das wir selbst nicht erleiden möchten.

Weisheit ist es, den Zehn Geboten Gottes zu gehorchen, die lauten:

"Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine fremden Götter neben mir haben. Du sollst keine Götzenbilder haben und ihnen keine Verehrung erweisen.

Du sollst den Namen Gottes nicht vergeblich nennen. Es ist der Name deines Herrn und Gottes, und Gott wird den strafen, der ihn ohne Grund, bei einem Fluch oder zur Bestätigung einer Sünde, anruft.

Gedenke, daß du die Feste heiligst. Der Sabbat ist dem Herrn heilig, denn an diesem Tag ruhte er nach der Schöpfung und hat ihn gesegnet und geheiligt.

Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß du lange in Frieden auf Erden und ewig im Himmel lebest.

Du sollst nicht töten.

Du sollst nicht ehebrechen.

Du sollst nicht stehlen.

Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten.

Du sollst nicht verlangen nach Haus, Frau, Knecht, Magd, Ochs, Esel oder anderen Dingen, die deinem Nächsten gehören."

Das ist die Weisheit, und wer sie befolgt, ist weise und erwirbt das ewige Leben und das ewige Reich. Nehmt euch vor, von nun an nach der Weisheit zu leben und sie den vergänglichen Dingen dieser Welt voranzustellen.

Was sagt ihr dazu? Sagt ihr, daß es zu spät ist? Nein! Hört euch dieses Gleichnis an:

Ein Gutsbesitzer ging einst bei Tagesanbruch hinaus, um Arbeiter für seinen Weinberg zu dingen, und einigte sich mit ihnen auf einen Denar als Taglohn.

Um die dritte Stunde ging er wiederum hinaus, und da er glaubte, daß die eingestellten Arbeiter nicht ausreichen würden, und er auf dem Markt Untätige sah, die darauf warteten, gedungen zu werden, stellte er auch diese ein und sagte: "Geht auch ihr in meinen Weinberg; ich werde euch

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den Lohn geben, den ich auch den anderen versprochen habe", und jene gingen.

Zur sechsten und zur neunten Stunde ging er wieder hinaus, sah noch andere Arbeitslose und sagte zu ihnen: "Wollt auch ihr bei mir arbeiten? Ich gebe meinen Arbeitern einen Denar als Taglohn." Sie erklärten sich damit einverstanden und gingen.

Als er endlich zur elften Stunde hinausging, sah er wieder andere ohne Arbeit. "Was macht ihr hier? Schämt ihr euch nicht, den ganzen Tag untätig herumzusitzen?" fragte er sie. "Niemand läßt uns auf Taglohn arbeiten. Wir hätten gerne gearbeitet, um uns den Unterhalt zu verdienen, doch keiner hat uns in seinen Weinberg gerufen." "So rufe ich euch in meinen Weinberg. Geht, ihr werdet den gleichen Lohn erhalten wie die anderen." Dies sagte er, denn er war ein guter Herr und hatte Mitleid mit der Not seines Nächsten.

Als der Abend gekommen und die Arbeit beendet war, rief der Herr seinen Verwalter und sagte: "Rufe die Arbeiter und gib ihnen ihren Lohn, gemäß meiner Abmachung. Beginne bei den letzten, die am bedürftigsten sind, da sie den ganzen Tag keine Nahrung zu sich genommen haben, während die anderen einmal oder mehrere Male gegessen haben, und die außerdem aus Dankbarkeit für mein Mitgefühl mehr als alle anderen gearbeitet haben. Ich habe sie beobachtet und entlasse sie, auf daß sie ihre verdiente Ruhe genießen und sich mit ihren Angehörigen des Lohnes ihrer Arbeit erfreuen mögen." Der Verwalter tat, wie der Herr ihm befohlen hatte, und gab jedem einen Denar.

Als die letzten an der Reihe waren, die von der ersten Stunde des Tages an gearbeitet hatten, waren sie erstaunt darüber, daß auch sie nur einen Denar erhielten, und beklagten sich untereinander und beim Verwalter, der ihnen erwiderte: "Ich habe diese Anordnung erhalten. Geht und beklagt euch bei meinem Herrn und nicht bei mir." Diese gingen hin und sprachen: "Siehe, du bist nicht gerecht. Wir haben zwölf Stunden lang gearbeitet, erst in der Nässe des Taus, dann unter der stechenden Sonne und schließlich wieder in der Feuchtigkeit des Abends, und du hast uns denselben Lohn gegeben wie jenen Faulpelzen, die nur eine Stunde gearbeitet haben! ... Warum das?" Besonders einer unter ihnen erhob seine Stimme und behauptete, betrogen und in unwürdiger Weise ausgenützt worden zu sein.

"Freund, worin tue ich dir unrecht? Was habe ich in der Frühe mit dir vereinbart? Die Arbeit eines Tages, und als Lohn einen Denar, nicht wahr?"

"Ja, das ist wahr. Aber du hast jenen dasselbe gegeben, obwohl sie viel weniger gearbeitet haben..."

"Du warst doch mit diesem Lohn einverstanden und er schien dir gerecht zu sein?"

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"Ja, ich war damit einverstanden, weil andere mir vielleicht weniger gegeben hätten."

"Bist du bei mir überfordert worden?"

"Nein, gewiß nicht."

"Ich habe dir während des Tages eine lange Ruhepause gewährt und dir auch Nahrung gegeben! Drei Mahlzeiten hast du erhalten, und Speisen und Ruhepause waren nicht vereinbart. Nicht wahr?"

"Nein, sie waren nicht vereinbart."

"Warum hast du sie dann angenommen?"

"Aber... Du hast gesagt: 'Es ist besser so, damit ihr nicht zu müde nach Hause kommt.' Wir glaubten, nicht recht zu hören... Deine Mahlzeiten waren gut, es war für uns eine Ersparnis, es war..."

"Es war eine Gnade, die ich euch umsonst gab und die niemand verlangen konnte. Nicht wahr! ?"

"Das stimmt."

"So bin ich also auch mit euch gut gewesen. Warum beklagt ihr euch dann? Ich müßte mich über euch beklagen, denn als ihr gesehen habt, daß ihr es mit einem guten Herrn zu tun habt, habt ihr langsam gearbeitet. Jene hingegen, die nach euch gekommen sind, haben mit der Zugabe einer einzigen Mahlzeit, und die letzten ganz ohne Verpflegung, eifriger gearbeitet und in kürzerer Zeit das gleiche geleistet wie ihr in zwölf Stunden. Ich hätte euch betrogen, wenn ich euch nur den halben Lohn gegeben hätte, um mit der anderen Hälfte die übrigen Arbeiter zu bezahlen. Aber dies ist nicht der Fall. Daher nimm das Deine und geh! Willst du mir in meinem Hause vorschreiben, was ich zu tun habe? Ich tue, was ich will und was gerecht ist. Sei nicht böse und verleite mich nicht zur Ungerechtigkeit. Ich bin gut!"

Wahrlich, ich sage euch allen, die ihr mir zuhört, daß Gott, der Vater, mit allen Menschen dasselbe Bündnis schließt und den gleichen Lohn verspricht. Wer dem Herrn gewissenhaft dient, wird von ihm mit Gerechtigkeit belohnt werden, selbst wenn er eines kurzen Lebens wegen nur noch wenig arbeiten kann. Wahrlich, ich sage euch, nicht immer werden die Ersten auch die Ersten im Himmelreich sein. Dort werden wir oft die Ersten als Letzte und die Letzten als Erste sehen. Dort werden wir heilige Menschen sehen, die nicht aus Israel stammen, jedoch heiliger als viele aus Israel sind. Ich bin gekommen, um alle im Namen Gottes zu berufen, doch viele sind berufen, wenige aber auserwählt, denn nur wenige sind es, die nach der Weisheit verlangen.

Nicht weise ist, wer für die Welt und das Fleisch lebt und nicht für Gott. Er ist weder für die Erde noch für den Himmel weise, denn auf Erden schafft er sich Feinde, Strafen und Gewissensbisse, und den Himmel verliert er doch für alle Ewigkeit.

Ich wiederhole: Seid gut zu eurem Nächsten, wer immer er auch sein

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mag. Seid gehorsam und überlaßt es Gott, den zu bestrafen, der nicht gerecht ist in seinen Befehlen. Seid enthaltsam und widersteht der Sinnlichkeit; seid redlich und widersteht der Habsucht. Verurteilt nur, wenn es gerechtfertigt ist, und nicht, wenn es euch nützlich erscheint. Fügt einem anderen nicht zu, was ihr selbst nicht wollt, daß euch zugefügt werde ...»

«Mach, daß du fortkommst, du lästiger Prophet! Du hast uns das Geschäft verdorben! ... Du hast uns die Kundschaft vertrieben! ...», schreien die Verkäufer, während sie in den Hof eindringen... Die, die schon bei den ersten Belehrungen Jesu im Hof gelärmt haben – und es sind nicht nur Phönizier, sondern auch Juden, die, ich weiß nicht aus welchem Grund, in der Stadt sind – vereinigen ihre Stimmen mit denen der Verkäufer und schimpfen und drohen, ihn fortzujagen... Jesus gefällt ihnen nicht, weil er nicht zum Bösen rät ... Er steht mit verschränkten Armen da und betrachtet sie traurig und ernst.

Das Volk, in zwei Parteien gespalten, zankt sich, und die einen verteidigen, die anderen beleidigen den Nazarener. Man hört Schmähungen, Lobsprüche, Verwünschungen, Segnungen, Ausrufe wie: «Die Pharisäer haben recht! Du bist an Rom verkauft, ein Freund der Zöllner und Dirnen.» «Schweigt, verleumderische Zungen, ihr an Rom Verkaufte, ihr Phönizier der Hölle!» «Teufel seid ihr!» «Daß die Hölle euch verschlinge!» «Fort, Fort!» «Fort ihr Diebe, die ihr hier Handel treibt, ihr Wucherer», usw.

Die Soldaten greifen ein und sagen: «Der ist alles andere als ein Aufwiegler! Er ist vielmehr ein Verfolgter!» Mit ihren Lanzen jagen sie alle aus dem Hof und schließen das große Tor.

Zurück bleiben die drei Brüder und die sechs Jünger mit Jesus.

«Was fällt euch ein, ihn hier reden zu lassen?» fragt der Triarier die drei Brüder.

«Es haben schon viele hier gesprochen!» antwortet Elias.

«Ja, und es ist nichts vorgefallen, weil sie so redeten, wie es den Menschen gefällt. Dieser nicht! Er ist unerträglich...» Aufmerksam betrachtet der alte Soldat Jesus, der seinen Rednerplatz verlassen hat und nun aufrecht und wie geistesabwesend dasteht.

Draußen fährt die Menge fort, sich zu zanken, und zwar so heftig, daß von der Kaserne weitere Soldaten herbeieilen und mit ihnen sogar der Centurio. Sie klopfen an und lassen sich öffnen, während andere draußen bleiben, um die zurückzudrängen, die schreien: «Es lebe der König von Israel!» wie auch die, die Jesus verfluchen.

Der Centurio tritt aufgeregt vor. Er fährt den alten Aquila zornig an: «So schützest du Rom? Indem du erlaubst, daß einem fremden König in einem unterjochten Land zugejubelt wird?»

Der Alte grüßt stramm und antwortet: «Er lehrte Ehrfurcht und Gehorsam und sprach von einem Reich, das nicht von dieser Welt ist, und

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deswegen hassen sie ihn. Doch er ist gut und respektvoll. Ich hatte keinen Grund, ihn zum Schweigen zu zwingen, denn er hat unser Gesetz nicht verletzt.»

Der Hauptmann beruhigt sich und murmelt: «Dann ist es wieder ein Aufstand dieses schmutzigen Gesindels ... Gut! Gebt dem Mann die Weisung, sofort wegzugehen. Ich will hier keine Unannehmlichkeiten. Führt meinen Befehl aus und begleitet ihn bis vor die Stadt, sobald die Straße frei ist. Er mag gehen, wohin er will. Zur Hölle, wenn er will. Aber er soll das Gebiet, das unter meiner Gerichtsbarkeit steht, verlassen. Verstanden?»

«Jawohl, zu Befehl.»

Der Centurio dreht sich um, wobei seine Rüstung aufleuchtet und sein purpurfarbener Mantel flattert, und geht von dannen, ohne daß er Jesus eines Blickes gewürdigt hätte.

Die drei Brüder sagen zum Meister: «Es tut uns leid! ...»

«Ihr habt keine Schuld. Fürchtet euch nicht, ihr werdet keinen Schaden erleiden. Ich sage es euch...»

Die drei wechseln die Farbe... Philippus fragt: «Woher weißt du von dieser unserer Furcht?»

Jesus lächelt sanft, ein Sonnenstrahl beleuchtet sein trauriges Antlitz: «Ich weiß, was in den Herzen ist, und kenne die Zukunft.»

Die Soldaten warten in der Sonne, schauen verstohlen zu Jesus hin und machen ihre Bemerkungen ...

«Wie werden sie uns je lieben können, wenn sie auch den hassen, der sie nicht unterdrückt?»

«Und der dazu noch Wunder wirkt, mußt du sagen...»

«Beim Herkules! Welcher von den unsrigen war es, der gekommen ist mit der Weisung, daß ein Verdächtiger zu überwachen sei?»

«Es war Cajus.»

«Der Eiferer! Inzwischen haben wir unsere Ration verpaßt und ich sehe schon, daß ich auf den Kuß eines Mädchens werde verzichten müssen! ... Ah!»

«Du Epikuräer! Wo ist denn die Schöne?»

«Dir sage ich es bestimmt nicht, Freund!»

«Sie wohnt im Haus hinter dem des Töpfers, bei der Festungsmauer. Ich weiß es, denn ich habe dich vor einigen Tagen dort gesehen...», sagt ein anderer.

Der Triarier geht um Jesus herum als wolle er einen Spaziergang machen, schaut ihn fortwährend an und weiß nicht, was er sagen soll... Jesus lächelt ihm zu, um ihn zu ermutigen. Doch der Mann, unentschlossen was er tun soll... nähert sich ihm noch mehr. Jesus deutet auf die Narben: «Alles Verwundungen? Du mußt ein Held und ein treuer Diener deines Vaterlands sein...»

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Der alte Soldat wird purpurrot über dieses Lob.

«Du hast viel durchgemacht aus Liebe zu deinem Vaterland und zu deinem Kaiser... Möchtest du nicht für ein viel größeres Vaterland, nämlich den Himmel, leiden? Für einen ewigen Herrscher: Gott?»

Der Soldat schüttelt den Kopf und sagt: «Ich bin ein armer Heide, doch ist es nicht gesagt, daß ich nicht noch zur elften Stunde kommen werde. Wer wird mich aber unterrichten? Du siehst... Sie verjagen dich, und das, ja, das sind Wunden, die schmerzen, nicht die meinen... Ich habe sie meinen Feinden vergolten. Aber du, was gibst du dem, der dich verwundet?»

«Verzeihung, Soldat, Verzeihung und Liebe.»

«Ich habe recht. Der Verdacht gegen dich ist unrecht und töricht. Leb wohl, Galiläer!»

«Leb wohl, Römer!»

Jesus bleibt allein zurück, bis die drei Brüder und die Jünger mit den Speisen zurückkommen. Die Brüder laden die Soldaten ein, die Jünger bieten Jesus davon an. Letztere essen ohne große Lust unter der Sonne, während die anderen fröhlich essen und trinken.

Dann geht ein Soldat hinaus, um auf dem stillen Platz herumzuspähen.

«Wir können gehen!» schreit er. «Sie sind alle weg, nur unsere Soldaten stehen noch Wache.»

Jesus erhebt sich fügsam, segnet und tröstet die drei Brüder, mit denen er ein Treffen am Passahfest in Gethsemane verabredet, und geht, von Soldaten bewacht und von den gedemütigten Jüngern gefolgt, hinaus. Sie gehen auf der menschenleeren Straße bis zu den Feldern.

«Leb wohl, Galiläer!» sagt der Triarier.

«Leb wohl, Aquila. Ich bitte dich, tut Daniel nichts Böses an, und auch nicht Elias und Philippus. Ich allein bin der Schuldige. Sag es dem Centurio!»

«Ich werde nichts sagen. Zu dieser Stunde denkt er schon nicht mehr daran, und die drei Brüder versorgen uns gut, besonders mit Wein aus Zypern, den der Hauptmann für sein Leben gern trinkt. Sei beruhigt. Leb wohl!»

Sie trennen sich. Die Soldaten kehren durch das Tor in die Stadt zurück. Jesus und die Seinen gehen weiter durch die stille Landschaft, in östlicher Richtung.

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375. DER HIRTE ANNAS BEGLEITET JESUS NACH ACHSIB

Jesus wandert durch eine sehr bergige Gegend. Es sind keine hohen Berge, aber es ist ein beständiges Auf und Ab von Hügeln und ein Dahinfließen von Gießbächen, die in dieser frischen, neuen Jahreszeit fröhlich bergabrauschen. Sie sind klar wie der Himmel und jung wie die ersten Blätter, die auf Zweigen und Ästen immer zahlreicher hervorsprießen.

Aber so schön, heiter und ermunternd auch die Jahreszeit wirkt, Jesus und noch mehr die Apostel scheinen doch nicht leichten Herzens zu sein. Sie durchqueren schweigsam einen Talgrund, in dem nur Hirten und Herden zu sehen sind, die Jesus nicht einmal zu bemerken scheint.

Ein trauriger Seufzer des Jakobus des Zebedäus und seine unerwarteten Worte, als Folge eines bedrückenden Gedankens, sind es, die Jesus wieder zu sich kommen lassen... Jakobus sagt: «Und Niederlagen über Niederlagen! ... Es scheint, als ob wir verflucht wären.»

Jesus legt ihm die Hand auf die Schulter: «Weißt du nicht, daß dies das Los der Besten ist?»

«Ich weiß es, seit ich bei dir bin! Aber manchmal wünscht man auch etwas anderes, um Herz und Glauben zu stärken; und früher hatten wir es.»

«Zweifelst du an mir, Jakobus?» Wieviel Schmerz schwingt in der Stimme des Meisters mit!

«Nein...» Das "Nein" klingt wahrhaftig nicht sehr überzeugend.

«Doch, du zweifelst. Und woran zweifelst du? Liebst du mich nicht mehr wie früher? Wurde deine Liebe dadurch geschwächt, daß ich an der phönizischen Grenze verjagt, verspottet und geringgeschätzt worden bin?» Ein Klagen zittert in den Worten Jesu, obwohl kein Seufzen zu hören und keine Träne zu sehen ist, denn seine Seele ist es, die weint.

«Das nicht, mein Herr! Im Gegenteil, je mehr ich dich bedrückt, gedemütigt, geschmäht und betrübt sehe, desto mehr wächst meine Liebe zu dir. Um dich nicht so zu sehen, um das Herz der Menschen umzuwandeln, wäre ich bereit, mein Leben zu opfern. Das darfst du mir glauben. Bedränge mein Herz, das schon zutiefst betrübt ist, nicht mit deinen Zweifeln an meiner Liebe. Sonst... Sonst könnte ich außer mir geraten und zurückkehren und mich an jenen rächen, die dich beleidigt haben, um dir zu beweisen, daß ich dich liebe, um dir diesen Zweifel zu nehmen. Selbst wenn man mich gefangennehmen und töten würde, würde es mir nichts ausmachen. Es würde mir genügen, dir einen Beweis meiner Liebe gegeben zu haben.»

«O du Donnersohn! Weshalb so stürmisch? Willst du ein alles niederschmetternder Blitz sein?» Jesus lächelt über den Ungestüm und die Vorsätze des Jakobus.

«Oh! Jetzt sehe ich dich wenigstens lächeln. Das ist schon ein Ergebnis meiner Vorsätze. Was sagst du, Johannes? Meine Gedanken sollten in die

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Tat umgesetzt werden, wir müssen dem Meister, der wegen so viel Ablehnung niedergeschlagen ist, helfen.»

«O ja! Gehen wir. Sprechen wir noch einmal mit ihnen. Wenn sie ihn wieder als König des Wortschwalls, als Schellenkönig, als König ohne Geld, als närrischen König verhöhnen, schlagen wir tüchtig zu, bis ihnen klar wird, daß dieser König ein Heer von Getreuen hat, das nicht mit sich spaßen läßt. In gewissen Fällen ist Gewalt angebracht. Gehen wir, Bruder!», antwortet der sonst so sanfte Johannes, der nun in seinem Zorn nicht mehr er selbst zu sein scheint.

Jesus stellt sich zwischen die beiden, ergreift sie an den Armen, um sie zurückzuhalten, und sagt: «Hört sie nur! Wie lange predige ich euch schon? Oh, welche Überraschung! Auch Johannes, meine Taube, ist zum Sperber geworden! Schaut ihn an, wie häßlich, verwirrt, finster und von Haß entstellt er ist! O Schande! Da wundert ihr euch noch, daß die Phönizier teilnahmslos bleiben, die Juden uns hassen und die Römer mich wegschicken, wenn ihr, die ersten, nachdem ihr schon zwei Jahre bei mir seid, noch nichts begriffen habt; wenn ihr zu Galle geworden seid wegen des Grolls in euren Herzen; wenn ihr meine Lehre von der Liebe und der Vergebung aus euren Herzen weist, als handle es sich um törichtes Zeug, und zu Verbündeten der Gewalt werdet? O heiliger Vater! Ja, das ist eine Niederlage! Anstatt wie Sperber Schnäbel und Krallen zu wetzen, wäre es nicht besser, wie Engel zu sein, die den Vater bitten, seinen Sohn zu trösten? Wann hat man je gesehen, daß ein Gewitter mit seinen Blitzen und Hagelkörnern Gutes bringt? Nun, zur Erinnerung an dieses euer Fehlen gegen die Liebe, zur Erinnerung daran, daß ich auf eurem Gesicht den Tier-Menschen gesehen habe, statt des Engel-Menschen, den ich immer sehen möchte, werde ich euch den Beinamen "Donnersöhne" geben.»

Jesus ist nur halb ernst, während er zu den beiden zornentbrannten Söhnen des Zebedäus spricht. Aber sein Vorwurf ist von kurzer Dauer, als er ihre Reue sieht, und mit vor Liebe leuchtendem Antlitz drückt er sie an sein Herz und sagt: «Nie mehr dürft ihr so böse sein! Habt Dank für eure Liebe. Auch ihr für die eurige, Freunde», sagt er zu Andreas, Matthäus und den beiden Vettern. «Kommt her, ich will euch ebenfalls umarmen. Aber wißt ihr denn nicht, daß ich, selbst wenn ich nichts anderes hätte als die Freude, den Willen meines Vaters zu erfüllen und eure Liebe, immer glücklich wäre, auch wenn die ganze Welt mich ohrfeigen sollte? Ich bin nicht meinetwegen und meiner Niederlagen wegen traurig, wie ihr sagt, sondern aus Mitleid für die Seelen, welche das Leben zurückweisen. Nun sind wir alle zufrieden, nicht wahr, ihr großen Kinder? Alsdann auf! Geht zu den Hirten, die dort ihre Schafe melken, und bittet sie im Namen Gottes um etwas Milch. Habt keine Angst», sagt er, als er den betrübten Blick der Apostel sieht. «Glaubt und gehorcht! Ihr werdet Milch bekommen und keine Prügel, auch wenn es Phönizier sein sollten.»

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Die sechs gehen hin, während Jesus sie auf dem Weg erwartet. Jesus, der betrübte Jesus, den niemand haben will, betet... Die Apostel kehren mit einem kleinen Eimer voll Milch zurück und sagen: «Der Mann hat gesagt, du möchtest zu ihm kommen, weil er mit dir sprechen will. Er kann die launenhaften Ziegen nicht den kleinen Hirtenjungen überlassen.»

Jesus sagt: «Also, gehen wir zu ihnen, um ihr Brot zu essen», und sie begeben sich zu dem Hang, an dem die übermütigen Ziegen herumklettern.

«Ich danke dir für die Milch, die du mir gegeben hast. Was möchtest du von mir?»

«Du bist der Nazarener, nicht wahr? Der, der Wunder wirkt?»

«Ich bin der, der das ewige Heil predigt. Ich bin der Weg zum wahren Gott; die Weisheit, die sich schenkt; das Leben, das belebt, und nicht ein Zauberer, der Wunder wirkt. Die Wunder sind die Zeichen meiner Güte, und für eure Schwachheit, die der Beweise bedarf, um zu glauben. Nun was möchtest du von mir?»

«Ja... du warst doch vor zwei Tagen in Alexandroscenae?»

«Ja, warum?»

«Auch ich war mit meinen Ziegen dort, und als ich merkte, daß es zu einem Streit kommen würde, habe ich mich davongemacht; denn es herrscht dort die Unsitte, Streit anzuzetteln, um dann stehlen zu können, was auf dem Markte ist. Sie sind alle Diebe: die Phönizier... wie die anderen. Ich dürfte das nicht sagen, denn mein Vater ist Proselyt, meine Mutter Syrerin, und ich bin ebenfalls Proselyt. Doch es ist die Wahrheit. Gut, ich will mit meiner Erzählung fortfahren. Ich hatte mich mit meinen Tieren in eine Stallung zurückgezogen und wartete auf den Karren meines Sohnes.

Am Abend, beim Verlassen der Stadt, begegnete ich einer weinenden Frau mit ihrem kleinen Mädchen auf dem Arm. Sie lebt auf dem Lande und hatte acht Meilen zurückgelegt, um zu dir zu kommen. Ich fragte sie, was sie hätte. Sie ist Proselytin. Sie war gekommen, um zu kaufen und zu verkaufen und hatte von dir gehört. Da war eine Hoffnung in ihrem Herzen erwacht. Sie war nach Hause geeilt und hatte das Mädchen geholt. Doch mit einer Last kommt man nur langsam voran. Als sie beim Warenlager der Brüder ankam, warst du schon weggegangen. Die Brüder sagten: "Sie haben ihn fortgejagt, aber er sagte uns, daß er wieder den Aufstieg nach Tyrus machen würde."

Auch ich bin ein Vater, und sagte zu ihr: "Dann gehe dorthin." Doch sie antwortete mir: "Und wenn er nach diesem Vorfall auf einem anderen Weg nach Galiläa zurückkehrt?" Ich sagte ihr: "Höre! Entweder wird es dieser oder der andere Grenzübergang sein. Ich weide meine Herde zwischen Rehob und Lesemdan, direkt an der Straße, die zwischen diesem

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Ort und Nephthali die Grenze bildet, und sollte ich ihn sehen, werde ich es ihm sagen. Mein Wort als Proselyt darauf." Nun habe ich es dir gesagt.»

«Gott vergelte es dir. Ich werde zu der Frau gehen, denn ich muß nach Achsib zurückkehren.»

«Nach Achsib gehst du? Dann können wir ein Stück Weges zusammen zurücklegen, wenn du einen Hirten nicht verachtest.»

«Ich verachte niemanden. Warum gehst du nach Achsib?»

«Weil ich dort Lämmer habe, vorausgesetzt, daß... ich sie noch habe.»

«Warum?»

«Weil dort eine Seuche ausgebrochen ist. Ich weiß nicht, ob es Hexerei oder etwas anderes ist. Ich weiß nur, daß meine schöne Herde erkrankt ist. Deswegen habe ich die Ziegen, die noch gesund sind, hierher gebracht, um sie von den Schafen zu trennen. Sie werden mit meinen beiden Söhnen hier bleiben, die jetzt in der Stadt sind, um einzukaufen. Ich kehre nach Achsib zurück, um meine schönen, wolligen Schafe sterben zu sehen ...»Der Mann seufzt... Er schaut zu Jesus auf und entschuldigt sich: «Mit dir, der du bist, von diesen Dingen zu reden und dich zu betrüben, da du ja schon betrübt genug bist, ist Torheit. Aber die Lämmer sind einem lieb und haben ihren Wert, weißt du...»

«Ich verstehe. Aber sie werden gesund werden. Hast du sie nicht jemandem gezeigt, der sich darauf versteht?»

«Oh, sie haben mir alle das gleiche gesagt: "Schlachte sie und verkaufe die Felle. Weiter ist nichts zu machen." Man hat mir auch gedroht, wenn ich sie ins Freie lasse... denn sie haben Angst vor der Krankheit wegen ihrer Tiere. Daher müssen sie im Gehege bleiben... und sterben umso schneller. Die Leute von Achsib sind böse, weißt du?»

Jesus sagt nur: «Ich weiß es.»

«Ich glaube, sie haben sie mir verhext!»

«Nein, glaube nicht an solche Geschichten... Wirst du aufbrechen, sobald deine Söhne kommen?»

«Ja! Sie werden gleich hier sein. Sind diese deine Jünger? Nur sie?»

«Nein, ich habe noch andere.»

«Warum kommen sie nicht hierher? Einmal, in der Nähe von Meron, bin ich einer Gruppe von ihnen, angeführt von einem Hirten, begegnet. Dieser war groß und stark, hieß Elias und sagte, daß er ihr Führer sei. Das geschah im Oktober, wenn ich mich recht erinnere, vor oder nach dem Laubhüttenfest. Hat er dich jetzt verlassen?»

«Kein Jünger hat mich verlassen.»

«Es ist mir gesagt worden, daß ...»

«Was?»

«Daß du... daß die Pharisäer ... Also, daß die Jünger dich verlassen haben, aus Furcht und weil du ein ...»

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«... Dämon bist. Sage es nur. Ich weiß es. Doppeltes Verdienst für dich, der du dennoch glaubst.»

«Dieses Verdienstes wegen könntest du nicht ... doch, vielleicht verlange ich etwas Sündhaftes ...»

«Sprich nur, und wenn es sich um etwas Schlechtes handelt, werde ich es dir sagen.»

Ganz aufgeregt stammelt der Mann: «Könntest du nicht im Vorübergehen meine Herde segnen?»

«Ich werde deine Herde segnen. Diese...» und er erhebt die Hand zum Segen über die verstreuten Ziegen, «... und jene der Schafe. Glaubst du, daß mein Segen sie retten kann?»

«Wie du die Menschen von den Krankheiten befreist, kannst du auch die Tiere heilen. Man sagt, du seist der Sohn Gottes, und die Schafe hat Gott erschaffen, daher sind sie Besitztum des Vaters. Ich... wußte nicht, ob es ehrfurchtsvoll wäre, dich darum zu bitten, aber wenn es geht, dann tue es, Herr, und ich werde ein großes Dankopfer zum Tempel bringen, oder vielmehr, ich werde es dir geben für die Armen. Das wird besser sein.»

Jesus lächelt und schweigt. Die Söhne des Hirten treffen ein, und bald darauf zieht Jesus mit den Seinen und dem alten Hirten von dannen, und die Jüngeren hüten die Ziegen.

Sie beeilen sich, denn sie wollen bald nach Kedes gelangen, um es sogleich wieder zu verlassen und auf die Straße zu gelangen, die vom Meere ins Landesinnere führt. Es muß dieselbe sein, die sich am Fuß des Vorgebirges teilt und die er eingeschlagen hatte, um Alexandroscenae zu erreichen. Das entnehme ich den Gesprächen, die der Hirte mit den Jüngern führt. Jesus geht allein voraus.

«Aber werden wir nicht wieder Unannehmlichkeiten haben?» fragt Jakobus des Alphäus.

«Kedes untersteht nicht jenem Centurio, da es außerhalb der phönizischen Grenzen liegt. Es genügt, die Centurionen nicht zu reizen, denn sie interessieren sich nicht für Religion.»

«Wir werden uns sowieso nicht aufhalten...»

«Seid ihr imstand, an einem Tag mehr als dreißig Meilen zurückzulegen?» fragt der Hirte.

«Oh, wir sind ewige Pilger.»

Sie gehen und gehen... und erreichen schließlich Kedes. Sie lassen es ohne Zwischenfälle hinter sich, und nehmen die direkte Straße. Auf dem Wegweiser steht geschrieben: "Achsib" ' und der Hirte weist darauf hin mit den Worten: «Morgen werden wir dort ankommen. Heute nacht kommt ihr mit mir, denn ich kenne Bauern in den Tälern, aber viele sind in phönizischen Gebieten... Gut, wir werden über die Grenze gehen! Man wird uns bestimmt nicht sofort entdecken... Oh, die Wachen! Sie würden besser daran tun, auf die Diebe aufzupassen! ...»

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Die Sonne sinkt und die bewaldeten Täler tragen gewiß nicht dazu bei, das Tageslicht zu verlängern. Doch der Hirte ist ortskundig und schreitet sicheren Schrittes voran.

Sie kommen zu einem Weiler, der aus einer Handvoll Häuser besteht.

«Wenn sie uns hier beherbergen, könnt ihr im Hause von Israeliten schlafen. Wir sind direkt an der Grenze. Wenn sie uns nicht aufnehmen, gehen wir in ein anderes Dorf, das phönizisch ist.»

«Ich hege keine Vorurteile, Mann.»

Sie klopfen an eine Haustür.

«Bist du es, Annas? Mit Freunden? Komm, komm herein, Gott sei mit dir», sagt eine uralte Frau.

Sie treten in eine geräumige Küche, in der ein Herdfeuer lodert. Eine zahlreiche Familie, in der alle Altersstufen vertreten sind, ist um den Tisch versammelt, und alle machen den Ankömmlingen sogleich Platz.

«Das ist Jonas. Dies seine Frau, die Kinder, Enkel und Schwiegertöchter. Eine patriarchalische Familie, die treu dem Herrn ergeben ist», sagt der Hirte Annas zu Jesus. Dann wendet er sich dem alten Jonas zu: «Dieser hier ist der Rabbi von Israel, den du kennenlernen wolltest.»

«Gott sei gepriesen, daß ich euch Gastfreundschaft erweisen darf und heute abend Platz habe. Ich preise den Rabbi, der in mein Haus gekommen ist und erbitte seinen Segen!»

Annas erklärt, daß das Haus des Jonas fast wie eine Herberge sei, für Pilger, die vom Meer ins Landesinnere gehen.

Alle setzen sich in der warmen Küche nieder, und die Frauen bedienen die Ankömmlinge. Es herrscht eine fast lähmend wirkende Ehrfurcht. Aber Jesus lockert die Stimmung auf, indem er gleich nach dem Abendessen die vielen Kinder um sich sammelt, und da er sich ihrer annimmt, schließen sie sofort Freundschaft mit ihm. Hinter ihnen – in der kurzen Zeitspanne, die zwischen Nachtmahl und Nachtruhe liegt – werden die Männer des Hauses lebendig, berichten, was sie über den Messias wissen, und stellen immer wieder neue Fragen. Jesus berichtigt, bestätigt und erklärt auf seine gütige Art, und die friedliche Unterhaltung dauert an, bis sich Pilger und Familienmitglieder, nachdem Jesus alle gesegnet hat, zur Ruhe begeben.

376. DIE KANANÄISCHE MUTTER

«Ist der Meister bei dir?», fragt der alte Bauer Jonas Thaddäus, der eben durch die Küche kommt, wo schon das Feuer brennt, um die Milch und auch den Raum zu erwärmen, denn es ist ziemlich kalt in den ersten Stunden dieses sehr schönen Morgens um Ende Januar oder Anfang Februar.

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«Er wird hinausgegangen sein, um zu beten, denn er geht oft im Morgengrauen hinaus, da er weiß, daß er um diese Stunde niemandem begegnet und allein sein kann. Er wird bald zurückkommen. Warum fragst du?»

«Ich habe auch die anderen nach ihm gefragt, die ihn nun suchen, denn es ist eine Frau dort bei meiner Gattin. Sie ist aus dem Dorf jenseits der Grenze, und ich kann wirklich nicht sagen, wie sie erfahren hat, daß der Meister hier ist. Aber sie weiß es und möchte ihn sprechen.»

«Gut! Er wird mit ihr reden. Vielleicht ist es die mit dem kranken Töchterchen, die er erwartet. Sein Geist wird sie hierher geleitet haben.»

«Nein, sie ist allein und hat keine Kinder bei sich. Ich kenne sie, denn die Ortschaften liegen nahe beieinander... und das Tal ist Niemandsland. Ich bin der Meinung, daß man Nachbarn gegenüber nicht hart sein soll, selbst wenn es Phönizier sind. Vielleicht ist es ein Fehler, aber ...»

«Auch der Herr sagt immer, daß man mit allen barmherzig sein soll.»

«Er ist es, nicht wahr?»

«Ja, er ist es.»

«Annas hat mir gesagt, daß er auch diesmal wieder schlecht behandelt worden ist. Schlecht, immer schlecht! ... In Judäa wie in Galiläa, überall. Warum ist Israel wohl so böse zu seinem Messias? Ich meine die Großen unter uns Israeliten, denn das Volk liebt ihn.»

«Woher weißt du das?»

«Oh, ich lebe hier, fern von allem. Aber ich bin ein treuer Israelit, und man braucht nur zu den gebotenen Festen zum Tempel zu gehen, um alles Gute und alles Böse zu erfahren! Das Gute ist weniger bekannt als das Böse, denn das Gute ist bescheiden und lobt sich nicht selbst. Wer Wohltaten empfängt, müßte es verkünden, doch nur wenige sind dankbar für die Gnaden, die sie erhalten haben. Der Mensch nimmt die Wohltaten an, und sogleich vergißt er sie... Das Böse hingegen macht Lärm, stößt in die Trompete und läßt auch jene seine Worte vernehmen, die nichts davon wissen wollen. Ihr, die ihr seine Jünger seid, wißt ihr denn nicht, wie schlecht man im Tempel über den Messias spricht und wie man ihn beschuldigt? Die Schriftgelehrten unterrichten über nichts anderes mehr; nur noch von ihm wird gesprochen. Ich glaube, sie haben ein Lehrbuch darüber verfaßt, wie man den Meister anklagen könnte, denn darin sind auch alle Geschehnisse enthalten, die sie als glaubwürdige Punkte für eine Anklage auszulegen versuchen. Man muß ein rechtschaffener, freier und starker Mensch mit gutem Gewissen sein, um widerstehen und weise urteilen zu können. Weiß er denn von all diesen Machenschaften?»

«Er weiß alles, auch wir wissen es mehr oder weniger. Aber er läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er fährt fort mit seinem Werk, und die Jünger oder Gläubigen nehmen von Tag zu Tag zu.»

«Gebe Gott, daß sie ausharren mögen bis ans Ende. Aber der Mensch

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ist unstet in seinen Gedanken, er ist schwach... Sieh doch, der Meister kommt mit drei Jüngern zum Haus.»

Der Alte geht hinaus, gefolgt von Judas Thaddäus, um Jesus, der würdevoll auf das Haus zugeht, verehrend zu begrüßen.

«Der Friede sei am heutigen Tag und immer mit dir, Jonas!»

«Ehre und Friede dir, Meister, in alle Ewigkeit!»

«Der Friede sei mit dir, Judas. Sind Andreas und Johannes noch nicht zurückgekehrt?»

«Nein. Ich habe sie nicht fortgehen gehört. Niemanden. Ich war müde und habe tief geschlafen.»

«Tritt ein, Meister! Tretet ein. Die Luft ist heute morgen frisch, und im Wald muß es sehr kalt gewesen sein. Drinnen gibt es heiße Milch für alle.»

Sie sind dabei, ihre Milch zu trinken, und außer Jesus tauchen alle große Brotstücke ein, als Andreas und Johannes zusammen mit Annas, dem Hirten, eintreffen.

«Ah, du bist hier? Wir sind zurückgekehrt, um den anderen mitzuteilen, daß wir dich nicht gefunden haben», ruft Andreas aus.

Jesus gibt den dreien seinen Friedenskuß und fügt hinzu: «Beeilt euch und nehmt euren Anteil; dann wollen wir aufbrechen, ich möchte heute wenigstens die Hänge des Berges von Achsib erreichen, denn heute abend beginnt der Sabbat.»

«Aber meine Schafe?»

Jesus lächelt und antwortet: «Sie werden geheilt sein, nachdem sie gesegnet worden sind.»

«Aber ich habe sie auf der Ostseite des Berges, und du gehst nach Westen, um die Frau aufzusuchen ...»

«Laß nur Gott walten, er wird für alles sorgen.»

Das Frühstück ist beendet, und die Apostel gehen hinauf, um die Reisesäcke zu holen und sich auf den Aufbruch vorzubereiten.

«Meister, die Frau, die dort ist ... Willst du sie nicht anhören?»

«Ich habe keine Zeit, Jonas. Der Weg ist lang, und außerdem bin ich für die Schäflein von Israel gekommen. Leb wohl, Jonas, Gott vergelte dir deine Liebe. Mein Segen ruhe auf dir und allen deinen Verwandten. Laßt uns gehen!»

Doch der Alte beginnt aus vollem Hals zu schreien: «Kinder, Frauen, der Meister reist ab! Eilt herbei!»

Wie Küken, die sich in einem Strohschober tummeln und auf den Ruf der Glucke herbeieilen, so kommen nun aus allen Teilen des Hauses Frauen und Männer, von denen einige bereits an der Arbeit waren, während andere noch ganz verschlafen sind; es kommen auch halbnackte Kinder, auf deren eben aus dem Schlafe erwachten Gesichtern ein Lächeln ist... Sie drängen sich um Jesus, der mitten auf der Tenne steht, und die Frauen hüllen die Kinder in ihre weiten Röcke ein, um sie vor der kalten Luft zu

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schützen, oder halten sie in den Armen, bis eine Dienerin ein Kleidchen bringt, das bald angezogen ist.

Auch eine Frau, die nicht vom Hause ist, eilt herbei. Eine arme, weinende, schüchterne Frau...

Sie geht gekrümmt, fast kriechend, und als sie die Gruppe erreicht, in der sich Jesus befindet, fängt sie an zu schreien: «Hab Erbarmen mit mir, o Herr, Sohn Davids! Meine Tochter wird dermaßen vom Dämon gequält, daß sie schamlose Dinge tut. Hab Erbarmen, denn ich leide sehr deswegen und werde von allen verachtet. Als ob mein Kind Schuld hätte für das, was es tut... Habe Erbarmen, Herr, du, der du alles vermagst. Erhebe deine Stimme und deine Hand und gebiete dem unreinen Geist aus Palma auszufahren. Ich bin Witwe und habe nur dieses eine Kind... Oh, geh nicht fort! Hab Erbarmen! ...»

Nachdem Jesus die einzelnen Familienmitglieder gesegnet und die Erwachsenen getadelt hat, weil sie sein Kommen bekannt gemacht haben -sie entschuldigen sich und behaupten: «Wir haben nichts gesagt, glaube uns, Herr!» – geht er mit einer unbegreiflichen Härte gegenüber der armen Frau von dannen. Diese folgt ihm auf den Knien und fleht mit ausgestreckten Armen und verzweifelter Stimme: «Ich habe dich gestern gesehen, als du den Bach überschritten hast, und habe dich "Meister" nennen hören. So bin ich euch zwischen den Sträuchern nachgelaufen, ich habe die Gespräche deiner Gefährten vernommen und verstanden, wer du bist... Und heute morgen bin ich gekommen, als es noch dunkel war, um wie ein Hündlein hier an der Schwelle zu warten, bis Sara aufstand und mich eintreten ließ. O Herr, Erbarmen! Erbarme dich der Mutter, erbarme dich des Kindes!»

Aber Jesus entfernt sich rasch, taub gegenüber allen Anrufen. Die Hausbewohner sagen zu der Frau: «Finde dich mit deinem Schicksal ab. Er will dich nicht anhören. Er hat gesagt, daß er nur für die Kinder Israels gekommen ist...»

Aber sie erhebt sich verzweifelt und doch vertrauensvoll und antwortet: «Nein! Ich werde so lange bitten, bis er mich erhört.» Sie beginnt, dem Meister zu folgen und wiederholt andauernd ihre Bitten, die alle im Dorf, die wach geworden sind, an die Türen ihrer Häuser kommen lassen. Sie machen sich wie die aus dem Hause des Jonas daran, ihr zu folgen, um zu sehen, wie die Sache wohl enden wird.

Die Apostel jedoch schauen einander erstaunt an und flüstern: «Warum benimmt er sich so? Das hat er noch nie getan!»... Und Johannes sagt: «In Alexandroscenae hat er doch auch jene zwei geheilt.»

«Es waren aber Proselyten», entgegnet Thaddäus.

«Und die, die er jetzt heilen geht?»

«Auch sie ist eine Proselytin», sagt der Hirte Annas.

«Oh, wie oft hat er auch Heiden und Römer geheilt! Das römische

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Mädchen damals ...», sagt Andreas betrübt, dem die Härte Jesu dieser kananäischen Frau gegenüber unbegreiflich ist.

«Ich sage euch, was los ist», ruft Jakobus des Zebedäus aus.

«Der Meister ist erzürnt. Seine Geduld ist zu Ende nach so vielen Angriffen menschlicher Bosheit. Seht ihr nicht, wie er sich verändert hat? Er hat recht! Von jetzt an wird er sich nur nach denen widmen, die er gut kennt, und er tut gut daran!»

«Ja, aber diese Frau läuft uns schreiend nach, und eine ganze Menschenmenge folgt ihr. Er, der unbeachtet nach Achsib gelangen wollte, hat ein Mittel gefunden, um selbst die Aufmerksamkeit der Pflanzen auf sich zu lenken ...» brummt Matthäus.

«Wollen wir zu ihm gehen und ihm sagen, daß er sie fortschicken soll ... ? Schaut, welch schönes Geleit wir hinter uns haben. Wenn wir so auf die Konsularstraße kommen, dann haben wir die Bescherung, denn wenn er sie nicht wegjagt, gibt sie nicht nach ...», sagt Thaddäus verärgert, während er sich umdreht und der Frau befiehlt: «Schweig und verschwinde!» Dasselbe tut Jakobus des Zebedäus. Aber die Frau läßt sich durch Drohungen und Befehle nicht einschüchtern und fährt fort zu flehen.

«Wir müssen dem Meister sagen, daß er sie fortjagen soll, wenn er sie doch nicht anhören will, denn so kann es nicht weitergehen!» sagt Matthäus, während Andreas flüstert: «Die Arme», und Johannes fortwährend wiederholt: «Ich verstehe ihn nicht... Ich verstehe ihn nicht...» Er ist bestürzt über die Handlungsweise Jesu.

Aber jetzt haben sie, ihre Schritte beschleunigend, den Meister erreicht, der schnell wie ein Verfolgter geht: «Meister! So schick die Frau doch fort! Das gibt Ärgernis! Sie schreit hinter uns her! Sie macht alle Leute auf uns aufmerksam! Die Straße füllt sich immer mehr mit Menschen... und viele laufen hinter ihr her. Sage ihr, daß sie verschwinden soll.»

«Sagt ihr es ihr! Ich habe ihr schon geantwortet.»

«Auf uns hört sie nicht. Bitte, sag du es ihr, und sei streng.»

Jesus bleibt stehen und wendet sich um. Die Frau betrachtet dies als ein Zeichen der Gnade, beschleunigt ihre Schritte, schreit noch lauter und erbleicht vor wachsender Hoffnung.

«Schweig Frau und geh nach Hause zurück! Ich habe es dir schon gesagt, ich bin für die Schafe Israels gekommen, um ihre Kranken zu heilen und die Verlorenen unter ihnen zu suchen. Du bist nicht von Israel.»

Aber die Frau kniet schon zu seinen Füßen, küßt sie, betet ihn an, hält sich an seinen Fußgelenken fest wie eine Ertrinkende, die einen Felsen der Rettung gefunden hat, und seufzt: «Herr, hilf mir! Du kannst es, Herr! Befiehl dem Dämon, du, der du heilig bist ... Herr, Herr, du bist Herr über alles, über die Gnade wie über die Welt. Alles ist dir untertan, Herr. Ich weiß es. Ich glaube es. Gebrauche daher deine Macht und heile durch sie mein Kind!»

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«Es ist nicht recht, den Kindern des Hauses das Brot wegzunehmen und es den Hunden auf der Straße vorzuwerfen.»

«Ich glaube an dich. Im Glauben bin ich aus einem Hund der Straße zu einem Hund des Hauses geworden. Ich habe es dir gesagt, ich bin vor Sonnenaufgang gekommen und habe mich auf die Schwelle des Hauses gekauert, in dem du warst; wenn du von dort weggegangen wärest, wärest du über mich gestolpert. Aber du bist an einer anderen Seite hinausgegangen und hast mich nicht gesehen. Du hast diesen armen, elenden Hund nicht gesehen, der nach deiner Gnade hungerte und darauf wartete, eintreten zu dürfen, um zu dir zu kriechen, dir die Füße zu küssen und dich zu bitten, ihn nicht fortzujagen ...»

«Es ist nicht recht, das Brot der Kinder den Hunden vorzuwerfen», wiederholt Jesus.

«Aber die Hunde betreten den Raum, in dem der Hausherr mit seinen Kindern ist, und fressen das, was vom Tische fällt oder übrigbleibt und nicht mehr gebraucht wird. Ich bitte dich nicht, mich als Tochter zu behandeln und mich an deinen Tische zu laden, aber gib mir wenigstens die Krümel ...»

Jesus lächelt. Oh! Wie verändert sich sein Antlitz in diesem Lächeln der Freude! ...

Die Menschen, die Apostel, die Frau, alle schauen ihn verwundert an... sie spüren, daß etwas geschehen wird.

Jesus sagt: «O Frau! Groß ist dein Glaube! und mit ihm tröstest du meinen Geist. Gehe hin, es geschehe dir nach deinem Wunsche. In diesem Augenblick ist der Dämon von deiner Tochter gewichen. Geh in Frieden! Wie du es als verirrter Hund verstanden hast, Hündlein des Hauses zu sein, so wisse in Zukunft Tochter zu sein, die am Tisch des himmlischen Vaters sitzt. Gott sei mit dir!»

«O Herr! Herr! Herr! ... Ich möchte forteilen, um meine geliebte Palma zu sehen... und ich möchte auch bei dir bleiben, um dir zu folgen. Gesegneter! Heiliger!»

«Geh, geh, Frau. Gehe hin in Frieden!»

Jesus setzt seinen Weg fort, während die kananäische Frau flinker als ein Mädchen zurückläuft, gefolgt von der neugierigen Menge, die das Wunder sehen will.

«Aber warum hast du dich so sehr bitten lassen, Meister, wenn du sie dann doch erhört hast?» fragt Jakobus des Zebedäus.

«Deinetwegen und euer aller wegen. Das ist keine Niederlage, Jakobus, hier bin ich nicht verjagt, verlacht und verwünscht worden... Das möge euren niedergeschlagenen Geist wieder aufrichten. Ich habe heute schon meine süßeste Speise genossen und preise Gott dafür. Nun gehen wir zu jener anderen Frau, die zu glauben und mit sicherem Glauben abzuwarten versteht.»

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«Und meine Schafe, Herr? Bald werde ich einen Weg nehmen müssen, der nicht der deine ist, um zu meiner Herde zu gelangen...»

Jesus lächelt, ohne zu antworten.

Es ist jetzt schön zu wandern, da die Sonne die Luft erwärmt und die jungen Blätter der Bäume und die Gräser der Wiesen wie Smaragde erstrahlen läßt. Jeder Blütenkelch verwandelt sich in ein Gefäß für die Tautropfen, die in den vielfarbigen Strahlenkränzen der Feldblumen erglänzen. Jesus geht lächelnd einher, und auch die Apostel, die schon wieder Mut gefaßt haben, folgen ihm lächelnd... Sie kommen zum Scheideweg. Der Hirte Annas sagt beschämt: «Hier sollte ich euch verlassen... Kommst du nicht, um meine Schafe zu heilen? Auch ich habe Glauben; und bin ein Proselyt... Versprichst du mir, wenigstens nach dem Sabbat zu kommen?»

«O Annas! Hast du denn immer noch nicht begriffen, daß deine Schafe gesund sind, seit ich die Hand gegen Lesemdan erhoben habe? Geh also auch du, das Wunder zu schauen und den Herrn zu preisen.»

Ich glaube, daß die Frau Lots nach ihrer Verwandlung in eine Salzsäule nicht viel anders ausgesehen hat als dieser Hirte, der unbeweglich, ein wenig nach vorn gebeugt, mit erhobenem Haupt stehengeblieben ist, um Jesus anzuschauen, einen Arm halb ausgestreckt... Er scheint eine Statue zu sein, und man könnte darunter schreiben: "Der Flehende." Doch schließlich kommt er zu sich und wirft sich nieder mit den Worten: «O du Gesegneter! Du Guter! Du Heiliger! ... Aber ich habe dir viel Geld versprochen und habe nur wenige Drachmen bei mir... Komm, komm nach dem Sabbat zu mir...»

«Ich werde kommen. Nicht wegen des Geldes, sondern um dich noch einmal zu segnen um deines einfachen Glaubens willen. Leb wohl, Annas. Der Friede sei mit dir!»

Sie trennen sich.

«Auch das ist keine Niederlage, Freunde, auch hier bin ich nicht verlacht, verjagt und verflucht worden... Auf, beeilt euch! Da ist eine Mutter, die uns seit Tagen erwartet...»

Der Marsch geht weiter und wird nur kurz unterbrochen, um Brot und Käse zu essen und an einer Quelle zu trinken...

Die Sonne steht bereits im Zenit, als die Wegkreuzung erscheint. «Schau, dort hinten, der Anfang der Treppe von Tyrus», sagt Matthäus, und er freut sich bei dem Gedanken, daß mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt ist.

An den römischen Wegweiser gelehnt, steht eine Frau. Zu ihren Füßen, auf einer kleinen Matte, liegt ein Mädchen von etwa sieben oder acht Jahren. Die Frau schaut nach allen Richtungen, zur Felsentreppe, zur Straße von Ptolemais und nach Westen, wo Jesus herkommt, und immer wieder bückt sie sich, um das Mädchen zu liebkosen, um seinen Kopf mit einem

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Tuch vor der Sonne zu schützen und mit einem Schal die Hände und Füße zu bedecken...

«Da ist die Frau! Aber wo wird sie wohl in diesen Tagen geschlafen haben?» fragt Andreas.

«Wahrscheinlich in dem Hause in der Nähe der Kreuzung, denn es gibt in der Umgebung keine anderen Häuser», antwortet Matthäus.

«Oder im Freien», sagt Jakobus des Alphäus.

«Nein, wegen des Mädchens sicher nicht», entgegnet sein Bruder.

«Oh, um die Gnade zu erlangen!...» sagt Johannes.

Jesus sagt nichts. Er lächelt nur. Alle in einer Reihe, er in der Mitte und drei Apostel rechts und drei links, nehmen sie die ganze Straße ein in dieser Stunde, in der die Fußgänger anhalten, um dort zu essen, wo sie die Mittagszeit angetroffen hat.

Jesus lächelt, hochgewachsen und schön, in der Mitte der Reihe. Es ist, als ob alles Licht der Sonne sich auf sein Antlitz ergossen hätte, das so sehr leuchtet, daß er Strahlen auszusenden scheint.

Die Frau erhebt ihre Augen... Sie befinden sich jetzt in einer Entfernung von etwa fünfzig Metern von ihr. Vielleicht wurde ihre Aufmerksamkeit durch den Blick, den Jesus auf sie gerichtet hatte, geweckt. Sie schaut auf... und legt die Hände in einer unwillkürlichen Gebärde der Angst und des Jubels auf ihre Brust.

Jesus lächelt noch liebevoller, und dieses strahlende, unbeschreiblich gütige Lächeln Jesu muß der Frau so viel bedeuten, daß sie ihre Angst vergißt und ebenfalls lächelt, als ob sie schon glücklich wäre. Dann beugt sie sich nieder, um ihr Kind aufzunehmen, und hält es mit ausgestreckten Armen vor sich hin, als ob sie es Gott darbringen wollte. So geht sie vorwärts, und zu Jesu Füßen angelangt, kniet sie nieder und hebt das liegende Mädchen, das entzückt auf das wunderschöne Antlitz Jesu blickt, so hoch empor als sie kann.

Die Frau sagt kein Wort, und was könnte sie tiefgründigeres sagen, als das, was ihr Gesicht schon ausdrückt? ...

Jesus sagt nur ein Wort, ein kurzes, aber machtvolles, erfreuendes Wort, wie das "Fiat" Gottes bei der Schöpfung der Welt: "Ja", und legt dabei die Hand auf die kleine Brust des liegenden Mädchens.

Da trillert das Kind wie eine aus dem Käfig befreite Lerche: «Mutter!»setzt sich plötzlich auf, gleitet auf die Füße und umarmt seine Mutter, die vor Müdigkeit erschöpft wankt und beinahe zu Boden fällt; die schwindende Angst, die plötzlich über sie gekommene Freude, und das durchgestandene Leid haben ihr Herz alle Kraft gekostet.

Jesus ist auch schon bereit, sie zu stützen. Er ist eine größere Hilfe als das Mädchen, das durch sein Gewicht die mütterlichen Arme belastet. Jesus läßt sie niedersitzen und flößt ihr Kraft ein... Er betrachtet sie, während stumme Tränen über das Antlitz der Frau rinnen, das zugleich

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Müdigkeit und Seligkeit ausdrückt. Dann kommen die Worte: «Danke, mein Herr! Dank und Segen! Meine Hoffnung wurde gekrönt ... Ich habe so sehnlichst auf dich gewartet... doch jetzt bin ich glücklich ...»

Die Frau, die einer Ohnmacht nahe war, hat nun ihre Schwäche überwunden und kniet wieder nieder, um Jesus zu verehren. Sie hat das geheilte Mädchen vor sich, das Jesus nun liebkost, und berichtet: «Seit zwei Jahren verzehrte sich ein Knochen in ihrem Rücken, so daß sie gelähmt war und langsam und unter großen Schmerzen dem Tode entgegenging. Wir haben sie zu Ärzten in Antiochia, Tyrus und Sidon gebracht, und auch nach Caesarea und Paneas, und haben so viel ausgegeben für Ärzte und Medikamente, daß wir das Haus in der Stadt verkaufen und uns aufs Land zurückziehen mußten. Wir mußten die Diener des Hauses entlassen und konnten nur die Landarbeiter behalten, und die Produkte, die wir früher selbst verbrauchten, haben wir verkauft... Doch alles war umsonst! Dann habe ich dich gesehen und von dem erfahren, was du schon anderswo gewirkt hast. So habe ich auch für mich auf Gnade gehofft... und nun habe ich sie erhalten! Jetzt kehre ich nach Hause zurück, erleichtert und fröhlich... und werde meinem Gatten eine große Freude bereiten. Er hat mir die Hoffnung ins Herz gelegt, indem er mir von dem berichtete, was durch deine Macht in Galiläa und Judäa geschehen war. Oh, wenn wir nicht hätten fürchten müssen, dich nicht zu finden, wären wir mit dem Mädchen gekommen. Aber du bist immer unterwegs!...»

«Wandernd bin ich zu dir gekommen... Aber wo hast du denn in diesen Tagen Unterkunft gefunden?»

«In dem Haus dort... Und in der Nacht schaute eine gute Frau nach dem Kind; ich selbst blieb immer hier, aus Angst, du könntest während der Nacht vorübergehen.»

Jesus legt ihr die Hand aufs Haupt: «Du bist eine gute Mutter, und Gott liebt dich dafür. Du siehst ja, wie er dir in allem geholfen hat.»

«O ja! Ich habe es förmlich gespürt, als ich kam. Ich bin von zu Hause in die Stadt gegangen im Glauben, dich dort zu finden; mit wenig Geld bei mir und allein. Dann bin ich, dem Rat des Mannes folgend, nach hier aufgebrochen. Ich habe jemanden nach Hause geschickt, um es mitzuteilen, und bin gekommen... und nie hat mir etwas gefehlt, weder Brot, noch Unterkunft, noch Kraft.»

«Immer mit dieser Last auf den Armen? Konntest du keinen Wagen benützen? ...» fragt Jakobus des Alphäus mitleidig.

«Nein, das Kind hätte zu sehr gelitten und wäre daran gestorben. Auf den Armen ihrer Mutter ist meine Johanna zur Gnade gelangt.»

Jesus streichelt beiden liebkosend das Haar: «Geht nun und bleibt stets dem Herrn treu! Der Herr und mein Friede seien mit euch!»

Jesus geht auf der Straße nach Ptolemais weiter.

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«Auch das ist keine Niederlage, Freunde, und auch hier wurde ich nicht verjagt, verlacht und verflucht.»

Auf der ebenen Straße ist bald die Hufschmiede bei der Brücke erreicht. Der römische Hufschmied ruht sich in der Sonne, den Rücken ans Haus gelehnt, aus. Er erkennt Jesus wieder und grüßt ihn. Jesus erwidert den Gruß und fügt hinzu: «Läßt du mich eine Weile hier bleiben, damit ich mich etwas ausruhen und ein wenig Brot verzehren kann?»

«Ja, Rabbi! Meine Frau wollte dich sehen; denn ich habe ihr auch das gesagt, was sie von deiner letzten Predigt nicht gehört hat. Esther ist Jüdin. Aber ich, als Römer, habe es dir nicht zu sagen gewagt. Ich hätte dich zu ihr geschickt...»

«Rufe sie also!»

Jesus setzt sich auf eine Bank an der Wand, während Jakobus des Zebedäus Brot und Käse austeilt...

Es kommt eine etwa vierzig Jahre alte Frau heraus, verwirrt und schamrot.

«Der Friede sei mit dir, Esther! Du hast dich danach gesehnt, mich kennenzulernen? Warum?»

«Wegen dem, was du gesagt hast... Die Rabbis verachten jene, die mit Römern verheiratet sind... Aber ich habe alle meine Kinder zum Tempel gebracht, und alle männlichen sind beschnitten. Ich habe es Titus schon gesagt, als er um mich warb. Er ist gut! Er läßt mir mit den Kindern freie Hand. Gebräuche, Riten, alles ist hier hebräisch, aber die Rabbis und die Synagogenvorsteher verfluchen uns. Du nicht! ... Du hast Worte des Erbarmens für uns... Oh, weißt du, was das für uns bedeutet? Es ist, als ob man sich von den Armen des Vaters und der Mutter, die uns verstoßen und verflucht hatten oder streng zu uns waren, umarmt fühlte... Es ist, als ob man seinen Fuß in das verlassene Elternhaus setzen und sich dort nicht mehr fremd fühlen würde: Titus ist gut! An unseren Festen schließt er die Hufschmiede, trotz der großen Einbuße an Geld, und begleitet mich mit den Kindern zum Tempel. Er sagt, daß man ohne Religion nicht leben kann und daß die seine die Familie und die Arbeit ist, während es früher die Soldatenpflicht war. Aber ich... Herr, ich wollte mit dir über etwas sprechen... Du hast gesagt, daß die Nachfolger des wahren Gottes etwas von ihrem heiligen Sauerteig nehmen und ihn mit gutem Mehl vermischen müssen, um dieses heiligmäßig gären zu lassen.

Ich habe es so mit meinem Manne gemacht. Während der zwanzig Jahre, die wir zusammen leben, habe ich versucht, mit dem Sauerteig Israels an seiner Seele zu arbeiten, die edel ist. Aber er kann sich nicht entscheiden... und er wird alt. Ich möchte ihn doch auch im anderen Leben bei mir haben, vereint im Glauben, wie wir in der Liebe vereint sind. Ich bitte dich nicht um Schätze, Wohlstand oder Gesundheit, all das haben wir zur

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Genüge. Gott sei dafür gepriesen! Aber um dies möchte ich dich bitten: bete für meinen Gatten, damit er zum wahren Gott gelangen möge...»

«Er wird zu ihm gelangen, sei dessen gewiß. Du bittest um etwas Heiliges und wirst erhört werden. Du hast deine Pflichten als Frau Gott und dem Gatten gegenüber verstanden. Wären doch alle Ehefrauen so! Wahrlich, ich sage dir, daß viele dich nachahmen sollten. Bleibe so, und du wirst die Freude erleben, deinen Titus im Gebet und im Himmel an deiner Seite zu haben. Zeige mir deine Kinder!»

Die Frau ruft die zahlreiche Kinderschar herbei: «Jakob, Judas, Levi, Maria, Johannes, Anna, Elisa und Markus.» Dann geht sie ins Haus und kommt zurück mit einem, das noch kaum gehen kann, und einem, das höchstens drei Monate alt ist.

«Das ist Isaak, und diese Kleine heißt Judith», sagt sie, die Vorstellung beendend.

«Welch ein Überfluß», sagt Jakobus des Zebedäus lachend.

Judas ruft aus: «Sechs Knaben! und alle beschnitten und mit reinen Namen. Brav ist sie!»

Die Frau ist glücklich und beginnt, Jakob, Judas und Levi zu loben, die bereits dem Vater helfen. «Alle Tage mit Ausnahme des Sabbat, dem Tage, an dem Titus allein arbeitet, um die schon vorbereiteten Hufeisen anzubringen», sagt sie. Sie lobt Maria und Anna, «weil sie ihrer Mama eine große Hilfe sind.» Aber auch die vier Kleinsten läßt sie nicht ohne Lob. «Gut und ohne Launen sind sie. Titus hilft mir, sie zu erziehen; er, der ein disziplinierter Soldat gewesen ist», sagt sie und wirft ihrem Mann einen liebevollen Blick zu, der sich, einen Arm in die Seite gestemmt, an einen Pfosten gelehnt und allem zugehört hat, was die Frau gesagt hat. Er hat ein Lächeln auf seinem freundlichen Gesicht und brüstet sich ein wenig, nachdem seine militärischen Verdienste erwähnt worden sind.

«Sehr gut! Die Disziplin der Waffen ist nicht verwerflich in den Augen Gottes, wenn die Soldatenpflicht mit Menschlichkeit erfüllt wird. Die Hauptsache ist, daß man jede Arbeit mit Rechtschaffenheit tut, um immer tugendhaft zu sein. Diese deine frühere Disziplin, die du auf deine Kinder überträgst, möge dir helfen, dich auf einen höheren Dienst vorzubereiten: den Dienst Gottes. Jetzt müssen wir uns trennen. Ich werde es gerade noch schaffen, vor Sonnenuntergang in Achsib zu sein. Der Friede sei mit dir, Esther, und mit deinem Hause. Mögt ihr alle in Bälde dem Herrn angehören.»

Die Mutter und die Kinder knien nieder, während Jesus die Hände zum Segen erhebt. Der Mann steht stramm, als wäre er wieder der römische Soldat vor seinem Kaiser, und grüßt nach römischer Art.

Dann gehen sie... Nach einigen Metern legt Jesus die Hand auf die Schulter des Jakobus: «Und noch einmal, das vierte Mal an diesem Tage, mache ich dich darauf aufmerksam, daß dies keine Niederlage war; daß

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ich nicht verjagt, ausgelacht und verflucht worden bin... Was sagst du nun?»

«Daß ich ein Dummkopf bin, Herr!» sagt Jakobus des Zebedäus stürmisch.

«Nein, du bist wie alle übrigen immer noch zu menschlich eingestellt, ihr denkt wie Menschen, die stärker von ihrer Menschlichkeit als von ihrem Geiste beherrscht sind. Wenn der Geist einmal die Oberhand gewonnen hat, erregt er sich nicht mehr bei jedem Windstoß, der nicht immer eine duftende Brise sein kann...

Er wird vielleicht zu leiden haben, aber er wird sich nicht mehr erregen. Ich bete immer, daß ihr zu dieser Vorherrschaft des Geistes gelangen mögt. Aber ihr müßt mich mit eurer Anstrengung unterstützen... Nun gut! Die Reise ist beendet. Auf ihr habe ich gesät, was notwendig war, um euch den Weg zu bereiten für die Zeit, da ihr die Verkünder der Frohen Botschaft sein werdet. Nun können wir die Sabbatruhe antreten in dem Bewußtsein, unsere Pflicht getan zu haben. Wir werden auf die anderen warten und dann weitergehen... immer weiter... bis alles erfüllt ist...»

377. BARTHOLOMÄUS VERSTEHT DEN GRUND...

Der Tag nach dem Sabbat.

Jesus ist zusammen mit den sechs Aposteln in einem Zimmer, in dem sehr armselige Lagerstätten dicht nebeneinander aufgestellt sind. Der freie Raum ist kaum ausreichend um von einer Seite des Zimmers zur anderen zu gelangen. Sie nehmen das äußerst einfache Mahl auf Brettern sitzend ein, da es keine Tische und Stühle gibt. Johannes setzt sich schließlich auf der Suche nach Sonne auf den Fenstersims und sieht so als erster die Erwarteten, Petrus, Simon, Philippus und Bartholomäus, die auf das Haus zukommen. Er ruft ihnen zu und eilt dann, von den anderen gefolgt, hinaus. Nur Jesus bleibt zurück, und seine einzige Bewegung besteht darin, daß er aufsteht und sich umwendet, um zur Türe zu schauen...

Die Ankömmlinge treten ein. Die Überschwenglichkeit des Petrus kann man sich leicht vorstellen, ebenso die tiefe Ehrfurcht Simons des Zeloten. Was überrascht, ist das Verhalten des Philippus, und besonders das des Bartholomäus. Sie treten ein, ich möchte fast sagen, ängstlich und betrübt, und obwohl Jesus ihnen die Arme öffnet, um mit ihnen den Friedenskuß auszutauschen, den er schon Petrus und Simon gegeben hat, fallen sie auf ihre Knie, neigen die Stirne bis zum Boden, küssen Jesus die Füße und verweilen in dieser Haltung... Die unterdrückten Seufzer des Bartholomäus verraten, daß er still zu Jesu Füßen weint.

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«Warum dieser Kummer, Bartholomäus? Kommst du nicht in die Arme deines Meisters? Du, Philippus, warum so furchtsam? Wenn ich nicht wüßte, daß ihr zwei ehrenwerte Männer seid, in deren Herzen keine Bosheit Platz findet, müßte ich annehmen, daß ihr eine Schuld auf euch geladen habt. Doch dem ist nicht so. Auf, also! Seit langem ersehne ich eure Umarmung und den klaren Blick eurer treuen Augen...»

«Auch wir, Herr ...» sagt Bartholomäus und erhebt sein Gesicht, auf dem Tränen glänzen. «Wir haben uns stets nur nach dir gesehnt und uns gefragt, worin wir dir wohl mißfallen haben, daß wir so lange von dir getrennt sein mußten, und wir erachteten es als ungerecht... Doch nun wissen wir... Bescheid und bitten dich um Verzeihung, o Herr! Verzeihung! Ich vor allem bitte dich darum, denn Philippus war meinetwegen von dir getrennt, ihn habe ich schon um Verzeihung gebeten. Ich, ich allein bin der Schuldige, ich, der alte Israelit, der dir Schmerz bereitet hat und der es nur schwerlich fertigbringt sich zu erneuern.»

Jesus beugt sich nieder und zieht ihn und dann Philippus mit Gewalt empor. Dann umarmt er sie beide mit den Worten: «Aber wessen klagst du dich an? Du hast nichts Böses getan, gar nichts, und Philippus auch nicht. Ihr seid meine teuren Apostel, und ich bin heute wirklich glücklich, euch bei mir zu haben, vereint für immer!»

«Nein, nein! Lange Zeit haben wir den Grund nicht erkannt, weshalb du uns gerechterweise so sehr mißtraut hast, daß du uns von der Apostelfamilie ausgeschlossen hast. Aber nun wissen wir es und bitten um Verzeihung, Verzeihung, Verzeihung, ich ganz besonders, Jesus, mein Meister!»

Bartholomäus schaut ihn voller Angst, Liebe und Mitleid an. Alt wie er ist, gleicht er einem Vater, der seinen betrübten Sohn betrachtet und in seinem Gesichte forscht, das von einem Leid gezeichnet ist, das er nicht geahnt hat, und dessen Abmagern und Altern er vorher nicht bemerkt hat... Wieder rinnen Tränen über die Wangen von Bartholomäus, während er fragt: «Aber was haben sie dir angetan? Was haben sie uns getan, daß wir alle so leiden müssen? Es ist, als ob ein böser Geist unter uns geraten wäre, um uns zu quälen, zu betrüben, zu schwächen, teilnahmslos und töricht zu machen... so töricht, daß wir nicht gemerkt haben, daß du gelitten hast... So töricht, daß wir dein Leid noch vermehrt haben durch unsere Engherzigkeit, Stumpfsinnigkeit, Menschenfurcht und Unfähigkeit, uns zu erneuern... Ja, der alte Mensch hat immer in uns triumphiert, ohne daß deine vollkommene Lebendigkeit uns hätte erneuern können. Genau das ist es, was mir keine Ruhe läßt! Mit all meiner Liebe war ich nicht imstand, mich zu erneuern, dich zu verstehen und dir zu folgen... Nur körperlich bin ich dir gefolgt, aber du wolltest, daß wir dir auch geistig nachfolgen... und deine Vollkommenheit verstehen... damit wir fähig werden, dich zu vertreten... O mein Meister! Mein Meister, der du uns eines Tages verlassen wirst, nach vielen Kämpfen, Nachstellungen, Widrigkeiten und

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Schmerzen und mit dem Leid, uns unvorbereitet zu wissen! ...» Bartholomäus lehnt den Kopf an seine Schulter und weint ganz untröstlich, zerknirscht in der Erkenntnis, daß er ein oberflächlicher Jünger gewesen ist.

«Verzage nicht, Nathanael. Du siehst alles wie etwas Riesengroßes, das dich überwältigt, aber dein Jesus weiß, daß ihr Menschen seid, und verlangt von euch nicht mehr, als ihr zu geben imstand seid. Oh, ihr habt mir ja alles gegeben, wirklich alles! Doch jetzt müßt ihr heranwachsen, euch bilden... dies ist eine lange Arbeit, aber ich kann warten. Ich freue mich über euer Heranreifen, denn es ist ein fortwährendes Wachsen in meinem Leben. Selbst deine Tränen und die Eintracht derer, die bei mir waren, sowie die Milde und die Liebe, die der Härte, der Selbstsucht, der Engstirnigkeit, die eure Natur waren, gefolgt sind, und euer gegenwärtiger Ernst, all das sind Phasen des Wachsens in mir. Auf, also! Sei in Frieden, ich weiß um alles, und auch deine Ehrlichkeit, deinen guten Glauben, deine Hochherzigkeit und deine aufrichtige Liebe kenne ich. Sollte ich zweifeln an meinem weisen Bartholomäus und an Philippus, der so ausgeglichen und treu ist? Ich würde meinem Vater Unrecht tun, der mir gestattet hat, euch zu meinen Getreuesten zu zählen. Doch nun... kommt, setzen wir uns hier nieder, und wer schon ausgeruht hat, möge für die müden, hungrigen Brüder Speise und Erquickung besorgen. Inzwischen erzählt eurem Meister und den Brüdern, was sie noch nicht wissen.»

Er setzt sich auf sein Bettgestell, behält Philippus und Nathanael bei sich, während Petrus und Simon sich auf das Jesus gegenüberliegende Bett setzen, Knie an Knie.

«Sprich du, Philippus. Ich habe schon geredet, und du bist in dieser Zeit auch viel gerechter gewesen als ich ...»

«O Bartholomäus! Gerecht! Ich hatte nur verstanden, daß es nicht Abneigung oder Launenhaftigkeit des Meisters uns gegenüber sein konnte, daß er uns nicht bei sich wollte. Ich suchte dich möglichst zu beruhigen, indem ich dich daran hinderte, Dinge zu denken, die dir nur Schmerz und Gewissensbisse verursacht hätten. Nur eines bereue ich... dich zurückgehalten zu haben, als du mit Simon des Jonas nach Nazareth gehen wolltest, um Margziam zu holen. Danach... habe ich dich so sehr an Leib und Seele leiden sehen, daß ich mir eingestehen mußte: "Es wäre besser gewesen, ich hätte ihn gehen lassen! Der Meister hätte ihm den Ungehorsam verziehen, und Bartholomäus hätte seinen Geist nicht mehr mit solchen Gedanken verbittert. Aber du siehst es ja! Wenn du weggegangen wärest, hättest du den Schlüssel zum Geheimnis nie gefunden... und vielleicht wäre dein Verdacht über den Wankelmut des Meisters nie mehr erloschen. So hingegen...

«Ja, so habe ich es verstanden, Meister. Simon des Jonas und Simon der Zelote, die ich mit Fragen bestürmt habe, um vieles zu erfahren, und eine Bestätigung für vieles, was mir schon bekannt war zu erhalten, haben

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nur gesagt: "Der Meister hat sehr gelitten, so sehr, daß er abgemagert und gealtert ist, und ganz Israel, und wir als erste, sind daran schuld. Er liebt uns und wird uns verzeihen, doch wünscht er, daß über die Vergangenheit nicht mehr gesprochen wird. Daher raten wir euch, nicht mehr zu fragen und nichts mehr zu sagen..." Aber ich will doch noch etwas sagen. Fragen stelle ich nicht. Trotzdem muß ich etwas sagen, damit du es weißt, denn nichts darf dir verborgen bleiben, was in der Seele deines Apostels ist. Eines Tages – Simon und die anderen waren schon einige Tage fort -kam Michael von Kana zu mir. Er ist ein wenig verwandt mit mir; wir sind gute Freunde und sind zusammen zur Schule gegangen. Ich bin sicher, daß er in guter Absicht gekommen ist, denn er hat mich gern, doch der, der ihn gesandt hat, hegt keine guten Absichten. Er wollte wissen, warum ich zu Hause geblieben war, während die anderen fortgingen, und sagte: "Dann ist es also wahr? Du hast dich von ihnen getrennt, weil du als guter Israelit gewisse Dinge nicht billigen kannst, und die anderen lassen dich gerne zurück, angefangen bei Jesus von Nazareth, da sie überzeugt sind, daß du ihnen nicht einmal mit deinem Schweigen helfen würdest. Du tust gut daran! Ich erkenne in dir wieder den Mann früherer Zeiten. Ich dachte, du seiest verführt worden und hättest Israel verleugnet. Du dienst so deinem Geist, dir selbst und den Deinen. Denn was da vor sich geht, wird vom Hohen Rat nicht verziehen, und die, die daran teilgenommen haben, werden verfolgt werden. Ich habe erwidert: "Aber wovon sprichst du denn? Ich habe dir doch gesagt, daß ich die Anweisung erhalten habe, zu Hause zu bleiben, einerseits wegen der Jahreszeit und andererseits, um eventuelle Pilger nach Nazareth zu schicken oder ihnen zu sagen, daß sie den Meister am Ende des Schebat in Kapharnaum erwarten sollen. Du aber sprichst von Trennung, Mittäterschaft, Verfolgungen! Erkläre mir!" Ist es nicht wahr, Philippus, daß ich das gesagt habe?»

Philippus bejaht es.

Bartholomäus fährt fort: «Da hat Michael gesagt, es sei bekannt, daß du dich gegen die Weisung und den Befehl des Hohen Rates auflehnst, indem du Johannes von Endor und eine Griechin bei dir behältst... Herr, ich weiß, ich tue dir damit weh, aber ich muß es trotzdem sagen. Ich frage dich: Ist es wahr, daß sie in Nazareth waren?»

«Ja, es ist wahr.»

«Ist es auch wahr, daß sie mit dir abgereist sind?»

«Ja, das stimmt.»

«Philippus, Michael hatte recht! Aber woher konnte er es wissen?»

«Ach, laß das! Es sind diese Schlangen, die mich und Simon aufgehalten haben, und wer weiß wie viele andere. Es sind immer dieselben Schlangen», sagt Petrus aufgebracht.

Jesus jedoch fragt ruhig: «Hat er dir sonst nichts gesagt? Sei ganz aufrichtig mit deinem Meister.»

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«Sonst nichts. Er wollte von mir wissen... und da habe ich Michael angelogen, denn ich habe gesagt: "Bis zum Passahfest bleibe ich in meinem Hause", aus Angst, daß er mir folgen könnte... ich weiß es auch nicht... aus Angst, daß er dir Böses antun könnte... und damals habe ich verstanden, weshalb du mich zurückgelassen hast... weil du wußtest, daß ich noch zu sehr an Israel hing.» Bartholomäus beginnt wieder zu weinen... «Und du hast an mir gezweifelt...»

«Nein, das nicht! Absolut nicht. Du warst damals nicht notwendig bei den Gefährten, während du es in Bethsaida wohl warst, du hast es selbst eingesehen. Jeder hat seine Mission, und jedes Alter seine Plage...»

«Nein, nein! Herr, trenne mich keiner Mühe wegen mehr von dir, nimm auf nichts mehr Rücksicht... Du bist gütig, aber ich will mit dir zusammenbleiben. Fern von dir zu sein ist für mich eine Strafe... und ich Törichter, der zu nichts fähig ist, hätte dich wenigstens trösten können, wenn ich schon nichts anderes tun konnte. Nun habe ich verstanden... Du hast diese mit den beiden fortgeschickt. Sage es mir nicht, ich will es nicht wissen, aber ich fühle, daß es so ist, und sage es. Dann hätte ich also bei dir sein können und müssen, und du hast mich nicht geholt, um mich zu strafen, weil ich mich dagegen sträube, ein "neuer Mensch" zu werden. Doch ich schwöre dir, Meister, daß, was ich gelitten habe, mich erneuert hat, und daß du nie mehr in mir den alten Nathanael wiederfinden wirst.»

«Du siehst also, daß die Leiden sich für alle in Freude gewandelt haben. Jetzt werden wir langsam Thomas und Judas entgegengehen, ohne abzuwarten, daß sie den Ort erreichen, an dem wir uns treffen wollten. Dann werden wir mit ihnen noch... Es ist so viel zu tun! ... Morgen werden wir uns früh auf den Weg machen. Sehr früh!»

«Das wird richtig sein, denn ein Nordwind kommt auf und das Wetter ändert sich. Ein Unheil für die Pflanzungen», sagt Philippus.

«Ja, die letzten Hagelwetter haben ganze Landstriche verwüstet. Wenn du es gesehen hättest, Herr! Es schien, als ob manche Gegenden vollständig abgebrannt wären, und das Seltsame daran ist, daß, wie ich gesagt habe, nur gewisse Landstriche davon betroffen wurden», sagt Petrus.

«Während eurer Abwesenheit hat es oft gehagelt. Eines Tages, um die Mitte des Monats Tebet, war es eine wahre Plage. Man hat mir gesagt, daß einige Bauern in der Ebene noch einmal säen müßten. Vor dem Unwetter war es schon ziemlich warm, aber jetzt sucht man die Sonne gerne auf. Es geht wieder rückwärts mit der Jahreszeit... Welch eigenartige Zeichen! Was haben sie wohl zu bedeuten?» fragt Philippus.

«Es handelt sich nur um Mondeinwirkungen. Denke nicht darüber nach, das sind nicht Dinge, die uns beeindrucken sollen. Übrigens werden wir in die Ebene gehen, wo es angenehm sein wird zu wandern, frisch, nicht zu kalt und trocken. Kommt jetzt, auf der Terrasse ist es sonnig, und wir wollen uns dort alle zusammen ausruhen ...»

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378. AUF DEM RÜCKWEG NACH GALILÄA

«Was machen wir nun, nachdem wir auch den Hirten zufriedengestellt haben?» fragt Petrus, der allein mit Jesus vorausgeht, während die anderen in einer Gruppe einige Meter hinter ihnen folgen.

«Wir gehen zur Straße, die dem Ufer entlang nach Sycaminon führt.»

«Ja?! Ich dachte, wir wären auf dem Weg nach Kapharnaum ...»

«Dorthin brauchen wir nicht zu gehen, Simon des Jonas; es ist nicht nötig, denn Nachrichten von deiner Frau und von dem Knaben hast du erhalten, und was Judas anbelangt, ist es am einfachsten, wenn wir ihm entgegengehen.»

«Eben deswegen, Herr. Nimmt er nicht den Überlandweg am Fluß und am See entlang? Es ist der kürzeste und beste.»

«Aber er wird diesen nicht einschlagen, denn vergiß nicht, daß er die Jünger zu überwachen hat, und sie sind zu dieser Jahreszeit und besonders jetzt, da es wieder sehr kalt geworden ist, im Westen verstreut.»

«Gut, gut, wenn du es sagst. Mir genügt es, wenn ich bei dir bin und dich weniger traurig sehe. Im übrigen habe ich wirklich keine Eile, Judas des Simon zu begegnen. Oh, wenn wir ihn etwa gar nicht antreffen würden! Wir haben uns so wohl gefühlt unter uns!»

«Simon, Simon, ist das deine Bruderliebe?»

«Herr... das ist meine Aufrichtigkeit», sagt Petrus offen heraus, und zwar mit einem solchem Nachdruck und Gesichtsausdruck, daß Jesus Mühe hat, nicht zu lächeln. Wie könnte man denn nur einen so aufrichtigen, treuen Menschen streng zurechtweisen? Jesus zieht es vor zu schweigen, und zeigt indessen überschwengliches Interesse an den Hängen auf der linken Seite, während die Ebene, die man zur Rechten sieht, immer flacher wird. Hinter ihnen, in einer Gruppe, sprechen die übrigen neun miteinander und Johannes mit einem Schäflein auf den Schultern, gleicht einem guten Hirten; wahrscheinlich ist es ein Geschenk des Hirten Annas.

Nach einiger Zeit beginnt Petrus wieder zu fragen: «Und nach Nazareth gehen wir nicht?»

«Gewiß werden wir dorthin gehen. Meine Mutter wird sich freuen, etwas über die Reise von Johannes und Syntyche zu erfahren.»

«Und dich wiederzusehen!»

«Und mich zu sehen.»

«Ob man wohl wenigstens sie in Ruhe gelassen hat?»

«Das werden wir erfahren.»

«Aber warum sind sie so grimmig? Es gibt doch so viele in Judäa wie

Johannes, und doch... Ja, um Rom zu ärgern, beschützen und verbergen sie diese sogar...»

«Überzeuge dich, daß sie nicht wegen Johannes so handeln, sondern nur, um einen Vorwand für eine Anklage gegen mich zu haben.»

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«Aber sie werden ihn nicht mehr finden! Du hast alles gut geplant... uns allein zu schicken... auf dem Meer... in einer Barke für einige Meilen, und dann, jenseits der Grenze, mit einem Schiff... Oh, das war gut so. Ich hoffe wirklich, daß sie enttäuscht sind.»

«Gewiß werden sie es sein.»

«Ich bin neugierig, Judas von Kerioth zu sehen, um ihn ein wenig auszuforschen wie einen Himmel voller Winde und Zeichen, und zu sehen, ob ...»

«Genug, Petrus! ...»

«Du hast recht. Ich habe ein Brett vor den Kopf», und er schlägt sich auf die Stirne.

Um ihn abzulenken, ruft Jesus alle anderen zu sich und macht sie auf die eigenartige Zerstörung aufmerksam, die durch Hagel und Kälte verursacht werden sind, zu einer Jahreszeit in der man annehmen könnte, daß die Kälte schon vorüber wäre... Der eine sagt dies, der andere das. Doch alle wollen darin eine göttliche Strafe sehen, die das widerspenstige Palästina getroffen hat, das den Herrn nicht aufnehmen will. Die Gelehrteren zitieren ähnliche Ereignisse, bekannt durch Berichte aus alter Zeit, während die Jüngeren und weniger Gebildeten erstaunt und aufmerksam zuhören.

Jesus schüttelt den Kopf: «Es ist die Wirkung des Mondes und ferner Winde. Ich habe es euch schon gesagt. In den nördlichen Gegenden hat sich ein Phänomen ereignet, dessen Folgen sich auf ganze Regionen auswirken.»

«Aber warum sind dann manche Felder so schön?»

«Der Hagel ist nun einmal so.»

«Aber könnte es sich nicht um eine Züchtigung für die Allerschlimmsten handeln?»

«Es könnte so sein, aber es ist nicht so. Wehe, wenn es so wäre...»

«Dann würde fast unser ganzes Vaterland trocken und öde sein, nicht wahr, Herr?» sagt Andreas.

«Aber in den Prophezeiungen wird durch Symbole vorhergesagt, daß Strafen über diejenigen hereinbrechen werden, die den Messias nicht aufnehmen. Können die Propheten die Unwahrheit sagen?»

«Nein Bartholomäus. Was vorausgesagt wurde, wird auch eintreffen. Aber der Allerhöchste ist so unendlich gütig, daß etwas noch viel Schlimmeres geschehen muß, damit er bestraft. Seid auch ihr gut und fordert nicht immer Strafen für die Hartherzigen und Verstockten. Wünscht ihre Bekehrung, nicht ihre Strafe. Johannes, gib das Lamm einem Kameraden und komm, um von den Sanddünen aus dein Meer zu betrachten; auch ich werde kommen.»

Sie sind jetzt auf einer Straße ganz nahe am Meer, und nur ein breites Band gewellter Dünen trennt sie vom Wasser. Auf diesen Dünen wiegen

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sich schlanke Palmen und wachsen durcheinander Tamarinden, Mastixbäume und andere Sandgewächse.

Jesus geht mit Johannes, und wer bleibt zurück? Niemand. Bald sind sie alle oben, an der angenehmen Sonne, und vor ihnen das heitere, schöne Meer...

Die Stadt Ptolemais mit ihren weißen Häusern ist ganz nahe.

«Werden wir dort hingehen?» fragt Judas des Alphäus.

«Das ist nicht nötig, wir werden bei den ersten Häusern anhalten und etwas essen. Ich möchte am Abend in Sycaminon sein. Vielleicht treffen wir dort Isaak an.»

«Wieviel Gutes er dort tut! Hast du Abel, Johannes und Joseph gehört?»

«Ja! Aber alle Jünger sind sehr eifrig, und dafür preise ich meinen Vater Tag und Nacht. Ihr alle seid meine Freude, mein Friede, meine Gewähr...», und er betrachtet sie mit einer so unendlichen Liebe, daß den zehn Aposteln die Tränen in die Augen steigen.

Bei diesem liebevollen Blick schwindet mir die Fähigkeit, noch mehr zu sehen...

379. BEGEGNUNG MIT JUDAS ISKARIOT UND THOMAS

Durch das Tal des Kischon fegt trotz der am heiteren Himmel strahlenden Sonne ein eiskalter Wind, der aus den nördlichen Bergen kommt und den zarten Pflänzchen schadet. Sie erfrieren, sehen wie versengt aus und sind wohl dazu bestimmt, in ihrem neuen Grün abzusterben.

«Wird diese Kältewelle noch lange andauern?» fragt Matthäus und hüllt sich enger in seinen großen Mantel ein, aus dem nur noch ein kleiner Teil seines Gesichtes herausschaut, das heißt, die Augen und die Nase.

Mit einer durch den Mantel gedämpften Stimme (er hat ihn über den Mund gezogen) antwortet Bartholomäus: «Vielleicht für den Rest des Monats.»

«Um Himmelswillen! Nun, Geduld! Wenigstens werden wir in Nazareth in gastfreundlichen Häusern unterkommen... und inzwischen wird die Kälte vorübergehen.»

«Ja, Matthäus. Aber für mich ist sie schon vorüber, wenn ich sehe, daß Jesus nicht mehr so niedergedrückt ist. Scheint dir nicht auch, daß er fröhlicher geworden ist?» fragt Andreas.

«Er ist es! Aber ich... Nun, es scheint mir unmöglich, daß man so abgezehrt sein kann, demnach, was wir wissen. Ist denn sonst wirklich nichts passiert?» fragt Philippus.

«Nichts, wirklich nichts. Vielmehr hat er an der syrisch-phönizischen

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Grenze viel Freude mit gläubigen Seelen erlebt, und die Wunder gewirkt, von denen ich dir erzählt habe», versichert Jakobus des Alphäus.

«Er ist seit einigen Tagen viel mit Simon des Jonas zusammen, und Simon ist sehr verändert... Ja, ihr seid alle verändert. Ich weiß nicht ... Ihr seid viel... ernster geworden, das ist es», sagt Philippus.

«Aber das ist nur ein Eindruck! ... In Wirklichkeit sind wir die, die wir waren. Gewiß, den Meister so betrübt zu sehen wegen vieler Dinge, ist nicht erhebend, und ebenso hat es uns leid getan, hören zu müssen, wie viele gegen ihn sind... Aber wir werden ihn verteidigen. Oh, sie werden es nicht wagen ihm etwas anzutun, wenn wir bei ihm sind. Gestern abend habe ich ihm gesagt, nachdem ich die Worte von Hermas gehört hatte, der ein ernster, glaubwürdiger Mensch ist: "Du darfst nicht mehr allein bleiben. Du hast die Jünger, die, wie du siehst, unentwegt Gutes tun und immer zahlreicher werden. Deswegen werden wir bei dir bleiben. Ich sage dir nicht, daß du alles tun sollst. Es ist an der Zeit, dich zu erheben, mein Bruder. Aber du wirst bei uns sein, wie Moses auf dem Berge, und wir werden für dich kämpfen, bereit, dich notfalls auch mit unseren Händen zu verteidigen. Was mit Johannes dem Täufer geschehen ist, darf dir nicht zustoßen." Schließlich, wenn die Jünger des Täufers nicht auf zwei oder drei Kleinmütige zusammengeschmolzen wären, hätte man ihn nicht gefangengenommen. Wir hingegen sind zwölf, und ich will sie überzeugen, wenigstens einige der treuesten und energischsten Jünger, in seiner Nähe zu bleiben. Jene, die mit Johannes in Machärus waren, zum Beispiel. Männer mit tiefem Glauben und großem Mut, wie Johannes, Matthias und auch Joseph. Wißt ihr, daß dieser Jüngling vielversprechend ist?» sagt Thaddäus.

«Ja. Isaak ist ein Engel, aber seine Kraft liegt ganz im Geiste. Joseph hingegen ist auch körperlich stark und hat fast das gleiche Alter wie wir.»

«Zudem hat er ein gutes Auffassungsvermögen. Hast du gehört, was Hermas gesagt hat? "Wenn er studiert hätte, wäre aus ihm nicht nur ein Gelehrter, sondern zudem noch ein Rabbi geworden"! Und Hermas weiß, was man so spricht.»

«Ich jedoch... würde auch Stephanus, Hermas und den Priester Johannes in der Nähe behalten, wegen ihrer Kenntnis des Gesetzes und des Tempels. Wißt ihr, was ihre Anwesenheit angesichts der Schriftgelehrten und Pharisäer bedeutet? Eine Aufsicht, ein Zügel... und für Zweifler ist es, als ob man sagen würde: "Seht, auch die Besten Israels sind beim Rabbi als Schüler und Diener"», sagt Jakobus des Alphäus.

«Du hast recht, wir müssen es dem Meister berichten. Habt ihr gehört, was er gestern gesagt hat? "Ihr sollt gehorchen, aber ihr habt auch die Pflicht, mir euer Herz zu öffnen und das zu sagen, was euch richtig scheint, um euch daran zu gewöhnen, in Zukunft selbst die Führung zu übernehmen; und wenn ich sehe, daß ihr recht habt, werde ich eure Vorschläge annehmen», sagt der Zelote.

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«Vielleicht tut er es auch, um uns zu zeigen, daß er uns liebt, da wir alle mehr oder weniger davon überzeugt sind, daß wir die Ursache seiner Pein sind», bemerkt Bartholomäus.

«Oder er ist es wirklich müde, immer an alles denken, alle Entscheidungen alleine treffen und die ganze Verantwortung tragen zu müssen. Vielleicht erkennt er auch, daß seine vollkommene Heiligkeit... eine, ich möchte fast sagen, Unvollkommenheit ist gegenüber der Welt, die nicht heilig ist. Wir sind keine vollkommenen Heiligen. Wir sind kaum etwas weniger spitzbübisch als die anderen... und daher fähig, denen zu antworten, die ungefähr so sind wie wir», sagt Simon der Zelote.

«Und sie zu kennen, mußt du sagen!» fügt Matthäus hinzu.

«Oh, was das betrifft, bin ich sicher, daß auch er sie kennt. Vielmehr, er kennt sie noch besser als wir, da er in den Herzen liest; das weiß ich gewiß, so wahr ich lebe», sagt Jakobus des Zebedäus.

«Also, warum tut er dann manchmal Dinge, die Widerwärtigkeiten und Gefahren mit sich bringen?» fragt Andreas betrübt.

«Nun, ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll», sagt Thaddäus und zuckt die Achseln. Auch andere sind mit seiner Meinung einverstanden.

Johannes schweigt. Sein Bruder neckt ihn: «Du, der du immer alles über Jesus weißt – manchmal gleicht ihr zwei Verliebten – hat er dir nicht gesagt, warum er so handelt?»

«Ja. Als ich ihn vor kurzem wieder danach gefragt habe, hat er mir immer geantwortet: "Weil ich es tun muß! Ich muß so handeln, als ob die Welt voll von unwissenden, aber guten Menschen wäre. Allen lasse ich dieselbe Lehre zukommen, und so werden sich die Kinder der Wahrheit von denen der Lüge scheiden." Er hat mir auch gesagt: "Siehst du, Johannes, es ist wie ein erstes Gericht, jedoch weder ein weltweites noch ein gemeinsames, sondern ein den einzelnen Menschen betreffendes. Aufgrund ihrer Werke des Glaubens, der Liebe und der Gerechtigkeit werden die Schafe von den Böcken getrennt. Das wird weiter so sein, auch wenn ich nicht mehr da bin, aber meine Kirche da sein wird durch die Jahrhunderte hindurch bis ans Ende der Welt. Das erste Gericht der Menschenmassen wird in der Welt stattfinden, dort, wo die Menschen das Gute und das Böse, die Wahrheit und die Lüge vor sich haben und nach freiem Willen handeln, so wie das erste Gericht im irdischen Paradies, das die Gott Ungehorsamen entweiht haben, vor dem Baume des Guten und des Bösen gehalten wurde. Dann, wenn einst der Tod über den einzelnen Menschen kommt, wird die Göttliche Allwissenheit unfehlbar das im Buch des Lebens bereits aufgezeichnete Urteil bestärken. Zuletzt wird das große, das schreckliche Gericht kommen; dann werden alle Menschen noch einmal zusammen, von Adam bis zum letzten Menschen, gerichtet werden für das, was sie auf Erden aus freiem Willen getan haben. Wenn ich selbst

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bestimmen würde, wer das Wort Gottes, das Wunder, die Liebe verdient und wer sie nicht verdient – dazu hätte ich das göttliche Recht und die göttliche Macht – dann würden die Ausgeschlossenen, selbst wenn es Teufel gewesen wären, am Tage ihres einzelnen Gerichtes schreien: "Der Schuldige ist dein menschgewordener Sohn, der uns nicht unterweisen wollte." Aber das werden sie nicht sagen können... Oder sie werden es sagen und eine Lüge mehr zu den schon vorangegangenen hinzufügen, und dafür gerichtet werden.»

«Das heißt also, daß wer die Lehre nicht anerkennt und aufnimmt, verdammt wird?» fragt Matthäus.

«Das weiß ich nicht, ob nun alle, die nicht glauben, wirklich verdammt werden. Wenn ihr euch daran erinnert, hat er, als er mit Syntyche sprach, zu verstehen gegeben, daß diejenigen, die sich aufrichtig bemühen, rechtschaffen zu leben, nicht verdammt werden, selbst wenn sie einer andere Religion angehören... Aber wir können ihn ja fragen. Gewiß wird Israel, das vom Messias weiß und ihm nur teilweise oder gar nicht glaubt oder ihn ablehnt, streng bestraft werden.»

«Der Meister spricht viel mit dir, und du weißt vieles, was wir nicht wissen», bemerkt sein Bruder Jakobus.

«Das ist deine und eure Schuld. Ich frage ihn ganz einfach, und manchmal frage ich Dinge, die ihn vermuten lassen müssen, daß sein Johannes ein großer Dummkopf ist. Aber mir macht es nichts aus, als solcher zu gelten, mir genügt es, seine Gedanken zu kennen, um sie zu meinen zu machen. So solltet ihr es auch machen. Aber ihr habt immer Angst! Wovor denn? Daß ihr unwissend seid, daß ihr oberflächlich seid und starrköpfig ? Ihr solltet nur davor Angst haben, dann immer noch unvorbereitet zu sein, wenn er uns einst verlassen wird. Er sagt es immer... und ich sage es mir auch immer, um mich auf die Trennung vorzubereiten... aber ich fühle, daß es dennoch ein großer Schmerz sein wird ...»

«Laß mich nicht daran denken!» ruft Andreas aus, und ein Echo von Seufzern der anderen folgen seinem Ausruf.

«Aber wann wird dies geschehen? Denn er sagt immer: "Bald!" Aber bald kann in einem Monat oder auch in einigen Jahren sein. Er ist noch so jung, und die Zeit vergeht so rasch... Was hast du, Bruder? Du wirst ganz bleich...», fragt Thaddäus den Jakobus.

«Nichts, nichts! Ich dachte...» sagt Jakobus des Alphäus rasch mit geneigtem Haupt.

Thaddäus beugt sich über ihn, um ihn besser sehen zu können... «Aber du hast ja Tränen in den Augen! Was hast du? ...»

«Nicht mehr als das, was auch ihr habt... Ich dachte an die Zeit, da wir allein sein werden.»

«Oh! Aber was hat Simon des Jonas, daß er wegläuft und krächzt wie ein Seerabe im Gewitter», fragt Jakobus des Zebedäus und deutet auf

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Petrus, der Jesus alleingelassen hat, davonrennt und Worte hinausschreit, die das Sausen des Windes übertönen.

Sie beschleunigen ihre Schritte und sehen, daß Petrus einen kleinen Pfad eingeschlagen hat, der zu dem nunmehr nahegelegenen Sephoris führt. (So sagen die Jünger, die sich fragen, ob er auf Anweisung Jesu diese Abkürzung nach Sephoris nimmt.) Aber dann, bei genauem Hinsehen, bemerken sie, daß die einzigen Wanderer, die von der Stadt her zur Hauptstraße kommen, Thomas und Judas sind.

«Schaut! Hier? Ausgerechnet hier? Oh, was machen die denn hier? Von Nazareth sollten sie nach Kana gehen und dann nach Tiberias...»fragen sich viele.

«Vielleicht sind sie auf der Suche nach Jüngern hierher gekommen, denn das war ja ihre Aufgabe», sagt der Zelote vorsichtig, weil er spürt, daß der Verdacht aufkommt, der wie eine erwachende Schlange den Kopf hebt.

«Beschleunigen wir den Schritt. Jesus ist allein und scheint auf uns zu warten ...» rät Matthäus.

Sie gehen und erreichen Jesus gleichzeitig mit Petrus, Judas und Thomas. Jesus ist totenbleich, so daß Johannes fragt: «Fühlst du dich nicht wohl?»

Aber Jesus lächelt ihm zu und macht eine verneinende Gebärde, während er die beiden begrüßt, die nach sehr langer Abwesenheit zurückgekehrt sind.

Er umarmt zuerst Thomas, der blühend und fröhlich wie immer ist, jedoch ernst wird, als er den Meister so offensichtlich verändert sieht, und besorgt fragt: «Bist du krank gewesen?»

«Nein, Thomas, durchaus nicht. Und du? Ist es dir gut gegangen? Bist du glücklich?»

«Ich? Ja, Herr! Es ist mir immer gut gegangen und ich war immer glücklich. Nur du hast mir gefehlt zur Glückseligkeit meines Herzens. Mein Vater und meine Mutter sind dir dankbar, daß du mich für einige Zeit zu ihnen geschickt hast. Mein Vater war kränklich, und so habe ich für ihn gearbeitet. Ich bin auch bei meiner Zwillingsschwester gewesen und habe meinen kleinen Neffen kennengelernt, dem ich den Namen habe geben lassen, den du mir gesagt hattest. Danach ist Judas gekommen und hat mich herumgeführt, wie eine Turteltaube in ihrer Brunstzeit, hinauf und hinab, wo immer Jünger waren. Er war schon allein weit herumgegangen. Nun wird er es dir gleich erzählen, denn er hat für zehn gearbeitet und verdient es, daß du ihm zuhörst.»

Jesus läßt ihn gehen; nun ist die Reihe an Judas, der geduldig gewartet hat und nun unbefangen und kühn triumphierend hervortritt. Jesus durchbohrt ihn mit seinen Augen, die wie Saphire blitzen. Doch er küßt ihn und wird von ihm wie von Thomas geküßt, und die darauffolgenden

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Worte sind liebevoll: «Deine Mutter, Judas, war sie glücklich, dich bei sich zu haben? Geht es dieser gerechten Frau gut?»

«Ja, Meister, und sie preist dich dafür, daß du ihr ihren Judas geschickt hast. Sie wollte mir Geschenke für dich mitgeben. Aber wie hätte ich sie tragen können über Berg und Tal? Du kannst beruhigt sein, Meister, alle Jüngergruppe, die ich besucht habe, arbeiten mit heiligem Eifer, die Lehre verbreitet sich immer mehr, und ich wollte deren Auswirkung auf die mächtigen Schriftgelehrten und Pharisäer selbst prüfen. Viele kannte ich und viele habe ich kennengelernt, um deiner Liebe willen. Ich habe mich Sadduzäern und Herodianern genähert... Oh, ich versichere dir, daß meine Würde zunichte gemacht wurde... Dir zuliebe habe ich es getan und werde noch mehr tun. Ich wurde mit Verachtung zurückgewiesen und geächtet, aber bei einigen, die dir gegenüber voreingenommen waren, ist es mir auch gelungen, sie dir wohlgesinnt zu stimmen. Ich will deswegen nicht von dir gelobt werden, es genügt mir, meine Pflicht getan zu haben, und ich danke dem Ewigen, daß er mir immer beigestanden hat. In manchen Fällen mußte ich auf Wunder zurückgreifen, was mich betrübte, denn sie hätten Blitze und nicht Segen verdient.

Doch du lehrst, daß man Liebe und Geduld üben soll... und ich habe es so gehalten zur Ehre und zum Ruhm Gottes und um dir Freude zu bereiten. Ich hoffe, daß viele Hindernisse nun für immer beseitigt sind, umsomehr, als ich auf meine Ehre zugesichert habe, daß die zwei, die so viel Verdacht erregten, nicht mehr bei dir sind. Später erst sind mir Bedenken gekommen, ob ich nicht etwas versichert habe, was ich nicht mit Bestimmtheit weiß. Ich wollte also die Sache überprüfen, um vorzusorgen, daß ich nicht bei einer Lüge ertappt werde, was mich für immer bei den zu Bekehrenden in Mißkredit gebracht hätte. Stell dir vor, auch Annas und Kaiphas habe ich besucht! ... Oh, sie wollten mich mit ihren Vorwürfen vernichten... Aber ich war so demütig, so überzeugend, daß sie schließlich sagten: "Nun, wenn die Dinge wirklich so stehen... Wir wurden anders informiert. Die Ältesten des Hohen Rates, die es hätten wissen können, hatten uns das Gegenteil berichtet und..."»

«Du wirst damit nicht sagen wollen, daß Joseph und Nikodemus Lügner waren?» unterbricht ihn der Zelote, der sich bis dahin beherrscht hat und ganz fahl von der Anstrengung geworden ist.

«Wer sagt das? Im Gegenteil! Joseph hat mich gesehen, als ich von Annas kam, und hat gesagt: "Warum bist du so erregt?" Ich habe ihm alles erzählt, auch daß du, Meister, gemäß seinem Rat und dem des Nikodemus, den Galeerensträfling und die Griechin fortgeschickt hast. Denn du hast sie doch weggeschickt, nicht wahr?» sagt Judas, und er blickt dabei Jesus mit seinen listigen Augen, die phosphoreszierend schillern, scharf an. Er scheint Jesus mit seinem Blick durchbohren zu wollen, um zu ergründen, was Jesus getan hat.

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Jesus, der ihm immer ganz nahe gegenübersteht, sagt ruhig: «Ich bitte dich, deine Erzählung, die mich sehr interessiert, fortzusetzen. Es ist ein genauer Bericht, der sehr nützlich sein kann.»

«Ah! Also, ich sagte, daß Annas und Kaiphas ihren Irrtum eingesehen haben, und das ist schon viel für uns, nicht wahr? Dann ... Oh, jetzt werdet ihr lachen! Denkt euch, die Rabbis haben mich in ihre Mitte genommen und haben mich aufs neue einer Prüfung unterzogen, als wäre ich ein Minderjähriger, der volljährig wird. Und was für ein Examen! Gut, ich habe sie überzeugt, und sie haben mich gehen lassen. Dann aber überkamen mich der Verdacht und die Angst, etwas Unwahres gesagt zu haben. Da habe ich beschlossen, Thomas mitzunehmen und nochmals dorthin zu gehen, wo Jünger waren oder wo sich Johannes und die Griechin vermutlich aufhalten könnten. Ich bin bei Lazarus, bei Manaen, im Palast des Chuza, bei Elisa in Bethsur, in Bether in den Gärten der Johanna, in Gethsemane, im kleinen Haus Salomons auf der anderen Seite des Jordans, beim "Trügerischen Gewässer", bei Nikodemus, bei Joseph gewesen...»

«Und du hast sie nicht gesehen.»

«Ja. Joseph hat mir beteuert, die beiden nie mehr wiedergesehen zu haben. Aber weißt du... ich wollte sicher sein... Kurz, ich habe alle Orte abgesucht, wo ich vermutete, daß die beiden hätten sein können. Glaube nicht, daß es mir etwa leid getan hätte, sie nicht zu finden; du wärest im Unrecht. Jedesmal – und Thomas kann es bestätigen – jedesmal, wenn ich einen Ort verließ, ohne sie gefunden zu haben, sagte ich: "Lob sei dem Herrn!" und: "0 Ewiger, gib, daß ich sie nie mehr sehe!" Wahrlich, das war der Seufzer meiner Seele... Der letzte Ort war Esdrelon... Ach, übrigens! Ismael, der Sohn des Fabi, der sich im Gebiet von Mageddo in seinem Palast aufhält, wünscht, dich zu Gast zu haben... doch ich an deiner Stelle würde nicht hingehen ...»

«Warum? Gewiß werde ich hingehen, denn auch ich habe den Wunsch, ihn zu sehen. Wir werden sogar sofort hingehen, und anstatt nach Sephoris, werden wir nach Esdrelon gehen, um übermorgen, zum Vorabend des Sabbat, in Maggedo zu sein. Von dort begeben wir uns dann in das Haus Ismaels.»

«Aber nein, Herr! Warum? Glaubst du, daß er dich liebt?»

«Aber wenn du ihm nahegekommen bist und ihn zu meinen Gunsten umgestimmt hast, warum willst du dann nicht, daß ich hingehe?»

«Ich habe mich ihm nicht genähert... Er war auf den Feldern und hat mich erkannt. Aber ich – nicht wahr, Thomas – wollte fliehen, als ich ihn sah und konnte nicht, weil er mich beim Namen gerufen hat. Ich... ich kann nichts anderes tun, als dir raten, niemals mehr zu Pharisäern, Schriftgelehrten oder ähnlichen Leuten zu gehen. Es bringt dir keinen Nutzen. Bleiben wir unter uns, mit dem Volk, das genügt. Auch Lazarus,

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Nikodemus, Joseph... es wird ein Opfer sein... Aber es ist besser, dieses Opfer zu bringen, um nicht Eifersucht und Neid aufkommen zu lassen und Gelegenheit zur Kritik zu geben... Bei Tisch wird viel gesprochen... und man legt deine Worte mit Arglist aus. Doch, um auf Johannes zurückzukommen... Ich war nun auf dem Weg nach Sycaminon, obwohl Isaak, den ich an der Grenze von Samaria traf, mir geschworen hatte, sie beide seit Oktober nicht mehr gesehen zu haben.»

«Isaak hat die Wahrheit geschworen. Aber bezüglich deiner Ratschläge, was mein Zusammenkommen mit Schriftgelehrten und Pharisäern betrifft, möchte ich dich darauf aufmerksam machen, daß sie im Gegensatz zu dem stehen, was du vorher gesagt hast. Du hast mich verteidigt, du hast dies getan, nicht wahr? Du hast gesagt: "Ich habe viele Vorurteile gegen dich aus dem Weg geräumt." So hast du gesagt, nicht wahr?»

«Ja, Meister.»

«Warum kann ich mich dann nicht schließlich auch selbst verteidigen? Wir gehen also zu Ismael, und du kehrst jetzt zurück und meldest uns bei ihm an. Andreas, Simon der Zelote und Bartholomäus werden dich begleiten. Wir werden bei den Bauern rasten. Von Sycaminon kommen wir soeben zurück. Wir waren zu elft und können dir versichern, daß Johannes nicht dort ist, und er ist auch nicht in Kapharnaum, noch in Bethsaida, Tiberias, Magdala, Nazareth, Chorazim, Bethlehem in Galiläa oder an all den anderen Orten, die du vielleicht im Sinn hattest noch aufzusuchen, um... dich selbst zu überzeugen, daß Johannes nicht bei Jüngern oder in befreundeten Häusern ist.»

Jesus spricht ruhig und natürlich... aber irgendetwas muß an ihm sein, das Judas verwirrt, denn er wechselt für einen Augenblick die Farbe. Jesus umarmt ihn, wie um ihn zu küssen... und während er ihn so hält, Wange an Wange, flüstert er ihm leise zu: «Du Unglücklicher! Was hast du aus deiner Seele gemacht?»

«Meister... ich...»

«Geh! Du verpestest die Luft mit der Hölle, mehr als Satan selbst! Schweig! ... und bereue, wenn du kannst!»

Judas ... ich, an seiner Stelle, wäre mit Riesenschritten davongerannt, doch er sagt laut mit dreister Frechheit: «Danke, Meister! Aber ich bitte dich, bevor ich gehe: zwei Worte unter vier Augen.»

Alle ziehen sich einige Meter von ihnen zurück.

«Warum hast du mir diese Worte gesagt, Herr? Du hast mir dadurch Schmerz bereitet ...»

«Weil ich die Wahrheit bin. Wer mit Satan verkehrt, nimmt den Geruch Satans an.»

«Ah! Ist es wegen der Geisterbeschwörung? Oh, welche Furcht hast du mir eingejagt! Es war nur ein Scherz, nicht mehr als der Scherz eines neugierigen Kindes, der mir geholfen hat, mich den Sadduzäern zu nähern;

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und dann habe ich die Lust daran verloren. Du siehst also, daß du mich ruhigen Gewissens lossprechen kannst. Es sind unnütze Dinge, wenn man deine Macht hat, du hast recht gehabt. Auf, Meister! Meine Schuld ist so geringfügig! ... Groß ist deine Weisheit. Aber wer hat dir davon erzählt?»

Jesus schaut ihn streng an und antwortet nicht.

«Hast du die Sünde wirklich in meiner Seele gesehen?» fragt Judas etwas verängstigt.

«Und du hast mich angewidert. Geh, und sage kein Wort mehr!» Er wendet ihm den Rücken zu und kehrt zu den Jüngern zurück, denen er befiehlt, eine andere Straße einzuschlagen, nachdem er sich von Bartholomäus, Simon und Andreas verabschiedet hat, die Judas einholen und sich eiligen Schrittes mit ihm entfernen. Die Zurückgebliebenen machen sich langsam auf den Weg und ahnen die Wahrheit, die nur Jesus kennt, nicht.

So ahnungslos sind sie, daß sie Judas seiner Tüchtigkeit und seines Scharfsinns wegen loben, und der ehrliche Petrus klagt sich aufrichtig an ob des verwegenen Gedankens, den er in seinem Herzen gegenüber dem Gefährten gehegt hat...

Jesus lächelt. Es ist ein sanftes, etwas müdes Lächeln, als ob er in Gedanken verloren wäre und das Geplauder der Gefährten kaum hören würde, die von den Dingen nur das wissen, was ihnen ihr Menschsein gestattet.

380. ISMAEL BEN FABI

Ich sehe Jesus auf einer Hauptstraße dahineilen, über die ein kalter, morgendlicher Wind fegt und sie anstrengend zu gehen macht. Die Felder auf beiden Seiten der Straße sind von einem Flaum von sprießendem Getreide bedeckt, von einem grünen Schleier, in dem ein kaum angedeutetes Versprechen für künftiges Brot liegt. Die Schollen im Schatten weisen allerdings noch nicht dieses gesegnete Grün auf, und nur die am meisten der Sonne ausgesetzten Stellen zeigen das zarte Sprießen, das auch den nahen Frühling ankündigt. Die Obstbäume sind noch kahl, nicht eine einzige Knospe schwillt auf den dunklen Zweigen. Nur die Olivenbäume tragen ihr ewiges graugrünes Gewand, das sowohl in der Augustsonne wie auch an diesem hellen Wintermorgen traurig erscheint. Auch die fetten Blätter der Kakteen haben das zarte Grün leicht gefärbter Keramik.

Jesus geht, wie so oft, den Jüngern zwei oder drei Schritte voraus. Alle haben sich gut in ihre Wollmäntel eingehüllt.

Auf einmal bleibt Jesus stehen und wendet sich fragend an die Jünger: «Kennt ihr den Weg?»

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«Dies ist der Weg, aber wo das Haus liegt, wissen wir nicht... es muß im Ort sein... vielleicht dort, wo die Olivenbäume dichter stehen...»

«Nein. Es muß dort hinten sein, wo die großen, kahlen Bäume stehen ...»

«Es müßte dort eine für Wagen befahrbare Straße sein...»

Sie wissen nichts Genaues, und auf dem Weg oder auf den Feldern ist kein Mensch zu sehen. So gehen sie auf gut Glück vorwärts auf der Suche nach der Straße.

Bald finden sie eine kleines Häuschen armer Leute mit zwei oder drei Äckerchen darum herum. Ein Mädchen schöpft Wasser aus einem Brunnen.

«Der Friede sei mit dir, Kind», sagt Jesus und bleibt am Durchgang einer Hecke stehen.

«Der Friede sei mit dir! Was willst du?»

«Eine Auskunft. Wo ist das Haus des Pharisäers Ismael?»

«Du hast den Weg verfehlt, Herr. Nun mußt du bis zum Scheideweg zurückkehren und die Straße nehmen, die in die Richtung führt, in der die Sonne untergeht. Aber es ist ein weiter Weg, denn du mußt zu der Abzweigung zurückkehren und dann immer weiter gehen. Hast du schon gegessen? Es ist kalt, und mit einem leeren Magen fühlt man die Kälte noch mehr. Tritt ein, wenn du willst. Wir sind arm, aber auch du bist nicht reich. Du kannst dich anpassen. Komm!» Und mit heller Stimme ruft das Mädchen: «Mutter!»

Auf der Schwelle erscheint eine Frau zwischen dreißig vierzig Jahren. Sie hat ein ehrliches, etwas wehmütiges Gesicht. Auf den Armen trägt sie einen vielleicht dreijährigen, halb angezogenen Knaben.

«Komm herein, das Feuer brennt. Ich werde dir Milch und Brot geben.»

«Ich bin nicht allein, ich bin mit diesen Freunden.»

Alle sollen hereinkommen, und der Segen Gottes sei mit euch Gästen, die ich bewirte!»

Sie treten in eine niedrige, dunkle Küche ein, die von einem lebhaften Feuer erhellt wird und setzen sich da und dort auf einfache Truhen.

«Jetzt will ich etwas für euch zubereiten... Es ist Morgen... und ich habe noch nirgends Ordnung gemacht... Entschuldigt!»

«Bist du allein?» fragt Jesus.

«Ich habe einen Mann und sieben Kinder. Die zwei größten sind noch auf dem Markt in Naim. Da mein Mann krank ist, müssen sie zum Markt gehen. Ein großes Leid! ... Die Mädchen helfen mir. Dies hier ist der Jüngste, aber ich habe noch einen, der nur ein wenig älter ist.»

Der Kleine, der nunmehr mit einem Röckchen bekleidet ist, läuft mit nackten Füßchen auf Jesus zu und schaut ihn neugierig an. Jesus lächelt ihm zu und die Freundschaft ist geschlossen. «Wer bist du?» fragt das Kind vertrauensvoll.

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«Ich bin Jesus.»

Die Frau wendet sich um, bleibt mit einem Brot in den Händen zwischen der Feuerstelle und dem Tisch stehen und mustert ihn aufmerksam. Dann öffnet sie den Mund, um etwas zu sagen, bleibt jedoch stumm.

Das Kind fragt weiter: «Wohin gehst du?»

«Ich ziehe durch die Welt.»

«Um was zu tun?»

«Um die guten Kinder und ihre Häuser, in denen man dem Gesetz treu ist, zu segnen.»

Die Frau macht wieder eine Bewegung. Dann gibt sie Judas Iskariot, der ihr am nächsten steht, ein Zeichen. Er neigt sich zu der Frau, die ihn fragt: «Wer ist denn dein Freund?»

Triumphierend, als ob Jesus durch sein Verdienst und seine Gnade der Messias wäre, antwortet Judas: «Es ist der Rabbi von Galiläa: Jesus von Nazareth. Weißt du das nicht, Frau?»

«Ich wohne hier abgelegen und habe viele Sorgen... Aber... ich könnte sie ihm sagen?»

«Das kannst du», sagt Judas herablassend und gleicht einem großen Herrn, der eine Audienz bewilligt... Jesus ist immer noch im Gespräch mit dem Kind, das ihn fragt, ob auch er Kinder hätte.

Während das bereits bekannte und ein noch etwas größeres Mädchen Milch und Geschirr herbeibringen, nähert sich die Frau zögernd Jesus. Dann kommt der unterdrückte Schrei: «Jesus, hab Erbarmen mit meinem Mann!»

Jesus erhebt sich. Er überragt sie mit seiner stattlichen Gestalt, aber er betrachtet sie mit so großer Güte, daß sie neuen Mut schöpft.

«Was möchtest du, daß ich für ihn tue?»

«Er ist schwer krank, angeschwollen wie ein Schlauch, und kann sich nicht mehr bücken, um zu arbeiten. Er findet keine Ruhe, weil er oft dem Ersticken nahe ist, und er ist immer erregt... Wir haben noch kleine Kinder...»

«Du möchtest also, daß ich ihn heile? Aber warum verlangst du das gerade von mir?»

«Weil du der bist, der du bist. Ich kenne dich nicht, aber ich habe von dir gehört. Das Schicksal hat dich in mein Haus geführt, nachdem ich dich schon dreimal in Naim und Kana gesucht habe. Zweimal war auch mein Mann dabei. Er suchte dich, obwohl die Fahrt mit dem Wagen für ihn sehr schmerzvoll war... Auch jetzt ist er mit seinem Bruder unterwegs... Man hat uns benachrichtigt, daß der Rabbi Tiberias verlassen hätte und auf dem Weg nach Caesarea Philippi sei. Er hat sich dorthin begeben, um auf dich zu warten...»

«Ich bin nicht nach Caesarea gegangen. Ich gehe zum Pharisäer Ismael, und dann werde ich zum Jordan gehen...»

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«Du, der Gute, zu Ismael?»

«Ja. Warum?»

«Weil... weil ... Herr, ich weiß, daß du sagst, man soll nicht urteilen, sondern verzeihen und sich lieben. Ich habe dich nie gesehen. Aber ich habe versucht, so viel als möglich über dich zu erfahren, und habe den Ewigen darum gebeten, dich wenigstens einmal hören zu dürfen. Nichts will ich tun, was dir mißfällt... Aber wie kann man Ismael nicht verurteilen oder ihn gar lieben? Ich habe nichts mit ihm zu schaffen, und daher habe ich ihm auch nichts zu verzeihen. Die Schmähungen, die er gegen uns ausstößt, wenn er auf seinem Weg unserer Armut begegnet, schütteln wir mit derselben Geduld ab wie den Schmutz und den Staub, den er aufwirbelt, wenn er mit seinen Kutschen an uns vorüberfährt. Aber ihn zu lieben und ihn nicht zu verurteilen, ist doch zu schwer... Er ist so böse!»

«Er ist so böse? Mit wem?»

«Mit allen. Er unterdrückt die Knechte, er leiht auf Wucher und fordert erbarmungslos. Er liebt nur sich selbst. Er ist der Grausamste der ganzen Gegend. Er verdient es nicht, Herr.»

«Ich weiß es. Du sagst die Wahrheit.»

«Und du gehst zu ihm?»

«Er hat mich eingeladen.»

«Mißtraue ihm, Herr! Er hat es sicher nicht aus Liebe getan, denn er kann dich nicht lieben. Und du... auch du kannst ihn nicht lieben.»

«Ich liebe auch die Sünder, Frau. Ich bin gekommen, um jene zu retten, die verlorengegangen sind...»

«Aber diesen wirst du nicht retten können. Oh, verzeih, daß ich geurteilt habe! Du weißt... Alles, was du tust, ist gut. Verzeihe meiner törichten Zunge und bestrafe mich nicht.»

«Ich werde dich nicht bestrafen. Aber tue es nicht mehr, und liebe auch die Bösen, nicht ihrer Böswilligkeit wegen, sondern weil man nur durch Liebe zu ihnen die Barmherzigkeit erwerben kann, die bekehrt. Du bist gut und willens, immer besser zu werden. Du liebst die Wahrheit, und die Wahrheit, die zu dir spricht, sagt dir, daß sie dich liebt, weil du dem Gast und Pilger gegenüber, dem Gesetz entsprechend, barmherzig bist und auch deine Kinder so erzogen hast. Gott wird dein Lohn sein. Ich muß zu Ismael gehen, der mich eingeladen hat, um mich vielen seiner Freunde vorzustellen, die mich kennenlernen wollen. Ich kann auf deinen Mann nicht warten, der sich schon auf dem Rückweg befindet. Aber sage ihm, daß er noch ein wenig leiden und sofort zu Ismael kommen muß. Komme auch du mit ihm, ich werde ihn heilen.»

«O Herr! ...» Die Frau ist zu Füßen Jesu auf die Knie gesunken und schaut ihn lächelnd und weinend an. Dann sagt sie: «Aber heute ist Sabbat!»

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«Ich weiß es. Es muß so sein, daß Sabbat ist, denn ich will Ismael genau diesbezüglich etwas sagen. Alles, was ich tue, tue ich mit einer bestimmten Absicht und ohne zu fehlen. Ihr alle sollt es wissen, auch ihr, meine Freunde, die ihr euch fürchtet und wünscht, daß ich eine Haltung einnehme, die den Menschen angemessen ist, um mir nicht selbst zu schaden. Es ist die Liebe, die euch dazu verleitet, ich weiß es. Aber ihr müßt imstand sein, den, den ihr liebt, mehr zu lieben, indem ihr göttliche Belange nie denen des von euch Geliebten hintansetzt. Frau, ich gehe und erwarte dich. Der Friede sei immer in diesem Haus, wo man Gott und sein Gesetz liebt, den Ehemann achtet, die Kinder heiligmäßig erzieht, Nächstenliebe übt, und die Wahrheit sucht... Lebe wohl.»

Jesus legt seine Hand auf das Haupt der Frau und ihrer beiden Mädchen; dann neigt er sich, um die kleinsten Kinder zu küssen, und geht hinaus.

Jetzt erwärmt ein schwacher Sonnenschein die kalte Luft. Ein Knabe von etwa fünfzehn Jahren wartet mit einem sehr wackligen Bauernkarren auf die Gäste.

«Ich habe nur diesen, Herr. Aber du wirst so doch rascher und leichter ans Ziel kommen.»

«Nein, Frau. Lasse das Pferd ausruhen, um danach zu Ismael zu kommen. Zeige mir nur den kürzesten Weg.»

Der Knabe geht an seiner Seite durch Felder und Wiesen auf eine hügelige Gegend zu. Hinter dieser befindet sich eine weite Mulde, die eine Ausdehnung von einigen Hektar hat und deren Felder sehr gepflegt sind. In der Mitte sehe ich ein schönes, breites, niedriges Haus, das von gut gepflegten Gärten umgeben ist.

«Das ist das Haus, Herr», sagt der Junge. «Wenn du mich nicht mehr brauchst, kehre ich nach Hause zurück, um meiner Mutter zu helfen.»

«Geh und sei stets ein guter Sohn. Gott sei mit dir!»

Jesus begibt sich zum Eingang des prunkvollen Landhauses des Ismael. Zahlreiche Diener eilen dem Gast entgegen, der gewiß schon erwartet wird. Andere benachrichtigen den Hausherrn, der aus dem Haus kommt und während er Jesus entgegengeht tiefe Verneigungen macht.

«Sei willkommen in meinem Hause, Meister!»

«Der Friede sei mit dir, Ismael Ben Fabi! Du hast nach mir verlangt, und ich komme. Warum wolltest du, daß ich komme?»

«Um die Ehre deiner Anwesenheit zu haben und dich meinen Freunden vorzustellen. Ich möchte, daß sie auch die deinen werden. So, wie ich will, daß du mein Freund bist.»

«Ich bin der Freund aller, Ismael.»

«Das weiß ich, aber bedenke, daß es immer gut ist, auch in den gehobenen Kreisen Freundschaften zu haben, und ich und meine Freunde verkehren in dieser Gesellschaftsschicht. Verzeih, wenn ich es dir sage, aber

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du vernachlässigst zu sehr diejenigen, die dich unterstützen können...»

«Und du gehörst zu ihnen? Warum?»

«Ich gehöre zu diesen, weil ich dich bewundere und möchte, daß du mein Freund bist.»

«Freund! Aber weißt du, Ismael, welche Bedeutung ich diesem Wort beimesse? Für viele bedeutet es einen Bekannten, für andere einen Helfershelfer, wieder für andere einen Diener. Für mich ist es der, der dem Wort des Vaters treu ist. Wer das nicht ist, kann mir nicht Freund sein, und ich kann nicht sein Freund sein.»

«Aber gerade deswegen, weil ich treu sein will, möchte ich deine Freundschaft. Glaubst du es mir nicht? Schau, da kommt Eleazar. Frage ihn, wie ich dich bei den Ältesten verteidigt habe. Eleazar, ich grüße dich. Komm, der Rabbi will dich etwas fragen.»

Großartige Begrüßung und forschende Blicke.

«Sag du, Eleazar, was ich bei unserer letzten Versammlung über den Meister gesagt habe.»

«Oh! Es war ein wirkliches Lob! Eine leidenschaftliche Verteidigung! Ismael hat von dir, Meister, als vom größten Propheten gesprochen, den Israel je gehabt hat, und er hat dies so gut ausgelegt, daß ich damals Lust bekam, dich zu hören. Ich erinnere mich, wie er beteuerte, daß niemand tiefsinnigere Worte und ein faszinierenderes Auftreten habe als du, und daß Israel, wenn du das Schwert so zu handhaben verstehst wie das Wort, nie einen größeren König haben würde als dich.»

«Mein Reich! ... Mein Reich ist nicht von dieser Welt, Eleazar.»

«Aber der König von Israel?!»

«Möge sich euer Geist erschließen, um den Sinn der geheimnisvollen Worte zu verstehen. Es wird das Reich des Königs der Könige kommen, aber nicht nach menschlichen Begriffen, weil es nicht vergänglich, sondern ewig ist. Zu ihm kann man nicht auf den geschmückten Straßen des Triumphes, noch auf dem roten Teppich feindlichen Blutes gelangen, sondern auf dem steilen Weg des Opfers und der sanften Leiter der Verzeihung und Liebe. Die Siege über uns selbst werden uns dieses Reich bescheren. Gebe Gott, daß die meisten Menschen Israels mich verstehen. Doch wird es nicht so sein. Ihr denkt an das, was nicht ist. In meiner Hand wird ein königliches, ewiges Zepter sein, und das Volk Israels wird es hineingelegt haben. Kein König wird es aus meinem Haus entwenden und viele in Israel werden es nicht sehen können, ohne vor Schrecken zu erzittern, weil es einen Namen hat, vor dem sie sich fürchten.»

«Glaubst du, daß wir dir nicht folgen könnten?»

«Wenn ihr wolltet, könntet ihr es, aber ihr wollt nicht, und weshalb? Ihr seid schon alt, und das Alter sollte euch verständig und gerecht werden lassen. Gerecht auch euch selbst gegenüber. Junge Menschen können sich irren und es dann bereuen. Aber ihr! Der Tod ist den Alten immer

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nahe. Eleazar, du bist nicht so sehr von den Theorien vieler deinesgleichen umgarnt. Öffne deinen Geist dem Licht...»

Ismael kommt jetzt mit fünf prunkvoll aufgemachten Pharisäern zurück. «Kommt nun ins Haus», sagt der Herr des Hauses. Durch eine Vorhalle, die reich mit Sitzen und Teppichen ausgestattet ist, gelangen sie in einen Raum, in den Krüge und Schüsseln für die Waschungen gebracht werden. Dann kommen sie in den Speisesaal, der für ein reichhaltiges Gastmahl vorbereitet ist.

«Jesus möge an meiner Seite, zwischen mir und Eleazar, Platz nehmen», ordnet der Hausherr an.

Jesus, der sich inzwischen hinten im Saal bei den etwas eingeschüchterten und vernachlässigten Jüngern aufgehalten hat, muß nun seinen Ehrenplatz einnehmen.

Das Gastmahl nimmt seinen Anfang mit zahlreichen Fleischgerichten und verschiedenen gebratenen Fischen. Weine, und wie mir scheint, Sirupe oder zumindest Honigwasser werden immer wieder gereicht.

Alle versuchen, Jesus zum Reden zu bringen. Einer, ein ganz zittriger Greis, fragt mit der kreischenden Stimme eines Altersschwachen: «Meister, ist es wahr, daß du, wie man sagt, die Absicht hast, das Gesetz zu ändern?»

«Ich werde kein Jota am Gesetz ändern. Im Gegenteil (und Jesus betont diese Worte ausdrücklich), ich bin eigens gekommen, um es euch wieder in der vollständigen Form zu geben, so wie es war, als ihr es von Moses erhalten habt.»

«Willst du damit sagen, daß es abgeändert wurde?»

«Nein, nie. Einzig, daß es das Geschick aller erhabenen Dinge, die in Menschenhand gelegt wurden, erlitten hat.»

«Was willst du damit sagen? Erläutere dies genauer.»

«Ich will sagen, daß der Mensch durch seinen althergebrachten Hochmut und seine überkommene Tendenz zur dreifachen Neigung zur Sünde die Geradheit des Wortes nachträglich verbessern wollte, und daraus etwas gemacht hat, was die Gläubigen bedrückt, während es für die Verbesserer nur eine Ansammlung abgedroschener Worte ist... welche man den anderen überläßt.»

«Aber Meister! Unsere Rabbis...»

«Das ist eine Beschuldigung!»

«Enttäusche uns nicht in unserem Begehren, dir zu nützen! ...»

«He, he, sie haben recht, dich einen Rebellen zu nennen!»

«Ruhe! Jesus ist mein Gast! Dir steht es frei zu sprechen.»

«Bereits zu Beginn ihrer Arbeit bemühten sich unsere Rabbis, und zwar in heiliger Absicht, das Gesetz verständlicher zu gestalten, um seine Befolgung zu erleichtern. Gott selbst begann damit, als er den Worten der Zehn Gebote sehr genaue Erläuterungen hinzufügte, damit der Mensch

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keinen Vorwand habe, und nicht sage, er habe sie nicht verstanden. Es ist daher ein heilsames Werk, wenn unsere Lehrer das von Gott dem Geiste gegebene Brot für die Kleinen in Stücklein brechen, ein heilsames Werk, solange es in aufrichtiger Absicht geschieht. Doch geschah dies nicht immer so, und heute weniger denn je. Aber weshalb wollt ihr mich zum Sprechen ermuntern, da ihr doch gekränkt seid, wenn ich euch die Sünden der Mächtigen aufzähle?»

«Sünden! Sünden! Haben wir denn nichts als Sünden?»

«Ich wollte, ihr hättet nur Verdienste.»

«Aber wir haben keine. Das denkst du doch, denn dein Auge verrät es. Jesus, nicht durch Tadel gewinnt man die Mächtigen zum Freund, und so wirst du auch nicht herrschen, da du diese Kunst nicht kennst.»

«Ich verlange nicht zu herrschen, wie ihr vermutet, und erbettle keine Freundschaften. Ich will Liebe, aber ehrliche und heilige Liebe. Eine Liebe, die von mir auf jene überströmt, die ich liebe, und die sich dadurch kundtut, daß man den Armen erweist, was ich predige: Barmherzigkeit!»

«Seit ich dich gehört habe, habe ich nicht mehr Wucher getrieben», sagt einer.

«Gott wird es dir vergelten.»

«Der Herr ist mein Zeuge, daß ich keinen Diener, der Peitschenhiebe verdient hätte, mehr geschlagen habe, seit mir eines deiner Gleichnisse erzählt wurde», sagt ein anderer.

«Und ich? Mehr als zehn Scheffel Weizen habe ich auf den Feldern für die Armen zurückgelassen», wendet ein anderer ein.

Die Pharisäer loben sich selbst auf wunderbare Weise.

Ismael hat nichts gesagt, da fragt ihn Jesus: «Und du, Ismael?»

«Oh, ich! Schon immer habe ich Barmherzigkeit geübt, und brauche nur weiterhin so zu handeln, wie ich es bisher getan habe.»

«Gut für dich! Wenn dem so ist, bist du ein Mensch, der keine Gewissensbisse kennt.»

«Oh, wirklich nicht!»

Jesus durchbohrt ihn mit seinen saphirblauen Augen. Eleazar berührt ihn am Arm: «Meister, höre mich an. Ich muß dir einen besonderen Fall vortragen. Letzthin habe ich ein Eigentum erworben von einem Unglücklichen, der sich wegen einer Frau ruiniert hat. Er hat mir sein Haus verkauft, ohne mich darauf hinzuweisen, daß auf dem Gut eine alte, blinde und halb taube Dienerin war, seine Amme. Der Verkäufer will sie nicht. Ich... will sie auch nicht. Aber sie auf die Straße werfen... Was würdest du tun, Meister?»

«Was würdest du sagen, wenn du einem anderen einen Rat geben müßtest ?»

«Ich würde sagen: "Behalte sie. Wegen des Brotes, das du ihr gibst, wirst du nicht zugrunde gehen."»

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«Und weshalb würdest du das sagen?»

«Nun... weil ich denke, daß ich so handeln würde, und wollte, daß auch mir so geschähe ...»

«Du bist sehr nahe an der Gerechtigkeit, Eleazar. Tue, wie du den anderen raten würdest, zu tun, und der Gott Jakobs wird immer mit dir sein.»

«Danke, Meister.»

Die anderen murren untereinander.

«Was habt ihr zu murren?» fragt Jesus. «Habe ich nicht richtig geantwortet? Hat Eleazar nicht gerecht gesprochen? Ismael, verteidige nun deine Gäste, du, der du immer barmherzig gewesen bist.»

«Meister, du sprichst gut, aber... wenn man immer so handeln würde, würde man zum Opfer der anderen.»

«Deiner Meinung nach wäre es besser, wenn die anderen unsere Opfer wären, nicht wahr?»

«Das sage ich nicht. Aber es gibt Fälle...»

«Das Gesetz sagt, man soll Barmherzigkeit üben...»

«Ja, am armen Bruder, am Fremdling, am Pilger, an Witwen und Waisen. Aber diese Alte, die Eleazar in seinem Haus vorgefunden hat, ist weder seine Schwester, noch eine Pilgerin, weder eine Fremde, noch eine Waise oder eine Witwe. Nichts ist sie für ihn, nicht mehr und nicht weniger als ein alter Gebrauchsgegenstand, der ihm nicht gehört und den der wirkliche Eigentümer in dem verkauften Haus vergessen hat. Daher könnte Eleazar sie auch ohne irgendwelche Skrupel fortjagen, denn schließlich wäre nicht er, sondern ihr wirklicher Gebieter an ihrem Tode schuld...»

«... der sie nicht ernähren könnte, weil er jetzt verarmt ist und daher auch keine Verpflichtungen mehr hat. Wenn die Alte vor Hunger sterben würde, dann wäre es ihre eigene Schuld. Ist es nicht so?»

«So ist es, Meister. Das ist das Los derer, die... zu nichts mehr nütze sind. Kranke, Alte und Arbeitsuntaugliche sind zum Elend, zum Betteln verurteilt, und der Tod wäre das Beste für sie... So ist es, seit die Welt besteht, und so wird es immer sein!»

«Jesus, erbarme dich meiner!» Ein Jammern dringt durch die versperrten Fenster; denn der Raum ist vielleicht wegen der Kälte geschlossen und die Leuchter sind angezündet worden.

«Wer ruft mich?»

«Irgendein Störenfried, ich werde ihn wegjagen lassen. Oder, es könnte auch ein Bettler sein. Dann werde ich ihm ein Brot geben lassen.»

«Jesus, ich bin krank. Rette mich!»

«Ich habe es ja gesagt, daß es irgendein lästiger Mensch ist. Nun werde ich die Diener bestrafen, weil sie ihn durchgelassen haben», murrt Ismael und steht auf.

Aber Jesus, der wenigstens zwanzig Jahre jünger und um einen Kopf

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größer ist als er, legt ihm seine Hand auf die Schulter, zwingt ihn, sich niederzusetzen, und gebietet: «Bleib, Ismael. Ich will den, der mich sucht, sehen. Laßt ihn eintreten.»

Es kommt ein Mann mit noch ganz schwarzem Haar herein. Er mag ungefähr vierzig Jahre alt sein, ist aufgebläht und rund wie ein Faß. Seine Haut ist gelb wie eine Zitrone, und seine Lippen violett. Mit halbgeöffnetem Mund steht er keuchend da. Er ist in Begleitung der Frau, über die im ersten Teil der Vision berichtet wird.

Der Mann kommt wegen seiner Krankheit und der Angst, die ihn gepackt hat, nur mühsam voran. Er sieht, daß man ihn so böse anschaut. Aber Jesus hat seinen Platz verlassen, ist dem Unglücklichen entgegengegangen, um ihn bei der Hand zu nehmen und ihn in die Mitte des Saales, in den freien Raum zwischen den Tischen, die U-förmig aufgestellt sind, zu führen. Genau unter dem Leuchter stehen sie nun.

«Was möchtest du von mir?»

«Meister... ich habe dich so sehnlichst gesucht... schon so lange... Ich will nichts anderes als die Gesundheit... meiner Frau und der Kinder wegen... Du kannst alles... Siehst du, wie ich zugerichtet bin? ...»

«Und du glaubst, daß ich dich heilen kann?»

«Ob ich es glaube! ... Jeder Schritt ist für mich ein Schmerz, jede Erschütterung bereitet mir Pein... und dennoch habe ich Meilen zurückgelegt, um dich zu suchen... Dann bin ich auch mit dem Wagen hinter dir hergefahren... aber ich habe dich nicht erreichen können... Und wie ich es glaube! ... Es wundert mich, daß ich noch nicht geheilt bin, da meine Hand in der deinen liegt, denn alles ist heilig an dir, du Heiliger Gottes!»

Der Arme schnauft wie ein Blasebalg infolge der Anstrengung, die ihn diese vielen Worte kosten. Die Frau betrachtet ihren Mann und dann Jesus und weint.

Jesus schaut beide an und lächelt. Dann wendet er sich um und fragt: «Du, alter Schriftgelehrter (es betrifft den zittrigen Alten, der zuerst gesprochen hat), antworte mir: Ist es erlaubt, am Sabbat zu heilen?»

«Am Sabbat ist es nicht erlaubt, Werke zu vollbringen, was immer es auch sei.»

«Nicht einmal, jemanden vor der Verzweiflung zu retten? Das ist doch keine Handarbeit.»

«Der Sabbat ist dem Herrn heilig.»

«Welches Werk ist des Tages, der dem Herrn heilig ist, würdiger als jenes, welches bewirkt, daß ein Kind Gottes zum Vater sagt: "Ich liebe dich und preise dich, weil du mich geheilt hast"?!»

«Er muß es tun, auch wenn er unglücklich ist.»

«Chananias, weißt du, daß in diesem Augenblick dein schönster Wald in Flammen steht, und der ganze Hang des Hermon im Purpur der Flammen leuchtet?»

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Der Alte springt auf, als hätte ihn eine Viper gebissen: «Meister, sagst du die Wahrheit oder machst du einen Scherz?»

«Ich sage die Wahrheit. Ich sehe und weiß.»

«Oh, ich Armer! Mein schönster Wald! Tausende von Hektaren in Asche! Verflucht! Verflucht die Hunde, die mir das Feuer gelegt haben! Sie sollen in ihren Eingeweiden brennen wie meine Bäume.» Der Alte ist verzweifelt.

«Es ist nur ein Wald, Chananias, und du beklagst dich! Warum lobst du nicht den Herrn in diesem Unglück? Dieser hier verliert nicht Bäume, die wieder wachsen, sondern das Leben und das Brot für die Kinder, und er sollte Gott loben, während du es nicht tust? Nun, Schriftgelehrter, ist es mir also nicht erlaubt, diesen hier am Sabbat zu heilen?»

«Seid verflucht, du, er und der Sabbat! Ich habe an anderes zu denken...» Nachdem er Jesus, der ihm seine Hand auf den Arm gelegt hatte, einen Stoß versetzt hat, rennt er wütend hinaus, und man hört, wie er mit seiner heiseren Stimme schreit, damit man ihm seinen Wagen bringt.

«Und nun?» fragt Jesus, indem er zu den anderen hinschaut. «Sagt ihr mir nun, ob es erlaubt ist oder nicht?»

Keine Antwort. Eleazar erschauert in der Kälte, die in den Saal eingedrungen ist, und neigt das Haupt, nachdem er den Mund halb geöffnet und sogleich wieder geschlossen hat.

«Nun gut, dann werde ich sprechen», sagt Jesus, und in würdevoller Haltung und mit klarer Stimme, wie immer, wenn er ein Wunder wirkt, sagt er: «Ich werde sprechen. Ich spreche und sage dir: Mensch, es geschehe dir nach deinem Glauben, sei geheilt. Lobe den Ewigen, und gehe hin in Frieden!»

Der Mann bleibt wie gebannt stehen. Vielleicht glaubte er, auf einen Schlag wieder schlank zu werden wie früher, und es scheint ihm, daß er noch nicht geheilt ist. Aber wer weiß, was er fühlt... Er schreit vor Freude auf, wirft sich Jesus zu Füßen und küßt sie.

«Geh nun und sei immer gut! Lebe wohl!»

Der Mann geht hinaus, gefolgt von seiner Frau, die sich bis zuletzt immer wieder umdreht, um Jesus zu grüßen.

«Aber Meister... in meinem Hause... am Sabbat...»

«Ich weiß, daß du es nicht gutheißen kannst, und deswegen bin ich gekommen. Du willst mein Freund sein? Nein, du bist mein Feind, denn du bist weder mir, noch Gott gegenüber aufrichtig.»

«Willst du mich jetzt beleidigen?»

«Nein, ich sage die Wahrheit. Du hast gesagt, daß Eleazar nicht verpflichtet ist, jener Greisin zu Hilfe zu kommen, weil sie nicht ihm gehört. Aber du hattest zwei Waisenkinder auf deinem Gut, Kinder von zwei treuen Dienern, die in deinem Dienst bei der Arbeit gestorben sind: der eine mit der Sichel in der Hand, die andere wegen Überanstrengung, weil du zu

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große Anforderungen an sie gestellt hast, denn sie mußte ja auch die Arbeit ihres Gatten bewältigen. Du hast ihr gesagt: "Ich habe einen Vertrag mit zwei Personen abgeschlossen, und wenn du weiterhin in meinen Diensten bleiben willst, mußt du auch die Arbeit deines verstorbenen Mannes verrichten." Sie hat sie getan und ist mit dem bereits empfangenen Kind gestorben, denn sie war schwanger. Nicht einmal das Erbarmen hast du ihr erzeigt, das man für ein gebärendes Tier hat. Wo bleiben jetzt die beiden Kinder?»

«Ich weiß es nicht... Sie sind eines Tages verschwunden.»

«Lüge jetzt nicht, es genügt schon, daß du grausam gewesen bist. Es ist nicht nötig, auch noch Lügen hinzuzufügen, um deinen Sabbat Gott verhaßt zu machen, auch wenn du knechtliche Arbeiten vermeidest. Wo sind diese Kinder?»

«Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht mehr, glaube mir!»

«Aber ich weiß es, denn ich habe sie an einem kalten, regnerischen, finsteren Novemberabend gefunden. Hungernd und frierend waren sie vor einem Hause, wie zwei Hündlein auf der Suche nach einem Bissen Brot... verflucht und verjagt von jemandem, der das Herz eines Hundes hat, ja, weniger Gefühl als ein richtiger Hund, denn ein Hund hätte Erbarmen gezeigt mit diesen beiden Waisenkindern. Du und jener Mann aber, ihr habt euch ihrer nicht erbarmt. Ihre Eltern nützten dir nichts mehr, nicht wahr? Sie waren tot. Die Toten weinen alleine in ihren Gräbern, weil sie das Schluchzen ihrer unglücklichen, verwahrlosten Kinder hören, um die sich niemand kümmert. Die Toten jedoch tragen ihre Tränen und die Tränen ihrer Waisen in ihrem Geist zu Gott und bitten: "Herr, räche du dich an unserer Stelle, denn die Welt unterdrückt die, die man nicht mehr ausnützen kann." Die Kinder waren dir zu nichts nütze, nicht wahr? Ja und nein, denn das Mädchen hätte dir dazu dienen können, Ähren zu sammeln... Aber du hast sie verjagt und ihnen auch das Wenige versagt, was Vater und Mutter gehörte. Sie hätten vor Hunger und Kälte wie zwei Hunde auf einem Feldweg sterben können. Sie hätten sich durchschlagen können, wenn der Junge ein Dieb und das Mädchen eine Hure geworden wäre, denn der Hunger treibt zur Sünde. Aber was kümmert dich das schon!

Vorhin hast du das Gesetz, auf deine eigenen Theorien gestützt, zitiert, und sagt das Gesetz etwa nicht: "Fügt Witwen und Waisen keinen Schaden zu, denn wenn ihr ihnen dieses Leid antut, werden sie ihre Stimmen zu mir erheben, und ich werde ihr Rufen erhören. Mein Zorn wird aufflammen, und ich werde euch durch das Schwert ausrotten, und eure Frauen werden zu Witwen und eure Kinder zu Waisen werden?" Steht es im Gesetz nicht so? Und warum beachtest du es dann nicht? Du willst mich anderen gegenüber verteidigen? Warum verteidigst du dann meine Lehre nicht, wenn sie dich selbst betrifft? Du möchtest ein Freund von mir sein? Warum tust du dann das Gegenteil von dem, was ich sage?

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Einer von euch läuft atemlos davon und rauft sich die Haare, weil das Feuer einen seiner Wälder vernichtet. Aber um der Ruinen seines Herzens willen rauft er sich nicht die Haare. Und du, auf was wartest du um es zu tun? Warum glaubt ihr immer, vollkommen zu sein, nur weil das Schicksal euch einen hohen gesellschaftlichen Rang zugeteilt hat? Selbst wenn ihr in einigen Dingen höher gestellt wäret, warum sucht ihr dann nicht, es in allem zu sein? Warum haßt ihr mich, weil ich eure Fehler aufdecke? Ich bin der Arzt eurer Seelen, und wie kann denn ein Arzt heilen, wenn er ,nicht die Wunden aufdeckt und sie reinigt? Wißt ihr nicht, daß viele, und auch jene Frau, die soeben fortgegangen ist, die ersten Plätze beim Gastmahl Gottes verdienen, obwohl sie ihrem Äußeren nach gering erscheinen? Nicht auf das Äußere kommt es an, sondern im Herzen und in der Seele ist der Wert eines Menschen. Gott sieht euch und richtet euch von der Höhe seines Thrones. Wie viele sieht er, die besser sind als ihr! Daher hört mir zu!

Dies soll eure Verhaltensregel sein: Wenn man euch zu einem Hochzeitsmahl einlädt, wählt immer den letzten Platz. Doppelte Ehre wird euch zuteil, wenn der Hausherr euch auffordert: "Freund, komm nach vorn." Ehre des Verdienstes und Ehre der Demut. Welch traurige Stunde ist es jedoch für den Hochmütigen, wenn er beschämt wird und hören muß, wie man ihn zurechtweist: "Geh dort nach hinten, denn hier ist einer, der höher steht als du." Handelt ebenso beim geheimnisvollen Gastmahl eures Geistes, beim Hochzeitsmahl mit Gott. Wer sich erniedrigt, wird erhöht werden, und wer sich erhöht, wird erniedrigt werden.

Ismael, hasse mich nicht, weil ich dich heilen will. Ich hasse dich nicht und bin gekommen, um dich zu heilen. Du bist kränker als jener Mann, denn du hast mich eingeladen um deines eigenen Ruhmes willen und um deine Freude zufriedenzustellen. Oft gibst du Einladungen, aber aus Hochmut und zum Vergnügen. Tue das nicht! Lade nicht Reiche, Verwandte und Freunde ein, sondern öffne dein Haus, öffne dein Herz den Armen, den Bettlern, den Krüppeln, den Lahmen, den Waisen und Witwen. Sie werden dir nur Segen bringen als Entgelt, doch Gott wird ihn in Gnaden für dich umwandeln. Dann, am Ende... Oh, welch glückliches Los erwartet alle Barmherzigen, die einst bei der Auferstehung der Toten von Gott belohnt werden!

Wehe denen, die nur der Hoffnung auf Nutzen schmeicheln und ihr Herz dem Bruder verschließen, der ihnen nicht mehr dienen kann. Wehe ihnen! Ich werde mich anstelle der Verlassenen rächen.»

«Meister... ich... ich möchte dich zufriedenstellen und die Kinder wieder zu mir nehmen.»

«Nein.»

«Warum?»

«Ismael?! ...»

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Ismael will den Demütigen spielen und läßt den Kopf sinken. Aber er ist eine Viper, der das Gift ausgedrückt worden ist und die nicht beißt, weil sie kein Gift mehr hat, aber nur darauf wartet, beißen zu können.

Eleazar bemüht sich, den Frieden wieder herzustellen indem er sagt: «Selig jene, die in ihrem Geist am Gastmahl Gottes im ewigen Reich teilnehmen. Doch glaube mir, Meister, manchmal ist es das Leben, das uns daran hindert... unsere Verpflichtungen... die Beschäftigungen...»

Jesus erzählt nun das Gleichnis vom Gastmahl und schließt mit den Worten: «Die Verpflichtungen... die Beschäftigungen, hast du gesagt. Es ist wahr. Aber deswegen habe ich dir zu Beginn dieses Gastmahles gesagt, daß man mein Reich mit den Siegen über sich selbst und nicht mit Waffen auf dem Schlachtfeld erobert. Die Plätze beim großen Gastmahl sind für die, die demütigen Herzens sind, die groß zu sein wissen durch ihre treue Liebe, kein Opfer scheuen und alles überwinden, um zu mir zu gelangen. Eine einzige Stunde kann genügen, um ein Herz zu verwandeln, wenn dieses Herz willens ist. Ein Wort kann genügen, und ich habe euch viele gesagt, und beobachte euch... In einem Herzen sehe ich eine heilige Pflanze sprießen, in einem anderen Bedrängnisse für mich, und in den Bedrängnissen Vipern und Skorpione. Es macht nichts. Ich gehe meinen geraden Weg, und wer mich liebt, der folge mir nach. Ich gehe rufend durch die Welt. Die nach der Wahrheit suchen, mögen zur Quelle kommen, und die anderen wird der himmlische Vater richten.

Ismael, ich grüße dich. Hasse mich nicht. Denke über meine Worte nach und erkenne, daß ich aus Liebe und nicht aus Haß streng war. Der Friede sei mit diesem Hause und seinen Bewohnern. Der Friede sei mit all denen unter euch, die Frieden verdienen.»

381. JESUS MIT SEINEN VETTERN UND MIT PETRUS UND THOMAS IN NAZARETH

Jesus und die Seinen befinden sich wieder auf der Straße, die von der Ebene Esdrelon nach Nazareth führt. Sie müssen irgendwo übernachtet haben, denn es ist wieder Morgen. Eine Zeitlang legen sie ihren Weg schweigend zurück. Jesus geht zuerst allein voran, dann ruft er Petrus und Simon zu sich, und schließlich erreichen sie in einer geschlossenen Gruppe eine Abzweigung, die nach Nordosten führt. Die Berge sind nun auf beiden Seiten nahe.

Jesus gebietet denen, die gerade sprechen, zu schweigen und sagt: «Jetzt trennen wir uns. Ich gehe mit den Brüdern und mit Petrus und Thomas nach Nazareth, und ihr werdet unter der Führung von Simon dem Zeloten auf dem Weg zum Tabor und der Karawanen nach Debaret,

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Tiberias, Magdala und Kapharnaum gehen. Von dort begebt ihr euch dann nach Meron und haltet bei Jakob an, um zu sehen, ob er sich bekehrt hat, und bringt Judas und Anna meinen Segen. Wohnt dort, wo man am meisten darauf besteht, euch zu beherbergen, und bleibt jeweils nur eine Nacht an jedem Ort, denn am Abend des Sabbats wollen wir uns auf der Straße nach Sefed wieder treffen. Ich werde den Sabbat in Chorazim, im Hause der Witwe, feiern. Geht dort vorbei und verständigt sie. So wird auch Judas seinen Seelenfrieden wieder erlangen, wenn er sich davon überzeugen kann, daß Johannes sich auch an diesen gastlichen Orten nicht aufhält...»

«Meister! Aber ich glaube ...»

«Es ist doch gut, wenn du dich selbst vergewisserst, um nicht vor Kaiphas und Annas erröten zu müssen, wie auch ich weder vor dir noch vor einem anderen Menschen erröte, wenn ich behaupte, daß Johannes nicht mehr bei uns ist. Thomas nehme ich mit nach Nazareth. So kann er auch bezüglich dieses Ortes beruhigt sein, wenn er sich dort mit eigenen Augen davon überzeugen kann ...»

«Aber ich, Meister! Was kümmert mich das? Es tut mir sogar leid, daß dieser Mann nicht mehr bei uns ist. Was gewesen ist, ist gewesen. Aber seit wir ihn kennen, ist er stets besser gewesen als viele berühmte Pharisäer. Mir genügt es zu wissen, daß er dich nicht verleugnet und dir kein Leid zugefügt hat, und dann... kann er von mir aus noch auf Erden oder bereits im Schoß Abrahams sein, das ist ja nicht wichtig für mich. Glaube es mir. Selbst wenn er in meinem Hause wäre... würde ich keinen Abscheu empfinden. Ich hoffe, daß du jetzt nicht denkst, daß dein Thomas in seinem Herzen mehr als nur eine natürliche Neugierde verspürt, und nicht etwa Widerwillen oder den Anreiz zu mehr oder weniger berechtigten Nachforschungen, oder die Neigung, freiwillig, unfreiwillig oder mit Erlaubnis herumzuspüren, oder auch den Wunsch, zu schaden...»

«Du beleidigst mich! Du machst Anspielungen auf mich! Du lügst! Du hast doch gesehen, daß mein Benehmen in dieser Zeit stets gut war. Warum sagst du dann dies alles? Was kannst du über mich sagen? Sprich!» Judas ist giftig und wütend.

«Ruhe! Thomas, antwortet nur mir allein auf meine Fragen, und ich glaube den Worten von Thomas; aber ich will es so, und so soll es sein, und keinem von euch steht das Recht zu, mir meine Handlungsweise vorzuwerfen.»

«Ich werfe dir nichts vor... Ich habe mich von der Anspielung betroffen gefühlt und...»

«Ihr seid zwölf. Warum hat das, was ich zu euch allen gesagt habe gerade nur dich getroffen?» fragt Thomas.

«Weil ich es war, der Johannes überall gesucht hat.»

Jesus sagt: «Auch andere deiner Gefährten haben ihn gesucht, und

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wieder andere Jünger werden es noch tun, und deshalb wird sich niemand von den Worten des Thomas betroffen fühlen. Es ist keine Sünde, wenn man sich in ehrlicher Gesinnung nach einem Mitjünger erkundigt. Es ist auch nichts Beleidigendes in den ausgesprochenen Worten, wenn in uns nur Liebe und Redlichkeit ist, wenn nichts unser Herz quält und überempfindlich macht, weil es schon von Gewissensbissen verwundet ist. Warum willst du in Gegenwart deiner Gefährten diese Einwände vorbringen? Möchtest du der Sünde verdächtigt werden? Zorn und Hochmut sind zwei schlechte Begleiter, Judas. Sie lassen den Menschen in einen Wahn verfallen, und ein dem Wahn Verfallener sieht, was nicht ist, und sagt, was er nicht sagen sollte... so wie Habsucht und Begierde zu schlechten Handlungen antreiben, bis zu ihrer Befriedigung... Befreie dich von diesen niederträchtigen Eigenschaften... und wisse, daß während der vielen Tage deiner Abwesenheit stets gute Eintracht unter uns geherrscht hat, und daß mir deine Gefährten immer gehorcht und sich gegenseitig geachtet haben. Wir haben uns geliebt, verstehst du? ... Lebt wohl, geliebte Freunde. Geht und liebt! Versteht ihr? Liebet einander, ertragt euch, sprecht wenig und tut Gutes. Der Friede sei mit euch!»

Er segnet sie, und während sie nach rechts abbiegen, setzt Jesus seinen Weg zusammen mit den Vettern und Petrus und Thomas in tiefem Schweigen fort.

Dann ruft Petrus laut: «Bah!», was den Schlußpunkt einer wer weiß wie langen Überlegung setzen soll. Die anderen schauen ihn an...

Jesus ist gleich bereit, weitere Fragen zu verhindern, indem er sagt: «Seid ihr beide zufrieden, mit mir nach Nazareth zu kommen?» und legt seine Arme um die Schultern von Petrus und Thomas.

«Das fragst du uns noch?» antwortet Petrus in seiner Überschwenglichkeit.

Thomas, nun etwas ruhiger, und mit seinem rundlichen Gesicht, das vor Freude strahlt, fügt an: «Weißt du nicht, daß für mich die Nähe deiner Mutter so süß und wohltuend ist, daß sich dies nicht in Worten ausdrücken läßt? Maria ist meine Liebe. Ich bin nicht jungfräulich, und ich war auch nicht dagegen, eine Familie zu gründen und hatte schon einige Mädchen in die engere Wahl gezogen. Doch war ich noch nicht sicher, welche von ihnen ich zur Frau nehmen wollte. Aber jetzt! Jetzt! Ach! Meine Liebe ist Maria! Eine für die Sinne nicht zu erfassende Liebe! Die Sinnlichkeit erlischt schon allein beim Gedanken an sie, der Seele seligmachende Liebe! Ach! Alles, was ich an den Frauen gesehen habe, auch bei den liebsten, wie meine Mutter und meine Zwillingsschwester, alles, was ich Gutes an ihnen bemerke, vergleiche ich mit dem, was ich in deiner Mutter erkenne, und sage mir dann: In ihr ist alle Gerechtigkeit, alle Gnade und Schönheit vereint. Ein paradiesisches Blumenbeet ist ihr lieblicher Geist... ein Gedicht ihr Antlitz... Oh, daß wir in Israel, die wir nicht

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einmal an die Engel zu denken wagen und wo die Cherubim des Allerheiligsten mit ehrfurchtsvollem Zittern betrachtet werden... Wie töricht sind wir doch, daß wir bei ihrem Anblick nicht zehnmal mehr in Ehrfurcht erzittern! ... da sie doch, und ich bin dessen sicher, in den Augen Gottes alle Schönheit der Engel übertrifft...»

Jesus blickt auf den von der Liebe zu seiner Mutter Überwältigten, der sich gleichsam zu vergeistigen scheint, so sehr verwandeln seine Gefühle für Maria den gutmütigen Ausdruck seines Gesichtes. «Nun gut, einige Stunden werden wir mit ihr zusammen sein, denn wir werden uns bis übermorgen in Nazareth aufhalten. Dann gehen wir nach Tiberias, um die beiden Kinder aufzusuchen, und nehmen ein Boot nach Kapharnaum.»

«Und Bethsaida?» fragt Petrus.

«Auf dem Rückweg, Simon, gehen wir dorthin und holen Margziam für die österliche Pilgerfahrt ab.»

Am Abend desselben Tages sind sie in Nazareth, in dem stillen Häuschen, und Petrus und Thomas schlafen schon. Mutter und Sohn halten eine liebevolle Zwiesprache.

«Alles ist gut gegangen, meine Mutter, und nun sind sie ruhig. Deine Gebete haben den Pilgern geholfen und heilen nun ihre Schmerzen, wie Tau auf dürstenden Blumen.»

«Deinen Schmerz möchte ich heilen, mein Sohn! Wieviel mußt du gelitten haben! Schau! Die Schläfen und auch die Wangen fallen ein, und eine Falte durchfurcht deine Stirne wie das Zeichen eines Schwertes. Wer hat dich so verwundet, mein Herz?»

«Der Schmerz! Schmerz zufügen zu müssen, Mutter!»

«Das allein, mein Jesus? Haben deine Jünger dir kein Leid verursacht?»

«Nein, Mutter. Sie sind so gütig wie Heilige gewesen.»

«Die, die bei dir waren... Aber ich meine alle ...»

«Du siehst, ich habe Thomas mitgebracht, um ihn zu belohnen, und ich hätte auch gerne jene hergebracht, die letztesmal nicht hier waren. Aber ich mußte sie anderswohin entsenden ...»

«Und Judas von Kerioth?»

«Judas ist bei ihnen.»

Maria umarmt ihren Sohn, legt ihr Haupt an seine Schulter und weint.

«Warum weinst du, Mutter?» fragt Jesus und streichelt ihr Haar.

Maria schweigt und weint. Erst als Jesus zum drittenmal fragt, flüstert sie: «Aus Angst... Ich möchte immer, daß er dich verläßt... Ich tue unrecht, nicht wahr, wenn ich dies wünsche? Aber so stark, so stark ist meine Angst vor ihm, deinetwegen ...»

«Nur wenn er den Tod finden würde, würden sich die Dinge ändern. Aber weshalb sollte er sterben?»

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«Ich hege keine so bösen Wünsche... denn auch er hat eine Mutter... und auch er hat eine Seele... Eine Seele, die immer noch gerettet werden kann. Aber... oh, mein Sohn, wäre wohl der Tod nicht zu seinem Heil?»

Jesus seufzt und flüstert: «Vielen würde der Tod zum Heil gereichen ...», dann fügt er mit etwas erhobener Stimme bei: «Weißt du, wie es der alten Johanna geht? Ihre Felder? ...»

«Ich bin mit Maria des Alphäus und Salome des Simon nach dem Hagelwetter dort gewesen. Aber ihr Getreide, wohl weil es mit Verspätung gesät worden ist, war noch nicht aufgegangen, und so hat es auch keinen Schaden erlitten. Vor drei Tagen ist Maria wieder zu ihr gegangen, um nachzusehen. Sie sagt, daß ihre Felder Teppichen gleichen, es sind die schönsten Felder der Umgebung! Rachel geht es gut, und die alte Frau ist glücklich. Auch Maria des Alphäus ist jetzt glücklich, da Simon ganz zu dir steht. Morgen wirst du ihn gewiß sehen, denn er kommt jeden Tag. Heute war er gerade fortgegangen, als du ankamst. Weißt du, niemand hat bemerkt, daß sie hier gewesen sind, sonst hätten sie im Dorf darüber gesprochen. Aber erzähle mir von ihrer Reise, wenn du nicht zu müde bist ...»

Jesus erzählt seiner aufmerksamen Mutter alles, mit Ausnahme der Leiden in der Grotte von Jiphtael.

382. DIE GEKRÜMMTE FRAU VON CHORAZIM

Jesus befindet sich in der Synagoge von Chorazim, die sich allmählich mit Menschen füllt. Die Vorsteher des Ortes müssen darauf gedrängt haben, daß Jesus an diesem Sabbat bei ihnen lehrt. Ich entnehme dies ihren Erwägungen und den Antworten Jesu.

«Wir sind nicht anmaßender als die Juden oder die von der Dekapolis», sagen sie, «und dennoch gehst du immer wieder dorthin.»

«Auch hier habe ich dasselbe getan, und euch durch Worte, Werke, Schweigen und durch Taten unterrichtet.»

«Aber da wir starrköpfiger sind als die anderen, ist dies ein Grund mehr, daß du immer wieder kommen mußt...»

«Schon gut, schon gut.»

«Gewiß ist es gut! Wir gestatten dir gerade deshalb, unsere Synagoge für deine Unterweisung zu benützen, weil wir es für richtig erachten. Nimm daher unsere Einladung an und sprich.»

Jesus breitet die Arme aus, als Zeichen zum Schweigen für die Anwesenden. Im Psalmton, langsam und ausdrucksvoll beginnt er seine Predigt: «"Arauna sprach zu David: 'Mein Herr und König nehme und opfere, was ihn gut dünkt! Siehe, hier sind die Rinder für das Brandopfer, und

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hier alle Dreschschlitten und das Rindergeschirr als Opferholz! Das alles, mein König, schenkt Arauna dem König!' Und er fügte hinzu: 'Der Herr, dein Gott, sei dir gut und nehme dein Gelübde an.' Aber der König antwortete und sagte: 'Nicht so! Um einen festgesetzten Preis will ich sie von dir erwerben. Ich kann dem Herrn, meinem Gott, nicht geschenkte Brandopfer darbringen!'"»

Nun senkt Jesus seinen Blick, denn bis dahin hat er gleichsam mit zur Decke erhobenen Augen gesprochen. Er schaut den Synagogenvorsteher und die vier Ältesten, die bei ihm sind, scharf an und fragt: «Habt ihr den Sinn dieser Worte verstanden?» «Sie stehen im zweiten Buch der Könige geschrieben, dort, wo der heilige König die Tenne des Arauna kauft ... Aber wir verstehen nicht, weshalb du sie uns zitiert hast. Hier wütet nicht die Pest, und es gibt keinen Grund, ein Brandopfer darzubringen; zudem bist du kein König... wir wollen sagen: du bist es noch nicht.»

«Wahrlich, ihr seid langsam im Erfassen der Sinnbilder, und euer Glaube ist noch unsicher, denn wenn er gefestigt wäre, würdet ihr erkennen, daß ich schon König bin, wie ich gesagt habe, und wenn ihr eine wache gefühlsmäßige Erkenntnis hättet, würdet ihr einsehen, daß hier eine viel schlimmere Pest wütet, als die, welche David plagte. Hier herrscht jene des Unglaubens, die euch zugrunde richtet.»

«Nun gut, wenn wir langsam im Erfassen und ungläubig sind, dann verleihe uns Verstand und Glauben und erkläre, was du uns damit hast sagen wollen.»

«Ich sage: ich bringe Gott keine erzwungenen Opfer dar, solche, die aus elendem Eigennutz dargebracht werden. Ich, der ich gekommen bin, um zu euch zu sprechen, akzeptiere es nicht, daß ich nur dann sprechen darf, wenn ihr es mir erlaubt. Es ist mein gutes Recht, und ich bestehe darauf. Sei es nun unter freiem Himmel oder hinter verschlossenen Türen, auf der Höhe der Berge oder in der Tiefe der Täler, auf dem Meere oder an den Ufern des Jordan, überall habe ich das Recht und die Pflicht, zu lehren und durch mein Werk die einzigen Opfer, die Gott wohlgefällig sind, zu erwerben, nämlich: Durch mein Wort bekehrte und gläubig gewordene Herzen. Ihr von Chorazim, habt dem Wort wohl zu reden gestattet, jedoch nicht aus Ehrfurcht und Glauben, sondern weil ihr in eurem Herzen eine Stimme hört, die euch wie ein im Holz nagender Wurm quält: "Dieser Frost ist die Strafe für unsere Herzenshärte." Ihr möchtet wieder gutmachen aber des Geldes wegen und nicht eurer Seele wegen. O heidnisches und starrköpfiges Chorazim! Doch nicht alle Menschen in Chorazim sind so, und ich werde für die, die nicht so sind, in einem Gleichnis sprechen.

Hört! Einem Goldschmied wurde von einem törichten Reichen ein großer Klumpen gebracht aus einer Masse, die so blond war wie feinster Honig, mit dem Auftrag, daraus einen verzierten Krug anzufertigen.

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"Das Material eignet sich nicht zur Verarbeitung", sagte der Goldschmied zu dem Reichen. "Siehst du? Es ist zu weich und nachgiebig. Wie könnte ich es formen und hämmern?"

"Wie? Es ist nicht geeignet? Das ist ein kostbares Harz, und ein Freund von mir hat ein kleines Krüglein, in dem sein Wein einen ganz besonderen Geschmack bekommt. Ich habe es sehr teuer bezahlt, um einen größeren Krug zu haben und so meinen Freund zu übertrumpfen, der sich seines Kruges rühmt. Mache ihn mir, und zwar sofort, sonst werde ich sagen, daß du ein unfähiger Künstler bist."

"Der Krug deines Freundes wird aus goldfarbenem Alabaster sein!"

"Nein, er ist aus dem gleichen Material."

"Er wird aus feinem Bernstein sein."

"Nein, er ist aus diesem Material."

"Angenommen, daß er aus demselben Material ist, dann ist es fester, hart geworden im Laufe der Jahrhunderte oder durch Beimischung von anderem festigenden Material. Frage ihn danach, und dann komme wieder und sage mir, wie sein Gefäß gemacht wurde."

"Nein. Er hat mir diesen Klumpen selbst verkauft und mir versichert, daß man ihn so verwendet."

"Dann hat er dich also betrogen, um dich für deinen Neid wegen seines schönen Kruges zu bestrafen."

"Gib acht, wie du sprichst! Arbeite, oder ich werde dich bestrafen und dir den Laden wegnehmen, der nicht einmal so viel wert ist, wie mich dieses wunderbare Harz gekostet hat."

Tief betrübt machte sich der Künstler ans Werk. Er fertigte eine Paste an... aber die Paste blieb an seinen Fingern hängen. Er versuchte, ein Stückchen mit Kitt und Pulver zu härten... aber das Harz verlor seine Durchsichtigkeit. Er brachte es schließlich in den Schmelzofen, in der Hoffnung, daß es durch die Hitze gehärtet würde, doch händeringend mußte er es wieder herausnehmen, da es flüssig geworden war. Dann schickte er jemanden auf den großen Hermon, um verharschten Schnee zu holen, und tauchte es in diesen ein. Es wurde hart und schön, doch ließ es sich nicht mehr modellieren. "Ich werde es mit dem Meißel behauen", nahm er sich vor, doch beim ersten Meißelhieb sprang das Harz in Stücke.

Der Künstler, ganz verzweifelt und fest überzeugt, daß sich dieses Material nicht bearbeiten ließe, machte einen letzten Versuch und nahm alle Stücke, machte sie in der Hitze des Ofens von neuem flüssig, ließ sie wieder ein wenig im Schnee erkalten, und versuchte die noch etwas weiche Masse mit Spatel und Meißel zu bearbeiten. Die Arbeit glückte ihm, o ja, doch sobald er Meißel und Spatel entfernte, nahm die Masse wieder die ursprüngliche Form an, als wäre sie ein im Backtrog aufgehender Brotteig.

Der Mann gab sich geschlagen, und um der Erpressung des Reichen und seinem eigenen Ruin zu entgehen, lud er in der Nacht Frau, Kinder,

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Möbel und sein Handwerkszeug auf einen Wagen. In seiner Werkstätte, die nun leer war, ließ er die goldfarbene Masse Harz zurück und legte einen Zettel dazu mit den Worten: "Nicht zu bearbeiten", und floh über die Grenze...

Ich bin gesandt worden, um die Herzen zur Wahrheit und zum Heil zu erziehen, und in meinen Händen habe ich Herzen aus Eisen, Blei, Zinn, Alabaster, Marmor, Silber, Gold, Jaspis und Edelsteinen gehabt. Harte Herzen, wilde Herzen, wertvolle Herzen, kurz, alle Arten von Herzen. An allen habe ich gearbeitet, und viele habe ich geformt nach dem Wunsch dessen, der mich gesandt hat. Einige haben mich verletzt, während ich wirkte, andere haben es vorgezogen, zu zerbrechen, anstatt sich vollends bearbeiten zu lassen, doch vielleicht werden sie in ihrem Haß immer ein Andenken an mich bewahren.

Ihr seid nicht zu bearbeiten, denn weder Liebesglut, noch geduldige Unterweisung, noch die Arbeit des Meißels nützt bei euch, da ihr den Mahnungen gleichgültig gegenübersteht. Sobald meine Hände von euch lassen, werdet ihr wieder zu dem, was ihr vorher gewesen seid. Nur eines müßtet ihr tun, um euch zu ändern: euch gänzlich mir überlassen! Doch das tut ihr nicht, und werdet es nie tun, und der tief betrübte Arbeiter überläßt euch eurem Schicksal. Da er jedoch gerecht ist, verläßt er euch nicht alle gleicherweise. Trotz seiner Enttäuschung weiß er alle auszuwählen, die seine Liebe verdienen, und tröstet und segnet sie. Frau, komm zu mir!» sagt er und winkt einer an der Wand stehenden Frau zu, die so gekrümmt ist, daß sie einem Fragezeichen gleicht.

Die Leute schauen in die Richtung, in die Jesus zeigt, sehen jedoch die Frau nicht, die ihrer Haltung wegen Jesus und auch seine Hand nicht sehen kann. «So geh doch, Martha! Er ruft dich», sagen einige, und die Arme kommt hinkend, auf ihren Stock gestützt, der ihr bis zum Kopf reicht, nach vorne.

Nun steht sie vor Jesus, der zu ihr sagt: «Frau, empfange ein Andenken an meine Durchreise und eine Belohnung für deinen stillen, demütigen Glauben. Sei befreit von deinen Gebrechen!» Seine letzten Worte betont er besonders, indem er ihr seine Hände auf die Schultern legt.

Plötzlich richtet sich die Frau auf, steht aufrecht wie eine Palme da, erhebt ihre Arme und ruft: «Hosanna! Er hat mich geheilt! Er hat auf seine treue Dienerin geschaut und ihr diese Wohltat erwiesen. Lob dem Erlöser und König Israels! Hosanna dem Sohne Davids!»

Das Volk stimmt ein mit seinen Hosannarufen in das Hosanna der Frau, die nun zu Füßen Jesu kniend den Saum seines Gewandes küßt, während er zu ihr sagt: «Geh in Frieden und verharre im Glauben!»

Der Synagogenvorsteher, dem die Worte, die Jesus vor dem Gleichnis gesagt hat, noch immer in den Ohren klingen müssen, will wütend auf den Vorwurf antworten und schreit entrüstet, während die Menge der

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wunderbar Geheilten einen Weg bahnt: «Sechs Tage sind da zum Arbeiten, sechs Tage, an denen man fordern und geben kann. Kommt daher an diesen Tagen, sowohl zum Fordern, als auch zum Geben. Kommt an diesen Tagen zum Heilen, ohne das Gebot des Sabbats zu verletzen, ihr Sünder und Ungläubige, ihr Verdorbene und Verderber des Gesetzes!» und er versucht, alle aus der Synagoge zu vertreiben, als wolle er die Schänder aus dem Haus des Gebets verjagen.

Aber Jesus, der ihn sieht, und wie er von den vier zuvor erwähnten Ältesten unterstützt wird, sowie von einigen anderen aus der Menge, die durch das "Vergehen Jesu" noch empörter, verärgerter und gequälter zu sein scheinen, ruft ihnen nun mit auf der Brust verschränkten Armen, ernst und gebieterisch blickend, zu: «Ihr Heuchler! Wer von euch hat an diesem Tag nicht den Ochsen oder den Esel von der Futterkrippe losgebunden, um ihn zur Tränke zu führen, und wer hat nicht den Schafherden die Grasbündel gebracht und die Milch aus den vollen Eutern gemolken? Warum also, wenn ihr sechs Tage dafür habt, tut ihr es auch heute für die paar Denare Milchgeld oder aus Angst, daß euch Ochs und Esel verdursten könnten? Und ich hätte diese Frau nicht auch am Sabbat von ihren Fesseln befreien sollen, nachdem Satan sie achtzehn Jahre lang gefesselt hielt? Geht! Sie habe ich von ihrem unfreiwilligen Elend erlösen können, doch euch werde ich nie die freiwilligen Fesseln lösen können, ihr Feinde der Weisheit und der Wahrheit!»

Die guten Menschen unter den vielen nicht guten von Chorazim billigen und loben seine Worte, während die anderen, vor Wut keuchend, fliehen und den gehässigen Synagogenvorsteher im Stich lassen.

Auch Jesus läßt ihn stehen und verläßt die Synagoge in Begleitung der Guten, die ihn umringen, bis er das offene Feld erreicht hat, wo er sie ein letztes Mal segnet. Dann schlägt er zusammen mit den Vettern, mit Petrus und Thomas die Hauptstraße ein.

383. DER UNFRUCHTBARE FEIGENBAUM; AUF DEM WEG NACH SEFED

Die Straße, die nach Sefed führt, verläßt die Ebene von Chorazim, um eine ziemlich bedeutende und dicht bewachsene Bergkette zu erklettern. Ein Wasserlauf durchquert diese Berge, sicher in Richtung des Sees von Tiberias.

Die Pilger warten an einer Brücke, bis die anderen, die zum Meronsee gesandt worden waren, sie erreichen. Sie lassen nicht lange auf sich warten. Zur abgemachten Stunde kommen sie eiligen Schrittes, gesellen sich voller Freude zum Meister und zu den Gefährten und berichten über den

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Verlauf der Reise. Sie erzählen von einigen Wundern, die abwechselnd von allen Aposteln gewirkt worden sind, wie sie erklären. Aber Judas von Kerioth verbessert: «Mit Ausnahme von mir, dem nichts gelungen ist», und seine Beschämung bei diesem Bekenntnis ist ihm peinlich.

«Wir haben dir schon gesagt, daß es so gewesen ist, weil wir einen großen Sünder vor uns hatten», entgegnet Jakobus des Zebedäus, und erklärt: «Weißt du, Meister, es handelt sich um Jakob, einen Schwerkranken, der dich nur anruft aus lauter Angst vor dem Tod und dem Gericht Gottes. Doch er ist jetzt geiziger denn je, da er nach dem Frost eine schreckliche Mißernte voraussieht. All sein Saatgut ist verloren und er kann kein anderes mehr säen, da er krank ist und seine Magd, die durch mühselige Arbeiten und Hunger erschöpft ist, die Felder nicht pflügen kann. Er spart sogar mit dem Mehl für das Brot, da er befürchtet, eines Tages nichts mehr zu essen zu haben. Wir haben vielleicht gesündigt, aber wir haben den ganzen Freitag bis zum letzten Tageslicht und nach dem Sonnenuntergang sogar im Schein von Fackeln und eines Holzstoßes gearbeitet und einen Großteil seiner Felder gepflügt. Philippus, Johannes und Andreas verstehen sich darauf, und ich auch. Wir haben geschuftet... Simon, Matthäus und Bartholomäus kamen hinter uns her und säuberten die Schollen vom aufgegangenen und kurz darauf abgestorbenem Getreide. Judas ist hingegangen, um in deinem Namen etwas Samen von Judas und Annas zu erbitten, und hat ihnen unseren Besuch für heute versprochen. Er hat sogar einen ausgezeichneten Samen erhalten. Also haben wir uns gesagt: "Morgen werden wir säen" und deswegen sind wir etwas später gekommen, denn wir haben bei Sonnenuntergang damit begonnen. Der Ewige möge uns verzeihen, daß wir aus diesem Grund gesündigt haben. Judas blieb inzwischen am Bett Jakobs, um ihn zu bekehren. Er kann besser reden als wir, Bartholomäus und der Zelote behaupten dies wenigstens. Aber Jakob blieb allen Argumenten gegenüber taub. Er wollte die Heilung, weil ihm die Krankheit Kosten verursacht. Er beschimpfte auch die Magd und nannte sie eine Faulenzerin.

Um ihn zu beruhigen und angesichts seiner Worte: "Ich werde mich bekehren, wenn ich geheilt werde", legte ihm Judas die Hände auf. Aber Jakob blieb krank wie zuvor. Judas teilte es uns ganz traurig mit. Bevor wir uns zur Ruhe begaben, versuchten wir es, doch auch wir erlangten kein Wunder. Judas besteht nun darauf, daß dies geschehen ist, weil er bei dir in Ungnade gefallen ist, seit er dir mißfallen hat, und ist sehr niedergeschlagen. Wir jedoch sind der Meinung, daß es so sein mußte, weil wir einen verstockten Sünder vor uns hatten, der glaubte, alles erreichen zu können, was er wollte, indem er selbst Gott Grenzen setzte und ihm Befehle erteilte. Wer hat nun Recht?»

«Ihr sieben habt recht. Und Judas und Annas? Wie steht es um ihre Felder?»

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«Auch ihre Felder haben ziemlich unter dem Frost gelitten. Aber sie hatten genügend Mittel, und alles ist schon wieder in Ordnung gebracht. Die beiden sind wirklich gut! Nimm, sie schicken dir diese Spende und diese Nahrungsmittel und hoffen, dich bald einmal wiederzusehen. Was uns betrübt, ist der Seelenzustand Jakobs. Ich hätte lieber seine Seele als seinen Leib geheilt....», sagt Andreas.

«Und an den anderen Orten?»

«Oh! auf dem Weg nach Debaret, in der Nähe des Dorfes, haben wir -es war Matthäus – einen Mann vom Fieber geheilt, der von einem Arzt herkam, der ihn aufgegeben hatte. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang sind wir bei ihm geblieben, und das Fieber ist nicht wiedergekommen. Zudem hat er uns versichert, daß er sich wohl und stark fühlt. Dann hat Andreas einen Bootsmann in Tiberias geheilt, der sich bei einem Sturz auf Deck eine Schulter gebrochen hatte. Er legte ihm die Hände auf, und die Schulter war geheilt. Stell dir den Mann vor! Er wollte uns umsonst nach Magdala, Kapharnaum und Bethsaida fahren, wo er geblieben ist, weil dort die Jünger Timoneus von Aera, Philippus von Arbela, Ermastheus und Markus des Josia sind. Letzterer ist einer von denen, die bei Gamala von der Besessenheit befreit worden sind. Auch Joseph, der Bootsverleiher, möchte ein Jünger werden...

Den Kindern geht es gut bei Johanna. Sie scheinen nicht mehr die gleichen zu sein. Sie waren im Garten und spielten mit Johanna und Chuza...»

«Ich habe sie gesehen. Auch ich bin dort vorbeigekommen. Erzählt weiter.»

«In Magdala war es Bartholomäus, der ein sittenloses Herz und einen sittenlosen Leib geheilt hat. Wie gut hat er gesprochen! Er hat erklärt, wie die Verwirrung des Geistes Unordnung im Körper hervorruft und jedes Nachgeben der Unehrbarkeit gegenüber zum Verlust der Ruhe, der Gesundheit und schließlich der Seele führt. Als er ihn reuevoll und überzeugt gesehen hat, hat er ihm die Hand aufgelegt, und der Mann ist geheilt worden. Sie wollten uns in Magdala zurückhalten, aber wir waren gehorsam und sind am nächsten Morgen nach Kapharnaum gefahren.

Dort trafen wir die fünf an, die dich um Gnade gebeten haben. Sie wollten den Ort eben enttäuscht verlassen, aber wir heilten sie und fuhren dann gleich nach Bethsaida, um den Fragen des Eli, des Urias und ihrer Begleiter auszuweichen. In Bethsaida! ... Aber erzähle du, Andreas, deinem Bruder ...» schließt Jakobus des Zebedäus, der bis jetzt immer gesprochen hat. «O Meister! O Simon! Wenn ihr Margziam sehen könntet! Er ist nicht mehr wiederzuerkennen!»

«O Schicksal! Er wird doch nicht etwa ein Mädchen geworden sein?» ruft Petrus fragend aus.

«Nein, im Gegenteil! Er ist ein schöner Jüngling, groß und schlank,

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weil er so schnell gewachsen ist... Wunderbar! Wir haben ihn kaum wiedererkannt. Er ist so groß wie deine Frau und wie ich...»

«Oh, gut! Weder ich, noch du, noch Porphyria sind Palmen! Man könnte uns eher mit Dornbüschen vergleichen ...» sagt Petrus, der sich freut, als er hört, daß sein Adoptivsohn sich so gut entwickelt hat.

«Ja, Bruder. Aber noch zur Zeit des Lichterfestes war er ein Knäblein, das mir kaum bis an die Schultern reichte, und heute ist er wirklich ein junger Mann, in Gestalt, Stimme und Haltung. Ihm ist es ergangen wie den Bäumen, deren Wachstum jahrelang stockt und die dann plötzlich ein erstaunlich üppiges Aufblühen erleben. Deine Frau hat ordentlich zu tun gehabt mit dem Verlängern der alten Gewänder und der Anfertigung von neuen. Sie versieht sie mit breiten Säumen und Falten an den Hüften, denn sie sieht mit Recht voraus, daß Margziam weiterwachsen wird. Noch mehr wächst er in der Weisheit heran. Meister, die weise Bescheidenheit Nathanaels hat dir verschwiegen, daß Bartholomäus zwei Monate lang als Lehrer des jüngsten und heldenhaftesten Jüngers gewaltet hat, der sich schon vor dem Morgengrauen erhebt, um die Schafe zu weiden, Holz zu hacken, Wasser zu schöpfen, Feuer anzuzünden, sauberzumachen und Einkäufe für seine Pflegemutter zu erledigen; und am Nachmittag lernt und schreibt er jeweils bis zum späten Abend, wie ein kleiner Gelehrter. Stell dir vor, er hat alle Kinder von Bethsaida versammelt, und am Sabbat belehrt er sie über die Frohe Botschaft. So haben die Kinder, die, um Störungen zu vermeiden, von den Gottesdiensten in der Synagoge ausgeschlossen sind, ihren Tag des Gebetes wie die Erwachsenen. Die Mütter sagen mir, daß es schön ist, ihn sprechen zu hören, und daß die Kinder ihn gern haben, ihm ehrfurchtsvoll gehorchen und immer braver werden. Welch ein Jünger wird aus ihm noch werden!»

«Schau einer an! Ich... bin ganz gerührt... mein Margziam! Aber schon in Nazareth, nicht wahr? Welch ein Heroismus für... jenes Mädchen, Rachel, nicht wahr?» Petrus unterbricht sich gerade noch rechtzeitig und ist purpurrot geworden aus Furcht, zu viel gesagt zu haben.

Zum Glück kommt ihm Jesus zu Hilfe, und Judas ist in seine eigenen Gedanken vertieft und achtet nicht auf seine Worte, oder er tut jedenfalls so. Jesus sagt: «Ja, Rachel, du hast recht, sie ist geheilt, und die Felder werden viel Getreide geben. Jakobus und ich sind dort vorbeigekommen. So viel vermag das Opfer eines gerechten Kindes.»

«In Bethsaida war es Jakobus, der ein Wunder an einem armen Krüppel wirkte, und Matthäus heilte auf dem Weg zum Hause Jakobs einen Knaben. Gerade heute haben Philippus und Johannes auf dem Platze jenes Dorfes bei der Brücke einen Augenkranken und einen besessenen Knaben geheilt.»

«Ihr habt es alle gut gemacht. Sehr gut! Nun werden wir uns zu dem Dorf dort am Hang begeben, um in irgendeinem Haus übernachten.»

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«Aber du, Meister, was hast du getan? Wie geht es Maria und der anderen Maria? fragt Johannes.

«Es geht ihnen gut, und sie lassen euch alle grüßen. Sie richten schon die Gewänder und alles, was für die Pilgerreise im Frühjahr erforderlich ist, her. Sie können die Stunde nicht erwarten, wieder mit uns zusammen zu sein.»

«Auch Susanna, und Johanna und unsere Mutter haben dieselbe Sehnsucht», sagt wiederum Johannes.

Bartholomäus fügt bei: «Auch meine Frau will mit unseren Töchtern nach so vielen Jahren wieder nach Jerusalern mitkommen. Sie sagt, daß es nie mehr so schön sein wird, wie dieses Jahr... Ich weiß nicht, warum sie das sagt; aber sie behauptet, es im Herzen zu fühlen.»

«Dann wird bestimmt auch die meinige kommen. Sie hat noch nicht davon gesprochen, aber was Anna tut, macht auch Maria immer», sagt Philippus.

«Was machen die Schwestern des Lazarus? Ihr, die ihr sie gesehen habt», fragt der Zelote.

«Sie gehorchen schweren Herzens dem Befehl des Meisters und der Notwendigkeit... Lazarus ist sehr leidend, nicht wahr Judas? Er muß fast immer liegen. Doch erwarten sie sehnlichst den Meister», sagt Thomas.

«Bald ist das Passahfest, und wir werden Lazarus aufsuchen.»

«Aber du, was hast du in Nazareth und Chorazim getan?»

«In Nazareth habe ich Verwandte und Freunde besucht, auch die Verwandten der beiden Jünger. In Chorazim habe ich in der Synagoge gesprochen und eine Frau geheilt. Wir haben bei der Witwe Aufenthalt genommen. Ihre Mutter ist gestorben. Es war ein Schmerz und eine Erleichterung zugleich, wegen der geringen Einnahmen und wegen der Zeit, welche die Pflege der Kranken in Anspruch nahm; denn die Witwe hat begonnen, in Lohnarbeit für andere zu spinnen. Aber sie ist nicht mehr verzweifelt wie früher. Das Notwendige ist gesichert, und sie ist zufrieden damit. Joseph geht jeden Morgen zu einem Zimmermann am Jakobsbrunnen, um das Handwerk zu erlernen.»

«Haben sich die Leute von Chorazim gebessert?» fragt Matthäus.

«Nein, Matthäus! Sie werden immer schlimmer», bekennt Jesus offen. «Sie haben uns schlecht behandelt, die Mächtigen natürlich, nicht das einfache Volk.»

«Es ist ein schrecklicher Ort. Geh nicht mehr dorthin», mahnt Philippus.

«Das würde dem Jünger Elias sehr weh tun, und ebenso der Witwe, der heute geheilten Frau und den andern guten Leuten.»

«Ja, aber es sind so wenige, daß ich mich nicht mehr dieses Ortes annehmen würde. Du selbst hast es gesagt: "Die Leute dort lassen sich nicht belehren", sagt Thomas.

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«Etwas wird bleiben, wie ein Same, der tief unter sehr harten Schollen liegt. Es wird lange dauern, bis er keimt, aber schließlich wird er keimen. So ist es mit Chorazim. Eines Tages wird das, was ich gesät habe, aufgehen. Man darf sich nicht von den ersten Niederlagen entmutigen lassen. Hört dieses Gleichnis. Es könnte den Titel tragen: Das Gleichnis vom guten Landmann.

Ein reicher Mann hatte einen großen und schönen Weinberg, in dem auch Feigenbäume verschiedener Güte waren. Die Arbeiten im Weinberg besorgte einer seiner Knechte mit viel Erfahrung als Winzer und im Beschneiden der Obstbäume, der seine Pflicht in Liebe zu seinem Herrn und zu den Pflanzen erfüllte. Alle Jahre ging der Reiche in der schönsten Jahreszeit mehrmals in seinen Weinberg, um das Heranreifen der Weintrauben und der Feigen zu betrachten und um sie zu genießen, indem er sie mit eigenen Händen von den Pflanzen pflückte. Eines Tages kam er zu einem besonders edlen Feigenbaum, dem einzigen Baum dieser Art im Weinberg. Wie in den beiden letzten Jahren, fand er ihn auch jetzt wieder voller Blätter, aber ohne Früchte. Er rief den Winzer herbei und sagte: "Es sind nun schon drei Jahre, daß ich komme und an diesem Feigenbaum Früchte suche, jedoch nur Laub vorfinde. Ich sehe nun, daß dieser Baum nie mehr Früchte tragen wird. Haue ihn um. Es ist zwecklos, daß er hier den Platz beansprucht und deine Zeit verschwendet, um schließlich doch nichts hervorzubringen. Säge ihn ab, verbrenne ihn, grabe seine Wurzeln aus und setze an die Stelle einen neuen Baum; in einigen Jahren wird er Früchte bringen." Der Winzer, der geduldig und liebevoll war, antwortete: "Du hast recht, aber laß mich ihn noch ein Jahr pflegen. Ich werde ihn nicht absägen, sondern vielmehr mit noch größerer Sorgfalt den Boden um ihn herum auflockern, ihn düngen und bewässern. Vielleicht wird er dann doch noch Früchte tragen. Wenn er nach diesem letzten Versuch keine Früchte tragen sollte, werde ich deinen Wunsch erfüllen und ihn umhauen."

Chorazim ist der Feigenbaum, der keine Früchte trägt; ich bin der gute Gärtner, und ihr seid der ungeduldige Reiche. Laßt den guten Gärtner wirken!»

«Gut! Aber du hast dein Gleichnis nicht beendet. Hat der Feigenbaum dann im nächsten Jahr Früchte getragen?» fragt der Zelote.

«Er hat keine Früchte getragen und ist umgehauen worden. Aber der Gärtner konnte eine noch junge, kräftige Pflanze mit gutem Gewissen fällen, denn er hatte seine Pflicht getan. Auch ich will gerechtfertigt sein hinsichtlich derer, an die ich die Axt anlegen werde, um sie aus meinem Weinberg zu entfernen, wo es unfruchtbare und giftige Pflanzen, Schlangennester, Parasiten und Schädlinge gibt, welche den Jüngern schaden oder sie gar verderben, oder auch ungerufen, mit ihren bösartigen Wurzeln und widerspenstig gegen jede Veredelung, in meinen Weinberg eindringen, um

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sich dort zu vermehren. Sie haben sich nur eingeschlichen, um auszukundschaften, anzuschwärzen und mein Feld unfruchtbar zu machen. Diese werde ich ausrotten, nachdem ich alles versucht habe, um sie zu bekehren. Vorerst jedoch, bevor ich die Axt zur Hand nehme, ergreife ich das Messer und die Baumschere und beschneide und veredle... Oh, es wird eine harte Arbeit sein, sowohl für mich, der sie ausführt, als auch für jene, an denen sie vorgenommen wird. Aber es muß geschehen, damit man im Himmel sagen kann: "Alles hat er getan, doch sie sind immer unfruchtbarer und bösartiger geworden, je mehr er sie bewässerte und veredelte, je mehr er das Erdreich auflockerte und düngte, mit Schweiß und Tränen, mit Mühen und Blut..." Nun sind wir im Dorf angekommen. Geht alle voraus und fragt nach einer Unterkunft. Du, Judas von Kerioth, bleibe bei mir!»

Sie bleiben allein zurück und gehen im Halbdunkel des Abends schweigend nebeneinander.

Schließlich sagt Jesus, so als rede er mit sich selbst: «Und doch, auch wenn man bei Gott in Ungnade gefallen ist, weil man gegen sein Gesetz gehandelt hat, kann man immer noch zurückkehren und das werden, was man vorher war, wenn man der Sünde entsagt ...»

Judas sagt nichts.

Wieder beginnt Jesus zu reden: «Und wenn man begreift, daß man nicht mehr über die göttliche Macht verfügen kann, weil Gott nicht dort ist, wo Satan ist, kann man doch mit Leichtigkeit alles wieder gutmachen, wenn man das, was Gott zusteht, dem vorzieht, was unser Stolz begehrt.»

Judas schweigt.

Schon sind sie am ersten Haus des Dorfes angekommen, und Jesu sagt, als würde er zu sich selber sprechen: «Wenn ich bedenke, daß ich harte Buße getan habe, auf daß er sein Unrecht einsehe und zum Vater zurückkehre...»

Judas zuckt zusammen, hebt den Kopf hoch, schaut ihn an... sagt aber kein Wort.

Auch Jesus schaut ihn an... und fragt dann: «Judas, zu wem rede ich?»

«Zu mir, Meister. Deinetwegen habe ich keine Macht mehr, weil du sie mir genommen hast, um Johannes, Simon, Jakobus und allen andern mehr davon zu verleihen als mir. Du liebst mich nicht, das ist es! Ich werde noch soweit kommen, daß ich dich nicht mehr liebe und die Stunde verwünsche, in der ich dich geliebt habe und in den Augen der Welt für einen verzagten, unkriegerischen König, der sich vom Pöbel überwältigen läßt, mein Ansehen verloren habe. Das habe ich nicht von dir erwartet!»

«Auch ich habe so etwas nicht von dir erwartet, doch habe ich dich nie betrogen und dich nie zu etwas gezwungen. Warum bleibst du also an meiner Seite?»

«Weil ich dich liebe und mich nicht mehr von dir trennen kann. Du

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ziehst mich an und erregst zugleich Abscheu in mir. Ich verlange nach dir wie nach der Luft zum Atmen, und... du flößest mir Angst ein. Ach, ich bin verflucht! Ich bin verdammt! Warum befreist du mich nicht vom Teufel, du, der du es kannst?» Das Gesicht des Judas ist fahl und verzerrt. Wahnsinn, Furcht und Haß zeichnen sich darauf ab... Es erinnert schon, wenn auch nur schwach, an die satanische Maske des Judas am Karfreitag.

Das Antlitz Jesu hingegen gemahnt an den gegeißelten Nazarener, der im Hofe des Prätoriums auf einer umgestülpten Bütte sitzt und mit unendlich liebevoller Barmherzigkeit auf die schaut, die ihn verspotten. Er sagt, und mir scheint, ein Schluchzen sei schon in seiner Stimme zu hören: «Warum verspürst du keine Reue in dir, sondern nur Haß gegen Gott, als ob er an deiner Sünde Schuld trüge?»

Judas stößt einen häßlichen Fluch aus...

«Meister, wir haben Unterkunft gefunden, fünf in einem Haus, drei in einem andern, zwei in einem weiteren, und je einer wiederum in zwei andern Häusern. Anders war es nicht möglich», sagen die Jünger.

«Gut. Ich gehe mit Judas von Kerioth», sagt Jesus.

«Nein, ich ziehe es vor, allein zu bleiben. Ich bin unruhig und würde dich nicht schlafen lassen ...»

«Wie du willst... Dann werde ich mit Bartholomäus gehen, und ihr könnt tun, wie es euch beliebt. Zunächst gehen wir in das Haus, in dem am meisten Platz ist, um miteinander zu Abend zu essen.»

384. AUF DEM WEG NACH MEIRON

Der schöne Sonnenaufgang eines Frühlingstages rötet den Himmel und läßt die Hügel in einem angenehmen Licht leuchten. Die Jünger erfreuen sich daran, während sie sich am Eingang des Dorfes versammeln und auf die Nachzügler warten.

«Dies ist nach den Hagelschauern der erste nicht mehr so kalte Tag», sagt Matthäus und reibt sich die Hände.

«Es ist die Zeit, in der es wärmer wird, denn wir sind im Neumond des Adar!» ruft Andreas aus.

«Gut so! Gut so! Wenn wir bei der Kälte der letzten Tage hätten in die Berge gehen müssen!» bemerkt Philippus.

«Aber wohin geht es denn?» fragt Andreas.

«Wer weiß! Von hier kann man nach Sefed oder nach Meiron gehen, aber dann?» antwortet ihm Jakobus des Zebedäus und wendet sich an die beiden Söhne des Alphäus: «Wißt ihr, wohin es geht?»

«Jesus hast uns gesagt, daß er nach Norden gehen will, und nichts weiter», sagt Judas des Alphäus lakonisch.

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«Noch einmal? Im nächsten Monat müssen wir schon die österliche Pilgerfahrt beginnen ...», sagt Petrus nicht sehr begeistert.

«Es verbleibt uns noch reichlich Zeit», entgegnet Thaddäus.

«ja, aber kein Ausruhen in Bethsaida ...»

«Wir werden sicher dort vorbeikommen, um die Frauen und Margziam abzuholen», entgegnet Philippus dem Petrus.

«Um eines möchte ich euch bitten: Zeigt euch nicht etwa gelangweilt, unwillig oder dergleichen. Jesus ist zutiefst betrübt... Gestern Abend hat er geweint. Ich habe es gesehen, während wir das Abendessen vorbereitet haben. Er betete nicht draußen auf der Terrasse, wie wir glaubten, sondern er weinte», sagt Johannes.

«Hast du ihn gefragt, weshalb er weint?» wollen alle wissen.

«Ja, aber er hat mir nur gesagt: "Liebe mich, Johannes."»

«Vielleicht... war es wegen jenen von Chorazim?»

Der Zelote, der sie in diesem Augenblick einholt, sagt: «Da kommt der Meister mit Bartholomäus. Wir wollen ihm entgegengehen.»

Sie gehen und setzen ihre Unterhaltung fort: «Oder war es etwa wegen Judas? Gestern abend waren sie miteinander allein ...» sagt Matthäus.

«Natürlich; und Judas hat vorher gesagt, daß er unruhig sei und niemand um sich haben wolle», bemerkt Philippus.

«Nicht einmal mit dem Meister wollte er zusammen sein, und ich wäre so gern bei ihm geblieben!» seufzt Johannes.

«Auch ich!» sagen alle anderen.

«Dieser Mann gefällt mir nicht... Entweder ist er krank oder verhext, irrsinnig oder besessen... Irgend etwas ist mit ihm», sagt Thaddäus mit Bestimmtheit.

«Und doch, ihr könnt es mir glauben, auf der Rückreise hat er sich vorbildlich benommen und stets den Meister und dessen Interessen verteidigt, wie keiner von uns es je getan hat. Ich habe es selbst gesehen und gehört und hoffe, daß ihr nicht an meinen Worten zweifelt», sagt Thomas.

«Meinst du, daß wir dir nicht glauben? Ach nein, Thomas, es freut uns, daß Judas besser ist als wir. Aber du siehst es doch ein, daß er eigenartig ist», entgegnet Andreas.

«Oh, sicher ist er eigenartig, doch vielleicht leidet er in seinem Innersten wegen irgendetwas... und vielleicht auch, weil er kein Wunder gewirkt hat. Er ist etwas stolz, im positiven Sinn, und es liegt ihm daran, viel zu tun und öffentlich dafür gelobt zu werden...»

«Hm! Mag sein. Tatsache ist, daß der Meister traurig ist. Schaut ihn doch an und sagt mir, ob er noch der Mann ist, der er war, als wir ihn kennengelernt haben. Aber es lebe der Herr! Wenn es mir gelingt, den zu entdecken, um dessentwillen der Meister leidet... Genug! Dann weiß ich, was ich ihm antun werde», sagt Petrus.

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Jesus, der eifrig mit Nathanael spricht, erblickt sie, lächelt, und beschleunigt seine Schritte.

«Der Friede sei mit euch! Seid ihr alle da?»

«Nur Judas des Simon fehlt, und ich habe geglaubt, er sei bei dir, denn im Haus, in dem er übernachten sollte, hat man mir gesagt, sie hätten sein Zimmer leer und in Ordnung vorgefunden», erklärt Andreas.

Jesus runzelt einen Augenblick die Stirn und senkt gedankenverloren sein Haupt. Nach einer Weile sagt er: «Es macht nichts, wir brechen trotzdem auf. Sagt jenen bei den letzten Häusern, daß wir nach Meiron und von dort nach Gischala gehen werden, und sollte Judas uns suchen, so möchten sie ihn dorthin schicken. Laßt uns gehen.»

Alle spüren eine Gewitterstimmung und gehorchen atemlos. Jesus fährt fort, sich mit Bartholomäus zu unterhalten, indem er den anderen einige Schritte vorangeht. Ihrem Gespräch entnehme ich große Namen, wie Hillel, Jael, Barak und andere berühmte Männer des Landes, sowie bewundernde Bemerkungen über große Gelehrte. Auch Bedauern entnimmt man den Worten des Bartholomäus.

«Ach, wäre doch der große Weise noch am Leben. Hillel war gut, aber auch streng mit sich selbst. Er hätte sich nicht beeinflussen lassen und hätte selbst geurteilt!»

«Nimm es nicht zu schwer, Bartholomäus, und preise den Herrn, der ihn in seinen Frieden aufgenommen hat; so wurde der Geist des Weisen nicht durch den großen Haß gegen mich bedrängt.»

«Mein Herr! Nicht nur Haß!»

«Mehr Haß als Liebe, Freund, und so wird es immer sein.»

«Sei nicht traurig, wir werden dich verteidigen...»

«Es ist nicht die Angst vor dem Tod, die mich peinigt, sondern die Sünden der Menschen.»

«Der Tod, nein... Sprich nicht vom Tod, denn so weit werden sie es nicht kommen lassen ... weil sie sich fürchten...»

«Der Haß wird stärker sein als die Furcht, Bartholomäus, und wenn ich einst gestorben und in der Seligkeit des Himmels bin, dann sage zu den Menschen: "Nicht so sehr wegen des Todes litt er als wegen eures Hasses! "»

«Meister! Meister! Meister! Sprich nicht so! Niemand haßt dich so sehr, daß er dich umbringen würde. Zudem würdest du es immer verhindern können, du, der du so mächtig bist!»

Jesus lächelt traurig, ich würde fast sagen, wehmütig, während er gemessenen Schrittes die Gebirgsstraße nach Meiron hinaufgeht. Je höher sie steigt, umso schöner wird der sich bietende Blick auf den See von Tiberias, der an einer schluchtartigen Stelle zwischen den Hügeln erscheint. Man sieht auch die wie eine Kette aneinandergereihten benachbarten Hügel, welche die Sicht auf den Meronsee verdecken, und jenseits des Sees

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von Tiberias die Hochebene von Transjordanien und die zerklüfteten Berge des fernen Hauran, der Trachonitis und von Peräa.

Jesus deutet in Richtung Nord-Nordosten und sagt: «Nach dem Passahfest werden wir dorthin gehen müssen, in den Landesteil des Philippus, und werden so gerade genügend Zeit haben, um an Pfingsten wieder in Jerusalern zu sein.»

«Aber wäre es nicht besser, jetzt dorthin zu gehen, über Transjordanien zu den Jordanquellen... und über die Dekapolis zurückzukehren...»

Jesus fährt sich müde mit der Hand über die Stirn und sagt ruhig: «Ich weiß nicht, ich weiß es wirklich noch nicht, Bartholomäus!» Wieviel Trostlosigkeit, Schmerz und Flehen verrät seine Stimme.

Bartholomäus neigt sich ein wenig, betroffen von diesem eigenartigen Ton, der ihm neu ist, und sagt mit liebevollem Eifer: «Meister, was hast du? Was willst du vom alten Nathanael?»

«Nichts, Bartholomäus! ... Dein Gebet ... auf daß ich erkennen möge, was zu tun ist! Man ruft uns, Bartholomäus ... Wir wollen hier anhalten...»

Bei einer Baumgruppe bleiben sie stehen, und sehen nahe einer Wegbiegung die anderen in einer Gruppe. «Meister! Judas ist außer Atem, so schnell rennt er uns nach ...»

«Dann laßt uns auf ihn warten.» Tatsächlich kommt Judas im Laufschritt an. «Meister, ich bin etwas verspätet... ich habe verschlafen ...»

«Wo denn? Ich habe dich doch im Haus nicht vorgefunden.» fragt Andreas verwundert.

Judas ist einen Augenblick sprachlos, doch dann faßt er sich plötzlich und sagt: «Oh, es tut mir leid, daß meine Buße aufgedeckt worden ist! Ich bin die ganze Nacht im Wald gewesen um zu beten und Opfer zu bringen... Beim Morgengrauen hat mich der Schlaf übermannt. Ich bin ein Schwächling... doch der Allerhöchste wird Nachsicht mit seinem Diener haben. Nicht wahr, Meister? Ich bin zu spät aufgewacht und noch ganz schlaftrunken.»

«Ja wirklich, man sieht dir an, daß du ganz erschöpft bist», bemerkt Jakobus des Zebedäus.

Judas lacht. «Ach ja! Aber meine Seele ist nun froher. Das Gebet tut gut, die Buße gibt ein fröhliches Herz und verleiht Demut und Großmut. Meister, verzeih deinem törichten Judas ...» und er kniet zu Füßen Jesu nieder.

«Ja. Steh auf, und laßt uns gehen.»

«Gib mir Frieden durch deinen Kuß, zum Zeichen dafür, daß du mir meine gestrigen Launen verziehen hast. Ich wollte nicht bei dir sein, das stimmt, doch es war nur, weil ich beten wollte ...»

«Dann hätten wir zusammen beten können ...»

Judas sagt lachend: «Nein, du hättest heute Nacht nicht mit mir beten können, oder dort sein, wo ich war ...»

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«Oh, das wäre noch schöner! Warum denn nicht? Er ist immer bei uns, und er hat uns beten gelehrt!» sagt Petrus erstaunt.

Alle lachen, außer Jesus. Er schaut Judas streng an, der ihn geküßt hat und ihn mit lachenden, verschmitzten Augen anblickt, als ob er ihn herausfordern wollte.

Er wagt es sogar nocheinmal zu fragen: «Nicht wahr, du hättest heute Nacht nicht bei mir sein können?»

«Ich hätte nicht bei dir sein können. Ich konnte es nicht und werde niemals die Vereinigung meines Geistes mit meinem Vater mit einem dritten, der nur Mensch ist, wie du es bist, teilen können, und noch dazu an den Orten, wo du hingehst... Ich liebe die Einsamkeit, dort, wo nur Engel anwesend sind, um zu vergessen, daß der Mensch ein stinkendes Fleisch ist, von Sinnlichkeit, Gold, der Welt und Satan verdorben.»

Judas lacht nicht einmal mehr mit den Augen und antwortet ernst: «Du hast recht und dein Geist hat das Wahre erkannt. Wohin gehen wir nun?»

«Die Gräber der großen Rabbis und der Helden Israels zu ehren.»

«Was? Wie? Gamaliel liebt dich doch nicht und die anderen hassen dich sogar», sagen viele unter ihnen.

«Das macht nichts, ich verneige mich ja vor den Gräbern der Gerechten, die auf ihre Erlösung warten, um zu ihren Gebeinen zu sagen: "Bald wird der, der euren Geist belebte, im Himmelreich sein, um am Jüngsten Tage von dort herabzusteigen und euch im Paradies für alle Ewigkeit zu neuem Leben zu erwecken."»

Sie gehen immer weiter, bis sie das Dorf Meiron erreichen. Es ist schön, in gutem Zustand, voller Licht und Sonne, und liegt zwischen fruchtbaren Hügeln und Gipfeln.

«Hier halten wir an, und am Nachmittag werden wir nach Gischala weitergehen, wo die großen Gräber zwischen diesen Hängen die Stunde des glorreichen Erwachens erwarten.»

385. AM GRABE HILLELS IN GISCHALA

Beim Verlassen der Ortschaft Meiron nimmt Jesus mit seinen Aposteln einen Weg, der in Richtung Nordwesten führt und immer noch in einer gebirgigen Gegend zwischen Gebüsch und Weiden verläuft und weiter ansteigt. Vielleicht haben sie die Gräber schon besucht, denn ich höre, wie sie miteinander darüber sprechen.

Jetzt ist es ausgerechnet Iskariot, der mit Jesus vorausgeht. Natürlich haben sie in Meiron Almosen empfangen und gegeben, daher legt Judas Rechenschaft ab, wie viele Gaben sie empfangen und wieviele Almosen sie

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gegeben haben, und schließt mit den Worten: «Hier ist auch meine Spende. Ich habe mir heute Nacht geschworen, dir diese für die Armen zu geben als Buße. Es ist nicht viel, denn ich habe ja nicht viel Geld. Aber ich habe meine Mutter überredet, mir öfters etwas durch einen meiner vielen Freunde zukommen zu lassen. Früher hatte ich immer viel Geld bei mir, wenn ich das Haus verließ. Aber diesmal habe ich nur so viel mitgenommen, wie ich für die Dauer der Reise nötig hatte, da ich allein oder nur mit Thomas durch die Berge wandern mußte. Es ist besser so. Nur... werde ich dich hie und da bitten müssen, mich für einige Stunden von euch trennen zu dürfen, um zu meinen Freunden zu gehen. Ich habe schon alles vereinbart... Meister, soll ich weiterhin das Geld verwalten? Vertraust du mir noch?»

«Judas, du sagst immer alles von dir aus, und ich weiß nicht, weshalb du das tust. Du sollst wissen, daß sich für mich nichts geändert hat... denn ich hoffe, daß du dich dadurch bessern und wieder der frühere Jünger und Gerechte werden wirst. Und ich bete und leide für deine Bekehrung.»

«Du hast recht, Meister, und mit deiner Hilfe werde ich es ganz gewiß! Übrigens... es sind Unvollkommenheiten der Jugend, belanglose Dinge, die sogar helfen, unsere Mitmenschen verstehen und heilen zu können.»

«Wahrlich, Judas, deine Auffassung der Moral ist sehr eigenartig! Ja, ich müßte noch mehr sagen. Niemals hat es einen Arzt gegeben, der freiwillig erkrankt wäre, um danach sagen zu können: "Nun kann ich die Kranken besser von diesem Übel heilen." So bin ich also unfähig?»

«Wer sagt das, Meister?»

«Du! Ich begehe keine Sünden, daher bin ich also auch nicht imstande, die Sünder zu bekehren.»

«Du bist du, aber wir sind nicht wie du und bedürfen der Erfahrung, um zu wissen, wie wir handeln sollen.»

«Das ist deine alte Idee, dieselbe, die du schon vor zwanzig Monaten gehabt hast, nur warst du damals noch der Meinung, daß ich sündigen müßte, um erlösen zu können. Wahrlich, es wundert mich, daß du nicht versucht hast, diesen meinen... Fehler entsprechend deiner Denkart zu verbessern und mich zu befähigen, die Sünder zu verstehen.»

«Du scherzest, Meister, und das freut mich, denn du hast mir leid getan, als ich dich so traurig sah. Daß ausgerechnet ich es bin, der dich zum Scherzen veranlaßt, bereitet mir doppelte Freude. Aber ich habe nie daran gedacht, mich als dein Lehrmeister aufzuspielen. Übrigens siehst du, daß ich meine Denkart geändert habe, da ich erkläre, daß diese Erfahrung nur für uns notwendig ist, für uns arme Menschen! Du bist der Sohn Gottes, nicht wahr? Also besitzest du eine Weisheit, die keiner Erfahrung bedarf, um diese Weisheit zu sein.»

«Nun gut, dann mußt du wissen, daß auch die Unschuld Weisheit ist,

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und zwar eine viel größere Weisheit als die niedrige, gefährliche Erfahrung des Sünders. Wo die heilige Unkenntnis des Bösen der Fähigkeit, sich selbst und andere zu führen, Grenzen setzen würde, schaltet sich die Hilfe der Engel ein, die niemals dem Herz des Reinen ferne sind. Glaube mir, daß die Engel, die selbst vollkommen rein sind, ebenfalls zwischen Gut und Böse zu unterscheiden wissen und den Reinen auf den rechten Weg führen und zum Guten anleiten. Die Sünde ist keine Vermehrung der Weisheit, sie ist weder Licht noch Führung, sondern Verderben, Verblendung; sie ist Chaos, so daß, wer sie ernstlich begangen hat, ihren Geschmack kennt, jedoch auch die Fähigkeit verliert, viele geistige Dinge zu verstehen. Der Sünder hat keinen Engel Gottes mehr zur Seite, keinen Geist der Ordnung und der Liebe, der ihn leitet, sondern einen Engel Satans, der ihn zu immer größerer Unordnung treibt durch den unersättlichen Haß, der diese teuflischen Geister verzehrt.»

«Höre, Meister! Wenn nun einer wieder einen Engel als Führer haben will, genügt dann die Reue, oder wirkt das Gift der Sünden weiter, auch nachdem er bereut hat und ihm vergeben worden ist... Weißt du, wenn einer, der sich zum Beispiel dem Weine ergeben hat, auch aufrichtig schwört, daß er sich nie mehr betrinken wird, so verspürt er doch immer wieder den Drang zu trinken und leidet darunter...»

«Gewiß leidet er, und gerade deswegen sollte man nie zum Sklaven von etwas Schlechtem werden. Aber leiden ist nicht Sünde, sondern Sühne, so wie ein reumütiger Trinker nicht sündigt, sondern Verdienste sammelt, wenn er dem Verlangen nach Wein heroisch widersteht, so sammelt auch derjenige Verdienste, der gesündigt hat, bereut und jeder Versuchung widersteht. Ihm wird es nicht an übernatürlicher Hilfe fehlen. Versucht zu werden ist noch keine Sünde, nein, es ist vielmehr eine Schlacht, die zum Sieg führt. Glaube mir, Gott hat nur das Verlangen, dem, der gefehlt hat, aber dann bereut, zu verzeihen und zu helfen...»

Judas schweigt eine Weile, dann ergreift er die Hand Jesu und küßt sie mit den Worten: «Aber gestern abend habe ich das Maß überschritten und dich beschimpft, Meister... Ich habe gesagt, daß ich dich schließlich hassen werde... Wie viele Flüche habe ich ausgesprochen! Kann mir dies je verziehen werden?»

«Die größte Sünde ist, an der Barmherzigkeit Gottes zu zweifeln... Judas, und ich habe es schon gesagt: "Jede Sünde gegen den Menschensohn wird verziehen werden." Der Menschensohn ist gekommen, den Menschen zu verzeihen, sie zu retten, zu heilen, und sie zum Himmel zu führen. Warum willst du den Himmel verlieren? Judas! Judas! Judas! Schau mich an! Wasche deine Seele in der Liebe, die aus meinen Augen strahlt ...»

«Aber errege ich keinen Abscheu in dir?»

«Ja... Aber die Liebe ist stärker als der Abscheu. Judas, armer

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Aussätziger, größter Aussätziger Israels, komm und flehe den um das Heil an, der es dir geben kann...»

«Gib es mir, Meister!»

«Nein, in diesem Zustand nicht, denn ich sehe in dir keine wahre Reue und keinen festen Willen, nur einen Rest von Liebe zu mir, die dir aus vergangener Berufung eigen ist. Ich sehe ein Hin- und Herschwanken in deiner Reue, die nur menschlich ist. All das ist nicht schlecht, nein, es ist sogar der erste Schritt zum Guten. Pflege, vermehre, veredle sie mit Übernatürlichem, mache daraus eine wahre Liebe zu mir, eine wahre Rückkehr zu dem, was du warst, als du zu mir kamst; wenigstens das, wenigstens das! Mache daraus nicht den vorübergehenden Herzschlag einer unwirksamen Sentimentalität, sondern ein wahres Gefühl tatkräftiger Neigung zum Gutem. Judas, ich warte, und ich kann warten. Ich bete. Ich bin es, der in dieser Erwartung deinen angewiderten Engel ersetzt. Meine Barmherzigkeit, meine Geduld und meine Liebe, die in ihrer Vollkommenheit jene der Engel übertreffen, vermögen helfend an deiner Seite zu bleiben, trotz der abstoßenden Fäulnis, die in deinem Herzen gärt!»

Judas ist nicht nur nach außen hin, sondern innerlich erschüttert. Bleich, mit zitternden Lippen und einer durch das, was ihn bewegt, unsicher gewordenen Stimme, fragt er: «Aber weißt du denn wirklich, was ich getan habe?»

«Alles, Judas! Willst du, daß ich es dir sage oder ziehst du es vor, daß ich dir diese Demütigung erspare?»

«Aber... ich kann es nicht glauben... das ist es...»

«Gehen wir also die Ereignisse zurückschauend durch und sagen wir dem Ungläubigen die Wahrheit. Du hast heute morgen schon mehrmals gelogen, sowohl wegen des Geldes, als auch darüber, wie du die vergangene Nacht verbracht hast. Du hast gestern abend versucht, durch die Wollust alle deine anderen Gefühle, allen Haß und alle Gewissensbisse zu verdrängen. Du ...»

«Genug! Genug! Bitte, sprich nicht weiter, oder ich werde vor deinem Antlitz fliehen.»

«Du müßtest hingegen meine Knie umfassen und um Verzeihung bitten.»

«Ja, ja. Verzeihung! Verzeihung, mein Meister! Verzeihung! Hilf mir! Hilf mir! Es ist stärker als ich! Alles ist stärker als ich.»

«Alles, außer der Liebe, die du für Jesus haben solltest... Aber komm hierher, damit ich deine Versuchung besiege und dich davon befreie.» Er nimmt ihn in seine Arme, und stille Tränen fließen auf das dunkle Haupt des Judas.

Die anderen, einige Meter hinter ihnen, sind vorsichtigerweise stehengeblieben und bemerken:

«Seht ihr? Vielleicht tut es Judas wirklich leid.»

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«Also hat er heute morgen dem Meister sein Herz ausgeschüttet.»

«Der Dummkopf! Ich hätte es sofort getan.»

«Es wird sich wohl um peinliche Dinge handeln.»

«Oh, sicher nicht um das schlechte Betragen seiner Mutter! Sie ist eine rechtschaffene Frau! Was gäbe es sonst noch Peinliches?»

«Vielleicht schlechte Geschäfte...»

«Aber nein! Er spendet Almosen und erweist den Armen reichlich Wohltaten.»

«Gut, das sind seine Angelegenheiten. Hauptsache, daß er mit dem Meister auskommt, und es scheint, daß es so ist. Sie sprechen schon seit einiger Zeit friedlich miteinander, und jetzt umarmen sie sich... Sehr gut!»

«Ja, da er fähig ist und viele Beziehungen hat, ist es gut, wenn wir uns miteinander vertragen und er uns, und besonders dem Meister gegenüber, guten Willen zeigt.»

«Jesus hat in Hebron gesagt, daß die Gräber der Gerechten Orte des Wunders sind, oder ähnliches... und in dieser Gegend gibt es viele. Vielleicht haben die von Meiron ein Wunder gewirkt und Judas von seiner Verwirrung befreit.»

«Oh! So wird er dann am Grabe Hillels ein Heiliger werden. Ist das dort nicht Gischala?»

«Ja, Bartholomäus.»

«Aber voriges Jahr sind wir hier nicht vorbeigekommen.»

«Gewiß, denn damals kamen wir von der anderen Seite!»

Jesus wendet sich und ruft sie. Sie eilen freudig herbei.

«Kommt, die Stadt ist in Sicht. Wir müssen sie durchqueren, um zur Grabstätte Hillels zu gelangen, und wollen es in einer geschlossenen Gruppe tun», sagt Jesus ohne weitere Erklärung, während die Elf ihn und Judas neugierig und verstohlen betrachten. Wenn auch Judas ein beruhigtes und demütiges Gesicht zeigt, hat doch Jesus kein strahlendes Antlitz, es ist feierlich, aber ernst.

Sie betreten Gischala, das ausgedehnt, schön und gut gepflegt ist. Ein blühendes rabbinisches Zentrum muß hier seinen Sitz haben, denn ich sehe viele Gruppen von Gelehrten umringt von Schülern, die ihren Vorträgen zuhören. Das Vorübergehen der Apostel und besonders des Meisters fällt auf, und viele schließen sich ihrer Gruppe an. Einige grinsen, andere rufen Judas von Kerioth. Aber er ist an der Seite des Meisters und dreht sich nicht einmal um. Sie verlassen die Stadt und gehen zu dem Hause, in dessen Nähe das Grab Hillels liegt.

«Welch eine Unverschämtheit!»

«Er ist unvorsichtig und unverschämt!»

«Er fordert uns heraus!»

«Schänder!»

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«Sag es ihm, Uriel!»

«Ich will mich nicht verunreinigen. Sag du es ihm, Saulus, der du nur ein Schüler bist.»

«Nein. Wir wollen es Judas sagen. Geh und rufe ihn herbei!»

Der mit Saulus angesprochene Jüngling, ein schmächtiger, bleicher Bursche, nur Augen und Mund, geht zu Judas und sagt zu ihm: «Komm. Die Rabbis wollen dich sehen.»

«Ich komme nicht. Ich bleibe, wo ich bin. Laßt mich in Ruhe.»

Der Jüngling kehrt um und richtet seinen Vorgesetzten die Antwort des Judas aus.

Inzwischen betet Jesus im Kreise der Seinen ehrfurchtsvoll beim schneeweiß gekalkten Grabe Hillels.

Die Rabbis kommen langsam näher, geräuschlos wie Schlangen, und beobachten. Zwei bärtige Alte ziehen Judas am Gewand, der in seiner Gebetsstellung nicht mehr von den anderen Kameraden geschützt wird.

«Was wollt ihr denn eigentlich?» fragt er leise, aber gereizt. «Nicht einmal beten kann man!»

«Nur ein Wort! Dann lassen wir dich in Frieden.»

Simon der Zelote und Thaddäus drehen sich um und bringen die Störenfriede zum Schweigen. Judas entfernt sich zwei oder drei Schritte und fragt: «Was wollt ihr?»

Ich kann nicht hören, was ihm der Alte ins Ohr flüstert. Aber ich sehe die Bewegung des Judas, der plötzlich zur Seite springt und sagt: «Nein. Laßt mich in Ruhe, ihr giftigen Seelen. Ich kenne euch nicht und will euch nicht mehr kennen!»

Ein verächtliches Gelächter erschallt in der rabbinischen Gruppe, und eine Drohung: «Paß auf, was du tust, du törichter Junge!»

«Hütet ihr euch! Weg von hier! Geht nur und sagt es den anderen. Allen anderen, habt ihr verstanden? Wendet euch an wen ihr wollt, aber nicht an mich, Teufel, die ihr seid», und er läßt sie stehen.

Er hat so laut gesprochen, daß die Apostel sich erstaunt umgedreht haben, nur Jesus nicht, und zwar nicht einmal bei dem höhnischen Gelächter und dem Versprechen: «Wir werden uns wiedersehen, Judas des Simon! Wir werden uns wiedersehen!», das in der Stille des Ortes widerhallt. Judas kehrt an seinen Platz zurück, schiebt Andreas zur Seite, der sich neben Jesus gestellt hat, und nimmt, wie zum Schutz und zur Verteidigung, einen Zipfel des Gewandes Jesu in seine Hände.

Der Zorn wird nun an Jesus ausgelassen. Sie drängen sich vor, drohen und schreien: «Was tust du hier, du von Israel Verfluchter? Fort mit dir! Bringe die Gebeine des Gerechten nicht zum Schaudern, du, der du nicht würdig bist, dich ihm zu nähern. Wir werden es Gamaliel berichten und dich bestrafen lassen.»

Jesus wendet sich um und schaut sie einen nach dem anderen an.

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«Warum schaust du uns so an, du Besessener?»

«Um eure Gesichter und eure Herzen gut zu erforschen, denn nicht nur mein Apostel, sondern auch ich werde euch wiedersehen. Ich möchte euch gut kennengelernt haben, um euch sogleich gut wiederzuerkennen.»

«Gut. Nun hast du uns gesehen, geh jetzt fort. Wenn Gamaliel hier wäre, würde er es nicht erlauben.»

«Im vergangenen Jahr war ich mit ihm zusammen hier...»

«Das ist nicht wahr, du Lügner!»

«Fragt ihn, er ist ehrlich und wird es euch bestätigen. Ich liebe und verehre Hillel, und ich achte und ehre Gamaliel. Sie sind zwei Menschen, in denen sich der Ursprung des Menschen offenbart durch ihre Gerechtigkeit und Weisheit, welche daran erinnern, daß der Mensch nach dem Ebenbilde Gottes erschaffen wurde.»

«In uns nicht, he?» unterbrechen ihn die Erbosten.

«In euch ist dies durch Interessen und Haß getrübt.»

«Hört ihn! Im fremden Haus redet und beleidigt er auf solche Weise. Fort mit dir! Fort von hier, du Verderber der Gerechten Israels! Oder wir werden zu Steinen greifen. Hier ist nicht Rom, um dich zu beschützen, der du mit den heidnischen Feinden liebäugelst ...»

«Warum haßt ihr mich? Warum verfolgt ihr mich? Was habe ich euch angetan? Alle habe ich stets geachtet, und einigen unter euch habe ich sogar Wohltaten erwiesen. Warum seid ihr so grausam zu mir?» Jesus, demütig, sanft, betrübt und liebevoll, fleht sie an, ihn zu lieben.

Man deutet diese Worte als Zeichen der Furcht und Schwäche und bedrängt ihn. Der erste Stein fliegt und streift Jakobus des Zebedäus. Dieser will rasch zurückschlagen und den Stein auf die Angreifer schleudern, während sich alle um Jesus scharen. Aber sie sind zu zwölft gegen etwa hundert. Ein anderer Stein trifft die Hand Jesu, der den Seinen gerade befiehlt, sich nicht zu wehren. Der Handrücken blutet, und es scheint als wäre er bereits vom Nagel durchbohrt...

Jetzt bittet Jesus nicht mehr; er richtet sich mit seiner eindrucksvollen Gestalt auf und schaut sie mit blitzenden Augen an. Aber ein weiterer Stein bringt die Schläfe Jakobus des Alphäus zum Bluten. Jesus muß jegliches weitere Vorgehen durch seine Macht lähmen, um seine Apostel zu verteidigen, die gehorsam und widerstandslos die Steinwürfe über sich ergehen lassen.

Als die Niederträchtigen vom Willen Jesu beherrscht sind, sagt er -und er ist von einer erschreckenden Majestät – mit donnernder Stimme: «Ich gehe fort! Aber wißt, daß Hillel euch für diese eure Tat verflucht hätte. Ich gehe fort. Aber vergeßt nicht, daß nicht einmal das Rote Meer die Israeliten auf dem Weg, den Gott ihnen vorgezeichnet hatte, aufhalten konnte. Alles ebnete sich und bereitete dem Willen Gottes Weg und Durchgang, und das gilt auch für mich. Wie damals Ägypter und Philister,

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Amoniter und Kananiter, und alle anderen Völker den Triumphzug Israels nicht aufhalten konnten, so werdet auch ihr, die ihr noch schlimmer seid als jene, mich in meiner Mission nicht aufhalten können. Vergeßt nicht, daß am Brunnen des von Gott geschenkten Wassers gesungen wurde: "Spring auf, Brunnen! Spring auf! Du Brunnen, von Fürsten gegraben, gebohrt von den Edlen des Volkes mit dem Zepter, mit ihren Stäben!" Ich bin jener Brunnen, der Brunnen von den Himmeln, gebohrt durch alle Gebete und gerechten Werke der wahren Fürsten und Edlen des heiligen Volkes, das ihr nicht seid! Nein, ihr seid es nicht! Euretwegen wäre der Messias nicht gekommen, denn ihr verdient es nicht, und seine Ankunft ist euer Verderben. Der Allerhöchste kennt alle Gedanken der Menschen, er kannte sie seit aller Ewigkeit, schon bevor Kain war, von dem ihr abstammt, und Abel, dem ich ähnlich bin, schon bevor Noe, mein Sinnbild, war; schon bevor Moses war, der als erster mein Zeichen annahm, schon bevor Bileam war, der den Stern voraussagte, und Isaias und alle Propheten. Gott kennt eure Gedanken und erschaudert, und ist stets darüber erschaudert, so wie er immer über die Gerechten gejubelt hat, um deretwillen er mich gerechterweise gesandt hat, und die mich wahrlich aus der Tiefe der Himmel angezogen haben, auf daß ich den Durst der Menschheit mit lebendigem Wasser stille. Ich bin die Quelle des ewigen Lebens, aber da ihr euch an ihr nicht laben wollt, werdet ihr sterben.»

Langsam schreitet er zwischen den gelähmten Rabbis und ihren Schülern hindurch und setzt geruhsam und feierlich seinen Weg fort, im staunenden Schweigen der Menschen und Dinge.

386. DER AN DER PHÖNIZISCHEN GRENZE GEHEILTE TAUBSTUMME

Ich weiß nicht, wo die Pilger übernachtet haben, ich sehe nur, daß es wieder Morgen ist und sie in bergigen Gegenden unterwegs sind, daß Jesus die Hand verbunden hat und Jakobus des Zebedäus einen Verband an der Stirne trägt, während Andreas stark hinkt und Jakobus des Zebedäus ohne Reisetasche ist, da sein Bruder Johannes sie ihm abgenommen hat.

Zweimal hat Jesus schon gefragt: «Kannst du noch gehen, Andreas?»

«Ja, Meister. Es geht schlecht wegen der Binden; aber der Schmerz ist nicht stark.»

Beim zweiten Mal fügt er hinzu: «Und deine Hand, Meister?»

«Eine Hand ist kein Fuß, sie ruht aus und schmerzt wenig.»

«Hin! Wenig, das glaube ich nicht. Sie ist so angeschwollen und aufgerissen bis zum Knochen... Das Öl tut gut. Aber vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir uns etwas von der Salbe deiner Mutter von...»

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«Von meiner Mutter hätten geben lassen. Du hast recht», sagt Jesus rasch, der ahnt, daß etwas über die Lippen von Petrus kommen will. Petrus errötet verwirrt und schaut Jesus mit einem so traurigen Blick an, daß dieser darüber lächelt und ausgerechnet die verletzte Hand auf die Schulter von Petrus legt, um ihn an sich zu ziehen.

«Es wird dich schmerzen, die Hand so zu halten.»

«Nein, Simon, du hast mich lieb, und deine Liebe ist heilsames Öl.»

«Oh, dann müßte deine Hand schon längst geheilt sein! Wir alle haben darunter gelitten, dich so behandelt zu sehen, und mancher hat auch geweint.» Petrus blickt auf Johannes und Andreas.

«Öl und Wasser sind gute Heilmittel, aber Tränen der Liebe und des Mitleids sind stärker als alles andere. Und seht ihr? Ich bin viel glücklicher als gestern, denn heute weiß ich, wie gehorsam und wie liebevoll ihr mir gegenüber seid. Ihr alle!» Jesus betrachtet sie mit seinem sanften Blick, in dessen gewohnter Traurigkeit heute morgen ein schwacher Schein von Freude aufleuchtet.

«Welche Hyänen! Nie habe ich einen solche Haß erlebt!» sagt Judas des Alphäus. «Das müssen alles Judäer gewesen sein.»

«Nein, Bruder. Er liegt nicht an der Gegend, Haß ist überall Haß. Erinnerst du dich nicht, daß man mich in Nazareth schon vor Monaten verjagt hat und Steine nach mir werfen wollte?» sagt Jesus ruhig, und seine Worte sollen alle trösten, die aus Judäa sind, nach der Bemerkung von Thaddäus.

Ja, sie sind so tröstlich, daß Judas Iskariot sagt: «Aber das werde ich sagen! Oh, und ob ich es sagen werde! Wir haben nichts Böses getan, nicht zurückgeschlagen, und Jesus hat am Anfang voller Liebe gesprochen. Mit Steinen haben sie nach uns geworfen, wie nach Schlangen. Das werde ich sagen!»

«Wem denn, wenn alle gegen uns sind?»

«Ich weiß, wem. Sobald ich Stephanus und Hermas sehe, werde ich es erst einmal ihnen berichten, und somit wird es Gamaliel unverzüglich erfahren. Dann am Passahfest werde ich es denen sagen, die ich im Sinn habe. Ich werde ihnen sagen: "Es ist nicht recht, so zu handeln, und in eurer Wut habt ihr gegen das Gesetz verstoßen. Ihr seid schuldig, und nicht er."»

«Du würdest besser tun, dich diesen Herren nicht zu sehr zu nähern! ... Mir scheint, daß auch du in ihren Augen schuldig bist», rät Philippus vorsichtig.

«Es ist wahr. Am besten ist es, wenn ich überhaupt nicht mehr mit ihnen zusammenkomme. Ja, das ist am besten. Stephanus jedoch werde ich es erzählen, denn er ist gut und nicht gehässig...»

«Laß das, Judas! Du würdest nichts zum Besseren wenden können. Ich habe verziehen. Denken wir nicht mehr daran», sagt Jesus ruhig und überzeugend.

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Zweimal, als sie zu einem Bächlein kommen, befeuchten sowohl Andreas als auch die beiden Jakobus die Binden, die sie um ihre Wunden traben. Jesus verzichtet darauf. Er geht ruhig weiter, als ob er keine Schmerzen hätte.

Trotzdem muß er starke Schmerzen haben, denn als sie zum Essen haltmachen, muß er Andreas bitten, das Brot zu brechen, und als sich die Riemen einer seiner Sandalen lösen, bittet er Matthäus, sie ihm wieder zu schnüren... Beim Abstieg auf einer steilen Abkürzung stößt er gegen einen Baumstumpf, weil sein Fuß ausgeglitten ist, und kann einen Klagelaut nicht unterdrücken. Der Verband rötet sich erneut, so daß sie beim ersten Hause eines Dorfes, in dem sie gegen Abend rasten, Wasser und Öl erbitten, um die Hand zu behandeln und neu zu verbinden; die rote Wunde in der Mitte ist stark angeschwollen und bläulich geworden.

Während sie darauf warten, daß die Frau des Hauses Wasser und Öl bringt, neigen sich alle über die verletzte Hand Jesu und sprechen ihr Bedauern aus. Johannes jedoch entfernt sich ein wenig, um seine Tränen zu verbergen. Jesus ruft ihn zu sich: «Komm nur her, es ist nicht schlimm. Weine nicht!»

«Ich weiß es, denn wenn ich die Wunde hätte, würde ich nicht weinen; aber du hast sie und sagst uns nicht, wie weh dir diese liebe Hand tut, die keinem Menschen Leid zugefügt hat», antwortet Johannes, dem Jesus seine blutende Hand überlassen hat. Er streichelt sie zärtlich an den Fingerspitzen, am Puls, rings um die Wunde, und wendet sie dann liebevoll, um die Handfläche zu küssen und seine Wange darauf zu legen, und sagt: «Sie ist heiß! ... Wie sehr muß dich die Wunde schmerzen», und Tränen des Mitleids fallen auf sie.

Die Frau bringt Wasser und Öl. Johannes trocknet mit einem Linnen das Blut auf, das die Hand bedeckt, und läßt vorsichtig das lauwarme Wasser auf die Wunde rinnen; dann salbt er sie, verbindet sie mit sauberen Binden und drückt zuletzt einen Kuß auf den Verband. Jesus legt ihm die andere Hand auf das geneigte Haupt.

Die Frau fragt: «Ist er dein Bruder?»

«Nein, er ist mein Meister. Unser Meister!»

«Woher kommt ihr denn?» fragt sie die anderen.

«Vom Galiläischen Meer.»

«Von so weit her, und warum?»

«Um das Heil zu verkünden.»

«Es ist bald Abend. Bleibt in meinem Haus. Es ist ein Haus armer, aber redlicher Menschen. Sobald meine Kinder mit den Schafen zurückkommen, kann ich euch Milch geben, und mein Mann wird euch gerne aufnehmen.»

«Danke, Frau! Wenn der Meister einverstanden ist, werden wir hierbleiben.»

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Die Frau kehrt zu ihrer Arbeit zurück, während die Apostel Jesus fragen, was sie tun sollen.

«Ja, es ist in Ordnung. Morgen werden wir nach Kedes gehen und dann nach Paneas. Ich habe darüber nachgedacht, Bartholomäus. Du hast mir einen guten Rat gegeben, und es ist besser, daß wir es so machen, wie, du sagst. Ich hoffe so noch andere Jünger zu finden, die ich dann nach Kapharnaum vorausschicken werde. Ich weiß, daß einige in Kedes gewesen sind, und unter ihnen die Hirten vom Libanon.»

«Die Frau läßt fragen, ob wir ihre Einladung annehmen?»

«Ja, gute Frau, wir bleiben heute Nacht hier.»

«Das Abendessen? Oh, nehmt es an, es macht mir keine Mühe. Außerdem haben uns einige Jünger von Jesus aus Galiläa, der der Messias genannt wird, viele Wunder wirkt und das Reich Gottes predigt, gelehrt, barmherzig zu sein. Zu uns ist Jesus noch nie gekommen, vielleicht weil wir an der syrisch-phönizischen Grenze leben. Aber seine Jünger waren da, und das ist schon viel! Zum Passahfest wollen wir alle aus dem Dorf nach Judäa gehen, um zu sehen, ob wir diesen Jesus finden, denn wir haben Kranke hier. Die Jünger haben wohl einige von ihnen geheilt, andere aber nicht, und unter ihnen ist ein junger Sohn des Bruders der Frau meines Schwagers.»

«Was hat er denn?» fragt Jesus lächelnd.

«Er kann weder sprechen noch hören. Er ist taubstumm zur Welt gekommen. Vielleicht hat sich ein Dämon in den Schoß der Mutter eingeschlichen, um sie zur Verzweiflung zu bringen und zu quälen. Aber der Sohn ist gut, und es scheint nicht, daß er besessen ist. Die Jünger haben gesagt, daß nur Jesus von Nazareth ihm helfen kann, da es sich um einen besonderen Fall handelt, und nur dieser Jesus von Nazareth... Oh, da kommen meine Söhne und mein Mann! Melchias, ich habe diese Pilger im Namen des Herrn aufgenommen und erzählte ihnen gerade von Levi... Sara, geh rasch Milch melken, und du, Samuel, geh zur Grotte hinunter, um Öl und Wein zu holen, und bringe auch Äpfel vom Dachboden. Beeile dich, Sara, wir müssen noch die Betten in den oberen Räumen vorbereiten.»

«Mühe dich nicht ab, Frau. Wir sind mit allem zufrieden und fühlen uns überall wohl. Könnte ich den Jungen sehen, von dem du gesprochen hast?»

«Ja... Aber... O Herr! Bist du vielleicht selbst der Nazarener?»

«Ich bin es!»

Die Frau fällt auf die Knie und ruft aus: «Melchias, Sara, Samuel! Kommt und huldigt dem Messias! Welch ein Tag! Welch ein Tag! Und ich darf ihn in meinem Haus aufnehmen und habe so einfach mit ihm gesprochen! Ich habe ihm Wasser für seine Wunde gebracht. Oh! ...» und ihr bleibt vor Erregung der Atem weg. Dann aber eilt sie zum Waschbecken

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und sieht, daß es leer ist. «Warum habt ihr das Wasser weggeschüttet! Es war heilig! O Melchias! Der Messias ist bei uns!»

«Ja. Aber beruhige dich Frau, und sage es niemandem. Geh vielmehr den Taubstummen holen und bringe ihn zu mir!» sagt Jesus lächelnd...

... Bald kehrt Melchias mit dem jungen Taubstummen, seinen Verwandten und fast dem halben Dorf zurück. Die Mutter des Unglücklichen betet und fleht Jesus an.

Jesus sagt: «Ja, dein Wunsch wird in Erfüllung gehen», und nimmt den Taubstummen bei der Hand. Er zieht ihn aus der dicht gedrängten Menge, welche die Apostel mit Rücksicht auf die verletzte Hand Jesu zurückzuhalten versuchen. Jesus holt den Taubstummen zu sich heran, steckt ihm die Zeigefinger in die Ohren und berührt mit der Zunge die halbgeöffneten Lippen; dann erhebt er seine Augen zum Himmel, der schon dunkel wird, haucht ins Gesicht des Taubstummen und ruft laut: «Öffnet euch!» Dann läßt er ihn gehen.

Der Jüngling schaut Jesus einen Augenblick an, während die Leute miteinander flüstern. Die Veränderung in seinem Gesicht ist überraschend, denn vorher schien er apathisch und traurig, während er jetzt erstaunt lächelt, seine Hände zu den Ohren führt, daraufdrückt und sie dann wieder wegnimmt. Er überzeugt sich, daß er tatsächlich hören kann, er öffnet den Mund und spricht: «Mama, ich höre! O Herr, ich bete dich an!»

Die Menge ist wie immer begeistert, umso mehr, als man sich fragt: «Wie ist es nur möglich, daß er schon sprechen kann, da er von Geburt an nie ein Wort gehört hat? Ein Wunder im Wunder! Er hat ihm die Stimme gegeben, die Ohren geöffnet und ihn zugleich sprechen gelehrt. Es lebe Jesus von Nazareth! Hosanna dem Heiligen, dem Messias!»

Man drängt sich um ihn, während er seine verletzte Hand zum Segen erhebt. Einige Leute waschen sich auf Anweisung der Hausfrau Gesicht und Glieder mit den restlichen Tropfen im Becken.

Jesus sieht es und ruft aus: «Um eures Glaubens willen, seid alle geheilt. Geht in eure Häuser, seit gut und redlich. Glaubt an das Wort der Frohbotschaft und bewahrt für euch, was geschehen ist, bis die Stunde kommt, um es auf den Plätzen und Straßen der Welt zu verkünden. Mein Friede sei mit euch!»

Hierauf betritt er die geräumige Küche, in der ein Feuer brennt und die durch die Flammen zweier Lampen erhellt wird.

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387. JESUS IN KEDES

Die Stadt Kedes liegt auf einem kleinen Berg, etwas abseits, im Osten einer langen Gebirgskette, die sich von Norden nach Süden hinzieht, während im Westen eine Hügelkette fast parallel dazu verläuft. Es sind zwei parallel verlaufende Linien, die sich in der Mitte einander etwas nähern und so fast ein X bilden. Gerade dort, wo sich die beiden Ketten am nächsten sind, erhebt sich der Berg, an dessen Hängen Kedes liegt, das sich von der Höhe nach allen Seiten hin ausbreitet und das frische, grüne Talgelände beherrscht, das im Osten enger ist als im Westen.

Es ist eine prächtige, von Mauern umgebene Stadt mit schönen Häusern und einer mächtigen Synagoge, sowie einem stattlichen Brunnen mit vielen Abflüssen, von denen sich kühles Wasser reichlich in ein darunterliegendes Becken ergießt, um es dann wieder in kleinen Bächlein zu verlassen, die dazu bestimmt sind, andere Brunnen zu speisen oder vielleicht Gärten zu bewässern, ich weiß es nicht.

Jesus betritt die Stadt an einem Markttage. Seine Hand ist nicht mehr verbunden, aber es ist noch eine braune Kruste und ein großer blauer Fleck auf dem Handrücken. Auch Jakobus des Alphäus hat eine kleine rotbraune Kruste an der Schläfe und rundherum einen großen blauen Fleck. Andreas und Jakobus des Zebedäus, weniger stark verletzt, zeigen keine Anzeichen des erlebten Abenteuers mehr und schreiten rasch einher. Sie spähen nach vorn und besonders nach allen Seiten, denn sie haben sich vor und hinter Jesus gruppiert. Nach dem, was ich ihren Gesprächen entnehme, habe ich den Eindruck, daß sie sich zwei oder drei Tage in dem gestern beschriebenen Ort oder in dessen Nähe aufgehalten haben, um einen gewissen Abstand zwischen sich und die Rabbis zu legen, da sie befürchten, daß sich diese in die größeren Städte begeben haben in der Hoffnung, sie in eine Falle locken und ihnen noch mehr schaden zu können.

«Aber diese Stadt ist ein Zufluchtsort!» sagt Andreas.

«Glaubst du, daß gerade sie einen Zufluchtsort und die Heiligkeit eines Ortes achten? Wie bist du doch naiv, Bruder!» antwortet ihm Petrus.

Jesus geht zwischen den beiden Judas. Vor ihm sind Jakobus und Johannes als Vortrupp, dann der andere Jakobus, Philippus und Matthäus, und hinter ihm Petrus, Andreas und Thomas. Zuletzt kommen Simon der Zelote und Bartholomäus.

Alles geht gut, bis sie auf einem schönen Platz mit einem Brunnen ankommen, an dem die Synagoge steht und auf dem die Leute geschäftig miteinander verhandeln. Der Marktplatz liegt weiter unten, gegen Südwesten, dort, wo die Hauptstraße, die von Süden kommt, und die andere, auf der Jesus von Westen her gekommen ist, im rechten Winkel aufeinanderstoßen und dann zu einer einzigen Straße werden, die durch das Tor

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führt, bis sie sich zu einem großen, länglichen Platz erweitert, auf dem Esel, Strohmatten, Käufer und Verkäufer sind und der übliche Lärm herrscht...

Doch als Jesus und die Seinen den anderen, schöneren Platz erreicht haben – der das Herz der Stadt zu sein scheint, nicht so sehr, weil er genau im Zentrum liegt, sondern weil hier das geistige Leben und der Handel von Kedes pulsiert; das scheint auch seine erhöhte Lage im Ort anzuzeigen, von wo aus man alles überblickt und wodurch er wie eine Burg verteidigt werden kann – beginnen die Schwierigkeiten. Wie knurrende Hunde, bereit, sich auf ein wehrloses, schwaches Tier zu stürzen, oder eher wie Spürhunde, die das Wild wittern, wartet eine zahlreiche Gruppe von Pharisäern und Sadduzäern vor dem großen, mit schönen Skulpturen verzierten Portal der Synagoge. Unter diese haben sich, sozusagen als Gewürz, Rabbis, unter ihnen auch Uriel, gemischt, die ich schon in Gischala gesehen habe. Sogleich sprechen sie miteinander über Jesus und die Apostel.

«O weh, Herr! Sie sind auch hier!» sagt Johannes bestürzt und wendet sich um, um mit Jesus zu sprechen.

«Fürchte dich nicht! Geh ruhig weiter. Die, die nicht mit diesen Unglücklichen zusammentreffen wollen, sollen sich in die Herberge zurückziehen. Ich will unbedingt in dieser antiken Stadt der Leviten und Zufluchtsstätte sprechen.»

Alle protestieren: «Meister, kannst du dir vorstellen, daß wir dich alleinlassen? Sie sollen uns alle umbringen, wenn sie wollen, aber wir werden dein Los teilen.»

Jesus schreitet an der feindlichen Gruppe vorüber und begibt sich zu einer Gartenmauer, über die weiße Blütenblätter von einem Birnbaum herabregnen. Die dunkle Mauer und die weiße Wolke bilden Hintergrund und Krone für Christus, der seine Zwölf vor sich stehen hat.

Jesus beginnt zu reden, und seine schöne, wohlklingende Stimme erfüllt den Platz und läßt alle sich umwenden: «O ihr, die ihr hier versammelt seid, kommt und vernehmt die Frohe Botschaft, denn von größerem Nutzen als Handel und Geld ist der Erwerb des Himmelreiches.»

«Oh! Das ist doch der Rabbi von Galiläa!» sagt einer. «Kommt, wir gehen hin und hören ihm zu, und vielleicht wirkt er gar ein Wunder.»

Wieder ein anderer sagt: «Ich habe ihn in Bethginna ein Wunder wirken sehen. Und wie gut er spricht, nicht wie die gierigen Sperber und hinterlistigen Schlangen dort!»

Jesus ist sogleich von einer Menschenmenge umgeben und fährt fort, zu der aufmerksamen Volksmenge zu sprechen.

«Im Herzen dieser Levitenstadt will ich nicht an das Gesetz erinnern, denn ich weiß, daß es in euren Herzen eingegraben ist, wie in wenigen anderen Städten Israels, und dies beweist auch die Ordnung, die ich hier

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beobachte, die Ehrlichkeit, welche die Kaufleute an den Tag legen, von denen ich die Nahrungsmittel für mich und meine kleine Herde gekauft habe. Auch diese Synagoge ist geschmückt, wie es sich geziemt für Orte, an denen man Gott verehrt. Aber in eurem Innersten ist noch ein weiterer Ort, an dem Gott ebenfalls verehrt wird, ein Ort, an dem die heiligsten Sehnsüchte verborgen sind und die süßesten, hoffnungsvollsten Worte unseres Glaubens und der innigsten Gebete widerhallen, auf daß die Hoffnung Wirklichkeit werde: Es ist die Seele. Das ist der heilige und einzigartige Ort, an dem man von Gott und mit Gott spricht in der Erwartung, daß die Verheißung sich erfülle.

Nun hat sich die Verheißung erfüllt: Israel hat seinen Messias, der euch das Wort und die Gewißheit bringt, daß die Zeit der Gnade gekommen und die Erlösung nahe ist; daß der Erlöser unter euch ist und das Reich, das keine Niederlagen kennt, seinen Anfang nimmt.

Wie oft hat man euch Habakuk vorgelesen! Die Nachdenklichsten unter euch werden dabei gemurrt haben: "Auch ich kann sagen: Wie lange Herr, muß ich um Hilfe rufen, doch du hörst nicht?"

Seit Jahrhunderten seufzt Israel so, doch nun ist der Erlöser gekommen. Der große Raub, der beständige Kummer, die Unordnung und Ungerechtigkeit, die Satan verursacht hat, schwinden dahin, denn der Gesandte Gottes verleiht dem Menschen wieder seine Würde als Kind Gottes und Miterbe des Reiches Gottes. Laßt uns die Prophezeiungen des Habakuk neu betrachten, und wir werden erkennen, daß er schon von mir Zeugnis gibt und die Sprache der Frohen Botschaft spricht, die ich den Kindern Israels verkünde.

Aber nun bin ich es, der seufzt: "Das Urteil ist gefällt, doch der Widerspruch triumphiert", und ich seufze in großer Pein. Nicht so sehr meinetwegen, der ich über dem menschlichen Urteil stehe, als vielmehr über sie, die mit ihrer Widersetzlichkeit sich selbst verurteilen, und über die, die von diesen Widerspenstigen verführt werden. Ihr wundert euch über das, was ich sage? Unter euch sind Kaufleute aus anderen Gegenden Israels. Sie können euch sagen, daß ich nicht lüge. Ich lüge nicht, denn ich führe kein Leben, das im Gegensatz zu meiner Lehre und zu dem, was man vom Erlöser erwartet, steht. Ich lüge nicht, wenn ich sage, daß sich der menschliche Widerspruch erhebt gegen den Beschluß Gottes, der mich gesandt hat, und gegen das Urteil der demütigen und aufrichtigen Scharen, die mich gehört haben und als den erkennen, der ich bin!»

Einige in der Menge flüstern: «Das ist wahr! Das ist wahr!Wir aus dem Volk wollen ihn und halten ihn für heilig. Aber sie (und sie deuten auf die Pharisäer und ihre Freunde) bekämpfen ihn!»

Jesus fährt fort: «Um dieser Widersetzlichkeit willen ist das Gesetz verletzt worden, und immer mehr wird es verletzt, bis es abgeschafft werden wird, um die größte Ungerechtigkeit zu begehen, die nicht von langer

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Dauer sein wird. Selig jene, die während dieser kurzen und schrecklichen Zeitspanne, in der es den Anschein hat, daß der Widersacher über mich triumphiert, ausharren im Glauben an Jesus von Nazareth, den Sohn Gottes, den Menschensohn, der von den Propheten vorausgesagt wurde. Ich könnte den Beschluß Gottes bis ins letzte erfüllen und alle Söhne Israels retten. Aber es wird mir nicht gelingen, weil der Gottlose gegen sich selbst, gegen sein eigenes, besseres Selbst triumphieren wird, und so wie er meine Rechte und die meiner Gläubigen mit Füßen tritt, so wird er auch die Rechte seines Herzens, das meiner bedarf, um gerettet zu werden, mit Füßen treten und es Satan übergeben, nur um es mir zu verweigern.»

Die Pharisäer murren, doch ein stattlicher Greis, der sich vor einer Weile in die Nähe Jesu begeben hat, sagt nun während einer Redepause: «Ich bitte dich, geh in die Synagoge und lehre dort, denn niemand hat ein größeres Recht dazu als du. Ich bin Matthias, der Synagogenvorsteher. Komm, und das Wort Gottes sei in meinem Hause, wie du es verkündigst!»

«Danke, Gerechter Israels. Der Friede sei allezeit mit dir!»

Jesus bahnt sich ein Weg durch die Menge, die sich wie eine Woge teilt, um ihn durchzulassen, und sich dann hinter ihm wie ein Kielwasser wieder schließt und ihm folgt. So überquert er den Platz und tritt in die Synagoge ein, wobei er wieder an den schimpfenden Pharisäern vorbeikommt. Auch diese betreten die Synagoge und versuchen, sich in arroganter Weise breitzumachen. Aber die Menge schaut sie böse an und sagt: «Woher kommt ihr? Geht in eure Synagogen und wartet dort auf den Rabbi. Dies hier ist unser Haus.» Die Rabbis, Sadduzäer und Pharisäer müssen diese Schmach erdulden und demütig am Eingang stehenbleiben, um nicht von den Bewohnern von Kedes vertrieben zu werden.

Jesus ist an seinem Platz beim Synagogenvorsteher und anderen Synagogenmitgliedern, ich weiß nicht, ob es Söhne oder Gehilfen sind. Er hebt wiederum zu reden an: «Habakuk sagt, und wie liebevoll lädt er euch ein, aufzumerken: "Blickt auf die Völker und schaut, staunt und erstarrt! Denn ich vollbringe ein Werk in euren Tagen, das ihr nicht glauben würdet, wenn man es euch erzählte." Auch jetzt haben wir äußere Feinde um Israel. Aber laßt uns diesen kleinen Teil der Prophetie übergehen und nur die große, rein geistige Voraussage in ihr betrachten, denn die Weissagungen beinhalten, auch wenn es scheint, daß sie sich nur auf äußere Dinge beziehen, immer einen geistigen Hintergrund. Was sich ereignet hat -und es ist so großartig, daß es niemand annehmen kann, der nicht von der unendlichen Liebe des wahren Gottes überzeugt ist – besteht darin, daß er sein Wort gesandt hat, um die Welt zu retten und zu erlösen. Gott trennt sich von Gott, um das sündige Geschöpf zu retten, und dazu bin ich gesandt worden. Keine Macht der Welt wird meinen Triumphzug über Könige und Tyrannen, über Sünden und Torheiten aufhalten können, denn ich werde siegen, da ich der Sieger bin.»

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Ein höhnisches Gelächter und Geschrei erschallt im Hintergrund der Synagoge. Die Leute protestieren, und der Synagogenvorsteher, der mit geschlossenen Augen dasteht – so sehr ist er vertieft, Jesus zuzuhören – richtet sich auf, gebietet den Störenfrieden zu schweigen und droht ihnen, sie aus der Synagoge zu weisen.

«Laß sie nur machen. Vielmehr lade sie ein, ihre Widersprüche vorzutragen», sagt Jesus mit lauter Stimme.

«Oh, gut! Das ist gut! Laß uns in deine Nähe kommen, wir wollen dich ausfragen», schreien die Widersacher spöttisch.

«Kommt. Laßt sie durch, ihr Leute von Kedes!»

Die Menge läßt sie, von feindlichen Blicken, Grimassen und einigen Schimpfworten begleitet, durch und nach vorne kommen.

«Was wollt ihr wissen?» fragt Jesus streng.

«Du sagst also, daß du der Messias bist? Bist du dessen sicher?»

Jesus, der mit auf der Brust verschränkten Armen vor dem Sprecher steht, sieht ihn mit so gebieterischen Augen an, daß ihm die Ironie vergeht, und er verstummt.

Doch ein anderer ergreift das Wort: «Du kannst nicht verlangen, daß man deinen Worten Glauben schenkt, denn jedermann kann, auch ohne böse Absicht, etwas Falsches behaupten. Um glauben zu können, braucht man Beweise, und nun beweise uns, daß du der bist, der du zu sein vorgibst.»

«Israel ist voll von meinen Beweisen», sagt Jesus entschieden.

«Oh... Kleinigkeiten, die jeder Heilige zu tun vermag; all dies ist schon früher geschehen und wird auch in Zukunft durch die Gerechten Israels bewirkt werden», sagt ein Pharisäer.

Ein anderer fügt hinzu: «Es ist aber nicht gesagt, daß du diese Werke aus Heiligkeit und mit der Hilfe Gottes vollbringst! Man sagt, und wahrlich, es klingt sehr glaubhaft, daß du vom Teufel unterstützt wirst. Wir wollen andere Beweise, höhere, solche, die Satan nicht geben kann.»

«Aber ja! Einen überwundenen Tod...» sagt ein anderer.

«Ihr habt diese Beweise schon erhalten!»

«Es hat sich dabei nur um Scheintote gehandelt. Zeige uns zum Beispiel einen Verwesten, der sich belebt und wieder aufsteht, damit wir sicher sein können, daß Gott mit dir ist: Gott, der einzige, der dem Schlamm, der schon zum Staub zurückkehrt, Atem einhauchen kann.»

«Das wurde nie von den Propheten verlangt, damit man ihnen glaube!»

Ein Sadduzäer schreit: «Du bist mehr als ein Prophet. Du bist – wenigstens behauptest du es – der Sohn Gottes... Ha, ha, ha! Warum handelst du dann nicht wie ein Gott? Auf also! Gib uns ein Zeichen! Ein Zeichen!»

«Jawohl, ein Zeichen des Himmels, das dich als den Sohn Gottes bestätigt, und dann werden wir dir huldigen!» ruft ein Pharisäer.

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«Gewiß! Das hast du gut gesagt, Simon! Wir wollen nicht in die Sünde des Aaron zurückfallen! Wir beten weder Götzenbilder, noch ein goldenes Kalb an, aber das Lamm Gottes könnten wir anbeten. Bist nicht du es? Dann möge der Himmel uns beweisen, daß du es bist», sagt jener mit Namen Uriel, der schon in Gischala war und jetzt sarkastisch lacht.

Nun beginnt ein anderer zu schreien: «Laß mich jetzt reden; ich bin Sadok, der große Schriftgelehrte. Höre mir zu, Christus! Du hast zu viele Vorgänger gehabt, die nicht Christus waren. Genug mit diesem Schwindel. Nur ein Zeichen wollen wir, daß du es bist, und wenn Gott mit dir ist, kann er es dir nicht verweigern; und dann werden wir an dich glauben und zu dir halten. Andernfalls weißt du ja, was dich, gemäß den Geboten Gottes, erwartet.»

Jesus erhebt seine verletzte Rechte und zeigt sie seinem Widersacher: «Siehst du dieses Zeichen? Du hast es verursacht, und mit dem Zeigefinger auf ein anderes Wundmal hingewiesen; und wenn du sehen wirst, daß es ins Fleisch des Lammes eingegraben ist, dann wirst du frohlocken. Schau es an! Siehst du es? Du wirst es auch im Himmel sehen, wenn du einst vor Gott erscheinen wirst und Rechenschaft über deinen Lebenswandel ablegen mußt. Denn ich werde dich richten, ich, an dem das Mal meiner Liebe und eures Hasses sichtbar sein wird, werde mit meinem verherrlichten Leib dort sein. Auch du wirst es sehen, Uriel, und du, Simon, und auch Annas und Kaiphas werden es sehen und viele andere, am letzten Tage, am Tage des Zornes, am Tage des Schreckens; und ihr werdet es vorziehen, im Abgrund zu sein, da das Zeichen an meiner Hand stärker brennen wird als die Flammen der Hölle.»

«Oh, das sind gotteslästerliche Worte! Du mit deinem Leib im Himmel? Du Gotteslästerer! Du Richter anstelle Gottes! Fluch über dich, der du den Hohenpriester verspottest! Du verdienst, gesteinigt zu werden», schreien die Pharisäer, Sadduzäer und Schriftgelehrten im Chor.

Der Synagogenvorsteher erhebt sich wieder, patriarchalisch, strahlend wie Moses mit seinem weißen Haar, und ruft: «Kedes ist die Stadt der Zuflucht und die Stadt der Leviten. Achtet es...»

«Alte Geschichten zählen nicht mehr!»

«Oh, ihr gotteslästerlichen Zungen! Ihr seid Sünder, nicht er, und ich verteidige ihn. Er sagt nichts Böses. Er erklärt nur die Prophetenworte und bringt uns die verheißene Botschaft, und ihr unterbrecht ihn, versucht ihn, beleidigt ihn. Das erlaube ich nicht. Er ist hier unter dem Schutz des alten Matthias aus dem Stamme des Levi väterlicherseits und des Aaron mütterlicherseits. Geht hinaus und laßt ihn mein Alter und das Mannesalter meiner Söhne unterweisen», und er legt seine runzlige Hand auf den Unterarm Jesu, wie um ihn zu verteidigen.

«Er soll uns doch ein wirkliches Zeichen geben, und wir werden überzeugt weggehen», schreien die Feinde.

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«Beunruhige dich nicht, Matthias. Ich werde sprechen», sagt Jesus zum Synagogenvorsteher, und zu den Pharisäern, Sadduzäern und Schriftgelehrten gewandt sagt er: «Wenn der Abend anbricht, dann betrachtet ihr prüfend den Himmel, und wenn er sich beim Sonnenuntergang rötet, sagt ihr nach altem Brauch: "Morgen wird es gutes Wetter geben, denn der Sonnenuntergang rötet den Himmel." Ebenso sagt ihr beim Morgengrauen, wenn sich die Sonne in der nebelschweren Luft nicht golden ankündigt, sondern vielmehr den Himmel blutrot färbt: "Noch bevor der Tag zu Ende geht, wird es ein Gewitter geben." Ihr könnt also den Verlauf des Tages voraussehen, indem ihr die unsteten Zeichen am Himmel und die stets veränderlichen Winde beobachtet, und es gelingt euch nicht, die Zeichen der Zeiten zu deuten? Dies ehrt weder euren Geist noch eure Weisheit, sondern stellt eurem Geist und eurer Weisheit ein schlechtes Zeugnis aus. Ihr seid ein böses und ehebrecherisches Geschlecht, geboren in Israel aus einer Verbindung von Menschen, die mit dem Bösen Unzucht getrieben haben. Ihr seid ihre Erben und vermehrt eure Bosheit und eure Unzucht, indem ihr die Sünden der Väter dieses Irrtums wiederholt. Dies sollst du wissen, Matthias, und ihr, Leute von Kedes, sollt es wissen, und jeder Anwesende, ob er nun getreu oder feindlich gesinnt ist. Dies ist die Prophezeiung, die ich euch selbst gebe, anstelle jener, die ich euch bei Habakuk erklären wollte: diesem bösen und ehebrecherischen Geschlecht, das ein Zeichen verlangt, wird kein anderes gegeben als das des Jonas ... Laßt uns gehen. Der Friede sei mit denen, die guten Willens sind.»

Durch eine Seitenpforte, die auf eine ruhige Straße zwischen Gärten und Häusern hinausführt, entfernt sich Jesus zusammen mit seinen Aposteln.

Doch die von Kedes geben sich nicht geschlagen. Einige folgen ihm, und da sie ihn in der östlichen Vorstadt in eine kleine Herberge eintreten sehen, melden sie es dem alten Synagogenvorsteher und ihren Mitbürgern. Jesus ist noch bei der Mahlzeit, als sich der sonnenbeschienene Hof schon mit Menschen füllt und der Synagogenvorsteher mit anderen Ältesten von Kedes am Eingang des Raumes steht, in dem sich Jesus aufhält, und sich vor ihm flehentlich bittend verneigt:

«Meister, in uns ist die Sehnsucht nach deinen Worten geblieben. Die Prophezeiung des Habakuk war, von dir erklärt, so schön. Weil es Menschen gibt, die dich hassen, soll es jenen, die dich lieben und an deine Wahrheit glauben, nicht vergönnt sein, dich kennenzulernen?»

«Nein, Vater. Es wäre ungerecht, die Guten der Bösen wegen zu bestrafen. Hört also...» und Jesus hört auf zu essen, um sich zur Türe zu begeben und zu denen zu sprechen, die sich im stillen Hofe versammelt haben.

«In den Worten eures Synagogenvorstehers liegt ein Echo der Worte des Habakuk. Er bekennt, für sich und für euch alle, daß ich die Wahrheit

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bin. Habakuk bekannte und erklärte: "Bist nicht du, Herr, von Anfang an mein heiliger Gott, der niemals stirbt?" Und so wird es sein, denn wer an mich glaubt, wird nicht sterben. Der Prophet beschreibt mich als den, den Gott dazu bestimmt hat, zu richten, als den, dem Gott Macht gegeben hat, zu bestrafen, als den, dessen Augen zu heilig sind, als daß sie das Böse sehen könnten, und dem die Sünde unerträglich ist; so seht ihr, daß ich selbst, da ich der Erlöser bin, auch jenen die Arme öffne, die ihre Sünden bereuen. Daher schaue ich auch auf den Schuldigen und lade den Gottlosen zur Reue ein...

Oh, ihr von Kedes, der Levitenstadt, dieser vom Band der Liebe geheiligten Stadt: wer schuldig ist – und jeder Mensch hat gegen Gott, gegen seine Seele, gegen seinen Nächsten gesündigt – komme also zu mir, der Zuflucht der Sünder. Hier, in meiner Liebe, kann nicht einmal der Fluch Gottes euch treffen; denn mein flehentlicher Blick verwandelt den Fluch Gottes für euch in einen Segen der Vergebung. Hört! Hört! Prägt dieses Versprechen in eure Herzen ein, wie Habakuk seine Prophezeiung auf die Buchrolle schrieb. Dort steht geschrieben: "Wenn sich die Zeit verzögert, so harre auf sie, denn sie kommt sicher und bleibt nicht aus." Seht, der da kommen sollte, ist gekommen. Ich bin es!

"Wer ungläubig ist, hat keine gerechte Seele", sagt der Prophet, und in seinen Worten liegt die Verurteilung derer, die mich versucht und geschmäht haben. Nicht ich verdamme sie, sondern der Prophet, der mich vorausgesehen und an mich geglaubt hat, und wie er mich als Sieger schildert, so beschreibt er den Menschen und sagt, daß er ehrlos ist, da er seine Seele der Begierde und Unersättlichkeit erschlossen hat, so wie auch die Hölle begierig und unersättlich ist. Er droht. "Wehe dem, der fremdes Eigentum aufhäuft und großen Unrat auf seinen Rücken lädt." Die schlechten Taten gegen den Menschensohn sind dieser Schlamm, und der Wille, ihn seiner Heiligkeit zu berauben, damit er nicht ihre eigene verdunkle, ist Begierde.

"Wehe" sagt der Prophet, "wehe dem, der in seinem Haus die Früchte seines ungerechten Gewinnes sammelt, um in der Höhe sein Nest zu bauen, im Glauben, den Krallen des Bösen entrinnen zu können." Das bedeutet, sich entehren und die eigene Seele töten.

"Wehe dem, der eine Stadt erbaut auf Blut und die Festung gründet auf Unrecht." Wahrlich, zu sehr baut Israel seine begehrlichen Festungen auf Tränen und Blut und wartet nun, um am Ende seine größte Missetat zu begehen. Aber was vermag eine Festung gegen die Blitze Gottes? Was vermag eine Handvoll Menschen gegen die Gerechtigkeit der ganzen Welt, die vor Schrecken aufschreien wird über das beispiellose Verbrechen?

Oh, wie gut sagt es Habakuk! "Was nützt denn ein Schnitzbild?" Zu einem Götzenbild ist die lügnerische Heiligkeit Israels geworden. Nur der Herr in seinem Tempel ist heilig, und nur vor ihm wird sich die Erde

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verneigen und erzittern in Anbetung und Schrecken, während das verheißene Zeichen einmal und noch einmal gegeben wird; und der wahre Tempel, in dem Gott ruht, wird glorreich emporsteigen, um dem Himmel zu sagen: "Es ist vollbracht!" So wie er über die Erde geseufzt haben wird, um sie durch seine Frohbotschaft zu reinigen.

"Fiat" ' "es geschehe!" sagte der Allerhöchste, und die Welt entstand. "Fiat", wird der Erlöser aussprechen, und die Welt wird erlöst sein. Ich werde der Welt das geben, wodurch sie erlöst wird, und die Erlösten werden jene sein, die den Willen haben, es zu sein!

Steht jetzt auf. Beten wir das Gebet des Propheten, so wie es für diese Gnadenzeit richtig ist:

"Herr, ich habe Kunde von dir vernommen, und ich habe dabei frohlockt." Es ist nicht mehr die Zeit des Schreckens, o ihr, die ihr an den Messias glaubt.

"Herr, die Jahre deines Werkes nähern sich, rufe es ins Leben trotz der Nachstellung der Feinde; in den nahen Jahren wirst du es offenbaren." Ja, wenn die Zeit erfüllt ist, wird auch das Werk vollendet sein.

"Und im Zorn gedenke des Erbarmens", denn der Zorn wird sich nur über jene ergießen, die Netze und Schlingen gelegt haben und Pfeile auf das Lamm, den Erlöser, geschleudert haben.

"Gott wird kommen aus dem Licht zur Welt." Ich bin das Licht, das gekommen ist, euch Gott zu bringen. Mein Glanz wird die Welt erfüllen und sich wie Ströme aus den Wunden jener ergießen, "die von den spitzen Hörnern getroffen worden sind"; "der letzte Sieg des Todes und Satans, die vor dem Lebendigen und Heiligen fliehen."

Ehre dem Herrn! Ehre dem, der alles erschaffen hat. Ehre dem, der Sonne und Sterne erschuf. Dem Schöpfer der Berge und der Meere. Ehre, unendliche Ehre dem Guten, der den Gesalbten hat senden wollen zur Rettung seines Volkes, zur Erlösung der Menschen. Vereinigt eure Stimmen und singt mit mir, denn meine Barmherzigkeit ist in die Welt gekommen und die Zeit des Friedens ist nahe. Mit ihm, der euch die Hand entgegenhält, euch ermahnt, zu glauben und im Herrn zu leben, denn die Zeit ist nahe, in der Israel in Wahrheit gerichtet werden wird.

Der Friede sei mit euch allen hier, mit euren Familien und euren Häusern.»

Jesus macht eine weite segnende Geste und will sich entfernen.

Aber der Synagogenvorsteher bittet ihn: «Bleibe noch hier.»

«Ich kann nicht, Vater.»

«Schicke uns wenigstens deine Jünger.»

«Dessen kannst du sicher sein. Lebt wohl. Geht hin in Frieden.»

Dann sind sie allein...

«Aber ich möchte wissen, wer sie hierher geschickt hat. Sie scheinen Schwarzkünstler zu sein...», sagt Petrus.

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Iskariot drängt sich vor, bleich im Gesicht. Er kniet zu Jesu Füßen nieder: «Meister, ich bin der Schuldige, ich hatte im Dorf... mit einem von ihnen, dessen Gast ich war, gesprochen...»

«Wie? Und du sprichst von Buße? Du bist ...»

«Schweige, Simon des Jonas! Dein Bruder klagt sich aufrichtig an. Achte ihn um dieser seiner Verdemütigung willen. Gräme dich nicht, Judas. Ich verzeihe dir, und du weißt, daß ich dir verzeihe. Sei ein andermal klüger... Nun wollen wir gehen. Wir werden wandern, solange der Mond scheint, und sollten den Fluß überqueren, bevor der Tag anbricht... Gehen wir! Da hinten beginnt der Wald. Sowohl die Guten als auch die Bösen werden unsere Spur verlieren. Morgen werden wir auf dem Weg nach Paneas sein.»

388. AUF DEM WEG NACH CAESAREA PHILIPPI

Die Ebene erstreckt sich auf beiden Seiten des Jordans, bis sich dieser in den Meronsee ergießt. Eine schöne Ebene, in der von Tag zu Tag das Getreide höher wächst und die Obstbäume sich mit neuen Blüten bedecken. Die Hügel hinter Kedes liegen nun im Rücken der Pilger, die im ersten Tageslicht, sehnsüchtig zur aufgehenden Sonne schauend dahinschreiten und fröstelnd die Stellen aufsuchen, wo die Sonnenstrahlen zuerst die Wiesen berühren und die Blätter liebkosen. Sie müssen im Freien geschlafen haben oder aber auf einem Strohlager, denn ihre Kleider sind zerknittert und es hängen Strohhalme und trockene Blätter daran, die sie, sobald sie sie bei der zunehmenden Helligkeit bemerken, entfernen.

Der Fluß kündigt sich durch ein Rauschen an, das im morgendlichen Schweigen der Landschaft widerhallt, und durch eine dichte Baumreihe mit jungem Grün, das in der leichten Morgenbrise zittert. Man kann den Fluß noch nicht sehen, da er tiefer liegt als die flache Ebene. Als man im frischen Grün der jungen Blätter sein blaues Gewässer erblickt, das durch die zahlreichen Bächlein, die von den nördlichen Hügeln herabfließen, angeschwollen ist, ist man schon nahe am Ufer.

«Wollen wir bis zur Brücke am Ufer entlang weitergehen oder schon hier den Fluß überqueren?» fragen die Apostel Jesus, der allein vorausgegangen und jetzt nachdenklich stehengeblieben ist, um auf sie zu warten.

«Seht nach, ob es eine Barke zum Übersetzen gibt, denn es ist besser, wenn wir ihn hier überqueren ...»

«Ja. An der Brücke, über die die Straße nach Caesarea Paneas führt, könnten wir wieder jemandem begegnen, den man uns auf die Fersen gesetzt hat», bemerkt Bartholomäus mit hochgezogenen Augenbrauen und schaut dabei auf Judas.

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«Nein! Schau mich nicht so böse an. Ich wußte ja gar nicht, daß wir hierher kommen würden, und habe auch nichts gesagt. Es war leicht anzunehmen, daß Jesus von Sefed zu den Gräbern der Rabbis und nach Kedes gehen würde, doch hätte ich nie gedacht, daß er sich bis zur Hauptstadt des Philippus vorwagen würde. Daher können sie nichts davon wissen und wir werden sie nicht antreffen, weder durch meine Schuld, noch durch ihren eigenen Willen. Es sei denn, daß sie Beelzebub als Führer hätten», sagt Iskariot ruhig und demütig.

«Das stimmt, aber bei gewissen Leuten... muß man die Augen offen halten und die Worte abwägen, um nichts von unseren Plänen zu verraten. In allem muß man vorsichtig sein. Sonst verwandelt sich unsere Verkündigung der Frohbotschaft in eine andauernde Flucht», erwidert Bartholomäus.

Johannes und Andreas kommen zurück und berichten: «Wir haben zwei Boote gefunden. Man setzt uns für eine Drachme pro Boot über. Gehen wir zum Ufer hinab.»

Mit den beiden Barken gelangen alle nach zweimaliger Fahrt auf die andere Seite. Hier empfängt sie eine flache und fruchtbare Ebene, die jedoch nicht dicht bevölkert ist, denn nur die Bauern, die sie bebauen, haben hier ihre Häuser.

«Hm! Wie werden wir uns Brot besorgen? Ich habe Hunger, und hier gedeihen nicht einmal die Ähren der Philister... Gras und Blätter, Blätter und Blüten. Ich bin weder ein Schaf noch eine Biene», flüstert Petrus den Kameraden zu, welche bei dieser Bemerkung lächeln.

Judas Thaddäus wendet sich um – er ist etwas vorausgegangen – und bemerkt: «Wir werden im ersten Dorf Brot finden.»

«Vorausgesetzt, daß man uns nicht verjagt», entgegnet Jakobus des Zebedäus.

«Paßt auf, ihr, die ihr stets sagt, daß man auf alles achtgeben soll, daß ihr nicht die Hefe der Pharisäer und der Sadduzäer übernehmt. Mir scheint, daß ihr dies tut, ohne zu bedenken, welches Unheil ihr dabei anrichtet. Paßt auf! Hütet euch!» sagt Jesus.

Die Apostel mustern sich gegenseitig und flüstern: «Aber was sagt er denn? Die Brote haben uns doch die Frau des Taubstummen und der Gastgeber von Kedes gegeben. Es ist alles, was wir noch haben, und wir wissen nicht einmal, ob wir noch etwas anderes finden werden, um unseren Hunger zu stillen. Wie kann er also sagen, daß wir von Sadduzäern und Pharisäern Brot kaufen, das ihre Hefe enthält? Vielleicht will er nicht, daß wir in den nahen Dörfern einkaufen...»

Jesus, der wiederum allein vorausgegangen ist, dreht sich zu ihnen um: «Warum habt ihr Angst, daß ihr kein Brot mehr für euren Hunger erhaltet? Auch wenn hier alle Pharisäer und Sadduzäer wären, würdet ihr nicht ohne Nahrung bleiben, sofern ihr meinen Rat befolgt. Ich spreche nicht

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vom Sauerteig, den das Brot enthält, und daher könnt ihr Brot für euren Hunger kaufen, wo ihr wollt. Selbst wenn euch niemand etwas verkaufen wollte, wäret ihr trotzdem nicht ohne Brot. Erinnert ihr euch nicht an die fünf Brote, mit denen ihr fünftausend Menschen gesättigt habt? Erinnert ihr euch nicht an die zwölf Körbe, die ihr mit den übriggebliebenen Brotresten gefüllt habt? Ich könnte für euch, die ihr zwölf seid und ein Brot habt, dasselbe tun, was ich für die fünftausend mit fünf Broten getan habe. Versteht ihr nicht, welchen Sauerteig ich meine? Den Sauerteig, der sich in den Herzen der Pharisäer, der Sadduzäer und der Schriftgelehrten gegen mich aufbläht. Es ist der Haß. Es ist die Häresie, und ihr seid auf dem Weg zum Haß, so als ob etwas vom Sauerteig der Pharisäer in euch eingedrungen wäre. Man darf nicht einmal jenen hassen, der uns feindlich gesinnt ist. Öffnet dem, was nicht Gottes ist, nicht einmal einen Spalt. Durch ihn würden zuerst andere Elemente eindringen, die gegen Gott sind. Es ist manchmal so, daß man, wenn man die Feinde zu sehr mit ihren eigenen Waffen bekämpfen will, damit endet, daß man verwundet oder besiegt wird, und als Besiegte könntet ihr ihre Lehren in euch aufnehmen. Nein, liebt und seid zurückhaltend. Ihr seid in eurem Inneren noch nicht stark genug, um diese Lehren bekämpfen zu können, ohne selbst davon angesteckt zu werden. Denn einige ihrer grundlegenden Elemente habt ihr ja in euch selbst, und der Groll gegen sie ist eines davon. Noch einmal sage ich euch: sie könnten ihre Methode ändern, um euch zu verführen und euch mir abspenstig zu machen, indem sie euch tausend Freundlichkeiten erweisen und eine scheinbare Reue an den Tag legen, da sie angeblich mit mir Frieden schließen wollen. Ihr dürft nicht fliehen. Aber wenn sie versuchen, euch ihre Lehren einzuimpfen, dann wißt, euch dagegen zu wehren. Seht, das ist der Sauerteig, von dem ich gesprochen habe, der Unmut, der sich zugleich gegen die Liebe und die falschen Lehren richtet. Ich sage euch: seid vorsichtig!»

«War das Zeichen, das die Pharisäer gestern verlangten, "Sauerteig", Meister?» fragt Thomas.

«Es war Sauerteig und Gift!» «Du hast gut daran getan, ihnen das Zeichen nicht zu geben.» «Aber eines Tages werde ich es ihnen geben.»

«Wann? Wann?» fragen sie neugierig.

«Eines Tages...»

«Was für ein Zeichen wird es sein? Sagst du es nicht einmal uns, deinen Aposteln, damit wir es sofort erkennen könnten», fragt Petrus, der mehr darüber wissen möchte.

«Ihr solltet keines Zeichens bedürfen.»

«Oh, nicht um an dich zu glauben! Wir sind nicht wie die Leute, die sich allerlei Gedanken machen, denn wir haben nur einen Gedanken: dich zu lieben», sagt Jakobus des Zebedäus eifrig.

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«Aber sagt mir, ihr, die ihr dem Volk nahekommt, ohne es einzuschüchtern wie ich. Was denken die Leute von mir, vom Menschensohn?»

«Die einen sagen, daß du Jesus oder der Christus bist, und das sind die Besten. Andere nennen dich einen Propheten, andere wiederum sehen in dir nur einen Rabbi, und wieder andere... du weißt es, nennen dich einen Wahnsinnigen und Besessenen.»

«Einige jedoch nennen dich bei dem Namen, den du dir selbst gegeben hast: "Menschensohn"!»

Andere sagen, daß das nicht sein kann, da der Menschensohn etwas ganz anderes ist. Es ist nicht immer eine Verneinung, denn grundsätzlich geben sie zu, daß du mehr als der Menschensohn bist, da sie sagen, daß du der Sohn Gottes bist. Andere hingegen glauben, daß du nicht einmal der Menschensohn, sondern nur ein armer Mensch bist, von Satan angetrieben oder vom Wahnsinn verwirrt. Du siehst, daß die Ansichten zahlreich und alle verschieden sind», sagt Bartholomäus.

«Wer ist also nach der Meinung des Volkes der Menschensohn?»

«Er ist ein Mensch, in dem alle Tugenden des Menschen vereint sind, ein Mensch, dem alle Gaben des Verstandes, der Weisheit und der Gnade innewohnen, die wir in unserer Vorstellung Adam beimessen, und einige fügen diesen Eigenschaften noch die Unsterblichkeit hinzu. Du weißt, daß bereits das Gerücht umgeht, daß Johannes nicht gestorben, sondern einfach von Engeln irgendwohin gebracht worden ist. Man behauptet, Herodes, und besonders Herodias hätten, um sich nicht sagen zu müssen, sie wären von Gott besiegt worden, einen Diener getötet, ihm das Haupt abgeschlagen und dann den Rumpf des getöteten Sklaven als Leiche des Täufers herumgezeigt. Das Volk redet so viel! Deshalb glauben viele, daß der Menschensohn Jeremias oder Elias oder einer der Propheten oder auch der Täufer selbst, in dem Gnade und Weisheit war und den man den Vorläufer des Christus, des Gesalbten Gottes, nannte, gewesen ist. Der Menschensohn: ein großer Mensch, geboren aus einem Menschen. Viele können oder wollen nicht zugeben, daß Gott seinen Sohn auf die Erde senden wollte. Du hast es gestern gesagt: "Es werden nur jene glauben, die von der unendlichen Güte Gottes überzeugt sind." Israel glaubt mehr an die Strenge Gottes, als an seine Güte ...» sagt wiederum Bartholomäus.

«Ja, sie erachten sich tatsächlich für so unwürdig, daß sie es für unmöglich halten, daß Gott so gut ist, sein Wort zu senden, um sie zu retten. Der elende Zustand ihrer Seelen hindert sie zu glauben», bestätigt der Zelote und fährt fort: «Du sagst, daß du der Sohn Gottes und des Menschen bist. Tatsächlich ist in dir alle Gnade und Weisheit, die ein Mensch besitzen kann. Ich glaube wirklich, daß, wenn Adam, als er noch im Stande der Gnade lebte, ein Sohn geboren worden wäre, dir dieser an Schönheit, Verstand und jeder anderen Tugend ähnlich gewesen wäre. In dir erstrahlt Gott durch seine Macht. Aber wer von denen, die sich selbst für Götter

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halten und in ihrem grenzenlosen Hochmut Gott mit ihrem eigenen Maßstab messen, kann das glauben? Sie, die Grausamen, die Gehässigen, die Räuber, die Unkeuschen, können sich nicht vorstellen, daß Gott in seiner Güte so weit gegangen ist, daß er sich selbst hingegeben hat, um sie zu erlösen; daß er ihnen seine Liebe geschenkt hat, um sie zu retten; daß er sich in seiner Hochherzigkeit der Willkür der Menschen ausgesetzt, und seine Reinheit entsandt hat, auf daß sie sich für den Menschen aufopfere. Sie können es nicht glauben, nein, sie sind so unerbittlich und erfinderisch im Suchen nach Sünden und deren Bestrafung.»

«Doch ihr, was meint ihr, wer ich bin? Sagt es, ohne Rücksicht auf meine Worte oder auf die anderer. Wenn ihr über mich urteilen müßtet, was würdet ihr von mir sagen?»

«Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes», ruft Petrus, indem er sich mit zum Himmel erhobenen Armen niederkniet und zu Jesus aufschaut, der mit strahlendem Antlitz auf ihn niedersieht und sich über ihn neigt, um ihm wieder aufzuhelfen und ihn zu umarmen mit den Worten: «Selig bist du, Simon, Sohn des Jonas! Denn nicht Fleisch und Blut haben dir das geoffenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist. Vom ersten Augenblick an, da du zu mir gekommen bist, hast du dir diese Frage gestellt, und da du einfach und redlich bist, hast du die Antwort, die dir der Himmel eingab, verstanden und angenommen. Bevor du mir begegnet bist, hattest du keine übernatürlichen Zeichen erfahren, wie dein Bruder und Johannes und Jakobus. Du kanntest meine Heiligkeit als Sohn, als Arbeiter, als Bürger nicht, wie Judas und Jakobus, meine Brüder. Bevor du mein Jünger wurdest, hattest du kein Wunder gesehen, noch hatte ich dir ein Zeichen meiner Macht gegeben, wie ich es bei Philippus, Nathanael, Simon dem Kananäer, Thomas und Judas tat. Du wurdest nicht von meinem Willen überwältigt wie Levi, der Zöllner, und dennoch hast du vom ersten Augenblick an ausgerufen: "Er ist der Gesalbte!" Von der ersten Stunde an, da du mich gesehen hattest, glaubtest du, und nie wurde dein Glaube durch etwas erschüttert. Deshalb habe ich dich Kephas genannt, und deshalb werde ich auf dir, dem Felsen, meine Kirche erbauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen. Dir will ich die Schlüssel des Himmelreiches geben, und was immer du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein, o du getreuer und kluger Mensch, dessen Herz ich erproben konnte. Jetzt, von diesem Augenblick an, bist du das Haupt, dem Gehorsam und Achtung gebührt, wie mir selbst. Dazu ernenne ich ihn vor euch allen.»

Wenn Jesus Petrus unter einem Hagel von Vorwürfen niedergeschmettert hätte, wäre sein Weinen nicht so heftig gewesen. Er weint, von Schluchzen geschüttelt, das Antlitz an der Brust Jesu. Ein Weinen ist es, das sich nur wiederholt hat, als ihn der Schmerz über die Verleugnung

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Jesu übermannte. Jetzt ist es ein Weinen, das tausend demütigen und guten Gefühlen entspringt... Ein weiteres kleines bißchen des alten Simon – des Fischers von Bethsaida, der bei der ersten Verkündigung von seiten seines Bruders lachend und ungläubig geantwortet hat: «Ausgerechnet dir soll der Messias erscheinen! ... Ausgerechnet dir!» – ein weiteres kleines bißchen des alten Simon bröckelt ab unter diesen Tränen und läßt unter der dünner werdenden Kruste seiner Menschlichkeit immer klarer den Petrus, das Oberhaupt der Kirche Christi, erscheinen.

Als er sein Haupt scheu und verwirrt erhebt, weiß er nur eines zu tun, um alles auszudrücken, alles zu versprechen und sich Kraft zu holen für seine neue Aufgabe: er wirft seine kurzen, muskulösen Arme um den Hals Jesu und zwingt ihn so, sich zu ihm herabzuneigen und ihn zu küssen, wobei seine etwas struppigen und graumelierten Haare und sein Bart sich mit den weichen, goldfarbenen Haaren und dem Barte Jesu vermischen. Dann schaut er ihn anbetend, liebevoll und flehend an mit seinen großen, leuchtenden und von den Tränen geröteten Augen, während er mit den mit Schwielen bedeckten, breiten, kurzen Händen das asketische Antlitz des Meisters ergreift, das sich über das seinige neigt, als wäre es ein Gefäß, aus dem Lebenssäfte fließen... und er trinkt, trinkt, trinkt Süßigkeit und Gnade, Sicherheit und Stärke aus diesem Antlitz, aus diesen Augen, aus diesem Lächeln...

Schließlich trennen sie sich und setzen ihren Weg nach Caesarea Philippi fort, und Jesus sagt zu allen: «Petrus hat die Wahrheit gesagt. Viele ahnen sie, ihr kennt sie. Aber sagt vorläufig niemandem, was dieser Christus gemäß der vollen Wahrheit, die ihr erkennt, ist. Laßt Gott in den Herzen sprechen, wie er in den euren spricht. Wahrlich, ich sage euch, daß alle, die meine oder eure Aussagen mit einem vollkommenen Glauben und einer vollkommenen Liebe verbinden, dahin gelangen werden, den wahren Sinn der Worte: "Jesus, Christus, das Wort, der Sohn des Menschen und Gottes" zu verstehen.»

389. IN CAESAREA PHILIPPI

Die Stadt muß erst jüngst erbaut worden sein, wie es auch bei Tiberias und Askalon der Fall ist. Sie breitet sich in einer Senke aus und wird von einer Festung mit hohen Türmen überragt, die von riesigen Mauern und tiefen Gräben umgeben ist. In letztere ergießt sich ein Teil des Wassers der beiden kleinen Flüsse, die sich an einer Stelle beinahe vereinigen, um sich dann wieder voneinander zu trennen, derart, daß der eine außerhalb und der andere innerhalb der Stadt dahinfließt. Schöne Straßen, Plätze, Brunnen, eine Nachahmung der Bauart Roms. Man sagt, daß sich auch hierin

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knechtische Ehrerbietung dem Tetrarchen gegenüber offenbart, ohne Rücksicht auf die Gebräuche des Vaterlandes.

Die Stadt, vielleicht weil sie Knotenpunkt wichtiger Haupt- und Karawanenstraßen nach Damaskus, Tyrus, Sefed und Tiberias ist, wie es die Wegweiser an jedem Tor anzeigen, ist voller Bewegung und Menschen. Fußgänger, Reiter, lange Karawanen mit Eseln und Kamelen kreuzen sich auf den breiten, gut gepflegten Straßen, und Gruppen von Händlern oder Müßiggängern stehen auf Plätzen unter den Bogengängen und vor den vornehmen Wohnungen – vielleicht gibt es auch Thermen – herum und betreiben Geschäfte oder schwatzen über belanglose Dinge.

«Weißt du, wo wir sie finden können?» fragt Jesus Petrus.

«Ja. Die, die ich gefragt habe, haben mir gesagt, daß die Jünger des Rabbi sich gewöhnlich zur Essenszeit in einem Haus treuer Israeliten versammeln, das sich in der Nähe der Festung befindet. Man hat es mir genau beschrieben, also kann ich nicht fehlgehen: ein israelitisches Haus schon seinem Äußeren nach, mit einer Vorderseite ohne Fenster und einem hohen Tor mit einem Guckloch, einem kleinen Springbrunnen an der Mauerseite, hohen Gartenmauern, die auf beiden Seiten in kleinen Gassen enden, und einer hoch auf dem Dach gelegenen Terrasse mit vielen Tauben.»

«Gut. Gehen wir also»...

Sie durchqueren die ganze Stadt bis zur Zitadelle, erreichen das gesuchte Haus und klopfen an. Am Guckloch erscheint das runzlige Gesicht einer alten Frau.

Jesus tritt vor und grüßt: «Der Friede sei mit dir, Frau. Sind die Jünger des Rabbi zurückgekehrt?»

«Nein, Herr. Sie sind mit anderen, die von vielen Dörfern jenseits des Flusses gekommen sind, zur "Großen Quelle" gegangen, um eben nach dem Rabbi zu suchen. Alle erwarten ihn. Bist du auch einer von ihnen?»

«Nein, ich suche die Jünger.»

«Dann schau: siehst du die Straße ungefähr gegenüber dem Brunnen? Gehe dort hinauf, bis du an einer großen Felswand angelangt bist, aus der Wasser hervorsprudelt, das sich in eine Art Becken ergießt und dann zu einem Bächlein wird. Dort in der Nähe wirst du sie finden. Aber kommst du von weither? Willst du dich erfrischen, hereinkommen und auf sie warten? Wenn du willst, rufe ich meine Herrschaft. Es sind getreue Israeliten, weißt du, und sie glauben an den Messias. Sie sind seine Jünger, seit sie ihn einmal in Jerusalern im Tempel gesehen haben. Doch nun haben die Jünger des Messias sie über ihn unterrichtet und selbst Wunder gewirkt, weil ...»

«Ist gut, Frau! Ich werde später zusammen mit den Jüngern zurückkommen. Der Friede sei mit dir! Kehre nur zu deiner Arbeit zurück», sagt Jesus voller Güte, aber auch mit Autorität, um diesen Redestrom aufzuhalten.

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Sie gehen weiter, und die jüngeren Apostel lachen herzlich über die Szene mit der Frau und entlocken auch Jesus ein Lächeln.

«Meister», sagt Johannes, «sie schien selbst die "Großen Quelle" zu sein, meinst du nicht auch? Die Worte, die ununterbrochen aus ihr hervorsprudelten, haben uns in Becken verwandelt, von denen ebenso viele Bächlein ausgingen, die voller Worte waren...»

«Ja. Ich hoffe, daß die Jünger kein Wunder an ihrer Zunge gewirkt haben... Sonst müßte man sagen: ihr habt ein zu großes Wunder gewirkt», meint Thaddäus, der entgegen seiner Gewohnheit herzlich lacht.

«Das Schönste wird sein, wenn sie uns zurückkommen sieht und den Meister als den erkennt, der er ist! Wer wird sie dann noch zum Schweigen bringen?» fragt Jakobus des Zebedäus.

«Nein, im Gegenteil, sie wird vor Staunen sprachlos sein», sagt Matthäus, der an dem jugendlichen Geplauder teilnimmt.

«Ich werde den Allerhöchsten preisen, wenn die Verblüffung ihre Zunge lähmen wird. Vielleicht ist es mir so ergangen, weil ich noch nüchtern bin, aber sicher ist, daß ihr Wortschwall mir Schwindel verursacht hat», sagt Petrus.

«Und wie sie geschrieen hat! Ob sie wohl taub ist?» fragt Thomas.

«Nein, sie hat uns für taub gehalten», antwortet Iskariot.

«Laßt sie in Ruhe, die arme alte Frau! Sie ist gut und gläubig. Ihr Herz ist großmütig wie ihre Zunge», sagt Jesus ziemlich ernst.

«Oh, mein Meister, dann ist die alte Frau ebenso heroisch wie großmütig», sagt Johannes herzlich lachend.

Die felsige Kalksteinwand ist schon sichtbar, und man hört auch bereits das Rauschen der Wasser, die sich in das Becken ergießen...

«Da ist das Bächlein. Folgen wir ihm... Da ist die Quelle... und dort: Benjamin! Daniel! Abel! Philippus! Ermastheus! Wir sind hier! Der Meister ist da!» ruft Johannes einer Gruppe von Männern zu, die sich um jemanden scharen, den man nicht sehen kann.

«Schweig, Junge, sonst wirst du bald wie dieses alte Huhn aussehen», rät Petrus.

Die Jünger haben sich umgewandt, und im selben Augenblick, in dem sie den Meister mit den Aposteln erblicken, stürzen sie auch schon in großen Sprüngen von der Felsenterrasse herab. Da sich nun das Menschenknäuel auflöst, sehe ich, daß sich zu den vielen nunmehr älteren Jüngern auch Bewohner von Kedes und sogar aus dem Dorf des Taubstummen gesellt haben. Sie müssen wohl direktere Wege gewählt haben, da sie vor dem Meister eingetroffen sind. Die Freude ist groß und die Fragen und die Antworten sind zahlreich. Jesus hört geduldig zu und antwortet, bis der hagere, mit Vorräten beladene Isaak, lächelnd in Begleitung von zwei anderen herbeikommt.

«Wir wollen in das gastfreundliche Haus gehen, Herr, und dort wirst

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du uns erklären, was wir nicht sagen sollten, da wir es selbst nicht wissen. Die zuletzt Angekommenen – sie sind erst seit einigen Stunden bei uns -möchten wissen, welches das Zeichen des Jonas ist, das du dem bösen Geschlecht, welches dich verfolgt, vorausgesagt hast», sagt Isaak.

«Ich werde es ihnen unterwegs erklären...»

Unterwegs? Das ist schnell gesagt! Als ob Blumenduft sich durch die Luft verbreitet hätte und zahlreiche Bienen darauf zufliegen würden, so eilen von allen Seiten Leute herbei, um sich mit denen zu vereinigen, die Jesus umgeben.

«Es sind unsere Freunde», erklärt Isaak. «Leute, die geglaubt und auf dich gewartet haben...»

«Leute, die von den Jüngern und ganz besonders von ihm Wohltaten empfangen haben», ruft einer aus der Menge.

Isaak wird glühend rot und sagt, fast wie um sich zu entschuldigen:

«Ich bin nur ein Diener, er ist der Herr! Ihr, die ihr wartet: seht, da ist der Meister, Jesus!»

Der ruhige, etwas abseits gelegene Winkel von Caesarea wird auf einmal belebter und lauter als ein Markt. Hosannarufe! Beifall! Bittrufe! Es fehlt an nichts. Jesus kommt nur sehr langsam vorwärts, eingezwängt in eine Schar Menschen voll liebevoller Zuneigung. Er lächelt und segnet. So langsam kommt man vom Fleck, daß es einigen gelingt wegzulaufen, um die Nachricht zu verbreiten, und mit Freunden oder Verwandten zurückzukehren; Kinder werden hochgehalten, damit sie, ohne Schaden zu nehmen, bis zu Jesus gelangen, der sie liebkost und segnet.

So erreichen sie das Haus von vorhin und klopfen an. Die alte Dienerin öffnet ohne Zögern, als sie die Stimmen hört. Nun... sieht sie Jesus inmitten der jubelnden Menge und versteht... Sie fällt zu Boden und jammert: «Erbarmen, mein Herr! Deine Dienerin hat dich nicht erkannt und dir nicht gehuldigt!»

«Das ist nicht schlimm, Frau, du hast den Menschen nicht gekannt, hast jedoch an IHN geglaubt. Und das ist erforderlich, um von Gott geliebt zu werden. Steh nun auf und führe mich zu deiner Herrschaft.»

Die alte Frau gehorcht, zitternd vor Ehrfurcht. Sie sieht hinten am Ende des etwas dunklen Ganges, den Herrn und die Herrin in Ehrfurcht erstarrt an die Wand gelehnt stehen, weist auf sie hin und sagt: «Da sind sie.»

«Der Friede sei mit euch und mit diesem Haus! Der Herr segne euch ob eures Glaubens an Christus und eurer Liebe zu seinen Jüngern», sagt Jesus, indem er dem alten Ehepaar, oder Bruder und Schwester, entgegengeht. Sie erweisen ihm Ehre und begleiten ihn auf die geräumige Terrasse, wo viele gedeckte Tische unter einem schweren Zeltdach bereitstehen. Von hier hat man einen weiten Ausblick über Caesarea und die Berge, die seitlich und jenseits des Ortes liegen. Die Tauben fliegen von der Terrasse zum Garten voll blühender Obstbäume.

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Während ein alter Diener noch mehr Sitzplätze herrichtet, erklärt Isaak: «Benjamin und Anna nehmen nicht nur uns auf, sondern alle, die um deinetwillen hierher kommen. Sie tun es in deinem Namen!»

«Der Himmel möge sie stets segnen.»

«Oh, wir sind vermögend und haben keine Erben, und nun, am Ende unseres Lebens, adoptieren wir anstatt der Kinder die Armen des Herrn», sagt die Greisin schlicht.

Jesus legt ihr seine Hand auf das weiße Haupt mit den Worten: «Das läßt dich mehr Mutter sein, als wenn du sieben und mehr Kinder empfangen hättest. Doch erlaubt mir, daß ich einigen Leuten erkläre, was sie wissen möchten, damit wir uns dann von den Bürgern verabschieden und uns zu Tisch setzen können.»

Die Terrasse ist mit Menschen überfüllt, und immer noch kommen neue hinzu und drängen sich in die noch freien Lücken. Jesus ist umringt von einer Reihe von Kindern, die verzückt mit ihren großen unschuldigen Augen zu ihm aufschauen. Er sitzt mit dem Rücken zum Tisch und lächelt diesen Kindern zu, obgleich er über ein ernstes Thema spricht. Es scheint, als ob er auf diesen unschuldigen Gesichtlein die Wahrheit, nach der man ihn fragt, lesen würde.

«Hört! Das Zeichen des Jonas, das ich den Bösewichten vorausgesagt habe und auch euch verheiße, nicht etwa weil ihr böse seid, sondern damit ihr, wenn ihr es erfüllt seht, die Vollkommenheit im Glauben erlangt, ist dieses: So wie Jonas drei Tage und drei Nächte im Bauche des Seeungeheuers war und danach der Welt zurückgegeben wurde, um Ninive zu bekehren und zu retten, so wird auch der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein. Um die Wellen eines großen satanischen Sturmes zu beruhigen, werden es die Großen Israels für gut halten, den Unschuldigen zu opfern. Doch werden sie nichts anderes tun, als vermehrt Gefahren heraufbeschwören, denn außer Satan, dem Lügner, haben sie Gott, der ihre Verbrechen bestraft. Allein durch den Glauben an mich könnten sie den satanischen Ansturm besiegen. Doch tun sie es nicht, da sie in mir den Urheber ihrer Verwirrung, ihrer Ängste, ihrer Gefahren und den, der ihre falsche Heiligkeit entlarvt, sehen. Aber wenn die Stunde gekommen ist, wird das unersättliche Ungeheuer, der Schlund der Erde, der alle Toten verschlingt, sich öffnen, um der Welt jenes Licht wiederzugeben, das sie verleugnet hat.

Wie Jonas also für die Niniviten ein Zeichen der Macht und Barmherzigkeit des Herrn war, so wird es der Menschensohn für diese Generation sein, mit dem Unterschied, daß sich Ninive bekehrte, während Jerusalem sich nicht bekehren wird, weil es von jenem bösen Geschlecht, von dem ich gesprochen habe, durchdrungen ist. Daher wird die Königin des Südens am Tage des Gerichtes über dieses Geschlecht auftreten und es verurteilen, denn sie kam von den Enden der Erde, um die Weisheit Salomons

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zu hören, während dieses Geschlecht, das mich in seiner Mitte hat, mich nicht hören will und mich verfolgt und verjagt wie einen Aussätzigen und einen Sünder; mich, der ich viel mehr bin als Salomon. Auch die Niniviten werden am Tage des Gerichtes auftreten gegen dieses böse Geschlecht, das sich nicht zum Herrn, seinem Gott, bekehrt, während sich die Leute von Ninive auf die Predigt eines Menschen hin bekehrt haben. Ich bin mehr als ein Mensch, und sei es auch Jonas oder irgendein anderer Prophet.

Daher werde ich das Zeichen des Jonas dem geben, der ein eindeutiges Zeichen verlangt. Eines und noch ein Zeichen werde ich dem geben, der seine trotzige Stirn nicht beugen will vor den schon gegebenen Beweisen des Lebens, das durch meinen Willen zurückkehrt. Ich werde alle Zeichen geben, das eines verwesten Körpers, der unversehrt zum Leben zurückkehrt, sowie das eines Leibes, der sich selbst erweckt, da seinem Geist alle Macht gegeben ist. Aber dies werden keine Gnaden sein und es wird von dem Gesagten nichts wegnehmen. Weder hier noch in den ewigen Büchern des Lebens. Was geschrieben steht, steht geschrieben, und wie Steine für eine bevorstehende Steinigung werden sich die Beweise häufen, gegen mich, um mir zu schaden, ohne es zu vermögen, gegen sie, um sie auf ewig unter der Strafe Gottes zu begraben, die den ungläubigen Böswilligen vorbehalten ist.

Das also ist das Zeichen des Jonas, von dem ich gesprochen habe. Habt ihr sonst noch Fragen?»

«Nein, Meister! Wir werden es unserem Synagogenvorsteher berichten, der in der Beurteilung des versprochenen Zeichens der Wahrheit sehr nahegekommen ist.»

«Matthias ist ein Gerechter, und die Wahrheit enthüllt sich den Gerechten, so wie sie sich diesen Unschuldigen enthüllt, die besser als jeder andere wissen, wer ich bin. Laßt mich, bevor ich mich verabschiede, die Barmherzigkeit Gottes von den Engeln der Erde lobpreisen hören. Kommt, Kinder!»

Die Kinder, die sich bis dahin mit Mühe ruhig verhalten haben, gehen nun auf ihn zu.

«Sagt mir, Geschöpfe ohne Bosheit, welches ist für euch mein Zeichen ?»

«Daß du gut bist!»

«Daß du meine Mutter durch deinen Namen heilst!»

«Daß du alle gern hast!»

«Daß du so schön bist, wie es ein Mensch nicht sein kann!»

«Daß du jemanden gut machst, selbst wenn er böse war wie mein Vater.»

Jeder kleine Kindermund verkündet eine liebliche Eigenschaft Jesu oder ein Leid, das Jesus in ein Lächeln verwandelt hat.

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Aber der liebste von allen ist ein kleiner Wildfang von etwa vier Jahren, der auf den Schoß Jesu klettert, sich an seinen Hals hängt und sagt: «Dein Zeichen ist, daß du alle Kinder liebst, und daß die Kinder dich lieb haben. So lieb! ...» Er breitet seine rundlichen Ärmchen aus und lacht, um sich dann aufs neue an den Hals Jesu zu klammern, indem er seine kindliche Wange an die Wange Jesus schmiegt, der ihn küßt und fragt: «Aber warum liebt ihr mich, da ihr mich bis jetzt noch nie gesehen habt?»

«Weil du wie der Engel des Herrn aussiehst!»

«Du hast ihn doch nicht gesehen, Kleiner ...» neckt Jesus ihn lächelnd.

Das Kind ist einen Augenblick sprachlos. Dann aber lacht es, zeigt alle seine Zähnchen, und sagt: «Aber meine Seele hat ihn gesehen! Die Mutter sagt, daß ich eine habe. Sie ist hier, und Gott sieht sie, und die Seele hat Gott und die Engel gesehen und sieht sie immer, und meine Seele kennt dich, weil du der Herr bist!»

Jesus hebt das Kind auf, küßt es auf die Stirn und sagt: «Möge in dir durch diesen Kuß das Licht der Erkenntnis wachsen.» Dann stellt er es auf den Boden, und das Kind eilt hüpfend zu seinem Vater, drückt dessen Hand fest an die Stelle der Stirn, auf die der Herr es geküßt hat, und jauchzt: «Zur Mutter, zur Mutter! Damit sie mich dort küßt, wo der Herr mich geküßt hat, damit ihre Stimme zurückkehrt und sie nicht mehr weinen muß.»

Man erklärt Jesus, daß es sich um eine am Kehlkopf erkrankte Frau handelt, die sich ein Wunder erhoffte und von den Jüngern nicht geheilt werden konnte, da das unerreichbare Übel sehr tief steckt.

«Der kleinste Jünger, ihr Söhnchen, wird sie heilen. Gehe hin in Frieden, Mann, und habe Glauben wie dein Sohn», sagt er und verabschiedet sich vom Vater des Kindes.

Jesus küßt nun die anderen Kinder, die ebenfalls einen Kuß auf die Stirn haben möchten, und entläßt die Bürger. Es bleiben die Jünger, die von Kedes und die von dem anderen Ort, zurück.

Während sie auf die Speisen warten, befiehlt Jesus allen Jüngern, die ihm nach Kapharnaum vorausgehen werden, um sich dort mit denen aus anderen Orten zu vereinigen, morgen aufzubrechen. «Auf dem Weg nach Nazareth werdet ihr Salome, die Frauen und Töchter Nathanaels und des Philippus, sowie Johanna und Susanna mitnehmen. Dort werdet ihr meine Mutter und die Mutter meiner Brüder zu euch nehmen und sie nach Bethanien, in das Haus Josephs auf den Gütern des Lazarus, begleiten. Wir werden von der Dekapolis kommen.

«Und Margziam?» fragt Petrus.

«Ich habe gesagt: "Geht mir voraus nach Kapharnaum." Ich habe nicht gesagt: "Geht." Aber von Kapharnaum aus wird man die Frauen von unserer Ankunft benachrichtigen können, damit sie sich vorbereiten,

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um mit uns über die Dekapolis nach Jerusalern zu ziehen. Margziam, der nunmehr ein Jüngling ist, wird mit den Jüngern gehen und die Frauen beschützen...»

«Es ist nur... ich wollte auch meine Frau nach Jerusalern mitnehmen. Die Arme, sie hat es sich immer gewünscht und... ist nie dazugekommen, weil ich keine Unannehmlichkeiten haben wollte! Aber dieses Jahr möchte ich ihr die Freude machen. Sie ist so gut!»

«Aber gewiß, Simon! Ein Grund mehr, daß Margziam mit ihr geht. Wir werden gemächlich reisen und alle dort zusammentreffen ...»

Der alte Hausherr sagt: «Nur für so kurze Zeit bleibst du bei mir?»

«Vater, ich habe noch viel zu tun und möchte wenigstens acht Tage vor dem Passahfest in Jerusalern sein. Bedenke, daß die erste Phase des Monats Adar schon zu Ende ist...»

«Das ist wahr, aber ich habe mich so sehr nach dir gesehnt... Ich habe das Gefühl, im Lichte des Himmels zu sein, nun, da du hier bist... und daß, sobald du fortgehst, dieses Licht erlöschen wird.»

«Nein, Vater. Ich werde es in deinem Herzen zurücklassen, wie auch deiner Frau und eurem ganzen gastlichen Haus.»

Alle setzen sich zu Tisch und Jesus opfert die Speisen auf und segnet sie, worauf die Diener sie an den verschiedenen Tischen austeilen.

390. AUF DER BURG VON CAESAREA PHILIPPI

Die Mahlzeit im gastlichen Haus ist beendet. Jesus, gefolgt von den Zwölfen, den Jüngern und dem alten Hausherrn, geht aus dem Haus. Sie kehren zur "Großen Quelle" zurück, halten sich dort jedoch nicht auf, sondern begeben sich in nördlicher Richtung weiter.

Die eingeschlagene Straße ist, obwohl zeitweilig ansteigend, bequem' denn es ist eine Straße, die auch für Wagen und Reittiere geeignet ist. Auf dem Gipfel des Berges steht eine massive Festung, die durch ihre eigenartige Form auffällt. Sie scheint sich aus zwei Gebäuden zusammenzusetzen, von denen das eine einige Meter über dem anderen errichtet worden ist. Das weiter zurückliegende Gebäude, das besser befestigt ist, beherrscht das andere und dient wohl auch zu seiner Verteidigung. Eine hohe, breite Mauer mit mächtigen, quadratischen Türmen erhebt sich zwischen den beiden Bauten, die doch eine Einheit bilden, da sie von einer zweiten Mauer aus roh bearbeiteten Quadersteinen, die beide umschließt und am Sockel etwas schräg und breiter wird, um dem Gewicht der Bastionen besser standhalten zu können, umgeben sind. Die Westseite sehe ich nicht, aber Nord- und Südseite fallen senkrecht ab, ganz eins mit dem einzeln stehenden Berg. Ich nehme an, daß auch die Westseite die gleichen Strukturen aufweist.

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Der alte Benjamin, der wie alle Bürger stolz auf seine Heimatstadt ist, erklärt, daß die Burg des Tetrarchen außer einer Festung auch ein Vorposten zur Verteidigung der Stadt ist. Dann spricht er von ihrer Schönheit und Festigkeit, von der Nützlichkeit der Zisternen und der Becken, von der Geräumigkeit, der weiten Aussicht, der Lage usw. usw. «Selbst die Römer, die etwas davon verstehen, sagen, daß sie schön ist! ...»

Alsogleich fügt er an: «Ich kenne den Verwalter, und daher habe ich freien Zutritt zur Festung. Ihr werdet von dort den umfassendsten und schönsten Ausblick auf Palästina haben.»

Jesus hört gutmütig zu. Die anderen, die schon so viele Panoramen gesehen haben, lächeln verschmitzt ... Doch da der Alte eine so gute Seele ist, bringen sie es nicht übers Herz, ihn zu demütigen, und entsprechen seinem Wunsch, Jesus schöne Dinge zu zeigen.

Sie erreichen den Gipfel des Berges. Die Aussicht ist schon von dem kleinen Platz vor dem eisernen Eingangstor aus wirklich prächtig. Nun sagt der alte Herr: «Kommt, kommt! ... Drinnen ist es noch viel schöner. Wir werden auf den höchsten Turm der Zitadelle steigen, und ihr werdet sehen...» Sie betreten den dunklen Durchgang der mehrere Meter breiten Mauer und gelangen in einen Hof, in dem sie der Verwalter mit seiner Familie erwartet. Die beiden Freunde begrüßen sich, und der alte Herr erklärt den Grund des Besuches.

«Der Rabbi von Israel?! Schade, daß Philippus nicht da ist. Er hatte von ihm gehört und wollte ihn sehen. Er liebt die guten Rabbis, weil sie die einzigen waren, die sein Recht verteidigt haben, und auch, weil er den Antipas ärgern will, der sie nicht mag. Kommt, kommt! ...» Der Mann, der Jesus zuerst verstohlen angeschaut hat, hält es nun für angebracht, ihn mit einer Verbeugung, die eines Königs würdig wäre, zu begrüßen.

Sie gehen wieder durch einen Gang und kommen in einen zweiten Hof zu einem zweiten Eisengitter, hinter dem ein dritter Hof liegt, an dessen anderer Seite sich ein tiefer Graben und die mit Türmen versehene Mauer der Zitadelle befinden. Neugierige Gesichter von Bewaffneten und Hausaufsehern zeigen sich allenthalben. Sie treten in die Zitadelle ein und gelangen dann über eine kleine Stiege auf die Bastion, und von dort zu einem Turm. In den Turm begibt sich nur Jesus mit dem Aufseher, Benjamin und den Zwölfen. Mehr Leute haben nicht Platz, denn sie sind schon so gedrängt wie die Heringe. Die übrigen bleiben auf der Bastion.

Aber welch eine Aussicht genießen Jesus und die anderen auf der kleinen Terrasse, welche den Turm krönt, und wo sie sich über die massive Brustwehr beugen. Von der Westseite aus, dem höchsten Punkt der Festung, sieht man ganz Caesarea am Fuß des Berges, und man sieht es sehr gut, da es nicht nur Flachland, sondern sanfte Hänge gibt. Jenseits von Caesarea und diesseits des Meronsees, erstreckt sich eine fruchtbare Ebene. Der See, mit seinen zartgrünen und türkisfarbenen Wassern, die in der

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grünen Ebene wie Stücke eines heiteren Himmels schimmern, scheint ein kleines Meer zu sein. Man sieht verschwommen erkennbare Hügel, wie eine Halskette von dunklem Smaragd, gestreift mit dem Silber der Olivenbäume, die da und dort die Ebene begrenzen, und luftige Federbüsche oder dichte Bälle blühender Bäume... Im Norden und Osten sieht man den mächtigen Libanon, den Hermon, der mit seinem Schnee wie eine Perle in der Sonne glänzt; die Berge von Ituräa; das Jordantal, eingeschlossen zwischen den Hügeln des Sees von Tiberias, und die Berge der Gaulanitis verlieren sich in traumhafter Ferne und bieten einen wundervollen Anblick.

«Schön! Schön! Sehr schön!» ruft Jesus bewundernd aus, und es ist, als wolle er diese herrliche Landschaft segnen oder mit seinen ausgebreiteten Armen und seinem Lächeln umarmen. Er antwortet den Aposteln, die um diese oder jene Erklärung bitten, und deutet auf Orte in denen sie schon gewesen sind.

«Ich kann den Jordan aber nicht sehen», sagt Bartholomäus.

«Du siehst ihn nicht. Er ist dort, in der Ebene zwischen den beiden Hügelketten, gleich hinter der westlichen Kette. Wir werden uns dorthin begeben, denn in Peräa und in der Dekapolis wurde die Frohe Botschaft noch nicht verkündigt.»

Aufmerksam geworden durch einen jammervollen, unterdrückten Klagelaut, der nicht zum erstenmal an sein Ohr dringt, wendet er sich sogleich um und schaut den Verwalter an, wie um ihn zu fragen, was da geschieht.

«Es ist eine der Frauen der Burg, eine Ehefrau, sie gebiert ein Kind. Es ist ihr erstes und letztes, denn ihr Gatte ist am ersten Tag des Kislew gestorben. Ich weiß nicht, ob diese Frau noch lange leben wird, denn seit sie Witwe ist, verzehrt sie sich in andauernden Weinen. Sie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Hörst du? Sie hat nicht einmal mehr die Kraft zu schreien. Gewiß... Witwe mit siebzehn Jahren! ... Sie haben sich sehr geliebt. Meine Frau und die Schwiegermutter meinen: "In ihrem Kind wird sie Tobias wiederfinden!"... Doch sind es nur Worte! ...»

Sie steigen vom Turm herab, machen einen Rundgang um die Festung und bewundern immer wieder den Ort und den herrlichen Ausblick. Nun möchte der Verwalter den Besuchern unbedingt Getränke und Früchte anbieten. Sie treten in einen geräumiges Zimmer des vorderen Kastells, in dem Diener Speisen und Getränke auftragen.

Das Klagen wird nun herzzerreißend und man hört es deutlich. Der Verwalter entschuldigt sich dafür und auch, weil durch diesen Umstand seine Frau den Meister nicht begrüßen kann. Aber ein noch qualvolleres Wehklagen folgt nach, so stark, daß alle aufhören zu essen und zu trinken.

«Ich werde nachsehen, was geschehen ist», sagt der Verwalter. Während

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er hinausgeht, dringt das Wehklagen noch stärker durch die halbgeöffnete Türe.

Er kehrt zurück und sagt: «Das Neugeborene ist gestorben! Welch ein Schmerz! Sie versucht, das Kind mit ihren dahinschwindenden Kräften zu beleben... doch es atmet schon nicht mehr und ist schwarz!» «Arme Dorkas!» sagt er kopfschüttelnd.

«Bring mir das Kind.»

«Aber es ist tot, Herr.»

«Bring mir das Kind, sage ich, so wie es ist, und sage der Mutter, sie soll Glauben haben.»

Der Verwalter eilt davon und kehrt sogleich zurück: «Sie will nicht, sie sagt, sie wird es niemandem geben. Wie eine Irre sieht sie aus und glaubt, wir würden nur versuchen, ihr das Kind wegzunehmen!»

«Führe mich an die Schwelle ihres Zimmers, damit sie mich sehen kann.»

«Aber ...»

«Laß es gut sein! Ich werde mich nachher reinigen, wenn nötig ...»

Sie laufen eilends durch einen düstern Gang bis zu einer geschlossenen Tür. Jesus öffnet sie und bleibt an der Schwelle stehen. Ihm gegenüber, auf dem Bett, drückt ein zartes Geschöpf ein kleines Wesen, das kein Lebenszeichen mehr von sich gibt, an sein Herz.

«Der Friede sei mit dir, Dorkas! Schau mich an und weine nicht mehr. Ich bin der Erlöser. Gib mir dein Kind.»

Was in der Stimme Jesu liegt, weiß ich nicht. Ich sehe nur, daß die Verzweifelte, die bei seinem Anblick das Neugeborene sofort heftig an ihre Brust gedrückt hat, ihn nun anschaut, und daß in ihre leidvollen und verwirrten Augen ein wehmütiges Leuchten, in dem aber große Hoffnung ist, kommt. Sie überläßt das in weiche Leinwand gewickelte Neugeborene der Frau des Verwalters ... und bleibt, mit ausgestreckten Händen, das Leben, den Glauben in den weitgeöffneten Augen, taub für die Bitten der Schwiegermutter, die sie auf die Kissen zurücklegen will.

Jesus nimmt das Bündelchen aus halb erkaltetem Fleisch und Linnen. Er hält den Kleinen unter den Armen aufrecht vor sich und drückt seinen Mund auf die kleinen, halb geschlossenen Lippen; dabei steht er etwas gebeugt, da das kleine Köpfchen nach hinten sinkt. Dann bläst er stark in den leblosen Hals... Einen Augenblick steht er so da und berührt mit seinen Lippen den kleinen Mund, und dann erhebt er sein Haupt... ein Piepsen, wie das eines Vögleins, zittert durch die unbewegte Luft... ein zweites, stärkeres... ein drittes... und schließlich ein Gewimmer, begleitet von einem Schütteln des Köpfleins, einem Herumfuchteln der Händchen und Füßchen, während in einem langen, triumphalen Weinen des Neugeborenen das behaarte Köpfchen und das kleine Gesichtlein Farbe annehmen... und die Mutter freudig ausruft: «Mein Sohn! Meine Liebe! Same meines

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Tobias! An mein Herz! Ans Herz der Mutter, auf daß sie glücklich sterbe...» Die letzten Worte flüstert sie, und ihre Stimme erstirbt in einem Kuß und in begreiflichen Gefühlsäußerungen.

«Sie stirbt!» schreien die Frauen.

«Nein, sie fällt nur in einen verdienten Schlaf. Wenn sie erwacht, sagt ihr, sie soll den Knaben Jessai-Tobias nennen. Ich werde sie im Tempel, am Tag ihrer Reinigung, wiedersehen... Lebt wohl! Der Friede sei mit euch.»Er schließt langsam die Tür, wendet sich um und will dorthin gehen, wo er seine Apostel zurückgelassen hat. Doch diese sind schon alle da, und ganz gerührt über das Geschehen blicken sie ihn bewundernd an.

Zusammen kehren sie in den Hof zurück und verabschieden sich von dem erstaunten Verwalter, der andauernd wiederholt: «Wie leid wird es dem Tetrarchen tun, daß er nicht hier sein konnte!» Dann setzen sie den Abstieg fort, um sich in die Stadt zu begeben.

Jesus legt die Hand auf die Schulter des alten Benjamin und sagt: «Ich danke dir für das, was du uns geboten hast, und dafür, daß du mir die Möglichkeit gegeben hast, ein Wunder zu wirken.»...

391. JESUS SAGT ZUM ERSTEN MAL SEINE LEIDEN VORAUS; PETRUS WIRD GETADELT

Jesus muß die Stadt Caesarea Philippi schon im ersten Morgengrauen verlassen haben, denn sie liegt mit ihren Bergen schon ziemlich weit hinter ihm, während er sich wieder in der Ebene befindet. Er geht in Richtung Meronsee und von dort zum See von Genesareth. Bei ihm sind die Apostel und alle Jünger, die in Caesarea waren. Aber, daß eine so zahlreiche Pilgergruppe unterwegs ist, wundert niemanden, denn man begegnet schon anderen Karawanen, die auf dem Weg nach Jerusalern sind. Israeliten oder Proselyten kommen von allen Orten der Diaspora, um sich einige Zeit in der heiligen Stadt aufzuhalten, um die Rabbis zu hören und etwas länger im Tempel zu bleiben.

Unter der schon hoch stehenden Sonne, die jedoch im Frühjahr angenehm ist und mit den jungen Blättern und den blütenbedeckten Zweigen scherzt und Blumen hervorlockt, Blumen über Blumen an allen Ecken und Enden, ziehen sie dahin. Die Ebene vor dem See ist ein einziger Blumenteppich, und auf den Hügeln der Umgebung leuchten die weißen, rosaroten oder dunkelroten Farben der vielen Obstbäume. Bei den vereinzelten Bauernhäusern und vor den Hufschmieden am Straßenrand sieht man die ersten blühenden Rosen in den Gärten, längs der Hecken und an den Mauern.

«Die Gärten Johannas müssen alle in voller Blüte stehen», bemerkt Simon der Zelote.

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«Auch der Garten von Nazareth wird jetzt einem prächtigen Blumenkorb gleichen. Maria ist die süße Biene, die sich von Rosenstrauch zu Rosenstrauch, zum Jasmin, der bald blühen wird, und zu den knospenden Lilien begibt. Sie wird einen Mandelzweig pflücken, wie sie es immer tut, das heißt, jetzt wird sie einen Zweig des Birn- oder Granatapfelbaumes pflücken und ihn in den Krug in ihrem Zimmerchen stecken. Als wir Kinder waren, fragten wir sie jedes Jahr: "Warum hast du dort immer den Zweig eines blühenden Baumes und nicht einige von den ersten Rosen?" Worauf sie jeweils antwortete: "Weil ich auf diesen Blütenblättern einen Befehl Gottes geschrieben sehe und weil sie den reinen Duft des Himmels verbreiten." Erinnerst du dich daran, Judas?» fragt Jakobus des Alphäus seinen Bruder.

«Ja, ich erinnere mich. Ich entsinne mich auch, wie ich, als ich zum Mann herangewachsen war, stets mit Sehnsucht den Frühling erwartete, um Maria durch ihren Garten gehen zu sehen, unter den Wolken ihrer blühenden Bäume und zwischen den Hecken der ersten Rosen. Ich habe nie ein schöneres Schauspiel gesehen als das der ewigen Jungfrau, die flink zwischen den fliegenden Tauben inmitten der Blumen hin- und herging.»

«Oh, beeilen wir uns, um sie bald zu sehen, Herr! Auch ich möchte dies alles sehen!» bettelt Thomas.

«Wir brauchen nur rascher zu gehen und während der Nachtzeit weniger lange zu rasten, um rechtzeitig nach Nazareth zu kommen», antwortet Jesus.

«Wirst du mich wirklich zufriedenstellen, Herr?»

«Ja, Thomas! Wir werden alle nach Bethsaida und dann nach Kapharnaum gehen, und uns dann dort trennen. Wir werden mit dem Boot nach Tiberias fahren und dann unseren Weg nach Nazareth fortsetzen. Mit Ausnahme von euch Judäern, werden wir leichtere Gewänder anziehen, denn der Winter ist vorüber.»

«Ja, und wir werden zur Taube sagen: "Auf, meine Freundin, meine Schönste, komm. Denn siehe, vorbei ist der Winter, der Regen verschwunden, vergangen. Die Blumen erscheinen am Boden. Auf, meine Freundin meine Schönste, komm! Komm, meine Taube im Verstecke des Wandschirms. Laß deinen Anblick mich schauen, deine Stimme mich hören!"»

«Seht nur, Johannes ist wie ein Verliebter, der seiner Schönen ein Ständchen bringt!» sagt Petrus.

«Gewiß bin ich es, und zwar verliebt in Maria. Keine andere Frau könnte meine Liebe wecken, nur Maria, die mit meinem ganzen Sein Geliebte!»

«Dasselbe habe auch ich vor einem Monat gesagt, nicht wahr, Herr?» sagt Thomas.

«Ich glaube, wir sind alle in sie verliebt, mit einer so erhabenen himmlischen Liebe... die nur sie, Maria, zu wecken vermag. Die Seele liebt ihr

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Seele in vollkommener Weise, der Geist liebt und bewundert ihren Geist, das Auge sättigt sich an ihrer reinen Anmut, die erfreut ohne erschauern zu machen, wie wenn man eine Blume betrachtet... Maria, die Schönheit der Erde und, ich glaube, auch die Schönheit des Himmels!» sagt Matthäus.

«Das ist wahr! Das ist wahr! Alle sehen wir in Maria, was am anmutigsten ist an einer Frau. Sie ist das reine Mädchen und die liebste Mutter, und man weiß nicht, ob man sie mehr der einen oder der anderen Anmut wegen liebt...», sagt Philippus.

«Man liebt sie, weil sie "Maria" ist. Das ist es!» meint Petrus.

Jesus hat ihnen zugehört und sagt: «Alle habt ihr recht. Simon Petrus hat es sehr gut gesagt. Maria liebt man, weil sie "Maria" ist. Ich habe euch auf dem Weg nach Caesarea gelehrt, daß nur die, die den vollkommenen Glauben mit der vollkommenen Liebe verbinden, imstand sein werden, die wahre Bedeutung der Worte zu verstehen: "Jesus, der Gesalbte, das Wort, der Sohn Gottes und der Menschensohn." Aber ich sage euch, daß es noch einen anderen Namen gibt, der reich an Bedeutung ist. Es ist der Name meiner Mutter. Nur jene, die vollkommenen Glauben mit vollkommener Liebe verbinden, werden auch dahin gelangen, die wahre Bedeutung des Namens "Maria", der Mutter des Sohnes Gottes, zu erkennen. Die wahre Bedeutung ihres Namens wird den wahrhaft Glaubenden und den wahren Liebenden in einer schrecklichen Stunde des Schmerzes offenbar werden, wenn die Gottesgebärerin mit ihrem Kinde gemartert werden wird, wenn die Miterlöserin mit dem Erlöser vor den Augen der ganzen Welt und für alle Zeiten die Menschen erlösen wird.»

«Wann wird das geschehen?» fragt Bartholomäus, als sie am Ufer eines großen Gießbaches stehengeblieben sind, aus dem mehrere der Jünger trinken.

«Laßt uns hier anhalten und das Brot brechen. Die Sonne steht schon hoch. Heute abend werden wir am Meronsee sein und den Weg mit kleinen Booten abkürzen», antwortet Jesus ausweichend.

Sie setzen sich alle auf das frische weiche, von der Sonne erwärmte Gras an den Ufern des Baches, und Johannes bemerkt: «Es tut einem leid, diese schönen Blümlein zu zerdrücken. Sie gleichen Sternchen, die vom Himmel auf die Wiese gefallen sind.» Es sind Hunderte und Aberhunderte von Vergißmeinnicht.

«Morgen werden neue und noch schönere erblühen. Sie blühen, um aus dem Erdreich einen Speisesaal für unseren Herrn zu machen», tröstet ihn sein Bruder Jakobus.

Jesus opfert und segnet die Speise, und alle beginnen freudig zu essen. Die Jünger blicken alle, wie Sonnenblumen, die sich nach der Sonne drehen, auf Jesus, der in der Mitte des Kreises seiner Apostel sitzt... Das mit Frohsinn und reinem Wasser gewürzte Mahl ist bald beendet. Doch da

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Jesus noch sitzenbleibt, rührt sich niemand. Die Jünger rücken zusammen, um näher bei Jesus zu sein und zu hören, was er sagt, wenn er den Aposteln antwortet. Sie möchten Erläuterungen über das, was er zuvor über seine Mutter gesagt hat.

«Ja, mir dem Fleische nach Mutter zu sein, wäre schon etwas Erhabenes gewesen. Bedenkt, daß Anna des Elkana als Mutter des Samuel erwähnt wird, und er war nur ein Prophet. Dennoch wird die Mutter erwähnt, weil sie ihn geboren hat. Bedenkt nun, daß Maria das allerhöchste Lob gebühren würde, weil sie der Welt den Erlöser geschenkt hat. Doch auch das wäre wenig, wenn man bedenkt, was Gott alles von ihr verlangt, um das, was zur Erlösung der Welt an meinen Drangsalen noch fehlt, zu ergänzen. Maria wird dem Wunsche Gottes entsprechen. Nie hat sie ihn enttäuscht, angefangen von den Forderungen der totalen Liebe bis zu denen des totalen Opfers: sie hat sich hingegeben, und sie wird sich hingeben. Wenn sie einst das höchste Opfer mit mir und für mich und für die Welt vollbracht haben wird, dann werden die wahren Gläubigen und die wahren Liebenden die wahre Bedeutung ihres Namens verstehen. Durch alle Jahrhunderte hindurch wird es jedem wahren Gläubigen und Liebenden gegeben werden, ihn zu erkennen. Den Namen der erhabenen Mutter, der heiligen Ernährerin, die durch alle Jahrhunderte hindurch die Kinder des Gesalbten mit ihren Tränen nähren wird, auf daß sie zum ewigen Leben im Himmel heranwachsen!»

«Tränen, Herr? Muß deine Mutter weinen?» fragt Iskariot.

«Jede Mutter weint, und meine Mutter wird mehr als jede andere weinen!»

«Aber warum? Ich habe meine Mutter einigemale zum Weinen gebracht, denn ich war nicht immer ein guter Sohn. Aber du! Du fügst deiner Mutter nie Schmerz zu.»

«Nein, gewiß werde ich ihr als Sohn keinen Schmerz zufügen, jedoch als Erlöser werde ich die Ursache vieler ihrer Tränen sein. Zwei werden es sein, die meine Mutter ohne Ende weinen lassen: Ich, um die Menschheit zu erlösen, und die Menschheit durch ihr fortwährendes Sündigen. Jeder Mensch, der gelebt hat, lebt und zukünftig leben wird, kostet Maria Tränen.»

«Aber warum?» fragt Jakobus des Zebedäus erstaunt.

«Weil mich jeder Mensch, den ich erlöse, Qualen kostet.»

«Aber wie kannst du dies von jenen sagen, die schon gestorben oder noch nicht geboren sind. Die Lebenden verursachen dir Leiden, die Schriftgelehrten, die Pharisäer, die Sadduzäer mit ihren Anklagen, ihren Eifersüchteleien, ihren Bosheiten. Aber mehr doch nicht», behauptet Bartholomäus mit Bestimmtheit.

«Johannes der Täufer wurde auch getötet... und er ist nicht der einzige Prophet, den Israel getötet hat, und der einzige Priester nach dem Willen

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Gottes, der getötet wurde, weil er denen, die Gott ungehorsam sind, nicht genehm war.»

«Aber du bist doch mehr als ein Prophet und sogar mehr als der Täufer, dein Vorläufer. Du bist das Wort Gottes. Die Hand Israels wird sich nicht gegen dich erheben», sagt Judas Thaddäus.

«Glaubst du das, Bruder? Dann bist du im Irrtum», antwortet ihm Jesus.

«Nein! Das kann nicht sein! Das darf nicht geschehen! Gott wird es nicht zulassen! Das wäre eine ewige Erniedrigung seines Gesalbten!» Judas Thaddäus ist so erregt, daß er sich erhebt.

Auch Jesus tut dasselbe. Er schaut ihm fest in sein blaß gewordenes Antlitz, in seine aufrichtigen Augen und sagt langsam: «Und doch wird es so sein», und er senkt den rechten Arm, den er wie zum Schwur erhoben hatte.

Alle stehen auf und drängen sich noch näher an ihn heran; ein Kranz betrübter, aber eher noch ungläubiger Gesichter; ein Murmeln geht durch die Gruppe: «Gewiß... wenn es so wäre... dann hätte Thaddäus recht.»

«Was mit dem Täufer geschah, war schlecht. Aber es hat den Menschen erhöht, der bis zum Ende heldenhaft ausharrte. Wenn dies sich jedoch bei Christus wiederholen sollte, wäre es eine Herabsetzung.»

«Christus kann verfolgt, aber nicht erniedrigt werden. Die Salbung Gottes ist über ihm.»

«Wer könnte noch glauben, wenn man dich der Gewalt der Menschen ausgeliefert sähe?»

«Wir werden es nicht zulassen!»

Der einzige, der schweigt, ist Jakobus des Alphäus. Sein Bruder fährt ihn an: «Du sagst nichts? Du rührst dich nicht? Hörst du nicht? Verteidige Christus gegen sich selbst!»

Statt einer Antwort bedeckt Jakobus sein Gesicht mit den Händen, entfernt sich ein wenig von der Gruppe und weint.

«Er ist dumm!» schimpft sein Bruder.

«Vielleicht weniger, als du meinst», entgegnet Ermastheus. Dann fährt er fort: «Als der Meister gestern die Prophezeiung erklärt hat, hat er von einem aufgelösten Körper gesprochen, der sich erneuert, und von einem, der aus sich selbst aufersteht. Ich denke, daß einer nicht auferstehen kann, wenn er nicht zuvor gestorben ist.»

«Aber er kann eines natürlichen Todes, an Altersschwäche sterben. Das wäre schon viel für Christus!» meint Thaddäus, und viele geben ihm recht.

«Ja, aber dann wäre es nicht ein Zeichen, das dieser Generation gegeben wird, die viel älter ist als er», bemerkt Simon der Zelote.

«Sicher. Aber es ist nicht gesagt, daß er über sich selbst spricht», entgegnet Thaddäus, beharrlich in seiner Liebe und seiner Hochachtung.

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Niemand, der nicht Gottes Sohn ist, kann aus eigener Kraft auferstehen, so wie niemand außer dem Sohn Gottes geboren werden kann, wie er geboren wurde. Ich sage es! Denn ich habe die Herrlichkeit seiner Geburt gesehen», sagt Isaak mit Überzeugung.

Jesus hat ihnen mit verschränkten Armen zugehört und sie einen nach dem andern angeschaut. Jetzt gibt er ein Zeichen, daß er reden möchte und sagt: «Der Menschsohn wird in die Hände der Menschen überliefert werden, weil er der Sohn Gottes und zugleich der Erlöser der Menschen ist, und es gibt keine Erlösung ohne Leiden. Ich werde körperlich, in Fleisch und Blut, leiden, um die Sünden des Fleisches und Blutes zu sühnen. Auch ein moralisches Leiden werde ich durchzustehen haben, um die Sünden des Verstandes und der Leidenschaften zu sühnen. Es wird dies ein geistiges Leiden sein, um die Sünden des Geistes zu tilgen. Vollständig wird es sein. Daher werde ich zur vorherbestimmten Stunde in Jerusalern gefangengenommen werden, und nachdem ich durch die Schuld der Ältesten und der Hohenpriester, der Schriftgelehrten und Pharisäer vieles erlitten haben werde, werde ich zu einem schmählichen Tode verurteilt. Gott wird all dies zulassen, denn so muß es geschehen, da ich das Sühnelamm bin für die Sünden der ganzen Welt. Dann werde ich in einem Meer schrecklicher Angst, die meine Mutter und wenige andere mit mir teilen werden, am Kreuzesholz sterben. Nach drei Tagen werde ich durch meinen eigenen göttlichen Willen zum ewigen, glorreichen Leben als Gottmensch auferstehen und wieder zum Vater im Himmel zurückkehren und mit ihm und dem Geist Gott sein. Doch zuvor werde ich alle Schmach erleiden müssen und mein Herz wird durchbohrt werden durch die Lüge und den Haß der Welt.»

Ein Chor heftiger Entrüstung erhebt sich in der lauen, frühlingshaft duftenden Luft.

Auch Petrus ist empört und mit entsetztem Gesicht ergreift er Jesus am Arm und zieht ihn etwas zur Seite, um ihm leise ins Ohr zu flüstern: «Aber nein, Herr! Sage das nicht! Das ist nicht richtig! Du siehst, wie sie sich entrüsten. Du verminderst dein Ansehen bei ihnen. Um nichts in der Welt darfst du das zulassen; nie darf dir so etwas zustoßen. Weshalb also soll es als eine Wirklichkeit ins Auge gefaßt werden? Dein Ansehen bei den Menschen muß stets höher steigen, wenn du Anerkennung ernten willst, und dein Leben solltest du vielleicht mit einem letzten Wunder beschließen, zum Beispiel durch die Vernichtung deiner Feinde, doch niemals darfst du dich so erniedrigen, daß du dich einem bestraften Verbrecher gleichstellst.» Petrus gleicht einem betrübten Lehrer oder Vater, der seinem Sohn, der irgendwelche Torheiten gesagt hat, liebevoll sanfte Vorwürfe macht.

Jesus, der sich etwas zu Petrus geneigt hat, um sein Geflüster anzuhören, richtet sich nun ernst auf, seine Augen funkeln verärgert, und er ruft

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so laut, daß alle hören können, was allen gilt: «Weiche von mir, der du in diesem Augenblick ein Satan bist und mir rätst, dem Vater im Himmel meinen Gehorsam zu verweigern! Um ihm zu gehorchen, bin ich gekommen, nicht um der Ehren willen! Du, der du mir zum Hochmut, zum Ungehorsam und zur lieblosen Härte rätst, versuchst, mich zum Bösen zu verführen. Geh, du bist mir ein Ärgernis! Du verstehst nicht, daß die Größe nicht in den Ehren, sondern im Opfer besteht, und daß es nichts bedeutet, in den Augen der Menschen ein Wurm zu sein, wenn Gott uns als Engel erachtet! Du törichter Mensch verstehst nicht, worin die Größe Gottes und die Weisheit Gottes bestehen, und siehst, urteilst, fühlst und sprichst aus dem, was des Menschen ist!»

Der arme Petrus, vernichtet von diesem strengen Tadel, entfernt sich beschämt und weint... und es sind nicht Tränen der Freude, wie vor einigen Tagen, sondern es ist das trostlose Weinen eines Menschen, der begreift, daß er Schuld auf sich geladen und den betrübt hat, den er liebt. Jesus läßt ihn weinen, löst die Riemen seiner Sandalen, hebt sein Gewand etwas hoch und watet durch den Bach. Die anderen machen es ihm schweigend nach. Niemand wagt, ein Wort zu sagen. Als letzter folgt Petrus, der vergeblich von Isaak und dem Zeloten getröstet wird. Andreas wendet sich mehr als einmal nach ihm um und flüstert Johannes, der sehr betrübt ist, etwas zu. Doch Johannes schüttelt nur den Kopf.

Da faßt Andreas Mut, eilt nach vorn und holt Jesus ein. Leise ruft er, mit einem merklichen Zittern in der Stimme: «Meister, Meister! ...»

Jesus läßt ihn mehrmals rufen, und schließlich dreht er sich um und fragt streng: «Was willst du?»

«Meister, mein Bruder ist betrübt... Er weint...»

«Er hat es verdient!»

«Das ist wahr, Herr. Aber er ist doch nur ein Mensch... und kann nicht immer richtig reden.»

«In der Tat, heute hat er sehr schlecht geredet», antwortet Jesus. Er ist schon weniger streng, und ein Anflug von Lächeln mildert das göttliche Auge.

Andreas faßt Mut und fährt mit seiner Fürsprache zugunsten seines Bruders fort: «Doch du bist gerecht und weißt, daß es die Liebe zu dir war, die ihn hat irren lassen ...»

«Die Liebe muß Licht sein und nicht Finsternis. Er hat sie in Finsternis gewandelt und seinen Geist damit umhüllt.»

«Das ist wahr, Herr. Aber die Binden kann man entfernen, wenn man den Willen dazu hat. Es ist nicht dasselbe, wie wenn im Geist selbst Finsternis herrscht. Die Binden sind eine Hülle. Der Geist ist das Innere, der lebendige Kern... Das Innere meines Bruders ist gut.»

«Er soll also die Binden entfernen, mit denen er seinen Geist umhüllt hat.»

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«Er wird es gewiß tun, Herr, und er tut es schon. Dreh dich um und schau, wie sein Gesicht entstellt ist vom Weinen, weil du ihn nicht tröstest. Warum bist du so streng mit ihm?»

«Weil er die Pflicht hat, der "Erste" zu sein, da ich ihm diese Ehre verliehen habe. Wer viel empfängt, muß auch viel geben ...»

«Oh, Herr, das ist wahr. Aber erinnerst du dich nicht an Maria des Lazarus? An Johannes von Endor? An Aglaia? An die Schöne von Chorazim? An Levi? Diesen hast du alles gegeben, und sie haben dir noch nichts anderes gegeben als die Absicht, sich erlösen zu lassen... Herr 1

Du hast mich erhört zugunsten der Schönen von Chorazim und der Aglaia. Willst du mich nicht für deinen und meinen Simon erhören, der aus Liebe zu dir gesündigt hat?»

Jesus senkt seinen Blick zu dem Sanften, der eifrig und eindringlich für seinen Bruder bittet, so wie er es schweigend für Aglaia und die Schöne von Chorazim getan hat, und sein Antlitz erstrahlt. «Geh und rufe mir deinen Bruder und bringe ihn her zu mir!» sagt er.

«Oh, danke, mein Herr! Ich gehe ...», und er eilt davon, behende wie eine Schwalbe.

«Komm, Simon! Der Meister grollt dir nicht mehr. Komm, er will dir etwas sagen.»

«Nein, nein. Ich schäme mich... Es ist noch nicht lange her, daß er mich getadelt hat... Er ruft mich, um mich noch einmal zu tadeln ...»

«Wie schlecht du ihn kennst! Auf, komm! Meinst du, ich würde dir ein neues Leid antun? Wenn ich nicht sicher wäre, daß dich bei ihm eine Freude erwartet, würde ich nicht darauf bestehen. Komm!»

«Aber was soll ich ihm denn sagen?» fragt Petrus und begibt sich etwas widerstrebend zu Jesus. Seine Menschlichkeit hält ihn zurück, jedoch sein Geist, der nicht ohne Willfährigkeit gegenüber Jesus und seiner Liebe sein kann, spornt ihn an.

«Was soll ich ihm sagen?» fährt er fort zu fragen.

«Nichts! Zeig ihm dein Gesicht, das wird genügen», ermuntert ihn der Bruder.

Alle Jünger, an denen die beiden Brüder vorübergehen, schauen sie lächelnd an, denn sie verstehen, was vor sich geht.

Sie haben Jesus nun eingeholt, aber im letzten Augenblick bleibt Petrus stehen.

Andreas macht keine Geschichten mehr, und mit einem energischen Ruck, wie er es bei seinem Boot tut, wenn er es ins Wasser schiebt, stößt er ihn vorwärts. Jesus bleibt stehen. Petrus erhebt sein Gesicht... Jesus senkt seinen Blick... Sie schauen einander an. Zwei dicke Tränen rollen über die geröteten Wangen des Petrus...

«Komm her, du großes, unbedachtes Kind, daß ich dir als Vater die Tränen trockne», sagt Jesus, hebt seine Hand, auf der noch das Mal des

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Steinwurfs von Gischala sichtbar ist, und wischt mit seinen Fingern die beiden Tränen ab.

«O Herr, hast du mir verziehen?» stottert Petrus zitternd, indem er die Hand Jesu in die seine nimmt und ihn mit Augen eines treuen Hündleins anschaut, das sich von seinem erzürnten Herrn verzeihen lassen will.

«Ich habe dich nie verurteilt...»

Aber vorhin...»

«Habe ich dich geliebt! Es ist Liebe, nicht zu erlauben, daß die Verirrung des Gefühls und der Weisheit in dir Wurzel faßt. Du mußt in allem der erste sein, Simon Petrus!»

«Dann... dann... liebst du mich immer noch? Willst du mich wieder haben? Nicht, daß ich den ersten Platz haben will, weißt du? Mir genügt auch der letzte. Aber ich will bei dir sein, in deinen Diensten... und in deinem Dienste sterben, mein Herr und Gott!»

Jesus legt ihm den Arm um die Schultern und zieht ihn an seine Seite. Da bedeckt Simon, der die andere Hand Jesu noch nicht losgelassen hat, diese mit Küssen. Selig flüstert er: «Wie sehr habe ich gelitten! ... Danke, Jesus!»

«Bedanke dich eher bei deinem Bruder, und wisse in Zukunft deine Last mit Gerechtigkeit und Heldenmut zu tragen. Wir wollen nun auf die anderen warten. Wo sind sie?»

Sie sind dort stehengeblieben, wo Petrus Jesus eingeholt hat, um dem Meister die Möglichkeit zu geben, mit seinem gedemütigten Apostel zu reden. Jesus winkt ihnen zu, daß sie herankommen sollen. Bei ihnen steht eine kleine Gruppe von Landarbeitern, die aufgehört haben, auf den Feldern zu arbeiten und gekommen sind, um den Jüngern Fragen zu stellen.

Jesus, der immer noch seine Hand auf der Schulter des Petrus liegen hat, sagt: «Nach dem, was hier vorgefallen ist, habt ihr verstanden, daß es eine ernste Sache ist, in meinem Dienst zu stehen. Ich habe Petrus getadelt, doch mein Tadel galt allen, denn die gleichen Gedanken waren in den Herzen fast aller, und zwar schon geformt, oder zumindest im Aufkeimen. So habe ich sie in euch ein für allemal entwurzelt, und wer sie noch weiter hegen sollte, beweist dadurch, daß er weder meine Lehre, noch meine Sendung, noch mich, verstanden hat.

Ich bin gekommen, um Weg, Wahrheit und Leben zu sein. Ich gebe euch die Wahrheit durch meine Lehre. Ich bereite euch den Weg durch mein Opfer; ich zeichne ihn vor und zeige ihn euch. Aber das Leben gebe ich euch durch meinen Tod. Bedenket: wer immer meinem Ruf folgt und sich mir anschließt, um an der Erlösung der Welt mitzuwirken, muß stets bereit sein zu sterben, um anderen das Leben zu geben. Darum muß jeder, der mir nachfolgen will, bereit sein, sich selbst zu verleugnen, den alten Menschen mit seinen Leidenschaften, Neigungen, Sitten, Überlieferungen und Gedanken abzulegen und mir mit seinem neuen Ich zu folgen.

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Ein jeder nehme sein Kreuz auf sich, wie ich es auf mich nehmen werde. Er nehme es auf sich, selbst wenn es ihm allzu schmachvoll erscheinen sollte. Er erdulde, daß die Last seines Kreuzes sein eigenes menschliches Ich erdrückt, um dadurch sein geistiges Ich zu befreien, dem das Kreuz keinen Schrecken einflößt, sondern dem es vielmehr zum Gegenstand der Stütze und der Verehrung wird; weil der Geist erkennt und bedenkt. Mit seinem Kreuz folge er mir nach. Wird ihn am Ende seines Weges ein schändlicher Tod erwarten, wie mich? Das tut nichts, er betrübe sich nicht, sondern frohlocke, denn die Schmach dieser Erde wird sich im Himmel in große Herrlichkeit wandeln, während es unehrenhaft wäre, feige hinsichtlich des geistigen Heldentums zu sein. Ihr sagt immer, daß ihr mir bis in den Tode folgen wollt. Folgt mir also nach, und ich werde euch in Gottes Reich führen auf einem schweren, aber heiligen und siegreichen Weg, an dessen Ziel ihr das auf ewig unveränderliche Leben erlangen werdet. Das wird "leben" sein. Auf den Wegen der Welt und des Fleisches wandeln dagegen bedeutet "sterben". Deshalb sage ich euch, wenn jemand sein Leben auf Erden retten will, wird er es verlieren, während jener, der das Leben auf Erden meinetwegen und aus Liebe zu meiner Frohen Botschaft verliert, es retten wird. Erwägt: Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, jedoch dann seine Seele verliert?

Hütet euch wohl, jetzt und in Zukunft, euch meiner Worte und Handlungen zu schämen. Auch das würde "sterben" bedeuten, denn wer sich meiner und meiner Worte schämt, inmitten des törichten, ehebrecherischen und sündhaften Geschlechtes, von dem ich gesprochen habe, und von diesem Schutz und Vorteil erhofft, ihm huldigt und dabei mich und meine Lehre verleugnet und meine Worte in das unreine Maul der Schweine und Hunde wirft, um dafür Kot anstatt Gold zu erhalten, der wird vom Menschensohn gerichtet werden, wenn er in der Herrlichkeit seines Vaters mit den Engeln und Heiligen kommen wird, um die Welt zu richten. Dann wird er sich dieser Ehebrecher, Verräter und Wucherer schämen und sie aus seinem Reiche verjagen, denn im Himmlischen Jerusalern wird kein Platz sein für Ehebrecher, Verräter, Flucher, Gotteslästerer und Diebe. Wahrlich, ich sage euch, es gibt hier unter meinen Jüngern und Jüngerinnen solche, die der Tod nicht erreichen wird, bevor sie das Reich Gottes auf Erden, mit seinem gekrönten und gesalbten König erlebt haben.»

Sie setzen den Weg wieder fort, und reden lebhaft miteinander, während die Sonne am Himmel langsam untergeht.

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392. PROPHEZEIUNG ÜBER PETRUS UND MARGZIAM; DER BLINDE VON BETHSAIDA

Sie gehen nicht mehr, sondern sie eilen in einer neuen Morgenröte, die noch schöner und klarer als an den vorhergehenden Tagen ist. Überall glitzern Tautropfen, die zusammen mit den bunten Blüten auf ihre Köpfe und die Wiesen herabrieseln, um noch weitere Farben unter die zahllosen, bereits auf den Wiesen und Feldern vorhandenen Blümlein zu mischen und neue Diamanten auf den frischen Grashalmen zu entzünden. Sie laufen und hören dem Singen der brünstigen Vögel zu, dem Säuseln einer leichten Brise und dem Plätschern der Gewässer, die seufzen oder wie Harfenklänge unter den Ästen ertönen, Gras und Getreide liebkosen, das von Tag zu Tag höher wird, oder einfach zwischen den Ufern weiterfließen und sanft die Halme, die das klare Wasser berühren, biegen. Sie laufen, als ginge es zu einem Liebesmahl. Auch die Älteren, wie Philippus, Bartholomäus, Matthäus und der Zelote teilen die heitere Eile mit den Jüngeren. So ist es auch bei den Jüngern, bei denen die ältesten mit den jüngsten im hurtigen Wandern wetteifern.

Noch ist der Tau auf den Wiesen nicht getrocknet, als sie die Gegend von Bethsaida erreichen, die in den engen Raum zwischen dem See, dem Fluß und dem Berg eingezwängt ist.

Aus dem Bergwald kommt auf einem Pfade ein Jüngling mit einem Reisigbündel daher, steigt flink herab, fast im Laufschritt, und sieht seiner gebückten Haltung wegen die Apostel nicht... Fröhlich singend läuft er mit der Last seines Holzbündels zur Hauptstraße und bei den ersten Häusern von Bethsaida angelangt, setzt er seine Bürde zu Boden und richtet sich auf, um auszuruhen, und wirft seine braunen Haare zurück. Er ist hochgewachsen, schlank und aufrecht, mit einem kräftigen Körper und beweglichen, schlanken Gliedern. Eine schöne Jünglingsgestalt.

«Es ist Margziam», sagt Andreas.

«Bist du verrückt? Der dort ist doch schon ein Mann!» antwortet ihm Petrus.

Andreas legt seine Hände wie einen Trichter vor den Mund und ruft ihn laut. Der Jüngling, der sich gebückt hat, um die Last wieder aufzunehmen, nachdem er den Gürtel an seiner kurzen Tunika angezogen hat, die ihm kaum bis zu den Knien reicht und an der Brust offen ist, da sie ihm wahrscheinlich zu eng ist, wendet sich in die Richtung des Rufes und erblickt Jesus, Petrus und die anderen, die zu ihm hinschauen. Sie sind bei einer Gruppe von Trauerweiden stehengeblieben, die ihre Zweige in das Wasser eines breiten Baches tauchen, dem letzten Zufluß auf der linken Seite des Jordan, bevor dieser sich an der Grenze des Dorfes in den See von Galiläa ergießt.

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Der Jüngling läßt das Bündel fallen, erhebt seine Arme und ruft: «Mein Herr! Mein Vater!» und beginnt zu laufen.

Aber auch Petrus beginnt zu laufen und watet durch den Bach, ohne seine Sandalen auszuziehen, und beschränkt sich nur darauf, die Kleider zusammenzuhalten. Dann läuft er auf der staubigen Straße weiter, während die breiten nassen Spuren seiner Sandalen auf dem trockenen Erdboden zurückbleiben.

«Mein Vater!»

«Lieber Sohn!»

Sie liegen sich in den Armen, und Margziam ist wirklich so groß wie Petrus, so daß seine braunen Haare bei dem liebevollen Kuß ins Antlitz des Petrus fallen. Er scheint sogar größer als sein Adoptivvater zu sein, da er so schlank ist. Nun löst Margziam sich aus der herzlichen Umarmung und beginnt weiterzulaufen, auf Jesus zu, der inzwischen ebenfalls den Bach überquert hat und sich, umgeben von seinen Aposteln, langsam nähert.

Margziam fällt ihm zu Füßen und sagt mit erhobenen Händen: «O mein Herr, segne deinen Diener!»

Jesus aber neigt sich zu ihm nieder und zieht ihn an sein Herz, küßt ihn auf beide Wangen und wünscht ihm: «Beständiger Friede, Zunahme an Weisheit und Gnade auf den Wegen des Herrn!»

Auch die anderen Apostel feiern den Jüngling, besonders diejenigen, die ihn seit Monaten nicht mehr gesehen haben, und beglückwünschen ihn zu seiner Entwicklung.

Aber Petrus! Petrus! Selbst wenn es sein leiblicher Sohn gewesen wäre, hätte er sich nicht mehr freuen können! Er geht um ihn herum, schaut ihn an, berührt ihn und sagt zum einen und andern: «Ist er nicht schön? Ist er nicht wohlgestaltet! Schaut, wie aufrecht er ist! Welch breite Brust! Welch gerade Beine er hat! ... Etwas mager, noch wenig Muskeln, doch läßt sich das Beste erhoffen. Wirklich, das Beste! Sein Gesicht? Schaut, ob er noch das kleine Wesen ist, das ich letztes Jahr auf meinen Armen getragen habe, als ich das Gefühl hatte, ein lahmes, dunkles, trauriges, ängstliches Vögelchen zu bergen... Gute Porphyria! Ja, sie hat wirklich alles gut gemacht, mit all dem Honig, der Butter, dem Öl, den Eiern und der Fischleber, die sie ihm gegeben hat! Sie verdient, daß ich es ihr sofort sage. Darf ich gleich zu meiner Frau gehen, Meister?»

«Geh, geh, Simon! Ich werde dich bald einholen.»

Margziam, den Jesus noch an der Hand hält, sagt: «Meister, mein Vater wird gewiß die Mutter bitten, ein Gastmahl zu bereiten. Laß mich gehen, um ihr zu helfen...»

«Geht, und Gott möge dich segnen, weil du Vater und Mutter ehrst.»

Margziam eilt davon, nimmt sein Reisigbündel wieder auf und holt Petrus ein, an dessen Seite er nun geht.

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«Sie gleichen Abraham und Isaak, wie sie auf den Berg steigen», bemerkt Bartholomäus.

«Oh, armer Margziam! Das würde gerade noch fehlen!» sagt Simon der Zelote.

«Und armer Bruder! Ich weiß nicht, ob er die Kraft zur Tat Abrahams hätte..., sagt Andreas.

Jesus blickt ihn an, dann schaut er auf das graumelierte Haupt des Petrus, der sich mit seinem Margziam entfernt, und sagt: «Wahrlich, ich sage euch, eines Tages wird Simon Petrus sich freuen zu erfahren, daß sein Margziam gefangengenommen, geschlagen, gegeißelt worden und dem Tode nahe sein wird. An jenem Tag würde er den Mut haben, ihn mit eigenen Händen an den Galgen zu hängen, um ihn dadurch mit dem Purpur des Himmels zu bekleiden und die Erde mit dem Blut des Märtyrers zu düngen, nur eines bedauern: daß er nicht an der Stelle seines Sohnes sein kann, da seine Erwählung zum obersten Haupt meiner Kirche ihn verpflichtet, sich so lange zu schonen, bis ich ihm sagen werde: "Geh nun und stirb für sie." Ihr kennt Petrus noch nicht. Ich kenne ihn.»

«Siehst du das Martyrium für Margziam oder meinen Bruder voraus?»

«Schmerzt es dich, Andreas?»

«Nein! Es schmerzt mich, weil du es nicht auch für mich voraussiehst.»

«Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, ihr werdet alle, ausgenommen einer, mit Purpur bekleidet sein!»

«Wer? Wer?»

«Breiten wir das Schweigen über den Schmerz Gottes», sagt Jesus traurig und feierlich. Alle schweigen verängstigt und nachdenklich.

Sie betreten die erste Straße von Bethsaida, zwischen Gärten voll frischem Gemüse. Petrus und andere von Bethsaida bringen einen Blinden zu Jesus. Margziam ist nicht dabei. Gewiß ist er zu Hause geblieben, um Porphyria zu helfen. Unter denen von Bethsaida und den Angehörigen des Blinden befinden sich viele Jünger, die von Sycaminon und anderen Städten hergekommen sind, darunter Stephanus, Hermas, der Priester Johannes, Johannes der Schriftgelehrte und viele andere.

(Sie alle im Gedächtnis zu behalten ist nicht leicht. Es sind sehr viele.)

«Ich habe ihn zu dir gebracht. Er wartet schon seit einigen Tagen hier», erklärt Petrus, während der Blinde und die Verwandten ein Gejammer anstimmen: «Jesus, Sohn Davids, habe Erbarmen mit uns!»

«Lege deine Hand auf die Augen meines Sohnes, und er wird sehend werden.»

«Habe Erbarmen mit mir, Herr! Ich glaube an dich!»

Jesus nimmt den Blinden an der Hand und, da die Sonne bereits die Straße durchflutet, zieht er sich mit ihm einige Meter zurück. Er lehnt ihn mit dem Rücken an die dichtbelaubte Mauer des ersten Hauses des Dorfes und stellt sich ihm gegenüber. Dann benetzt er die beiden Zeigefinger mit

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Speichel und streicht ihm mit den feuchten Fingern über die Lider. Er drückt die Hände auf die Augen, die Handwurzel in die Augenhöhlen und die gespreizten Finger ins Haar des Unglücklichen. So betet er. Schließlich nimmt er die Hände weg und fragt den Blinden: «Was siehst du?»

«Ich sehe Menschen, gewiß sind es Menschen, und blühende Bäume, so wie ich sie mir vorgestellt habe. Gewiß sind das Menschen, denn sie bewegen sich und sind mir zugewandt.»

Jesus legt ihm noch einmal die Hände auf, und dann nimmt er sie wieder weg und sagt: «Und nun?»

«Oh! Jetzt erkenne ich den Unterschied deutlich zwischen den in die Erde gepflanzten Bäumen und den Menschen, die mich anschauen... Und ich sehe dich! Wie schön du bist! Deine Augen gleichen dem Himmel, und deine Haare scheinen Sonnenstrahlen zu sein... Dein Blick und dein Lächeln sind göttlich! Herr, ich bete dich an!» und er kniet nieder, um den Saum des Gewandes Jesu zu küssen.

«Steh auf und geh zu deiner Mutter, die dir so viele Jahre Licht und Trost gewesen ist und von der du nur Liebe erfahren hast.»

Er nimmt ihn bei der Hand und führt ihn zur Mutter, die einige Schritte entfernt auf den Knien in Anbetung verharrt, wie sie zuvor gefleht hat.

«Erhebe dich, Frau, hier ist dein Sohn. Er sieht das Licht des Tages, möge sein Herz dem ewigen Licht folgen. Geht nun nach Hause! Seid glücklich, und seid gerecht in Dankbarkeit gegen Gott. Aber wenn ihr durch Dörfer kommt, sagt niemandem, daß ich ihn geheilt habe, damit die Menschen nicht hierher eilen und mich daran hindern, mich dorthin zu begehen, wo es gerecht ist, daß ich hingehe, um auch anderen Kindern meines Vaters Glaubenskraft, Licht und Freude zu bringen.»

Dann entschwindet er rasch auf einem kleinen Pfad zwischen Gärten und erreicht das Haus des Petrus, tritt hinein und begrüßt Porphyria liebevoll.

393. VON KAPHARNAUM NACH NAZARETH MIT MANAEN UND DEN JÜNGERINNEN

Als sie zum kleinen Gestade von Kapharnaum kommen, werden sie von Kindergeschrei empfangen. Mit den nestbauenden Schwalben wetteifern die Kleinen, so sehr eilen sie vom Strand zu den Häusern und zwitschern dabei mit ihren hellen Stimmen, unbefangen, heiter und froh, wie nur Kinder es sein können, für die es ein wunderbares Erlebnis ist, ein totes Fischlein am Ufer oder ein von der Welle geschliffenes Steinchen zu finden, das in seiner Farbe einem Edelstein gleicht, zwischen Steinen eine

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Blume zu entdecken oder einen schillernden Käfer im Fluge einzufangen. Alles wundervolle Dinge, die man den Müttern zeigen muß, damit sie an der Freude ihrer Kinder teilnehmen.

Doch nun haben diese menschlichen Schwälbchen Jesus gesehen, der dabei ist, seinen Fuß an Land zu setzen, und alle eilen ihm flugs entgegen. Es ist eine wahrhaftige Lawine von Kindern, eine liebliche Kette zarter Kinderhände, ja, es ist die Liebe kindlicher Herzen, die nun Jesus überströmt, der von ihr umgeben, umfaßt und wie durch ein wohltuendes Feuer erwärmt wird.

«Ich! Ich!»

«Ein Kuß!»

«Mir!»

«Auch mir einen Kuß!»

«Auch ich möchte einen haben!»

«Jesus, ich habe dich lieb!»

«Bleib nicht mehr so lange fort!»

«Ich bin jeden Tag hierher gekommen, um zu sehen, ob du wieder kommst.»

«Ich bin zu deinem Hause gegangen.»

«Nimm diese Blume. Sie war für meine Mutter, aber ich schenke sie dir.»

«Noch einen Kuß für mich, einen schönen, festen. Der erste hat mich nicht berührt, denn Jaël hat mich zurückgestoßen...» und die Stimmchen fahren fort zu zwitschern, während Jesus, umringt von diesem Netz von Zärtlichkeiten, versucht, vorwärtszukommen.

«So laßt ihn doch einen Augenblick in Ruhe! Weg! Genug!» rufen Jünger und Apostel und versuchen, Jesus aus der Umklammerung zu befreien. Aber ja! Sie gleichen Lianen mit Saugnäpfen. Hier löst man sie los, dort hängen sie sich wieder an.

«Laßt sie gewähren! Mit etwas Geduld werden wir doch ankommen», sagt Jesus lächelnd und macht unwahrscheinlich kleine Schritte, um voranzukommen, ohne auf die nackten Füßchen zu treten.

Was ihn schließlich aus der liebevollen Umklammerung befreit, ist das Erscheinen von Manaen mit anderen Jüngern, unter ihnen die Hirten, die in Judäa waren.

«Der Friede sei mit dir, Meister!» donnert der mächtige Manaen in seinem prächtigen Gewand. Er trägt nun keinen Goldschmuck mehr an Stirn und Fingern, hat jedoch ein prächtiges Schwert an der Seite, das ehrfurchtsvolle Bewunderung bei den Kindern hervorruft, die angesichts dieses strammen Ritters im Purpurgewand und mit einer so erstaunlichen Waffe furchtsam zurückweichen. Das ermöglicht es Jesus, ihn und Elias, Levi, Matthias, Joseph, Johannes, Simon, und ich weiß nicht wie viele andere zu umarmen.

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«Wie kommt es, daß du hier bist, und wie konntest du wissen, daß ich hier an Land gehen würde?»

«Erfahren habe ich es durch das Kindergeschrei. Sie sind wie Pfeile freudig über die Mauern gejagt. Ich aber bin hierher gekommen, da ich annehmen mußte, daß deine Reise nach Judäa näherrückt und die Frauen sicherlich ebenfalls daran teilnehmen... Ich wollte auch dabei sein... um dich zu beschützen, Herr, wenn es nicht allzu große Anmaßung meinerseits ist, dies zu denken... Es gibt deinetwegen sehr viel Aufregung in Israel. Es tut mir leid dir das sagen zu müssen, doch ist es dir ja nicht unbekannt.» Während sie miteinander reden, erreichen sie das Haus und treten ein.

Nachdem der Hausherr und seine Frau den Meister begrüßt haben, fährt Manaen mit seinem Gespräch fort. «Begeisterung und Interesse für dich verbreitet sich in allen Orten. Selbst die Verstockten und die, die sich mit ganz anderen Dingen als den Deinen beschäftigen, werden auf dich aufmerksam. Nachrichten über dein Wirken sind hinter die schmutzigen Mauern von Machärus und in die prunkvollen Behausungen des Herodes vorgedrungen, sowohl in den Palast von Tiberias, als auch in die Schlösser der Herodias und in den herrlichen Königspalast der Asmonäer beim Xystos. 1) Wie Wellen des Lichtes und der Macht überwinden sie die Schranken der Finsternis und Niederträchtigkeit und reißen die Wälle der Sünde nieder, die zur Verteidigung und zum Schutz der schmutzigen Liebschaften am Hofe und der tückischen Verbrechen errichtet worden sind. Sie schießen wie Feuerstrahlen hervor und schreiben weit schwerwiegendere Worte als jene beim Gastmahl Belsazars an die unzüchtigen Wände der Schlaf-, Thron- und Speisesäle. Sie künden deinen Namen und deine Macht, deine Natur und deine Sendung. Herodes zittert darob vor Angst. Herodias findet keinen Schlaf mehr, weil sie fürchtet, daß du der König der Rache bist, der ihr Reichtum und Freiheit, wenn nicht gar das Leben nehmen und sie zum Spielball des Pöbels machen wird, und sich an ihren zahlreichen Verbrechen rächen will. Man ist erschüttert am Hofe, und zwar deinetwegen. Man zittert aus menschlicher und übermenschlicher Furcht. Seit das Haupt des Johannes gefallen ist, scheint ein Feuer in den Eingeweiden seiner Mörder zu glühen. Sie haben nicht einmal mehr den ärmlichen Frieden von früher, den Frieden gesättigter Schweine, die Ruhe vor ihren Gewissensbissen haben, wenn sie sich der Trunkenheit oder dem Beischlaf hingeben... Nichts kann sie mehr beruhigen... Sie sind Verfolgte... und sie hassen sich nach jeder Liebesstunde, sind einer des anderen überdrüssig und beschuldigen sich gegenseitig des begangenen und quälenden Verbrechens, das jedes Maß überschritten

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1) Xystos = Markt bzw. Marktplatz.

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hat; während Salome, wie von einem Dämon besessen, von einer Erotik angetrieben wird, die eine Sklavin am Mühlrad entehren würde. Der Palast stinkt abscheulicher als eine Kloake.

Herodes hat mich mehrmals über dich ausgefragt, und jedesmal habe ich ihm geantwortet: "Für mich ist er der Messias, der König Israels aus dem einzigen königlichen Stamm: dem des David. Er ist der Menschensohn, von dem die Propheten sprechen, das Wort Gottes. Es ist jener, der als der Christus, der Gesalbte Gottes, das Recht hat, über alle Lebenden zu herrschen!" Herodes wurde jeweils bleich vor Angst, da er in dir den Rächer ahnt, und verdrängt die Furcht, den Schrei seines von Gewissensbissen gemarterten Herzens. Um ihn zu trösten, machen ihm seine Höflinge vor, daß du Johannes bist, der irrtümlicherweise für tot gehalten würde, und jagen ihm damit nur noch mehr Furcht ein. Sie wollen ihm auch einreden, daß du Elias oder sonst ein Prophet der vergangenen Zeiten bist. Aber er entgegnet stets: "Nein, Johannes kann er nicht sein, den habe ich enthaupten lassen, und sein Haupt hat Herodias in sicherer Verwahrung. Auch einer der Propheten kann er nicht sein, denn wenn einer einmal tot ist, lebt er nicht ein zweites Mal. Doch auch der Christus kann er nicht sein. Wer behauptet dies? Wer sagt, daß er es ist? Wer wagt mir zu sagen, daß er der König aus dem einzigen königlichen Geschlecht ist? Ich bin der König, und niemand anders! Der Messias ist von Herodes dem Großen getötet worden: Kaum geboren, ist er in einem Meer von Blut ertränkt worden. Er ist abgestochen worden wie ein Lämmlein... und war erst einige Monate alt... Hörst du, wie er weint? Sein Blöken hallt immer in meinem Kopf wider, vereint mit dem Rufen des Johannes, als er sagte: 'Es ist dir nicht erlaubt!'... Mir ist es nicht erlaubt?! Doch! Alles ist mir erlaubt, denn ich bin der König. Her mit Wein und Frauen! Wenn sich Herodias meiner Umarmung entzieht, dann soll Salome tanzen und meine, von deinen furchterregenden Erzählungen betäubten Sinne wieder erwecken."

Darauf betrinkt er sich in Gesellschaft der Tänzerinnen seines Hofes, während seine verrückte Frau in ihrer Kammer Flüche gegen den Märtyrer und Drohungen gegen dich ausstößt, und Salome daraus entnehmen kann, was es heißt, aus den Sünden zweier Wollüstlinge hervorgegangen zu sein und durch die Hingabe des Körpers an die tausend Schändlichkeiten eines Wüstlings ein Verbrechen verschuldet zu haben. Doch dann kommt Herodes wieder zu sich und will alles über dich wissen und dich sehen. Gerade deswegen begünstigt er meine Besuche bei dir, weil er hofft, daß ich dich zu ihm führe. Das ist etwas, was ich nie tun würde, denn niemals würde ich deine Heiligkeit in die Höhle unreiner Bestien bringen. Herodias möchte dich dort haben, um dich umzubringen, und sie droht es an, ihren Dolch in den Händen... Auch Salome, die dich ohne dein Wissen im vorigen Etanim in Tiberias gesehen hat, möchte dich haben, sie ist verrückt nach dir...

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Das ist der Königspalast, Meister! Aber ich bleibe dort, denn so beobachte ich ihre Absichten dir gegenüber.»

«Ich bin dir dankbar und der Allerhöchste segnet dich dafür, denn auch das heißt, dem Ewigen in seinen Beschlüssen dienen.»

«Das habe ich gedacht, und deswegen bin ich auch gekommen.»

«Manaen, ich möchte dich um eines bitten, da du hier bist. Komme nicht mit mir, sondern begleite die Frauen nach Jerusalern hinab. Ich gehe mit diesen hier auf einem unbekannten Weg, und so wird man mir nichts anhaben können. Aber sie sind wehrlose Frauen und ihre Begleiter sind sanftmütigen Herzens und angeleitet, dem, der sie schlägt, die andere Wange zu bieten. Deine Gegenwart hingegen wird ein sicherer Schutz sein. Ich weiß, daß es für dich ein Opfer bedeutet, doch danach werden wir in Judäa beisammen sein. Schlage mir meine Bitte nicht ab, mein Freund!»

«Herr, jeder deiner Wünsche ist für deinen Knecht Befehl. Ich stehe deiner Mutter und den Jüngerinnen von diesem Augenblick an zu Diensten, und solange du willst.»

«Danke! Auch dieser dein Gehorsam wird im Himmel geschrieben stehen. Laß uns die Zeit, in der wir auf die Boote warten, nützen, um Kranken zu heilen, die auf mich warten.»

Jesus geht in den Garten hinunter, wo sich Bahren und Kranke befinden, und heilt einen nach dem anderen, während er die Begrüßung des Jairus und der wenigen Freunde von Kapharnaum entgegennimmt.

Die Frauen – es sind Porphyria und Salome, die schon ältere Frau des Bartholomäus und die etwas jüngere des Philippus mit den jungen Töchtern – sind derweil mit der Vorbereitung der Mahlzeit für die große Schar der Jünger beschäftigt. Ihr Hunger wird mit Körben von Fischen, die ihnen die Leute aus Bethsaida und Kapharnaum geschenkt haben, gestillt werden. Das große Ausweiden silbriger Bäuche, die noch zucken, das Waschen der Fische in Eimern und das Braten auf den Feuerrosten in den Küchen findet statt, während Margziam mit anderen Jüngern die Feuerstellen unterhält und Krüge mit Wasser herbeiträgt, um den Frauen zu helfen.

Das Mahl ist bald fertig und auch bald verzehrt. Da die Boote für den Transport der vielen Menschen nun bereit sind, bleibt nichts anderes übrig, als sich nach Magdala einzuschiffen. Prächtig ist der See, ruhig und heiter, fast himmlisch in der smaragdenen Einfassung seiner Ufer.

Die Gärten und das gastliche Haus Marias von Magdala sind bereitet worden, den Meister und seine Jünger zu empfangen, ja, ganz Magdala ist an diesem sonnigen Nachmittag auf den Beinen, um den Rabbi zu begrüßen, der nach Jerusalern zieht.

Die grünen Hänge der galiläischen Hügel vernehmen den lauten, fröhlichen Abmarsch der getreuen Schar, gefolgt von einem bequemen Wagen, auf dem sich Johanna mit Porphyria, Salome, die Frau des

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Bartholomäus, die des Philippus und die beiden jungen Töchter dieses letzteren befinden, und sowohl die lachenden Kinder, als auch Maria und Matthias, die nicht wiederzuerkennen sind, wenn man vergleicht, wie sie vor fünf Monaten ausgesehen haben.

Margziam schreitet wacker mit den Erwachsenen daher, ja, dem Willen Jesu folgend, ist er bei der Gruppe der Apostel, zwischen Petrus und Johannes, und läßt sich kein Wort entgehen, das Jesus sagt.

Die Sonne strahlt am klaren Himmel und warme Lüfte bringen den Duft des Waldes, der Minze, der Veilchen, der ersten Maiglöckchen und der immer prächtiger erblühenden Rosen. Alles ist jedoch vom frischen, leicht herben Duft der blühenden Obstbäume beherrscht, die überall einen Schnee von Blütenblättern auf das Gras des Erdreichs fallen lassen, und alle haben sie auch auf ihrem Haar. Sie schreiten voran unter dem fortwährenden Gezwitscher der Vögel, dem Pfeifen und den sanften Lockrufen, die von einem Strauch zum anderen von den kühnen Männchen zu den schüchternen Weibchen tönen. Die Mutterschafe weiden, und die ersten Lämmlein versuchen an das runde Euter ihrer Mutter zu gelangen, um Milch zu saugen. Andere tummeln sich im Wiesengrund im zarten Gras wie glückliche Kinder.

Wie schnell hat man nach Kana Nazareth erreicht, wo Susanna sich den anderen Frauen angeschlossen hat. Sie hat Erzeugnisse ihres Bodens in Körben und Gefäßen mitgebracht, und einen ganzen Zweig roter Rosenknospen, die aufzubrechen beginnen, «um sie Maria zu schenken», wie sie bemerkt.

«Auch ich, siehst du?» sagt Johanna und öffnet eine Art Kiste, in welcher Rosen über Rosen in feuchtes Moos eingebettet sind. «Die ersten und die schönsten, aber dennoch zu wenig für sie, im Vergleich zu ihrer Liebe und Güte!»

Ich sehe, daß jede der Frauen Vorräte für die Passahreise mitgenommen hat, und zusammen mit den Lebensmitteln eine Blume oder irgend eine andere Pflanze für den Garten Mariens.

Porphyria entschuldigt sich, daß sie nur einen Topf mit Kampfer mitgebracht hat, dessen herrliche kleine, graugrüne Blätter ihren Duft schon beim Berühren verbreiten. «Maria hat sich diese balsamische Pflanze gewünscht...» sagt sie, und alle loben die üppige Schönheit des Blümchens.

«Oh! Ich habe es den ganzen Winter hindurch gehegt und es zum Schutz vor Kälte und Hagel in meinem Zimmer aufbewahrt. Margziam hat mir immer geholfen, es in die Morgensonne zu tragen und am Abend wieder hereinzuholen. Dieser gute Junge hätte es, wenn nicht das Boot und jetzt der Wagen gewesen wäre, auf seine Schulter geladen, um es Maria zu bringen und mir und ihr einen Gefallen zu tun», sagt die einfache Frau, die immer aufgeschlossener wird durch die Güte Johannas und

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außer sich ist vor Freude über die Reise nach Jerusalern, zusammen mit dem Meister, ihrem Mann und ihrem Margziam.

«Bist du noch nie dort gewesen?»

«Solange mein Vater gelebt hat, ging ich jedes Jahr hin, doch dann... ist meine Mutter nicht mehr hingegangen... Die Brüder hätten mich mitgenommen, aber es war für meine Mutter leichter, wenn ich zu Hause blieb, und so ließ sie mich jeweils nicht gehen. Dann habe ich Simon geheiratet... und gesundheitlich ging es mir nicht sehr gut. Simon hätte mit mir zusammen länger für die Reise gebraucht, und das paßte ihm nicht... So blieb ich zu Hause und wartete auf ihn... Der Herr kannte meine Vorsätze... und es war mir jedesmal, als hätte ich ein Opfer im Tempel dargebracht...» sagt die sanfte Frau.

Johanna, in ihrer Nähe, legt ihr die Hand auf die herrlichen Zöpfe und sagt: «Du Liebe!» und in diesem einen Wort liegt so viel Liebe, so viel Verständnis und so viel Bedeutung.

Wir sind in Nazareth angekommen... beim Haus der Maria des Alphäus, die herzlich von ihren Söhnen umarmt wird. Mit ihren noch von der Wäsche tropfenden und geröteten Händen, streichelt sie sie, und eilt dann, während sie ihre Hände an der groben Schürze trocknet, auf Jesus zu, um ihn zu umarmen... Unmittelbar gegenüber dem Hause Marias ist das Haus des Alphäus der Sara. Alphäus, der seine größeren Neffen beauftragt, vorauszueilen und Maria zu benachrichtigen, geht mit Riesenschritten auf Jesus zu, wobei er einen seiner kleinen Neffen auf den Armen trägt und ihn Jesus wie einen Blumenstrauß zur Begrüßung entgegenhält.

Siehe da, Maria erscheint im Sonnenschein an der Tür, in ihrem himmelblauen, schon etwas verwaschenen Hauskleid, und dem goldenen Haar, das auf der jungfräulichen Stirn leuchtet und im Nacken in Zöpfen zu einem schweren Knoten geschlungen ist; sie wirft sich an die Brust ihres Sohnes, der sie mit seiner ganzen Liebe küßt.

Die anderen bleiben klugerweise stehen, um ihre Begegnung nicht zu stören. Doch Maria löst sich alsbald aus der Umarmung Jesu, wendet ihr vom Alter unberührtes, durch die Überraschung gerötetes Antlitz, das jetzt in einem Lächeln erstrahlt, und grüßt alle mit ihrer engelgleichen Stimme: «Der Friede sei mit euch, Diener des Herrn und Jünger meines Sohnes. Der Friede sei mit euch, Schwestern im Herrn», und mit den Jüngerinnen, die vom Wagen gestiegen sind, tauscht sie einen schwesterlichen Kuß.

«O Margziam, nun werde ich dich nicht mehr auf meine Arme nehmen! Du bist ja ein Mann geworden. Aber komm zur Mutter aller Guten, denn einen Kuß möchte ich dir trotzdem geben. Teurer! Gott möge dich segnen und auf seinen Wegen heranwachsen lassen, stark wie dein jugendlicher Körper, ja, noch mehr. Mein Sohn, wir sollten ihn doch einmal zu

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seinem Großvater bringen. Er wird glücklich sein, ihn so zu sehen», sagt sie dann, sich an Jesus wendend.

Hierauf umarmt sie Jakobus und Judas des Alphäus und gibt ihnen die Nachricht, die sie bestimmt gerne hören: «Dieses Jahr wird Simon mit mir kommen, als Jünger des Meisters. Er hat es mir versichert.»

Einen nach dem anderen begrüßt sie nun die Bekanntesten, die Einflußreichsten, und hat für jeden ein liebevolles Wort. Manaen wird ihr von Jesus als ihr Beschützer und Begleiter auf der Reise nach Jerusalern vorgestellt.

«Kommst du nicht mit uns, Sohn?»

«Mutter, ich muß an anderen Orten die Frohe Botschaft verkünden, und danach werden wir uns in Bethanien treffen.»

«Dein Wille geschehe, jetzt und allezeit! Danke, Manaen. Du: ein Engel in Menschengestalt, zusammen mit unseren Beschützern, den Engeln des Himmels: wir werden so sicher sein, als wären wir im Allerheiligsten», und sie reicht Manaen zum Zeichen der Freundschaft ihre zierliche Hand, und der Ritter, in Prunk und Reichtum aufgewachsen, kniet nieder, um die ihm gebotene Hand zu küssen.

Inzwischen sind die Blumen und alles, was sonst noch in Nazareth bleiben soll, abgeladen und der Wagen in irgendeine Stallung des Städtchens gebracht worden.

Das kleine Haus gleicht einem Rosengarten mit den von den Jüngerinnen überall hingestreuten Rosen. Doch das Bäumchen der Porphyria auf dem Tisch erregt die lebhafteste Aufmerksamkeit Marias, die es, auf Anweisung der Frau des Petrus, an einen geeigneten Platz stellen läßt.

Nicht alle haben in dem kleinen Haus Platz, auch nicht im Garten, der kein Landgut oder Park ist, wenngleich er zum heiteren Himmel aufzusteigen scheint, so zahlreich sind die blühenden Sträucher im Blumengarten. Judas des Alphäus fragt lächelnd Maria: «Hast du auch heute einen Zweig für deine Vase gepflückt?»

«Gewiß, Judas, und gerade als ihr angekommen seid, habe ich ihn betrachtet...»

«Er hat dich wohl wieder an dein fernes Geheimnis erinnert, Mutter», sagt Jesus, umfaßt sie mit dem linken Arme und zieht sie an sein Herz.

Maria hebt ihr rot gewordenes Antlitz und seufzt: «Ja, mein Sohn... und ich erinnerte mich an den ersten Schlag deines Herzens in mir ...»

Jesus sagt: «Die Jüngerinnen, die Apostel, Margziam, die Hirtenjünger, der Priester Johannes, Stephanus, Hermas und Manaen können hierbleiben, und die anderen sollen sich nach einer Unterkunft umsehen...»

«Viele hätten bei mir zuhause Platz...» ruft Simon des Alphäus, der an der Schwelle stehengeblieben ist. «Ich bin ihr Mitjünger und lade sie gerne ein.»

«O Bruder! Komm her, daß ich dich küsse!» sagt Jesus in herzlichem

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Ton, während Alphäus der Sara, Ismael und Aser, die beiden Jünger und einstigen Eseltreiber von Nazareth, ihrerseits beifügen: «Auch in unserem Hause ist Platz! Kommt, ja kommt!»

Nachdem die ausgewählten Jünger nun gehen, kann man die Türe schließen ... sie wird jedoch sofort wieder geöffnet wegen der Ankunft Marias des Alphäus, die nicht fehlen will, selbst wenn ihre Wäsche unter ihrer Abwesenheit leidet. So sind es fast vierzig Personen, die sich in dem gemütlichen, ruhigen Garten aufhalten, bis die Speisen, die für alle einen himmlischen Geschmack haben, herumgereicht werden. Glücklich sind alle darüber, im Hause des Herrn genießen zu dürfen, was Maria zubereitet hat.

Simon kehrt zurück, nachdem er die Jünger untergebracht hat, und bemerkt: «Du hast mich nicht wie die anderen genannt, doch ich bin dein Bruder und bleibe gleichwohl.»

«Willkommen, Simon. Ich habe euch hier versammeln wollen, damit ihr Maria kennenlernt. Viele von euch kennen die "Mutter" Maria, einige die "Braut" Maria, doch keiner kennt die "Jungfrau" Maria. Ich möchte jedoch, daß ihr sie kennenlernt, in diesem Garten voller Blüten, in den euer sehnsüchtiges Herz gekommen ist, fern eurer Heimat, mit dem Wunsch nach einen Ort, an dem ihr euch von den Mühen des Apostolates ausruhen könnt.

Ich habe euch reden hören, euch Apostel, Jünger und Verwandte, und habe eure Eindrücke, eure Erinnerungen und eure Aussagen über meine Mutter erfahren. Ich werde all die Bewunderung, die aber noch sehr menschlich ist, in einer übernatürlichen Erkenntnis verklären, denn meine Mutter möge vor mir in den Augen der Verdienstvollsten verklärt sein, damit sie sie erkennen, wie sie in Wirklichkeit ist. Ihr seht in ihr eine Frau, eine Frau, die euch ihrer Heiligkeit wegen anders zu sein scheint als alle anderen, die ihr aber eigentlich als eine im Körper wohnende Seele betrachtet, wie die Seele all ihrer Schwestern. Ich möchte euch nun jedoch die Seele meiner Mutter enthüllen, ihre wahre und ewige Schönheit.

Komm zu mir, meine Mutter! Erröte nicht, ziehe dich nicht schüchtern zurück, du liebliche Taube Gottes. Dein Sohn ist das Wort Gottes und kann über dich und dein Geheimnis sprechen, o erhabenes Mysterium Gottes. Wir wollen uns hier im angenehmen Schatten der blühenden Bäume am Hause, neben deiner heiligen Kammer, niederlassen. So! Heben wir den wallenden Vorhang, auf daß die Wogen der Heiligkeit und des Paradieses aus diesem jungfräulichen Gemach strömen und wir alle von dir erquickt werden mögen. Ja, auch ich! Auf daß ich deinen Wohlgeruch verspüre, vollkommene Jungfrau, um den Gestank der Welt ertragen zu können, um Unschuld erblicken zu können, indem meine Augen deine Reinheit trinken... Kommt hierher, Margziam, Johannes, Stephanus und ihr, Jüngerinnen. Kommt vor die offene Tür der reinen Wohnung der

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Reinsten unter allen Frauen, und nach euch, meine Freunde, hier an meine Seite, du, meine geliebte Mutter.

ich habe vorhin von der "ewigen Schönheit der Seele meiner Mutter" gesprochen! Ich bin das Wort und daher weiß ich das Wort ohne Irrtum zu gebrauchen. Ich habe gesagt: "ewig", nicht "unsterblich", und dies habe ich nicht ohne Absicht gesagt. Unsterblich ist der, der einmal geboren, nicht mehr stirbt. So ist die Seele der Gerechten unsterblich im Himmel, und jene der Sünder unsterblich in der Hölle, denn die Seele kann, wenn sie einmal erschaffen ist, nur der Gnade sterben. Aber die Seele hat Leben, existiert also vom Augenblick an, da Gott sie gedacht hat, denn es ist der Gedanke Gottes, der sie schafft. Die Seele meiner Mutter ist seit jeher im Gedanken Gottes, und deshalb ist sie ewig in ihrer Schönheit, in die Gott alle Vollkommenheit gegossen hat, um aus ihr Freude und Trost zu schöpfen.

Im Buche unseres Ahnen Salomon, der dich vorausgesehen hat und daher dein Prophet genannt werden kann, steht geschrieben:

"Gott besaß mich im Anfang seiner Werke, in der grauen Urzeit, noch vor der Schöpfung. Von Ewigkeit her war ich vorbestimmt, von Urbeginn, vor dem Anbeginn der Erde. Die Abgründe waren noch nicht, und ich war schon hervorgebracht. Die Wasserquellen flossen noch nicht, auch die Berge waren noch nicht auf ihren harten Fundamenten, und ich war schon. Vor Erschaffung der Hügel wurde ich geboren. Die Erde war noch nicht, weder die Flüsse noch die Angeln der Welt, und ich war schon. Als er die Himmel und das Paradies schuf, war ich zugegen. Als er in unumstößlichem Gesetz unter der Wölbung den Abgrund verschloß, als er in der Höhe das Himmelsgewölbe erschuf, und die Wasserquellen darüber ausgoß, als er dem Meer seine Grenzen setzte, daß die Wasser nicht sein Geheiß übertraten; als er der Erde Fundamente legte, stand ich als Vertraute an seiner Seite. Ich war seine Wonne Tag für Tag, indem ich vor ihm spielte allezeit. Ich spielte und frohlockte auf dem Rund seiner Erde."

Ja, o Mutter, mit der Gott, der Unendliche, der Erhabene, der Reinste, der Unerschaffene gleichsam schwanger ging, der dich getragen hat wie seine süßeste Last, der frohlockte, wenn er verspürte, daß du dich in ihm bewegtest, um ihm das Lächeln zu schenken, aus dem er die Schöpfung machte! Du, die er für den Schmerz gebar, um dich der Welt zu schenken, sanfteste Seele, geboren aus dem Jungfräulichen, um die "Jungfrau" zu sein, Vollkommenheit der Schöpfung, Licht des Paradieses, Rat Gottes, der dich betrachtend die Sünde vergeben konnte, da du allein, aus dir allein, zu lieben vermagst, wie die ganze Menschheit zusammengenommen nicht lieben kann. In dir ist die Verzeihung Gottes! In dir ist das Heilmittel Gottes, du Liebkosung des Ewigen auf der Wunde, die der Mensch Gott verursacht hat! In dir ist das Heil der Welt, Mutter der fleischgewordenen Liebe und des verheißenen Erlösers! Seele meiner Mutter! Vereinigt in der

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Liebe mit dem Vater, schaute ich dich in mir, o Seele meiner Mutter! ... Dein Glanz, dein Gebet, der Gedanke, von dir getragen zu sein, tröstete mich in Ewigkeit über meine Bestimmung zum Leiden und zu den unmenschlichen Erfahrungen dessen, was die verdorbene Welt für den vollkommenen Gott ist. Danke, o Mutter! Ich bin gekommen, schon gesättigt von deinen Tröstungen; ich bin herabgestiegen und habe dich allein gefühlt, deinen Duft, deinen Gesang, deine Liebe... Wonne, meine Wonne!

Aber hört, ihr, die ihr nun wißt, daß eine nur die Frau ist, an der kein Makel haftet, eine nur die Kreatur, die den Erlöser keine Wunde kostet, vernehmt die zweite Verklärung Mariens, der Auserwählten Gottes.

Es war an einem heiteren Nachmittag des Adar, die Bäume blühten im stillen Garten, und Maria, die Braut Josephs, hatte einen blühenden Zweig gepflückt, um ihn in ihrem Gemach an den Platz eines anderen zu stellen. Seit kurzem erst war sie vom Tempel nach Nazareth gekommen, um ein Haus von Heiligen zu schmücken. Mit dreigeteilter Seele, zwischen dem Tempel, dem Haus und dem Himmel, betrachtete sie den Blütenzweig und gedachte eines anderen, der in ungewöhnlicher Weise ausgeschlagen hatte; eines Zweiges, der im gleichen Garten, mitten im kalten Winter, abgeschnitten worden war und vor der Lade des Herrn wie zur Frühlingszeit erblühte. Vielleicht hatte die auf ihre Herrlichkeit strahlende Sonne – Gott selbst – ihn erwärmt, und durch ihn hatte Gott ihr seinen Willen kundgetan... Sie dachte auch daran, wie Joseph ihr am Tage der Hochzeit andere Blumen gebracht hatte, aber nie mehr den ersten gleich, auf deren feinen Blütenblättern geschrieben stand: "Ich will dich mit Joseph vermählen"... Sie dachte an viele Dinge... und so in Gedanken versunken, stieg sie auf zu Gott. Die Hände waren eifrig mit Spindel und Rocken beschäftigt und spannen einen Faden, feiner als ein Haar ihres jungen Hauptes...

Ihre Seele webte, behende wie das Weberschiffchen auf dem Webstuhl, einen Teppich der Liebe von der Erde zum Himmel, von den Bedürfnissen des Hauses, des Bräutigams, zu denen der Seele und Gottes. Sie sang und betete, und das Gewebe wuchs auf dem mystischen Webstuhl, entrollte sich von der Erde und erhob sich zum Himmel, um dort zu entschwinden... Woraus entstand dieses Gebilde? Aus den feinen, vollkommenen, starken Fäden ihrer Tugenden; aus dem fliegenden Faden des Weberschiffchens, das sie die "ihrige" glaubte, während es doch Gott angehörte: das Weberschiffchen des Willens Gottes, auf dem der Wille der kleinen, großen Jungfrau Israels, der der Welt Unbekannten und Gott Bekannten, aufgewickelt war und mit dem Willen des Herrn eine Einheit bildete. Das Gewebe schmückte sich mit den Blumen der Liebe, der Reinheit, mit Friedenspalmen, den Palmen des Ruhmes, mit Veilchen und Jasmin... Alle Tugenden erblühten auf dem Gewebe der Liebe, das die Jungfrau Gottes einladend von der Erde zum Himmel ausrollte. Und da das Gewebe

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nicht genügte, erhob sie ihr Herz im Gesang: "Es komme der Geliebte in den Garten und esse die Früchte seiner Apfelbäume... Mein Geliebter steige in seinen Garten zu den Balsambeeten, um zu weiden in den Auen und Lilien zu pflücken. Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter mir, er, der da weidet unter den Lilien."

Aus unendlicher Ferne, unter Strömen des Lichtes, kam eine göttliche Stimme, die das menschliche Ohr nicht zu hören noch die menschliche Stimme wiederzudrücken vermag, und sie sprach: "Schön bist du, meine Freundin! Ja, schön! ... Es träufeln Honigseim deine Lippen ... Ein verschlossener Garten bist du, eine versiegelter Quell, o Schwester, meine Braut..." Dann vereinigten sich die beiden Stimmen, um zusammen die ewige Wahrheit zu singen: "Stärker als der Tod ist die Liebe. Nichts kann 'unsere' Liebe auslöschen oder überfluten." So verklärt war die Jungfrau... als Gabriel herabstieg und sie mit seiner Glut zur Erde zurückrief und ihre Seele wieder mit dem Fleisch vereinte, auf daß sie das Verlangen dessen erkenne und erfassen konnte, der sie "Schwester" genannt hatte, sie aber zur "Braut" haben wollte.

Da vollzog sich das Geheimnis... Sie ist die Keusche, die keuscheste unter allen Frauen. Sie, die nicht einmal den instinktiven Stachel des Fleisches kannte, war wie betäubt in Gegenwart des Engels des Herrn, denn auch ein Engel verwirrt die Demut und die Züchtigkeit der Jungfrau, und sie beruhigte sich erst, als sie ihn sprechen hörte. Sie glaubte und sagte das Wort, um dessentwillen "ihre" Liebe Fleisch wurde und den Tod besiegen wird, und diese Liebe vermag kein Wasser zu löschen und keine Bosheit zu ersticken ...»

Jesus neigt sich liebevoll über Maria, die ihm bei der Erwähnung jener fernen Stunde wie in Ekstase zu Füßen gefallen ist, umflutet von einem außergewöhnlichen Licht, das ihrer Seele zu entspringen scheint, und fragt sie mit leiser Stimme: «Welche Antwort, o Reinste, gabst du dem, der dir versicherte, daß du als Mutter Gottes deine vollkommene Jungfräulichkeit nicht verlieren würdest?»

Maria spricht fast wie im Traum, sachte, lächelnd, mit Tränen der Glückseligkeit in den weit geöffneten Augen: «Siehe, ich bin die Magd des Herrn! Mir geschehe nach deinem Worte», und neigt in Anbetung ihr Haupt auf die Knie des Sohnes.

Jesus umhüllt sie mit seinem Mantel und verbirgt sie vor den Augen aller mit den Worten: «Und es hat sich erfüllt, und wird sich erfüllen, bis zu den anderen beiden Verklärungen. Immer wird sie die "Magd des Herrn" sein. Sie wird immer tun, was "das Wort" ihr sagen wird. Meine Mutter! Das ist meine Mutter, und es ist gut, daß ihr anfangt, sie in ihrer ganzen heiligen Natur kennenzulernen... Mutter! Mutter! Erhebe dein Antlitz, Geliebte... Ermahne deine dir Ergebenen auf Erden, wo wir jetzt sind ...»So sagt er, indem er Maria nach einiger Zeit wieder enthüllt, und kein

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anderes Geräusch zu vernehmen ist, als das Summen der Bienen und das Tropfen des kleinen Brunnens.

Maria erhebt ihr vom Weinen gezeichnetes Antlitz und flüstert: «Warum, mein Sohn, hast du mir das angetan? Die Geheimnisse des Königs sind heilig...»

«Aber der König kann sie enthüllen, wann er will. Mutter, ich habe es getan, damit das Wort eines Propheten verstanden werde: "Eine Frau wird den Menschen in sich tragen"; und das andere Wort eines anderen Propheten: "Die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären." Und auch, damit diejenigen, die zurückschrecken vor so vielen demütigenden, das Wort Gottes betreffenden Dingen, einen Ausgleich haben in vielen anderen Dingen, die sie bestärken in der Wonne, die "Meinen" zu sein. So werden sie keinen Anstoß mehr nehmen und daher auch den Himmel erwerben... Wer jetzt zu den gastlichen Häusern gehen muß, der gehe. Ich bleibe bei den Frauen und Margziam. Morgen, beim Morgengrauen, mögen alle Männer sich hier einfinden, denn ich will euch an einen nicht sehr entfernten Ort führen. Dann kehren wir zurück, um uns von den Jüngerinnen zu verabschieden und nach Kapharnaum aufzubrechen, wo wir andere Jünger sammeln und sie diesen hier nachsenden werden.»

394. DIE VERKLÄRUNG UND DIE HEILUNG DES EPILEPTIKERS

Welcher Mensch hat noch nie einen heiteren Märzmorgen gesehen? Wenigstens einmal? Wenn es einen solchen Menschen gäbe, dann wäre er ein armer Mensch, denn er hätte keine Ahnung von den Schönheiten in der vom Frühling erweckten Natur, die wieder rein und kindlich erscheint, wie sie es am ersten Tage gewesen sein muß.

In dieser anmutigen Schönheit, die in allem rein ist, gehen Jesus, die Apostel und die Jünger dahin. Es sind da die jungen, taubedeckten Gräser, Blumen, die sich wie Kinder beim ersten Tageslicht öffnen, Vögel, die erwachen mit einem Flügelschlag und ihrem ersten fragenden "Zip" ' als Vorspiel zu allen Liedern, die sie während des Tages singen; und schließlich die Düfte in der Luft, die sich in der Frühe durch das Taubad und die Abwesenheit des Menschen gereinigt hat von Staub, Rauch und Ausdünstungen menschlicher Körper. Auch Simon des Alphäus ist unter den Jünger des Herrn. Sie gehen in Richtung Südosten, lassen die Hügel, die eine Kette um Nazareth bilden, hinter sich, überschreiten einen Bach und überqueren eine Ebene, die zwischen die Hügel von Nazareth und eine Berggruppe im Osten eingezwängt ist. Diese Berge werden eingeleitet vom stumpfen Kegel des Tabor, der mich eigenartigerweise mit seinem Scheitel an den Hut unserer Karabinieri, von der Seite gesehen, erinnert.

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Sie sind angekommen. Jesus bleibt stehen und sagt:

«Petrus, Johannes und Jakobus des Zebedäus werden mit mir auf den Berg steigen. Die anderen verteilen sich am Fuße des Berges und verkünden auf den Wegen und Straßen den Herrn. Gegen Abend möchte ich wieder in Nazareth sein. Entfernt euch also nicht zu sehr. Der Friede sei mit euch!» Indem er sich den drei Ersteren zuwendet, sagt er: «Laßt uns gehen.» Jesus beginnt den Aufstieg ohne sich umzuschauen und mit so eiligen Schritten, daß es Petrus nur mit Mühe schafft, ihm nachzukommen.

Während eines Augenblickes der Rast fragt Petrus, der rot und schweißgebadet ist, keuchend: «Aber wohin gehen wir denn? Auf dem Berg gibt es doch keine Häuser. Auf dem Gipfel steht nur die alte Festung. Willst du dort predigen?»

«Dann hätte ich den Weg auf der anderen Seite des Berges eingeschlagen. Aber du siehst, daß ich ihm den Rücken zuwende. Wir werden nicht zur Festung gehen, und die Leute in ihr werden uns nicht einmal bemerken. Ich gehe, mich mit meinem Vater zu vereinigen, und ich habe euch mitnehmen wollen, weil ich euch liebe. Auf also!»

«O mein Herr! Können wir nicht etwas langsamer gehen und über das sprechen, was wir gestern gehört und gesehen haben und was uns die ganze Nacht wachgehalten hat?»

«Zu Begegnungen mit Gott begibt man sich immer eilenden Schrittes. Nimm dich zusammen, Simon Petrus! Wenn wir oben sind, lasse ich euch dann ausruhen.» Und er geht weiter bergauf...

Jesus sagt: «Hier setzt ihr die Vision der Verklärung vom 5. August 1944 ein, aber ohne das damit verbundene Diktat. Wenn die Abschrift der Vision der Verklärung vom letzten Jahr beendet ist, dann soll P. Migliorini abschreiben, was ich dir jetzt zeige.»

Ich bin mit meinem Jesus auf einem hohen Berg. Mit Jesus sind Petrus, Jakobus und Johannes. Sie steigen noch höher hinauf, und dem Blick öffnen sich immer weitere Horizonte, wo man an diesem schönen, heiteren Tag auch die entferntesten Einzelheiten ganz klar erkennen kann.

Der Berg gehört nicht zu einer Bergkette wie die von Judäa, sondern erhebt sich völlig einsam in der Ebene und hat von dem Ort aus gesehen, an dem wir uns befinden, den Osten vor sich, den Norden links und den Süden rechts, und weiter hinten, gegen Westen, den Gipfel, der noch etwa hundert Meter höher liegt.

Er ist sehr hoch, und man hat von hier aus einen weiten Rundblick. Der See von Genesareth scheint ein Stück Himmel zu sein, das in das Grün der Erde eingebettet liegt; ein türkisblaues Oval, umringt von Smaragden bunter Schattierungen; ein zitternder Spiegel, der sich im leichten Wind kräuselt und auf dem Boote mit gesetzten Segeln behende wie Möven dahingleiten, leicht geneigt gegen die blauen Wellen und mit der Anmut eines Eisvogels, der auf der Suche nach Beute über die Wellen streicht.

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Nun sieht man aus dem ausgedehnten Türkis einen Fluß herauskommen. Er ist dort, wo sich das Flußbett verbreitert, hellblau, und wird allmählich dunkler, wo die Ufer sich verengen und das Wasser tiefer und von Bäumen beschattet ist, die dank der Feuchtigkeit des Erdreichs besonders üppig wachsen. Der Jordan gleicht einem geraden Pinselstrich in der grünen Ebene, mit kleinen Ortschaften auf beiden Seiten des Flusses über die ganze Ebene verstreut. Einige bestehen nur aus einzelnen Häusern, andere sind ausgedehnter und gleichen Städtchen. Die Hauptstraßen ziehen sich wie gelbliche Linien durch die grüne Landschaft. Aber hier, auf der Seite des Berges, ist die Ebene fruchtbarer und dichter bebaut, sehr schön. Man sieht die verschiedenen Kulturen in ihrer Farbenpracht in der Sonne, die von einem heiteren Himmel herabscheint.

Es muß Frühling sein, vielleicht März, wenn ich den Breitengrad von Palästina in Betracht ziehe, denn ich sehe schon hohes, aber noch grünes Getreide. Es wogt wie ein blaugrünes Meer, und die ersten weißen und rosaroten Kronen der Obstbäume zeichnen sich auf diesem kleinen Meer von Pflanzen ab. Ferner sehe ich Wiesen mit unzähligen Blumen im hohen Gras, in dem die Schafe aussehen wie Schnee, der sich da und dort im Grün angehäuft hat.

Ganz nahe am Berg, auf den niedrigen Hügeln, die sein Fundament bilden, liegen zwei Städtchen, eines gegen Süden, das andere gegen Norden. Die sehr fruchtbare Ebene dehnt sich, besonders in Richtung Süden, immer weiter aus.

Nach einer kurzen Rast im Schatten einer Baumgruppe, sicher wegen Petrus, den der Aufstieg sichtlich ermüdet hat, beginnt Jesus weiter aufzusteigen. Er geht fast bis zum Gipfel, dorthin, wo sich ein mit Gras bewachsenes Plateau befindet, das im Halbkreis von einigen Bäumen begrenzt wird.

«Ruht euch aus, Freunde. Ich will dorthin gehen, um zu beten», sagt Jesus, indem er auf einen großen Felsblock zeigt, der nicht gegen den Abhang, sondern nach innen, dem Gipfel zu, emporragt.

Jesus kniet auf der Wiese nieder und lehnt Hände und Haupt an den Felsblock, dieselbe Haltung, die er später beim Gebet in Gethsemane einnehmen wird. Die Sonne bescheint ihn nicht, da der Gipfel ihn vor ihr schützt, doch der übrige Rasenplatz ist sehr sonnig, außer dem schattigen Rand mit den Bäumen, unter welchen sich die Apostel niedergelassen haben.

Petrus löst seine Sandalen, schüttelt Staub und Steinchen ab und bleibt barfuß, mit seinen müden Füßen im frischen Gras, halb ausgestreckt liegen, wobei er den Kopf auf einem grünen Büschel ruhen läßt, das etwas höher aus dem Gras ragt und eine Art Polster bildet.

Jakobus tut es ihm nach. Doch, um es sich bequemer zu machen, sucht er nach einem Baumstumpf, auf den er seinen Mantel legt, um sich darauf zu stützen.

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Johannes bleibt sitzen und beobachtet den Meister. Aber die Ruhe des Ortes, das frische Lüftchen, die Stille und die Müdigkeit überwältigen auch ihn, und sein Kopf sinkt auf die Brust und seine Augen fallen zu. Keiner von den dreien schläft tief, sie sind nur von der sommerlichen Schläfrigkeit wie betäubt.

Doch plötzlich werden sie durch eine Lichtfülle aufgeweckt, die so lebendig erstrahlt, daß selbst die Sonne in ihr entschwindet; sie dringt bis zum Grün der Bäume und Sträucher, wo sie sich niedergelassen haben.

Erstaunt öffnen sie ihre Augen und sehen Jesus verklärt. Jesus ist genau so, wie ich ihn in den Visionen des Paradieses schaue, natürlich ohne die Wundmale und ohne das Siegeszeichen des Kreuzes. Aber die Majestät seines Antlitzes und seiner Gestalt ist dieselbe, er strahlt wie im Himmel und trägt dasselbe Gewand wie dort, das sich aus einem dunkelroten in ein diamantenes, perlglänzendes immaterielles Gewebe verwandelt hat. Sein Antlitz ist eine Sonne, die stärker leuchtet als Sterne, und seine Augen strahlen wie Saphire. Er scheint noch stattlicher zu sein, als habe die Verklärung seine Gestalt anwachsen lassen. Ich kann nicht sagen, ob die Lichtfülle, die den ganzen Platz in phosphoreszierendes Licht taucht, ihm entströmt, oder ob sich sein eigenes Licht mit dem vermischt, das sich vom All und vom Paradies auf seinen Herrn ausgießt. Ich weiß nur, daß es etwas Unbeschreibliches ist.

Jesus steht jetzt aufrecht da, vielmehr, er schwebt über der Erde, denn zwischen ihm und dem Grün des Bodens ist eine Lichtwolke, ein Zwischenraum aus lauter Licht, auf dem er zu stehen scheint. Doch ist es so lebendig, daß ich mich auch täuschen könnte, und das Verschwinden des Grüns unter den Füßen Jesu könnte auch hervorgerufen sein durch dieses intensive Licht, das vibriert und wogt, wie man es oft bei großen Feuern sieht, blendend weiße Wogen. Jesus steht da, mit zum Himmel erhobenem Antlitz, und lächelt einer Vision zu, die ihn verzückt.

Die Apostel geraten beinahe in Angst und rufen ihm zu, denn er scheint ihnen nicht mehr ihr Meister zu sein, so erhaben verklärt und verwandelt ist er.

«Meister, Meister», rufen sie leise und ängstlich.

Doch er hört sie nicht.

«Er ist in Ekstase», sagt Petrus zitternd. «Was sieht er wohl?»

Die drei haben sich erhoben und möchten sich Jesus nähern, aber sie wagen es nicht.

Das Licht wird noch stärker durch zwei Flammen, die vom Himmel zu beiden Seiten Jesu herabkommen. Auf der Höhe der Ebene öffnet sich ihr Schleier, und es erscheinen zwei majestätische, strahlende Gestalten. Die eine ist älter, mit einem strengen, ernsten Blick und einem langen, zweigeteilten Bart. Von seiner Stirne gehen zwei Lichthörner aus, die ihn mir als Moses anzeigen. Die andere Gestalt ist hager, bärtig und behaart,

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ungefähr wie der Täufer, dem er in Gestalt, Magerkeit und Strenge des Blickes ähnlich sieht. Während das Licht von Moses weiß ist, wie das von Jesus, besonders die Strahlen, die von der Stirn ausgehen, ist das Licht, das Elias ausströmt, sonnig, wie das einer lebendigen Flamme.

Die beiden Propheten stehen voller Ehrfurcht zu beiden Seiten ihres fleischgewordenen Gottes, und obwohl er in familiärem Ton mit ihnen spricht, verharren sie in ihrer ehrfurchtsvollen Haltung. Ich verstehe keines der gesprochenen Worte.

Die drei Apostel fallen zitternd auf die Knie und halten die Hände vors Gesicht. Sie möchten hinschauen, aber sie fürchten sich. Endlich sagt Petrus: «Meister, Meister, höre mich an!» Jesus wendet sich Petrus zu und lächelt, so daß dieser Mut faßt und sagt: «Es ist schön, mit dir, Moses und Elias hier zu sein. Wenn du willst, machen wir drei Zelte, für dich, für Moses und für Elias, und bleiben hier, um euch zu dienen...»

Jesus schaut ihn abermals an und lächelt noch ausdrücklicher. Dann schaut er auch Johannes und Jakobus an. Ein Blick, der die beiden mit Liebe umfängt! Auch Moses und Elias schauen die drei an und ihre Augen leuchten wie Blitze. Es müssen Strahlen sein, welche die Herzen durchdringen.

Die Apostel wagen kein Wort mehr zu sagen. Verängstigt schweigen sie und scheinen vor Verwunderung wie betäubt zu sein. Doch als ein Schleier, der weder ein Nebel, noch eine Wolke und auch kein Strahl ist, die drei Verklärten einhüllt und hinter einem noch helleren Lichtschirm verbirgt, und eine mächtige, wohlklingende Stimme die Luft erfüllt, fallen die drei zu Boden und verbergen das Antlitz im Gras.

«Das ist mein vielgeliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe. Auf ihn sollt ihr hören!»

Petrus hat, als er sich mit dem Gesicht voran zu Boden geworfen hat, ausgerufen: «Erbarmen mit mir Sünder! Die Herrlichkeit Gottes steigt herab!» Jakobus gibt keinen Laut von sich. Johannes flüstert mit einem Seufzer, als wäre er nahe daran, ohnmächtig zu werden: «Der Herr spricht!»

Keiner wagt seinen Kopf zu heben, selbst als es wieder ganz still geworden ist, und sie bemerken daher nicht, wie das natürliche Sonnenlicht zurückkehrt, in welchem Jesus in seinem roten Gewand wieder wie gewohnt erscheint. Lächelnd schreitet er auf sie zu, berührt und schüttelt sie und ruft sie beim Namen.

«Steht auf, ich bin es. Fürchtet euch nicht», sagt er, denn die drei wagen nicht, ihre Augen zu erheben und flehen um Barmherzigkeit für ihre Sünden, da sie fürchten, daß es der Engel des Herrn ist, der sie dem Allerhöchsten zeigen will.

«So erhebt euch doch. Ich gebiete es euch», wiederholt Jesus mit machtvoller Stimme. Sie schauen auf und sehen Jesus, der ihnen zulächelt.

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«Oh, Meister, mein Gott!» ruft Petrus aus. «Wie wird es uns noch möglich sein, fortan an deiner Seite zu leben, da wir deine Herrlichkeit geschaut haben? Wie werden wir unter den Menschen leben können, wir sündigen Menschen, nun, da wir die Stimme Gottes gehört haben?»

«Ihr werdet an meiner Seite leben müssen und meine Herrlichkeit schauen bis zum Ende. Seid dessen würdig, denn die Zeit ist nahe. Gehorcht meinem und eurem Vater. Nun wollen wir zu den Menschen zurückkehren, denn ich bin gekommen, um unter ihnen zu sein und sie Gott zuzuführen. Laßt uns gehen. Seid im Gedenken an diese Stunde heilig, stark und treu. Ihr werdet einst teilhaben an meiner vollkommenen Herrlichkeit. Aber sprecht jetzt mit niemandem über das, was ihr gesehen habt. Auch nicht mit den Gefährten. Wenn der Menschensohn einst von den Toten auferstanden und in die Herrlichkeit des Vaters zurückgekehrt sein wird, dann werdet ihr sprechen, denn dann wird man, um an meinem Reiche teilzuhaben, glauben müssen.»

«Aber muß nicht Elias kommen, um dein Reich vorzubereiten? Die Rabbis sagen so.»

«Elias ist schon gekommen und hat die Wege des Herrn bereitet. Alles geschieht so, wie es geoffenbart worden ist. Aber jene, welche die Offenbarung lehren, kennen und begreifen sie nicht, denn sie sehen und erkennen nicht die Zeichen der Zeit und die Gesandten Gottes. Elias ist schon einmal zurückgekehrt. Ein zweites Mal wird er kommen, wenn die Endzeit angebrochen ist, um die Letzten für Gott vorzubereiten. Dieses Mal ist er gekommen, um die Ersten auf Christus vorzubereiten, und die Menschen haben ihn nicht erkennen wollen, haben ihn gepeinigt und getötet. Das gleiche werden sie mit dem Menschensohn tun, denn die Menschen wollen nicht erkennen, was zu ihrem Heil ist.»

Die drei senken nachdenklich und traurig ihre Häupter und gehen zusammen mit Jesus den gleichen Weg bergab, auf dem sie gekommen sind.

... Wiederum ist es Petrus, der bei einer Rast auf halbem Wege sagt: «Ach Herr! Ich sage, wie deine Mutter gestern: "Warum hast du uns das angetan?" und füge hinzu: "Warum hast du uns das gesagt?" Deine letzten Worte haben in unseren Herzen die Freude über diese herrliche Schauung ausgelöscht. Welch ein Tag voll großer Angst! Zuerst hat uns das große Licht Furcht eingeflößt, das du uns gezeigt hast, und das stärker war, als wenn der ganze Berg gebrannt hätte und der Mond herabgestiegen wäre, um vor unseren Augen auf dem Plateau zu erstrahlen. Dann dein Aussehen und dein Schweben über der Erde, als wolltest du entschwinden. Ich hatte gefürchtet, daß du, angeekelt von den Bosheiten Israels, vielleicht auf Befehl des Allerhöchsten zum Himmel zurückkehren würdest. Dann hatte ich Angst, als Moses erschien, den die Seinen einst nicht mehr anzuschauen vermochten, ohne daß er mit einem Schleier bedeckt war: so

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sehr erstrahlte sein Antlitz vom Widerschein Gottes. Damals jedoch war er noch Mensch, während er jetzt selig und von Gottes Licht erfüllt ist. Und Elias... Göttliche Barmherzigkeit! Ich glaubte schon, meine letzte Stunde sei gekommen, und mit einem Male erinnerte ich mich aller Sünden meines Lebens, von der ersten, da ich als Kind Obst aus der Kammer stahl, bis zur letzten vor einigen Tagen, da ich dir einen schlechten Rat gab. Mit welcher Furcht habe ich alles bereut! Dann hatte ich das Gefühl, daß die beiden Gerechten mich liebten... und wagte zu sprechen. Doch selbst ihre Liebe flößte mir Angst ein, denn ich verdiene die Liebe solcher Geister nicht. Und dann... dann! ... Die Angst der Ängste! Die Stimme Gottes! ... Jahwe hat gesprochen! Zu uns! Er hat zu uns gesagt: "Auf ihn sollt ihr hören!" Auf dich! Und er hat dich seinen "geliebten Sohn, an dem er sein Wohlgefallen hat", genannt. Welch eine Furcht! Jahwe! ... zu uns! ... Sicher hat uns nur deine Macht am Leben erhalten! ... Als du uns berührtest – deine Finger brannten wie Feuer – bin ich zum letzten Mal erschrocken. Ich glaubte, die Stunde des Gerichtes wäre gekommen, und der Engel habe mich berührt, um meine Seele zu nehmen und sie zum Allerhöchsten zu bringen... Wie hat nur deine Mutter es vermocht, zu sehen und zu hören... ich will sagen, jene Stunde, von der du uns gestern erzählt hast, zu überleben? Sie, die allein war, noch so jung und ohne dich...»

«Maria, die Makellose, konnte gar keine Angst vor Gott haben. Auch Eva hatte keine Angst vor ihm, solange sie unschuldig war. Ich, der Vater und der Heilige Geist waren zugegen, wir, die wir im Himmel, auf Erden und an jedem Ort gegenwärtig sind und unser Zelt im Herzen Marias aufgeschlagen hatten», sagt Jesus sanft.

«Was! Was! ... Aber danach hast du vom Tod gesprochen... und alle Freude war zu Ende... Aber warum ist gerade uns dreien all dies geschehen? Wäre es nicht besser gewesen, wenn alle Menschen deine Herrlichkeit geschaut hätten?»

«Gerade, weil ihr euch so betroffen fühlt, wenn ihr vom qualvollen Tod des Menschensohnes reden hört, habe ich, der Gottmensch, euch für diese Stunde und für immer stärken wollen mit der Vorauskenntnis dessen, was ich nach dem Tode sein werde. Erinnert euch stets daran, damit ihr es zu seiner Zeit verkündigen könnt... Habt ihr verstanden?»...

«O ja, Herr! Es ist nicht möglich, dies zu vergessen, und es wäre unnütz, darüber zu berichten. Sie würden uns für betrunken halten.»

Sie kehren zurück ins Tal. Aber als sie eine bestimmte Stelle erreicht haben, biegt Jesus in einen abschüssigen Pfad ein, der nach Endor führt, also auf die entgegengesetzte Seite, auf der er die Jünger zurückgelassen hat.

«Wir werden sie nicht mehr finden», sagt Jakobus. «Die Sonne beginnt unterzugehen. Sie werden sich an dem Ort versammeln, an dem du sie zurückgelassen hast.»

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«Komm und mach dir keine dummen Gedanken.»

Tatsächlich erblicken sie beim Verlassen des Waldes, als sie über leicht abfallende Wiesen die Hauptstraße erreichen, die vielen Jünger am Fuß des Berges, sowie neugierige Wanderer und Schriftgelehrte, die wer weiß woher gekommen sind.

«O weh, Schriftgelehrte! ... sie disputieren schon!» sagt Petrus auf sie zeigend und geht das letzte Stück Weges schweren Herzens hinab.

Aber auch die unten haben sie gesehen und deuten nun auf sie. Dann beginnen sie auf Jesus zuzulaufen und schreien: «Wieso kommst du von dieser Seite, Meister? Wir waren dabei, zur verabredeten Stelle zurückzukehren, aber die Schriftgelehrten mit ihren Streitfragen und ein gequälter Vater mit seinen Bitten haben uns aufgehalten.»

«Worüber habt ihr gestritten?»

«Es ging um einen Besessenen. Die Schriftgelehrten haben uns verspottet, weil wir ihn nicht befreien konnten. Judas von Kerioth hat es dann noch einmal versucht, weil er sich durch ihre Worte getroffen fühlte. Aber es war nutzlos. Da haben wir gesagt: "Versucht ihr es doch", und sie haben geantwortet: "Wir sind keine Exorzisten." Zufällig sind einige aus Caslot-Tabor vorbeigekommen, und unter ihnen waren zwei Exorzisten. Doch auch sie haben nichts erreicht. Da ist der Vater, der kommt, um dich um etwas zu bitten. Höre ihn an.»

Tatsächlich kommt ein Mann daher und kniet flehend vor Jesus nieder, der auf dem Wiesenhang etwa drei Meter über der Straße stehengeblieben, und daher für alle gut zu sehen ist.

«Meister», sagt der Mann zu ihm, «ich bin mit meinem Sohn nach Kapharnaum gegangen, um dich zu suchen. Ich wollte dir meinen unglücklichen Sohn bringen, damit du ihn befreist, du, der du die Dämonen austreibst und alle Krankheiten heilst. Er ist oft von einem stummen Geist besessen. Jedesmal wenn er ihn überfällt, kann er nur noch rauhe Schreie ausstoßen, wie ein erstickendes Tier. Der Geist wirft ihn zu Boden, und dann wälzt er sich, knirscht mit den Zähnen und schäumt wie ein Pferd, das in den Zügel beißt, und verletzt sich oder läuft Gefahr zu ertrinken, zu verbrennen oder sich den Hals zu brechen, denn der Geist hat ihn mehr als einmal ins Wasser, ins Feuer und die Treppe hinuntergeworfen. Deine Jünger haben alles versucht, jedoch nichts gegen ihn vermocht. O gütiger Herr! Hab Erbarmen mit mir und meinem Knaben!»

Jesus flammt vor Macht, während er ausruft: «O verderbtes Geschlecht! O satanische Horde, aufrührerische Legion, ungläubiges und grausames Volk der Hölle, wie lange werde ich noch mit dir zusammen sein müssen? Wie lange werde ich dich noch zu ertragen haben?» Sein Auftreten ist so eindrucksvoll, daß plötzlich völliges Schweigen herrscht und auch das höhnische Grinsen der Schriftgelehrten aufhört.

Jesus sagt zum Vater: «Steh auf und bring deinen Sohn zu mir.»

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Der Mann entfernt sich und kehrt bald mit anderen Männern zurück, die in ihrer Mitte einen Knaben von etwa zwölf bis vierzehn Jahren führen. Ein schöner Junge, aber mit einem verschleierten Blick, als wäre er betäubt. An der Stirn hat er eine lange, rote Wunde und etwas darunter eine helle, alte Narbe. Sobald er Jesus erblickt, der ihn mit seinen magnetischen Augen ansieht, stößt er einen heiseren Schrei aus und sein ganzer Körper wird von Krämpfen geschüttelt, während er schäumend und mit rollenden Augen zu Boden fällt und als er sich im typischen Anfall eines Epileptikers auf dem Boden wälzt, ist nur noch das Weiße der Augäpfel sichtbar.

Jesus nähert sich ihm einige Schritte und sagt: «Seit wann hat er diese Anfälle? Sprich laut, damit alle dich hören können.»

Der Mann schreit laut, während die Menschen sich um ihn drängen, und die Schriftgelehrten höher hinaufsteigen, um die Szene zu überblicken: «Von Kindheit an. Wie ich dir erzählt habe, fällt er oft ins Feuer, ins Wasser, die Treppen hinunter und von den Bäumen, denn der Geist überfällt ihn ganz plötzlich und stürzt ihn dann zu Boden, um ihn zu töten. Er ist voller Narben und Brandwunden, und es ist ein Wunder, daß er nicht schon durch das Herdfeuer erblindet ist. Kein Arzt, kein Exorzist und nicht einmal deine Jünger haben ihn heilen können. Aber wenn du etwas tun kannst, woran ich fest glaube, dann erbarme dich unser und hilf uns!»

«Wenn du so glauben kannst, ist mir alles möglich, denn alles wird dem gewährt, der glaubt.»

«O Herr! Und wie ich glaube! Aber wenn ich noch nicht genügend glaube, dann vermehre meinen Glauben, auf daß er vollendet sei und das Wunder erlange», stottert der Mann weinend, während er neben dem Sohn kniet, der sich in immer stärkeren Krämpfen windet.

Jesus richtet sich auf, geht zwei Schritte zurück, und während die Menge sich immer näher um ihn drängt, ruft er laut: «Verfluchter Geist, der du den Knaben taub und stumm machst und ihn quälst, ich befehle dir: verlasse ihn und kehre nie wieder zurück!»

Der Knabe macht jetzt, obwohl er auf dem Boden liegt, schreckliche Sprünge, indem er sich auf Kopf und Füße stützt und zu einem Bogen biegt. Er stößt unmenschliche Schreie aus, und nach einem letzten Aufbäumen, bei dem er nach vorne fällt und sich Stirn und Mund an einem im Gras liegenden Stein blutig schlägt, bleibt er reglos liegen.

«Er ist tot!» rufen viele.

«Armer Knabe!» «Armer Vater!» bemitleiden ihn die wohlmeinenden Menschen, und die Schriftgelehrten bemerken spöttisch: «Der Nazarener hat dich gut bedient!» und an Jesus gewandt: «Meister, was ist los? Dieses Mal hat Beelzebub dich blamiert...» und sie lachen höhnisch dazu.

Jesus antwortet niemandem, selbst nicht dem Vater, der den Sohn au

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die Seite legt und ihm das Blut von der verletzten Stirn und den verletzten Lippen wischt, während er Jesus jammernd anfleht. Dann neigt sich der Meister nieder und nimmt den Knaben bei der Hand. Dieser öffnet mit einem tiefen Seufzer die Augen, als ob er aus einem Schlaf erwache, setzt sich auf und lächelt. Jesus läßt ihn aufstehen, zieht ihn an sich und übergibt ihn dem Vater, während das Volk vor Begeisterung schreit und die Schriftgelehrten sich, gefolgt vom Spott der Menge, davonmachen...

«Nun wollen wir gehen», sagt Jesus zu seinen Jüngern. Nachdem er sich von der Menge verabschiedet hat, geht er eine Weile am Fuß des Berges entlang und erreicht die Straße, auf der er am Morgen hergekommen ist.

Jesus sagt:

«Ich habe dich vorbereitet, meine Herrlichkeit zu betrachten. Morgen (6. August) wird die Kirche das Fest der Verklärung feiern. Doch möchte ich, daß mein kleiner Johannes sie in Wirklichkeit schaut, um sie besser zu verstehen. Ich habe dich nicht nur dazu erwählt, Traurigkeit und Leid deines Meisters kennenzulernen, denn wer fähig ist, meinen Schmerz mit mir zu teilen, soll auch an meiner Herrlichkeit teilhaben.

Ich möchte, daß du deinem Jesus gegenüber, der sich dir zeigt, die gleiche Demut und Reue empfindest wie meine Apostel.

Niemals darfst du stolz sein, denn du würdest dafür bestraft werden indem du mich verlierst.

Bedenke immer, wer ich bin und wer du bist.

Denke stets an deine Fehlerhaftigkeit und an meine Vollkommenheit, um ein durch Reue gereinigtes Herz zu haben, und habe auch gleichzeitig großes Vertrauen zu mir. Ich habe gesagt: "Fürchtet euch nicht! Erhebt euch! Laßt uns unter die Menschen gehen, denn ich bin gekommen, um bei ihnen zu sein. Seid heilig, stark und treu in Erinnerung an diese Stunde." Dasselbe sage ich auch zu dir und zu allen meinen Auserwählten unter den Menschen, zu jenen, die mich auf besondere Weise besitzen.

Fürchtet euch nicht vor mir. Ich zeige mich, um euch zu erheben, nicht um euch zu vernichten. Erhebt euch: die Freude des Geschenkes gebe euch Kraft und stumpfe euch nicht ab zu einer weichlichen Gelassenheit, indem ihr euch des Heiles schon sicher glaubt, weil ich euch den Himmel gezeigt habe. Laßt uns zusammen unter die Menschen gehen. Ich habe euch zu übermenschlichen Werken bestimmt, mit übermenschlichen Visionen und Unterweisungen, auf daß ihr mir umso besser dienen könnt. Ich lasse euch an meinem Werk teilnehmen, doch ich habe keine Ruhe gekannt und kenne sie auch jetzt nicht; denn da das Böse nie ruht, muß das Gute stets tätig bleiben, um das Werk des Feindes nach besten Kräften zunichte zu machen. Wir werden ausruhen, wenn die Zeit erfüllt ist. Jetzt müssen wir unermüdlich vorangehen, fortwährend wirken, uns rastlos verzehren für die Ernte Gottes. Die immerwährende Vereinigung mit mir heilige euch. Meine fortwährende Lebte kräftige euch, und meine besondere Bevorzugung für euch mache euch in jeder Nachstellung standhaft. Seid nicht wie die alten Rabbis, die die Offenbarung wohl lehrten, jedoch nicht daran glaubten, so daß sie schließlich die Zeichen der Zeit und die Boten Gottes nicht mehr erkannten. Bekennt euch zu den Vorläufern Christi bei seiner zweiten Ankunft, denn die Kräfte des Antichristen wallen überall. Was viele für einen Sieg über den Anticliristen halten, für einen scheinbaren Frieden, ist nichts anderes als eine Pause, die den Feinden Christi Zeit läßt, ihre Kräfte zu sammeln, ihre Wunden zu heilen und ihr Heer für eine noch grausamere Schlacht vorzubereiten.

Erkennt, ihr "Stimmen" eures Jesu, des Königs der Könige, des Getreuen und Wahrhaftigen, der richtet und kämpft in Gerechtigkeit und Sieger über das Tier, seine Diener und Propheten sein wird: erkennt, was zu eurem Besten ist und verwirklicht es stets.

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Kein trügerischer Anschein verführe euch, und keine Verfolgung werfe euch nieder. Eure "Stimme" wiederhole meine Worte. Euer Leben sei diesem Werk geweiht, und wenn ihr auf Erden das gleiche Schicksal wie Jesus Christus, sein Vorläufer und Elias erfahren solltet und körperliche oder seelische Leiden ertragen müßt, so freut euch über euer künftiges Leben, das ihr mit Christus, mit seinem Vorläufer und dem Propheten gemein haben werdet.

Wie in der Arbeit, so auch in den Leiden und in der Verherrlichung bin ich Meister und Vorbild! Dort bin ich Lohn und König! Mich zu besitzen, wird eure Glückseligkeit sein und euch den Schmerz vergessen lassen. Keine Offenbarung kann euch ganz begreifen lassen, wie es sein wird, denn die Seligkeit des künftigen Lebens übersteigt alle Vorstellungskraft eines Geschöpfes, welches noch mit dem Fleisch umhüllt ist.»

395. BELEHRUNG DER APOSTEL NACH DER VERKLÄRUNG

Sie sind jetzt wieder beim Haus von Nazareth, genauer gesagt, auf dem Hang des Olivengartens verstreut, in der Erwartung, zur Nachtruhe auseinanderzugehen. Sie haben ein kleines Feuer angezündet, um das Dunkel zu erhellen, denn es ist bereits finster und der Mond geht erst spät auf. Doch der Abend ist warm, «zu warm» meinen die Fischer, die einen baldigen Regen vorhersehen. Es ist schön, so zusammen zu sein, die Frauen im blühenden Garten um Maria geschart, die Männer weiter oben, gleich viele hier wie dort, und am Rand des Vorsprungs Jesus, der diesem und jenem antwortet, während die Jüngerinnen aufmerksam zuhören. Es muß gerade von der Heilung des Epileptikers am Fuß des Berges die Rede gewesen sein, und immer noch werden Bemerkungen darüber gemacht.

«Da mußtest du wirklich kommen!» ruft der Vetter Simon aus.

«Oh! Obwohl sie sahen, daß auch ihre Exorzisten nichts vermochten, die doch versicherten, die stärksten Formeln angewandt zu haben, waren diese Geister nicht zu überzeugen!» sagt der Fährmann Salomon kopfschüttelnd.

«Auch als man den Schriftgelehrten die Folgerungen vor Augen hielt, wollten sie sich nicht überzeugen lassen.»

«Ja. Mir schien, sie sprächen gut, nicht wahr?» fragt einer, den ich nicht kenne.

«Sehr gut! Sie haben der Macht Jesu jegliche dämonische Magie abgesprochen und gesagt, ein tiefer Friede sei über sie gekommen, als der Meister das Wunder wirkte, während sie, wenn etwas von einer bösen Macht ausgeht, so etwas wie einen Schmerz empfinden», antwortet Hermas.

«Aber was für ein hartnäckiger Geist, he? Er wollte nicht ausfahren! Warum hat er den Knaben nur zeitweise befallen? War es ein vertriebener und verirrter Geist, oder war der Knabe so heiligmäßig, daß er ihn mit eigener Kraft vertreiben konnte?», fragt ein anderer Jünger, dessen Name mir nicht bekannt ist.

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Jesus erklärt unaufgefordert. «Ich habe schon öfters gesagt, daß jede Krankheit, da sie eine Plage und eine Unordnung ist, Satan in sich verbergen kann, und Satan kann sich in einer Krankheit verstecken, um zu quälen und zur Gotteslästerung zu verleiten. Der Knabe war ein Kranker, nicht ein Besessener, eine reine Seele. Deswegen habe ich ihn mit Freude von dem hinterlistigen Dämon befreit, der sich dieser Seele so sehr bemächtigen wollte, um sie unrein zu machen.»

«Und warum haben wir nichts vermocht, wenn es sich nur um eine einfache Krankheit handelte?» fragt Judas von Kerioth.

«Ja... Die Exorzisten konnten selbstverständlich nichts erreichen, wenn es kein Besessener war! Aber wir? ...» bemerkt Thomas.

Judas Iskariot, der sich mit seiner Niederlage nicht abfinden kann, da er mehrere Versuche mit dem Knaben angestellt und diesen nur noch mehr zum Toben gebracht hat, sagt: «Wir haben ihm anscheinend nur geschadet. Erinnerst du dich, Philippus? Du, der du mir geholfen hast, hast gesehen wie er mir Fratzen geschnitten hat, und gehört, daß er mir sogar befohlen hat: "Geh weg! Von uns beiden bist du der größere Dämon", was die Schriftgelehrten veranlaßt hat, hinter meinem Rücken zu lachen.»

«Hat dir dies mißfallen?» fragt Jesus scheinbar unbekümmert.

«Gewiß ist es nicht angenehm, verspottet zu werden, und nicht von Vorteil, wenn man dein Apostel ist, denn man verliert dadurch an Autorität.»

«Wenn man mit Gott ist, verliert man nie an Autorität, selbst wenn die ganze Welt spottet, Judas des Simon!»

«Schon gut. Aber du solltest wenigstens in uns Aposteln die Macht vermehren, damit ähnliche Niederlagen nicht mehr vorkommen.»

«Es wäre nicht gerecht und nicht angebracht, wenn ich eure Macht vermehren würde. Ihr müßt das Eure dazutun, um zum Ziel zu gelangen. Es liegt an eurer Unzulänglichkeit, wenn ihr nichts erreicht. Ihr selbst habt das, was ich euch gegeben habe, durch unheilige Elemente, die ihr in der Hoffnung auf größere Siege beigemengt habt, verringert.»

«Soll das mir gelten?» fragt Iskariot.

«Du wirst es selbst wissen, ob du diese Worte verdienst. Ich spreche zu allen.»

Bartholomäus fragt: «Was ist denn notwendig, um diese Dämonen zu besiegen?»

«Gebet und Fasten. Anderes ist nicht nötig. Betet und fastet, und nicht nur dem Fleische nach. Deshalb ist es gut, daß euer Hochmut der Befriedigung entbehrt. Der sich selbst genügende Hochmut läßt Geist und Seele apathisch werden, und das Gebet wird lau und unwirksam, so wie ein übersatter Leib schläfrig und schwerfällig wird. Nun wollen auch wir uns zur verdienten Ruhe begeben. Morgen, bei Sonnenaufgang, sollen sich

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alle, mit Ausnahme Manaens und der Hirtenjünger, auf der Straße von Kana einfinden. Geht nun, der Friede sei mit euch.»

Doch dann hält er Isaak und Manaen zurück und gibt ihnen besondere Anweisungen für den morgigen Tag, den Tag der Abreise der Jüngerinnen und Marias, die zusammen mit Simon des Alphäus und Alphäus der Sara die Passah-Pilgerfahrt antreten werden.

«Geht über Esdrelon, damit Margziam seinen Großvater wiedersehen kann. Gebt den Landarbeitern die Börse, die ich euch von Judas habe überreichen lassen. Mit der anderen, die ich euch eben gegeben habe, helft den Armen, denen ihr auf eurer Reise begegnet. Wenn ihr in Jerusalern angekommen seid, geht nach Bethanien und sagt dort, daß man mich um den Neumond des Nisam erwarten soll. Ich werde nicht viel später als an diesem Tag dort sein. Ich vertraue euch die mir teuerste Person und die Jüngerinnen an. Aber ich bin ruhig, da sie in guten Händen sind. Geht nun! Wir werden uns in Bethanien wiedersehen und dann für lange Zeit beisammen sein.»

Er segnet sie, und während sie sich im Dunkel der Nacht entfernen, geht er in den Garten hinunter und ins Haus, wo die Jüngerinnen und die Mutter mit Margziam bereits die Reisesäcke zubinden. Sie bringen auch im Haus alles in Ordnung für die Zeit der Abwesenheit, deren Dauer ihnen nicht bekannt ist.

396. DIE TEMPELABGABE UND DIE MÜNZE IM SCHLUND DES FISCHES

Die beiden gemieteten Boote, in denen sie nach Kapharnaum zurückkehren, gleiten auf einem unwahrscheinlich ruhigen See dahin, eine wahre Scheibe himmlischen Kristalls, die, nachdem die beiden Boote vorbeigefahren sind, jeweils sofort wieder ihre glatte Oberfläche zurückgewinnt. Es sind jedoch nicht die Boote des Petrus und des Jakobus, sondern zwei andere, die sie vielleicht in Tiberias gemietet haben, denn ich höre, daß sich Judas etwas beklagt, weil er nach dieser letzten Ausgabe kein Geld mehr hat.

«An die anderen hat man gedacht, aber an uns? Was werden wir nun tun? Ich hoffte, daß Chuza... Aber nichts! Wir sind nun in der Lage eines Bettlers, eines der vielen, die sich in dieser Zeit an die Straßen stellen und die Pilger um Almosen bitten», sagt er leise und unzufrieden zu Thomas.

Doch dieser antwortet gutmütig: «Was tut das schon? Ich mache mir keine Sorgen.»

«Ja! Aber wenn die Stunde der Mahlzeit kommt, bist du derjenige, der mehr als alle anderen essen möchte.»

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«Gewiß, ich habe Hunger. Ich bin auch in diesem Punkt tüchtig. Nun gut, heute werde ich, anstatt wie üblich Brot und andere Speisen zu verteilen, diese direkt von Gott erbitten.»

«Heute! Heute! Aber morgen werden wir uns wieder in derselben Lage befinden, und übermorgen ebenfalls. Zudem sind wir auf dem Weg zur Dekapolis, wo uns niemand kennt und die Leute halbe Heiden sind. Es ist nicht nur wegen des Brotes, sondern auch wegen der Sandalen, die sich abnützen, und wegen der Armen, die dich belästigen. Einer könnte auch krank werden, und ...»

«Und wenn du so weitermachst, dann bringst du mich noch um und wirst auch an die Begräbniskosten denken müssen. Oh, wie viele Sorgen! ich... bin wirklich sorgenfrei, ruhig wie ein neugeborenes Kind.»

Jesus, der in seine Gedanken versunken zu sein scheint und am Bug, fast auf dem Bootsrand, sitzt, dreht sich um und sagt laut zu Judas, der am Heck sitzt – aber es sieht so aus, als ob er zu allen sprechen würde -«Es ist ganz gut, ohne einen Pfennig zu sein, umsomehr wird die Vatergüte Gottes auch in den kleinen Dingen erstrahlen.»

«Seit einigen Tagen ist für dich alles gut. Es ist gut, daß kein Wunder geschieht, es ist gut, daß wir von niemandem Spenden erhalten, es ist gut, daß wir alles, was wir besaßen, verteilt haben, alles in allem ist gut... Aber mir ist sehr unbehaglich dabei... Du bist ein teurer Meister, ein heiliger Meister, aber auf Dinge des materiellen Lebens verstehst du dich überhaupt nicht», sagt Judas ohne Bitterkeit, als ob er einem guten Bruder Vorhaltungen machte, dessen unbedachter Güte er sich aber auch rühmt.

Jesus antwortet ihm mit einem strahlenden Lächeln: «Es ist gerade mein größter Vorzug, ein Mensch zu sein, der sich nicht auf Dinge des materiellen Lebens versteht... und ich wiederhole: Es ist ganz gut, ohne einen Pfennig zu sein.»

Das Boot gleitet über den Kies und hält an. Alle steigen aus, während sich das andere Boot nähert, um anzulegen. Jesus begibt sich mit Judas, Thomas, Judas und Jakobus, Philippus und Bartholomäus zu dem Haus...

Petrus steigt aus dem zweiten Boot aus, und Matthäus, die Söhne des Zebedäus, Simon der Zelote und Andreas folgen ihm; und während sich alle auf den Weg machen, bleibt Petrus am Ufer zurück, um mit den Bootsmännern zu sprechen, die sie begleitet haben und die er vielleicht kennt, und um ihnen bei der Abfahrt behilflich zu sein. Dann zieht er wieder sein langes Gewand an und steigt das Ufer hinauf, um sich zum Hause zu begeben.

Während er den Marktplatz überquert, kommen ihm zwei Männer entgegen, die ihn anhalten und sagen: «Höre, Simon des Jonas.»

«Ich höre. Was wollt ihr?»

«Bezahlt dein Meister, oder bezahlt er die Doppeldrachme an den Tempel nicht, nur weil er Meister ist?»

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«Gewiß bezahlt er sie! Warum sollte er es nicht tun?»

«Nun ... weil er sich Sohn Gottes nennt, und ...»

«Und er ist es auch», entgegnet Petrus bestimmt, schon ganz rot vor Unwillen. Dann fügt er hinzu: «Doch da er auch ein Sohn des Gesetzes ist, und der beste, den das Gesetz hat, zahlt er wie jeder Israelit seine zwei Drachmen...»

«Das ist uns nicht bekannt. Man hat uns vielmehr gesagt, daß er es nicht tut, und wir möchten ihm raten, es zu tun.»

«Hm, hm», brummt Petrus, dessen Geduld beinahe am Ende ist. «Hm, hm, hm... Mein Meister hat euren Rat nicht nötig. Geht in Frieden und sagt denen, die euch geschickt haben, daß die Drachmen bei der ersten Gelegenheit bezahlt würden.»

«Bei der ersten Gelegenheit bezahlt würden! ... Warum nicht sofort? Wer garantiert uns, daß er es tun wird, wenn er immer da und dort ist, ohne ein bestimmtes Ziel?»

«Jetzt nicht, weil er im Augenblick keinen Pfennig besitzt. Ihr könntet ihn auf den Kopf stellen, und es käme nicht die kleinste Münze zum Vorschein. Wir sind alle ohne Geld, denn wir, die wir weder Pharisäer noch Schriftgelehrte, weder Sadduzäer noch Begüterte, weder Spione noch Schlangen sind, sind es gewohnt, gemäß seiner Lehre das, was wir haben, für die Armen zu verwenden. Verstanden? Gerade haben wir alles weggegeben, und wenn der Allerhöchste nicht für uns sorgt, können wir Hungers sterben oder uns als Bettler an die Straßenecke stellen. Berichtet dies auch jenen, die behaupten, daß er ein Schlemmer wäre. Lebt wohl!»Dann läßt er sie stehen und läuft brummend und glühend vor Erregung davon.

Er betritt das Haus und begibt sich in den oberen Raum, wo Jesus einen Mann anhört, der ihn bittet, in ein Haus auf dem Berg hinter Magdala zu kommen, wo jemand im Sterben liegt.

Jesus verabschiedet sich von dem Mann und verspricht, bald zu kommen. Als der Besucher fort ist, wendet er sich an Petrus, der sich nachdenklich in eine Ecke gesetzt hat, und sagt: «Was meinst du, Simon, von wem bekommen die Könige der Erde in der Regel den Tribut und die Steuern? Von den eigenen Kindern oder von den Fremden?»

Petrus fährt auf und sagt: «Woher weißt du, Herr, was ich dir hätte sagen sollen?»

Jesus lächelt und macht eine Gebärde, als wolle er sagen: «Laß es gut sein»; dann fügt er an: «Antworte mir auf das, was ich dich frage.»

«Von den Fremden!»

«Also sind die Kinder davon ausgenommen, wie es auch recht ist. Denn ein Sohn ist vom Blut und vom Haus des Vaters und braucht dem Vater nur den Tribut der Liebe und des Gehorsams zu leisten. Daher müßte ich, als Sohn des Vaters, keinen Tribut an den Tempel bezahlen, da dieser das

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Haus des Vaters ist. Du hast ihnen richtig geantwortet. Aber da ein Unterschied zwischen dir und ihnen besteht, und zwar dieser: du glaubst, daß ich der Sohn Gottes bin, während sie und jene, die sie geschickt haben, dies nicht glauben, daher will ich, damit wir ihnen nicht Anstoß geben, den Tribut bezahlen, und zwar sofort, solange sie noch auf dem Platz sind, um ihn einzuziehen.»

«Und womit willst du bezahlen, da wir doch keinen Pfennig mehr besitzen?» fragt Judas, der sich mit den anderen genähert hat. «Siehst du jetzt, wie nötig es ist, etwas zu haben?»

«Wir werden uns vom Herrn des Hauses etwas leihen», sagt Philippus.

Jesus macht ein Zeichen mit der Hand, daß sie schweigen sollen, und sagt: «Simon des Jonas, geh ans Ufer des Sees und wirf die Angel mit einem großen Haken aus. Sobald der erste Fisch anbeißt, ziehe ihn ans Ufer. Es wird ein großer Fisch sein. Öffne ihm gleich am Ufer das Maul; du wirst darin einen Stater finden. Nimm ihn, eile zu den beiden und zahle für mich und für dich. Dann bring den Fisch hierher. Wir werden ihn rösten, und Thomas wird uns aus Liebe zu Gott ein wenig Brot geben. Wir werden essen und danach sogleich den Sterbenden aufsuchen. Jakobus und Andreas, bereitet die Boote vor, um mit ihnen nach Magdala zu fahren, und am Abend werden wir dann zu Fuß heimkehren, um Zebedäus und den Schwager Simons nicht am Fischfang zu hindern.»

Petrus geht, und gleich darauf sieht man ihn am Ufer in ein kleines, halb im Wasser liegendes Boot steigen und eine dünne, starke Schnur auswerfen, die mit einem Stein oder Bleistückchen beschwert ist und an deren Ende der Angelhaken hängt. Die Wasser des Sees öffnen sich mit glitzernden Spritzern, als das Gewicht in ihnen versinkt, und beruhigen sich dann wieder, nachdem die Ringe auf dem Wasser ausgelaufen sind...

Nach einer Weile jedoch spannt sich die Schnur, die locker in der Hand des Petrus gelegen ist... Petrus zieht, zieht und zieht, während die Schnur immer stärker zuckende Bewegungen macht. Schließlich ein heftiger Ruck, und die Angelschnur erscheint mit ihrer Beute, die in der Luft über dem Kopf des Fischers zappelt und dann auf den gelblichen Sand aufschlägt, wo sie sich vor Schmerz wegen des Angelhakens im Gaumen und dem Beginn des Erstickens aufbäumt.

Es ist ein prächtiger Fisch, groß wie ein Steinbutt und mindestens drei Kilogramm schwer. Petrus reißt den Haken aus dem fleischigen Kiefer, steckt seinen dicken Finger in den Schlund und zieht eine große Silbermünze heraus. Er hält sie zwischen Daumen und Zeigefinder empor, um sie dem Meister zu zeigen, der an der Brüstung der Terrasse steht. Dann nimmt er die Schnur, wickelt sie auf, ergreift den Fisch und eilt davon, zum Marktplatz.

Die Apostel sind alle starr vor Staunen... Jesus lächelt und sagt: «So haben wir ein Ärgernis verhindert...»

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Petrus kehrt zurück: «Sie waren schon mit Eli, dem Pharisäer, auf dem Wege hierher. Ich habe versucht, höflich wie ein Mädchen zu sein, und habe sie gerufen: "He, ihr Boten des Fiskus! Nehmt, hier sind vier Drachmen, nicht wahr? Zwei für den Meister und zwei für mich. Nun ist alles in Ordnung, nicht wahr? Auf baldiges Wiedersehen im Tale Josaphat, besonders mit dir, lieber Freund!" Sie waren beleidigt, weil ich gesagt habe: "Fiskus". "Wir sind vom Tempel, nicht vom Fiskus." "Ihr nehmt Steuern ein wie die Zöllner. Jeder Einnehmer ist für mich der Fiskus", habe ich geantwortet. Aber Eli hat erwidert: "Unverschämter! Wünschest du mir den Tod?" "Nein, Freund! Niemals. Ich wünsche dir eine glückliche Reise ins Tal Josaphat. Gehst du nicht nach Jerusalern zum Passahfest? Dann könnten wir uns dort irgendwo begegnen, Freund." "Lieber nicht; und ich erlaube dir auch nicht, mich deinen Freund zu nennen." "Tatsächlich wäre es eine zu große Ehre", habe ich geantwortet und bin dann fortgegangen. Das Schöne ist, daß halb Kapharnaum anwesend war und gesehen hat, wie ich für dich und für mich bezahlt habe. So wird diese alte Schlange nichts mehr sagen können.»

Die Apostel haben alle über die Erzählung und die Mimik des Petrus lachen müssen. Jesus möchte ernst bleiben, doch ein leichtes Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen, während er sagt: «Du bist schärfer als der Senf», und er fügt hinzu: «Kocht nun den Fisch und beeilen wir uns, denn bei Sonnenuntergang möchte ich wieder zurück sein.»

397. DER GRÖSSTE IM HIMMELREICH; DER KLEINE BENJAMIN VON KAPHARNAUM

Gerade als der Himmel und der See sich im Abendrot des Sonnenunterganges entzünden, kehren sie zurück nach Kapharnaum. Sie sind zufrieden und reden miteinander. Jesus spricht wenig, lächelt jedoch. Sie stellen fest, daß sie, wenn sich der Bote besser ausgedrückt hätte, sich den Weg hätten ersparen können. Sie sagen aber auch, daß sich die Mühe trotzdem gelohnt hat, denn eine Schar kleiner Kinder hat den Vater geheilt zurückerhalten, als er schon im nahenden Tod erkaltete, und außerdem sind sie nun nicht mehr ohne einen Pfennig.

«Ich hab euch doch gesagt, daß der Vater für alles sorgen würde», sagt Jesus.

«War er nicht ein alter Verehrer der Maria von Magdala?» fragt Philippus.

«Es scheint so... Demnach, was man uns gesagt hat...» antwortet Thomas.

«Herr, was hat dir der Mann gesagt?» fragt Judas des Alphäus.

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Jesus lächelt ausweichend.

«Ich habe ihn mehrmals mit ihr gesehen, als ich mit Freunden in Tiberias war. Ich bin sicher», bestätigt Matthäus.

«Ja, Bruder, stelle uns zufrieden... Hat dich der Mann nur um Heilung oder auch um Verzeihung gebeten?» fragt Jakobus des Alphäus.

«Welch sinnlose Frage! Der Herr erweist niemals eine Gnade, ohne zuvor Reue zu verlangen!» sagt Iskariot mit einem gewissen Unwillen Jakobus des Alphäus gegenüber.

«Mein Bruder hat keine Torheit gesagt. Jesus heilt oder befreit und sagt dann: "Gehe hin und sündige nicht mehr"», entgegnet Thaddäus.

«Aber nur, weil er die Reue schon in den Herzen sieht», erwidert Iskariot.

«In den Besessenen ist weder Reue noch das Verlangen, befreit zu werden. Bei keinem einzigen war ein Anzeichen dafür zu erkennen. Erinnere dich an die einzelnen Fälle, und du wirst sehen, daß sie entweder flohen oder zu Feindseligkeiten übergingen, oder wenigstens versuchten, das eine oder andere zu tun; und es gelang ihnen nur nicht, weil sie von ihren Angehörigen daran gehindert wurden», sagt Thaddäus.

«Und von der Macht Jesu», ergänzt der Zelote.

«Dann zieht Jesus eben den Wunsch der Verwandten in Betracht, die den Willen des Besessenen darstellen, der, wenn er vom Dämon nicht daran gehindert würde, die Befreiung wünschen würde.»

«Oh, wie viele Spitzfindigkeiten! Und für die Sünder? Mir scheint, daß er das gleiche Prinzip anwendet, auch wenn sie nicht besessen sind», sagt Jakobus des Zebedäus.

«Zu mir hat er gesagt: "Folge mir", und ich hatte über meinen Zustand noch kein Wort zu ihm gesagt», bemerkt Matthäus.

«Aber er hat in deinem Herzen gelesen», sagt Iskariot, der unbedingt immer recht haben will.

«Nun gut! Aber dieser Mann war nach dem, was das Volk erzählt, ein der Sinnlichkeit ergebener großer Sünder und nicht dem Teufel verfallen oder gar besessen, doch bei all den Sünden hatte er wohl einen Dämon zum Gebieter. Er lag im Sterben und so weiter, aber um was hat er gebeten? Wir kommen nicht weiter, scheint mir... Wir sind noch immer bei der ersten Frage», sagt Petrus.

Jesus stellt ihn zufrieden: «Der Mann wollte mit mir allein sein, um offen mit mir reden zu können. Er hat nicht sofort über seinen Gesundheitszustand, sondern über seinen Seelenzustand gesprochen, und hat gesagt: "ich liege im Sterben, aber es steht noch nicht so schlimm um mich, wie ich die Umstehenden habe glauben lassen, um dich schneller in meiner Nähe zu haben. Ich bedarf deiner Vergebung, um gesund zu werden. Die Vergebung allein genügt mir. Wenn du mich nicht heilen willst, werde ich mich darein ergeben, denn ich habe es verdient. Aber heile meine Seele!",

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und er hat mir seine vielen Sünden, eine Kette von ekelerregenden Sünden, bekannt...» sagt Jesus, doch sein Gesicht strahlt vor Freude.

«Und du freust dich auch noch darüber, Meister? Das wundert mich!»bemerkt Bartholomäus.

«Ja, Bartholomäus, ich freue mich, denn die Sünden sind nicht mehr, und mit ihnen habe ich den Namen der Befreierin erfahren. In diesem Fall war der Apostel eine Frau.»

«Deine Mutter!» rufen viele aus, und andere: «Johanna des Chuza! Da er oft nach Tiberias ging, hat er sie vielleicht gekannt.» Jesus schüttelt den Kopf. Sie fragen ihn: «Wer dann?»

«Maria des Lazarus», antwortet Jesus.

«Ist sie hierhergekommen? Warum hat sie sich bei keinem von uns sehen lassen?»

«Sie ist nicht gekommen. Sie hat ihrem alten Gefährten der Sünde geschrieben. Ich habe die Briefe gelesen. Darin fleht sie ihn immer um dasselbe an: auf sie zu hören und sich zu bekehren, wie sie sich selbst bekehrt hat; ihr im Guten zu folgen, wie er ihr vorher in der Sünde gefolgt ist; und mit tränenvollen Worten bittet sie ihn auch, ihre Seele von den Gewissensbissen, seine Seele verführt zu haben, zu befreien. Sie hat ihn bekehrt, so daß er sich auf das Land zurückgezogen hat, um den Versuchungen der Stadt zu entfliehen. Die Krankheit, mehr durch Gewissensbisse verursacht als physischen Ursprungs, hat ihn schließlich für die Gnade vorbereitet. Also, seid ihr jetzt zufrieden? Versteht ihr jetzt, warum ich lächle?»

«Ja, Meister», sagen alle, und als sie sehen, daß Jesus seine Schritte beschleunigt, wie um sich abzusondern, fangen sie an, miteinander zu tuscheln ...

Kapharnaum ist schon in Sichtweite, als sie an der Kreuzung mit dem Weg, der am See entlang nach Magdala führt, auf Jünger stoßen, die zu Fuß, die Frohe Botschaft verkündend, von Tiberias herkommen. Es sind alle mit Ausnahme von Margziam, den Hirten und Manaen, die mit den Frauen von Nazareth nach Jerusalern aufgebrochen sind.

Die Gruppe der Jünger hat sich sogar um einige vermehrt, die auf dem Rückweg von ihrer Mission zu ihr gestoßen sind und einige neue Proselyten der christlichen Lehre mitgebracht haben.

Jesus grüßt sie liebevoll, sondert sich jedoch dann sofort wieder ab in Betrachtung und tiefem Gebet, indem er einige Schritte vor ihnen hergeht. Die Apostel hingegen gesellen sich zu den Jüngern, besonders zu den einflußreicheren, also Stephanus, Hermas, dem Priester Johannes, Timoneus, Joseph von Emmaus, Ermastheus – der, soweit ich es beurteilen kann, auf dem Weg der Vollkommenheit voranfliegt – und Abel von Bethlehem in Galiläa, dessen Mutter mit anderen Frauen am Ende der Gruppe geht. Jünger und Apostel tauschen Fragen und Antworten über

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die Ereignisse seit ihrer Trennung. So wird auch von der Heilung und Bekehrung am heutigen Tag und von der Münze im Maul des Fisches berichtet... Die Gründe für dieses Wunder und diese Bekehrung und Heilung sind der Anlaß zu viel Gerede, das sich von Reihe zu Reihe verbreitet wie ein Feuer, das sich an trockenem Laub entzündet hat...

Jesus sagt: «Hier werdet ihr die Vision vom 7. März 1944 einsetzen, welche den Titel "Der kleine Benjamin von Kapharnaum" trägt. Die Auslegung könnt ihr weglassen und dann mit der Lehre und mit der Vision fortfahren.»

Ich möchte noch im voraus bemerken, daß ich den letzten Satz: «Hier endet die Vision...»auslasse. Er wäre hier fehl am Platz, da die Vision weitergeht.

Ich sehe Jesus auf einer Landstraße, von seinen Aposteln und Jüngern umgeben und gefolgt.

Der See von Galiläa ist nicht mehr weit entfernt und schimmert ruhig und blau in der schönen Frühlings- oder Herbstsonne. Es ist keine glühende Sonne wie im Sommer, doch vermute ich, daß es Frühjahr ist, denn die Natur ist sehr frisch und hat nicht die goldenen, matten Farben des Herbstes.

Es scheint, daß sich Jesus, da der Abend hereinbricht, in das gastliche Haus zurückziehen möchte und sich daher zur Ortschaft begibt, die schon in Sicht ist. Wie er es oft tut, geht Jesus einige Schritte voraus, zwei oder drei, nicht mehr, doch genug, um sich in Gedanken absondern zu können, des Schweigens bedürftig nach einem Tage der Verkündigung der Frohen Botschaft. Ganz in sich gekehrt wandert er dahin, in der rechten Hand einen grünen Zweig, den er wohl von einem Strauch abgerissen hat und mit dem er nun, in Gedanken versunken, die Gräser am Wegrand berührt.

Hinter ihm sprechen die Jünger lebhaft miteinander. Sie rufen sich die Ereignisse des Tages ins Gedächtnis und sind nicht sehr nachsichtig, wenn es darum geht, Fehler und Bosheiten anderer abzuwägen. Alle kritisieren mehr oder weniger, daß die Einnehmer der Tempelsteuer von Jesus den Tribut verlangt haben.

Petrus, immer noch erregt, bezeichnet dieses Vorgehen als Sakrileg, da der Messias nicht verpflichtet ist, Steuern zu zahlen. «Das würde bedeuten, von Gott zu verlangen, daß er an sich selbst bezahlt», sagt er. «Und das ist nicht gerecht. Wenn sie aber glauben, daß er nicht der Messias ist, so wird auch das zum Sakrileg!»

Jesus wendet sich einen Augenblick um und sagt: «Simon, Simon, viele werden an mir zweifeln, auch einige von denen, die meinen, einen sicheren und unerschütterlichen Glauben an mich zu haben. Richte nicht die Brüder, Simon! Richte immer zuerst dich selbst!»

Judas sagt mit einem ironischen Lächeln dem gedemütigten Petrus, der den Kopf gesenkt hat: «Das ist für dich. Weil du der älteste bist, willst du

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immer den Gescheiten spielen. Es ist aber nicht gesagt, daß ein Verdienst immer im Verhältnis zum Alter steht. Unter uns sind einige, die dich in Bezug auf Wissen und gesellschaftliche Stellung übertreffen.»

Es beginnt nun eine Diskussion über die Verdienste. Die einen rühmen sich, unter den ersten Jüngern gewesen zu sein, die Jesus erwählt hat, andere glauben, daß er sie bevorzugt, weil sie auf eine einflußreiche Stellung verzichtet haben, um Jesus zu folgen; wieder ein anderer sagt, daß niemand solche Rechte habe wie er, da keiner einen so großen Schritt zur Bekehrung getan habe, indem er vom Zöllner zum Jünger wurde. Dieser Wortwechsel zieht sich in die Länge, und wenn ich nicht fürchten würde, die Apostel zu beleidigen, würde ich sagen, daß er in einen regelrechten Streit ausgeartet ist.

Jesus hält sich heraus. Es scheint, als ob er nicht einmal ihre Stimmen hören würde. Inzwischen sind sie bei den ersten Häusern des Ortes angelangt, den ich als Kapharnaum erkenne. Jesus geht weiter, und die anderen folgen ihm und diskutieren immer noch.

Ein Knabe von sieben oder acht Jahren hüpft hinter Jesus her und erreicht ihn, nachdem er die Gruppe der lautstarken Apostel überholt hat. Es ist ein schöner Knabe mit dunkelbraunem, gelocktem Haar, mit zwei schwarzen, klugen Äuglein im braunen Gesichtchen. Er ruft den Meister so vertraulich, als ob er ihn gut kennen würde, und fragt: «Jesus, darf ich bis zu deinem Hause mit dir kommen?»

«Weiß es deine Mutter?» fragt Jesus mit einem gutmütigen Lächeln.

«Ja, sie weiß es.»

«Wirklich?» Jesus schaut ihn immer noch lächelnd mit einem durchdringenden Blick an.

«Ja, Jesus, wirklich.»

«Dann komm.»

Das Kind macht einen Freudensprung und ergreift die linke Hand Jesu, der sie ihm gereicht hat. Mit welch liebevollem Vertrauen das Kind die kleine braune Hand in die lange Hand meines Jesus legt! Auch ich würde gerne dasselbe tun!

«Erzähle mir ein schönes Gleichnis, Jesus», sagt das Kind, indem es an der Seite des Meisters hüpft und ihn von unten bis oben mit seinem freudestrahlenden Gesichtlein mustert.

Auch Jesus betrachtet das Kind mit einem heiteren Lächeln, bei dem sich sein von dem rotblonden Bart umschatteter Mund leicht öffnet. Seine Augen, von der Farbe dunkler Saphire, lachen vor Freude, während er das Kind betrachtet.

«Was willst du mit dem Gleichnis anfangen? Es ist kein Spielzeug.»

«Es ist schöner als ein Spielzeug. Wenn ich schlafengehe, denke ich darüber nach, und dann träume ich davon, und am Morgen erinnere ich mich daran und sage es wieder auf, um gut zu sein. Es hilft mir, gut zu sein.»

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«Und du erinnerst dich jeweils wirklich daran?»

«Ja, möchtest du, daß ich dir alle Gleichnisse aufsage, die du mir bisher erzählt hast?»

«Du bist tüchtig, Benjamin, tüchtiger als die Erwachsenen, die vergessen. Als Belohnung will ich dir ein Gleichnis erzählen.»

Das Kind hüpft jetzt nicht mehr. Es schreitet ernst und gesammelt wie ein Erwachsener einher, und es entgeht ihm kein Wort und kein Tonfall Jesu, den es aufmerksam beobachtet, ohne mehr darauf zu achten, wohin es seinen Fuß setzt.

«Einem sehr guten Hirten kam zur Kenntnis, daß an einem Orte dieser Welt sehr viele Schafe waren, die ihr schlechter Hirte verlassen hatte. Sie irrten auf unwegsamen Pfaden und schädlichen Weiden umher und liefen Gefahr, in immer tiefere und finsterere Schluchten zu geraten. Der gute Hirte begab sich zu jenem Ort, verkaufte alle seine Habe und erwarb die Schafe und deren Lämmlein.

Er wollte sie in sein Reich bringen, denn dieser Hirte war auch König, wie so viele in Israel Könige gewesen sind. In seinem Reich hätten diese Schafe und Lämmlein viele grüne Weiden, frisches und reines Wasser, sichere Wege und Hürden gefunden, in die kein Dieb und kein Wolf einbrechen konnte. Daher vereinigte der Hirte seine Schafe und Lämmer und sagte zu ihnen: "Ich bin gekommen, euch zu retten, um euch dorthin zu führen, wo ihr nicht mehr leiden und keine Nachstellungen und Schmerzen kennen werdet. Liebt mich und folgt mir, denn ich liebe euch so sehr, daß ich mich in jeder Weise aufgeopfert habe, um euch zu bekommen. Wenn ihr mich liebt, wird mir mein Opfer keine Last sein. Folgt mir und laßt uns gehen!"

Der Hirte voran, die Schafe hinter ihm her, machten sie sich auf den Weg zum Reich der Freude.

Jeden Augenblick wandte sich der Hirte um, um nachzusehen, ob sie ihm auch folgten, um die Müden anzuspornen und die Entmutigten zu bestärken, um den Kranken unter ihnen zu helfen und die Lämmlein zu streicheln. Wie sehr liebte er sie! Er gab ihnen sein Brot und sein Salz, kostete als erster das Wasser der Quellen und segnete es, um zu prüfen, ob es gesund sei und um es zu heiligen.

Aber die Schafe – glaubst du es, Benjamin? – die Schafe wurden nach einiger Zeit müde. Zuerst eines, dann zwei, dann zehn, dann hundert. Sie blieben zurück, um Gras zu fressen und sich damit vollzustopfen, bis sie sich nicht mehr bewegen konnten. Dann legten sie sich müde und satt in den Staub und den Schlamm. Andere liefen am Rand der Abgründe dahin, obwohl der Hirte sie warnte: "Tut das nicht!" Er stellte sich dorthin, wo die größte Gefahr war, um sie davon abzuhalten, aber sie stießen ihn mit ihrem Kopf an und versuchten mehrmals, ihn in den Abgrund zu stürzen. So endeten viele in den Schluchten und starben eines

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elenden Todes. Andere stießen sich mit ihren Köpfen und Hörnern und töteten sich gegenseitig.

Nur ein Lämmlein trennte sich nie vom Hirten. Es lief, blökte und sagte mit seinem Blöken zum Hirten: "Ich liebe dich!" Es folgte dem guten Hirten, und als sie an den Pforten seines Reiches ankamen, waren es nur noch zwei; der Hirte und das getreue Lämmlein. Da sagte der Hirte nicht: "Tritt ein", sondern: "Komm", und er nahm es auf seine Arme, drückte es an seine Brust und trug es hinein, indem er alle seine Untergebenen zusammenrief und zu ihnen sagte: "Seht, dieses liebt mich. Ich will, daß es in alle Ewigkeit bei mir sei, und ihr sollt es lieben, denn es ist der Liebling meines Herzens!"

Das Gleichnis ist zu Ende, Benjamin. Kannst du mir nun sagen, wer der gute Hirte ist?»

«Du bist es, Jesus.»

«Und das Lämmlein?»

«Das bin ich, Jesus.»

«Aber nun werde ich fortgehen, und du wirst mich vergessen.»

«Nein, Jesus. Ich werde dich nicht vergessen, denn ich liebe dich.»

«Deine Liebe wird aufhören, wenn du mich nicht mehr siehst ...»

«Ich werde in meinem Innern die Worte wiederholen, die du mir gesagt hast, und es wird so sein, als ob du selbst anwesend wärst. Auf diese Weise werde ich dich lieben und dir gehorchen. Sag mir, Jesus, wirst du dich an Benjamin erinnern?»

«Immer!»

«Wie wirst du es machen, dich zu erinnern?»

«Ich werde mir sagen, daß du mir versprochen hast, mich zu lieben und mir zu gehorchen, und so werde ich mich deiner erinnern.»

«Und wirst du mir dein Reich geben?»

«Wenn du gut bist, ja!»

«Ich werde gut sein.»

«Wie wirst du es machen? Das Leben ist lang.»

«Aber deine Worte sind so gut. Wenn ich sie mir vorsage und das tue, was sie mir zu tun gebieten, dann werde ich mich das ganze Leben lang gut bewahren. Ich werde es tun, weil ich dich liebe. Wenn man liebt, dann macht es keine Mühe, gut zu sein. Ich werde nicht müde, meiner Mutter zu gehorchen, denn ich liebe sie, und es wird mir keine Mühe machen, dir zu gehorchen, weil ich dich liebe.»

Jesus ist stehengeblieben und schaut das mehr von Liebe als von der Sonne entflammte Gesichtlein an. Die Freude Jesu ist so lebhaft, daß es scheint, eine andere Sonne entzünde sich in seiner Seele und strahle durch seine Augen. Er beugt sich nieder und küßt das Kind auf die Stirn.

Vor einem kleinen einfachen Hause, vor dem sich ein Brunnen befindet, ist er stehengeblieben. Jesus geht zu diesem Brunnen und setzt sich

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nieder, und dort finden ihn die Apostel, die noch immer ihre gegenseitigen Vorzüge abwägen.

Jesus schaut sie an und ruft sie zu sich. «Kommt hierher und hört euch die letzte Unterweisung des Tages an, ihr, die ihr euch brüstet mit der Zurschaustellung eurer Verdienste und meint, euch dadurch einen besonderen Platz zu erwerben. Seht ihr dieses Kind? Es ist in der Wahrheit schon weiter voran als ihr. Seine Unschuld gibt ihm den Schlüssel, um die Tore meines Reiches zu öffnen. In seiner kindlichen Einfalt hat es verstanden, daß in der Liebe die Kraft liegt, mit der man groß wird, und in dem aus Liebe geübten Gehorsam die Kraft, mit der man in mein Reich gelangt. Seid einfältig, demütig und liebt mit einer Liebe, die nicht nur mir gilt, sondern auch eurem Nächsten, indem ihr allen meinen Worten gehorcht, auch diesen, wenn ihr dorthin gelangen wollt, wohin diese Unschuldigen gelangen werden. Lernt von den Kindern. Der Vater enthüllt ihnen die Wahrheit, wie er sie selbst den Weisen nicht enthüllt.»

Jesus spricht und hält dabei Benjamin, die Hände auf seinen Schultern aufrecht gegen seine Knie. Jetzt ist das Antlitz Jesu voll Majestät, nicht zürnend, jedoch ernst. Es ist wirklich das Antlitz eines Meisters. Der letzte Sonnenstrahl bildet einen Strahlenkranz um sein blondes Haupt.

Die Vision entschwindet und läßt mich voller Glückseligkeit in meinen Schmerzen zurück.

Also: Die Jünger haben natürlich nicht in das Haus hineingehen können, wegen ihrer großen Anzahl und aus Ehrfurcht. Sie tun es nie, wenn sie nicht alle zusammen eingeladen oder vom Meister dazu aufgefordert werden. Ich bemerke stets eine große Ehrfurcht, eine große Zurückhaltung, trotz der Liebenswürdigkeit des Meisters und der schon lange währenden Vertrautheit. Auch Isaak, der sich den ersten Jünger nennen könnte, nimmt sich nie die Freiheit, zu Jesus zu gehen, ohne daß ein Lächeln, wenigstens ein Lächeln des Meisters, ihn in seine Nähe rufen würde.

Ein wenig verschieden, nicht wahr, von der raschen, fast scherzhaften Art, in der viele das Übernatürliche behandeln... Das ist meine Meinung, und ich halte es für richtig, sie zu sagen, denn ich kann es nicht ertragen, daß die Menschen Dinge, die über ihnen stehen, nicht einmal so behandeln, wie sie ihresgleichen behandeln, nur weil sie in der gesellschaftlichen Rangstufe ein wenig höher stehen als sie... Aber fahren wir fort...

Die Jünger haben sich also am Seeufer verstreut, um Fische, Brot und was sonst noch nötig ist für das Abendessen zu kaufen. Auch Jakobus des Zebedäus kommt zurück und ruft den Meister, der sich auf die Terrasse gesetzt hat und mit Johannes zu seinen Füßen in ein sanftes, ruhiges Gespräch vertieft ist... Jesus steht auf und beugt sich über die Brüstung.

Jakobus sagt: «So viele Fische, Meister! Mein Vater sagt, daß du mit deinem Kommen die Netze gesegnet hast. Schau, das ist für uns», und er zeigt einen Korb voll Fische, die wie Silber glänzen.

«Gott möge ihm Gnade schenken für seine Hochherzigkeit. Bereitet das Mahl, denn danach werden wir mit den Jüngern zum Ufer gehen.»

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Sie folgen seiner Anweisung. Der See ist schwarz in der Nacht, in Erwartung des Mondes, der spät aufgeht. Mehr als man den See sehen kann, hört man ihn zwischen den Steinen des Kiesgrundes murmeln und plätschern. Nur die außergewöhnlich hellen Sterne des Orients spiegeln sich im stillen Wasser. Apostel und Jünger nehmen im Kreise um eine umgestürzte Barke, auf die Jesus sich gesetzt hat, Platz. Die kleinen Laternen der Boote, die man mitten in den Kreis gebracht hat, beleuchten kaum die allernächsten Gesichter. Das Antlitz Jesu wird durch eine Laterne, die man zu seinen Füßen hingestellt hat, von unten her beleuchtet, und daher können ihn alle gut sehen, während er mit diesem oder jenem spricht.

Anfänglich ist es eine schlichte, familiäre Unterhaltung, doch dann nimmt sie den Ton einer Unterweisung an. Ja, Jesus sagt ausdrücklich: «Kommt und hört! Bald werden wir uns trennen, und ich möchte euch noch belehren, um euch besser heranzubilden.

Heute habe ich euch disputieren gehört, und nicht immer mit liebevoller Nachsicht. Den Älteren von euch habe ich bereits eine Unterweisung gegeben, aber ich möchte sie allen zuteil werden lassen, und es wird den Älteren nicht schaden, wenn sie sie nocheinmal mitanhören. Jetzt ist der kleine Benjamin nicht vor meinen Knien, er schläft in seinem Bett und träumt seine unschuldigen Träume. Doch vielleicht ist seine reine Seele trotzdem in unserer Mitte. Stellt euch einfach vor, daß er oder irgendein anderes Kind hier ist, als Beispiel für euch. Alle habt ihr in euren Herzen eine fixe Idee, eine Neugierde, eine Gefahr: Ihr möchtet die Ersten im Himmelreich sein, und wollt wissen, wer der Erste im Himmelreich sein wird, und endlich die Gefahr: ihr hegt den noch menschlichen Wunsch, einmal die Antwort von wohlwollenden Kameraden oder vom Meister, vor allem vom Meister, weil er die Wahrheit und die Zukunft kennt, zu hören: "Du bist der Erste im Himmelreich."

Ist es vielleicht nicht so? Die Frage schwebt auf euren Lippen und lebt im Grunde eures Herzens. Der Meister beschäftigt sich mit dieser eurer Neugierde zu eurem Wohl, auch wenn er es ablehnt, menschlicher Neugierde nachzugeben. Euer Meister ist kein Marktschreier, den man für zwei Münzen im Marktlärm befragen kann. Er ist auch kein Wahrsager, der für Geld die Zukunft prophezeit, um die beschränkten Gehirne der Menschen zu befriedigen, die die Zukunft wissen möchten, um sich dann danach richten zu können. Der Mensch kann sich nicht danach richten. Gott regelt alles, wenn der Mensch sich ihm anvertraut. Es nützt auch nichts, zu wissen oder zu glauben, daß man die Zukunft kennt, wenn man nicht die Möglichkeit hat, die vorhergesagte Zukunft zu verhindern. Es gibt nur ein Mittel: das Gebet zum Vater und Herrn, damit das vertrauensvolle Gebet eine Strafe in Segen wandelt. Aber wer zu den Menschen seine Zuflucht nimmt, um als Mensch und mit menschlichen Mitteln die Zukunft zu regeln, der ist nicht imstand zu beten, oder nur sehr schlecht.

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Da diese eure Neugierde Anlaß zu einer guten Belehrung sein kann, antworte ich darauf, ich, der ich neugierige und ehrfurchtslose Fragen verabscheue. Ihr fragt euch: "Wer von uns wird der Größte im Himmelreich sein?"

Ich schalte die Einschränkung "von uns" aus, erweitere die Grenzen auf die gegenwärtige und die zukünftige Welt und antworte: Der Größte im Himmelreich ist der Geringste unter den Menschen, das heißt, der, welcher von den Menschen als der Geringste angesehen wird. Der Einfache, der Demütige, der Vertrauensvolle, der Unwissende. Das Kind, oder wer kindlich zu sein weiß. Weder Wissenschaft, noch Macht, noch Reichtum oder Geschäftigkeit, selbst wenn sie gut wären, sind es, die euch zu den "Größten" im seligen Reiche machen, sondern kindliche Liebenswürdigkeit, Demut, Einfalt und kindliches Vertrauen.

Beachtet, wie mich die Kinder lieben, und ahmt sie nach. Beachtet, wie sie an mich glauben, wie sie sich dessen erinnern, was ich sage, wie sie tun, was ich lehre, wie sie nicht eifersüchtig werden auf mich und ihre Kameraden, und ahmt sie nach. Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr eure Denkart, eure Handlungsweise und eure Art zu lieben nicht ändert und nicht wie die Kinder werdet, dann werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen. Sie wissen das Wesentliche meiner Lehre, wie auch ihr, aber mit welch einem Unterschied, wenn es darum geht, das, was ich lehre, in die Tat umzusetzen! Ihr sagt nach jeder guten Tat, die ihr vollbracht habt: "Ich habe das getan." Das Kind sagt zu mir: "Jesus, ich habe mich heute deiner erinnert und dir gehorcht, ich habe geliebt, ich habe einen Streit vermieden... und ich bin zufrieden, denn du, dessen bin ich gewiß, weißt es, wenn ich gut bin, und bist dann glücklich." Beobachtet auch die Kinder, wenn sie Fehler begehen. Mit welcher Demut bekennen sie: "Heute bin ich böse gewesen. Es schmerzt mich, dir Leid zugefügt zu haben." Sie suchen nicht nach Entschuldigungen, denn sie wissen, daß ich alles weiß. Sie glauben! Es schmerzt sie, daß ich darunter leide.

Oh, ihr meinem Herzen so lieben Kinder, in denen kein Hochmut, keine Doppelzüngigkeit und keine Gier ist! Ich sage zu euch: Werdet wie die Kinder, wenn ihr in mein Reich eingehen wollt. Liebt die Kinder, als engelgleiche Vorbilder, die ihr ja haben könnt, denn wie Engel solltet ihr sein. Zu eurer Entschuldigung könntet ihr sagen: "Wir können die Engel nicht sehen", doch Gott gibt euch die Kinder als Beispiel, und diese habt ihr unter euch, und wenn ihr ein materiell oder moralisch verlassenes Kind seht, das zugrunde gehen könnte, dann nehmt es in meinem Namen auf, denn sie sind Gottes Vielgeliebte. Wer immer ein Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf, denn ich bin in der Seele des Kindes, die unschuldig ist. Wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat, den Allerhöchsten, den Herrn.

Hütet euch, bei einem dieser Kinder, dessen Auge Gott sieht, Anstoß zu

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erregen. Bei niemandem soll man Anstoß erregen. Aber wehe, dreimal wehe dem, der den unschuldigen Glanz der Kinder verletzt. Laßt sie Engel bleiben, solange ihr könnt! Zu abstoßend sind Welt und Fleisch für die Seele, die aus den Himmeln kommt, und ein Kind ist durch seine Unschuld noch ganz Seele. Habt Achtung vor der Seele des Kindes und vor seinem Körper, wie ihr Achtung habt vor dem heiligen Ort. Heilig ist das Kind auch, weil es Gott in sich hat. In jedem Körper ist der Tempel des Geistes. Aber der Tempel des Kindes ist der heiligste und tiefste, er ist jenseits des doppelten Vorhangs. Bewegt nicht einmal den Vorhang der heiligen Unkenntnis der Begehrlichkeit mit dem Wind eurer Leidenschaften. Ich wollte, daß in jeder Familie, in jeder Menschengruppe ein Kind wäre, das den Leidenschaften der Menschen als Zügel diente.

Das Kind heiligt, es gibt Erquickung und Frische, allein schon durch die Strahlen seiner Augen ohne Bosheit. Aber wehe jenen, die dem Kinde durch ihr skandalöses Benehmen die Heiligkeit rauben! Wehe jenen, die durch ihre Worte und ihren Spott das Vertrauen der Kinder in mich beeinträchtigen! Es wäre besser für sie, wenn ihnen ein Mühlstein an den Hals gehängt und sie ins Meer versenkt würden, damit sie mit ihrer Unreinheit ertrinken. Wehe der Welt wegen der Ärgernisse, die sie den Unschuldigen gibt! Denn, wenn es auch unvermeidlich ist, daß Ärgernisse vorkommen, wehe jedoch dem Menschen, der sie bewußt hervorruft.

Niemand hat das Recht, seinem Körper und seinem Leben Gewalt anzutun, denn Leben und Körper kommen von Gott, und er allein hat das Recht, Teile davon oder das Ganze zu nehmen. Aber ich sage euch, wenn euch eure Hand zum Ärgernis wird, ist es besser, daß ihr sie abhaut, und wenn euer Fuß euch dazu führt, Ärgernis zu erregen, dann ist es besser, daß ihr ihn abhaut. Denn es ist besser, verkrüppelt oder hinkend ins ewige Leben einzugehen, als mit zwei Händen und zwei Füßen ins ewige Feuer geworfen zu werden. Wenn es nicht genügt, eine Hand oder einen Fuß abzuhauen, dann laßt euch auch die andere Hand oder den anderen Fuß abhauen, damit ihr kein Ärgernis mehr erregen könnt und Zeit habt zu bereuen, bevor ihr dorthin geworfen werdet, wo das Feuer nicht erlischt und in Ewigkeit bohrt wie ein Wurm. Und wenn euer Auge Ursache eines Ärgernisses ist, dann reißt es euch aus. Es ist besser, mit einem Auge zu leben, als mit beiden Augen in der Hölle zu sein. Mit nur einem Auge oder mit gar keinem in den Himmel zu kommen, wird euch nicht daran hindern, das Licht zu sehen, während ihr mit zwei sündhaften Augen in der Hölle Finsternis und Schrecken sehen werdet, und nichts anderes.

Erinnert euch immer an all das. Verachtet die Kleinen nicht, erregt bei ihnen kein Ärgernis und verlacht sie nicht. Sie sind besser als ihr, denn ihre Engel schauen immerfort Gott, der ihnen die Wahrheiten sagt, die sie den Kindern und jenen, die kindlichen Herzens sind, enthüllen sollen.

Liebt euch untereinander wie die Kinder, ohne Streit und ohne

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Hochmut! Seid friedsam mit euren Gefährten, und auch mit allen anderen, denn ihr seid Brüder im Namen des Herrn, und nicht Feinde, und es gibt keine und darf keine Feinde unter den Jüngern des Herrn geben. Der einzige Feind ist Satan, und seine erbitterten Feinde sollt ihr sein. Gegen ihn und gegen die Sünden, die Satan in die Herzen trägt, sollt ihr kämpfen. Seid unermüdlich im Kampf gegen das Böse, welche auch immer die Gestalt sei, die es annimmt.

Seid geduldig. Es gibt keine Beschränkung für die Tätigkeit des Apostels, denn das Wirken des Bösen kennt keine Grenzen. Der Dämon sagt nie: "Genug, nun bin ich müde und ruhe mich aus!" Er ist unermüdlich. Viel behender als ein Gedanke eilt er von einem Menschen zum anderen und versucht und nimmt, verführt und quält und läßt keine Ruhe. Er greift mit Hinterlist an und schlägt nieder, wenn man nicht mehr wachsam ist. Manchmal erobert er eine Seele wegen der Schwachheit des Angegriffenen; andere Male erscheint er als Freund, da die Lebensweise des gesuchten Opfers schon so ist, daß sie einem Bündnis mit dem Feind gleichkommt. Es kann auch geschehen, daß er, von jemandem verjagt, umherschweift und sich auf den Besten stürzt, um sich für die ihm von Gott oder einem Diener Gottes zugefügte Niederlage zu rächen. Aber ihr müßt das gleiche sagen, was er sagt: "Ich ruhe nicht." Er ruht nicht, um die Hölle zu bevölkern. Ihr dürft nicht ruhen, um das Paradies zu bevölkern. Gewährt ihm keinen Unterschlupf. Ich mache euch darauf aufmerksam, daß er euch umso mehr quälen wird, je mehr ihr ihn bekämpft. Aber ihr dürft euch durch nichts abschrecken lassen. Er kann die Erde durcheilen, aber in den Himmel dringt er nicht ein. Daher wird er euch dort nicht mehr belästigen können, und alle jene, die ihn bekämpft haben, werden dort sein ...»

Jesus unterbricht sich plötzlich und fragt: «Aber warum stört ihr denn immer Johannes? Was wollen sie denn von dir?»

Johannes wird feuerrot, und Bartholomäus, Thomas und Iskariot senken den Kopf, da sie sich ertappt fühlen.

«Nun?» fragt Jesus mit Nachdruck.

«Meister, meine Kameraden wollen, daß ich dir etwas sage.»

«So sage es mir.»

«Heute, während du bei dem Kranken warst und wir durch den Ort gingen, wie du gesagt hattest, haben wir einen Mann gesehen, der nicht dein Jünger ist und den wir nie unter denen gesehen haben, die deine Lehre anhören, der aber dennoch in einer Gruppe von Pilgern, die nach Jerusalern gingen, in deinem Namen Teufel ausgetrieben hat, und es gelang ihm. Er hat einen Mann geheilt, der unter einem Zittern litt, das ihn an jeglicher Arbeit hinderte. Dann hat er einem Mädchen die Sprache wiedergegeben, das in einem Wald von einem Dämon in Gestalt eines Hundes befallen worden war, der ihm die Stimme gelähmt hatte. Er sagte: "Weiche,

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verfluchter Dämon, im Namen des Herrn Jesus, des Christus, des Königs aus dem Geschlechte Davids, des Königs Israels. Er ist der Erlöser und der Sieger. Fliehe vor seinem Namen!" Und tatsächlich ist der Dämon geflohen. Wir haben uns darüber geärgert und es ihm verboten, doch er sagte zu uns: "Was tue ich denn Schlechtes? Ich ehre Christus, indem ich seinen Weg von den Dämonen befreie, die nicht würdig sind, ihn anzuschauen." Wir antworteten: "Du bist kein Exorzist Israels und auch kein Jünger Christi. Es ist dir nicht erlaubt, das zu tun", und er erwiderte: "Gutes zu tun, ist immer erlaubt", und dann lehnte er sich gegen unsere Anordnung auf mit den Worten: "Ich werde fortfahren, das zu tun, was ich tue." Sieh, sie wollten, daß ich dir das berichte, besonders nachdem du gesagt hast, daß im Himmel alle jene sein werden, die Satan bekämpft haben.»

«Gut. Zu diesen gehört jener Mann. Er hatte recht, und ihr wart im Unrecht. Unendlich sind die Wege des Herrn, und es ist nicht gesagt, daß nur die in den Himmel gelangen, die den geraden Weg einschlagen. An jedem Orte, zu jeder Zeit und auf tausend verschiedene Arten wird es Menschen geben, die zu mir kommen, selbst auf einer anfänglich schlechten Bahn. Aber Gott sieht ihre rechte Absicht und führt sie auf den rechten Weg. Ebenso wird es einige geben, die aus Lüsternheit und dreifacher Begierlichkeit vom rechten Wege abkommen und einen Weg einschlagen, der sie entfernt oder gar auf gefährliche Abwege führt. Ihr sollt daher nie euresgleichen verurteilen, denn nur Gott allein sieht. Hütet euch, vom rechten Wege abzuweichen, auf den euch, mehr als euer eigener Wille, der Wille Gottes geführt hat. Wenn ihr jemanden seht, der an meinen Namen glaubt und für ihn wirkt, dann nennt ihn nicht einen Fremden, einen Feind oder Gotteslästerer. Er gehört immer zu meinen Dienern, meinen Freunden und Getreuen, denn er glaubt freiwillig und aus eigenem Antrieb und besser als viele von euch an meinen Namen, und daher wirkt mein Name auf seinen Lippen die gleichen Wunder wie bei euch, und vielleicht noch größere. Gott liebt ihn, weil er mich liebt, und wird ihn schließlich in den Himmel führen. Niemand, der in meinem Namen Wunder wirkt, kann mir Feind sein und Böses über mich sagen, denn durch seine Werke ehrt er vielmehr Christus und legt Zeugnis für seinen Glauben ab. Wahrlich, ich sage euch, es genügt schon, an meinen Namen zu glauben, um die eigene Seele zu retten, denn mein Name ist Heil. Daher sage ich euch: wenn ihr ihm wieder begegnen solltet, verbietet es ihm nicht mehr, sondern nennt ihn Bruder, denn das ist er, auch wenn er sich noch außerhalb der Hürde meiner Herde befindet. Wer nicht gegen mich ist, der ist für mich. Wer nicht gegen euch ist, der ist mit euch.»

«Haben wir gesündigt, Herr?» fragt Johannes betrübt.

«Nein! Ihr habt aus Unkenntnis gehandelt, nicht aus Bosheit. Daher ist es keine Sünde, doch in Zukunft wäre es Sünde, da ihr es jetzt wißt. Laßt uns nun zu unseren Häusern gehen... Der Friede sei mit euch 1»

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398. BENJAMIN BLIEB TREU BIS IN DEN TOD.

«Das, was ich meinem kleinen Jünger gesagt habe, sage ich auch euch. Das Reich gehört meinen treuen Schäflein, die mich lieben und mir folgen, ohne sich in leeren Versprechungen zu verlieren, sondern mich lieben bis zum Ende.

ich sage euch, was ich auch meinen erwachsenen Jüngern gesagt habe: "Lernt von den Kleinen." Nicht Gelehrsamkeit, Reichtum oder Mut sind es, die euch das Himmelreich erobern lassen, nicht die menschlichen Eigenschaften; ihr müßt sie vielmehr gemäß der Weisheit und der Liebe besitzen, um auf übernatürliche Weise reich, gelehrt und mutig zu werden.

Wie sehr erleuchtet die Liebe, um die Wahrheit zu erkennen! Wie reich macht sie, damit man die Wahrheit erwerben kann! Welch ein Vertrauen schenkt sie! Welch eine Sicherheit!

Macht es wie der kleine Benjamin, meine kleine Blume, die an jenem Abend mein Herz mit einem Duft erfüllt hat, der den Geruch rebellischen Menschseins überdeckte und ein engelhaftes Lied sang, das den Lärm der menschlichen Streitigkeiten übertönte.

Möchtest du wissen, was später aus Benjamin geworden ist? Er blieb das kleine Lamm Christi, und nachdem er seinen Großen Hirten verloren hatte, da dieser in den Himmel zurückgekehrt war, wurde er der Jünger dessen, der mir am meisten glich, empfing aus seiner Hand das Sakrament der Taufe und wurde mit dem Namen Stephanus mein erster Märtyrer. Er blieb treu bis in den Tod, und mit ihm seine Angehörigen, die durch das Beispiel ihres kleinen Familienapostels zum Glauben gelangten. Du sagst, daß er nicht bekannt ist? Viele von denen, die den Menschen unbekannt blieben, sind mir in meinem Reich bekannt, und sie sind glücklich darüber, denn weltlicher Ruhm fügt der Strahlenkrone der Seligen keinen Funken hinzu.

Kleiner Johannes, wandle stets mit deiner Hand in der meinen, dann wirst du sicher gehen, und wenn du einst in mein Reich gelangst, werde ich nicht zu dir sagen: "Tritt ein", sondern "Komm"; und ich werde dich in meine Arme schließen, um dich dorthin zu führen, wo meine Liebe dir den Platz bereitet hat, den deine Liebe verdient hat.

Geh in Frieden! Ich segne dich.»

399. DIE ZWEITE BROTVERMEHRUNG

Jesus spricht:

«Maria sage: "Hier bin ich", wie die Sterne, von denen die Prophezeiung spricht, und komme voller Freude, um mich anzuhören.

Es ist die Vigil von Pfingsten. Die Weisheit ist nicht nur einmal mit ihrem Feuer herabgestiegen. Sie steigt beständig herab, um euch ihre Erleuchtungen zu geben. Es genügt, daß ihr

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sie liebt und sie wie den kostbarsten Schatz sucht. Die Welt geht zugrunde, weil sie die Weisheit verhöhnt und zurückgewiesen hat, indem sie außerhalb ihrer Wege wandelt. Viel Wissen hat sich der Mensch heute in seinem Hirn angeeignet, ist jedoch unwissender als er in alten Zeiten war. Damals suchte er den Weg des Herrn und sehnte sich danach, seine Worte aufzunehmen. Nun sucht er alles, nur das nicht, was er suchen sollte, und stopft sich voll mit lauter unnützen und gefährlichen Worten, aber nicht mit denen, die für ihn Leben wären.

"Der Herr", sagt Baruch, "wählte nicht die Riesen, um ihnen das Wort der Weisheit mitzuteilen." Nein, der Herr wählt nicht die Riesen. Er wählt nicht sie, ihr Menschen, Laien oder Gesalbte, die ihr euch viel einbildet, nur weil ihr voll Stolz seid, während ihr in meinen Augen weniger als zirpende Grillen geltet. Der Herr schaut weder auf eure Titel noch auf eure Ehrenämter, weder auf euer Gewand, noch auf den Namen, den ihr habt. Das sind nur Deckmäntel, die das verbergen, was Gott anschaut, um den Wert abzuwägen: Herz und Seele. Und wenn euer Herz nicht von Liebe entzündet, großmütig im Opfer, demütig und keusch ist, dann wählt Gott, der Herr, euch nicht als seine Bevorzugten aus, als Hüter seiner Reichtümer der Weisheit.

Es ist nicht an euch, zu mir zu sagen: "Ich möchte derjenige sein, der weiß." Ich bin es, der sagen kann: "Ich will, daß dieser weiß." Ich kann Mitleid mit euch haben, das schon, da ihr Unglückliche, an häßlichstem Aussatz Erkrankte seid. Aber ich habe für euch keine bevorzugte Berufung. Nein, diese verdient ihr nicht.

Wißt sie euch durch einen rechtschaffenen Lebenswandel zu verdienen. Rechtschaffen in allem. Wenn ihr in euren höchsten Verpflichtungen die Treue bewahrt, jedoch in unscheinbaren, aber tiefgründigeren Dingen fehlt, dann seid ihr nicht mehr rechtschaffen. Nein, dann seid ihr es nicht, und diese eure Mißgunst hat nur ein lügenhafter Schleier des Eifers bedeckt. Eure Absicht ist nicht ehrlich, und daher wertlos.

Und du, komm, und unterhalte dich mit deinem Meister. Komm, damit ich dich aus dem Grabe der Schmerzen herausnehme, ohne dich durch eine Vision niederzuwerfen, die von erschreckender Majestät ist und die du schon geschaut hast. Von der Auferstehung der Toten betrachte nur die geistige Seite, die sich auf die derzeitige Feierlichkeit bezieht. Es ist der Geist Gottes, der in euch eingegossen wird und das Leben verleiht. Liebe ihn, rufe ihn an, bleibe ihm treu. Du wirst das ewige Leben und den ewigen Frieden haben, jenes Leben nach dem irdischen Leben, und den Frieden auch auf Erden.

Ich sehe eine Gegend, die gewiß nicht eben ist, jedoch auch nicht gebirgig. Berge gibt es im Osten, aber sie sind weit entfernt. Hier ist ein kleines Tal, und da einige weitere Erhebungen, die jedoch kleiner und flacher sind. Ich sehe auch grüne Plateaus, wohl die ersten Hänge einer Hügelgruppe. Die Gegend ist ziemlich trocken mit nur wenigen Bäumen. Auf dem etwas steinigen Gelände wächst kurzes spärliches Gras. Hier und dort stehen niedrige Büschel von dornigem Gesträuch. Gegen Westen öffnet sich der Horizont weit und hell. Ich sehe nichts anderes, was die Natur betrifft. Es ist noch Tag, doch möchte ich sagen, daß schon der Abend hereinbricht, denn im Westen färbt das Abendrot den Himmel, während die Berge im Osten bereits in Violett getaucht sind. Es ist die beginnende Dämmerung, die die Einschnitte im Gebirge schwärzer und die höher gelegenen Gebiete violett erscheinen läßt.

Jesus steht auf einem hohen Felsblock und spricht zu einer großen, dicht gedrängten Menge, die sich auf dem Plateau versammelt hat. Die Jünger umgeben ihn. Er erscheint noch stattlicher, da er auf einer felsigen

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Erhöhung steht und die ihn umgebenden Menschen aller Alters- und Gesellschaftsstufen überragt.

Er muß Wunder gewirkt haben, denn ich höre ihn sagen: «Nicht mir, sondern dem, der mich gesandt hat, müßt ihr Lob und Dank erweisen. Das wahre Lob ist nicht jenes, das wie das Säuseln des Windes von unbedachten Lippen kommt, sondern jenes, das aus dem Herzen quillt und das wahre Gefühl eures Herzens ist. Das ist es, was Gott wohlgefällt. Die Geheilten sollen den Herrn in Treue lieben, so wie auch die Angehörigen des Geheilten ihn lieben sollen. Macht keinen schlechten Gebrauch vom Geschenk der wiedererlangten Gesundheit. Fürchtet euch mehr vor den Krankheiten der Seele als vor der Krankheit des Körpers, und sündigt nicht, denn jede Sünde ist eine Krankheit. Es gibt sogar Sünden, die den Tod verursachen können. Ihr alle, die ihr mir jetzt zujubelt, zerstört nicht den Segen Gottes durch die Sünde. Euer Jubel würde ein Ende haben, denn die sündhaften Handlungen rauben den Frieden, und wo kein Friede ist, ist auch keine Freude. Seid heilig! Seid vollkommen, wie euer Vater es wünscht. Er wünscht es, weil er euch liebt, und denen, die ihn lieben, will er sein Reich schenken. Aber in ein heiliges Reich werden nur jene einkehren, die die Treue zum Gesetz vollkommen gemacht hat. Der Friede Gottes sei mit euch.»

Jesus schweigt. Er kreuzt die Arme über der Brust und betrachtet so das Volk, das ihn umgibt.

Dann schaut er umher und erhebt die Augen zum heiteren Himmel, der sich immer mehr verdunkelt, da das Tageslicht dahinschwindet. Er denkt nach. Dann steigt er von seinem Felsblock herab und spricht mit den Jüngern.

«Mich erbarmt des Volkes. Es folgt mir schon seit drei Tagen und hat seine ganzen Vorräte aufgebraucht. Es ist auch kein Dorf in der Nähe, und ich fürchte, daß die Schwächeren zu sehr leiden würden, wenn ich sie ohne Nahrung fortschicke.»

«Was willst du tun, Meister? Du sagst es selbst: wir sind von allen Ortschaften weit entfernt, wo könnte man nur in dieser öden Gegend Brot finden, und wer würde uns so viel Geld geben, daß wir es für alle kaufen können?»

«Habt ihr nichts bei euch?»

«Wir haben einige Fische und einige Stückchen Brot. Das, was von unseren Vorräten übriggeblieben ist. Aber das reicht auf keinen Fall aus. Wenn du es den in der Nähe Stehenden gibst, dann geraten die anderen in Aufruhr, wir haben nichts mehr, und auch den übrigen ist nicht geholfen.» Es ist Petrus, der dies sagt.

«Bringt mir, was ihr habt.»

Sie bringen einen kleinen Korb mit sieben Stücken Brot. Es sind nicht einmal ganze Brote, sondern vielmehr große Scheiben, die von großen

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Laiben abgeschnitten worden sind, und eine Handvoll kleiner, über dem Feuer gerösteter Fische.

«Laßt die Leute sich in Gruppen von fünfzig Personen niedersetzen. Sie sollen ruhig sein, wenn sie essen wollen.»

Ein Teil der Jünger steigt auf Felsblöcke, und der andere begibt sich unter die Menge, um die von Jesus geforderte Ordnung herzustellen. Allmählich gelingt es ihnen. Einige Kinder jammern, weil sie hungrig und schläfrig sind, andere weinen, weil die Mutter oder irgendein Verwandter ihnen eine Ohrfeige verabreicht hat, um sie zum Gehorsam zu bringen.

Jesus nimmt die Brote, nicht alle natürlich: zwei, in jede Hand eines. Er opfert sie auf, legt sie nieder und segnet sie. Darauf nimmt er die Fischlein, es sind so wenige, daß fast alle in seinen schmalen Händen Platz haben. Er opfert sie ebenfalls auf, legt sie nieder und segnet sie.

«Und nun nehmt, geht durch die Menge und gebt jedem reichlich.»

Die Jünger gehorchen.

Jesus beobachtet und lächelt. Seine weiße Gestalt beherrscht das Volk, das in großen Kreisen die ganze Ebene bedeckt. Die Jünger gehen und gehen immer weiter. Sie verteilen und verteilen, und immer noch ist der Korb mit Speisen gefüllt. Die Leute essen, während der Abend hereinbricht, und es herrscht großes Schweigen und großer Friede.

400. DAS GEISTIGE WUNDER

DER VERMEHRUNG DES WORTES

Jesus sagt:

«Sieh, da ist noch etwas, das den schwierigen Gelehrten unangenehm sein wird: meine Auslegung dieser evangelischen Vision. Ich verlange nicht von dir, daß du über meine Macht und Güte oder über den Glauben und den Gehorsam der Jünger nachdenkst. Nichts von alledem. Ich will dir eine Analogie zwischen dieser Episode und dem Wirken des Heiligen Geistes aufzeigen.

Sieh, ich gebe mein Wort. Ich gebe alles, was ihr verstehen und aufnehmen könnt, um es als Speise für eure Seele zu verwerten. Aber ihr seid so schwerfällig geworden durch Müdigkeit und Langeweile, daß ihr nicht die ganze Nährkraft verwerten könnt, die in meinem Wort enthalten ist. Ihr hättet noch viel mehr nötig, viel, viel mehr, doch ihr seid nicht fähig, viel aufzunehmen. Ihr seid wirklich arm an geistigen Kräften! Mein Wort belastet euch, ohne euch Blut und Kraft zu verleihen, und sieh, da wirkt der Heilige Geist das Wunder für euch, das geistige Wunder der Vermehrung des Wortes. Er erleuchtet euch über geheimsten Bedeutungen des Wortes und vermehrt dieses Wort, auf daß ihr, ohne euch mit einer Last zu

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beschweren, die euch nur, ohne euch zu stärken, erdrücken würde, genährt werdet und nicht mehr erschöpft in der Wüste des Lebens niedersinkt.

Sieben Brote und wenige Fischlein!

Ich habe drei Jahre gepredigt, und mein vielgeliebter Johannes sagt: "Wenn man alle seine Worte und alle Wunder, die er gesagt und gewirkt hat, niederschreiben wollte, um euch eine Überfülle an Nahrung zu geben, damit ihr ohne Schwächen bis ins himmlische Reich gelangt, würde die Welt die Bücher nicht fassen." Selbst wenn dies geschehen wäre, hättet ihr so viele umfangreiche Bücher nicht lesen können. Ihr lest ja nicht einmal, wie ihr solltet, das Wenige, das über mich geschrieben worden ist. Es ist das Einzige, was ihr wissen müßtet, wie ihr auch seit eurer frühesten Kindheit die notwendigen Wörter kennt.

So kommt die Liebe und vermehrt das Wort; er, der eins ist mit mir und dem Vater, hat "Erbarmen mit euch, die ihr vor Hunger sterbt"; und durch ein Wunder, das sich seit Jahrhunderten stets wiederholt, verdoppelt, verzehnfacht, ja verhundertfacht er die Bedeutung, das Licht und die Nährkraft eines jeden meiner Worte, und es wird zu einem unermeßlichen Schatz himmlischer Speise, der euch von der Barmherzigkeit Gottes angeboten wird. Schöpft ohne Furcht daraus. Je mehr eure Liebe daraus schöpft, umsomehr wird als Frucht der Liebe seine Kraft und Wirkung zunehmen. Gott kennt keine Grenzen in seinem Reichtum und seinen Möglichkeiten. Ihr seid beschränkt. Er nicht. Er ist unendlich, in allen seinen Werken, auch darin, euch zu jeder Stunde und bei jedem Ereignis die Erleuchtungen zu verleihen, deren ihr im gegebenen Augenblick bedürft. So wie am Tage des Pfingstfestes der über die Apostel ausgegossene Geist deren Worte allen verständlich machte, den Partern, Medern, Skyten, Kappadoziern, Pontiern, Phrygiern, Ägyptern, Römern, den Griechen und den Libyern, so wird er auch euch Trost geben, wenn ihr weint, Rat, wenn ihr darum bittet, und Anteil an der Freude, wenn ihr euch freut; alles mit demselben Wort.

Oh, wahrlich, wenn der Geist euch erleuchtet, dann sind die Worte: "Gehe hin in Frieden und sündige nicht mehr" eine Belohnung für den, der nicht gesündigt hat, eine Ermutigung für den noch Schwachen, der nicht sündigen will, eine Vergebung für den reumütigen Sünder, ein durch Barmherzigkeit gemässigter Tadel für den, der auch nur einen Funken von Reue verspürt. Es ist doch nur ein einziger Satz, einer der einfachsten, aber wie viele solche Worte enthält meine Frohe Botschaft! So viele an der Zahl wie Blütenknospen, die sich nach einem Regen in der Frühlingssonne dichtgedrängt auf einem Zweig, auf dem zuvor nur eine einzige Blüte war, öffnen und ihn ganz bedecken, zur Freude dessen, der sie betrachtet.

Ruhe dich nun aus. Der Friede der göttlichen Liebe sei mit dir.»

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401. DAS BROT, DAS VOM HIMMEL KOMMT

Das Ufer von Kapharnaum wimmelt von Menschen, die aus einer ganzen Flotte von Booten aller Größen steigen. Die ersten, die aussteigen, gehen gleich unter das Volk, um zu sehen, ob sie den Meister, einen Apostel oder wenigstens einen Jünger antreffen, und erkundigen sich...

Endlich antwortet ein Mann: «Meister? Apostel? Nein. Sie sind sofort nach dem Sabbat weggegangen und nicht wiedergekommen. Aber sie werden zurückkehren, denn es sind noch Jünger hier, soeben habe ich mit einem von ihnen gesprochen. Es muß ein bedeutender Jünger sein, denn er spricht wie Jairus! Nun ist er am Meer entlang zu dem Haus mitten in den Feldern gegangen.»

Der Mann, der gefragt hat, gibt das Gehörte weiter, und alle laufen zum bezeichneten Ort. Nach etwa zweihundert Metern begegnen sie am Ufer einer Gruppe von Jüngern, die lebhaft gestikulierend in Richtung Kapharnaum gehen. Sie grüßen und fragen: «Wo ist der Meister?»

Die Jünger antworten: «In der Nacht nach dem Wunder ist er mit den Seinen in Booten auf die andere Seite des Sees gefahren. Wir haben die Segel im Mondschein sich in Richtung Dalmanutha bewegen sehen.»

«Ach, sieh da! Wir haben ihn in Magdala im Hause der Maria gesucht, und er war nicht dort! Aber... die Fischer von Magdala hätten es uns auch sagen können!»

«Sie werden es wohl nicht gewußt haben. Er ist vielleicht auf die Berge von Arbela gegangen, um zu beten, denn schon einmal war er dort, letztes Jahr vor dem Osterfest. Ich bin ihm damals durch die höchste Güte des Herrn gegen seinen armen Diener begegnet», sagt Stephanus.

«Aber kehrt er nicht hierher zurück?»

«Gewiß wird er hierher zurückkehren, denn wir müssen uns noch von ihm verabschieden und Anweisungen erhalten. Aber was wollt ihr denn von ihm?»

«Ihn noch einmal hören. Ihm nachfolgen. Seine Jünger werden.»

«Jetzt geht er nach Jerusalern. Dort werdet ihr ihn antreffen können, und dort, im Tempel Gottes, wird der Herr euch sagen, ob es zu eurem Nutzen ist, ihm nachzufolgen. Denn es ist gut für euch zu wissen, daß wenn er auch niemanden zurückweist, wir doch Eigenschaften in uns haben, die das Licht abstoßen. Wenn nun jemand diese in vermehrtem Maße besitzt, so daß er nicht nur damit gesättigt, sondern so mit ihnen umhüllt ist wie mit dem Fleisch des eigenen Körpers, dann ist es besser, wenn er davon absieht, hinzugeben; es sei denn, daß er sich selbst vernichte, um sich gänzlich zu erneuern. Jedoch wäre es auch nicht schlimm, wenn er solche Eigenschaften besäße, denn Jesus ist Licht, und wenn sich einer wirklich festen Willens entschlossen hat, sein eigen zu sein, dann dringt das Licht durch alle Finsternis und besiegt sie. Überlegt daher, ob

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ihr in euch die Kraft habt, einen neuen Geist, eine neue Gesinnung und eine neue Art des Wollens anzunehmen. Betet, um die Wahrheit über eure Berufung erkennen zu können, und dann kommt, wenn ihr euch berufen fühlt. Möge der Allerhöchste, der Israel beim "Vorübergang" geführt hat, euch leiten bei diesem "Pessach" (Vorübergang), damit ihr im Gefolge des Lammes, fern von der Wüste, zum ewigen Land, zum Reiche Gottes gelangt», sagt Stephanus, der im Namen all seiner Gefährten gesprochen hat.

«Nein, nein! Sofort! Sofort! Keiner wirkt, was er wirkt. Wir wollen ihm folgen», ruft die erregte Menge.

Stephanus lächelt vielsagend. Er breitet seine Arme aus und sagt: «Wollt ihr kommen, weil er euch gutes und reichliches Brot gegeben hat? Glaubt ihr, daß er euch in Zukunft nur das geben wird? Er verspricht seinen Nachfolgern, daß auch sie Anteil haben werden an Schmerz, Verfolgung und Martyrium. Nicht Rosen, sondern Dornen, nicht Liebkosungen, sondern Schläge, nicht Brot, sondern Steine haben die "Christen" zu erwarten; und ich nenne sie so, ohne deshalb ein Lästerer zu sein, denn seine wahren Getreuen werden mit dem heiligen Öl gesalbt werden, das aus seiner Gnade und seinen Leiden hervorgehen wird, und "gesalbt" werden wir, um die Opfer auf dem Altar und die Könige im Himmel zu sein.»

«Bist du vielleicht eifersüchtig? Gehörst du zu seinem Gefolge? Auch wir wollen dazugehören. Der Meister gehört allen!»

«Schon gut. Ich habe es euch gesagt, weil ich euch liebe und will, daß ihr euch bewußt seid, was es heißt, "Jünger" zu sein, nicht daß ihr dann zu Abtrünnigen werdet. Gehen wir also alle zusammen, um auf ihn bei seinem Haus zu warten. Es dämmert, und der Sabbat hat bereits begonnen. Er wird kommen, um den Sabbat vor seiner Abreise hier zu verbringen.»

Sie gehen, während sie miteinander reden, zur Stadt. Viele stellen Stephanus und Hermas Fragen, denn diese beiden genießen, in den Augen der Israeliten ein besonderes Ansehen, weil sie die Lieblingsschüler des Gamaliel sind. Viele fragen: «Aber was hält Gamaliel von ihm?» und andere: «Hat er euch selbst geschickt? Leidet er nicht darunter, euch zu verlieren?» oder: «Was sagt der Meister von dem großen Rabbi?»

Die beiden antworten geduldig: «Gamaliel spricht von Jesus von Nazareth als von dem größten Mann Israels.»

«Oh! Größer als Moses ?» sagen sie fast entrüstet.

«Er sagt, Moses ist einer der vielen Vorläufer Christi, doch ist er nur ein Diener Christi.»

«Dann ist also für Gamaliel dieser der Christus? Sagt er das? Wenn Rabbi Gamaliel es sagt, dann ist es entschieden, dann ist er der Christus!»

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«Er sagt das nicht. Er wagt zu seinem Unglück noch nicht, daran zu glauben. Aber er sagt, daß Christus auf Erden ist, da er mit ihm vor vielen Jahren gesprochen hat, er und der weise Hillel, und er wartet auf das Zeichen, das Christus ihm versprochen hat, damit er ihn erkennt», sagt Hermas.

«Aber wie hat er schon glauben können, daß jener der Christus war? Was hat er getan? Ich bin so alt wie Gamaliel, aber ich habe nie gehört, daß bei uns Dinge geschahen, wie der Meister sie tut. Wenn er sich schon nicht von diesen Wundern überzeugen lassen will, was hatte er denn Wunderbares an jenem Christus gesehen, daß er an ihn glauben konnte?»

«Er sah ihn mit der Weisheit Gottes gesalbt. So sagt er», antwortet wiederum Hermas.

«Und was ist er für Gamaliel?»

«Der größte Mann, Meister und Vorläufer Israels. Wenn er sagen könnte: "Er ist Christus", dann wäre die weise, gerechte Seele meines ersten Meisters gerettet», sagt Stephanus und fügt hinzu: «Ich bete darum, daß dies geschehe, um jeden Preis.»

«Doch, wenn er ihn nicht für den Christus hält, warum hat er euch dann zu ihm gesandt?»

«Wir selbst wollten zu ihm gehen und er hat uns ziehen lassen und gesagt, daß es gut sei.»

«Vielleicht, um etwas zu erfahren und es dem Hohen Rat berichten zu können», sagt einer voll Verdacht.

«Mann, wie redest du? Gamaliel ist ein ehrlicher Mann. Er verrät niemanden, und besonders nicht an die Feinde eines Unschuldigen!» fährt Stephanus auf und gleicht dabei einem Erzengel, so entrüstet und fast strahlend scheint er in seinem heiligen Zorn.

«Doch wird es ihm leid getan haben, euch zu verlieren», sagt ein anderer.

«Ja und nein. Als Mensch, der es gut mit uns meinte, ja, als wahrhaft aufrichtiger Geist, nein, denn er hat gesagt: "Er ist mehr als ich und jünger als ich, daher werde ich, was eure Zukunft anbelangt, in Frieden sterben können, da ich euch beim 'Meister der Meister' weiß."»

«Was sagt denn Jesus von Nazareth von dem großen Rabbi?»

«Oh, er hat nur die besten Worte für ihn!»

«Ist er nicht neidig auf ihn?»

«Gott beneidet niemand», sagt Hermas streng, hege keine gotteslästerlichen Vermutungen.»

«Dann ist er für euch also Gott? Seid ihr euch dessen sicher?»

Einstimmig beteuern die beiden: «So sicher, wie wir wissen, daß wir in diesem Augenblick leben.»

Dann sagt Stephanus abschließend: «Möget auch ihr es glauben, um das wahre Leben zu besitzen.»

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Sie sind wieder am Ufer, das sich hier zu einem Platz verbreitert, und überqueren diesen, um nach Hause zu gehen.

Jesus steht auf der Schwelle und liebkost Kinder.

Jünger und Neugierige versammeln sich um ihn und fragen: «Meister, wann bist du gekommen?»

«Vor wenigen Augenblicken.» Das Antlitz Jesu strahlt noch die feierliche, etwas ekstatische Majestät aus, die ich immer dann sehe, wenn er viel gebetet hat.

«Kommst du vom Gebet, Meister?» fragt Stephanus ehrfürchtig und mit leiser Stimme, nachdem er sich ebenso ehrfürchtig verbeugt hat.

«Ja. Woran erkennst du das, mein Sohn?» fragt Jesus und legt seine Hand mit einer zarten Liebkosung auf das dunkle Haar.

«An deinem engelgleichen Antlitz. Ich bin ein armer Mensch, doch dein Antlitz ist so klar, daß man von ihm Regungen und Wirken deines Geistes ablesen kann...»

«Auch das deine ist klar. Du bist einer von denen, die Kinder bleiben...»

«Und was kannst du aus meinem Antlitz lesen?»

«Komm etwas beiseite und ich werde es dir sagen.» Er faßt ihn am Handgelenk und zieht ihn in einen dunklen Gang. «Liebe, Glaube, Reinheit, Großmut und Weisheit. Gott hat sie dir gegeben, und du hast sie gehegt und wirst sie noch mehr hegen. Schließlich, wie schon dein Name besagt, hast du die Krone aus reinem Gold mit einem großen Edelstein, der auf deiner Stirn leuchtet. Auf dem Gold und auf dem Edelstein sind zwei Worte eingeprägt: "Vorherbestimmung" und "Erstlingsopfer". Sei deiner Bestimmung würdig, Stephanus. Gehe hin in Frieden mit meinem Segen.» Jesus legt ihm aufs neue die Hand auf das Haar, während Stephanus niederkniet, um sich zu verneigen und ihm die Füße zu küssen. Danach kehren sie zu den anderen zurück.

«Diese Leute sind gekommen, um dich zu hören ...» sagt Philippus.

«Hier kann man nicht reden. Laßt uns in die Synagoge gehen. Jairus wird glücklich darüber sein.»

Jesus geht, gefolgt von den andern, in die schöne Synagoge von Kapharnaum. Nachdem Jairus ihn begrüßt hat, tritt er hinein und gebietet, daß alle Türen offen bleiben sollen, damit die, die in der Synagoge keinen Platz haben, ihn von der Straße oder vom Vorplatz aus hören können.

Jesus ist an seinem Platz in dieser ihm lieben Synagoge, in der heute zum Glück keine Pharisäer sind, die wahrscheinlich schon mit allem Prunk nach Jerusalern abgereist sind. Jesus beginnt zu sprechen:

«Wahrlich, ich sage euch: Ihr sucht mich, nicht um mich anzuhören und der Wunder wegen, die ihr gesehen habt, sondern wegen des Brotes, das ihr von mir reichlich und unentgeltlich erhalten habt. Drei Viertel von euch haben mich deswegen, und auch aus Neugierde, gesucht und sind

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aus allen Teilen des Vaterlandes hergekommen. Euer Suchen entbehrt jedoch des übernatürlichen Geistes. Der menschliche Geist bleibt vorherrschend mit seiner ungesunden Neugierde oder zumindest mit einer kindischen Unvollkommenheit, die nicht etwa kindliche Einfalt, sondern geistige Beschränktheit, wie bei einem Schwachsinnigen, ist. Mit der Neugierde sind auch Sinnlichkeit und verdorbenes Empfindungsvermögen verbunden. Eine Sinnlichkeit, die sich spitzfindig wie ein Dämon, dessen Tochter sie ist, unter dem Anschein guter Taten verbirgt, und ein Empfindungsvermögen das, wie alles, was "krankhaft" ist, der Reizmittel bedarf und sich nicht mit einfachen Speisen, wie gutem Brot, gutem Wasser, reinem Öl und frischer Milch begnügt, die vollkommen ausreichen, um leben und gut leben zu können. Das verdorbene Empfindungsvermögen verlangt nach außergewöhnlichen Dingen, um aufgerüttelt zu werden und die beliebten Schauer zu verspüren, wie ein Gelähmter, der Reizmittel braucht, um etwas zu empfinden, das ihm seine Unversehrtheit und seine Männlichkeit vortäuscht; Sinnlichkeit, die ohne Mühe den Gaumen befriedigen will, in diesem Fall mit dem Brot, das durch die Güte Gottes ohne die geringste eigene Anstrengung erworben wird.

Die Gaben Gottes sind nichts Gewöhnliches, sondern etwas Außerordentliches. Man darf sie nicht fordern und darf auch nicht träge werden, indem man sich einfach sagt: "Gott wird es mir geben." Es steht geschrieben: "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen", das i

heißt, du sollst dein Brot durch Arbeit verdienen. Denn wenn der, der die Barmherzigkeit ist, gesagt hat: "Mich erbarmt des Volkes, das mir seit drei Tagen folgt und nichts mehr zu essen hat und am Weg der Schwäche erliegen könnte, bevor es Hippos am See, Gamala oder eine andere Stadt erreicht hat", und wenn er vorgesorgt hat, so heißt das nicht, daß man ihm deshalb folgen soll. Wegen viel mehr als einem bißchen Brot, das dazu bestimmt ist, nach der Verdauung zu Kot zu werden, soll man mir folgen. Nicht um der Speise willen, die den Bauch füllt, sondern um jener Speise willen, welche die Seele nährt, denn ihr seid nicht einfach tierische Wesen, die Gras fressen und wiederkäuen oder im Erdreich wühlen und fett werden, sondern Seelen seid ihr! Das seid ihr! Das Fleisch ist das Gewand, die Seele das Wesen. Sie ist das Bleibende. Das Fleisch nützt sich ab wie jedes Gewand, und verdient nicht, daß man es pflegt, wie wenn es etwas Vollkommenes wäre, dem man alle Pflege angedeihen lassen muß.

Sucht daher zu erlangen, was wichtig, und nicht, was unwichtig ist für euch. Sucht nicht nach verderblicher Speise, sondern nach jener, die für das ewige Leben andauert. Diese Speise wird euch der Menschensohn immer geben, wenn ihr nur wollt, denn der Menschensohn hat alles, was von Gott kommt, zu seiner Verfügung und kann es geben; er, der Herr, der hochherzige Herr der Schätze des göttlichen Vaters, der ihm sein Sieg aufgedrückt hat, auf daß die redlichen Augen nicht verwirrt werden.

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Wenn ihr in euch die Speise habt, die nicht verdirbt, könnt ihr, da ihr mit der Speise Gottes genährt seid, auch die Werke Gottes vollbringen.»

«Was müssen wir tun, um die Werke Gottes zu verrichten? Wir beachten das Gesetz und die Propheten, also sind wir schon von Gott genährt und tun die Werke Gottes.»

«Das ist wahr. Ihr beachtet das Gesetz. Oder besser: ihr kennt das Gesetz. Aber kennen ist noch nicht anwenden. Wir kennen zum Beispiel die Gesetze Roms, und doch wird ein treuer Israelit nur die Bestimmungen beachten, die zu beachten er als Untergebener verpflichtet ist. Was den Rest betrifft – ich spreche von den treuen Israeliten – üben wir die heidnischen Bräuche der Römer nicht, obwohl wir sie kennen. Das Gesetz, das ihr alle kennt, und die Propheten sollten euch tatsächlich aus Gott nähren und euch die Fähigkeit verleihen, Werke Gottes zu verrichten. Doch damit dies geschehen kann, müssen sie eins werden mit euch, so wie sich sowohl die Luft, die ihr atmet, als auch die Speise, die ihr aufnehmt, in Leben und Blut umwandeln. Hingegen bleiben sie euch fremd, obwohl sie eurem Hause angehören, so wie es ein Gegenstand im Hause sein kann, der euch bekannt und nützlich ist, der aber, wenn er fehlen würde, euch nicht eures Unterhalts berauben würde. Während... Oh! Versucht einmal, für einige Minuten nicht zu atmen, versucht, tagelang nichts zu essen, und ihr werdet sehen, daß ihr so nicht leben könnt. Dasselbe müßte euer Ich empfinden, wenn euch Gesetz und Propheten fehlen, die ihr zwar kennt, aber nicht in euch aufnehmt, um eins mit ihnen zu werden. Deswegen bin ich gekommen, um euch den Kern des Gesetzes und der Prophetenworte zu lehren und euren durch Hunger und Erstickung sterbenden Seelen wieder Blut und Atem zu geben. Ihr gleicht Kindern, die eine Krankheit unfähig macht zu erkennen, welche Nahrung sich für sie eignet. Ihr habt Nahrung im Überfluß vor euch, aber ihr wißt nicht, daß sie verzehrt werden muß, um sich in Leben umzuwandeln, was heißt, daß sie wirklich in uns aufgenommen werden muß in reiner, großmütiger Treue zum Gesetz des Herrn, der für euch alle zu Moses und den Propheten gesprochen hat. Es ist daher eure Pflicht, zu mir zu kommen, um Odem und Speise für das ewige Leben zu erlangen. Doch diese Pflicht setzt den Glauben bei euch voraus, denn wenn einer keinen Glauben hat, kann er nicht an meine Worte glauben, und wenn er nicht glaubt, kommt er nicht zu mir, um zu sagen: "Gib mir das wahre Brot", und wenn er das wahre Brot nicht hat, kann er die Werke Gottes nicht tun, da er nicht imstande ist, sie zu tun. Um daher von Gott genährt zu werden und die Werke Gottes zu verrichten, ist es notwendig, daß ihr den grundlegenden Schritt tut: daß ihr an den glaubt, den Gott gesandt hat.»

«Aber was für Wunder wirkst du, damit wir an dich als den Gesandten Gottes glauben und in dir das Zeichen Gottes sehen können? Was tust du denn, was nicht schon die Propheten in geringerem Maße getan hätten?

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Moses hat dich übertroffen, denn er hat unsere Väter nicht nur einmal sondern vierzig Jahre lang mit wunderbarem Brot ernährt. Es steht geschrieben, daß unsere Väter vierzig Jahre lang das Manna in der Wüste gegessen haben, und es steht auch geschrieben, daß Moses ihnen das vom

Himmel gekommene Brot zu essen gab, er, der es vermochte.»

«Ihr seid im Irrtum. Nicht Moses, sondern der Herr vermochte die und im Buch Exodus liest man: "Siehe, ich lasse Brot vom Himmel regnen. Das Volk soll dann hingehen, aber sich nur den täglichen Bedarf sammeln; damit will ich es prüfen, ob es nach meinem Gesetz wandelt oder nicht. Und am sechsten Tage soll es das Doppelte von dem, was sie sonst täglich sammeln, sein, mit Rücksicht auf den siebten Tag, welche der Sabbat ist." Und die Hebräer sahen, wie sich die Wüste jeden Morgen mit diesem kleinen Etwas bedeckte, das wie im Mörser zerstoßen zu sein schien, dem Koriandersamen ähnlich sah und den Geschmack des Honigkuchens hatte. Also nicht Moses, sondern Gott hat das Manna gesandt. Gott, der alles vermag. Alles! Bestrafen und segnen, nehmen und gewähren. Und ich sage euch, er zieht es immer vor, zu segnen und zu gewähren, statt zu bestrafen und zu nehmen.

Wie im Buch der Weisheit steht, ernährte Gott sein Volk aus Liebe zu Moses mit der Speise der Engel vom Himmel her, ohne daß man sich um sie bemühen mußte, und die jeglichen Genuß enthielt und jeglichem Geschmack entsprach. Moses, der Liebling Gottes und der Menschen – sein Andenken sei gesegnet. Gott machte ihn den Heiligen der himmlische Herrlichkeit ähnlich; groß und furchterregend für die Feinde, fähig Wunder zu wirken und ihnen ein Ende zu setzen. Er verlieh ihm Mach vor dem König und machte ihn zu seinem Diener im Angesicht des Volkes. Er ließ ihn die Herrlichkeit Gottes schauen und die Stimme des Alle höchsten hören, und legte das Gesetz in seine Hand, die Lehre des Leben und der Einsicht. Erinnert euch gut an das, was im Buch der Weisheit geschrieben steht: da das Brot vom Himmel, von Gott kam und sein Güte für die Kinder kundgab, hatte es für jeden den Geschmack, der ihm angenehm war, und wirkte je nach den Bedürfnissen jedes Einzelnen; so war es für das Kind mit dem noch schwachen Magen, wie für den Erwachsenen mit seinem Appetit und der guten Verdauung, für das zarte Mädchen und den hinfälligen Greis geeignet und um auch zu beweisen, daß es nicht Menschenwerk war, änderte er die Gesetze der Elemente, und das Feuer konnte diesem geheimnisvollen Brot, das in der aufgehenden Sonn schmolz wie Rauhreif, nichts anhaben. Oder besser gesagt: das Feuer

das steht geschrieben im Buch der Weisheit – vergaß seine eigene Natur aus Ehrfurcht vor dem Werk Gottes, seines Schöpfers, und den Bedürfnissen der Gerechten Gottes, so daß es, anstatt wie gewöhnlich zu brennen und zu quälen, sich sanft gab, um denen, die dem Herrn vertrauten, wohl zutun. Deshalb wandelte sich die Natur auch damals in alles Beliebige

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und diente dem alles ernährenden Herrn. Sie gehorchte dem Willen dessen, der zum ewigen Vater betete, damit die vom Herrn geliebten Söhne lernten, daß es nicht die irdischen Früchte sind, die den Menschen ernähren, sondern daß das Wort des Herrn jene erhält, die auf Gott vertrauen. Daher vertilgte das Feuer, wie es gekonnt hätte, das süße Manna nicht, auch wenn die Flamme hoch war, obwohl schon die schwache Morgensonne dazu genügte; und das, weil die Menschen sich daran erinnern und lernen sollten, daß die Gaben Gottes zu Beginn des Tages und des Lebens gesammelt werden müssen, und daß es, um sie nicht zu verlieren, erforderlich ist, dem Lichte zuvorzukommen und sich zu erheben, bevor die Sonne aufgeht, um den Ewigen zu preisen.

Dies lehrte das Manna die Hebräer. Und ich erinnere euch daran, weil dies auch heute eure Pflicht ist und es bis zum Ende der Jahrhunderte bleiben wird. Sucht den Herrn und seine himmlischen Gaben, ohne in eurer Trägheit die letzten Stunden des Tages oder des Lebens abzuwarten. Erhebt euch, ihn zu preisen, bevor ihn die aufsteigende Sonne preist, und nährt euch mit seinem Wort, das heiligt, bewahrt und zum ewigen Leben führt. Nicht Moses hat euch das Brot des Himmels gegeben, sondern Gott Vater; und auch jetzt ist es in Wahrheit wieder mein Vater, der euch das wahre, neue und ewige Brot gibt, das vom Himmel her kommt: das Brot der Barmherzigkeit, das Brot des Lebens, das Brot, das der Welt das Leben gibt, das Brot, das jeden Hunger stillt und alle Schwächen wegnimmt, das Brot, das dem, der es ißt, das ewige Leben und die ewige Glückseligkeit schenkt.»

«Gibt uns dieses Brot, Herr, und wir werden nicht mehr sterben.»

«Ihr werdet sterben, wie jeder Mensch stirbt. Aber ihr werdet zum ewigen Leben auferstehen, wenn ihr euch heiligmäßig von diesem Brot ernährt; denn es macht den, der es ißt, unverweslich. Und dieses Brot wird denen gegeben werden, die es mit reinem Herzen, reiner Absicht und heiliger Liebe von meinem Vater erbitten. Deswegen habe ich euch gelehrt zu sagen: "Gib uns das tägliche Brot." Diejenigen jedoch, welche sich davon auf unwürdige Weise nähren, werden zur Beute höllischer Würmer, wie die Krüge mit dem Manna, das entgegen der befohlenen Ordnung aufbewahrt wurde, und jenes Brot des Heiles und des Lebens wird für sie zum Tode und zur Verdammung werden. Denn die schlimmste Gotteslästerung wird von denen begangen, die dieses Brot auf eine geistig verdorbene und stinkende Tafel legen und es dort entweihen, indem sie es in den Pfuhl ihrer unheilbaren Leidenschaften versenken. Besser wäre es für sie, wenn sie es nie empfangen hätten!»

«Aber wo ist dieses Brot? Wie findet man es? Wie heißt es?»

«Ich bin das Brot des Lebens. In mir findet man es. Sein Name ist Jesus. Wer zu mir kommt, wird nicht mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nicht mehr dürsten, denn die himmlischen Fluten werden

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sich in ihn ergießen und in ihm jedes irdische Verlangen auslöschen. Ich habe es euch jetzt und für immer gesagt, und ihr habt mich nun kennengelernt, und dennoch glaubt ihr nicht. Ihr könnt nicht glauben, daß all dies in mir ist. Und doch ist es so. In mir sind alle Schätze Gottes, und mir ist alles auf Erden gegeben. Daher sind in mir die glorreichen Himmel und die streitende Erde vereinigt, und sogar die leidenden, wartenden Seelen der in der Gnade Gottes Verschiedenen sind in mir, denn in mir und bei mir ist alle Gewalt. Ich sage es euch: Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen, und ich verjage den nicht, der zu mir kommt; denn ich bin vom Himmel herabgestiegen, nicht um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Der Wille meines Vaters aber, der mich gesandt hat, ist dieser: daß ich nicht einen einzigen von denen verliere, die er mir gegeben hat, sondern sie auferwecke am Jüngsten Tag. Nun will der Vater, der mich gesandt hat, daß wer immer den Sohn kennt und an ihn glaubt, das ewige Leben habe und am Jüngsten Tage von mir auferweckt werde, wenn ich ihn genährt sehe vom Glauben an mich und gezeichnet mit meinem Siegel.»

Ein Murmeln geht durch die Menge in und außerhalb der Synagoge wegen der neuen und gewagten Worte des Meisters. Dieser wendet, nachdem er einen Augenblick Atem geschöpft hat, seine vor Verzückung leuchtenden Augen dorthin, wo das Murmeln am stärksten ist, also zu den Gruppen, in denen sich die Judäer befinden. Dann fährt er fort zu reden.

«Warum murrt ihr unter euch? Ja, ich bin der Sohn Marias von Nazareth, der Tochter Joachims aus dem Geschlechte Davids, der im Tempel geweihten Jungfrau, die sich dann mit Joseph des Jakobus aus dem Geschlecht Davids vermählte. Viele von euch haben die Gerechten gekannt, die Joseph, dem königlichen Zimmermann, und Maria, der jungfräulichen Erbtochter aus königlichem Geschlecht, das Leben schenkten, und dies veranlaßt euch zu sagen: "Wie kann dieser behaupten, er sei vom Himmel herabgestiegen?" und Zweifel steigen in euch auf.

Ich erinnere euch an die Propheten, an ihre Weissagungen über die Menschwerdung des Wortes, und daran, daß für uns Israeliten mehr als für jedes andere Volk feststeht, daß der, den wir nicht zu nennen wagen, nicht nach den Gesetzen der Menschheit, und noch dazu einer gefallenen Menschheit, Fleisch werden konnte. Der Reinste, der Unerschaffene, der sich aus Liebe zu den Menschen dazu erniedrigt hat, Menschengestalt anzunehmen, konnte nur den Schoß einer Jungfrau wählen, die keuscher war als Lilien, um seine Gottheit mit Fleisch zu umhüllen. Das zur Zeit des Moses vom Himmel herabgekommene Brot wurde aufbewahrt in der goldenen Bundeslade, bedeckt mit der Versöhnungsplatte und bewacht von Cherubim, hinter den Vorhängen des Bundeszeltes. Mit dem Brot war auch das Wort Gottes dort. Es war gerecht, daß es so war, denn höchste Achtung gebührt den Gaben Gottes und den Tafeln seines heiligsten

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Wortes. Aber was wird Gott erst für sein eigenes Wort und das wahre Brot, das vom Himmel gekommen ist, vorbereitet haben? Eine viel unversehrtere und kostbarere Lade als die goldene Bundeslade, bedeckt mit dem kostbaren Mantel ihrer keuschen Opferbereitschaft, behütet von den Cherubim Gottes, umhüllt vom Schleier jungfräulicher Reinheit, von vollkommener Demut, erhabener Liebe und allen heiligsten Tugenden.

Also? Habt ihr noch nicht verstanden, daß mein Vater im Himmel ist, und daß ich daher von dort komme? Ja, ich bin vom Himmel herabgestiegen, um den Beschluß meines Vaters zu erfüllen, den Beschluß zur Rettung der Menschen, gemäß seinem Versprechen im Augenblick der Verurteilung, das er den Patriarchen und Propheten wiederholte. Aber das ist Glaubenssache, und der Glaube wird von Gott nur dem gegeben, der guten Willens ist. Daher kann niemand zu mir kommen, wenn ihn mein Vater nicht zu mir führt, da er ihn in der Finsternis sieht, jedoch mit dem sehnlichsten Verlangen nach Licht. Bei den Propheten heißt es: "Sie werden alle belehrt werden von Gott." Das ist es! Gott zeigt ihnen, wohin sie gehen sollen, um von Gott unterrichtet zu werden. Wer immer also in der Tiefe seines Herzens Gottes Stimme hören konnte, hat vom Vater gelernt, zu mir zu kommen.»

«Und wer hat Gott gehört und sein Antlitz gesehen?» fragen einige, die bereits Anzeichen von Gereiztheit und Ärgernis geben, und fügen hinzu: «Entweder bist du in einem Wahn befangen oder du bist ein Träumer.»

«Niemand hat Gott geschaut, außer dem, der von Gott kommt: dieser hat den Vater gesehen, und ich bin es! Nun hört das Glaubensbekenntnis vom künftigen Leben, ohne das niemand selig werden kann.

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, ich bin das Brot des ewigen Lebens.

Eure Väter verzehrten das Manna in der Wüste und sind gestorben, denn das Manna war wohl eine heilige, jedoch zeitliche Speise und gab das Leben, dessen sie bedurften, um in das von Gott seinem Volke verheißenen Land zu gelangen. Aber das Manna, das ich bin, wird weder Grenzen der Zeit noch der Macht haben. Nicht nur himmlisch, sondern göttlich ist es, und bewirkt, was göttlich ist: die Unverweslichkeit, die Unsterblichkeit dessen, den Gott nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Dieses göttliche Brot wird nicht nur vierzig Tage, vierzig Monate, vierzig Jahre oder vierzig Jahrhunderte, sondern so lange dauern, als die Zeiten dauern, und es wird allen gegeben werden, die heiligen und dem Herrn wohlgefälligen Hunger haben. Frohlocken wird der Herr darüber, sich grenzenlos den Menschen hinzugeben, für die er Fleisch geworden ist, auf daß sie das ewige Leben erlangen, das unsterbliche Leben.

Ich kann mich verschenken, ich kann mich verwandeln aus Liebe zu den Menschen, damit das Brot Fleisch und das Fleisch Brot werde für den

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geistigen Hunger der Menschen, die ohne diese Nahrung an Hunger und geistigen Krankheiten sterben würden. Wenn jemand würdig von diesem Brote ißt, wird er ewig leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, geopfert für das Leben der Welt; es wird meine Liebe sein, ausgegossen in den Gotteshäusern, auf daß alle, die sich nach Liebe sehnen oder unglücklich sind, zum Tisch des Herrn kommen und Erquickung finden in ihrem Verlangen, sich mit Gott zu vereinen, und Trost in ihrem Leiden.»

«Aber wie kannst du uns dein Fleisch zu essen geben? Für wen hältst du uns? Für blutdürstige Bestien? Für Wilde? Für Mörder? Uns widerstreben Blut und Verbrechen.»

«Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: viele Male ist der Mensch schlimmer als das wilde Tier, und die Sünde läßt ihn mehr als nur wild und tierisch werden. Der Hochmut läßt in ihm ein mörderisches Verlangen aufkommen, und nicht allen hier Anwesenden widerstrebt das Blut und das Verbrechen. Auch in Zukunft wird der Mensch so sein, weil Satan, die Sinnlichkeit und der Hochmut ihn wild und tierisch werden lassen. Daher muß der Mensch jetzt und in Zukunft mehr denn je sich selbst von schrecklichen Keimen heilen, durch die Eingebung des Heiligen.

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht essen und sein Blut nicht trinken werdet, werdet ihr das ewige Leben nicht in euch haben. Wer aber würdig mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Denn mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise, und mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der bleibt in mir, und ich in ihm. Wie der lebendige Vater mich gesandt hat, und ich durch den Vater lebe, so wird der, der mich ißt, durch mich leben und hingehen, wohin ich ihn sende; und er wird tun, was ich von ihm verlange, und als Mensch ein sittenstrenges Leben führen; glühend wie ein Seraphim und heilig wird er sein, denn um mein Fleisch essen und mein Blut trinken zu können, wird er die Sünde meiden und sich immer mehr erheben, um seinen Aufstieg schließlich zu Füßen des Ewigen zu beenden.»

«Aber dieser ist ja wahnsinnig! Wer kann denn auf solche Weise leben? In unserer Religion ist es nur der Priester, der rein sein muß, um das Opfer darzubringen. Dieser hier aber will aus uns lauter Opfer seines Wahnsinns machen. Seine Lehre ist zu mühselig und diese Sprache zu hart! Wer kann sie anhören und sie verwirklichen?» flüstern mehrere Anwesende, und viele von diesen gelten bereits als seine Jünger.

Das Volk geht diskutierend weg und die Anzahl der Jünger scheint sich sehr verringert zu haben, als in der Synagoge nur noch der Meister und seine Getreuesten zurückbleiben. Ich zähle sie nicht, aber ich kann sagen, daß es grob geschätzt kaum mehr als hundert sind. Auch in den Reihen der alten Jünger, die schon im Dienste Gottes standen, muß der Abfall

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bedeutend gewesen sein. Unter den Übriggebliebenen sind die Apostel, der Priester Johannes und der Schriftgelehrte Johannes, Stephanus, Hermas, Timoneus, Ermastheus, Agapus, Joseph, Salomon, Abel von Bethlehem in Galiläa und Abel, der frühere Aussätzige von Chorazim mit seinem Freund Samuel, Elias (jener, der das Begräbnis seines Vaters der Nachfolge Jesu hintangestellt hatte), Philippus von Arbela, Aser und Ismael von Nazareth. Ferner sind hier noch andere, deren Namen ich nicht kenne. Sie alle reden leise miteinander und machen Bemerkungen über den Abfall der vielen und über die Worte Jesu, der nachdenklich mit verschränkten Armen dasteht und sich an ein hohes Lesepult lehnt.

«Ihr nehmt Anstoß an dem, was ich gesagt habe? Und wenn ich euch sagen würde, daß ihr eines Tages den Menschensohn zum Himmel, wo er zuvor gewesen ist, auffahren und ihn zu Rechten des Vaters sitzen sehen werdet? Was habt ihr denn bis zu dieser Stunde verstanden, aufgenommen und geglaubt? Und womit habt ihr gehört und aufgenommen? Nur mit eurer Menschheit? Der Geist ist es, der lebendig macht und Wert hat. Das Fleisch nützt zu nichts. Meine Worte sind Geist und Leben und müssen mit dem Geist angehört und verstanden werden, um durch sie das Leben zu erlangen. Aber viele sind unter euch, deren Geist abgestorben ist, weil er ohne Glaube ist. Viele von euch glauben nicht wahrhaft, und so folgen sie mir vergeblich. Sie werden nicht das ewige Leben, sondern den Tod ernten. Denn wie ich schon im Anfang gesagt habe, sind sie entweder aus Neugierde, aus menschlichem Interesse, was noch schlimmer ist, oder aus noch viel unwürdigeren Absichten hier.

Sie sind nicht vom Vater hergeführt worden als Belohnung für ihren guten Willen, sondern vom Satan. Wahrlich, niemand kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht von meinem Vater gewährt wird. Geht nur, ihr, da es euch schwer fällt, bei mir zu bleiben und ihr euch nur schämt, mich zu verlassen; die ihr euch aber andererseits noch mehr schämt, weil ihr im Dienste eines Meisters steht, der euch "verrückt und hart" vorkommt. Geht! Besser ist es, ihr seid weit weg, als daß ihr hier bleibt, um zu schaden!»

Viele weitere Jünger ziehen sich zurück, unter ihnen der Schriftgelehrte Johannes und Markus, der einst besessene Gerasener, der geheilt wurde, nachdem die Dämonen in Schweine gefahren waren. Die guten Jünger beraten sich und laufen hinter diesen Treubrüchigen her, um sie zurückzuhalten. In der Synagoge sind jetzt Jesus, der Synagogenvorsteher und die Apostel...

Jesus wendet sich an die Zwölf, die niedergeschlagen in einer Ecke stehen, und fragt ohne Bitterkeit und Traurigkeit, doch sehr ernst: «Wollt auch ihr gehen?»

Petrus antwortet ihm in einem schmerzlichen Ausbruch: «Herr, wohin sollen wir gehen? Zu wem? Du bist unser Leben und unsere Liebe, Nur du

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hast Worte des ewigen Lebens. Wir haben erkannt, daß du Christus, der Sohn Gottes, bist. Wenn du willst, jage uns fort. Aber von uns aus werden wir dich nicht verlassen, selbst... selbst, wenn du uns nicht mehr lieben würdest...» Und Petrus weint lautlos viele Tränen... Auch Andreas, Johannes und die beiden Söhne des Alphäus weinen ohne es zu verbergen, und die anderen, bleich oder rot vor Erregung weinen nicht, leiden jedoch sichtlich.

«Warum sollte ich euch fortjagen? Habe ich euch Zwölf nicht selbst erwählt? ...

Jairus hat sich klugerweise zurückgezogen, um Jesus die Freiheit zu lassen, seine Apostel zu trösten oder zu tadeln. Jesus, der den schweigenden Rückzug bemerkt hat, sagt, indem er sich bedrückt niedersetzt, als ob die Offenbarung seine Kräfte übersteigen würde, müde, angeekelt und schmerzvoll: «Und doch ist einer unter euch ein Dämon.»

Die Worte erklingen langsam und furchterregend in der Synagoge, in der nur noch das Licht der vielen Lampen Helle verbreitet... und keiner wagt etwas zu sagen. Sie schauen sich nur gegenseitig an mit furchtsamer Scheu und ängstlich forschenden Blicken, und mit noch größerer Angst prüft ein jeder sich selbst...

Eine Zeitlang rührt sich niemand. Jesus bleibt allein auf seinem Platz' die Hände auf den Knien gefaltet, mit niedergeschlagenem Blick. Schließlich erhebt er seine Augen und sagt: «Kommt. Ich bin doch kein Aussätziger! Oder haltet ihr mich für einen solchen?»

Jetzt eilt Johannes zu ihm, fällt ihm um den Hals und sagt: «Dann will ich im Aussatz mit dir sein, meine einzige Liebe. Mit dir in der Verurteilung, mit dir im Tode, wenn du glaubst, daß dies auf dich wartet ...»

Petrus kriecht zu seinen Füßen hin, nimmt sie, stellt sie auf seine Schultern und seufzt: «Hier, tritt mich, zertritt mich! Aber lasse mich nicht denken, daß du deinem Simon mißtraust.»

Als die andern sehen, daß Jesus die beiden ersten liebkost, gehen sie auf ihn zu und küssen sein Gewand, seine Hände, sein Haar... Nur Iskariot wagt es, sein Antlitz zu küssen.

Jesus springt auf und schiebt ihn weg. Diese Gebärde mutet barsch an, weil sie ganz unerwartet geschieht. Er sagt: «Laßt uns nach Hause gehen, und morgen Abend, wenn es dunkelt, werden wir mit den Booten nach

Hippos fahren.»

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402. DER NEUE JÜNGER: NIKOLAUS VON ANTIOCHIA

Jesus ist ganz allein auf der Terrasse des Hauses des Thomas von Kapharnaum. Das Dorf ruht in der Stille des Sabbats. Seine Einwohnerzahl ist sehr zusammengeschmolzen, weil die Eifrigsten in der Ausübung des Glaubens und auch jene, die sich mit ihren Familien nach Jerusalern begeben und Kinder haben, die keine meilenweite Märsche ertragen, bereits abgereist sind. So fehlt dem ohnehin etwas bewölkten Tag die goldene Note der fröhlichen Kinderschar.

Jesus ist sehr nachdenklich. Er sitzt in einer Ecke auf einer niedrigen Bank, fast von der Brüstung verborgen und den Rücken zur Treppe gekehrt. Den einen Ellbogen auf das Knie gestützt, hält er die Stirn in der Hand, in einer müden, fast leidvollen Haltung. Er wird in seiner Betrachtung unterbrochen durch die Ankunft eines Knäbleins, das ihn vor seiner Abreise nach Jerusalern noch grüßen möchte.

«Jesus, Jesus!» ruft es bei jeder Stufe, da es ihn nicht sehen kann, weil das Mäuerchen ihn denen, die unten sind, verbirgt. Jesus ist so in sich gekehrt, daß er das schwache Stimmlein und das täubchenhafte Trippeln nicht wahrnimmt... und immer noch in der leidvollen Haltung verharrt, als der Kleine auf der Terrasse erscheint.

Das Kind ist darüber erschrocken, bleibt an der Treppe der Terrasse stehen, steckt einen Finger in den Mund und denkt nach... Dann entschließt es sich, geht langsam auf ihn zu,... und, hinter Jesus angekommen, neigt es sich über seine Schulter, um zu sehen, was er macht, und sagt: «Nein, mein schöner Jesus, weine nicht! Warum denn? Wegen der bösen Leute von gestern 9 Mein Vater hat zu Jairus gesagt, daß sie deiner nicht würdig sind. Aber du darfst nicht weinen, ich habe dich lieb, und auch mein Schwesterchen, Jakobus, Tobiolus, Johanna, Maria, Michäa und alle, alle Kinder von Kapharnaum haben dich lieb. Weine nicht mehr ...» Das Kind hängt sich an seinen Hals, liebkost ihn und fügt hinzu: «Sonst fange auch ich an zu weinen und höre nicht mehr auf... während der ganzen Reise...»

«Nein, David. Ich weine nicht mehr. Du hast mich getröstet. Bist du allein? Wann werdet ihr abreisen?»

«Nach Sonnenuntergang, mit dem Boot bis Tiberias. Kommst du mit uns? Mein Vater hat dich gern, weißt du?»

«Ich weiß es, liebes Kind. Aber ich muß noch zu andern Kindern gehen... Ich danke dir, daß du gekommen bist, mich zu grüßen, und ich segne dich, kleiner David. Wir geben uns nun den Abschiedskuß, und dann gehst du zu deiner Mutter zurück. Weiß sie, daß du hier bist?»

«Nein. Ich bin weggelaufen, weil ich dich nicht bei den Jüngern gesehen hatte und dachte, daß du weinen würdest.»

«Ich weine nicht mehr, du siehst es. Gehe nun zur Mutter, die dich

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vielleicht schon ängstlich sucht. Leb wohl! Paß auf die Esel der Karawane auf. Siehst du, die Tiere stehen schon überall herum.»

«Aber weinst du wirklich nicht mehr?»

«Nein. Ich habe kein Leid mehr. Du hast es mir genommen. Danke, mein Kind.»

Das Kind hüpft die Treppe hinunter, und Jesus beobachtet es. Dann schüttelt er sein Haupt und kehrt an seinen Platz und zu der leidvollen Betrachtung zurück.

Einige Zeit vergeht. Die Sonne scheint bei ihrem Untergang durch die Wolken.

Ein schwerfälliger Schritt auf der Treppe. Jesus erhebt sein Antlitz und sieht Jairus, der auf ihn zukommt. Er grüßt ihn, und Jairus erwidert ehrfürchtig den Gruß.

«Wie kommt es, daß du hier bist, Jairus?»

«Herr, ich habe vielleicht einen Fehler begangen. Aber du, der du in das Herz der Menschen siehst, wirst auch erkennen, daß in meinem Herzen keine Bosheit wohnt. Heute habe ich dich nicht in die Synagoge zum Sprechen eingeladen, denn ich habe gestern sehr gelitten deinetwegen, und habe gesehen, wie sehr du gelitten hast... so daß ich es nicht gewagt habe. Ich habe die Deinen gefragt und sie haben mir gesagt: "Er möchte allein sein"... Doch soeben ist Philippus gekommen, der Vater Davids, und hat mir berichtet, daß sein Kind dich weinen sah. Er hat gesagt, du hättest ihm dafür gedankt, daß es zu dir gekommen sei. So bin ich nun auch gekommen, Meister. Alle, die jetzt noch in Kapharnaum sind, versammeln sich bereits in der Synagoge. Und meine Synagoge gehört dir, Herr.»

«Danke, Jairus! Heute werden dort andere sprechen, und ich werde als einfacher Gläubiger kommen...»

«Du wärest nicht dazu verpflichtet. Deine Synagoge ist die Welt.»

«Ich bleibe hier mit meinem Geist vor dem Vater, der mich versteht und keine Schuld an mir findet.» Tränen glänzen in den traurigen Augen Jesu.

«Auch ich finde keine Schuld an dir... Leb wohl, Herr.»

«Leb wohl, Jairus.» Und Jesus setzt sich wieder, immer noch nachdenklich.

Leicht wie eine Taube schwebt nun in ihrem weißen Kleide die Tochter des Jairus herauf. Sie schaut zu ihm hin... und sagt dann leise: «Mein Retter!»

Jesus wendet sein Haupt, sieht sie, lächelt ihr zu und sagt: «Komm zu mir!»

«Ja, mein Herr. Aber ich möchte dich zu den anderen bringen. Warum soll die Synagoge heute stumm sein?»

«Dein Vater und viele andere sind dort, um sie mit Worten zu erfüllen.»

«Aber es sind nur Worte... Deines ist Das Wort. O mein Herr! Ich war

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tot und mit deinem Wort hast du mich meiner Mutter und meinem Vater wiedergeschenkt. Aber schau jene an, die jetzt in die Synagoge gehen! Viele sind mehr tot als ich es damals war. Komm, um ihnen das Leben zu schenken.»

«Tochter, du hast es damals verdient; sie aber... Kein Wort kann dem Leben geben, der für sich selbst den Tod wünscht.»

«Ja, mein Herr! Aber komme trotzdem. Es gibt auch solche, die aufleben, wenn sie dich hören... Komm! Leg deine Hand in die meine und laß uns gehen. Ich bin das Zeugnis deiner Macht und bin bereit, es auch vor deinen Feinden zu bezeugen; selbst um den Preis, daß mir dieses zweite Leben genommen wird, das ja auch nicht mehr mir gehört, denn du hast es mir geschenkt, guter Meister, aus Mitleid mit einer Mutter und einem Vater. Aber ich..» Das Mädchen, schon eine schöne junge Frau mit sanften, strahlenden Augen im reinen und klugen Gesicht, unterbricht sich, von einem Tränenausbruch überwältigt, und ihre Tränen tropfen von den langen Wimpern über die Wangen.

«Warum weinst du jetzt?» fragt Jesus und legt seine Hand auf ihr Haar.

«Weil man mir gesagt hat, daß du sterben wirst...»

«Wir alle werden sterben, Mädchen.»

«Aber nicht so, wie du sagst! Ich... oh, nun wäre ich lieber nicht wieder ins Leben zurückgekehrt, um es nicht mitansehen zu müssen, um nicht dabei zu sein... wenn dieses Schreckliche geschehen wird...»

«Dann wärst du auch nicht da, um mir den Trost zu schenken, den du mir jetzt gibst. Weißt du nicht, daß das Wort, auch ein einziges nur, von einem reinen Menschen, der mich liebt, alle Pein von mir nimmt?»

«Ja? Oh, dann darfst du nicht mehr leiden, denn ich liebe dich mehr als den Vater, die Mutter und mein Leben!»

«So ist es!»

«Dann komme also. Bleibe nicht allein. Sprich für mich, für Jairus, für die Mutter, für den kleinen David, kurzum für jene, die dich lieben. Wir sind viele und werden immer mehr werden. Bleibe nicht allein, denn dann wird man traurig.» Und mit dem mütterlichem Instinkt, der jeder ehrbaren Frau eigen ist, schließt sie mit den Worten: «In meiner Nähe wird dir niemand etwas antun, und in jedem Falle werde ich dich verteidigen.»

Jesus erhebt sich und stellt sie zufrieden. Hand in Hand gehen sie durch die Straßen und betreten die Synagoge durch einen Seiteneingang.

Jairus, der gerade mit lauter Stimme aus einer Schriftrolle vorliest, unterbricht seine Lesung und sagt, sich tief verneigend: «Meister, ich bitte dich, sprich zu denen, die aufrichtigen Herzens sind. Bereite uns mit deinem heiligen Wort auf das Passahfest vor.»

«Du hast gerade aus dem Buch der Könige vorgelesen, nicht wahr?»

«Ja, Meister. Ich versuchte, die Anwesenden darüber zum Nachdenken

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zu bringen, daß der, der sich von Gott trennt, dem Götzendienst des Goldenen Kalbes verfällt.»

«Gut hast du gesprochen. Hat niemand etwas zu sagen?»

Es erhebt sich ein Stimmengewirr in der Menge. Die einen wollen, daß Jesus spricht, andere schreien: «Wir haben es eilig. Laßt uns die Gebete sprechen und die Versammlung beenden, wir gehen sowieso nach Jerusalern und werden dort die Rabbis hören.» Die da so schreien sind die vielen Fahnenflüchtigen von gestern, die der Sabbat in Kapharnaum aufgehalten hat.

«Jesus schaut sie in großer Traurigkeit an und sagt: «Ihr habt es eilig. Das ist wahr. Auch Gott hat es eilig, euch zu richten. Geht nur 1» Dann sagt er zu denen, die jene tadeln: «Schimpft sie nicht! Jeder Baum trägt seine Frucht.»

«Herr! Wiederhole die Geste des Nehemias! Erhebe deine Stimme gegen sie, Hoherpriester, der du bist!» ruft Jairus erzürnt, und die Apostel, die getreuen Jünger und jene von Kapharnaum pflichten ihm bei.

Jesus breitet seine Arme kreuzförmig aus. Leichenblaß ist er, ein wahres Bild des Schmerzes, und doch sanft. Er ruft aus: «Gedenke meiner, o mein Gott, in deiner Huld! Und erinnere dich auch ihrer zum Guten! Ich verzeihe ihnen!»

Die Synagoge leert sich, und es bleiben nur die Jesus Treugebliebenen zurück ... und ein Fremdling in einer Ecke. Ein kräftiger Mann, dem niemand Beachtung schenkt, mit dem niemand spricht, und auch er spricht mit niemandem. Unentwegt schaut er auf Jesus, so sehr, daß der Meister den Blick in seine Richtung wendet, ihn sieht und Jairus fragt, wer er ist.

«Ich weiß es nicht. Sicher ein Durchreisender.»

Jesus fragt ihn: «Wer bist du?»

«Nikolaus, ein Proselyt von Antiochia. Ich bin auf dem Weg nach Jerusalem, um dort das Passahfest zu feiern.»

«Wen suchst du?»

«Dich, Herr, Jesus von Nazareth. Ich habe den Wunsch, mit dir zu reden.»

«Komm!» Und als er bei ihm angelangt ist, geht Jesus mit ihm in den Garten hinter der Synagoge, um ihn anzuhören.

«Ich habe in Antiochia mit einem deiner Jünger gesprochen, der Felix heißt, und hatte den brennenden Wunsch, dich kennenzulernen. Er hat mir gesagt daß dein Aufenthaltsort Kapharnaum sei und daß deine Mutter in Nazareth lebt, und auch, daß du nach Gethsemane oder nach Bethanien gehen würdest. Der Ewige fügte es, daß ich dir in der Synagoge begegnet bin. Ich war schon gestern hier... und ich war heute Morgen in deiner Nähe, als du nahe der Quelle beim Gebet weintest... Ich liebe dich, Herr, denn du bist heilig und sanft. Ich glaube an dich, an deine Handlungen. Deine Worte haben mich bereits zum Deinigen gemacht, und die

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Barmherzigkeit, die du soeben den Schuldigen gezeigt hast, hat mich in meinem Entschluß gefestigt. Herr, nimm mich an Stelle jener an, die dich verlassen! Ich komme zu dir mit allem, was ich habe: mit dem Leben und den Gütern.» Er ist bei den letzten Worten niedergekniet.

Jesus schaut ihn fest an... dann sagt er: «Komm, von heute an gehörst du dem Meister. Wir wol