Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben
Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise
kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht
verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte.
Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es
ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle
stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu
halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte
Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren
Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.
Das Werk kann man hier
in Buchform erwerben:
Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch
Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
Band VI:
Drittes Jahr des öffentlichen Lebens Jesu (Fortsetzung)
365. Sturm und Wunder auf dem Schiff. S. 9
366. Ankunft und Landung in Seleucia. S. 14
367. Von Seleucia nach Antiochia. S. 18
368. Sie begeben sich nach Antigonea. S. 25
369. Der Abschied von Antiochia. S. 32
370. Die Rückkehr der acht Apostel in Achsib. S. 43
371. Aufenthalt in Achsib mit sechs Aposteln. S. 51
372. Verkündigung der Frohen Botschaft auf dem Wege nach Phönizien. S. 53
373. Jesus in Alexandroscenae. S. 57
374. Am Tag danach in Alexandroscenae. S. 61
375. Der Hirte Ann begleitet Jesus nach Achsib. S. 75
376. Die Kananäische Mutter. S. 80
377. Bartholomäus versteht den Grund. S. 91
378. Auf dem Rückweg nach Galiläa. S. 96
379. Begegnung mit Judas Iskariot und Thomas. S. 98
380. Ismael Ben Fabi. S. 106
381. Jesus mit seinen Vettern und mit Petrus und Thomas in Nazareth. S. 119
382. Die gekrümmte Frau von Chorazim. S. 123
383. Der unfruchtbare Feigenbaum; Auf dem Weg nach Sefed. S. 127
384. Auf dem Weg nach Meiron. S. 134
385. Am Grabe Hillels in Gischala. S. 138
386. Der an der phönizischen Grenze geheilte Taubstumme. S. 145
387. Jesus in Kedes. S. 150
388. Auf dem Weg nach Caesarea Philippi. S. 159
389. In Caesarea Philippi. S. 164
390. Auf der Burg von Caesarea Philippi. S. 171
391. Jesus sagt zum ersten Mal seine Leiden voraus; Petrus wird getadelt. S.
175
392. Prophezeiungen über Petrus und Margziam; Der Blinde Bethsaida. S. 185
393. Von Kapharnaum nach Nazareth mit Manaen den Jüngerinnen. S. 188
394. Die Verklärung die Heilung des Epileptiker. S. s200
395. Belehrung der Apostel nach der Verklärung. S. 210
396. Die Tempelabgabe und die Münze im Schlund des Fisches. S. 212
397. Der Grösste im Himmelreich. Der kleine Benjamin von Kapharnaum. S. 216
398. Benjamin blieb treu bis in den Tod. S. 229
399. Die zweite Brotvermehrung. S. 229
400. Das geistige Wunder der Vermehrung des Wortes. S. 232
401. Das Brot das vom Himmel. S. 234
402. Der neue Jünger: Nikolaus von Antiochia. S. 247
403. Jesus auf dem Weg nach Gadara. S. 253
404. Die Nacht in Gadara und die Abreise; Die Ehescheidung. S. 259
405. Jesus in Pella. S. 269
406. Jenseits Jabes Galaadim Hause des Matthias. S. 277
407. Die geheilte 'Aussätzige' (Die Rose von Jericho). S. 285
408. Wunder am Jordan bei Hochwasser. S. 297
409. Am anderen Ufer; Begegnungen mit der Mutter. S. 307
410. In Rama; Die Zahl der Auserwählten. S. 313
411. Jesus im Tempel; Vaterunser; Gleichnis über die Söhne. S. 321
412. Jesus in Gethsemane und in Bethanien. S. 330
413. Die Briefe aus Antiochia. S. 343
414. Der Donnerstag vor dem Passafest (Erster Teil). S. 354
415. Der Donnerstag vor dem Passafest (Zweiter Teil: Im Tempel ). S. 356
416. Der Donnerstag vor dem Passafest (Dritter Teil: Verschiedene
Unterweisungen). S. 366
417. Der Donnerstag vor dem Passafest (Vierter Teil: Im Haus der Johanna). S.
372
418. Der Donnerstag vor dem Passafest (Fünfter Teil). S. 388
365. STURM UND WUNDER AUF DEM
SCHIFF
Das Mittelmeer ist eine riesige,
grünblaue Wasserfläche, auf der sich hohe Wellen mit schaumigen Kämmen türmen.
Kein Dunst ist heute weit und breit zu sehen. Aber das Meerwasser zerstäubt
bei den ständigen Brechern und verwandelt sich in salzigen, brennenden Gischt,
der durch die Kleider dringt, die Augen rötet, die Nase reizt und die Luft
erfüllt wie ein dichter Nebel. Alle Dinge scheinen wegen der kleinen
Salzkristalle wie mit Mehlstaub überzogen. Allerdings nur da, wo die
klatschenden Wellen oder die starken Sturzseen hingelangen, die das Deck von
der einen zur anderen Seite überspülen, indem sie über die Reling schlagen und
dann durch die Löcher wieder ins Meer zurückfließen.
Das Schiff hebt und senkt sich
wie ein Halm in der Gewalt des Ozeans. Es ist zu einem Nichts geworden und
knarrt und ächzt vom Kiel bis zum Mastbaum... Das Meer ist wahrhaftig zum
Gebieter geworden, der das Schiff zu seinem Spielzeug macht...
Außer den Diensttuenden ist
niemand mehr an Deck, und auch keine Ware mehr. Nur die Rettungsboote und die
Seeleute, besonders der Kreter Nikomedes, die fast völlig nackt sind und
schwankend, wie auch das Schiff schwankt, hin und her laufen, um Vorkehrungen
zu treffen und zu manövrieren, was aber auf dem überfluteten, glitschigen Deck
immer schwieriger wird.
Die verriegelten Schiffsluken
gestatten nicht zu sehen, was auf dem Deck vor sich geht. Aber ich kann mir
denken, daß die Menschen drinnen nicht gerade ruhig sind...
Ich verstehe auch nicht, wo sich
das Schiff nun befindet, denn ringsum ist nur Meer, und das Ufer, das sehr
gebirgig zu sein scheint – es sind wirkliche Berge, nicht nur Hügel – ist
fern. Ich glaube, es muß schon mehr als ein Tag seit der Abreise vergangen
sein, denn es sieht so aus, als ob es Morgen wäre, da die Sonne, die hinter
dichten Wolken hervorkommt und wieder verschwindet, von Osten her scheint.
Ich glaube, daß das Schiff trotz
des heftigen Schaukelns doch langsam vorwärtskommt, aber das Meer scheint
immer unruhiger zu werden.
Mit ohrenbetäubendem Krachen
stürzt der obere Teil des Mastbaumes herab und reißt, erfaßt von einer sich
über das Deck ergießenden Wasserflut und einem gleichzeitigen Wirbelwind, ein
Stück der Reling ein.
Diejenigen, die sich im Innern
des Schiffes befinden, müssen das Gefühl haben, Schiffbruch zu erleiden... Und
tatsächlich sieht man bald
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darauf, daß eine Luke geöffnet
wird und das graue Haupt des Petrus zum Vorschein kommt. Er schaut umher und
kann gerade noch rechtzeitig die Luke wieder schließen, um zu verhindern, daß
ein Wasserfall zu ihm hinunterströmt. Doch als sich die Wellen einen
Augenblick beruhigen, öffnet er wieder und springt heraus. Er klammert sich an
die Haltestangen und beobachtet diese Hölle von einem Meer, stößt als einzigen
Kommentar einen Pfiff aus und knurrt.
Nikomedes sieht ihn und schreit:
«Fort, fort! Schließ die Luke. Wenn das Schiff Wasser aufnimmt, gehen wir
unter. Ich bin schon froh, wenn ich die Ladung nicht über Bord werfen muß...
Ich habe noch nie ein solches Unwetter erlebt! Fort, sage ich dir! Ich will
keine Leute vom Festland hier. Dies hier ist keine Arbeit für Gärtner und ...»
Er kann nicht weiterreden, denn eine neue Welle fegt über das Deck.
«Siehst du?» schreit er Petrus
zu, der von Wasser trieft.
«Ich sehe es. Aber es regt mich
nicht auf. Ich kann nicht nur Gärten pflegen. Ich bin am Wasser geboren, zwar
nur an einem See... aber auch der See! ... Bevor ich Gärtner wurde, war ich
Fischer, und weiß...»
Petrus ist ganz gelassen und
weiß, sich mit seinen gespreizten, muskulösen Beinen auf dem schwankenden
Schiff im Gleichgewicht zu halten. Der Kreter beobachtet ihn, während er
versucht, sich ihm zu nähern.
«Hast du keine Angst», fragt er
ihn.
«Nicht im Traume!»
«Und die anderen?»
«Drei sind Fischer wie ich, das
heißt, sie waren es einmal... Die anderen, mit Ausnahme des Kranken, sind
starke Leute.»
«Auch die Frau? ... Paß auf! Paß
auf! Halte dich fest!»
Eine neue Wasserflut stürzt mit
Macht über das Deck. Petrus wartet, bis sie vorüber ist, und sagt dann: «Diese
Abkühlung hätte ich im Sommer brauchen können... Geduld! Du hast gefragt, was
die Frau tut? Sie betet... und du tätest gut daran, es auch zu tun. Aber wo
befinden wir uns denn jetzt genau? In der Meerenge von Zypern?»
«Wenn es nur so wäre! Dann würde
ich an der Insel anlegen und abwarten, bis die Elemente sich beruhigt haben.
Wir sind kaum auf der Höhe der Siedlung Julia, oder Berytus, wenn dir das
besser gefällt. Aber jetzt kommt das Schlimmste... Das dort sind die Berge des
Libanon.»
«Könntest du nicht die Ortschaft
dort anlaufen?»
«Der Hafen ist nicht gut, es gibt
Klippen und Riffe. Es geht nicht. Aufgepaßt!»
Wieder ein Wirbelwind, und
abermals bricht ein Stück vom Mastbaum ab, und trifft einen Mann, der nur
deshalb nicht weggeschwemmt wird, weil die Wellen ihn gegen ein Hindernis
geschleudert haben.
«Geh hinein, geh hinein! Siehst
du?»
«Ich sehe, ich sehe... Aber jener
Mann ... ?»
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«Wenn er nicht tot ist, wird er
wieder zu sich kommen. Ich kann nicht auch noch auf ihn aufpassen... siehst
du! ...» Der Kreter muß wirklich ein Auge auf alles und das Leben aller haben.
«Bringe ihn mir. Die Frau wird
ihn pflegen...»
«Alles, was du willst, aber geh
weg! ...»
Petrus bewegt sich kriechend zu
dem reglosen Mann hin, packt ihn an einem Fuß und zieht ihn zu sich heran. Er
schaut ihn an und pfeift... Dann murmelt er: «Sein Kopf ist gespalten wie ein
reifer Granatapfel. Der Herr müßte hier sein... Oh, wenn er hier wäre! Herr
Jesus! Mein Meister, warum hast du uns verlassen?» Ein großer Schmerz liegt in
seiner Stimme...
Er nimmt den Sterbenden auf seine
Schulter, wobei er sich gehörig mit dessen Blut befleckt, und kehrt zur Luke
zurück. Der Kreter ruft ihm zu: «Vergebliche Mühe. Nichts mehr zu machen. Du
siehst es ja... !»
Aber Petrus gibt ihm, obwohl er
so schwer beladen ist, ein Zeichen, als wolle er sagen: «Wir werden sehen»,
und er drückt sich an einen Mast, um einer neuen Woge zu entgehen. Dann öffnet
er die Luke und schreit: «Jakobus, Johannes, kommt her!» und mit ihrer Hilfe
läßt er den Verletzten hinab, steigt selbst hinunter und verriegelt die Luke.
Beim rauchenden Licht der
Öllampen sehen sie, daß Petrus blutbefleckt ist, und fragen: «Bist du
verletzt?»
Ich nicht. Das Blut ist von dem
da... Aber... betet nur, daß... Syntyche, schau her! Du hast einmal zu mir
gesagt, daß du Verwundete pflegen kannst. Schau dir diesen Kopf an...»
Syntyche läßt den sehr leidenden
Johannes von Endor, den sie bis dahin gestützt hat, los, um zum Tisch zu
gehen, auf den man den Unglücklichen gelegt hat, und betrachtet ihn.
«Eine schlimme Wunde! Zweimal
habe ich eine solche bei Sklaven gesehen. Der eine wurde von seinem Herrn
geschlagen und der andere in Kaprarola von einem Steinschlag getroffen. Ich
brauche Wasser, viel Wasser, um die Wunde reinigen und das Blut stillen zu
können...»
«Wenn du nur Wasser willst... das
gibt es mehr als genug! Komm, Jakobus, nimm den Zuber. Zu zweit geht es
besser.»
Sie gehen hinaus und kommen
triefend zurück. Syntyche wäscht mit den eingetauchten Tüchern das Blut ab und
legt Umschläge auf den Nacken... Aber es ist eine schlimme Wunde. Von der
Schläfe bis zum Nacken ist der Knochen freigelegt. Dennoch öffnet der Mann
etwas die Augen, stöhnt und röchelt. Instinktiv ergreift ihn die Angst,
sterben zu müssen...
«Sei beruhigt, jetzt wirst du
wieder gesund», tröstet ihn mütterlich die Griechin. Sie sagt es auf
Griechisch, da es seine Sprache ist.
Der Mann, so benommen er auch
ist, schaut Syntyche erstaunt, mit einem schwachen Lächeln an, weil er seine
Muttersprache hört, und sucht
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nach ihrer Hand ... Im leidenden
Mann erwacht das Kind, das sich in solchen Fällen stets nach einer Frau sehnt,
die ihm Mutter ist.
«Ich versuche es mit der Salbe
von Maria», sagt Syntyche, als das Blut nicht mehr so stark fließt.
«Aber sie hilft doch gegen
Schmerzen...» bemerkt Matthäus, der totenbleich geworden ist, ich weiß nicht,
ob wegen des Meeres, wegen des Blutes, oder wegen beidem.
«Oh, Maria hat sie mit ihren
Händen zubereitet! Und ich verwende sie und bete dabei... Betet auch ihr!
Schaden kann es nicht. Öl ist immer heilsam ...»
Sie geht zur Tasche des Petrus,
holt, glaube ich, ein bronzenes Gefäß hervor, öffnet es, entnimmt ihm etwas
Salbe und erwärmt diese im Deckel des Gefäßes an einer Lampe. Dann gießt sie
die Salbe auf ein gefaltetes Linnen, gibt es auf die Kopfwunde, und legt mit
Linnenstreifen einen festen Verband an. Dann bettet sie das Haupt des
Verletzten, der sich allmählich zu beruhigen scheint, auf einen
zusammengerollten Mantel und setzt sich betend an seine Seite. Auch die
anderen beten.
Oben geht das Getöse weiter,
während das Schiff unaufhörlich auf und nieder stampft. Nach einer Weile
öffnet sich die kleine Luke und ein Seemann stürzt herein.
«Was ist los?» fragt Petrus.
«Wir sind in Gefahr. Ich komme,
um Weihrauch und Gaben für ein Opfer zu holen ...»
«Lass diese Geschichten!»
«Aber Nikomedes will der Venus
ein Opfer darbringen, denn wir sind auf ihrem Meere ...»
«Das genauso stürmisch ist wie
sie», murmelt Petrus leise. Dann sagt er etwas lauter: «Kommt mit! Wir gehen
auf Deck. Vielleicht gibt es etwas zu tun... Hast du Angst, bei dem Verletzten
und den beiden zu bleiben?» Damit sind Matthäus und Johannes von Endor
gemeint, welchen die Seekrankheit alle Kräfte genommen hat.
«Nein, nein, geht nur», antwortet
Syntyche.
Während sie sich auf Deck
begeben, begegnen sie dem Kreter, der versucht, den Weihrauch anzuzünden, und
sie wütend anschreit, um sie zurückzuschicken: «Aber seht ihr denn nicht, daß
wir ohne ein Wunder Schiffbruch erleiden? Zum ersten Mal! Zum ersten Mal, seit
ich zur See fahre!»
«Paß auf, jetzt wird er dann
gleich sagen, daß wir die Unheilbringer sind!» flüstert Judas des Alphäus.
Tatsächlich schreit der Mann noch
lauter: «Ihr verfluchten Israeliten, was habt ihr an euch? Ihr hebräischen
Hunde, ihr habt mich verwünscht! Geht weg! Jetzt bringe ich der aufsteigenden
Venus ein Opfer dar...»
«Nein, durchaus nicht! Wir werden
opfern ...»
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«Geht weg! Ihr seid Heiden, ihr
seid Dämonen, ihr seid...»
«Höre nur, was er sagt! Ich
schwöre dir, wenn du uns machen läßt, wirst du das Wunder sehen!»
«Nein! Fort mit euch!» und er
zündet den Weihrauch an und schüttet, so gut er kann, Flüssigkeiten ins Meer,
die er zuvor geopfert und gekostet hat, und ebenso Pulver, die ich nicht
kenne. Doch die Wellen löschen den Weihrauch aus, und anstatt sich zu
beruhigen, wütet das Meer immer wilder und schwemmt alle Gegenstände des Ritus
und beinahe auch Nikomedes selbst fort...
«Deine Göttin gibt dir eine
schöne Antwort! Nun sind wir dran. Auch wir haben eine. Sie ist aber reiner
als dieses Schaumgebilde... Sing, Johannes, sing wie gestern, und wir werden
einstimmen, und dann wollen wir sehen! ...»
«Ja, wir werden sehen! Aber wenn
es schlimmer wird, dann werfe ich euch als Sühneopfer ins Meer.»
«Gut. Los, Johannes!»
Johannes stimmt sein Lied an, in
das die anderen einfallen und sogar Petrus, der, da er unmusikalisch ist,
sonst nie singt. Der Kreter schaut sie mit verschränkten Armen und einem halb
erstaunten, halb spöttischen Lächeln an.
Nach Beendigung des Liedes beten
sie mit ausgebreiteten Armen. Es muß das "Vater unser" sein; doch sie sagen es
auf Hebräisch und ich verstehe nichts. Danach singen sie noch lauter, und so
wechseln sie ohne Unterbrechung mit Gesang und Gebet ab, ohne sich um die
Wellen zu kümmern, die ihnen ins Gesicht schlagen. Sie halten sich nicht
einmal am Geländer fest, und doch stehen sie so sicher da, als ob sie mit dem
Holz des Decks verwachsen wären. Und wirklich verlieren die Wellen langsam an
Wildheit. Sie beruhigen sich nicht völlig, wie auch der Sturm sich nicht
gänzlich legt: doch ist das Toben von kurz zuvor vorbei und die Wogen
erreichen das Deck nicht mehr.
Der verwunderte Gesichtsausdruck
des Kreters ist ein Gedicht... Petrus betrachtet ihn verstohlen und hört dabei
nicht auf zu beten. Johannes lächelt und singt lauter... Die anderen stimmen
in seinen Gesang ein und übertönen bald deutlich das Getöse der Wellen, das
nach und nach abnimmt, so wie auch das Meer ruhiger wird und der Wind sich
legt.
«Und jetzt? Was sagst du nun?
...»
«Aber was habt ihr denn gesagt?
Was ist dies für eine Formel?»
«Die des wahren Gottes und der
heiligen Jungfrau. Hisse nur die Segel und bringe sie wieder in Ordnung.
Dort... ist das nicht eine Insel?»
«Ja, es ist Zypern... Und das
Meer ist in der Enge noch ruhiger... Seltsam! Aber wer ist dieser Stern, den
ihr anbetet? Wohl auch Venus, nicht wahr?»
«Den ihr verehrt, sagt man. Nur
Gott betet man an. Aber nicht Venus,
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sondern Maria ist es. Maria von
Nazareth, Maria die Jüdin, die Mutter Jesu, des Messias von Israel.»
«Und das andere, was war das? Das
war kein reines Hebräisch ...»
«Nein, es war die Mundart unserer
Heimat am See. Aber das können wir dir, der du ein Heide bist, nicht sagen. Es
war das Gespräch mit Jahwe, und nur die Gläubigen können es verstehen. Leb
wohl, Nikomedes, und weine dem, was versunken ist, nicht nach. Ein... Zauber
weniger, der dir Unglück bringt. Leb wohl... He! Bist du zur Salzsäule
erstarrt?»
«Nein... Aber... Verzeiht... Ich
habe euch vorhin beschimpft!»
«Oh, das macht nichts!
Auswirkungen des... des Venuskultes. Kommt, ihr Burschen, gehen wir zu den
anderen...» und Petrus nähert sich glücklich lächelnd der kleinen Türe.
Der Kreter folgt ihnen: «Hört!
Was ist mit dem Mann geschehen? Ist er tot?»
«Aber nein! Vielleicht können wir
ihn dir bald gesund zurückgeben... Noch ein Scherz unserer... Zauberei...»
«Oh, verzeiht, verzeiht! Aber
sagt, wo kann man sie erlernen, um sich damit Hilfe zu verschaffen? Ich wäre
bereit, dafür zu bezahlen ...»
«Leb wohl, Nikomedes. Es ist eine
lange Geschichte... und nicht erlaubt. Heilige Dinge soll man nicht den Heiden
geben! Leb wohl! Alles Gute, Freund! Alles Gute!»
Petrus begibt sich, von allen
gefolgt, nach unten und lacht, während auch die ruhige See lacht und ein guter
Nordwestwind bläst, der die Schifffahrt begünstigt. Die Sonne geht unter, und
im Osten zeigt sich ein Mond, der schon zum Vollmond neigt...
366. ANKUNFT UND LANDUNG IN
SELEUCIA
In einem herrlichen
Sonnenuntergang erscheint die Stadt Seleucia, eine Ansammlung weißer Gebäude
am Ende der blauen Wasser des ruhigen, friedlichen Meeres. Ein heiteres
Wellenspiel, das sich mit dem wolkenlosen Kobalt des Himmels und dem Purpurrot
des Sonnenunterganges vermischt. Das Schiff steuert mit seinen geblähten
Segeln rasch auf die ferne Stadt zu, die sich für das Fest der bevorstehenden
Ankunft mit Freudenfeuern zu entzünden scheint, so sehr hat sie die sinkende
Sonne mit ihren Farben bemalt.
Auf Deck stehen die Passagiere
inmitten der Seeleute, die nun nicht mehr geschäftig und unruhig sind, und
betrachten das immer näher kommende Ziel. Neben Johannes von Endor, der noch
hagerer aussieht als bei der Abreise, sitzt der verletzte Seemann. Sein Kopf
ist noch mit einer leichten Binde umwickelt und wegen des großen Blutverlustes
ist er bleich
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wie Elfenbein. Doch er lächelt
und spricht mit seinen Rettern und den Kameraden, die ihn im Vorbeigehen
beglückwünschen, da sie ihn nun wieder an Deck sehen.
Auch der Kreter bemerkt ihn und
verläßt kurz seinen Posten, den er dem Haupt der Schiffsmannschaft übergibt,
um hinzugehen und seinen "guten Demetrios" zu begrüßen, der nach seiner
Verletzung zum ersten Mal an Deck gekommen ist.
«Besten Dank euch allen», sagt er
zu den Aposteln. «Ich habe nicht geglaubt, daß er noch davonkommen würde,
nachdem er von dem schweren Mast und dem noch schwereren Eisen getroffen
worden war. Wahrlich, o Demetrios, sie haben dich dem Leben zurückgegeben,
denn du warst nicht nur einmal, sondern zweimal tot. Das erste Mal, als du auf
Deck lagst, durch den Blutverlust ohnmächtig wurdest und durch den Wellengang
ins Reich des Neptun zu den Nereiden und Tritonen geschleppt worden wärest,
und das zweite Mal, als du mit diesen wunderbaren Salben geheilt worden bist.
Zeige mir nun deine Wunde!»
Der Mann löst die Binde und zeigt
die gut verheilte, glatte Narbe, die wie ein roter Strich am Haaransatz – die
Haare sind vielleicht von Syntyche etwas abgeschnitten worden – von der
Schläfe bis zum Nacken verläuft.
Nikomedes fährt mit den Fingern
leicht über dieses Mal: «Auch der Knochen ist gut zusammengewachsen. Die Venus
des Meeres war dir gut gesinnt! Sie wollte dich nur an der Meeresoberfläche
und an den Gestaden Griechenlands haben. Möge Eros dir gewogen sein, jetzt, da
wir an Land gehen, und möge er dir die Erinnerung an das Unglück und den
Schrecken des Thanatos nehmen, der dich schon umklammerte.»
Welch ein Mienenspiel auf dem
Gesicht des Petrus, während er sich alle diese gewählten, mythologischen
Phrasen anhören muß. An den Mast eines Segels gelehnt, die Arme hinter dem
Rücken, sagt er kein Wort, doch alles an ihm läßt darauf schließen, daß er
daran ist, dem Heiden Nikomedes eine gesalzene Antwort zu geben, um seinen
ganzen Abscheu vor dem Heidentum zum Ausdruck zu bringen.
Auch die anderen sind in der
gleichen Lage... Judas des Alphäus hat das verschlossene Gesicht seiner
schlimmsten Augenblicke und sein Bruder ist in sich versunken und zeigt mehr
Interesse für das Meer. Jakobus des Zebedäus und Andreas ziehen es vor, die
andern zu verlassen und hinabzusteigen, um das Gepäck und den Webstuhl zu
holen. Matthäus spielt mit seinem Gürtel und der Zelote tut es ihm nach, indem
er seine Sandalen betrachtet, als ob sie etwas Neues wären. Johannes des
Zebedäus läßt sich vom Anblick des Meeres entrücken.
So offenkundig sind Verachtung
und Langeweile der acht Apostel – ebenso das Schweigen der beiden Jünger, die
bei dem Verletzten sitzen – daß der Kreter es bemerkt und sich entschuldigt:
«Es ist unsere Religion,
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wißt ihr? So wie ihr an eure
glaubt, so glaube ich, und wir alle, an unsere...»
Niemand antwortet ihm, und der
Kreter sieht ein, daß es besser ist, seine Götter in Ruhe zu lassen und vom
Olymp zur Erde oder besser aufs Meer, auf sein Schiff, zurückzukehren und die
Apostel zu bitten, sich auf das Vorderdeck zu begeben, um sich die näher
kommende Stadt anzusehen... «Seht ihr? Seid ihr schon einmal hier gewesen?»
«Ich einmal, doch bin ich auf dem
Landweg gereist», sagt der Zelote ernst und kurz.
«Ah, gut! Dann weißt du also, daß
der wirkliche Hafen von Antiochia Seleucia ist, daß er am Meere an der Mündung
des Orontes liegt und auch Schiffe aufnehmen kann; in der wasserreichen Zeit
kann man auf leichten Barken bis nach Antiochia hinauffahren. Das, was ihr
dort seht, ist Seleucia, die eigentliche Stadt, das andere im Süden ist keine
Stadt, es sind nur die Ruinen einer verwüsteten Ortschaft. Sie täuschen, aber
es ist ein toter Ort. Die Bergkette dort ist das Pieria-Gebirge, nach dem die
Stadt Seleucia Pieria genannt wird. Jene Anhöhe im Landesinnern, jenseits der
Ebene, ist der Berg Casius, der sich wie ein Riese in der Ebene von Antiochia
erhebt. Die Kette im Norden ist das Amanus-Gebirge. Oh, ihr werdet sehen, was
für Bauwerke die Römer in Seleucia und Antiochia errichtet haben! Größere
hätten sie nicht errichten können. Ein Hafen mit drei Becken, einer der
besten, sowie Kanäle, Werften und Dämme. So etwas gibt es in Palästina nicht.
Doch Syrien verhält sich besser als andere Provinzen des Reiches...»
Seine Worte treffen auf eisiges
Schweigen. Auch Syntyche, die als Griechin weniger zurückhaltend ist als die
anderen, verschließt die Lippen, und ihr Gesicht erinnert mehr denn je an die
Schärfe eines auf eine Medaille ziselierten oder in ein Flachbildwerk
gemeißelten Antlitzes: an das Antlitz einer Göttin, die jede Berührung mit
irdischen Dingen verachtet.
Der Kreter bemerkt dies und
entschuldigt sich: «Was soll ich euch sagen, im Grunde genommen mache ich
meine Geschäfte mit den Römern ...»
Die Antwort der Syntyche ist
scharf wie ein Schwerthieb: «Das Gold nimmt dem Schwert der nationalen Ehre
und Freiheit die Schärfe», und sie sagt es auf eine solche Art und in einem so
perfekten Latein, daß der andere wie vom Donner gerührt dasteht...
Schließlich wagt er zu fragen:
«Bist du nicht Griechin?»
«Ich bin Griechin. Aber dir
gefallen die Römer. Ich spreche zu dir in der Sprache deiner Herren, nicht in
meiner, jener meines gequälten Vaterlandes.»
Der Kreter ist verwirrt, und die
Apostel sind insgeheim begeistert über die Lektion, die sie dem Lobredner der
Römer erteilt hat. Dieser hält es
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für besser, das Thema zu
wechseln, und erkundigt sich, mit welchem Transportmittel sie wohl Antiochia
erreichen könnten.
«Zu Fuß, Mann», antwortet Petrus.
«Aber es dämmert schon. Es wird
Nacht sein, wenn ihr an Land geht...»
«Wir werden schon einen Platz zum
Schlafen finden.»
«Oh, gewiß! Aber ihr könntet bis
morgen auch hier schlafen...»
Judas Thaddäus, der gesehen hat,
daß man schon alles für ein Opfer zu Ehren der Götter herbeigetragen hat, das
vielleicht bei der Ankunft im Hafen dargebracht werden soll, sagt: «Das ist
nicht notwendig. Wir sind dir dankbar für deine Güte, doch wir ziehen es vor,
an Land zu gehen. Nicht wahr, Simon?»
«Ja, ja. Auch wir müssen unsere
Gebete verrichten und ... du betest zu deinen Göttern und wir zu unserem
Gott.»
«Tut, was ihr für richtig haltet.
Es wäre mir eine Freude gewesen, dem Sohn des Theophilus einen Liebesdienst zu
erweisen.»
«Auch wir wollten dem Sohne
Gottes einen Liebesdienst erweisen, indem wir dich davon überzeugen, daß es
nur einen Gott gibt. Aber du läßt dich von deiner felsenfesten Überzeugung
nicht abbringen. Wie du siehst, geht es uns wie dir. Doch wer weiß, ob wir uns
nicht eines Tages wiedersehen werden und ob du dann weniger hartnäckig sein
wirst ...» sagt der Zelote ernst.
Nikomedes macht eine Gebärde, wie
um zu sagen: «Wer weiß, wann?» Es ist eine Gebärde spöttischer
Gleichgültigkeit als Antwort auf die Aufforderung, den wahren Gott
anzuerkennen und von den falschen Göttern abzulassen. Dann begibt er sich an
seinen Platz als Steuermann, denn der Hafen ist nahe.
«Laßt uns hinuntergehen und die
Kisten holen; wir machen es selber. Ich kann es nicht mehr erwarten, mich von
diesem heidnischen Gestank zu entfernen», sagt Petrus. Mit Ausnahme von
Syntyche und Johannes gehen alle hinunter.
Sie, die beiden Verbannten,
sitzen nebeneinander und betrachten das Ufer, das immer näher heranrückt.
«Syntyche, ein weiterer Schritt
ins Unbekannte, wieder eine Trennung von der süßen Vergangenheit, und wiederum
Todesangst. Syntyche... ich halte es nicht mehr aus...»
Syntyche ergreift seine Hand. Sie
ist sehr bleich und sichtlich betrübt, jedoch stets die starke Frau, die Kraft
zu vermitteln imstande ist. «Ja, Johannes: wieder eine Trennung, wiederum
Todesangst, doch darfst du nicht sagen: ein weiterer Schritt ins Unbekannte...
denn das ist nicht richtig. Wir kennen unsere Sendung hier. Jesus hat sie uns
erläutert. Wir gehen daher nicht ins Unbekannte, sondern wir verschmelzen uns
immer mehr mit dem, was wir schon kennen, mit dem Willen Gottes. Es ist auch
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nicht richtig zu sagen: "Wieder
eine Trennung", denn wir vereinigen uns ja mit seinem Willen. Eine Trennung
entzweit, wir aber vereinigen uns mit ihm, und deshalb werden wir nicht
getrennt sein. Wir entbehren nur aller fühlbaren Wonnen unserer Liebe zu ihm,
unserem Lehrer, indem wir uns die übersinnlichen Freuden vorbehalten und Liebe
und Pflicht auf eine überirdische Ebene verlegen. Bist du nicht überzeugt, daß
es so ist? Ja? Dann darfst du auch nicht sagen: "Wiederum eine Todesangst."
Todesangst setzt den bevorstehenden Tod voraus. Doch wir, die wir es erreicht
haben, die geistigen Vorhaben zu unserer Wohnstatt, unserem Odem und unserer
Nahrung zu machen, wir sterben nicht, sondern, wir "leben". Denn das Geistige
währt ewig. Daher steigen wir hinauf zu einem lebendigerem Leben, einer
Vorwegnahme des großen himmlischen Lebens. Mut also! Vergiß, daß du der Mensch
Johannes bist, und bedenke, daß du für den Himmel bestimmt bist. Überlege,
wirke, denke und hoffe einzig und allein als Bürger dieser unvergänglichen
Heimat ...»
Die anderen kommen mit ihrem
Gepäck zurück, während das Schiff majestätisch in den weiten Hafen von
Seleucia einläuft.
«Nun, beeilen wir uns, damit wir
so schnell als möglich zur erstbesten Herberge, die wir sehen, kommen. Gewiß
gibt es einige in der Nähe, und morgen ... werden wir entweder mit einem Boot
oder mit einem Wagen unser Ziel erreichen.»
Unter scharfen Kommandopfiffen
legt das Schiff an, und der Landungssteg wird hinuntergelassen.
Nikomedes nähert sich den
Scheidenden.
«Leb wohl, Mann, und besten
Dank», sagt Petrus im Namen aller.
«Sei gegrüßt, Hebräer, und Dank
auch meinerseits. Wenn ihr den Weg dort einschlagt, werdet ihr gleich eine
Herberge finden. Lebt wohl!»
Die Apostel steigen aus und gehen
nach einer Seite, und Nikomedes nach der anderen, wo sein Altar steht, und
während Petrus und die Seinen sich wie Gepäckträger beladen auf den Weg zur
Herberge machen, beginnt der Heide seinen nutzlosen Ritus...
367. VON SELEUCIA NACH ANTIOCHIA
«Auf den Märkten werdet ihr
bestimmt einen Wagen finden, doch wenn ihr meinen Wagen wollt, gebe ich ihn
euch in Erinnerung an Theophilus, denn daß ich als ruhiger Mensch lebe,
verdanke ich ihm. Er verteidigte mich, weil es gerecht war, und gewisse Dinge
vergißt man nicht», sagt der alte Gastwirt, der in der ersten Morgensonne vor
den Aposteln steht.
«Aber wir würden deinen Karren
mehrere Tage benötigen... und wer
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würde ihn lenken? Mit einem Esel
würde ich noch fertig... aber mit Pferden...»
«Das ist doch dasselbe, mein
Lieber! Ich werde dir kein unbändiges Füllen geben, sondern ein kluges
Zugpferd, sanft wie ein Lamm. Ihr werdet rasch und mühelos vorankommen und um
die neunte Stunde in Antiochia sein, umso mehr, als das Pferd den Weg kennt
und von alleine geht. Du kannst es mir zurückgeben, wann du willst, ohne daß
ich dafür etwas haben will. Ich möchte nur dem Sohn des Theophilus eine Freude
bereiten, indem ihr ihm mitteilt, daß ich ihm noch viel schulde, daß ich an
ihn denke und mich als seinen Diener betrachte.»
«Was machen wir?» fragt Petrus
die Gefährten.
«Das, was du für richtig hältst.
Entscheide du, und wir gehorchen...»
«Versuchen wir es mit dem Pferd?
Ich denke an Johannes... und es ist auch, damit wir schneller vorankommen...
Mir ist, als würde ich jemanden zum Tode führen, und ich kann es nicht
erwarten, daß alles vorbei ist...»
«Du hast recht», sagen alle.
«Gut, dann nehme ich dein Angebot
an, Mann.»
«Mir ist es eine Freude, euch
entgegenzukommen. Ich will das Gefährt vorbereiten.»
Der Wirt entfernt sich. Petrus
läßt seinen Gedanken freien Lauf.
«Ich habe in diesen wenigen Tagen
die Hälfte der mir noch verbleibenden Lebenszeit verbraucht. Welche Mühe!
Welche Mühe! Hätte ich doch den Wagen des Elias, den Mantel des Elisäus
gehabt, alles, nur um schnell voranzukommen... Vor allem hätte ich um jeden
Preis etwas finden wollen, um diesen Armen Trost zu spenden, um sie vergessen
zu lassen, um sie... Ich weiß nicht! ... Um sie nicht so sehr leiden zu
sehen... Aber wenn es mir gelingt zu erfahren, wer die Hauptschuld an diesem
Schmerz trägt, dann bin ich nicht mehr Simon des Jonas, wenn ich ihn nicht
würge, wie man einen Lappen auswringt. Das heißt noch nicht, daß ich ihn töten
würde, pfui. Aber ich würde ihm den Spaß verderben, so wie er diesen beiden
Armen die Freude und das Leben verdorben hat...»
«Du hast recht, es ist gewiß eine
große Pein, aber Jesus sagt, daß man Beleidigungen verzeihen soll...» sagt
Johannes des Alphäus.
«Wenn man es mir angetan hätte,
dann müßte ich verzeihen und wäre dazu auch imstande, denn ich bin stark und
gesund und wenn mich jemand kränkt, dann habe ich genügend Kraft um zu
reagieren und den Schmerz zu überwinden. Doch der arme Johannes! Nein, ich
kann die Kränkung nicht verzeihen, die dem Erlösten des Herrn zugefügt wurde,
einem Menschen, der dadurch vor Kummer stirbt...»
«Ich denke an die Stunde, da wir
ihn endgültig verlassen werden», seufzt Andreas.
«Ich auch. Es ist ein
unabweislicher Gedanke, der umso ausgeprägter wird, je mehr der Augenblick
näherrückt ...» findet Matthäus.
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«Machen wir schnell, aus
Mitleid», sagt Petrus.
«Nein, Simon! Verzeih, wenn ich
dich darauf aufmerksam mache, daß du im Unrecht bist, wenn du das willst.
Deine Nächstenliebe gerät auf Abwege, und so etwas sollte bei dir, der du
immer rechtschaffen bist, nicht vorkommen», sagt der Zelote ruhig, indem er
seine Hand auf die Schulter des Petrus legt.
«Warum, Simon? Du bist gebildet
und gut. Erkläre mir mein Unrecht, und wenn ich es als solches einsehe, werde
ich dir recht geben.»
«Deine Liebe wird ungesund, weil
sie sich allmählich in Egoismus verwandelt.»
«Wie? Ich gräme mich ihretwegen
und soll deshalb ein Egoist sein?»
«Ja, Bruder, weil du aus
übertriebener Liebe – jede Übertreibung ist Unordnung und führt deshalb zur
Sünde – schwach wirst. Du willst nicht leiden, indem du andere leiden siehst.
Das ist Egoismus, Bruder, im Namen des Herrn!»
«Das ist wahr! Du hast recht, und
ich bin dir dankbar, daß du mich darauf aufmerksam gemacht hast. So soll man
sich unter guten Gefährten verhalten. Gut, nun werde ich keine Eile mehr
haben... Aber sagt doch... gebt es zu... ist es nicht ein Elend?»
«Ja, ja», sagen alle.
«Wie werden wir sie verlassen
können?»
«Ich schlage vor, daß wir,
nachdem Philippus sie aufgenommen hat, vielleicht noch einige Zeit in
Antiochia versteckt bleiben und uns bei Philippus erkundigen, ob und wie sie
sich einleben...» rät Andreas.
«Nein, bei einem so plötzlichen
Abschied würden sie zu sehr leiden», sagt Jakobus des Alphäus.
«Dann nehmen wir den Rat des
Andreas zur Hälfte an. Wir bleiben in Antiochia, jedoch nicht im Hause des
Philippus, und besuchen sie in immer größer werdenden Abständen... bis wir
nicht mehr hingehen», sagt der andere Jakobus.
«Das wäre ein immer wieder
erneuerter Schmerz und eine grausame Enttäuschung. Nein, so geht es nicht»,
sagt Thaddäus.
«Was sollen wir tun, Simon?»
«Ach, was weiß ich! Lieber wäre
ich an ihrer Stelle, als sagen zu müssen: "Lebt wohl"», sagt Petrus verzagt.
«Ich möchte etwas vorschlagen.
Wir gehen mit ihnen zu Philippus und verweilen dort. Dann gehen wir zusammen
nach Antigonea – es ist ein freundlicher Ort – und bleiben eine Weile dort.
Wenn sie sich dann eingelebt haben, ziehen wir uns zurück, schmerzerfüllt,
aber mit fester Entschlossenheit. Dies wäre mein Vorschlag, es sei denn, daß
Petrus nicht andere Anweisungen vom Meister erhalten hat», sagt Simon der
Zelote.
«Ich? Nein. Er hat zu mir gesagt:
"Mach alles gut, liebevoll, ohne Trägheit, ohne Hast, so wie du es für richtig
hältst." Bis jetzt scheint mir,
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daß ich danach gehandelt habe.
Ich kann mir nur vorwerfen, gesagt zu haben, daß ich Fischer bin! ... Aber,
wenn ich das nicht gesagt hätte, hätte er mich nicht auf Deck gelassen.»
«Mach dir keine dummen Vorwürfe,
Simon. Das sind Einflüsterungen des Bösen, um dich zu beunruhigen», tröstet
Thaddäus.
«O ja, genau das. Ich glaube, daß
er uns mehr denn je nachstellt, uns Hindernisse in den Weg legt und Angst
einjagt, um uns zur Feigheit zu verleiten», sagt der Apostel Johannes und fügt
leise hinzu: «Ich glaube, daß er die beiden zur Verzweiflung treiben wollte,
indem er sie in Palästina zurückhielt ... und nun, da sie seinen
Nachstellungen entgangen sind, rächt er sich an uns.. Ich fühle ihn in meiner
Nähe wie eine im Gras versteckte Schlange, ja, schon seit Monaten verspüre ich
dies. Doch da kommt der Gastwirt von der einen, und Johannes mit Syntyche von
der anderen Seite. Ich werde euch das übrige sagen, wenn wir allein sind,
falls es euch interessiert.»
In der Tat nähert sich von der
einen Seite des Hofes das schwere Gefährt mit einem vorgespannten kräftigen
Pferd, das vom Wirt geführt wird, während von der anderen Seite die beiden
Jünger kommen.
«Ist es Zeit, aufzubrechen?»
fragt Syntyche.
«Ja, es ist Zeit. Bist du warm
gekleidet, Johannes? Geht es dir besser mit deinen Schmerzen?»
«Ja, ich bin in Wolldecken
eingehüllt, und das Einreiben mit der Salbe hat mir gut getan.»
«Dann steig auf, wir kommen auch
gleich...»
Nachdem sie ihr Gepäck aufgeladen
haben und alle aufgestiegen sind, fahren sie zum weiten Tore hinaus, gefolgt
von wiederholten Beteuerungen des Gastwirts über die Fügsamkeit des Pferdes.
Sie überqueren einen Platz, der
ihnen genannt wurde, und schlagen eine Straße längs der Stadtmauer ein. Dann
verlassen sie die Stadt durch ein Tor und fahren zunächst an einem tiefen
Kanal und schließlich am Fluß selbst entlang.
Es ist eine schöne, gut gepflegte
Straße, die in Richtung Nordosten führt, aber stets den Windungen des Flusses
folgt. Auf der anderen Seite sieht man die an ihren Hängen, in ihren
Einschnitten und Schluchten tiefgrünen Berge, und an sonnigen Stellen weisen
die Äste des Unterholzes schon unzählige Knospen auf.
«Wie viele Myrten!» ruft Syntyche
aus.
«Und Lorbeer!» fügt Matthäus
hinzu.
«In der Nähe von Antiochia ist
ein dem Apollo geweihter Ort», sagt Johannes von Endor.
«Vielleicht haben die Winde die
Samen bis hierher geweht...»
«Vielleicht. Aber hier wachsen
die verschiedensten schönen Pflanzen», sagt der Zelote.
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«Du bist schon hier gewesen,
glaubst du, daß wir an Daphne vorbeikommen?»
«Gewiß. Ihr werdet eines der
schönsten Täler der Welt sehen. Abgesehen von dem zu obszönen und immer wilder
werdenden Orgien ausgearteten Kult, ist es ein Tal des irdischen Paradieses,
und wenn dort der Glaube Einzug hält, wird es ein wahres Paradies werden. Oh,
wieviel Gutes werdet ihr dort tun können! Ich wünsche euch aufnahmebereite
Herzen, so fruchtbar wie Erdboden», sagt der Zelote, um tröstliche Gedanken in
den beiden zu wecken. Doch Johannes neigt das Haupt, und Syntyche seufzt.
Das Pferd trabt gleichmäßigen
Schrittes dahin, und Petrus schweigt und ist ganz angespannt mit dem Lenken
beschäftigt, obwohl das Tier sehr sicher geht und weder Antrieb noch Führung
benötigt. Sie kommen daher ziemlich rasch voran, bis sie bei einer Brücke
anhalten, um etwas zu essen und das Tier ausruhen zu lassen. Die Sonne steht
im Mittag, und die schöne Natur erstrahlt in ihrer ganzen Pracht.
«Aber... ich ziehe es doch vor,
hier zu sein, statt auf dem Meere», sagt Petrus, indem er sich umschaut.
«Welch eine Unwetter!»
«Der Herr hat für uns gebetet.
Ich habe ihn in meiner Nähe gespürt, als wir auf Deck gebetet haben... und
zwar so nahe, als wäre er mitten unter uns ...» sagt Johannes lächelnd.
«Wo wird er wohl sein? Ich finde
keinen Frieden, wenn ich daran denke, daß er keine Kleider zum Wechseln hat,
wenn er naß wird? Was wird er wohl essen? Er ist imstande zu fasten...»
«Du kannst sicher sein, daß er es
tut, um uns dadurch zu helfen», sagt Jakobus des Alphäus mit Nachdruck.
«Auch noch aus einem anderen
Grunde. Unser Bruder ist seit einiger Zeit sehr betrübt. Ich glaube, daß er
sich unaufhörlich kasteit, um die Welt zu besiegen», sagt Thaddäus.
«Du willst wohl sagen, den Dämon,
der auf der Welt ist», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Das ist dasselbe.»
«Doch mein Herz ist voll von
tausend Ängsten, daß es ihm nicht gelingen wird...» seufzt Andreas.
«Oh! Nun da wir fern sind, wird
alles besser gehen», sagt Johannes von Endor etwas verbittert.
«So darfst du nicht denken. Du
und sie, ihr wart nichts im Vergleich zu den "großen Fehlern" des Messias in
den Augen der Großen Israels», sagt Thaddäus mit Bestimmtheit.
«Bist du dessen sicher? Zu meinem
Leiden hat sich auch noch dieser Stachel in meinem Herzen gesellt: daß mein
Kommen die Ursache war, daß Jesus viel Unrecht geschehen ist. Wäre ich sicher,
daß es nicht so ist, würde ich weniger leiden», sagt Johannes von Endor.
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«Hältst du mich für glaubwürdig,
Johannes?» fragt Thaddäus.
«Ja, selbstverständlich!»
«Dann versichere ich dir im Namen
Gottes und in meinem eigenen Namen, daß du Jesus nur ein Leid zugefügt hast:
jenes, das er dich hierher schicken mußte. Mit allen seinen anderen Leiden,
den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, hast du nichts zu tun.»
Das erste Lächeln nach so vielen
traurigen Tagen der Niedergeschlagenheit erhellt das eingefallene Gesicht des
Johannes von Endor, der sagt: «Welch eine Erleichterung verschaffst du mir!
Der Tag scheint mir strahlender, mein Leiden erträglicher, mein Herz ist
ruhiger... Danke, Judas des Alphäus. Danke!»
Sie besteigen wieder den Wagen,
fahren über die Brücke und nehmen die Straße am anderen Ufer, die durch eine
äußerst fruchtbare Gegend nach Antiochia führt.
«Seht dort! In dem malerischen
Tal liegt Daphne mit seinem Tempel und seinen Hainen, und dort, in der Ebene,
ist Antiochia mit seinen turmbewehrten Stadtmauern. Wir werden die Stadt durch
das Tor beim Fluß betreten. Das Haus des Lazarus ist nicht weit von der Mauer
entfernt. Seine schönsten Häuser sind verkauft worden. Dieses einzige, das er
behalten hat, diente einst als Aufenthaltsort für die Diener und die Kunden
des Theophilus. Es ist mit vielen Pferdeställen und Getreidespeichern
ausgestattet. Nun lebt Philippus dort. Ein guter alter Mann, ein Getreuer des
Lazarus. Ihr werdet euch dort wohlfühlen. Dann werden wir uns zusammen nach
Antigonea begeben, wo das Haus war, das Eucheria mit ihren Kindern bewohnt
hat, die damals noch klein waren ...»
«Diese Stadt scheint gut
befestigt zu sein, nicht wahr?» fragt Petrus, der nun aufatmet, da er sieht,
daß sein erster Versuch als Wagenlenker geglückt ist.
«Sehr gut. Mauern von
eindrucksvoller Höhe und Breite, über hundert Türme, die, wie ihr seht, auf
der Mauer stehenden Riesen gleichen, und unten die Gräben, die unüberwindlich
sind. Auch der Silpius hat seine Gipfel zur Verteidigung der Stadt und zur
Verstärkung der Mauer an ihrer schwächsten Stelle hergegeben ... Hier ist das
Tor. Es ist besser, du hältst an und gehst hinein, indem du das Pferd am Zügel
führst. Ich werde dir den Weg weisen, denn ich kenne ihn ...»
Sie fahren durch das von den
Römern bewachte Tor.
Johannes, der Apostel, sagt: «Wer
weiß, ob der Soldat vom Fischtor hier ist ... Jesus würde sich freuen, es zu
erfahren.»
«Wir werden ihn suchen, doch nun
beeile dich», befiehlt Petrus, von dem Gedanken beunruhigt, in ein fremdes
Haus gehen zu müssen.
Johannes gehorcht ohne Widerrede,
schaut aber jeden Soldaten, den er sieht, genau an.
Nach einer kurzen Wegstrecke
erblickt man ein solide gebautes,
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einfaches Haus, oder vielmehr
eine hohe Mauer ohne Fenster, und in der Mitte ein Tor.
«Wir sind da, halt an», sagt der
Zelote.
«O Simon! Sei so gut, sprich du
jetzt.»
«Aber ja, wenn ich dir damit
einen Gefallen tun kann, will ich reden», und der Zelote klopft an das schwere
Tor. Er gibt sich als Bote des Lazarus zu erkennen und geht allein hinein.
Dann kehrt er mit einem hochgewachsenen, würdevollen Greis zurück, der sich
tief verneigt und einem Diener befiehlt, das Tor zu öffnen, um Pferd und Wagen
einzulassen. Er entschuldigt sich, daß er sie alle hier und nicht durch die
Haustüre eintreten läßt.
Der Wagen bleibt in einem weiten
Hof stehen, der von einer Säulenhalle umgeben ist und in dem vier große
Platanen in den Ecken stehen und zwei in der Mitte zum Schutz eines Brunnens
und eines Beckens, das als Pferdetränke dient.
«Sorge du für das Pferd»,
gebietet der Verwalter dem Diener. Dann wendet er sich an die Gäste: «Ich
bitte euch, tretet ein. Gott, der mir seine Diener und die Freunde meines
Herrn sendet, sei gesegnet. Befehlt, und euer Diener wird euch gehorchen.»
Petrus errötet, denn diese Worte
und Verbeugungen gelten ihm, und er weiß nicht, was er sagen soll... Der
Zelote kommt ihm zu Hilfe.
«Die Jünger des Messias von
Israel, von denen Lazarus des Theophilus dir berichtet und die von nun an in
deinem Hause leben werden, um dem Herrn zu dienen, brauchen nichts als Ruhe.
Würdest du uns zeigen, wo sie wohnen können?»
«Oh, es sind immer Zimmer für
Pilger bereit, wie es schon zu den Zeiten meiner Herrin Brauch war. Kommt,
kommt...» und, von allen gefolgt, geht er einen Gang entlang und dann über
einen kleinen Hof, in dessen Hintergrund sich das eigentliche Haus befindet.
Er öffnet die Türe, geht durch eine Vorhalle und wendet sich dann nach rechts.
Sie gelangen zu einer Treppe und steigen hinauf. Wiederum ein Korridor mit
Zimmern auf beiden Seiten.
«Wir sind angelangt, und ich
wünsche euch einen angenehmen Aufenthalt. Nun werde ich für Wasser und Wäsche
sorgen. Gott sei mit euch», sagt der Greis und entfernt sich.
In den Räumen, die sie gewählt
haben, öffnen sie die Fensterläden. Auf der einen Seite sieht man die Mauern
und die Festungen von Antiochia, auf der anderen den ruhigen Innenhof mit den
Kletterrosen, die nun der Jahreszeit entsprechend einen etwas elenden Anblick
bieten.
Nach der langen Reise endlich ein
Heim, ein Zimmer, ein Bett... Ein zeitweiliger Aufenthalt für die einen, das
Ziel für die anderen...
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368. SIE BEGEBEN SICH NACH
ANTIGONEA
«Mein Sohn Tolmai ist zum Markt
gekommen. Heute, zur sechsten Stunde, wird er nach Antigonea zurückkehren. Es
ist ein milder Tag. Wollt ihr nun mit ihm gehen?» fragt der alte Philippus,
während er den Gästen dampfende Milch anbietet.
«Wir werden ganz gewiß mitgehen.
Wann, hast du gesagt?»
«Um die sechste Stunde. Ihr könnt
morgen wiederkommen, wenn ihr wollt, oder am Vorabend des Sabbat, wenn euch
dies angenehmer ist. Dann werden alle Diener, die Juden sind oder den
jüdischen Glauben angenommen haben, zum Gottesdienst des Sabbat kommen.»
«So werden wir es machen. Es ist
nicht gesagt, daß die beiden sich nicht dort niederlassen werden.»
«Es würde mich freuen, auch wenn
ich sie dadurch verliere, denn das Klima dort ist sehr heilsam, und sie
könnten unter den Dienern, von denen einige schon beim alten Herrn im Dienst
waren, viel Gutes wirken. Andere sind dank der Güte der gesegneten Herrin
dort, die sie von grausamen Besitzern freigekauft hat. Daher sind nicht alle
Israeliten, aber auch nicht mehr wirkliche Heiden. Ich spreche von den Frauen.
Die Männer sind alle beschnitten. Ihr braucht keinen Abscheu zu empfinden...
Doch sie sind noch weit von der Gerechtigkeit Israels entfernt. Die Heiligen
des Tempels würden Anstoß an ihnen nehmen, sie, die vollkommen sind...»
«Sie, ja, ja! ... Gut! Nun werden
sie Fortschritte machen können, indem sie von den Gesandten des Herrn Wissen
und Güte empfangen... Hört ihr, wieviel ihr zu tun habt?» schließt Petrus,
indem er sich an die beiden wendet.
«Wir werden es tun und werden den
Meister nicht enttäuschen», verspricht Syntyche und geht hinaus, um das Nötige
vorzubereiten.
Johannes von Endor fragt
Philippus: «Glaubst du, daß ich in Antigonea auch anderen etwas behilflich
sein könnte, indem ich als Erzieher arbeite?»
«Sehr gut. Der alte Plautus ist
seit drei Monaten tot, und die heidnischen Kinder haben keine Schule. Was die
jüdischen betrifft, so fehlt ihnen der Lehrer, denn all die unsrigen fliehen
aus jenem Ort bei Daphne. Es bräuchte einen, der... der ist... wie Theophilus
war... ohne Härte gegen... gegen...»
«Ja, ohne Pharisäertum, willst du
wohl sagen», beendet Petrus schleunigst.
«So ist es, ja... Ich will
niemanden kritisieren... aber ich denke... verwünschen hilft nicht. Besser
wäre es, zu helfen... Wie es die Herrin tat, die mit ihrem Lächeln mehr
Menschen zum Gesetz hinführte als ein Rabbi.»
«Gerade deshalb hat mich der
Meister hierher gesandt. Ich bin genau
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der Mensch, der dazu die
richtigen Voraussetzungen hat... Oh, ich werde seinen Willen tun bis zum
letzten Atemzug. Nun glaube ich wirklich und bin überzeugt davon, daß meine
Sendung nichts anderes ist als eine bevorzugte, besondere Mission. Ich werde
es Syntyche sagen, und ihr werdet sehen, daß wir uns dort niederlassen werden.
Ich gehe, um es ihr zu sagen.»Begeistert wie schon lange nicht mehr, geht er
hinaus.
«Höchster Herr, ich danke dir und
preise dich. Er wird noch leiden, doch nicht mehr wie früher... Ach, welch
eine Erleichterung!» ruft Petrus aus, und fühlt sich sodann verpflichtet,
Philippus auf seine Art über den Grund seiner Freude einigermaßen aufzuklären.
«Du mußt wissen, daß Johannes von den... "Unbeugsamen" Israels aufs Korn
genommen worden ist. Du nennst sie: die "Unbeugsamen"...»
«Ach, ich verstehe! Ein politisch
Verfolgter, wie... wie...» und betrachtet den Zeloten.
«Ja, wie ich, und mehr noch aus
anderen Gründen. Mehr als durch seine Zugehörigkeit zu einer unterschiedlichen
Kaste, erregte er sie durch seine Zugehörigkeit zum Messias. Daher, und dies
sei ein für allemal gesagt, sind er und sie deiner Treue anvertraut...
Verstehst du?»
«Ich verstehe und werde mich
danach richten.»
«Wie wirst du sie den anderen
vorstellen?»
«Als zwei Erzieher, die mir von
Lazarus des Theophilus empfohlen worden sind: er für die Knaben, sie für die
Mädchen. Ich sehe, daß sie Stickereien und Webstühle hat... Und in Antiochia
werden viele Handarbeiten von Frauen hergestellt und an Fremde verkauft. Doch
sind es plumpe, grobe Arbeiten. Gestern habe ich einmal eine Arbeit gesehen,
die mich an meine gute Herrin erinnert hat... diese werden sehr gefragt sein
...»
«Einmal mehr sei der Herr
gepriesen», sagt Petrus.
«Ja, das wird uns den Abschied
vor unserer baldigen Abreise erleichtern.»
«Wollt ihr denn schon abreisen?»
«Wir müssen! Das Unwetter hat uns
eine Verzögerung auf unserer Reise verursacht, und zu Anfang des Schebat
müssen wir beim Meister sein. Wir haben uns verspätet und er wartet schon auf
uns», erklärt Thaddäus.
Sie trennen sich und jeder geht
seinen Obliegenheiten nach, Philippus zu einer Frau, die nach ihm fragt, und
die Apostel steigen auf eine sonnige Anhöhe.
«Wir könnten am Tag nach dem
Sabbat abreisen. Was meint ihr?» fragt Jakobus des Alphäus.
«Sofort einverstanden... Stell
dir vor, jeden Morgen erwache ich mit dem quälenden Gedanken an Jesus, der
allein ist, ohne Kleider und ohne einen Menschen, der sich seiner annimmt, und
jeden Abend lege ich mich mit derselben Sorge zu Bett. Doch heute werden wir
uns entscheiden.»
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«Sagt einmal, wußte denn der
Meister über alle diese Dinge Bescheid? Seit Tagen frage ich mich, wie er
wissen konnte, daß wir den Kreter finden würden, wie er die Arbeit des
Johannes und der Syntyche vorhersehen konnte und wie, wie... viele Dinge
eben», sagt Andreas.
«Ich nehme an, daß sich der
Kreter zu bestimmten Zeiten regelmäßig in Seleucia aufhält. Vielleicht hat
Lazarus dies Jesus gesagt, und deshalb hat er ihre Abreise beschlossen, ohne
das Osterfest abzuwarten ...» erklärt der Zelote.
«Ja! Sicher! Doch wie wird sich
Johannes an Ostern verhalten?» fragt Jakobus des Alphäus.
«Nun, wie alle Israeliten ...»
sagt Matthäus.
«Nein, das würde heißen, dem Wolf
in den Rachen laufen.»
«Wieso, wer wird ihn unter so
vielen Menschen entdecken?»
«Der Iskar... Oh, was sage ich!
Denkt nicht daran. Es ist ein Scherz meines Geistes...» Petrus errötet,
beschämt über seinen Ausspruch.
Judas des Alphäus legt ihm eine
Hand auf die Schulter, und mit einem Lächeln auf seinem mehr oder weniger
ernsten Gesicht fügt er hinzu: «Ach was! Wir denken doch alle dasselbe... aber
sagen wir es niemandem, und danken wir dem Ewigen dafür, daß er den Geist des
Johannes vor dieser Vermutung verschont hat.»
Alle schweigen nachdenklich. Aber
als echte Israeliten machen sie sich Sorgen darüber, wie der verbannte Jünger
Ostern in Jerusalern wird feiern können... und sie nehmen dieses Gespräch
erneut auf.
«Ich glaube, daß Jesus vorsorgen
wird, und daß es Johannes wahrscheinlich weiß; wir brauchen ihn ja nur zu
fragen», sagt Matthäus.
«Tut es nicht. Weckt nicht
Sehnsucht und Kummer, wo der Friede eben erst wieder einkehrt», fleht der
Apostel Johannes.
«Ja, es ist besser, den Meister
selbst zu fragen», bestätigt Jakobus des Alphäus.
«Wann werden wir ihn sehen? Was
meint ihr?» fragt Andreas.
«Oh, wenn wir am Tage nach dem
Sabbat abreisen, werden wir bestimmt am Ende des Monats in Ptolemais sein ...»
sagt Jakobus des Zebedäus.
«Vorausgesetzt, daß wir ein
Schiff finden ...» bemerkt Judas Thaddäus.
Sein Bruder fügt hinzu: «Und wenn
kein Unwetter kommt.»
«Schiffe nach Palästina gibt es
immer, und wenn wir zahlen, werden wir in Ptolemais von Bord gehen können,
selbst wenn das Schiff nach Joppe fährt. Hast du noch Geld, Simon?» fragt der
Zelote den Petrus.
«Ja, obwohl mich der Dieb von
einem Kreter trotz seinen Beteuerungen, er wolle Lazarus einen Gefallen
erweisen, ordentlich geschröpft hat. Doch muß ich noch für die Aufbewahrung
des Bootes und des Esels bezahlen... Den Betrag, der mir für Johannes und
Syntyche gegeben wurde,
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rühre ich nicht an, er ist mir
heilig. Selbst wenn wir nichts zu essen hätten, würde ich ihn nicht antasten.»
«Du hast recht. Jener Mann ist
sehr krank und glaubt, als Erzieher arbeiten zu können; ich aber bin
überzeugt, daß er bald zu gebrechlich sein wird ...» meint der Zelote.
«Ja, das glaube ich auch.
Syntyche wird mehr Salben als Handarbeiten herstellen müssen», bestätigt
Jakobus des Zebedäus.
«Aber die Salbe! Welch ein
Wunder! Syntyche hat mir gesagt, sie wolle sie wiederum herstellen und
verwenden, um damit Zugang zu den hiesigen Familien zu finden», sagt Johannes.
«Eine gute Idee! Ein Kranker, der
gesund wird, ist immer ein gewonnener Jünger, und mit ihm seine Angehörigen!»
ruft Matthäus aus.
«Oh, sag das nicht!»
wiederspricht ihm Petrus.
«Wie? Willst du damit sagen, daß
Wunder die Menschen nicht zum Herrn führen?» fragt Andreas, und mit ihm zwei
oder drei andere.
«O Kinder! Es scheint, als ob ihr
gerade vom Himmel gefallen wäret. Aber seht ihr denn nicht, was man Jesus
antut? Hat sich Eli von Kapharnaum etwa bekehrt? Und Doras? Und Oseas von
Chorazim? Und Melchias von Bethsaida? Und – entschuldigt, ihr von Nazareth –
und ganz Nazareth nach den fünf, sechs, zehn geschehenen Wundern, bis zum
letzten, dem an eurem Neffen?» fragt Petrus.
Niemand widerspricht ihm, denn es
ist die bittere Wahrheit.
«Wir haben den römischen Soldaten
noch nicht gefunden. Jesus hat es uns zu verstehen gegeben...» sagt Johannes
nach einer Weile.
«Wir werden es denen sagen, die
zurückbleiben. Es wird dies ein Ansporn mehr in ihrem Leben sein», antwortet
der Zelote.
Philippus kehrt zurück: «Mein
Sohn ist bereit. Er hat sich beeilt und ist nun bei der Mutter, welche die
Geschenke für die Enkel vorbereitet.»
«Deine Schwiegertochter ist gut,
nicht wahr?»
«Ja, sehr gut. Sie hat mich über
den Tod meines Joseph hinweggetröstet. Sie ist wie eine Tochter. Einst war sie
eine Magd der Eucheria und wurde von ihr erzogen. Kommt und stärkt euch vor
der Abreise. Die anderen sind schon dabei.»
Dem Wagen des Tolmai, des Enkels
von Philippus, folgend, begeben sie sich nach Antigonea... Das Städtchen ist
bald erreicht. Es ist in üppige Gärten eingebettet und durch eine Hügelkette,
die sich in einem angemessenen Abstand befindet, um nicht bedrückend zu
wirken, vor den Winden geschützt; doch liegt sie nahe genug, um den Ort zu
schützen, und über ihn die Düfte des Harzes der Wälder und der Gewürzpflanzen
auszuströmen. Unter der warmen Sonne erquickt Antigonea das Auge und das Herz
schon beim Durchwandern.
Die Gärten des Lazarus liegen im
Süden der Stadt, und eine Allee, deren Bäume nun kahl sind und an der sich die
Häuser der Gärtner reihen,
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führt dorthin. Ich sehe niedrige
gepflegte Häuser, an deren Türen sich Kinder und Frauen zeigen, die neugierig
herumschauen und lächelnd grüßen. An den verschiedenen Gesichtern erkennt man
die Rassen.
Kaum hat Tolmai das Tor hinter
sich, bei dem das Besitztum beginnt, knallt er vor jedem Haus auf besondere
Art mit seiner Peitsche, was wohl ein Zeichen sein muß. Gleich darauf gehen
die Leute in ihre Häuser, kommen wieder heraus, schließen die Türe und laufen
hinter den beiden Karren her, die langsam fahren und dann in der Mitte eines
runden Platzes anhalten, von dem aus, gleich den Speichen eines Rades, Wege in
alle Richtungen führen. Rundherum sind Felder, wie Beete angelegt, einige
brach, andere mit immergrünen Gewächsen. Sie werden von Lorbeer- oder
Akazienbäumen geschützt, und von noch anderen Bäumen, die aus Einschnitten in
ihren Rinden wohlriechende Milch und Harze absondern. Ein Gemisch von
balsamischen und harzigen Aromen liegt in der Luft. Bienenstöcke überall.
Bewässerungsbecken, an denen schneeweiße Tauben trinken. In besonderen Arealen
scharren im frischgepflügten unbepflanzten Erdreich weiße Hühner, die von
Kindern gehütet werden.
Tolmai knallt mehrere Male mit
seiner Peitsche, bis alle Untergebenen seines kleinen Reiches sich um die
Angekommenen versammelt haben.
Dann beginnt er seine Ansprache:
«Also, Philippus, unser Oberhaupt, der Vater meines Vaters, schickt und
empfiehlt euch diese Heiligen Israels, die auf Wunsch unseres Herrn hierher
gekommen sind. Gott möge ihn und sein Haus stets beschützen. Viele haben sich
beklagt, daß hier die Stimmen heiliger Lehrer fehlen. Seht, nun hat die Güte
Gottes und unseres Herrn, der zwar fern ist, uns jedoch liebt – Gott möge ihm
alles vergelten, was er Gutes an seinen Dienern tut – uns gewährt, was unser
Herz ersehnt. In Israel ist der allen Völkern Verheißene erschienen. Man hat
es uns bei den Festen im Tempel und im Hause des Lazarus gesagt. Nun ist für
uns wahrlich die Zeit der Gnade angebrochen, denn der König Israels hat an die
Geringsten unter seinen Knechten gedacht und seine Diener ausgesandt, damit
sie uns seine Worte verkünden. Diese sind seine Jünger, und zwei von ihnen
werden bei uns, hier oder in Antiochia, leben und die Wahrheit lehren, damit
wir weise seien für den Himmel, und wissen, was auf Erden notwendig ist.
Johannes ist Lehrer und ein Jünger Christi. Er wird unsere Kinder die eine und
die andere Weisheit lehren. Syntyche, eine Jüngerin und Meisterin der Nadel,
wird den Mädchen die Wissenschaft der Liebe Gottes und die Kunst der
weiblichen Arbeiten beibringen. Nehmt sie auf als einen Segen des Himmels und
liebt sie, wie Lazarus des Theophilus und der Eucheria sie liebt – Ehre und
Friede ihren Seelen – und wie die Töchter des Theophilus sie lieben: Martha
und Maria, unsere geliebten Herrinnen und Jüngerinnen Jesu von Nazareth, des
Rabbi Israels, des Verheißenen, des Königs.»
Die kleine Gruppe, Männer mit
kurzen Tuniken bekleidet und
29
Gartengeräte in ihren erdigen
Händen, Frauen und Kinder jeglichen Alters, hört erstaunt zu, flüstert, und
verneigt sich schließlich tief.
Tolmai beginnt mit Jer
Vorstellung der einzelnen Personen: «Simon des Jonas, das Haupt der Gesandten
des Herrn; Simon der Kananäer, ein Freund unseres Herrn; Jakobus und Judas,
Brüder des Herrn; Jakobus und Johannes, Andreas und Matthäus.» Dann wendet er
sich an die Apostel und Jünger: «Anna, meine Frau, aus dem Geschlechte Juda,
wie auch meine Mutter; denn wir sind rein und sind mit Eucheria aus Judäa
gekommen. Joseph, der dem Herrn geweihte Knabe, und Theocheria, die Älteste,
die in ihrem Namen das Andenken an den gerechten Herrn und die gerechte Herrin
vereint; eine weise Tochter, die Gott als wahre Israelitin liebt; Nikolaus und
Dositheus. Nikolaus ist Nasiräer. Dositheus, der Drittgeborene, ist schon seit
mehreren Jahren mit Hermione verheiratet (ein tiefer Seufzer begleitet diese
Ankündigung). Komm her, Frau ...»
Eine sehr junge Brünette nähert
sich mit einem Säugling im Arm.
«Hier ist sie! Sie ist die
Tochter eines Proselyten und einer Griechin. Mein Sohn sah sie in
Alexandroscenae in Phönizien, als er geschäftehalber dort war, und wollte sie
zur Frau haben; Lazarus widersetzte sich mir nicht, sondern sagte: "Besser so,
als zum Bösen, und es ist ja nichts Schlimmes dabei." Doch ich hätte ein
Geblüt aus Israel vorgezogen.»
Die arme Hermione steht wie eine
Angeklagte mit geneigtem Haupt da. Dositheus zittert und leidet. Anna, die
Mutter und Schwiegermutter, hat einen traurigen Blick...
Johannes, obgleich der Jüngste
von allen, fühlt sich angetrieben, die gedemütigten Seelen zu trösten, und
sagt: «Im Reiche des Herrn werden es nicht mehr Griechen oder Israeliten,
Römer oder Phönizier sein, sondern einzig und allein Kinder Gottes. Wenn du
einst durch diese beiden Jünger das Wort Gottes kennenlernen wirst, dann wird
sich dein Geist zu neuem Licht erheben, und diese hier wird nicht mehr "die
Fremde" sein, sondern wie du und alle anderen, eine Jüngerin unseres Herrn
Jesus.»
Hermione hebt das gedemütigte
Haupt und lächelt Johannes dankbar zu. Auch auf den Gesichtern des Dositheus
und der Anna ist der gleiche Ausdruck der Dankbarkeit sichtbar.
Tolmai antwortet ernst: «Gott
möge es so fügen, denn außer ihrer Abstammung habe ich der Schwiegertochter
nichts vorzuwerfen. Das Kind in ihren Armen ist Alphäus, der Jüngste, der von
ihrem Vater, einem Proselyten, den Namen bekommen hat. Die Kleine mit den
himmelblauen Augen, die unter den ebenholzfarbenen Locken hervorschauen, ist
Myrtiche; ihr Name ist der der Mutter Hermiones; dieser, der Erstgeborene,
heißt Lazarus, weil der Herr es so gewünscht hat, und der andere ist Hermas.»
«Das fünfte Kind soll Tolmai
heißen, und das sechste Anna, um dem Herrn und den Menschen zu bezeugen, daß
sich dein Geist neuen Einsichten geöffnet hat», sagt wieder Johannes.
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Tolmai verneigt sich stumm. Dann
fährt er fort: «Diese beiden sind Geschwister aus Israel: Miriam und Silvanus,
aus dem Stamme Nephthali; diese hier sind Elbonides, Danita und Simon, ein
Judäer. Dann hier die Proselyten, früher Römer oder zumindest römischer
Abstammung, die dank der Liebe der Eucheria dem Joch des Sklaventums und des
Heidentums entrissen wurden: Lucius, Marcellus und Solon, der Sohn des
Elatheus.»
«Ein griechischer Name», bemerkt
Syntyche.
«Aus Thessalien. Sklave eines
Dieners Roms», und Verachtung spricht aus den Worten: «Ein Diener Roms!» «Eucheria
nahm ihn in einer schweren Stunde zusammen mit seinem sterbenden Vater auf.
Auch wenn der Vater als Heide gestorben ist, so ist doch Solon Proselyt...
Priscilla, komm mit den Kindern nach vorne...»
Eine hochgewachsene, hagere Frau
mit einem Adlergesicht tritt vor. Sie schiebt ein Mädchen und einen Knaben vor
sich her, während sich zwei kleine Kinder an ihren Rock hängen.
«Das ist die Frau des Solon, die
Freigelassene einer bereits verstorbenen Römerin, und ihre Kinder Marius und
Cornelia sowie die Zwillinge Maria und Martilla. Priscilla ist sehr kundig im
Zubereiten von Essenzen. Amiclea, komm mit den Kindern. Sie ist eine Tochter
von Proselyten, und Proselyten sind auch die beiden Knaben Cassius und
Theodor. Thekla, versteck dich nicht! Sie ist die Frau des Marcellus. Ihr Leid
ist, unfruchtbar zu sein. Auch sie ist ein Kind des Proselyten. Das sind die
Gärtner. Nun gehen wir zu den Gärten. Kommt!»
Er führt sie durch das
ausgedehnte Besitztum, gefolgt von den Gärtnern, die ihre Kulturen und die
Gartenarbeiten erklären, während die Kinder zu ihren Hühnern zurückkehren, die
die Abwesenheit ihrer Hüter abgenützt haben, um sich in andere Gärten zu
zerstreuen.
Tolmai erklärt: «Sie werden
hierher gebracht, um die Schollen vor der alljährlichen Aussaat von den Raupen
zu säubern.»
Johannes lächelt über die
gackernden Hühner und sagt: «Sie sind wie die meinen von früher» und beugt
sich nieder, um Brotkrumen zu streuen, die er aus der Tasche geholt hat, so
daß er bald von Hühnern umringt ist und lachen muß, weil eines von ihnen ihm
gierig das Brot aus der Hand pickt.
«Ach, welch ein Glück!» ruft
Petrus aus, indem er Matthäus mit dem Ellbogen anstößt und auf Johannes, der
sich mit den Hühnern vergnügt, und auf Syntyche, die mit Solon und Hermione
Griechisch spricht, deutet. Dann kehren sie zum Haus Tolmais zurück, der
erklärt: «Das wäre der Ort. Doch wenn ihr unterrichten wollt, dann können wir
Platz schaffen. Nun, bleibt ihr hier oder ...»
«Ja, Syntyche! Hier! Es ist
schöner. Antiochia bedrückt mich mit Erinnerungen», bittet Johannes leise
seine Gefährtin.
31
«Aber ja... Wie du willst, wenn
es dir gefällt, ist mir alles recht. Ich schaue nicht mehr zurück... nur noch
vorwärts, vorwärts ... Mut, Johannes! Hier wird es uns gut gehen. Kinder,
Blumen, Tauben und Hühner für uns arme Geschöpfe, und für unsere Seelen die
Freude, dem Herrn dienen zu dürfen. Was sagt ihr dazu?» fragt sie, sich den
Aposteln zuwendend.
«Wir sind derselben Meinung wie
du.»
«Dann soll es dabei bleiben.»
«Sehr gut! So können wir
zufrieden abreisen ...»
«Oh, reist noch nicht ab! Ich
werde euch nie wiedersehen! Warum jetzt schon? Warum? ...» Johannes fällt in
seine Trübsal zurück.
«Aber wir reisen doch nicht jetzt
ab. Wir bleiben hier... bis du ...» Doch Petrus weiß nicht, wie er sich
Johannes gegenüber ausdrücken soll, und um zu verbergen, daß auch er den
Tränen nahe ist, umarmt er den weinenden Johannes und versucht, ihn auf diese
Weise zu trösten.
369. DER ABSCHIED VON ANTIOCHIA
Die Apostel befinden sich
wiederum im Haus zu Antiochia, und bei ihnen sind die beiden Jünger und alle
Männer aus Antigonea; letztere tragen jetzt nicht mehr die geschürzten
Arbeitskleider, sondern lange, festliche Gewänder. Daraus schließe ich, daß es
Sabbat sein muß.
Philippus bittet die Apostel,
wenigstens einmal vor der kurz bevorstehenden Abreise zu allen zu sprechen.
«Worüber?»
«Worüber ihr wollt. Ihr habt in
diesen Tagen unsere Gespräche gehört, richtet euch danach.»
Die Apostel schauen einander an.
Wer ist dran ?
Petrus, natürlich. Er ist das
Haupt! Doch Petrus möchte nicht sprechen, er möchte Jakobus des Alphäus oder
Johannes des Zebedäus diese Ehre überlassen. Erst als er sieht, daß diese sich
unerbittlich zeigen, entschließt er sich zu reden.
«Heute haben wir in der Synagoge
gehört, wie das 52. Kapitel des Isaias erklärt wurde; dem Geist der Welt
entsprechend sehr gelehrt, jedoch im Licht der Weisheit betrachtet, war diese
Auslegung sehr mangelhaft.
Doch man kann den Erläuterer
deshalb nicht tadeln, denn mit seinem beschränkten Wissen hat er sein Bestes
gegeben; aber ihm fehlt die Kenntnis über den Messias und die mit ihm
beginnende Zeit. Wir wollen nicht kritisieren, sondern beten, auf daß er diese
beiden Gnaden erkenne und sie ohne Widerstand annehme.
Ihr habt mir gesagt, daß ihr am
Passahfest mit Glauben als auch mit Verachtung über den Meister habt reden
hören, und daß ihr nur dank des
32
großen Glaubens, der die Herzen
aller im Hause des Lazarus erfüllt, das Unbehagen, das die Verdächtigungen der
anderen in euch erregte, ertragen konntet, umso mehr, als diese anderen
ausgerechnet die Rabbis von Israel waren.
Doch, gelehrt sein heißt weder
heilig sein, noch die Weisheit besitzen.
Die Wahrheit ist diese: Jesus von
Nazareth ist der verheißene Messias, der Erlöser, von dem die Propheten
sprechen. Der letzte dieser Propheten ruht seit kurzem im Schoß Abrahams,
nachdem er den ruhmvollen Märtyrertod für die Gerechtigkeit erlitten hat.
Johannes der Täufer hat gesagt – und hier sind einige zugegen, die diese Worte
gehört haben – : "Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt."
Die Demütigsten unter den
Anwesenden haben seinen Worten geglaubt, weil die Demut hilft, zum Glauben zu
gelangen. Dagegen erreichen die mit viel nutzlosem Tand beladenen Stolzen den
Gipfel des Berges, auf dem der Glaube rein und leuchtend lebt, nur mühsam. Die
Demütigen aber haben es verdient, die ersten in der Schar des Herrn Jesu zu
sein, weil sie voller Demut geglaubt haben.
Erkennet daher, wie notwendig die
Demut für einen bereitwilligen Glauben ist, und wie der Glaube auch gegen
allen äußeren Anschein belohnt wird.
Ich ermahne und ermuntere euch,
diese beiden Tugenden in euch zu pflegen, denn dann werdet auch ihr zum
Gefolge des Herrn gehören und das Himmelreich erwerben...
Nun bist du dran, Simon der
Zelote. Ich habe gesprochen, nun fahre du fort.»
Der Zelote, der so unvermittelt
und klar zum zweiten Redner ernannt worden ist, muß nun ohne zu zögern oder zu
widersprechen hervortreten. Er sagt:
«Ich werde die Rede des Simon
Petrus fortsetzen, der dem Willen des Herrn gemäß unser Oberhaupt ist. So
werde ich fortfahren, das 52. Kapitel des Isaias auszulegen, als einer, der
die menschgewordene Wahrheit kennt, deren Diener er für immer ist. Es steht
geschrieben: "Erwache, erwache, ziehe deine Stärke an, Sion; hülle dich in
deine Prachtgewänder, Jerusalern, heilige Stadt."
So sollte es in Wahrheit sein.
Denn wenn eine Verheißung sich erfüllt, ein Friede geschlossen, ein Urteil
aufgehoben wird, und die Zeit der Freude kommt, sollten sich Herzen und Städte
festlich kleiden und gebeugte Häupter sich erheben, da sie nun wissen, daß sie
nicht mehr verhaßt, besiegt und geschlagen, sondern geliebt und befreit sind.
Wir sind nicht hier, um über
Jerusalern zu richten. Die Liebe, die erste der Tugenden, verbietet es. Lassen
wir also davon ab, die Herzen der anderen zu betrachten, und schauen wir auf
unser eigenes. Bekleiden wir also unser Herz mit der Kraft des Glaubens, von
der Petrus eben gesprochen
33
hat. Kleiden wir uns festlich,
weil unsere jahrhundertalte Hoffnung auf den Messias nun gekrönt wird durch
die Erfüllung der Verheißung.
Der Messias, der Heilige, das
Wort Gottes, ist wirklich unter uns. Den Beweis dafür besitzen nicht nur jene
Menschen, die Worte der Weisheit, die bestärken und Heiligkeit und Frieden
einflößen hören, sondern auch die, die durch den Heiligen, dem der Vater alles
gewährt, von den schrecklichsten Krankheiten und selbst vom Tode befreit
werden, auf daß in den Ländereien und Tälern unseres Vaterlandes Israel wieder
das Hosanna auf den Sohn Davids und den Allerhöchsten erschalle; denn Gott hat
sein Wort gesandt, gemäß seiner Verheißung an die Patriarchen und Propheten.
Ich war aussätzig und dazu
verurteilt, nach Jahren grausamer Angst in der wilden Einsamkeit der
Aussätzigen zu sterben. Ein Mann sagte zu mir: "Geh zu ihm, dem Rabbi von
Nazareth, und du wirst geheilt werden." Ich hatte Glauben und ging. Ich wurde
geheilt, an Leib und Seele. Der Leib ist nun von der Seuche, die vom Menschen
trennt, befreit, und meine Seele ist frei von feindseligen Gefühlen, die von
Gott trennen. Mit neuem Mut bin ich aus einem Geächteten, Kranken, Ruhelosen
zu seinem Diener geworden, berufen zur seligen Sendung, unter die Menschen zu
gehen, um sie in seinem Namen zu lieben und sie in der einzig notwendigen
Lehre zu unterrichten: Jesus von Nazareth ist der Erlöser und alle, die an ihn
glauben, werden selig werden.
Sprich du jetzt, Jakobus des
Alphäus.»
«Ich bin der Bruder des
Nazareners. Mein Vater und sein Vater waren Brüder aus einem Schoß, und
trotzdem kann ich mich nicht Bruder nennen, sondern nur Diener, weil die
Vaterschaft Josephs, des Bruders meines Vaters, eine geistige Vaterschaft war;
und wahrlich, ich sage euch, der wahre Vater Jesu, unseres Meisters, ist der
Allerhöchste, den wir alle anbeten; er, der zugelassen hat, daß seine eine und
dreieine Gottheit in der zweiten Person Fleisch angenommen hat und auf die
Erde gekommen ist, und doch gleichzeitig mit denen im Himmel vereint bleibt.
Gott kann dies vollbringen, da er
allmächtig ist, und er vollbringt es aus Liebe, die seine Natur ist.
Jesus von Nazareth ist unser
Bruder, o Menschen, denn er ist aus einer Frau geboren worden und ist uns
durch seine Menschheit ähnlich. Er ist unser Meister, da er die Weisheit ist,
das Wort Gottes selbst, das gekommen ist, um zu uns zu sprechen und uns für
Gott zu gewinnen. Er ist unser Gott, der eins ist mit dem Vater und dem
Heiligen Geist, stets mit ihnen durch Liebe, Macht und Wesen vereint.
Diese Wahrheit, die dem
Gerechten, der mein Verwandter war, durch die an ihn ergangenen Offenbarungen
zu erkennen gewährt wurde, möge auch zu eurer Erkenntnis werden. Der Welt, die
versucht, euch von Christus loszureißen, indem sie sagt: "Er ist ein Mensch
wie alle", sollt ihr antworten: "Nein, er ist der Sohn Gottes; er ist der
Stern, der aus Jakob
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aufgegangen ist, das Zepter, das
sich aus Israel erhebt; er ist der Herrscher." Laßt euch durch nichts davon
abbringen. Das ist der Glaube!
Nun ist es an dir, Andreas.»
«Das ist der Glaube. Ich bin ein
armer Fischer vom Galiläischen Meer. In stillen Nächten beim Fischfang unter
dem Sternenschein führte ich stumme Selbstgespräche. "Wann wird er kommen?
Werde ich dann wohl noch leben? Viele Jahre fehlen noch, gemäß der
Prophezeiung." Für den Menschen mit seinem begrenzten Leben scheinen wenige
Jahrzehnte Jahrhunderte zu sein... Ich fragte mich: "Wie wird er kommen? Wo?
Wessen Sohn wird er sein." Meine menschliche Stumpfheit ließ mich träumen von
königlichem Glanz, von königlichen Palästen und Höfen, Prunk, Macht und von
unerträglicher Majestät... Dann fragte ich mich: "Wer wird diesen großen König
anblicken können?" Ich stellte ihn mir erschreckender vor als Jahwe auf dem
Sinai, und sagte mir: "Die Hebräer sahen dort den Berg aufleuchten, wurden
jedoch nicht zu Asche, weil der Ewige in dichtem Gewölk war. Aber diesmal wird
er seinen tödlichen Blick auf uns richten, und wir werden sterben..."
Ich war ein Jünger des Täufers,
und wenn ich nicht beim Fischfang war, ging ich mit Gefährten zu ihm. Es war
ein Tag dieses Monats... an den Ufern des Jordan versammelten sich viele
Menschen, die bei den Worten des Täufers erzitterten. Ich erblickte einen
schönen, ruhigen Jüngling, der auf einem Weg auf uns zukam. Bescheiden war
sein Gewand, sanft sein Gesichtsausdruck, und er schien um Liebe zu bitten und
Liebe zu schenken. Seine blauen Augen ruhten einen Augenblick auf mir, und ich
fühlte etwas, was ich noch nie empfunden hatte. Es schien mir, als sei meine
Seele liebkost und von Engelsflügeln gestreift worden. Einen Augenblick fühlte
ich mich so fern von der Erde, so verwandelt, daß ich dachte: "Nun sterbe ich.
Das ist der Ruf Gottes an meine Seele."
Doch ich bin nicht gestorben. Ich
verweilte fasziniert in der Betrachtung des unbekannten Jünglings, der seine
blauen Augen auf den Täufer gerichtet hatte. Da wandte sich der Täufer um,
lief hin und verneigte sich vor ihm. Sie sprachen miteinander, und da die
Stimme des Johannes einem ständigen Donner gleich erklang, drangen die
geheimnisvollen Worte bis zu mir. Ich hörte gespannt zu, denn ich war von dem
Wunsch beseelt zu erfahren, wer der unbekannte Jüngling wohl sein mochte.
Meine Seele ahnte, daß er anders als alle anderen war. Ich hörte: "Ich müßte
von dir getauft werden." "Warte noch. Es ziemt sich, daß alle Gerechtigkeit
erfüllt werde."
Johannes, sein Vorläufer und
letzter Prophet, hatte schon gesagt: "Es wird jener kommen, dessen Schuhriemen
zu lösen ich nicht würdig bin." Er hatte auch bereits gesagt: "Unter euch in
Israel ist einer, den ihr nicht kennt. Schon hat er die Wurfschaufel in der
Hand und wird seine Tenne säubern und das Stroh im unauslöschlichen Feuer
verbrennen."
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Ich hatte vor mir einen Jüngling
aus dem Volk, mit einem sanften, demütigen Antlitz, und doch fühlte ich, daß
es jener sein mußte, den wir nicht kannten. Aber ich fürchtete mich nicht,
denn als Johannes, nach dem unbeschreiblichen Donner Gottes und dem
unfaßlichen Lichtschein in Form einer Friedenstaube, sagte: "Hier ist das Lamm
Gottes" ' da frohlockte meine Seele, da ich in dem Jüngling mit dem sanften,
demütigen Aussehen den Messias-König erkannt hatte, und die Stimme meines
Geistes erhob sich: "Ich glaube!", und durch diesen Glauben wurde ich zu
seinem Diener. Werdet auch ihr es, und ihr werdet Frieden haben.
Nun ist es an dir, Matthäus, von
den anderen Herrlichkeiten des Herrn zu erzählen.»
«Ich kann nicht die frohen Worte
des Andreas gebrauchen. Er war stets ein Gerechter, ich aber war ein Sünder.
Deshalb sind meine Worte nicht von festlichem Gepräge, wohl aber voll des
vertrauensvollen Friedens eines Psalms.
Ich war ein Sünder, ein großer
Sünder, und lebte in vollkommenem Irrtum. Ich war darin verhärtet, fühlte ich
mich jedoch nicht beschwert. Wenn mich manchmal Pharisäer oder der
Synagogenvorsteher mit ihren Beleidigungen oder Anklagen geißelten und mich an
Gott, den unerbittlichen Richter, erinnerten, überkam mich für einen
Augenblick die Angst... doch sogleich beruhigte ich mich mit dem törichten
Gedanken: "Was soll's, ich bin ein Verdammter. Genießt, meine Sinne, solange
ihr könnt", und immer mehr versank ich in der Sünde.
Vor zwei Jahren kam ein
Unbekannter nach Kapharnaum, der auch für mich ein Unbekannter war. Für alle
war er es, denn er war noch am Anfang seiner Sendung. Nur wenige Menschen
kannten ihn als den, der er wirklich war, die hier Anwesenden und noch einige
andere. Seine strahlende Männlichkeit, reiner als die Reinheit einer Jungfrau,
setzte mich in Erstaunen und beeindruckte mich als erstes tief. Ich sah ihn
würdevoll, aber gleichzeitig bereit, die Kinder anzuhören, die zu ihm kamen
wie die Bienen zur Blume. Seine einzige Ablenkung waren ihre unschuldigen
Spiele und ihr unbefangenes Geplauder. Als nächstes setzte mich seine Macht in
Erstaunen. Er wirkte Wunder. Ich dachte, er sei ein Exorzist, ein Heiliger,
und kam mir neben ihm so schändlich vor, daß ich ihn meiden wollte.
Ich hatte jedoch den Eindruck,
daß er mich suchte, denn nicht ein einziges Mal ging er an meiner Bank
vorüber, ohne mich mit seinen sanften, etwas wehmütigen Augen anzuschauen.
Jedesmal war es wie ein plötzliches Erwachen meines abgestumpften Gewissens,
das sich ganz allmählich läuterte und nicht mehr in seiner Stumpfheit
verharrte.
Eines Tages – das Volk lobpries
stets seine Worte – sehnte ich mich danach, ihn zu hören. Ich verbarg mich
hinter einer Hausecke und hörte ihn zu einer kleinen Gruppe Menschen sprechen.
Mit einfachen Worten
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erklärte er, daß die
Nächstenliebe wie ein Ablaß für unsere Sünden sei... Von diesem Abend an
wollte ich, habgierig und hartherzig wie ich war, für alle meine vielen Sünden
Verzeihung von Gott erlangen. Ich handelte im geheimen... doch er wußte, daß
ich es war, denn er weiß alles. Ein andermal hörte ich ihn das 52. Kapitel von
Isaias auslegen. Er sagte, daß in sein Reich, das himmlische Jerusalern, keine
Unreinen und im Herzen Unbeschnittene eingehen werden, und versprach, daß
diese himmlische Stadt für alle sei, die ihm nachfolgen würden. Er beschrieb
ihre Schönheit mit so überzeugenden Worten, daß ich Sehnsucht danach
verspürte.
Dann ... dann aber... Oh! An
jenem Tag war es nicht ein trauriger, sondern einen gebieterischer Blick, der
mir galt. Er zerriß mir das Herz und ließ mich meine Seele klar erkennen. Er
traf sie wie ein Feuer. Er umklammerte sie mit seiner Hand, diese arme, kranke
Seele, und bedrängte sie mit seiner anspruchsvollen Liebe; und meine Seele war
erneuert. Voller Reue und Sehnsucht ging ich zu ihm. Er wartete nicht auf
mein: "Herr, erbarme dich!", sondern sagte: "Folge mir nach."
Der Sanftmütige hatte Satan im
Herzen des Sünders besiegt. Zieht daraus die Lehre: Wenn einer von euch von
Sünden gequält wird, dann gehe er zu ihm, dem guten Retter, und fliehe nicht
vor ihm; je mehr man mit Sünden beladen ist, umso eher soll man reuevoll und
demütig vor ihn hintreten und ihn um Verzeihung bitten.
Jakobus des Zebedäus, sprich du
jetzt.»
«Ich weiß wahrlich nicht, was ich
sagen soll. Ihr habt schon alles gesagt, was ich gesagt hätte, denn das ist
die Wahrheit, und sie kann nicht geändert werden.
Auch ich war mit Andreas am
Jordan, doch ich wurde seiner erst gewahr, als der Ausruf des Täufers mich auf
ihn aufmerksam machte. Auch ich habe sofort geglaubt, und nachdem er sich nach
seiner erleuchtenden Offenbarung entfernt hatte, blieb ich zurück wie einer,
der von einem sonnigen Gipfel in einen dunklen Kerker geworfen worden ist.
Verzweifelt suchte ich nach der Sonne. Nachdem mir das Licht Gottes erschienen
und dann entschwunden war, erschien mir die ganze Welt ohne Licht. Ich war
einsam unter den Menschen. Während ich mich satt aß, hungerte ich. Im Schlafe
wachte mein Geist, und Geld, Beruf, Beziehungen, alles blieb zurück hinter
dieser meiner Begeisterung für ihn, weit zurück und ohne Anziehungskraft. Wie
ein Kind, das die Mutter verloren hat, jammerte ich: "Komm zurück, Lamm
Gottes." Allerhöchster, wie du Raphael gesandt hast, damit er Tobias leite, so
sende nun deinen Engel, damit er mich auf den Wegen des Herrn führe, damit ich
ihn finde, finde, finde!
Doch als uns nach Wochen
vergeblichen Wartens und angstvollen Suchens – die uns den Verlust unseres
Johannes, der zum erstenmal gefangengenommen wurde, noch schmerzlicher
erscheinen ließen – Jesus, der
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aus der Wüste kam, auf einem
Feldweg erschien, da erkannte ich ihn nicht sogleich wieder.
Nun, Brüder im Herrn, will ich
euch einen anderen Weg weisen, um zu ihm zu gelangen und ihn zu erkennen.
Simon des Jonas hat gesagt,
Glaube und Demut seien erforderlich, um ihn zu erkennen, und Simon der Zelote
hat wiederum beteuert, daß der Glaube unerläßlich sei, um in Jesus von
Nazareth den zu erkennen, der er im Himmel und auf Erden ist, wie es in der
Schrift steht. Simon der Zelote brauchte einen sehr großen Glauben, um auch
für seinen unheilbar kranken Körper hoffen zu können. Daher sagt Simon der
Zelote, daß Glaube und Hoffnung die Wege sind, um den Sohn Gottes zu finden.
Jakobus, der Bruder des Herrn, spricht von der Macht der Willensstärke, durch
die man bewahren kann, was man gefunden hat, da sie verhindert, daß die
Nachstellungen der Welt und Satans uns des Glaubens berauben. Andreas weist
auf die Notwendigkeit hin, unseren Glauben mit einem heiligen Durst nach
Gerechtigkeit zu verbinden, indem man danach strebt, die Wahrheit zu erkennen
und zu bewahren – welches auch immer der Mund sein möge, der sie verkündet;
und zwar nicht aus menschlichem Hochmut, gelehrt sein zu wollen, sondern aus
dem Verlangen heraus, Gott zu erkennen. Wer sich in der Wahrheit bildet,
findet Gott.
Matthäus, einst ein Sünder, zeigt
euch einen anderen Weg, auf dem man zu Gott gelangen kann: sich der Sinne zu
entäußern im Geiste der Nachfolge, ich würde sagen, als Widerschein Gottes,
der die unendliche Reinheit ist. Er, der Sünder, ist vor allem von der "reinen
Männlichkeit" des Unbekannten, der nach Kapharnaum gekommen ist, beeindruckt;
und es ist ihm, als ob durch deren Macht seine verlorene Enthaltsamkeit zu
neuem Leben erweckt würde, und so enthält er sich als erstes der sinnlichen
Begierden und macht den Weg frei für die Ankunft Gottes und die Wiederbelebung
aller nicht mehr von ihm geübten Tugenden. Von der Enthaltsamkeit geht er über
zur Barmherzigkeit, von dieser zur Reue, von der Reue zur Überwindung seines
ganzen Seins und zur Vereinigung mit Gott. "Folge mir!" "Ich komme." Doch
seine Seele hatte schon gesprochen: "Ich komme", und der Erlöser hatte schon
gesagt: "Folge mir" ' als die Tugend des Meisters zum erstenmal die
Aufmerksamkeit des Sünders auf sich gelenkt hatte.
Macht es wie er. Denn jede
menschliche Erfahrung, so schmerzlich sie auch sein mag, ist stets eine
Führung für alle guten Willens, um das Böse zu meiden und das Gute zu finden.
Ich sage, je mehr sich der Mensch
bemüht, aus dem Geist zu leben, umso eher ist er imstande, den Herrn zu
erkennen, und ein engelgleiches Leben begünstigt dies am meisten. Unter uns,
den Jüngern des Johannes, war derjenige, der ihn nach seiner Abwesenheit
wiedererkannte, die reine Seele. Eher als Andreas erkannte er ihn wieder,
obgleich die Buße das
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Antlitz des Lammes Gottes
verändert hatte. Daher sage ich: "Seid keusch, damit ihr ihn erkennen könnt."
Judas, willst du jetzt reden?»
«ja. Seid keusch, um ihn erkennen
zu können. Aber seid es auch, um ihn in euch zu bewahren mit seiner Weisheit,
seiner Liebe und seinem ganzen Sein. Wiederum ist es Isaias, der im 52.
Kapitel sagt: "Berührt Unreines nicht... reinigt euch, ihr, die ihr die Gefäße
des Herrn tragt." Wahrlich, jede Seele, die seine Jüngerin wird, gleicht einem
Gefäß, das von Gott erfüllt ist, und der Leib, in dem sie innewohnt, ist wie
einer, der ein dem Herrn geweihtes Gefäß trägt. Wo Unreinheit herrscht, kann
Gott nicht sein.
Matthäus wiederholte die Worte
des Herrn und sagte, daß nichts Unreines und von Gott Getrenntes das
himmlische Jerusalern betreten wird. Ja, man darf auf Erden nicht unrein und
von Gott getrennt sein, um einst dort eingehen zu können. Unglücklich jene,
die mit ihrer Reue bis zur letzten Stunde warten, denn nicht immer wird ihnen
Zeit zur Reue verbleiben, so wie jenen, die ihn jetzt verleumden; sie werden
keine Zeit mehr haben, sich im Augenblick seines Triumphes ein neues Herz zu
schaffen, und werden sich daher der Früchte seines Triumphes nicht erfreuen
können.
Alle, die hoffen, daß der heilige
und demütige König ein Monarch dieser Welt sein wird, und mehr noch die, die
ihn als solchen fürchten, werden in jener Stunde unvorbereitet sein, betrogen
und enttäuscht von ihrem Gedanken, der nicht der Gedanke Gottes, sondern ein
armer, menschlicher Gedanke ist, und werden immer weiter sündigen.
Wir müssen erwägen, daß die
Erniedrigung, Mensch zu sein, auf ihm lastet. Isaias sagt, daß alle unsere
Sünden die Demütigung der göttlichen Person in der menschlichen Gestalt
bewirken. Wenn ich bedenke, daß alles Elend der Menschheit das Wort Gottes wie
eine schmutzige Kruste umgibt, dann denke ich mit tiefem Mitleid und tiefstem
Mitgefühl an die Leiden, die seine schuldlose Seele erdulden muß. Ich stelle
mir den Abscheu eines Gesunden vor, den man mit den Lumpen und dem Schmutz
eines Aussätzigen bedeckt. So ist er wahrlich der von unseren Sünden
Durchbohrte, der durch alle Begierden des Menschengeschlechtes Verwundete.
Seine unter uns lebende Seele muß erschauern bei der Berührung mit uns, wie
wenn sie von Fieber befallen wäre.
Doch er sagt nichts, er öffnet
nicht seinen Mund, um auszurufen: "Ich empfinde Abscheu vor euch"; er öffnet
ihn vielmehr nur, um uns einzuladen: "Kommt zu mir, damit ich eure Sünden von
euch nehme", denn er ist der Erlöser. In seiner unendlichen Güte wollte er
seine erhabene Schönheit verhüllen, denn wäre er uns so erschienen, wie er im
Himmel ist, hätte er uns zu Asche verbrannt, wie Andreas sagte. Er erscheint
uns anziehend wie ein sanftes Lamm, um sich uns nähern und uns retten zu
können.
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Seine Unterdrückung, seine
Verurteilung wird andauern, bis er, verzehrt von der Mühe, der vollkommene
Mensch unter den unvollkommenen Menschen zu sein, im Triumph seines heiligen
Königtums über die große Schar der Erlösten erhöht sein wird. Gott, der den
Tod erleidet, um uns zum Leben zu erretten!
Diese Gedanken sollen ihn euch
über alles liebenswert machen. Er ist der Heilige. Ich kann es sagen, ich, der
ich mit ihm und Jakobus aufgewachsen bin. Ich beteuere, daß ich bereit bin und
stets bereit sein werde, mein Leben zu opfern, um dieses Bekenntnis abzulegen,
auf daß die Menschen an ihn glauben und das Ewige Leben erlangen.
Johannes des Zebedäus, nun bist
du an der Reihe.»
«Wie lieblich sind auf den Bergen
die Füße des Freudenboten! Frieden kündet er, bringt frohe Botschaft. Heil
kündet er, zu Sion spricht er: "Dein Gott ist König." Diese Füße gehen schon
seit zwei Jahren unermüdlich über die Berge Israels, um die Schafe der Herde
Gottes sammeln, trostbringend, heilbringend, verzeihend und Frieden schenkend,
seinen Frieden!
Wahrlich, ich bin erstaunt zu
sehen, daß die Hügel nicht vor Freude hüpfen und die Flüsse des Vaterlandes
nicht frohlocken bei der Berührung mit seinem Fuß. "Preis dem Herrn! Der
Erwartete ist gekommen! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!"
Jener, der Gnaden und Segen, Frieden und Heil aussendet und zum Reich aufruft,
indem er uns den Weg weist. Jener, der vor allem durch alle seine Worte und
Werke, mit jedem Blick und jedem Atemzug Liebe ausströmt.
Was ist diese Welt, daß sie so
blind ist für das Licht, das unter uns lebt? Welche Platten, dicker als die
Steine an den Eingängen der Gräber, hat sie vor den Augen des Geistes, um
dieses Licht nicht zu sehen? Welche Berge von Sünden lasten auf ihr, da sie so
verstockt, blind, taub, gefesselt und gelähmt ist, daß sie sich dem Erlöser
gegenüber so gleichgültig verhalten kann.
Was ist der Erlöser? Er ist das
mit der Liebe verschmolzene Licht. Der Mund meiner Brüder frohlockt im
Lobpreis des Herrn, indem er seine Werke verkündet und die Tugenden wachruft,
die geübt werden müssen, um seinen Weg zu finden. Ich sage euch: Liebt! Es
gibt keine größere Tugend, keine, die euch seinem Wesen so sehr ähnlich werden
läßt. Wenn ihr liebt, dann übt ihr mühelos alle Tugenden, angefangen bei der
Keuschheit. Es wird euch nicht schwerfallen, keusch zu sein; denn wenn ihr
Jesus liebt, werdet ihr niemanden mehr ungeordnet lieben. Demütig werdet ihr
sein, denn mit den Augen eines Liebenden werdet ihr seine unendlichen
Vollkommenheiten erkennen und daher nicht auf eure geringen Vorzüge stolz
sein. Ihr werdet zum Glauben finden, denn wer glaubt nicht dem, den er liebt?
Ihr werdet zerknirscht sein vor Schmerz, nicht der Strafe wegen, die ihr
verdient habt; denn es wird euch von Herzen leid tun, daß ihr
40
ihm Schmerz zugefügt habt, und
diese Reue rettet euch. Ihr werdet stark sein, o ja, denn wer mit Gott vereint
ist, ist stark und standhaft in allem. Ihr werdet voller Hoffnung sein, weil
ihr an der Großmut des göttlichen Herzens, das euch mit seinem ganzen Wesen
liebt, nicht zweifeln werdet. Ihr werdet weise sein, alles werdet ihr sein!
Liebt ihn, der die wahre Glückseligkeit und das Heil verkündet und unermüdlich
über Berge und Täler wandert, um die Herde zu sammeln. Auf seinen Wegen ist
der Friede, und Friede ist in seinem Reich, das nicht von dieser Welt, aber
wirklich ist, wie Gott wirklich ist.
Verlaßt jeden Weg, der nicht der
seine ist. Befreit euch von allen Nebeln und geht zum Licht. Seid nicht wie
die Welt, die das Licht nicht sehen und nicht erkennen will. Geht zu unserem
Vater, dem Vater allen Lichtes, des unendliches Lichtes, durch den Sohn, der
das Licht der Welt ist, um euch an Gott zu erfreuen in Vereinigung mit dem
Paraklet, dem Strahlen der Lichter in einer einzigen Glückseligkeit der Liebe,
welche die Drei zu Einem vereint. Unendlicher Ozean der Liebe, ohne Stürme,
ohne Finsternis, nimm uns alle in deinen Frieden auf, die Unschuldigen wie die
Bekehrten, alle, alle, für alle Ewigkeit! Alle auf Erden, auf daß sie dich, o
Gott, und den Nächsten lieben, wie du es willst, alle im Himmel, damit wir
nicht nur dich und die Himmelsbewohner, sondern auch die Brüder, die auf Erden
in Erwartung des Friedens kämpfen, lieben und sie in den Kämpfen und gegen die
Versuchungen wie Engel der Liebe verteidigen und stärken, auf daß sie einst
bei dir seien in deinem Frieden, zum ewigen Ruhm unseres Herrn Jesu, des
Erlösers, der die Menschen mit einer unendlichen Liebe liebt, bis zum höchsten
Opfer seiner selbst.»
Wie immer, wenn sich Johannes in
seinen Entrückungen zu den Höhen zartester Liebe und mystischer Stille
emporschwingt, zieht er alle Seelen mit sich.
Erst nach geraumer Zeit finden
die verstummten Zuhörer wieder die Sprache, und der erste, der wieder sprechen
kann, ist Philippus, der sich an Petrus wendet: «Wie, Johannes, der Lehrer,
spricht nicht?»
«Er wird noch oft an unserer
Stelle zu euch sprechen. Laßt ihn nun in Ruhe und laßt uns noch ein wenig mit
ihm zusammen sein. Du, Saba, tue, was ich dir vorher gesagt habe, und auch du,
gute Berenice...»
Alle gehen hinaus, und in dem
geräumigen Zimmer bleiben die acht Apostel mit den beiden Jüngern zurück.
Er herrscht eine bedrückende
Stille. Alle sind bleich, die Apostel, weil sie wissen, was bevorsteht, und
die beiden Jünger, weil sie es ahnen.
Petrus ergreift das Wort, aber er
vermag nur zu sagen: «Laßt uns beten.» Dann beginnt er das "Vater unser". So
kreidebleich, wie er vielleicht nicht einmal im Sterben sein wird, sagt er,
indem er sich den beiden nähert und seine Hände auf ihre Schultern legt:
«Kinder, die Abschiedsstunde ist gekommen. Was soll ich dem Herrn in eurem
Namen
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sagen? Ihm, der sicher darum
besorgt ist, daß ihr heil und wohlbehalten seid?»
Syntyche sinkt auf die Knie und
bedeckt ihr Gesicht mit den Händen, und Johannes macht es ihr nach. Zerstreut
streichelt Petrus die beiden Jünger zu seinen Füßen und tut sich Gewalt an, um
seiner Rührung nicht nachzugeben.
Johannes von Endor erhebt sein
vor Schmerz gezeichnetes Gesicht und stammelt: «Du kannst dem Meister sagen,
daß wir seinen Willen tun.»
«Und daß er uns helfen möge, ihn
bis zum Ende zu erfüllen...», fügt Syntyche bei.
Doch Tränen hindern sie daran,
mehr zu sagen.
«Also gut! Wir wollen uns den
Abschiedskuß geben. Diese Stunde mußte kommen ...» Auch die Stimme des Petrus
wird von aufsteigenden Tränen erstickt.
«Segne uns zuerst», bittet
Syntyche.
«Nein, nicht ich. Es ist besser,
wenn es einer der Brüder Jesu tut.»
«Nein, du bist das Oberhaupt. Wir
werden sie mit unserm Kuß segnen, und du, segne sowohl uns, die wir abreisen,
als auch jene, die zurückbleiben», sagt Thaddäus und kniet als erster nieder.
Petrus, der arme Petrus, ganz rot
von der Anstrengung, eine feste Stimme zu bewahren, und der Aufregung, mit
ausgebreiteten Armen die kleine Schar zu seinen Füßen zu segnen, erteilt mit
einer durch die Tränen noch rauher gewordenen Stimme, der Stimme eines Alten,
den mosaischen Segen.
Dann neigt er sich, küßt die Frau
auf die Stirn, als wäre sie seine Schwester, umarmt und küßt Johannes innig
und verläßt mutig den Raum, während die anderen es ihm nachtun.
Draußen steht der Wagen schon
bereit. Nur Philippus, Berenice und der Diener, der das Pferd hält, sind
zugegen. Petrus ist schon auf dem Wagen...
«Richte dem Herrn aus, daß er
beruhigt sein kann wegen seiner Schützlinge», sagt Philippus zu Petrus.
«Du kannst Maria sagen, daß ich
den Frieden Eucherias verspüre, seit sie Jüngerin ist», flüstert Berenice dem
Zeloten zu.
«Ihr sagt dem Meister, Maria und
allen, daß wir sie lieben und daß... Lebt wohl! Lebt wohl! Oh, wir werden sie
nie wiedersehen! Lebt wohl, Brüder! Lebt wohl ...»
Die beiden Jünger eilen auf die
Straße hinaus... Doch der Wagen, der im Trab davongefahren ist, ist schon um
eine Ecke gebogen ... und entschwunden.
«Syntyche!»
«Johannes!»
«Nun sind wir allein!»
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«Gott ist doch mit uns! ... Komm,
armer Johannes, nun geht die Sonne unter, und es ist nicht gut für dich, hier
zu verweilen ...»
«Für immer ist die Sonne für mich
untergegangen ... und erst im Himmel wird sie wieder aufgehen.»
Nach ihrer Rückkehr in den Raum
in dem sie vorhin mit den anderen zusammen waren, lassen sie sich auf eine
Bank nieder und weinen sich hemmungslos aus...
Jesus sagt:
«Es ist die Qual, die vom Bösen
im Menschen nicht willentlich verursacht worden ist und nun endet, wie ein
Fluß, der sich in einen See ergießt, nachdem seine Wasser das Ende seines
Laufes erreicht haben...
Ich mache dich darauf aufmerksam,
daß auch Judas des Alphäus, obgleich er mehr als die anderen in der Weisheit
unterrichtet worden war, den Abschnitt des Isaias betreffend meine Leiden als
Erlöser in menschlichem Sinn erklärt hat, und so weigerte sich auch ganz
Israel, die prophetische Wirklichkeit anzuerkennen und betrachtete die
Prophezeiungen über meine Leiden als Allegorien und Symbole.
Wegen dieses großen Irrtums
vermochten in der Stunde der Erlösung nur wenige in Israel den Messias in dem
Verurteilten zu erkennen. Der Glaube ist nicht nur ein Blumengewinde, er hat
auch Dornen. Heilig ist der, der nicht nur in den Stunden der Freude, sondern
auch in schweren Stunden glauben kann und Gott immerzu liebt, ob er ihn nun
mit Blumen bedeckt oder auf Dornen bettet.»
370. DIE RÜCKKEHR DER ACHT
APOSTEL. IN ACHSIB
Jesus, ein Jesus, der sehr mager,
bleich, ich möchte fast sagen, wehmütig und leidend aussieht, steht auf dem
Gipfel, dem höchsten Gipfel eines kleinen Berges, auf dem auch eine Ortschaft
liegt. Doch Jesus ist nicht im Dorf selbst, das auf der Höhe, jedoch in
Richtung der südlichen Hänge liegt. Er steht auf einem kleinen Felsvorsprung,
dem höchsten, der gegen Nordwesten gelegen ist.
Jesus, der nach mehreren Seiten
Ausschau hält, sieht eine wellenartige Bergkette, deren nord- und südwestliche
Ausläufer ins Meer tauchen. Im Südwesten liegt der Carmel, der, weit entfernt,
an diesem klaren Tage wie in Dunst getaucht erscheint; im Nordwesten hingegen
endet die Kette wie ein scharfes Kap, wie ein Schiffskiel; es gleicht unseren
Apuanischen Alpen wegen der Felskämme, die in der Sonne weiß aufleuchten.
Von dieser Gebirgskette fließen
Gießbäche und Flüßchen herab, die in dieser Jahreszeit reichlich Wasser führen
und durch die Küstenebene dem Meer zustreben. Bei der weiten Bucht von
Sycaminon mündet der wasserreichste Fluß, der Kischon, ins Meer, nachdem er
vorher beim Zufluß eines anderen Baches, vor der Mündung ein Wasserbecken
gebildet hat. Die Mittagssonne eines heiteren Tages läßt die Wasserläufe
golden und
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bläulich erscheinen, während das
Meer wie ein riesiger, mit feinen Perlenketten durchzogener Saphir daliegt.
Der Frühling kündet sich schon an mit den neuen Blättern, die aus den
aufgesprungenen Knospen quellen, zart leuchtend, ich möchte sagen
jungfräulich, so frisch sind sie, da sie weder Staub noch Unwetter, weder
Insektenbisse noch die Berührung mit den Menschen kennen. Die Zweige der
Mandelbäume sind weich und luftig wie Wölkchen aus weißrosa Schaum und
erwecken den Eindruck, als wollten sie sich vom Stamm lösen und durch die
heitere Luft segeln wie kleine Wolken. Auch auf den Feldern in der nicht
weiten, aber fruchtbaren Ebene, die zwischen dem Kap im Nordwesten und dem im
Südwesten eingeschlossen ist, zeigen sich die zarten Keime des Getreides, das
diesen Feldern, die kurz zuvor noch kahl waren, die traurige Stimmung nimmt.
Von der Stelle, an der er sich
befindet, hält Jesus Ausschau und sieht drei Straßen: Eine, die beim Dorf
beginnt und hier endet, ein Saumpfad; und zwei weitere, die vom Dorf
herabführen und nach Nordwesten und Südwesten laufen.
Jesus sieht mitgenommen aus wie
noch nie! Er ist noch viel stärker von der Buße gezeichnet als damals, als er
in der Wüste gefastet hatte. Damals war er ein blasser, aber noch junger und
starker Mann. Jetzt ist er ein gebrochener Mensch, abgezehrt durch alle
Leiden, die ihn bedrücken und seine körperlichen und seelischen Kräfte
geschwächt haben.
Sein Blick ist von sanfter und
zugleich tiefster Wehmut gezeichnt. Die eingefallenen Wangen betonen die
Geistigkeit seines Profils, mit der hohen Stirn, der langen, geraden Nase, dem
Mund und den Lippen ohne jegliche Sinnlichkeit, noch stärker. Ein
engelgleiches Antlitz, so sehr schließt es alles Körperliche aus. Der Bart ist
länger als sonst; er ist auch an den Seiten gewachsen, wo er in die Haare
übergeht, die über seine Ohren fallen, so daß man von seinem Gesicht nur
Stirn, Augen, Nase und das elfenbeinfarbene Jochbein sieht. Die langen Haare
sind geordnet, aber es haften ihnen noch Teilchen von trockenem Laub und
Halmen an, die an die Höhle erinnern, in der er gewesen ist. Auch sein
zerknittertes, staubiges Gewand und der Mantel, die er ununterbrochen getragen
und benützt hat, verraten den wilden Ort.
Jesus schaut vor sich hin... Die
Mittagssonne erwärmt ihn, und er scheint Gefallen daran zu finden, denn er
meidet den Schatten einiger Sträucher, um ganz in der Sonne zu stehen. Doch
obwohl es eine helle, strahlende Sonne ist, verleiht sie seinem verstaubten
Haar und seinen müden Augen keinen Glanz und seinem abgemagerten Gesicht keine
Farbe.
Nicht die Sonne stärkt ihn und
belebt sein Antlitz, sondern der Anblick seiner treuen Apostel, die
gestikulierend und umherspähend auf der leicht ansteigenden Straße von
Nordwesten zur Ortschaft hinaufgehen. Nun wandelt er sich, sein Auge belebt
sich und sein Antlitz erscheint, durch einen rosigen Schimmer, der die Wangen
überzieht, und mehr noch
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durch das Lächeln, das es
erhellt, weniger hager. Er breitet die verschränkten Arme aus und ruft mit
erhobenem Antlitz, die Augen ins Weite schweifend, als wolle er Halmen,
Bäumen, dem heiteren Himmel und der schon frühlingshaften Luft seine Freude
mitteilen: «Meine Teuren!»
Er rafft seinen Mantel, damit er
sich im Dorngestrüpp nicht verfängt, und geht ihnen, die ihn noch nicht
erblickt haben, auf einem Abkürzungsweg entgegen. Als er in Hörweite gelangt
ist, ruft er ihnen zu, um sie auf ihrem Weg zum Dorf aufzuhalten.
Obwohl sie Jesus von der Stelle,
an der sie sich befinden, noch nicht sehen, denn sein dunkles Gewand hebt sich
nicht von dem dichten Gebüsch ab, das den Abhang bedeckt, vernehmen sie den
fernen Ruf.
Sie schauen umher und
gestikulieren. Jesus ruft noch einmal... Schließlich erblicken sie ihn in
einer Lichtung, wie er in der Sonne steht und ihnen die Arme entgegenstreckt,
als wolle er sie umarmen.
Nun ertönt ein lautes Rufen, das
an den Hängen widerhallt: «Der Meister!» und es beginnt ein großes Laufen
durch die Büsche. Sie verlassen die Straße, verfangen sich in den Dornen,
stolpern und keuchen. Doch sie spüren weder die Last ihres Gepäcks, noch das
mühsame Vorwärtskommen... denn sie sind voller Freude über das Wiedersehen.
Natürlich sind es die Jüngsten,
die am behendesten sind und ihn zuerst erreichen, die beiden Söhne des Alphäus,
die mit dem sicheren Schritt eines Bewohners der Berge laufen, und Johannes
und Andreas, die wie zwei Rehe herbeieilen und glücklich lachen. Sie fallen
ihm zu Füßen, liebevoll und ehrerbietig, glücklich, überglücklich... Dann
kommt Jakobus des Zebedäus an, und zuletzt, fast gleichzeitig, die drei, die
weniger ans Laufen und an die Berge gewohnt sind, Matthäus, der Zelote und
schließlich Simon Petrus.
Aber er bahnt sich einen Weg. O
ja, er schafft sich Platz, um zum Meister zu gelangen, dem schon die zuerst
Angekommenen zu Füßen liegen und nicht müde werden, sein Gewand und seine
Hände zu küssen. Er packt Johannes und Andreas energisch an, die sich, wie
Austern an eine Klippe, an die Kleider Jesu hängen, und, noch keuchend,
schiebt er sie so weit beiseite, daß er Jesus zu Füßen fallen kann, und
stammelt: «O mein Meister! Jetzt lebe ich wieder auf! Es war nicht mehr
auszuhalten, ich bin gealtert, abgemagert, als ob ich schwer krank gewesen
wäre. Schau, ob es nicht wahr ist, Meister! ...», und er erhebt sein Gesicht,
um sich von Jesus ansehen zu lassen. Doch dabei bemerkt er die Veränderung im
Antlitz Jesu, springt auf, und schreit: «Meister! Aber was hast du getan?
Dummköpfe! Schaut ihn an! Seht ihr denn nichts? Jesus ist krank gewesen!
Meister, mein Meister, was ist dir geschehen? Sage es deinem Simon!»
«Nichts, Freund.»
«Nichts? Mit diesem Antlitz? Dann
hat man dir wohl Böses angetan?»
«Aber nein, Simon.»
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«Das ist unmöglich! Entweder bist
du krank gewesen, oder man hat dich verfolgt! Ich habe doch Augen! ...»
«Ich auch, und ich sehe auch, daß
du tatsächlich abgemagert und gealtert bist. Warum bist du das denn?» fragt
der Herr seinen Petrus lächelnd, der ihn prüft, als wolle er die Wahrheit an
Haaren, Haut und Bart Jesu ablesen.
«Aber ich habe gelitten und
leugne es nicht. Glaubst du, es wäre ein Vergnügen gewesen, so viel Leid mit
ansehen zu müssen?»
«Du sagst es! Auch ich habe aus
demselben Grund gelitten...»
«Wirklich nur deswegen, Jesus?»
fragt Judas des Alphäus mitleidig und liebevoll.
«Wegen des Leides, ja, mein
Bruder. Wegen des Leides, weil wir gezwungen waren, sie fortzuschicken,
wegen...»
«Und des Leides, dazu gezwungen
gewesen zu sein ...»
«Ich bitte dich! ... Schweige!
Für meine Wunde ist es heilsamer, Schweigen zu bewahren, als mir mit
tröstenden Worten sagen zu wollen: "Ich weiß, weshalb du gelitten hast!"
Übrigens sollt ihr wissen, daß ich vieler Dinge wegen gelitten habe, nicht nur
wegen dieser Angelegenheit, und wenn mich Judas nicht unterbrochen hätte,
hätte ich es euch gesagt.»Jesus sagt dies mit würdevollem Ernst und alle sind
eingeschüchtert.
Petrus, der erste, der sich
wieder faßt, fragt: «Sage, Meister, wo bist du gewesen, und was hast du
gemacht?»
«Ich bin in einer Höhle
gewesen... um zu beten... um zu betrachten... um meinen Geist zu stärken... um
Kraft für euch zu erbitten für eure Mission und Stärke für Johannes und
Syntyche in ihrem Leid.»
«Aber wo, wo warst du ohne
Kleider, ohne Geld! Wie hast du es geschafft?» fragt Simon ganz aufgeregt.
«In einer Höhle hatte ich nichts
nötig.»
«Aber Nahrung ? Feuer? Ein Bett?
... Alles eben! Ich dachte wenigstens, daß du wie ein verirrter Pilger bei
jemandem in Jiphtael oder in sonst einem Haus zu Gast wärest, und das
beruhigte mich etwas. Aber so? Sagt ihm, wie mich der Gedanke an ihn, daß er
ohne Kleidung, ohne Nahrung war und keine Möglichkeit und besonders auch nicht
den Willen hatte, sich beides zu beschaffen, immerzu beschäftigte. Ach Jesus,
das hättest du nicht tun dürfen, und darfst es mir nie mehr antun! Keine
Stunde mehr werde ich dich allein lassen. Ich hänge mich an dein Gewand, um
immer hinter dir her zu sein wie ein Schatten, ob du es willst oder nicht. Nur
wenn ich sterbe, werde ich mich von dir trennen.»
«Oder wenn ich sterbe.»
«Oh, du! Nein! Du darfst nicht
vor mir sterben. Sage das nicht! Willst du mich denn noch gänzlich traurig
machen?»
«Nein, vielmehr möchte ich mich
mit dir und mit allen freuen in dieser schönen Stunde, die mir meine lieben,
vielgeliebten Freunde
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zurückbringt. Schaut, ich fühle
mich schon besser, weil eure aufrichtige Liebe mich nährt, erwärmt und mich
über alles hinwegtröstet»; und er liebkost einen nach dem anderen, wobei ihre
Gesichter aus Rührung über diese Worte in seligem Lächeln erstrahlen, ihre
Augen leuchten, ihre Lippen beben und sie unentwegt fragen: «Wirklich, Herr?
Ist es wirklich so, Meister?» «Du hast uns so lieb?» «Sind wir dir so lieb?»
«Ja, ihr seid mir sehr lieb! Habt
ihr etwas zu essen bei euch?»
«Ja. Ich ahnte, daß du erschöpft
sein würdest und habe unterwegs Brot, gebratenes Fleisch, Milch, Käse und
Äpfel besorgt, und außerdem eine Flasche edlen Weines und Eier für dich. Wenn
sie nur nicht zerbrochen sind ...»
«Dann wollen wir uns also hier
niederlassen und unter dieser schönen Sonne essen. Während wir essen, werdet
ihr mir erzählen...»
Sie setzen sich auf einen
sonnenbeschienenen Felsvorsprung, und Petrus öffnet seine Tasche und
betrachtet seine Schätze. «Alles heil», ruft er aus. «Auch der Honig von
Antigonea. Nun ja, ich habe es doch gesagt: Selbst wenn wir uns auf dem
Rückweg in ein Faß gesetzt hätten und dieses von einem Verrückten ins Rollen
gebracht worden wäre, selbst wenn wir uns bei Unwetter auf einem Boot ohne
Ruder, und meinetwegen mit einem Leck, befunden hätten, wären wir heil und
gesund angekommen... Aber ich bin immer mehr davon überzeugt, daß es der Dämon
war, der uns auf dem Hinweg Schwierigkeiten machte, weil er nicht wollte, daß
wir jene Armen begleiteten ...»
«Ja, so ist es! Jetzt hat er
keinen Grund mehr gehabt...», bestätigt der Zelote.
«Meister, hast du unseretwegen
Buße getan?», fragt Johannes, der sogar zu essen vergißt, um Jesus zu
betrachten.
«Ja, Johannes. Ich war in
Gedanken bei euch. Ich habe eure Gefahren und Sorgen gespürt und euch so gut
ich konnte geholfen...»
«Oh, das habe ich gefühlt! Ich
habe es euch auch gesagt. Erinnert ihr euch? ...»
«Ja, das ist wahr», bestätigen
alle.
«Nun gebt ihr mir zurück, was ich
euch gegeben habe.»
«Hast du gefastet, Herr?» fragt
Andreas.
«Notgedrungen! Selbst wenn er
hätte essen wollen, wie hätte er es anstellen können, in einer Höhle, ohne
Geld?» antwortet ihm Petrus.
«Unseretwegen! Wie tut mir das
leid!» sagt Jakobus des Alphäus.
«O nein! Grämt euch deswegen
nicht. Wie zu Beginn meiner Mission, so habe ich auch jetzt getan, und nicht
nur euretwegen, sondern für die ganze Welt. Damals wurde ich am Ende meines
Fastens von den Engeln getröstet, und nun von euch, und glaubt mir, dies ist
für mich eine doppelte Freude, weil der Dienst der Liebe zur Natur der Engel
gehört, bei den Menschen aber weniger leicht zu finden ist. Ihr übt Liebe, und
aus
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Menschen seid ihr durch die Liebe
zu mir Engel geworden, weil ihr die Heiligkeit über alles gesetzt habt. Daher
macht ihr mich glücklich, sowohl als Gott wie auch als Gott-Mensch, weil ihr
mir schenkt, was Gott gehört: die Liebe; und ihr gebt mir, was dem Erlöser
zusteht: euer Streben nach Vollkommenheit. Das kommt mir von euch zu und ist
nahrhafter als jegliche Speise. Damals in der Wüste wurde ich nach dem Fasten
mit Liebe genährt und gestärkt, wie auch jetzt! Alle haben wir gelitten, ich
und ihr, aber es war kein nutzloses Leiden. Ich glaube und weiß, daß es euch
mehr genützt hat als ein ganzes Jahr der Unterweisung. Der erlittene Schmerz,
die Betrachtung dessen, was ein Mensch seinesgleichen an Leid zufügen kann,
und Mitleid, Glaube, Hoffnung und Liebe, die ihr habt üben müssen, und dazu
noch allein, hat euch reif werden lassen wie Kinder, die zu Männern
heranwachsen...»
«O ja, ich bin älter geworden.
Ich werde nie mehr der Simon des Jonas sein, der ich bei der Abreise war. Ich
habe verstanden, wie schmerzlich und mühsam unsere Mission bei all ihrer
Schönheit ist...» seufzt Petrus.
«Nun sind wir ja wieder
beisammen. Erzählt also ...»
«Sprich du, Simon, du kannst
besser reden als ich», fordert Petrus den Zeloten auf.
«Nein, du als tüchtiges
Oberhaupt, kannst im Namen aller berichten», entgegnet der andere.
Petrus beginnt mit der Bedingung:
«Aber ihr müßt mir helfen.»
Zuerst berichtet er der Reihe
nach alles bis zur Abreise von Antiochia, und dann beginnt er, die Rückreise
zu beschreiben.
«Weißt du, wir haben alle
gelitten, und die letzten Worte der beiden werde ich nie mehr vergessen...»
Petrus wischt sich mit dem Handrücken zwei dicke Tränen ab, die plötzlich über
seine Wangen kollern... «Sie kamen mir vor wie der letzte Schrei eines
Ertrinkenden... Ach, redet ihr... ich kann nicht mehr ...», und er steht auf
und geht etwas abseits, um seine Rührung zu verbergen.
«Nun», sagt der Zelote, «wir
haben lange Zeit nicht gesprochen... Wir konnten nicht reden... Es würgte uns
im Hals, so sehr mußten wir gegen die Tränen ankämpfen... und wir wollten
nicht weinen... denn, hätte auch nur ein einziger von uns geweint, wäre alles
aus gewesen. Ich hatte die Zügel ergriffen, denn Simon des Jonas hatte sich,
um sich seinen Schmerz nicht anmerken zu lassen, hinten im Karren hingesetzt
und in den Taschen gekramt. Dann hielten wir auf halbem Wege, in einem Dorfe
zwischen Antiochia und Seleucia an. Obwohl der Mond immer heller schien, je
weiter die Nacht fortschritt, haben wir doch dort angehalten, weil wir nicht
sehr ortskundig waren, und sind auf unserem Gepäck eingeschlafen. Wir hatten
nichts gegessen, keiner von uns, denn... wir konnten nicht. Wir mußten stets
an die beiden denken... Beim ersten Morgengrauen haben wir die Brücke passiert
und vor der dritten Stunde sind wir in Seleucia
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angekommen. Pferd und Wagen haben
wir dem Wirt zurückgegeben und uns mit ihm – er ist ein guter Mensch – wegen
des Schiffes beraten. Er sagte: "Ich komme mit zum Hafen. Ich bin dort bekannt
und kenne mich aus." Er kam und fand drei Schiffe, die zur Abreise in unsere
Häfen bereit waren. Aber auf einem waren gewisse... Leute, die wir nicht gerne
in der Nähe haben wollten. Der Mann hatte es uns gesagt, da er es vom Kapitän
des Schiffes erfuhr. Das zweite fuhr nach Askalon, und man wollte nicht
unseretwegen in Tyrus anlegen, oder zumindest nur gegen einen Geldbetrag, über
den wir nicht mehr verfügten. Das dritte war ein ziemlich elendes Schifflein
und mit rohem Holz beladen, ein einfaches Boot mit einer kleinen und, ich
glaube, sehr armen Schiffsmannschaft. Obwohl ihr Ziel Caesarea war, erhielten
wir die Zusage, daß sie gegen Bezahlung des Taglohnes und Verpflegung für die
ganze Mannschaft in Tyrus anlegen würden. Wir gingen darauf ein, aber ich und
Matthäus hatten Bedenken, denn es war die Zeit der Seestürme... und du weißt,
wie es uns bei der Hinreise ergangen ist. Aber Simon Petrus sagte: "Es wird
nichts passieren", und so stiegen wir ein. Es schien, als wären die Segel des
Schiffes Engel, so rasch und leicht ging es voran. Wir brauchten bis nach
Tyrus nur halb so lang wie bei der Hinfahrt. Dort war der Kapitän so gut,
unser Boot bis Ptolemais ins Schlepptau zu nehmen. Petrus, Andreas und
Johannes stiegen zum Manövrieren ins Boot, doch sie hatten nicht viel zu
tun... Es war nicht wie bei der Hinreise. In Ptolemais trennten wir uns und
waren so zufrieden, daß wir zu der vereinbarten Summe noch etwas hinzufügten,
bevor wir alle ins Boot stiegen, wo bereits unsere Sachen lagen. In Ptolemais
ruhten wir uns einen Tag aus, und kamen dann hierher... Doch nie werden wir
vergessen, was wir durchgestanden haben. Simon des Jonas hat recht.»
«Haben wir nicht auch recht, wenn
wir sagen, daß der Teufel uns nur auf der Hinfahrt Hindernisse in den Weg
gelegt hat?» fragen mehr als einer.
«Ihr habt recht. Jetzt hört. Eure
Mission ist erfüllt, und nun werden wir nach Jiphtael zurückkehren und auf
Philippus und Nathanael warten. Es muß rasch geschehen, denn dann werden die
anderen kommen... Indessen werden wir hier an den Grenzen von Phönizien und in
Phönizien selbst die Frohe Botschaft verkünden. Was vorgefallen ist, sei
jedoch für immer in unseren Herzen begraben. Auf keine Frage wird
geantwortet!»
«Auch nicht Philippus und
Nathanael? Sie wissen, daß wir mit dir gekommen sind ...»
«Ich werde mit ihnen sprechen.
Ich habe viel gelitten, Freunde, ihr habt es gesehen, und habe mit meinen
Leiden für den Frieden des Johannes und der Syntyche bezahlt. Sorgt dafür, daß
mein Leiden nicht umsonst gewesen ist, und belastet meine Schultern nicht noch
mehr, denn ich trage schon eine große Last! ... und sie wächst von Tag zu Tag,
von Stunde zu
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Stunde... Sagt Nathanael und
Philippus, daß ich viel gelitten habe und daß sie gut sein sollen. Sagt es
auch den anderen beiden. Aber sagt nicht mehr. Es entspricht der Wahrheit, daß
ihr verstanden habt, daß ich gelitten und euch dies bestätigt habe. Mehr ist
nicht nötig.»
Jesu Stimme klingt erschöpft ...
Die acht betrachten ihn betrübt, und Petrus, der neben ihm steht, wagt es,
sein Haupt zu streicheln. Jesus erhebt seinen Blick und schaut seinen
ehrlichen Simon mit einem traurigen Lächeln voller Liebe an.
«Oh, ich kann dich so nicht
sehen! Es ist mir, als wäre die Freude unseres Wiedersehens entschwunden und
als bliebe von ihr nur die Heiligkeit, nur sie! Indes ... Gehen wir nach
Achsib. Dort wirst du dein Gewand wechseln, deine Wangen rasieren und deine
Haare in Ordnung bringen. So kann es nicht bleiben! So kann ich dich nicht
sehen... Du scheinst mir wie einer, der aus den Händen grausamer Verbrecher
entflohen ist, ein Geschlagener, ein Erschöpfter... Du kommst mir vor wie Abel
von Bethlehem in Galiläa, der von seinen Feinden befreit wurde ...»
«Ja, Petrus, aber das Herz deines
Meisters ist es, das mißhandelt worden ist... und das wird nie mehr heilen...
Ja, es wird immer mehr verwundet werden. Laßt uns gehen ...»
Johannes seufzt: «Es tut mir
leid... Ich hätte Thomas, der deine Mutter so sehr liebt, gerne vom Wunder des
Liedes und der Salbe erzählt...»
«Du wirst es eines Tages erzählen
können... Aber nicht jetzt. Eines Tages werdet ihr alles sagen können. Ich
selbst werde euch dann auftragen: "Gehet hin und berichtet alles, was ihr wißt."
Doch vorerst sollt ihr im Wunder die Wahrheit erkennen, und zwar: die Macht
des Glaubens. Sowohl Johannes als auch Syntyche haben das Meer beruhigt und
den Mann geheilt, und dies nicht mit Worten und auch nicht mit der Salbe,
sondern durch ihren Glauben, mit dem sie den Namen Marias genannt und die von
ihr zubereitete Salbe angewandt haben. Dies ist auch geschehen, weil ihr
Glaube von eurem Glauben und eurer Liebe umgeben war. Liebe zu dem Verletzten.
Liebe gegenüber dem Kreter. Dem einen habt ihr das Leben erhalten, dem anderen
den Glauben geben wollen. Aber wenn es auch leicht ist, den Leib zu heilen, so
ist es doch sehr schwer, die Seele zu heilen... Kein Leid ist schwerer zu
besiegen als das der Seele...», endet Jesus und seufzt tief.
Achsib kommt in Sicht. Petrus
geht mit Matthäus voraus, um eine Unterkunft zu suchen, und die anderen folgen
ihnen, eng um Jesus geschart. Während sie die Ortschaft betreten, geht die
Sonne rasch unter...
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371. AUFENTHALT IN ACHSIB MIT
SECHS APOSTELN
«Herr, diese Nacht habe ich
gedacht... Warum willst du weit fortgehen, um dann an die phönizische Grenze
zurückzukehren? Laß mich mit einem anderen gehen. Ich werde Antonius
verkaufen... Obwohl es mir leid tut... aber nun ist er uns nicht mehr dienlich
und würde nur auffallen. Ich werde Philippus und Bartholomäus entgegengehen.
Sie können nur auf dieser Straße kommen, und so muß ich ihnen ja begegnen. Du
kannst sicher sein, daß ich nichts sagen werde, denn ich möchte dir keinen
Schmerz zufügen, ich... Du kannst dich hier mit den anderen ausruhen, und wir
ersparen allen den weiten Weg nach Jiphtael... und kommen zudem schneller
voran», sagt Petrus, während sie das Haus verlassen, in dem sie geschlafen
haben. Sie sehen jetzt nicht mehr so entkräftet aus, denn sie tragen saubere
Kleider, und Bart und Haare sind von kundiger Hand in Ordnung gebracht worden.
«Dein Gedanke ist gut, und ich
halte dich nicht davon ab, ihn zu verwirklichen. Suche dir nur einen Gefährten
aus, mit dem du gehen willst.»
«Ich gehe mit Simon, Herr, und
bitte dich, uns zu segnen.
Jesus umarmt sie und sagt: «Mit
einem Kuß. Geht nun.»
Sie sehen ihnen nach, wie sie
rasch zur Ebene hinabsteigen.
«Wie gut ist er doch, unser Simon
des Jonas! In diesen Tagen habe ich ihn schätzen gelernt wie nie zuvor», sagt
Judas Thaddäus.
«Auch ich», sagt Matthäus. «Nie
selbstsüchtig, nie stolz, nie anmaßend.»
«Er hat seine Stellung als
Oberhaupt nie ausgenützt. Im Gegenteil! Er schien der Letzte von uns zu sein,
obschon er stets seines Ranges eingedenk gehandelt hat», fügt Jakobus des
Alphäus hinzu.
«Uns überrascht das nicht, denn
wir kennen ihn seit Jahren als feurigen, aber herzensguten Menschen, und zudem
ist er so ehrlich!», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Mein Bruder ist gut, auch wenn
er rauh ist, aber seit er bei Jesus ist, ist er doppelt so gut geworden. Ich
habe einen ganz anderen Charakter als er. Zuweilen hat ihn dies beunruhigt;
doch nur, weil er spürte, daß ich selbst darunter litt, war er um mich
besorgt. Wenn man verstanden hat wie er ist, kommt man gut mit ihm aus», sagt
Andreas.
«In diesen Tagen haben wir uns
immer verstanden und sind ein Herz und eine Seele gewesen», beteuert Johannes.
«Ja, das habe auch ich
festgestellt, denn während des ganzen Monats, auch in Augenblicken der
Aufregung, hat es nie Mißstimmung gegeben. Während manchmal,... ich weiß nicht
warum...» sagt Jakobus des Zebedäus zu sich selbst.
«Warum? Nun, das ist leicht
verständlich. Wir alle haben ehrliche Absichten. Vollkommen sind wir nicht,
aber rechtschaffen, und deswegen
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nehmen wir das Gute an, das einer
uns vorschlägt, und weisen das Böse zurück, wenn es uns einer von uns, wenn
wir es nicht erkannt haben, als solches nachweist. Warum? Nun, das ist leicht
zu erklären. Wir acht hegen nur den einen Gedanken, alles so zu tun, daß Jesus
Freude daran haben kann, und das ist es!», ruft Thaddäus aus.
«Ich glaube nicht, daß die
übrigen andere Gedanken haben», sagt Andreas beschwichtigend.
«Nein, weder Philippus, noch
Bartholomäus, obgleich dieser älter und sehr israelitisch gesinnt ist... Nicht
einmal Thomas, der doch eher zum Menschlichen als zum Geistigen neigt. Ich
würde ihnen unrecht tun, wenn ich sie beschuldigte... Jesus, du hast recht.
Verzeihe! Aber wenn du wüßtest, was es für mich bedeutet, dich leiden zu
sehen, und dann noch seinetwegen! Ich bin dein Jünger wie alle anderen. Doch
zudem bin ich auch dein Freund und Bruder, und das hitzige Blut des Alphäus
ist in mir. Jesus, schau mich nicht so streng und traurig an. Du bist das
Lamm, und ich... der Löwe. Glaube mir, daß ich Mühe habe, mich zu beherrschen,
um nicht mit einer Pranke das Netz der Verleumdungen, das dich umgibt, zu
zerreißen und das Visier zu zerstören, hinter dem sich der wahre Feind
verbirgt. Ich möchte sein wirkliches geistiges Gesicht sehen, dem ich einen
Namen gebe – und vielleicht verleumde ich auf diese Weise – dem ich, wenn es
mir gelänge, ihn unfehlbar zu erkennen, einen Denkzettel verpassen würde. Ich
würde ihm für immer die Lust, dir zu schaden, austreiben», droht Thaddäus,
der, als er zu sprechen begonnen hat, durch einen Blick Jesu zurechtgewiesen
worden ist.
Jakobus des Zebedäus antwortet
ihm: «Du müßtest halb Israel einen Denkzettel verpassen! ... Aber Jesus wird
trotz allem seinen Weg gehen. Du hast es in diesen Tagen gesehen, daß niemand
etwas gegen ihn vermag. Was machen wir jetzt, Meister? Hast du hier
gesprochen?»
«Nein. Ich bin noch nicht einmal
einen Tag hier auf diesen Hängen. Ich habe im Wald geschlafen.»
«Weil sie dich nicht aufgenommen
haben?»
«Ihr Herz hat den Pilger
abgewiesen... ich hatte kein Geld ...»
«Dann haben sie Herzen aus Stein!
Was haben sie wohl befürchtet?»
«Daß ich ein Dieb sei... aber das
macht nichts. Der Vater, der im Himmel ist, ließ mich eine verirrte oder
entflohene Ziege finden. Kommt, ich zeige sie euch, sie lebt mit ihrem
Zicklein im Gestrüpp und ist nicht geflohen, als sie mich kommen sah. Sie ließ
mich sogar ihre Milch in meinen Mund spritzen... als ob auch ich eines ihrer
Jungen wäre. Ich habe neben ihr geschlafen, mit dem Zicklein nahe an meiner
Brust. Wie gut ist Gott mit seinem Wort!»
Sie begeben sich an jenen Ort, zu
einem, mit dichten, dornigen Brombeersträuchern bewachsenen Fleck Erde, wo
sich Jesus gestern aufgehalten hat. Dort steht eine uralte Steineiche. Ich
weiß nicht, wie sie
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weiterleben kann mit ihrem
mächtigen Stamm, der unten gespalten ist, als ob der Boden sich geöffnet und
ihre Wurzeln zerrissen hätte. Sie ist ganz umwunden von grünem Efeu und kahlem
Dorngestrüpp. In der Nähe weidet die Ziege mit ihrem Zicklein. Beim Anblick so
vieler Menschen hebt sie ihre Hörner zur Verteidigung, doch bald erkennt sie
Jesus wieder und beruhigt sich. Sie werfen ihr Brotkrusten zu und ziehen sich
zurück.
«Dort habe ich geschlafen»,
erklärt Jesus, «und dort wäre ich geblieben, wenn ihr nicht gekommen wäret.
Dann bekam ich Hunger, und der Zweck des Fastens war erfüllt... es war nicht
mehr nötig, für andere Dinge durchzuhalten, die doch nicht mehr zu ändern
sind...»
Jesus ist wieder traurig... Die
sechs blicken sich gegenseitig verstohlen an, sagen aber nichts.
«Nun? Wohin gehen wir?»
«Heute bleiben wir hier. Morgen
werden wir hinuntersteigen, um auf dem Weg nach Ptolemais zu predigen und um
an die Grenzen der Phönizier zu gehen und vor dem Sabbat wieder hier zu
sein...
Langsam kehren sie ins Dorf
zurück.
372. VERKÜNDIGUNG DER FROHEN
BOTSCHAFT AUF DEM WEGE NACH PHÖNIZIEN
Die schöne Straße von Phönizien
nach Ptolemais führt schnurgerade durch die Ebene zwischen dem Meer und den
Bergen, und da sie gut gepflegt ist, wird sie viel benützt. Häufig wird sie
von kleinen Straßen gekreuzt, die von den Ortschaften in der Ebene zu denen an
der Küste führen. An den meisten Straßenkreuzungen steht ein Haus, ein Brunnen
und eine einfache Hufschmiede für die Tiere, die vielleicht neue Hufeisen
benötigen könnten.
Jesus legt mit den sechs
Aposteln, die bei ihm geblieben sind, ein gutes Stück Straße zurück, zwei
Kilometer oder mehr. Es zeigt sich ihnen immer dasselbe Bild. Schließlich hält
er an einem dieser Häuser mit Brunnen und Hufschmiede an, an einer Abzweigung
bei einem Flüßchen, über das eine Brücke führt. Diese ist zwar solide gebaut,
jedoch gerade so breit, daß ein Wagen passieren kann, so daß man oft anhalten
muß. Das gibt den Reisenden verschiedener Rassen, wie Phöniziern und
eigentlichen Juden, die einander sonst eher feindlich gesinnt sind,
Gelegenheit, sich wenigstens in einer Sache einig zu werden, nämlich darin,
Rom zu verwünschen... Ohne die Römer hätten sie jedoch nicht einmal diese
Brücke und könnten bei Hochwasser nicht auf die andere Seite gelangen. Aber es
ist eben so: der Unterdrücker ist immer verhaßt, selbst wenn er nützliche
Dinge schafft.
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Jesus bleibt bei der Brücke in
einem sonnenbeschienenen Winkel stehen, wo sich das Haus befindet, an dessen
dem Gießbach zugewandten Seite die übelriechende Hufschmiede liegt, in der
gerade Hufeisen für ein Pferd und zwei Esel geschmiedet werden. Das Pferd ist
an einem römischen Wagen geschirrt, auf dem Soldaten sitzen, die sich damit
ergötzen, den schimpfenden Hebräern Grimassen zu schneiden. Einem Alten mit
langer Nase, der lauter als alle anderen schreit und mit seinem giftigen
Mundwerk sicher gerne die Römer beißen würde, werfen sie eine Handvoll
Pferdemist nach... Man kann sich vorstellen, was die Folge ist. Der alte Jude
rennt brüllend davon, als wäre er vom Aussatz angesteckt worden, und ihm
schließen sich im Chor andere Hebräer an. Die Phönizier schreien spöttisch:
«Schmeckt euch das neue Manna nicht? Eßt, eßt, um die Kraft zu haben, über die
zu schimpfen, die viel zu gut mit euch sind, ihr scheinheiligen Vipern!» Die
Soldaten lachen höhnisch... Jesus schweigt.
Der römische Wagen fährt
schließlich ab, während jemand den Hufschmied grüßt: «Salve, Titus, und viel
Erfolg!» Der Mann, keck, alt, mit einem Stiernacken, einem bartlosen Gesicht,
rabenschwarzen Augen über der dicken Nase, einer vorstehenden Stirn und
spärlichem kurzem, krausem Haar, hebt den schweren Hammer zum Abschiedsgruß
empor und wendet sich dann wieder seinem Amboß zu, auf den ein Junge ein
glühendes Eisen gelegt hat, während ein anderer Bursche den Huf eines Esels
absengt, um ihn für das Beschlagen vorzubereiten.
«Es sind fast alle Römer, diese
Hufschmiede an den Straßen, Soldaten, die nach ihrer Dienstzeit hiergeblieben
sind und hier gut verdienen. Nie machen sie Schwierigkeiten, wenn es darum
geht, ein Tier zu versorgen... und ein Esel kann auch am Vorabend des Sabbat
oder zur Zeit des Lichterfestes ein Hufeisen verlieren ...» bemerkt Matthäus.
«Der, der uns den Antonius
beschlagen hat, war mit einer Jüdin verheiratet», sagt Johannes.
«Es gibt doch mehr dumme Frauen
als gescheite», meint Jakobus des Zebedäus.
«Wem gehören dann die Kinder an?
Gott oder dem Heidentum?» fragt Andreas.
«Gewöhnlich gehören sie dem
stärkeren Ehepartner», antwortet Matthäus. Wenn die Frau keine Abtrünnige ist,
werden sie Juden; denn diese Männer kümmern sich nicht viel darum. Sie sind
nicht sehr... fanatisch, nicht einmal, was ihren Olymp angeht. Ich glaube, sie
denken nur ans Geldverdienen, da sie viele Kinder zu versorgen haben.»
«Das sind jedoch
verachtungswürdige Verbindungen, ohne einen Glauben, ohne ein wahres
Vaterland... bei allen verhaßt!» sagt Thaddäus.
«Nein, da irrst du dich. Rom
verachtet sie nicht. Im Gegenteil, es hilft
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ihnen immer. Sie sind so
nützlicher als zu der Zeit, da sie die Waffen trugen. Mit der Verderbnis des
Blutes dringen sie leichter als mit der Gewalt bei uns ein. Wenn jemand
darunter leidet, so ist es die erste Generation. Dann verstreuen sie sich über
das ganze Land... und die Welt vergißt», sagt Matthäus, der anscheinend viel
Erfahrung in diesen Dingen hat.
«Ja, die Kinder sind es, die
darunter leiden. Aber auch die jüdischen Frauen, die so verheiratet sind. Sie
leiden ihretwegen und ihrer Kinder wegen... sie tun mir leid. Niemand spricht
mehr mit ihnen von Gott. Doch in Zukunft wird es nicht mehr so sein. Diese
Trennung zwischen Menschen und Nationen wird es dann nicht mehr geben, denn
die Seelen werden vereint sein in einem einzigen Vaterland, dem meinigen»,
sagt Jesus, der bis dahin geschwiegen hat.
«Aber dann werden sie tot sein!»
ruft Johannes aus.
«Nein, sie werden in meinem Namen
versammelt werden. Nicht mehr Römer oder Libyer, Griechen oder Pontier, Iberer
oder Gallier, Ägypter oder Hebräer werden sie sein, sondern Seelen Christi.
Wehe jenen, welche die Seelen, die ich alle in gleicher Weise liebe und für
die ich in gleicher Weise gelitten habe, nach ihrer Abstammung unterscheiden
wollen. Wer so handelt, würde damit beweisen, daß er die Nächstenliebe, die
weltumfassend ist, nicht begriffen hat.»
Die Apostel fühlen den Tadel, der
aus diesen Worten spricht, und neigen schweigend ihre Häupter...
Der Lärm, den der Hammer auf dem
Amboß erzeugt, verstummt, und schon verlangsamen sich auch die Schläge auf den
letzten Eselhuf. Jesus nützt diese Pause, um seine Stimme zu erheben, damit
ihn die Menschen hören können. Es scheint, als ob er fortfahren würde, zu den
Aposteln zu sprechen. In Wirklichkeit spricht er zu den Vorübergehenden und
vielleicht auch zu denen im Hause, wahrscheinlich zu Frauen, denn
Frauenstimmen ertönen durch die schwüle Luft.
«Selbst wenn eine Verwandtschaft
zwischen Menschen nicht zu bestehen scheint, ist sie doch immer vorhanden, und
zwar jene, die auf die Abstammung vom alleinigen Schöpfer zurückgeht. Auch
wenn sich die Söhne des einen Vaters getrennt haben, so ist die ursprüngliche
Bindung deswegen nicht geändert worden, ebenso wie sich das Blut eines Sohnes
nicht ändert, wenn er das väterliche Haus ablehnt. In den Adern Kains floß das
Blut Adams, auch nach dem Verbrechen, das ihn zur Flucht durch die weite Welt
trieb. In den Adern der Söhne, die nach dem Schmerz Evas über den ermordeten
Sohn geboren wurden, floß dasselbe Blut, das auch in den Venen des fernen Kain
kochte.
Ebenso, und noch ausgeprägter,
verhält es sich mit der Gleichheit unter den Kindern des Schöpfers. Verirrt?
Ja. Verbannt? Ja. Abtrünnig? Ja. Schuldig? Ja. Sie sprechen andere Sprachen
und haben einen Glauben, den wir verabscheuen? Ja. Sie sind verdorben durch
ihre Verbindungen
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mit Heiden? Ja, doch ihre Seele
ist immer von einem Einzigen erschaffen worden, auch wenn sie zerrissen,
verirrt, verbannt und verdorben ist ... und selbst, wenn sie Ursache des
Schmerzes für Gott Vater ist, ist es doch stets eine von ihm erschaffene
Seele.
Die guten Söhne eines allgütigen
Vaters müssen eine gute Gesinnung haben, gut sowohl gegenüber dem Vater, als
auch gegenüber den Brüdern, was auch immer aus ihnen geworden sein mag, denn
sie sind Kinder ein und desselben Vaters. Sie müssen gut zum Vater sein und
versuchen, ihn in seinem Schmerz über seine Söhne, die Sünder, Abtrünnige oder
Heiden sind, zu trösten und sie zu ihm zurückzuführen. Sie müssen gut zu
diesen sein, denn sie haben eine von demselben Vater erschaffene Seele, die
zwar in einem sündigen Körper wohnt und durch eine falsche Religion beschmutzt
und stumpfsinnig geworden ist, aber dennoch vom Herrn kommt und der unseren
gleich ist.
Oh, bedenkt, ihr von Israel, daß
es niemanden gibt, und wäre es auch der mit seinem Götzenkult von Gott
entfernteste Heide oder der Gottloseste unter den Menschen, in dem nicht eine
Spur seiner Abstammung zurückgeblieben ist. Ihr, die ihr gefehlt habt, indem
ihr euch von der wahren Religion entfernt und euch zu Verbindungen
herabgelassen habt, die unsere Religion verbietet, bedenkt: selbst wenn ihr
glaubt, daß alles, was jüdisch in euch war, in der Liebe zu einem Menschen
anderen Glaubens und anderer Rasse erstorben und erstickt ist, so ist es doch
nicht tot, sondern lebt in euch: und das ist Israel! Ihr habt die Pflicht,
dieses verglimmende Feuer wieder anzufachen, den Funken, der nach dem Willen
Gottes noch glüht, zu nähren, um ihn, über eure fleischliche Liebe erhöht,
wieder aufflackern zu lassen. Diese Liebe endet mit dem Tod, aber eure Seele
stirbt nicht mit dem Tod. Bedenkt dies! Ihr, wer ihr auch immer sein möget,
wenn ihr euch über die Mischehe einer Tochter Israels mit einem Manne anderen
Glaubens und anderer Rasse ärgert, dann erinnert euch daran, daß ihr
verpflichtet seid, der verirrten Schwester liebevoll beizustehen, auf daß sie
die Wege des Vaters wiederfinde.
Die Anhänger des Erlösers sollen
Schuld tilgen, wo immer es Schuld zu tilgen gibt, auf daß Gott sich der Seelen
erfreue, die in den Schoß des Vaters zurückgefunden haben, und somit das Opfer
des Erlösers nicht unfruchtbar oder umsonst sei. Dies ist das neue, heilige
und dem Herrn wohlgefällige Gesetz.
Um viel Mehl zu durchsäuern,
mischt die Hausfrau ein wenig vom übriggebliebenen Sauerteig der vergangenen
Woche – ein Quentchen nur von einer großen Menge – unter den neuen Teig und
schützt diesen vorsorglich in der Wärme des Hauses vor schädlichem Luftzug.
Ihr wahren Jünger des Göttlichen Gutes, tut auch ihr dasselbe, und ihr
Geschöpfe, die ihr euch vom Vater und seinem Reich abgewendet habt. Gebt, ihr
Jünger, jenen Geschöpfen ein Quentchen von eurem Sauerteig als Hilfe und
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Stärkung, auf daß sie ihn mit dem
Atom von Gerechtigkeit, das noch in ihnen wohnt, vermengen. Schützt den neuen
Sauerteig vor den feindlichen Einflüssen des Bösen und bewahrt ihn in der
Wärme der Liebe. Laßt die Verirrte fühlen, daß sie noch von Israel geliebt
wird, als Tochter Sions und als eure Schwester, damit der gute Wille keime und
in die Seelen und für alle Seelen das Reich des Himmels komme.»
«Wer ist er denn? Wer ist er?»
fragen die Leute, die keine Eile mehr haben, die Brücke – obwohl diese nun
frei ist – zu überqueren oder weiterzugehen, wenn sie schon auf der anderen
Seite sind.
«Ein Rabbi!»
«Ein Rabbi von Israel.»
«Hier an der Grenze von Phönizien?
Das ist das erstemal, daß so etwas vorkommt!»
«Und doch ist es so, denn Aser
hat mir gesagt, daß er der ist, den sie den Heiligen nennen.»
«Dann ist er vielleicht zu uns
geflohen, weil sie ihn dort, wo er war, verfolgt haben.»
«Es waren gewisse Schlangen!»
«Es ist gut, daß er zu uns kommt!
Er wird Wunder wirken...»
Indessen hat sich Jesus auf einem
Weglein durch die Felder entfernt...
373. JESUS IN ALEXANDROSCENAE
Die Straße ist wieder erreicht
nach einem langen Umweg durch die Felder und nachdem sie auf einer Brücke aus
knarrenden Brettern, die nur für Personen gedacht und eher ein Steg als eine
Brücke ist, über einen Gießbach gegangen sind.
Der Marsch geht weiter über die
Ebene, die, je näher die Hügel der Küste kommen, immer schmaler wird, so daß
die Straße nach einem weiteren Gießbach, mit der unvermeidlichen römischen
Brücke, zu einer Bergstraße wird. Von ihr zweigt bei der Brücke eine weniger
steile Straße ab, die sich durch ein Tal nach Nordosten fortsetzt, während
jene, die Jesus nach dem römischen Wegweiser "Nach Alexandroscenae V Meilen"
gewählt hat, zu einer wirklichen Treppe in dem felsigen Berg wird, der seine
spitze Nase im Mittelmeer spiegelt, das man, je höher man steigt, immer besser
sehen kann. Nur Fußgänger und Maulesel benützen diesen Weg, oder vielmehr
diese Treppe. Doch weil er eine starke Abkürzung darstellt, ist er auch viel
begangen, und die Leute beobachten neugierig die galiläische Gruppe, die
daherkommt und für sie eine ungewohnte Erscheinung ist.
«Das muß wohl das Kap des Sturmes
sein», sagt Matthäus und zeigt auf das ins Meer ragende Vorgebirge.
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«Ja, hier unten liegt das Dorf,
von dem uns der Fischer sprach», bestätigt Jakobus des Zebedäus.
«Wer mag wohl diese Straße gebaut
haben?»
«Wer weiß, wie lange sie schon
besteht, und vielleicht ist sie ein Werk der Phönizier ...»
«Von der Höhe werden wir
Alexandroscenae sehen, hinter dem sich das "Weiße Kap" befindet. Du wirst ein
weites Meer sehen, mein Johannes!»sagt Jesus und legt einen Arm um die
Schultern des Apostels.
«Ich freue mich darauf. Doch bald
wird es dunkel. Wo werden wir haltmachen?»
«In Alexandroscenae. Siehst du?
Die Straße fällt schon ab, und dann ist alles Flachland bis zur Stadt, die man
dort unten sieht.»
«Es ist die Stadt der Frau von
Antigonea... Wie können wir es machen, um ihrem Wunsch nachzukommen?» sagt
Andreas.
«Weißt du, Meister, sie hat uns
gesagt: "Geht nach Alexandroscenae. Dort haben meine Brüder, die Proselyten
sind, Warenlager. Sorgt dafür, daß sie vom Meister hören. Auch wir sind Kinder
Gottes..." Sie hat geweint, denn da sie als Schwiegertochter nicht gern
gesehen ist, besuchen sie die Brüder nie und sie weiß nichts von ihnen»,
erklärt Johannes.
«Wir werden die Brüder der Frau
aufsuchen, und wenn sie uns als Wanderer aufnehmen, werden wir Gelegenheit
haben, den Wunsch der Frau zu erfüllen...»
«Aber wie können wir ihnen sagen,
daß wir sie gesehen haben?»
«Sie ist eine Untergebene des
Lazarus, und wir sind Freunde des Lazarus», sagt Jesus.
«Das ist wahr. Wirst du dann
sprechen ...»
«Ja. Doch beeilt euch, damit wir
das Haus finden. Wißt ihr, wo es ist?»
«Ja, bei der Festung. Diese Leute
haben gute Beziehungen zu den Römern, denen sie vieles verkaufen.»
«Gut so.»
Sie gehen raschen Schrittes auf
der schönen, ebenen Straße weiter, einer wahren Prachtstraße, die gewiß,
nachdem sie stufenweise die felsige Küste entlang geführt hat, mit den Straßen
im Landesinnern verbunden ist.
Alexandroscenae ist eher für
Soldaten als für Zivilisten erbaut worden und muß eine gewisse militärische
Bedeutung haben, die mir nicht bekannt ist. Eingebettet zwischen die beiden
Vorgebirge, scheint sie ein Wachtposten für diesen Teil des Meeres zu sein.
Nun kann man sowohl das eine als auch das andere Kap sehen und die Wehrtürme,
die dicht aneinandergereiht eine Kette bilden mit denen in der Ebene und in
der Stadt, wo nahe am Ufer die imposante Festung thront.
Nachdem sie nahe beim Tor einen
weiteren Gießbach überquert haben,
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betreten sie die Stadt, begeben
sich in dem schroffen Wall der Burg und sehen sich neugierig um, während sie
selbst neugierig beobachtet werden.
Die Soldaten sind sehr zahlreich
und scheinen in gutem Einvernehmen mit der Bevölkerung zu stehen, was die
Apostel zu der geflüsterten Bemerkung veranlaßt: «Phönizisches Volk! Ehrlos!»
Sie gelangen zu den Lagern der
Brüder Hermiones, während die letzten Käufer mit den verschiedensten Waren
beladen herauskommen; ich sehe Webstoffe, Geschirr, Heu, Getreide, Öl und
Lebensmittel. Die Gerüche von Leder, Gewürzen, Heu- und Strohballen und
Rohwolle füllen den weiten Torgang, der zum Hof führt, groß wie ein Marktplatz
und von Säulenhallen mit den verschiedenen Lagern umgeben ist.
Ein bärtiger, braunhaariger Mann
eilt herbei: «Was wollt ihr? Lebensmittel?»
«Ja... und wir suchen auch
Unterkunft, wenn du es nicht für unter deiner Würde hältst, Fremdlinge
aufzunehmen. Wir kommen von weither und waren noch nie hier. Nimm uns auf im
Namen des Herrn.»
Der Mann schaut Jesus, der für
alle spricht, aufmerksam an, durchforscht ihn und sagt schließlich: «Wahrlich,
ich gebe für gewöhnlich keine Unterkunft, doch du gefällst mir. Du bist ein
Galiläer, nicht wahr? Die Galiläer sind besser als die Judäer, die zu
hochnäsig sind. Sie verzeihen uns nicht, daß wir nicht von reinem Blut sind,
aber sie würden besser daran tun, dafür zu sorgen, selbst eine reine Seele zu
haben. Komm, tritt ein, ich komme gleich, ich will nur abschließen, denn es
wird schon dunkel.» Tatsächlich ist die Dämmerung bereits sehr vorgeschritten,
was sich in dem düsteren, von der Festung beherrschten Hof noch stärker
bemerkbar macht.
Sie betreten einen Raum und
setzen sich müde auf die umherstehenden Stühle...
Der Mann kommt mit zwei anderen
zurück, der eine älter, der andere noch ziemlich jung, deutet auf die Gäste,
die sich von ihren Sitzen erheben und grüßen, und sagt: «Hier! Was meint ihr?
Sie scheinen ehrliche Leute zu sein ...»
«Ja, du hast gut gehandelt», sagt
der Ältere seinem Bruder, und zu den Gästen gewandt, oder besser zu Jesus, der
ganz offensichtlich deren Haupt zu sein scheint: «Wie heißt ihr?»
«Jesus von Nazareth, Jakobus und
Judas, ebenfalls von Nazareth, Jakobus, Johannes und Andreas von Bethsaida und
Matthäus von Kapharnaum.»
«Wie kommt es, daß ihr hier seid?
Seid ihr Verfolgte?»
«Nein! Wir verkünden die Frohe
Botschaft. Wir haben mehr als einmal Palästina von Galiläa nach Judäa, vom
einen zum anderen Meer durchwandert, und sogar in Transjordanien und in der
Hauranitis waren wir. Nun sind wir hierhergekommen... um zu lehren.»
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«Ein Rabbi hier? Das verwundert
uns, nicht wahr, Philippus und Elias?» fragt der Ältere.
«Sehr. Welcher Kaste gehört ihr
an?»
«Keiner! Ich komme von Gott, und
die Guten der Welt glauben an mich. Ich bin arm und liebe die Armen, aber ich
verachte die Reichen nicht, die ich Nächstenliebe, Barmherzigkeit und
Loslösung vom Reichtum lehre, so wie ich die Armen lehre, ihre Armut zu lieben
im Vertrauen auf Gott, der niemanden zugrundegehen läßt. Unter meinen reichen
Freunden und Jüngern ist Lazarus von Bethanien...»
«Lazarus? Wir haben eine
Schwester, die mit einem seiner Untergebenen verheiratet ist.»
«Ich weiß es, deswegen bin ich
auch gekommen, um euch auszurichten, daß sie euch liebt und euch grüßen läßt.»
«Hast du sie gesehen?»
«Ich nicht. Doch diese, die bei
mir sind, und von Lazarus nach Antigonea gesandt wurden.»
«Oh, sagt! Was macht Hermione?
Ist sie wirklich glücklich?»
«Der Mann und die Schwiegermutter
lieben sie sehr. Der Schwiegervater achtet sie», sagt Judas Thaddäus.
«Aber er verzeiht ihr die
Abstammung mütterlicherseits nicht, sage es nur.»
«Er wird auch noch soweit kommen,
zu verzeihen, denn er hat sie sehr gelobt. Sie haben vier schöne und gute
Kinder und das macht sie glücklich. Aber sie denkt stets an euch und wollte,
daß der göttliche Meister zu euch kommt.»
«Aber wie... Bist du ... Bist du
der, den sie den Messias nennen 7»
«Ich bin es!»
«Bist du wirklich der ... Sie
haben uns in Jerusalern gesagt, du bist der, den man... das Wort Gottes nennt.
Ist es wahr?»
«Ja!»
«Aber bist du es nur für jene
dort oder für alle?»
«Für alle! Könnt ihr glauben, daß
ich es bin?»
«Glauben kostet nichts, umso mehr
wenn man hofft, daß der, an den man glaubt, imstande ist, wegzunehmen, was
Leid schafft.»
«Das ist wahr, Elias, aber sprich
nicht so, denn es ist ein sehr unreiner Gedanke, viel unreiner als gemischtes
Blut. Freue dich nicht in der Hoffnung, von dem befreit zu werden, was dich
als Mensch infolge der Verachtung der anderen kränkt, sondern freue dich über
die Hoffnung, das Himmelreich zu gewinnen.»
«Du hast recht. Ich bin ein
halber Heide, Herr ...»
«Verzage deshalb nicht, denn ich
liebe auch dich und bin deinetwegen gekommen.»
«Sie werden müde sein, Elias, und
du hältst sie mit Reden auf. Laßt uns
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nun zum Abendessen gehen und
danach führen wir sie zu ihren Nachtlagern. Es sind keine Frauen hier... Keine
Israelitin hat uns gewollt, und wir wollten jeweils nur eine von ihnen.
Verzeih daher, wenn das Haus dir kahl und kalt vorkommt.»
«Euer gutes Herz wird es schmuck
und warm für mich gestalten.»
«Wie lange willst du bleiben?»
«Nicht länger als einen Tag. Ich
möchte nach Tyrus und Sidon gehen und vor dem Sabbat in Achsib sein.»
«Das kannst du nicht, Herr! Sidon
ist weit entfernt!»
«Morgen möchte ich hier
sprechen.»
«Unser Haus ist wie ein Hafen.
Ohne es zu verlassen wirst du Zuhörer finden, so viele du willst, umso mehr,
als morgen großer Markttag ist.»
«Gehen wir also, und der Herr
möge euch eure Güte vergelten.»
374. AM TAG DANACH IN
ALEXANDROSCENAE
Der Hof der drei Brüder liegt
teils im Schatten, teils in der Sonne. Er ist voll von Menschen, die kommen
und gehen, um ihre Einkäufe zu erledigen. Draußen vor dem Tore, auf dem
Marktplatz, tobt der Lärm des Marktes von Alexandroscenae. Es ist ein wirres
Kommen und Gehen von Händlern und Käufern, die Esel, Schafe, Lämmer und Hühner
mit sich führen; denn hier macht man keine Umstände und die Hühner werden zu
Markte getragen, ohne daß man irgendwelche Verunreinigungen befürchtet. Das
Eselgeschrei, das Geblöke, das Hühnergegacker und das sieghafte Kikeriki der
jungen Hähne vermischt sich mit den Stimmen der Menschen zu einem heiteren
Chor, der zeitweilig wegen irgendeines Streites hohe, dramatische Töne
annimmt.
Auch im Hof der Brüder geht es
laut zu, und es fehlt auch nicht an Streit, sei es wegen eines Preises oder
weil ein Käufer weggenommen hat, was ein anderer schon vor ihm ausgesucht
hatte. Es fehlt auch nicht das Gejammer der Bettler, die auf dem Platz beim
Tor mit ihren klagenden Stimmen wie Sterbende ihre unzähligen Unglücksfälle
aufzählen.
Römische Soldaten kommen und
gehen stolz wie Herren durch das Warenlager und über den Platz. Ich nehme an,
daß sie im Dienst sind, denn ich sehe sie bewaffnet und nie einzeln zwischen
den Phöniziern, die alle Waffen tragen.
Auch Jesus geht mit seinen sechs
Aposteln im Hof hin und her, als warte er auf den geeigneten Zeitpunkt, um zu
sprechen. Dann begibt er sich einen Augenblick auf den Platz hinaus zu den
Bettlern, denen er eine milde Gabe gibt. Eine Zeitlang werden die Leute von
ihren Geschäften abgelenkt, doch dann betrachten sie die galiläische Gruppe
und fragen sich,
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wer diese fremden Menschen wohl
sein könnten. Manch einer, der sich bei den drei Brüdern erkundigt hat, sagt
den anderen Bescheid.
Ein Flüstern folgt den Schritten
Jesu, der ruhig dahingeht und die Kinder streichelt, denen er unterwegs
begegnet. In dem Geflüster fehlt es nicht an spöttischem Grinsen und wenig
schmeichelhaften Bemerkungen über die Hebräer, so wie es auch nicht an
ehrlichem Verlangen fehlt, diesen "Propheten", diesen "Rabbi", diesen
"Heiligen", diesen "Messias" aus Israel einmal sprechen zu hören; denn das
sind die Namen, die sie nennen, während sie auf ihn deuten, je nach dem Grad
ihres Glaubens und der Rechtschaffenheit ihres Herzens.
Ich höre zwei Mütter sagen: «Ist
es denn wahr?»
«Daniel selbst hat es mir gesagt.
Er hat in Jerusalern mit Leuten gesprochen, welche die Wunder des Heiligen
gesehen haben.»
«Ja, das ist möglich! Aber er ist
auch wirklich derselbe Mann?»
«Oh, Daniel hat mir versichert,
daß nur er es sein kann, so wie er spricht.»
«Also, was sagst du? Wird er mir
Gnade erweisen, auch wenn ich nur ein Proselyt bin?»
«Ich glaube schon... Versuche es!
Vielleicht kommt er später nicht mehr zu uns zurück. Versuche es, versuche es!
Er wird dir gewiß nichts Böses antun!»
«Ich gehe hin», sagt das Frauchen
und läßt einen Geschirrhändler stehen, mit dem sie gerade um den Preis von
Schüsseln gefeilscht hat. Der Verkäufer hat dem Gespräch der beiden zugehört
und ist enttäuscht und aufgebracht über den Verlust des Geschäftes; er macht
seinem Zorn Luft und läßt ihn an der zurückgebliebenen Frau aus, die er mit
Vorwürfen überhäuft: «Verfluchte Proselyten! Jüdisches Blut! Dumme Frau», usw.
USW.
Ich höre zwei würdevolle, bärtige
Männer miteinander reden: «Ich möchte ihn gerne hören. Man sagt, daß er ein
großer Rabbi ist.»
«Ein Prophet, solltest du sagen.
Größer als der Täufer. Elias hat mir gewisse Dinge erzählt! Und was für Dinge!
Er muß es wissen, denn er hat eine Schwester, die mit einem Untergebenen eines
reichen Israeliten verheiratet ist, und um etwas über sie zu erfahren, befrage
die Gefährten. Dieser reiche Mann ist ein enger Freund des Rabbi.»
Ein dritter, vielleicht ein
Phönizier, der in der Nähe steht und das Gespräch gehört hat, steckt sein
feines, spöttisches Gesicht zwischen die beiden und sagt höhnisch: «Schöne
Heiligkeit, die gewürzt ist mit Reichtum! Nach dem, was ich weiß, sollte ein
Heiliger in Armut leben!»
«Schweig, Doras, du
verleumderische Zunge, du Heide, du bist nicht würdig, über solche Dinge zu
urteilen.»
«Ach! Seid ihr wohl dessen
würdig, besonders du, Samuel? Du tätest besser daran, mir deine Schuld
zurückzuzahlen.»
62
«Da hast du dein Geld! Und
schleiche nicht mehr um mich herum, du Vampir mit einem Faungesicht!»...
Ich höre einen halbblinden Greis,
der von einem kleinen Mädchen begleitet wird, fragen: «Wo ist er? Wo ist der
Messias?» und das Mädchen: «Macht dem alten Markus Platz! Sagt dem alten
Markus, wo der Messias ist!»
Die beiden Stimmen, die alte
schwach und zitternd, die kindliche silbern und bestimmt, erklingen umsonst
auf dem Platz bis ein Mann fragt: «Wollt ihr zum Rabbi gehen? Er ist zum Haus
des Daniel zurückgekehrt, dort steht er und spricht mit den Bettlern.»
Ich höre zwei römische Soldaten:
«Es muß der sein, den die Juden verfolgen! Schon auf den ersten Blick erkennt
man, daß er besser ist als sie.»
«Gerade deswegen ist er ihnen
lästig.»
«Sagen wir es dem Fähnrich. Das
ist Befehl!»
«Sehr töricht, o Cajus! Rom hütet
sich vor den Lämmern, und es duldet, oder besser, es schmeichelt den Tigern»,
sagt Scipio.
«Das scheint mir nicht so, Scipio!
Pontius ist schnell bereit zu töten.»
«Ja... aber er verschließt sein
Haus den schleichenden Hyänen, die ihm schmeicheln, nicht.»
«Politik, Scipio! Politik!»
«Feigheit, Cajus, und Dummheit!
Diesen müßte er sich zum Freunde machen, damit er ihm hilft, dieses asiatische
Gesindel zum Gehorsam zu erziehen. Pontius erweist Rom keinen guten Dienst,
wenn er diesen Guten nicht beachtet und den Bösen schmeichelt», sagt Scipio.
«Kritisiere den Prokonsul nicht!
Wir sind Soldaten, und der Vorgesetzte ist uns heilig wie ein Gott. Wir haben
dem göttlichen Caesar Gehorsam gelobt, und der Prokonsul ist sein
Stellvertreter», meint Cajus.
«Das mag sein, was die Pflicht
dem heiligen unsterblichen Vaterland gegenüber betrifft, aber nicht, was die
innere Einstellung anbelangt.»
«Aber der Gehorsam kommt von der
inneren Einstellung. Wenn dein Geist sich gegen einen Befehl auflehnt und ihn
kritisiert, gehorchst du nicht mehr unbedingt. Rom stützt sich auf unseren
blinden Gehorsam, um seine Eroberungen zu sichern», erörtert Cajus.
«Du sprichst wie ein Tribun und
du hast recht. Doch wenn Rom auch Königin ist, so sind wir doch nicht ihre
Sklaven, sondern ihre Untergebenen. Rom hat keine und darf keine sklavischen
Bürger haben. Die Sklaverei zwingt der Vernunft der Bürger das Schweigen auf.
Meine Vernunft sagt mir, daß Pontius schlecht handelt, wenn er diesen
Israeliten nicht beschützt, sei er nun der Messias, ein Heiliger, ein Prophet
oder ein Rabbi, und ich fühle, daß ich das sagen kann, ohne daß mein Glaube an
Rom oder meine Liebe zu Rom dadurch beeinträchtigt würden. Vielmehr hoffe ich,
daß Pontius sich eines Besseren besinnt, denn ich spüre, daß er zum
63
Wohle Roms beiträgt, wenn er
Ehrfurcht vor den Gesetzen und deren Vertretern lehrt.»
«Du bist gelehrt, Scipio ... Du
wirst Karriere machen. Du bist schon weit voran. Ich bin ein armer Soldat.
Aber schau einmal, dort scharen sich die Leute um den Mann. Laß uns die
Offiziere benachrichtigen.»
Tatsächlich ist am Tor der drei
Brüder eine Volksmenge um Jesus versammelt, den man wegen seiner hohen Gestalt
gut sehen kann. Plötzlich ertönt ein Schrei, und Aufregung entsteht unter den
Leuten. Noch andere eilen vom Markt herbei, während einige aus der Menge zum
Platz und weiter laufen. Fragen... Antworten...
«Was ist vorgefallen?»
«Was gibt es?»
«Der Mann aus Israel hat den
alten Markus geheilt.»
«Der Schleier vor seinen Augen
ist verschwunden.»
Jesus hat inzwischen, gefolgt von
einer Menschenmenge, den Hof betreten. Ganz hinten ist einer der Bettler, der
sich mehr auf seinen Händen als auf den Füßen vorwärtsbewegt. Aber während die
Beine verkrüppelt und schwach sind, so daß er ohne Krücken nicht
vorwärtskommen würde, ist seine Stimme sehr kräftig, und wie eine Sirene
durchdringt sie die sonnige Morgenluft: «Heiliger! Heiliger! Messias! Rabbi!
Habe Erbarmen mit mir!» schreit er immerzu wie ein Verzweifelter.
Zwei oder drei Personen drehen
sich nach ihm um: «Halte deinen Mund! Markus ist Jude und du nicht.»
«Er wirkt nur an wahren
Israeliten Wunder, nicht am Gesindel!»
«Meine Mutter war Jüdin ...»
«Ja, und Gott hat sie gestraft,
indem er ihr ihrer Sünde wegen einen Krüppel als Sohn gegeben hat. Weg mit
dir, Sohn einer Wölfin! Geh an deinen Platz, Schmutz zum Schmutz ...»
Der Mann drängt sich gedemütigt
und aus Angst vor den geballten Fäusten an die Mauer ...
Jesus bleibt stehen, wendet sich
nach ihm um und gebietet: «Mann, komm hierher!»
Der Mann schaut ihn an und dann
die, die ihn bedrohen... und wagt nicht zu gehorchen.
Jesus bahnt sich einen Weg zu ihm
durch die kleine Menge. Er nimmt ihn bei der Hand, oder vielmehr, er legt ihm
seine Hand auf die Schulter und sagt: «Hab keine Angst, folge mir!» und mit
einem Blick auf die Grausamen sagt er streng: «Gott gehört allen Menschen, die
ihn suchen und barmherzig sind!»
Jene verstehen die Andeutung, und
nun sind sie es, die im Hintergrund bleiben, oder vielmehr, die stehenbleiben,
wo sie sind.
Jesus dreht sich wieder um. Er
sieht sie dort, verwirrt und bereit, wegzugehen, und sagt zu ihnen: «Nein,
kommt nur. Es wird euch guttun,
64
wenn sich eure Seele aufrichtet
und stärkt, so wie ich diesen aufrichte und stark mache, weil er glauben kann.
Mann, ich sage dir: sei geheilt von deiner Krankheit.» Dann nimmt er seine
Hand von der Schulter des Krüppels, der wie von einem Stoß geschüttelt worden
ist.
Nun richtet sich der Mann auf,
steht sicher auf seinen Füßen, wirft die abgenützten Krücken weg und ruft
laut: «Er hat mich geheilt! Der Gott meiner Mutter sei gepriesen!» Dann kniet
er nieder, um den Saum des Gewandes Jesu zu küssen.
Der Tumult jener, die sehen
wollen oder gesehen haben und kommentieren, ist an seinen Höhepunkt gelangt.
In dem tiefen Gang, der vom Platz zum Hof führt, hallen die Stimmen wie in
einem Brunnen wider, und die Festungsmauern werfen das Echo zurück.
Die Soldaten müssen annehmen, daß
ein Streit ausgebrochen ist – was an diesen Orten mit großen Rassen- und
Glaubensunterschieden leicht passieren kann – und ein Trupp eilt herbei, macht
sich rücksichtslos Platz und erkundigt sich nach dem Vorgefallenen.
«Ein Wunder! Ein Wunder! Jonas,
der Krüppel, ist geheilt worden. Dort ist er, bei dem Mann aus Galiläa.»
Die Soldaten schauen sich
schweigend an und warten, daß sich die Menge verläuft, hinter der immer neue
Menschen folgen, die aus den Läden und von dem Platz kommen, auf dem nur die
Verkäufer zurückgeblieben sind, enttäuscht über die unerwartete Ablenkung
ihrer Kundschaft, die sie um die Einnahmen des Tages bringt. Als sie nun einen
der drei Brüder vorübergehen sehen, fragen sie: «Philippus, weißt du, was der
Rabbi nun tut?»
«Er spricht, er lehrt, er ist in
meinem Hof t» sagt Philippus frohlockend.
Die Soldaten beraten sich:
Hierbleiben? Fortgehen?
«Der Fähnrich hat gesagt, wir
sollen ihn überwachen...»
«Wen? Den Mann? Ach, wenn es nur
seinetwegen wäre, dann könnten wir auch um einen Krug Zypernwein würfeln
gehen», sagt Scipio, der Soldat, der Jesus zuvor dem Kameraden gegenüber
verteidigt hat.
«Ich würde sagen, daß eher er es
ist, der beschützt werden muß, nicht das Recht Roms. Seht ihr ihn dort? Unter
unseren Göttern gibt es keinen mit einem so sanften und doch so männlichen
Aussehen. Das Gesindel ist es nicht wert, ihn bei sich zu haben, und da die
Unwürdigen stets böse sind, bleiben wir hier, um ihn zu beschützen. Im Notfall
werden wir ihm den Rücken decken und diese Verbrecher verprügeln», sagt halb
spöttisch, halb bewundernd ein anderer.
«Du hast recht, Pudentius.
Vielmehr, damit Procorus, der Fähnrich, der dauernd von Verschwörungen gegen
Rom träumt und... von Beförderungen für sich – dank seiner scharfen Wache über
das Wohl des göttlichen Caesar und der Göttin Roma, der Mutter und Herrin der
Welt – sich
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selbst davon überzeugen kann, daß
er sich hier keine Orden oder Auszeichnungen erwerben kann... Geh und rufe
ihn, Acius.»
Ein junger Soldat eilt davon,
kommt im Laufschritt zurück und sagt: «Procorus kommt nicht. Er schickt den
Triarier (Legionsveteran) Aquila ...»
«Gut! Gut! Er ist noch besser als
Caecilius Maximus. Aquila hat in Afrika und in Gallien gedient; er war in den
grausigen Wäldern Germaniens, die uns Varus und seine Legionen geraubt haben.
Er kennt Griechen und Briten und weiß mit gutem Gespür zu unterscheiden... Oh,
sei gegrüßt. Da kommt der siegreiche Aquila! Komm und lehre uns Armselige, den
Wert eines Menschen zu erkennen!»
«Es lebe Aquila, das Vorbild der
Miliz!» schreien alle und schütteln
den alten Soldaten mit dem von
Narben gezeichneten Gesicht; und wie das Gesicht, so sind auch die nackten
Arme und Waden.
Er lächelt gutmütig und ruft: «Es
lebe Rom, das Vorbild der Welt, nicht ich, der arme Krieger. Was gibt es denn
zu tun?»
«Den großen Mann zu überwachen,
der so blond ist wie das hellste Kupfer.»
«Gut. Aber wer ist er denn?»
«Sie sagen, er sei der Messias.
Er heißt Jesus und ist aus Nazareth. Er ist es, weißt du, dessentwegen der
Befehl erlassen wurde ...»
«Hm! Ja, ja... Aber mir scheint,
daß wir hinter blauem Dunst herlaufen.»
«Sie sagen, er wolle sich zum
König machen und Rom stürzen. Das Synedrium und die Pharisäer, die Sadduzäer
und Herodianer haben ihn bei Pontius angezeigt. Du weißt, daß die Juden diese
Idee im Kopf haben, und ab und zu kommt dabei ein König heraus ...»
«Ja, ja... Aber wenn es deswegen
ist! ... Auf jeden Fall wollen wir hören, was er sagt. Mir scheint, er
bereitet sich zum Reden vor.»
«Ich habe von dem Soldaten, der
beim Centurio dient, erfahren, daß Publius Quintilianus von ihm wie von einem
göttlichen Philosophen gesprochen hat... und auch die kaiserlichen Frauen sind
begeistert...», sagt ein anderer junger Soldat.
«Das glaube ich gerne! Auch ich
wäre begeistert, wenn ich eine Frau wäre, und würde mir wünschen, ihn in
meinem Bett zu haben...» sagt lachend ein weiterer junger Soldat.
«Schweig, du Schmutzfink! Die
Wollust frißt dich auf!» scherzt ein anderer.
«Und dich nicht, Fabius? Anna,
Sira, Alba, Maria?»
«Schweig, Sabinus! Er spricht,
und ich will ihm zuhören», befiehlt der Legionsveteran, und alle schweigen.
Jesus ist an der Mauer auf eine
Kiste gestiegen und deshalb für alle zu sehen. Sein liebevoller Gruß ist schon
durch die Luft erschallt, gefolgt von
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den Worten: «Kinder des einen
Schöpfers, hört!» Dann fährt er fort, umgeben vom aufmerksamen Schweigen der
Leute.
«Die Zeit der Gnade für alle,
nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt, ist gekommen.
Ihr Juden, die ihr aus vielerlei
Gründen hier seid, ihr Proselyten, Phönizier, Heiden, hört alle das Wort
Gottes, versteht die Gerechtigkeit, erkennt die Liebe. Mit der Weisheit, der
Gerechtigkeit und der Liebe habt ihr die Mittel, um zum Reiche Gottes zu
gelangen; zu dem Reich, das nicht nur für die Kinder Israels, sondern für all
jene bestimmt ist, die von jetzt an den wahren, einzigen Gott lieben und den
Worten seines Wortes glauben werden.
Hört! Ich bin von sehr weit her
gekommen, aber nicht mit der Absicht eines Unterdrückers oder der Gewalt eines
Eroberers. Ich bin nur gekommen, um der Erlöser eurer Seelen zu sein.
Herrschaft, Reichtümer und Ehrenstellen ziehen mich nicht an und bedeuten mir
nichts. Ich schaue nicht einmal auf sie, oder vielmehr, ich betrachte sie
voller Mitleid, da sie ebensoviele Ketten sind, welche eure Seele gefangen
halten und sie daran hindern, zum Herrn, zum Ewigen, Einzigen, Allumfassenden,
Heiligen und Gesegneten zu gelangen. Ich blicke auf sie und nähere mich ihnen
als den größten Armseligkeiten. Ich versuche, sie zu befreien von ihrer
betörenden, grausamen Anziehungskraft, damit sich die Menschenkinder ihrer in
Gerechtigkeit und Heiligkeit bedienen und sie nicht als grausame Waffen
benützen, die den Menschen verwunden und töten, und vor allem den Geist
dessen, der sich ihrer nicht in heiliger Weise bedient.
Wahrlich, ich sage euch: es ist
für mich leichter, einen entstellten Körper zu heilen als eine entstellte
Seele; es ist für mich leichter, erloschenen Pupillen die Sehkraft und einem
Sterbenden die Gesundheit wiederzugeben, als den Geist des Menschen zu
erleuchten und kranke Seelen zu heilen. Warum das? Weil der Mensch sein wahres
Lebensziel aus dem Auge verloren hat und sich zu sehr um das Vergängliche
kümmert. Der Mensch weiß nicht, oder erinnert sich nicht, oder wenn er sich
noch daran erinnert, will er dem heiligen Gebot des Herrn, Gutes zu tun, nicht
gehorchen – und dies gilt auch den Heiden, die mir zuhören – denn es gilt für
Rom wie für Athen, für Gallien wie auch für Afrika, weil das Sittengesetz
unter jedem Himmel, in jeder Religion und in jedem aufrechten Herzen besteht.
Die Religionen, angefangen von jener Gottes bis zur individuellen Moral, sagen
alle, daß der bessere Teil von euch überlebt und gemäß seinem Verhalten auf
dieser Erde seinen Lohn im anderen Leben erhalten wird.
Demzufolge ist das Ziel des
Menschen der Erwerb des Friedens im anderen Leben, und nicht die Völlerei, die
Habgier, die Herrschsucht und das Vergnügen, die nur kurze Zeit dauern und
eine Ewigkeit lang mit sehr harten Strafen vergolten werden.
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Entweder kennt der Mensch diese
Wahrheit nicht, erinnert sich nicht daran oder will sich nicht daran erinnern.
Wenn er sie nicht kennt, ist er weniger schuldig; wenn er sie vergißt, ist er
schon schuldig, denn die Wahrheit muß wach erhalten bleiben, wie eine heilige
Fackel, in Geist und Herz. Doch wenn er sich nicht daran erinnern will oder
wenn er bei ihrem Aufflammen seine Augen schließt, um sie nicht zu sehen, weil
er sie haßt, wie die Stimme eines schulmeisterlichen Redners: dann ist seine
Schuld groß, sehr groß!
Wenn jedoch die Seele ihr
schlechtes Handeln verabscheut und sich vornimmt, für den Rest des Lebens das
wahre Ziel des Menschen anzustreben, das darin besteht, den ewigen Frieden im
Reiche des wahren Gottes zu erlangen, dann verzeiht ihr Gott. Seid ihr bisher
den falschen Weg gegangen? Seid ihr betrübt, weil ihr glaubt, es sei zu spät,
den richtigen Weg einzuschlagen? Seid ihr untröstlich und sagt: "Ich habe
nichts davon gewußt! Ich bin so unwissend und weiß nicht, was ich tun soll."
Nein, denkt nicht, daß es sich wie bei materiellen Dingen verhält, daß es viel
Zeit und Mühe kostet, das Vergangene wiedergutzumachen. Mit der Heiligkeit
verhält es sich anders. Die Güte des Ewigen, des wahren Herrn und Gottes ist
so unendlich, daß er euch nicht den bereits zurückgelegten Weg zurückgehen
läßt bis an den Scheideweg, an dem ihr den richtigen Weg für den falschen
verlassen habt. So groß ist seine Güte, daß er im Augenblick, da ihr sagt:
"Ich will der Wahrheit angehören", also Gott, denn Gott ist die Wahrheit,
durch ein rein geistiges Wunder die Weisheit in euch eingießt, wodurch ihr von
Unwissenden zu Besitzern übernatürlicher Wissenschaft werdet, gleich denen,
die sie schon seit Jahren besitzen.
Weisheit ist, nach Gott zu
streben, Gott zu lieben, den Geist zu pflegen, das Reich Gottes anzustreben
und alles abzuweisen, was Fleisch, Welt und Satan ist. Weisheit ist, dem
Gesetz Gottes, welches das Gesetz der Liebe, des Gehorsams, der Enthaltsamkeit
und der Rechtschaffenheit ist, zu gehorchen. Weisheit ist, Gott mit seinem
ganzen Wesen und den Nächsten wie sich selbst zu lieben. Das sind die beiden
unentbehrlichen Grundlagen, um weise gemäß der Weisheit Gottes zu sein. Unsere
Nächsten sind nicht nur jene unseres Blutes, unserer Rasse und unserer
Religion, sondern alle Menschen, Reiche und Arme, Gelehrte und Unwissende,
Juden, Proselyten, Phönizier, Griechen, Römer ...»
Jesus wird von dem drohenden
Geschrei gewisser Hetzer unterbrochen. Er schaut sie an und sagt: «Ja, das ist
Liebe, denn ich bin kein schmeichlerischer Lehrer und sage die Wahrheit; und
so muß ich handeln, um das in euch zu säen, was für das ewige Leben notwendig
ist. Ob es euch gefällt oder nicht, ich muß es sagen, um meine Aufgabe als
Erlöser zu erfüllen, und an euch ist es, eure Pflicht zu tun, da ihr der
Erlösung bedürft. Also, den Nächsten lieben, und zwar mit einer alles
umfangenden Liebe, einer heiligen Liebe, und nicht mit einer Liebe, die mit
schmutzigen Interessen
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verbunden ist, so daß der Römer,
der Phönizier oder der Proselyt zu verfluchen wäre, solange nicht die Sinne
oder das Geld im Spiele sind, während im entgegengesetzten Falle jeder Fluch
fällt ...»
Erneut entsteht Unruhe in der
Menge, während die Römer auf ihrem Platz in der Säulenhalle rufen: «Beim
Jupiter! Der Mann spricht gut!»
Jesus wartet, bis sich die Unruhe
gelegt hat, und fährt dann fort: «Wir sollen den Nächsten lieben, wie auch wir
geliebt werden wollen. Uns mißfällt es, mißhandelt, verachtet, beraubt,
unterdrückt, verleumdet und beschimpft zu werden, und die gleiche nationale
oder persönliche Empfindlichkeit, die wir haben, haben auch die anderen
Menschen. Hüten wir uns also davor, uns gegenseitig etwas Böses anzutun, das
wir selbst nicht erleiden möchten.
Weisheit ist es, den Zehn Geboten
Gottes zu gehorchen, die lauten:
"Ich bin der Herr, dein Gott. Du
sollst keine fremden Götter neben mir haben. Du sollst keine Götzenbilder
haben und ihnen keine Verehrung erweisen.
Du sollst den Namen Gottes nicht
vergeblich nennen. Es ist der Name deines Herrn und Gottes, und Gott wird den
strafen, der ihn ohne Grund, bei einem Fluch oder zur Bestätigung einer Sünde,
anruft.
Gedenke, daß du die Feste
heiligst. Der Sabbat ist dem Herrn heilig, denn an diesem Tag ruhte er nach
der Schöpfung und hat ihn gesegnet und geheiligt.
Du sollst Vater und Mutter ehren,
auf daß du lange in Frieden auf Erden und ewig im Himmel lebest.
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst kein falsches Zeugnis
ablegen wider deinen Nächsten.
Du sollst nicht verlangen nach
Haus, Frau, Knecht, Magd, Ochs, Esel oder anderen Dingen, die deinem Nächsten
gehören."
Das ist die Weisheit, und wer sie
befolgt, ist weise und erwirbt das ewige Leben und das ewige Reich. Nehmt euch
vor, von nun an nach der Weisheit zu leben und sie den vergänglichen Dingen
dieser Welt voranzustellen.
Was sagt ihr dazu? Sagt ihr, daß
es zu spät ist? Nein! Hört euch dieses Gleichnis an:
Ein Gutsbesitzer ging einst bei
Tagesanbruch hinaus, um Arbeiter für seinen Weinberg zu dingen, und einigte
sich mit ihnen auf einen Denar als Taglohn.
Um die dritte Stunde ging er
wiederum hinaus, und da er glaubte, daß die eingestellten Arbeiter nicht
ausreichen würden, und er auf dem Markt Untätige sah, die darauf warteten,
gedungen zu werden, stellte er auch diese ein und sagte: "Geht auch ihr in
meinen Weinberg; ich werde euch
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den Lohn geben, den ich auch den
anderen versprochen habe", und jene gingen.
Zur sechsten und zur neunten
Stunde ging er wieder hinaus, sah noch andere Arbeitslose und sagte zu ihnen:
"Wollt auch ihr bei mir arbeiten? Ich gebe meinen Arbeitern einen Denar als
Taglohn." Sie erklärten sich damit einverstanden und gingen.
Als er endlich zur elften Stunde
hinausging, sah er wieder andere ohne Arbeit. "Was macht ihr hier? Schämt ihr
euch nicht, den ganzen Tag untätig herumzusitzen?" fragte er sie. "Niemand
läßt uns auf Taglohn arbeiten. Wir hätten gerne gearbeitet, um uns den
Unterhalt zu verdienen, doch keiner hat uns in seinen Weinberg gerufen." "So
rufe ich euch in meinen Weinberg. Geht, ihr werdet den gleichen Lohn erhalten
wie die anderen." Dies sagte er, denn er war ein guter Herr und hatte Mitleid
mit der Not seines Nächsten.
Als der Abend gekommen und die
Arbeit beendet war, rief der Herr seinen Verwalter und sagte: "Rufe die
Arbeiter und gib ihnen ihren Lohn, gemäß meiner Abmachung. Beginne bei den
letzten, die am bedürftigsten sind, da sie den ganzen Tag keine Nahrung zu
sich genommen haben, während die anderen einmal oder mehrere Male gegessen
haben, und die außerdem aus Dankbarkeit für mein Mitgefühl mehr als alle
anderen gearbeitet haben. Ich habe sie beobachtet und entlasse sie, auf daß
sie ihre verdiente Ruhe genießen und sich mit ihren Angehörigen des Lohnes
ihrer Arbeit erfreuen mögen." Der Verwalter tat, wie der Herr ihm befohlen
hatte, und gab jedem einen Denar.
Als die letzten an der Reihe
waren, die von der ersten Stunde des Tages an gearbeitet hatten, waren sie
erstaunt darüber, daß auch sie nur einen Denar erhielten, und beklagten sich
untereinander und beim Verwalter, der ihnen erwiderte: "Ich habe diese
Anordnung erhalten. Geht und beklagt euch bei meinem Herrn und nicht bei mir."
Diese gingen hin und sprachen: "Siehe, du bist nicht gerecht. Wir haben zwölf
Stunden lang gearbeitet, erst in der Nässe des Taus, dann unter der stechenden
Sonne und schließlich wieder in der Feuchtigkeit des Abends, und du hast uns
denselben Lohn gegeben wie jenen Faulpelzen, die nur eine Stunde gearbeitet
haben! ... Warum das?" Besonders einer unter ihnen erhob seine Stimme und
behauptete, betrogen und in unwürdiger Weise ausgenützt worden zu sein.
"Freund, worin tue ich dir
unrecht? Was habe ich in der Frühe mit dir vereinbart? Die Arbeit eines Tages,
und als Lohn einen Denar, nicht wahr?"
"Ja, das ist wahr. Aber du hast
jenen dasselbe gegeben, obwohl sie viel weniger gearbeitet haben..."
"Du warst doch mit diesem Lohn
einverstanden und er schien dir gerecht zu sein?"
70
"Ja, ich war damit einverstanden,
weil andere mir vielleicht weniger gegeben hätten."
"Bist du bei mir überfordert
worden?"
"Nein, gewiß nicht."
"Ich habe dir während des Tages
eine lange Ruhepause gewährt und dir auch Nahrung gegeben! Drei Mahlzeiten
hast du erhalten, und Speisen und Ruhepause waren nicht vereinbart. Nicht
wahr?"
"Nein, sie waren nicht
vereinbart."
"Warum hast du sie dann
angenommen?"
"Aber... Du hast gesagt: 'Es ist
besser so, damit ihr nicht zu müde nach Hause kommt.' Wir glaubten, nicht
recht zu hören... Deine Mahlzeiten waren gut, es war für uns eine Ersparnis,
es war..."
"Es war eine Gnade, die ich euch
umsonst gab und die niemand verlangen konnte. Nicht wahr! ?"
"Das stimmt."
"So bin ich also auch mit euch
gut gewesen. Warum beklagt ihr euch dann? Ich müßte mich über euch beklagen,
denn als ihr gesehen habt, daß ihr es mit einem guten Herrn zu tun habt, habt
ihr langsam gearbeitet. Jene hingegen, die nach euch gekommen sind, haben mit
der Zugabe einer einzigen Mahlzeit, und die letzten ganz ohne Verpflegung,
eifriger gearbeitet und in kürzerer Zeit das gleiche geleistet wie ihr in
zwölf Stunden. Ich hätte euch betrogen, wenn ich euch nur den halben Lohn
gegeben hätte, um mit der anderen Hälfte die übrigen Arbeiter zu bezahlen.
Aber dies ist nicht der Fall. Daher nimm das Deine und geh! Willst du mir in
meinem Hause vorschreiben, was ich zu tun habe? Ich tue, was ich will und was
gerecht ist. Sei nicht böse und verleite mich nicht zur Ungerechtigkeit. Ich
bin gut!"
Wahrlich, ich sage euch allen,
die ihr mir zuhört, daß Gott, der Vater, mit allen Menschen dasselbe Bündnis
schließt und den gleichen Lohn verspricht. Wer dem Herrn gewissenhaft dient,
wird von ihm mit Gerechtigkeit belohnt werden, selbst wenn er eines kurzen
Lebens wegen nur noch wenig arbeiten kann. Wahrlich, ich sage euch, nicht
immer werden die Ersten auch die Ersten im Himmelreich sein. Dort werden wir
oft die Ersten als Letzte und die Letzten als Erste sehen. Dort werden wir
heilige Menschen sehen, die nicht aus Israel stammen, jedoch heiliger als
viele aus Israel sind. Ich bin gekommen, um alle im Namen Gottes zu berufen,
doch viele sind berufen, wenige aber auserwählt, denn nur wenige sind es, die
nach der Weisheit verlangen.
Nicht weise ist, wer für die Welt
und das Fleisch lebt und nicht für Gott. Er ist weder für die Erde noch für
den Himmel weise, denn auf Erden schafft er sich Feinde, Strafen und
Gewissensbisse, und den Himmel verliert er doch für alle Ewigkeit.
Ich wiederhole: Seid gut zu eurem
Nächsten, wer immer er auch sein
71
mag. Seid gehorsam und überlaßt
es Gott, den zu bestrafen, der nicht gerecht ist in seinen Befehlen. Seid
enthaltsam und widersteht der Sinnlichkeit; seid redlich und widersteht der
Habsucht. Verurteilt nur, wenn es gerechtfertigt ist, und nicht, wenn es euch
nützlich erscheint. Fügt einem anderen nicht zu, was ihr selbst nicht wollt,
daß euch zugefügt werde ...»
«Mach, daß du fortkommst, du
lästiger Prophet! Du hast uns das Geschäft verdorben! ... Du hast uns die
Kundschaft vertrieben! ...», schreien die Verkäufer, während sie in den Hof
eindringen... Die, die schon bei den ersten Belehrungen Jesu im Hof gelärmt
haben – und es sind nicht nur Phönizier, sondern auch Juden, die, ich weiß
nicht aus welchem Grund, in der Stadt sind – vereinigen ihre Stimmen mit denen
der Verkäufer und schimpfen und drohen, ihn fortzujagen... Jesus gefällt ihnen
nicht, weil er nicht zum Bösen rät ... Er steht mit verschränkten Armen da und
betrachtet sie traurig und ernst.
Das Volk, in zwei Parteien
gespalten, zankt sich, und die einen verteidigen, die anderen beleidigen den
Nazarener. Man hört Schmähungen, Lobsprüche, Verwünschungen, Segnungen,
Ausrufe wie: «Die Pharisäer haben recht! Du bist an Rom verkauft, ein Freund
der Zöllner und Dirnen.» «Schweigt, verleumderische Zungen, ihr an Rom
Verkaufte, ihr Phönizier der Hölle!» «Teufel seid ihr!» «Daß die Hölle euch
verschlinge!» «Fort, Fort!» «Fort ihr Diebe, die ihr hier Handel treibt, ihr
Wucherer», usw.
Die Soldaten greifen ein und
sagen: «Der ist alles andere als ein Aufwiegler! Er ist vielmehr ein
Verfolgter!» Mit ihren Lanzen jagen sie alle aus dem Hof und schließen das
große Tor.
Zurück bleiben die drei Brüder
und die sechs Jünger mit Jesus.
«Was fällt euch ein, ihn hier
reden zu lassen?» fragt der Triarier die drei Brüder.
«Es haben schon viele hier
gesprochen!» antwortet Elias.
«Ja, und es ist nichts
vorgefallen, weil sie so redeten, wie es den Menschen gefällt. Dieser nicht!
Er ist unerträglich...» Aufmerksam betrachtet der alte Soldat Jesus, der
seinen Rednerplatz verlassen hat und nun aufrecht und wie geistesabwesend
dasteht.
Draußen fährt die Menge fort,
sich zu zanken, und zwar so heftig, daß von der Kaserne weitere Soldaten
herbeieilen und mit ihnen sogar der Centurio. Sie klopfen an und lassen sich
öffnen, während andere draußen bleiben, um die zurückzudrängen, die schreien:
«Es lebe der König von Israel!» wie auch die, die Jesus verfluchen.
Der Centurio tritt aufgeregt vor.
Er fährt den alten Aquila zornig an: «So schützest du Rom? Indem du erlaubst,
daß einem fremden König in einem unterjochten Land zugejubelt wird?»
Der Alte grüßt stramm und
antwortet: «Er lehrte Ehrfurcht und Gehorsam und sprach von einem Reich, das
nicht von dieser Welt ist, und
72
deswegen hassen sie ihn. Doch er
ist gut und respektvoll. Ich hatte keinen Grund, ihn zum Schweigen zu zwingen,
denn er hat unser Gesetz nicht verletzt.»
Der Hauptmann beruhigt sich und
murmelt: «Dann ist es wieder ein Aufstand dieses schmutzigen Gesindels ...
Gut! Gebt dem Mann die Weisung, sofort wegzugehen. Ich will hier keine
Unannehmlichkeiten. Führt meinen Befehl aus und begleitet ihn bis vor die
Stadt, sobald die Straße frei ist. Er mag gehen, wohin er will. Zur Hölle,
wenn er will. Aber er soll das Gebiet, das unter meiner Gerichtsbarkeit steht,
verlassen. Verstanden?»
«Jawohl, zu Befehl.»
Der Centurio dreht sich um, wobei
seine Rüstung aufleuchtet und sein purpurfarbener Mantel flattert, und geht
von dannen, ohne daß er Jesus eines Blickes gewürdigt hätte.
Die drei Brüder sagen zum
Meister: «Es tut uns leid! ...»
«Ihr habt keine Schuld. Fürchtet
euch nicht, ihr werdet keinen Schaden erleiden. Ich sage es euch...»
Die drei wechseln die Farbe...
Philippus fragt: «Woher weißt du von dieser unserer Furcht?»
Jesus lächelt sanft, ein
Sonnenstrahl beleuchtet sein trauriges Antlitz: «Ich weiß, was in den Herzen
ist, und kenne die Zukunft.»
Die Soldaten warten in der Sonne,
schauen verstohlen zu Jesus hin und machen ihre Bemerkungen ...
«Wie werden sie uns je lieben
können, wenn sie auch den hassen, der sie nicht unterdrückt?»
«Und der dazu noch Wunder wirkt,
mußt du sagen...»
«Beim Herkules! Welcher von den
unsrigen war es, der gekommen ist mit der Weisung, daß ein Verdächtiger zu
überwachen sei?»
«Es war Cajus.»
«Der Eiferer! Inzwischen haben
wir unsere Ration verpaßt und ich sehe schon, daß ich auf den Kuß eines
Mädchens werde verzichten müssen! ... Ah!»
«Du Epikuräer! Wo ist denn die
Schöne?»
«Dir sage ich es bestimmt nicht,
Freund!»
«Sie wohnt im Haus hinter dem des
Töpfers, bei der Festungsmauer. Ich weiß es, denn ich habe dich vor einigen
Tagen dort gesehen...», sagt ein anderer.
Der Triarier geht um Jesus herum
als wolle er einen Spaziergang machen, schaut ihn fortwährend an und weiß
nicht, was er sagen soll... Jesus lächelt ihm zu, um ihn zu ermutigen. Doch
der Mann, unentschlossen was er tun soll... nähert sich ihm noch mehr. Jesus
deutet auf die Narben: «Alles Verwundungen? Du mußt ein Held und ein treuer
Diener deines Vaterlands sein...»
73
Der alte Soldat wird purpurrot
über dieses Lob.
«Du hast viel durchgemacht aus
Liebe zu deinem Vaterland und zu deinem Kaiser... Möchtest du nicht für ein
viel größeres Vaterland, nämlich den Himmel, leiden? Für einen ewigen
Herrscher: Gott?»
Der Soldat schüttelt den Kopf und
sagt: «Ich bin ein armer Heide, doch ist es nicht gesagt, daß ich nicht noch
zur elften Stunde kommen werde. Wer wird mich aber unterrichten? Du siehst...
Sie verjagen dich, und das, ja, das sind Wunden, die schmerzen, nicht die
meinen... Ich habe sie meinen Feinden vergolten. Aber du, was gibst du dem,
der dich verwundet?»
«Verzeihung, Soldat, Verzeihung
und Liebe.»
«Ich habe recht. Der Verdacht
gegen dich ist unrecht und töricht. Leb wohl, Galiläer!»
«Leb wohl, Römer!»
Jesus bleibt allein zurück, bis
die drei Brüder und die Jünger mit den Speisen zurückkommen. Die Brüder laden
die Soldaten ein, die Jünger bieten Jesus davon an. Letztere essen ohne große
Lust unter der Sonne, während die anderen fröhlich essen und trinken.
Dann geht ein Soldat hinaus, um
auf dem stillen Platz herumzuspähen.
«Wir können gehen!» schreit er.
«Sie sind alle weg, nur unsere Soldaten stehen noch Wache.»
Jesus erhebt sich fügsam, segnet
und tröstet die drei Brüder, mit denen er ein Treffen am Passahfest in
Gethsemane verabredet, und geht, von Soldaten bewacht und von den gedemütigten
Jüngern gefolgt, hinaus. Sie gehen auf der menschenleeren Straße bis zu den
Feldern.
«Leb wohl, Galiläer!» sagt der
Triarier.
«Leb wohl, Aquila. Ich bitte
dich, tut Daniel nichts Böses an, und auch nicht Elias und Philippus. Ich
allein bin der Schuldige. Sag es dem Centurio!»
«Ich werde nichts sagen. Zu
dieser Stunde denkt er schon nicht mehr daran, und die drei Brüder versorgen
uns gut, besonders mit Wein aus Zypern, den der Hauptmann für sein Leben gern
trinkt. Sei beruhigt. Leb wohl!»
Sie trennen sich. Die Soldaten
kehren durch das Tor in die Stadt zurück. Jesus und die Seinen gehen weiter
durch die stille Landschaft, in östlicher Richtung.
74
375. DER HIRTE ANNAS BEGLEITET
JESUS NACH ACHSIB
Jesus wandert durch eine sehr
bergige Gegend. Es sind keine hohen Berge, aber es ist ein beständiges Auf und
Ab von Hügeln und ein Dahinfließen von Gießbächen, die in dieser frischen,
neuen Jahreszeit fröhlich bergabrauschen. Sie sind klar wie der Himmel und
jung wie die ersten Blätter, die auf Zweigen und Ästen immer zahlreicher
hervorsprießen.
Aber so schön, heiter und
ermunternd auch die Jahreszeit wirkt, Jesus und noch mehr die Apostel scheinen
doch nicht leichten Herzens zu sein. Sie durchqueren schweigsam einen
Talgrund, in dem nur Hirten und Herden zu sehen sind, die Jesus nicht einmal
zu bemerken scheint.
Ein trauriger Seufzer des Jakobus
des Zebedäus und seine unerwarteten Worte, als Folge eines bedrückenden
Gedankens, sind es, die Jesus wieder zu sich kommen lassen... Jakobus sagt:
«Und Niederlagen über Niederlagen! ... Es scheint, als ob wir verflucht
wären.»
Jesus legt ihm die Hand auf die
Schulter: «Weißt du nicht, daß dies das Los der Besten ist?»
«Ich weiß es, seit ich bei dir
bin! Aber manchmal wünscht man auch etwas anderes, um Herz und Glauben zu
stärken; und früher hatten wir es.»
«Zweifelst du an mir, Jakobus?»
Wieviel Schmerz schwingt in der Stimme des Meisters mit!
«Nein...» Das "Nein" klingt
wahrhaftig nicht sehr überzeugend.
«Doch, du zweifelst. Und woran
zweifelst du? Liebst du mich nicht mehr wie früher? Wurde deine Liebe dadurch
geschwächt, daß ich an der phönizischen Grenze verjagt, verspottet und
geringgeschätzt worden bin?» Ein Klagen zittert in den Worten Jesu, obwohl
kein Seufzen zu hören und keine Träne zu sehen ist, denn seine Seele ist es,
die weint.
«Das nicht, mein Herr! Im
Gegenteil, je mehr ich dich bedrückt, gedemütigt, geschmäht und betrübt sehe,
desto mehr wächst meine Liebe zu dir. Um dich nicht so zu sehen, um das Herz
der Menschen umzuwandeln, wäre ich bereit, mein Leben zu opfern. Das darfst du
mir glauben. Bedränge mein Herz, das schon zutiefst betrübt ist, nicht mit
deinen Zweifeln an meiner Liebe. Sonst... Sonst könnte ich außer mir geraten
und zurückkehren und mich an jenen rächen, die dich beleidigt haben, um dir zu
beweisen, daß ich dich liebe, um dir diesen Zweifel zu nehmen. Selbst wenn man
mich gefangennehmen und töten würde, würde es mir nichts ausmachen. Es würde
mir genügen, dir einen Beweis meiner Liebe gegeben zu haben.»
«O du Donnersohn! Weshalb so
stürmisch? Willst du ein alles niederschmetternder Blitz sein?» Jesus lächelt
über den Ungestüm und die Vorsätze des Jakobus.
«Oh! Jetzt sehe ich dich
wenigstens lächeln. Das ist schon ein Ergebnis meiner Vorsätze. Was sagst du,
Johannes? Meine Gedanken sollten in die
75
Tat umgesetzt werden, wir müssen
dem Meister, der wegen so viel Ablehnung niedergeschlagen ist, helfen.»
«O ja! Gehen wir. Sprechen wir
noch einmal mit ihnen. Wenn sie ihn wieder als König des Wortschwalls, als
Schellenkönig, als König ohne Geld, als närrischen König verhöhnen, schlagen
wir tüchtig zu, bis ihnen klar wird, daß dieser König ein Heer von Getreuen
hat, das nicht mit sich spaßen läßt. In gewissen Fällen ist Gewalt angebracht.
Gehen wir, Bruder!», antwortet der sonst so sanfte Johannes, der nun in seinem
Zorn nicht mehr er selbst zu sein scheint.
Jesus stellt sich zwischen die
beiden, ergreift sie an den Armen, um sie zurückzuhalten, und sagt: «Hört sie
nur! Wie lange predige ich euch schon? Oh, welche Überraschung! Auch Johannes,
meine Taube, ist zum Sperber geworden! Schaut ihn an, wie häßlich, verwirrt,
finster und von Haß entstellt er ist! O Schande! Da wundert ihr euch noch, daß
die Phönizier teilnahmslos bleiben, die Juden uns hassen und die Römer mich
wegschicken, wenn ihr, die ersten, nachdem ihr schon zwei Jahre bei mir seid,
noch nichts begriffen habt; wenn ihr zu Galle geworden seid wegen des Grolls
in euren Herzen; wenn ihr meine Lehre von der Liebe und der Vergebung aus
euren Herzen weist, als handle es sich um törichtes Zeug, und zu Verbündeten
der Gewalt werdet? O heiliger Vater! Ja, das ist eine Niederlage! Anstatt wie
Sperber Schnäbel und Krallen zu wetzen, wäre es nicht besser, wie Engel zu
sein, die den Vater bitten, seinen Sohn zu trösten? Wann hat man je gesehen,
daß ein Gewitter mit seinen Blitzen und Hagelkörnern Gutes bringt? Nun, zur
Erinnerung an dieses euer Fehlen gegen die Liebe, zur Erinnerung daran, daß
ich auf eurem Gesicht den Tier-Menschen gesehen habe, statt des
Engel-Menschen, den ich immer sehen möchte, werde ich euch den Beinamen
"Donnersöhne" geben.»
Jesus ist nur halb ernst, während
er zu den beiden zornentbrannten Söhnen des Zebedäus spricht. Aber sein
Vorwurf ist von kurzer Dauer, als er ihre Reue sieht, und mit vor Liebe
leuchtendem Antlitz drückt er sie an sein Herz und sagt: «Nie mehr dürft ihr
so böse sein! Habt Dank für eure Liebe. Auch ihr für die eurige, Freunde»,
sagt er zu Andreas, Matthäus und den beiden Vettern. «Kommt her, ich will euch
ebenfalls umarmen. Aber wißt ihr denn nicht, daß ich, selbst wenn ich nichts
anderes hätte als die Freude, den Willen meines Vaters zu erfüllen und eure
Liebe, immer glücklich wäre, auch wenn die ganze Welt mich ohrfeigen sollte?
Ich bin nicht meinetwegen und meiner Niederlagen wegen traurig, wie ihr sagt,
sondern aus Mitleid für die Seelen, welche das Leben zurückweisen. Nun sind
wir alle zufrieden, nicht wahr, ihr großen Kinder? Alsdann auf! Geht zu den
Hirten, die dort ihre Schafe melken, und bittet sie im Namen Gottes um etwas
Milch. Habt keine Angst», sagt er, als er den betrübten Blick der Apostel
sieht. «Glaubt und gehorcht! Ihr werdet Milch bekommen und keine Prügel, auch
wenn es Phönizier sein sollten.»
76
Die sechs gehen hin, während
Jesus sie auf dem Weg erwartet. Jesus, der betrübte Jesus, den niemand haben
will, betet... Die Apostel kehren mit einem kleinen Eimer voll Milch zurück
und sagen: «Der Mann hat gesagt, du möchtest zu ihm kommen, weil er mit dir
sprechen will. Er kann die launenhaften Ziegen nicht den kleinen Hirtenjungen
überlassen.»
Jesus sagt: «Also, gehen wir zu
ihnen, um ihr Brot zu essen», und sie begeben sich zu dem Hang, an dem die
übermütigen Ziegen herumklettern.
«Ich danke dir für die Milch, die
du mir gegeben hast. Was möchtest du von mir?»
«Du bist der Nazarener, nicht
wahr? Der, der Wunder wirkt?»
«Ich bin der, der das ewige Heil
predigt. Ich bin der Weg zum wahren Gott; die Weisheit, die sich schenkt; das
Leben, das belebt, und nicht ein Zauberer, der Wunder wirkt. Die Wunder sind
die Zeichen meiner Güte, und für eure Schwachheit, die der Beweise bedarf, um
zu glauben. Nun was möchtest du von mir?»
«Ja... du warst doch vor zwei
Tagen in Alexandroscenae?»
«Ja, warum?»
«Auch ich war mit meinen Ziegen
dort, und als ich merkte, daß es zu einem Streit kommen würde, habe ich mich
davongemacht; denn es herrscht dort die Unsitte, Streit anzuzetteln, um dann
stehlen zu können, was auf dem Markte ist. Sie sind alle Diebe: die
Phönizier... wie die anderen. Ich dürfte das nicht sagen, denn mein Vater ist
Proselyt, meine Mutter Syrerin, und ich bin ebenfalls Proselyt. Doch es ist
die Wahrheit. Gut, ich will mit meiner Erzählung fortfahren. Ich hatte mich
mit meinen Tieren in eine Stallung zurückgezogen und wartete auf den Karren
meines Sohnes.
Am Abend, beim Verlassen der
Stadt, begegnete ich einer weinenden Frau mit ihrem kleinen Mädchen auf dem
Arm. Sie lebt auf dem Lande und hatte acht Meilen zurückgelegt, um zu dir zu
kommen. Ich fragte sie, was sie hätte. Sie ist Proselytin. Sie war gekommen,
um zu kaufen und zu verkaufen und hatte von dir gehört. Da war eine Hoffnung
in ihrem Herzen erwacht. Sie war nach Hause geeilt und hatte das Mädchen
geholt. Doch mit einer Last kommt man nur langsam voran. Als sie beim
Warenlager der Brüder ankam, warst du schon weggegangen. Die Brüder sagten:
"Sie haben ihn fortgejagt, aber er sagte uns, daß er wieder den Aufstieg nach
Tyrus machen würde."
Auch ich bin ein Vater, und sagte
zu ihr: "Dann gehe dorthin." Doch sie antwortete mir: "Und wenn er nach diesem
Vorfall auf einem anderen Weg nach Galiläa zurückkehrt?" Ich sagte ihr: "Höre!
Entweder wird es dieser oder der andere Grenzübergang sein. Ich weide meine
Herde zwischen Rehob und Lesemdan, direkt an der Straße, die zwischen diesem
77
Ort und Nephthali die Grenze
bildet, und sollte ich ihn sehen, werde ich es ihm sagen. Mein Wort als
Proselyt darauf." Nun habe ich es dir gesagt.»
«Gott vergelte es dir. Ich werde
zu der Frau gehen, denn ich muß nach Achsib zurückkehren.»
«Nach Achsib gehst du? Dann
können wir ein Stück Weges zusammen zurücklegen, wenn du einen Hirten nicht
verachtest.»
«Ich verachte niemanden. Warum
gehst du nach Achsib?»
«Weil ich dort Lämmer habe,
vorausgesetzt, daß... ich sie noch habe.»
«Warum?»
«Weil dort eine Seuche
ausgebrochen ist. Ich weiß nicht, ob es Hexerei oder etwas anderes ist. Ich
weiß nur, daß meine schöne Herde erkrankt ist. Deswegen habe ich die Ziegen,
die noch gesund sind, hierher gebracht, um sie von den Schafen zu trennen. Sie
werden mit meinen beiden Söhnen hier bleiben, die jetzt in der Stadt sind, um
einzukaufen. Ich kehre nach Achsib zurück, um meine schönen, wolligen Schafe
sterben zu sehen ...»Der Mann seufzt... Er schaut zu Jesus auf und
entschuldigt sich: «Mit dir, der du bist, von diesen Dingen zu reden und dich
zu betrüben, da du ja schon betrübt genug bist, ist Torheit. Aber die Lämmer
sind einem lieb und haben ihren Wert, weißt du...»
«Ich verstehe. Aber sie werden
gesund werden. Hast du sie nicht jemandem gezeigt, der sich darauf versteht?»
«Oh, sie haben mir alle das
gleiche gesagt: "Schlachte sie und verkaufe die Felle. Weiter ist nichts zu
machen." Man hat mir auch gedroht, wenn ich sie ins Freie lasse... denn sie
haben Angst vor der Krankheit wegen ihrer Tiere. Daher müssen sie im Gehege
bleiben... und sterben umso schneller. Die Leute von Achsib sind böse, weißt
du?»
Jesus sagt nur: «Ich weiß es.»
«Ich glaube, sie haben sie mir
verhext!»
«Nein, glaube nicht an solche
Geschichten... Wirst du aufbrechen, sobald deine Söhne kommen?»
«Ja! Sie werden gleich hier sein.
Sind diese deine Jünger? Nur sie?»
«Nein, ich habe noch andere.»
«Warum kommen sie nicht hierher?
Einmal, in der Nähe von Meron, bin ich einer Gruppe von ihnen, angeführt von
einem Hirten, begegnet. Dieser war groß und stark, hieß Elias und sagte, daß
er ihr Führer sei. Das geschah im Oktober, wenn ich mich recht erinnere, vor
oder nach dem Laubhüttenfest. Hat er dich jetzt verlassen?»
«Kein Jünger hat mich verlassen.»
«Es ist mir gesagt worden, daß
...»
«Was?»
«Daß du... daß die Pharisäer ...
Also, daß die Jünger dich verlassen haben, aus Furcht und weil du ein ...»
78
«... Dämon bist. Sage es nur. Ich
weiß es. Doppeltes Verdienst für dich, der du dennoch glaubst.»
«Dieses Verdienstes wegen
könntest du nicht ... doch, vielleicht verlange ich etwas Sündhaftes ...»
«Sprich nur, und wenn es sich um
etwas Schlechtes handelt, werde ich es dir sagen.»
Ganz aufgeregt stammelt der Mann:
«Könntest du nicht im Vorübergehen meine Herde segnen?»
«Ich werde deine Herde segnen.
Diese...» und er erhebt die Hand zum Segen über die verstreuten Ziegen, «...
und jene der Schafe. Glaubst du, daß mein Segen sie retten kann?»
«Wie du die Menschen von den
Krankheiten befreist, kannst du auch die Tiere heilen. Man sagt, du seist der
Sohn Gottes, und die Schafe hat Gott erschaffen, daher sind sie Besitztum des
Vaters. Ich... wußte nicht, ob es ehrfurchtsvoll wäre, dich darum zu bitten,
aber wenn es geht, dann tue es, Herr, und ich werde ein großes Dankopfer zum
Tempel bringen, oder vielmehr, ich werde es dir geben für die Armen. Das wird
besser sein.»
Jesus lächelt und schweigt. Die
Söhne des Hirten treffen ein, und bald darauf zieht Jesus mit den Seinen und
dem alten Hirten von dannen, und die Jüngeren hüten die Ziegen.
Sie beeilen sich, denn sie wollen
bald nach Kedes gelangen, um es sogleich wieder zu verlassen und auf die
Straße zu gelangen, die vom Meere ins Landesinnere führt. Es muß dieselbe
sein, die sich am Fuß des Vorgebirges teilt und die er eingeschlagen hatte, um
Alexandroscenae zu erreichen. Das entnehme ich den Gesprächen, die der Hirte
mit den Jüngern führt. Jesus geht allein voraus.
«Aber werden wir nicht wieder
Unannehmlichkeiten haben?» fragt Jakobus des Alphäus.
«Kedes untersteht nicht jenem
Centurio, da es außerhalb der phönizischen Grenzen liegt. Es genügt, die
Centurionen nicht zu reizen, denn sie interessieren sich nicht für Religion.»
«Wir werden uns sowieso nicht
aufhalten...»
«Seid ihr imstand, an einem Tag
mehr als dreißig Meilen zurückzulegen?» fragt der Hirte.
«Oh, wir sind ewige Pilger.»
Sie gehen und gehen... und
erreichen schließlich Kedes. Sie lassen es ohne Zwischenfälle hinter sich, und
nehmen die direkte Straße. Auf dem Wegweiser steht geschrieben: "Achsib" ' und
der Hirte weist darauf hin mit den Worten: «Morgen werden wir dort ankommen.
Heute nacht kommt ihr mit mir, denn ich kenne Bauern in den Tälern, aber viele
sind in phönizischen Gebieten... Gut, wir werden über die Grenze gehen! Man
wird uns bestimmt nicht sofort entdecken... Oh, die Wachen! Sie würden besser
daran tun, auf die Diebe aufzupassen! ...»
79
Die Sonne sinkt und die
bewaldeten Täler tragen gewiß nicht dazu bei, das Tageslicht zu verlängern.
Doch der Hirte ist ortskundig und schreitet sicheren Schrittes voran.
Sie kommen zu einem Weiler, der
aus einer Handvoll Häuser besteht.
«Wenn sie uns hier beherbergen,
könnt ihr im Hause von Israeliten schlafen. Wir sind direkt an der Grenze.
Wenn sie uns nicht aufnehmen, gehen wir in ein anderes Dorf, das phönizisch
ist.»
«Ich hege keine Vorurteile,
Mann.»
Sie klopfen an eine Haustür.
«Bist du es, Annas? Mit Freunden?
Komm, komm herein, Gott sei mit dir», sagt eine uralte Frau.
Sie treten in eine geräumige
Küche, in der ein Herdfeuer lodert. Eine zahlreiche Familie, in der alle
Altersstufen vertreten sind, ist um den Tisch versammelt, und alle machen den
Ankömmlingen sogleich Platz.
«Das ist Jonas. Dies seine Frau,
die Kinder, Enkel und Schwiegertöchter. Eine patriarchalische Familie, die
treu dem Herrn ergeben ist», sagt der Hirte Annas zu Jesus. Dann wendet er
sich dem alten Jonas zu: «Dieser hier ist der Rabbi von Israel, den du
kennenlernen wolltest.»
«Gott sei gepriesen, daß ich euch
Gastfreundschaft erweisen darf und heute abend Platz habe. Ich preise den
Rabbi, der in mein Haus gekommen ist und erbitte seinen Segen!»
Annas erklärt, daß das Haus des
Jonas fast wie eine Herberge sei, für Pilger, die vom Meer ins Landesinnere
gehen.
Alle setzen sich in der warmen
Küche nieder, und die Frauen bedienen die Ankömmlinge. Es herrscht eine fast
lähmend wirkende Ehrfurcht. Aber Jesus lockert die Stimmung auf, indem er
gleich nach dem Abendessen die vielen Kinder um sich sammelt, und da er sich
ihrer annimmt, schließen sie sofort Freundschaft mit ihm. Hinter ihnen – in
der kurzen Zeitspanne, die zwischen Nachtmahl und Nachtruhe liegt – werden die
Männer des Hauses lebendig, berichten, was sie über den Messias wissen, und
stellen immer wieder neue Fragen. Jesus berichtigt, bestätigt und erklärt auf
seine gütige Art, und die friedliche Unterhaltung dauert an, bis sich Pilger
und Familienmitglieder, nachdem Jesus alle gesegnet hat, zur Ruhe begeben.
376. DIE KANANÄISCHE MUTTER
«Ist der Meister bei dir?», fragt
der alte Bauer Jonas Thaddäus, der eben durch die Küche kommt, wo schon das
Feuer brennt, um die Milch und auch den Raum zu erwärmen, denn es ist ziemlich
kalt in den ersten Stunden dieses sehr schönen Morgens um Ende Januar oder
Anfang Februar.
80
«Er wird hinausgegangen sein, um
zu beten, denn er geht oft im Morgengrauen hinaus, da er weiß, daß er um diese
Stunde niemandem begegnet und allein sein kann. Er wird bald zurückkommen.
Warum fragst du?»
«Ich habe auch die anderen nach
ihm gefragt, die ihn nun suchen, denn es ist eine Frau dort bei meiner Gattin.
Sie ist aus dem Dorf jenseits der Grenze, und ich kann wirklich nicht sagen,
wie sie erfahren hat, daß der Meister hier ist. Aber sie weiß es und möchte
ihn sprechen.»
«Gut! Er wird mit ihr reden.
Vielleicht ist es die mit dem kranken Töchterchen, die er erwartet. Sein Geist
wird sie hierher geleitet haben.»
«Nein, sie ist allein und hat
keine Kinder bei sich. Ich kenne sie, denn die Ortschaften liegen nahe
beieinander... und das Tal ist Niemandsland. Ich bin der Meinung, daß man
Nachbarn gegenüber nicht hart sein soll, selbst wenn es Phönizier sind.
Vielleicht ist es ein Fehler, aber ...»
«Auch der Herr sagt immer, daß
man mit allen barmherzig sein soll.»
«Er ist es, nicht wahr?»
«Ja, er ist es.»
«Annas hat mir gesagt, daß er
auch diesmal wieder schlecht behandelt worden ist. Schlecht, immer schlecht!
... In Judäa wie in Galiläa, überall. Warum ist Israel wohl so böse zu seinem
Messias? Ich meine die Großen unter uns Israeliten, denn das Volk liebt ihn.»
«Woher weißt du das?»
«Oh, ich lebe hier, fern von
allem. Aber ich bin ein treuer Israelit, und man braucht nur zu den gebotenen
Festen zum Tempel zu gehen, um alles Gute und alles Böse zu erfahren! Das Gute
ist weniger bekannt als das Böse, denn das Gute ist bescheiden und lobt sich
nicht selbst. Wer Wohltaten empfängt, müßte es verkünden, doch nur wenige sind
dankbar für die Gnaden, die sie erhalten haben. Der Mensch nimmt die Wohltaten
an, und sogleich vergißt er sie... Das Böse hingegen macht Lärm, stößt in die
Trompete und läßt auch jene seine Worte vernehmen, die nichts davon wissen
wollen. Ihr, die ihr seine Jünger seid, wißt ihr denn nicht, wie schlecht man
im Tempel über den Messias spricht und wie man ihn beschuldigt? Die
Schriftgelehrten unterrichten über nichts anderes mehr; nur noch von ihm wird
gesprochen. Ich glaube, sie haben ein Lehrbuch darüber verfaßt, wie man den
Meister anklagen könnte, denn darin sind auch alle Geschehnisse enthalten, die
sie als glaubwürdige Punkte für eine Anklage auszulegen versuchen. Man muß ein
rechtschaffener, freier und starker Mensch mit gutem Gewissen sein, um
widerstehen und weise urteilen zu können. Weiß er denn von all diesen
Machenschaften?»
«Er weiß alles, auch wir wissen
es mehr oder weniger. Aber er läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er fährt
fort mit seinem Werk, und die Jünger oder Gläubigen nehmen von Tag zu Tag zu.»
«Gebe Gott, daß sie ausharren
mögen bis ans Ende. Aber der Mensch
81
ist unstet in seinen Gedanken, er
ist schwach... Sieh doch, der Meister kommt mit drei Jüngern zum Haus.»
Der Alte geht hinaus, gefolgt von
Judas Thaddäus, um Jesus, der würdevoll auf das Haus zugeht, verehrend zu
begrüßen.
«Der Friede sei am heutigen Tag
und immer mit dir, Jonas!»
«Ehre und Friede dir, Meister, in
alle Ewigkeit!»
«Der Friede sei mit dir, Judas.
Sind Andreas und Johannes noch nicht zurückgekehrt?»
«Nein. Ich habe sie nicht
fortgehen gehört. Niemanden. Ich war müde und habe tief geschlafen.»
«Tritt ein, Meister! Tretet ein.
Die Luft ist heute morgen frisch, und im Wald muß es sehr kalt gewesen sein.
Drinnen gibt es heiße Milch für alle.»
Sie sind dabei, ihre Milch zu
trinken, und außer Jesus tauchen alle große Brotstücke ein, als Andreas und
Johannes zusammen mit Annas, dem Hirten, eintreffen.
«Ah, du bist hier? Wir sind
zurückgekehrt, um den anderen mitzuteilen, daß wir dich nicht gefunden haben»,
ruft Andreas aus.
Jesus gibt den dreien seinen
Friedenskuß und fügt hinzu: «Beeilt euch und nehmt euren Anteil; dann wollen
wir aufbrechen, ich möchte heute wenigstens die Hänge des Berges von Achsib
erreichen, denn heute abend beginnt der Sabbat.»
«Aber meine Schafe?»
Jesus lächelt und antwortet: «Sie
werden geheilt sein, nachdem sie gesegnet worden sind.»
«Aber ich habe sie auf der
Ostseite des Berges, und du gehst nach Westen, um die Frau aufzusuchen ...»
«Laß nur Gott walten, er wird für
alles sorgen.»
Das Frühstück ist beendet, und
die Apostel gehen hinauf, um die Reisesäcke zu holen und sich auf den Aufbruch
vorzubereiten.
«Meister, die Frau, die dort ist
... Willst du sie nicht anhören?»
«Ich habe keine Zeit, Jonas. Der
Weg ist lang, und außerdem bin ich für die Schäflein von Israel gekommen. Leb
wohl, Jonas, Gott vergelte dir deine Liebe. Mein Segen ruhe auf dir und allen
deinen Verwandten. Laßt uns gehen!»
Doch der Alte beginnt aus vollem
Hals zu schreien: «Kinder, Frauen, der Meister reist ab! Eilt herbei!»
Wie Küken, die sich in einem
Strohschober tummeln und auf den Ruf der Glucke herbeieilen, so kommen nun aus
allen Teilen des Hauses Frauen und Männer, von denen einige bereits an der
Arbeit waren, während andere noch ganz verschlafen sind; es kommen auch
halbnackte Kinder, auf deren eben aus dem Schlafe erwachten Gesichtern ein
Lächeln ist... Sie drängen sich um Jesus, der mitten auf der Tenne steht, und
die Frauen hüllen die Kinder in ihre weiten Röcke ein, um sie vor der kalten
Luft zu
82
schützen, oder halten sie in den
Armen, bis eine Dienerin ein Kleidchen bringt, das bald angezogen ist.
Auch eine Frau, die nicht vom
Hause ist, eilt herbei. Eine arme, weinende, schüchterne Frau...
Sie geht gekrümmt, fast
kriechend, und als sie die Gruppe erreicht, in der sich Jesus befindet, fängt
sie an zu schreien: «Hab Erbarmen mit mir, o Herr, Sohn Davids! Meine Tochter
wird dermaßen vom Dämon gequält, daß sie schamlose Dinge tut. Hab Erbarmen,
denn ich leide sehr deswegen und werde von allen verachtet. Als ob mein Kind
Schuld hätte für das, was es tut... Habe Erbarmen, Herr, du, der du alles
vermagst. Erhebe deine Stimme und deine Hand und gebiete dem unreinen Geist
aus Palma auszufahren. Ich bin Witwe und habe nur dieses eine Kind... Oh, geh
nicht fort! Hab Erbarmen! ...»
Nachdem Jesus die einzelnen
Familienmitglieder gesegnet und die Erwachsenen getadelt hat, weil sie sein
Kommen bekannt gemacht haben -sie entschuldigen sich und behaupten: «Wir haben
nichts gesagt, glaube uns, Herr!» – geht er mit einer unbegreiflichen Härte
gegenüber der armen Frau von dannen. Diese folgt ihm auf den Knien und fleht
mit ausgestreckten Armen und verzweifelter Stimme: «Ich habe dich gestern
gesehen, als du den Bach überschritten hast, und habe dich "Meister" nennen
hören. So bin ich euch zwischen den Sträuchern nachgelaufen, ich habe die
Gespräche deiner Gefährten vernommen und verstanden, wer du bist... Und heute
morgen bin ich gekommen, als es noch dunkel war, um wie ein Hündlein hier an
der Schwelle zu warten, bis Sara aufstand und mich eintreten ließ. O Herr,
Erbarmen! Erbarme dich der Mutter, erbarme dich des Kindes!»
Aber Jesus entfernt sich rasch,
taub gegenüber allen Anrufen. Die Hausbewohner sagen zu der Frau: «Finde dich
mit deinem Schicksal ab. Er will dich nicht anhören. Er hat gesagt, daß er nur
für die Kinder Israels gekommen ist...»
Aber sie erhebt sich verzweifelt
und doch vertrauensvoll und antwortet: «Nein! Ich werde so lange bitten, bis
er mich erhört.» Sie beginnt, dem Meister zu folgen und wiederholt andauernd
ihre Bitten, die alle im Dorf, die wach geworden sind, an die Türen ihrer
Häuser kommen lassen. Sie machen sich wie die aus dem Hause des Jonas daran,
ihr zu folgen, um zu sehen, wie die Sache wohl enden wird.
Die Apostel jedoch schauen
einander erstaunt an und flüstern: «Warum benimmt er sich so? Das hat er noch
nie getan!»... Und Johannes sagt: «In Alexandroscenae hat er doch auch jene
zwei geheilt.»
«Es waren aber Proselyten»,
entgegnet Thaddäus.
«Und die, die er jetzt heilen
geht?»
«Auch sie ist eine Proselytin»,
sagt der Hirte Annas.
«Oh, wie oft hat er auch Heiden
und Römer geheilt! Das römische
83
Mädchen damals ...», sagt Andreas
betrübt, dem die Härte Jesu dieser kananäischen Frau gegenüber unbegreiflich
ist.
«Ich sage euch, was los ist»,
ruft Jakobus des Zebedäus aus.
«Der Meister ist erzürnt. Seine
Geduld ist zu Ende nach so vielen Angriffen menschlicher Bosheit. Seht ihr
nicht, wie er sich verändert hat? Er hat recht! Von jetzt an wird er sich nur
nach denen widmen, die er gut kennt, und er tut gut daran!»
«Ja, aber diese Frau läuft uns
schreiend nach, und eine ganze Menschenmenge folgt ihr. Er, der unbeachtet
nach Achsib gelangen wollte, hat ein Mittel gefunden, um selbst die
Aufmerksamkeit der Pflanzen auf sich zu lenken ...» brummt Matthäus.
«Wollen wir zu ihm gehen und ihm
sagen, daß er sie fortschicken soll ... ? Schaut, welch schönes Geleit wir
hinter uns haben. Wenn wir so auf die Konsularstraße kommen, dann haben wir
die Bescherung, denn wenn er sie nicht wegjagt, gibt sie nicht nach ...», sagt
Thaddäus verärgert, während er sich umdreht und der Frau befiehlt: «Schweig
und verschwinde!» Dasselbe tut Jakobus des Zebedäus. Aber die Frau läßt sich
durch Drohungen und Befehle nicht einschüchtern und fährt fort zu flehen.
«Wir müssen dem Meister sagen,
daß er sie fortjagen soll, wenn er sie doch nicht anhören will, denn so kann
es nicht weitergehen!» sagt Matthäus, während Andreas flüstert: «Die Arme»,
und Johannes fortwährend wiederholt: «Ich verstehe ihn nicht... Ich verstehe
ihn nicht...» Er ist bestürzt über die Handlungsweise Jesu.
Aber jetzt haben sie, ihre
Schritte beschleunigend, den Meister erreicht, der schnell wie ein Verfolgter
geht: «Meister! So schick die Frau doch fort! Das gibt Ärgernis! Sie schreit
hinter uns her! Sie macht alle Leute auf uns aufmerksam! Die Straße füllt sich
immer mehr mit Menschen... und viele laufen hinter ihr her. Sage ihr, daß sie
verschwinden soll.»
«Sagt ihr es ihr! Ich habe ihr
schon geantwortet.»
«Auf uns hört sie nicht. Bitte,
sag du es ihr, und sei streng.»
Jesus bleibt stehen und wendet
sich um. Die Frau betrachtet dies als ein Zeichen der Gnade, beschleunigt ihre
Schritte, schreit noch lauter und erbleicht vor wachsender Hoffnung.
«Schweig Frau und geh nach Hause
zurück! Ich habe es dir schon gesagt, ich bin für die Schafe Israels gekommen,
um ihre Kranken zu heilen und die Verlorenen unter ihnen zu suchen. Du bist
nicht von Israel.»
Aber die Frau kniet schon zu
seinen Füßen, küßt sie, betet ihn an, hält sich an seinen Fußgelenken fest wie
eine Ertrinkende, die einen Felsen der Rettung gefunden hat, und seufzt:
«Herr, hilf mir! Du kannst es, Herr! Befiehl dem Dämon, du, der du heilig bist
... Herr, Herr, du bist Herr über alles, über die Gnade wie über die Welt.
Alles ist dir untertan, Herr. Ich weiß es. Ich glaube es. Gebrauche daher
deine Macht und heile durch sie mein Kind!»
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«Es ist nicht recht, den Kindern
des Hauses das Brot wegzunehmen und es den Hunden auf der Straße vorzuwerfen.»
«Ich glaube an dich. Im Glauben
bin ich aus einem Hund der Straße zu einem Hund des Hauses geworden. Ich habe
es dir gesagt, ich bin vor Sonnenaufgang gekommen und habe mich auf die
Schwelle des Hauses gekauert, in dem du warst; wenn du von dort weggegangen
wärest, wärest du über mich gestolpert. Aber du bist an einer anderen Seite
hinausgegangen und hast mich nicht gesehen. Du hast diesen armen, elenden Hund
nicht gesehen, der nach deiner Gnade hungerte und darauf wartete, eintreten zu
dürfen, um zu dir zu kriechen, dir die Füße zu küssen und dich zu bitten, ihn
nicht fortzujagen ...»
«Es ist nicht recht, das Brot der
Kinder den Hunden vorzuwerfen», wiederholt Jesus.
«Aber die Hunde betreten den
Raum, in dem der Hausherr mit seinen Kindern ist, und fressen das, was vom
Tische fällt oder übrigbleibt und nicht mehr gebraucht wird. Ich bitte dich
nicht, mich als Tochter zu behandeln und mich an deinen Tische zu laden, aber
gib mir wenigstens die Krümel ...»
Jesus lächelt. Oh! Wie verändert
sich sein Antlitz in diesem Lächeln der Freude! ...
Die Menschen, die Apostel, die
Frau, alle schauen ihn verwundert an... sie spüren, daß etwas geschehen wird.
Jesus sagt: «O Frau! Groß ist
dein Glaube! und mit ihm tröstest du meinen Geist. Gehe hin, es geschehe dir
nach deinem Wunsche. In diesem Augenblick ist der Dämon von deiner Tochter
gewichen. Geh in Frieden! Wie du es als verirrter Hund verstanden hast,
Hündlein des Hauses zu sein, so wisse in Zukunft Tochter zu sein, die am Tisch
des himmlischen Vaters sitzt. Gott sei mit dir!»
«O Herr! Herr! Herr! ... Ich
möchte forteilen, um meine geliebte Palma zu sehen... und ich möchte auch bei
dir bleiben, um dir zu folgen. Gesegneter! Heiliger!»
«Geh, geh, Frau. Gehe hin in
Frieden!»
Jesus setzt seinen Weg fort,
während die kananäische Frau flinker als ein Mädchen zurückläuft, gefolgt von
der neugierigen Menge, die das Wunder sehen will.
«Aber warum hast du dich so sehr
bitten lassen, Meister, wenn du sie dann doch erhört hast?» fragt Jakobus des
Zebedäus.
«Deinetwegen und euer aller
wegen. Das ist keine Niederlage, Jakobus, hier bin ich nicht verjagt, verlacht
und verwünscht worden... Das möge euren niedergeschlagenen Geist wieder
aufrichten. Ich habe heute schon meine süßeste Speise genossen und preise Gott
dafür. Nun gehen wir zu jener anderen Frau, die zu glauben und mit sicherem
Glauben abzuwarten versteht.»
85
«Und meine Schafe, Herr? Bald
werde ich einen Weg nehmen müssen, der nicht der deine ist, um zu meiner Herde
zu gelangen...»
Jesus lächelt, ohne zu antworten.
Es ist jetzt schön zu wandern, da
die Sonne die Luft erwärmt und die jungen Blätter der Bäume und die Gräser der
Wiesen wie Smaragde erstrahlen läßt. Jeder Blütenkelch verwandelt sich in ein
Gefäß für die Tautropfen, die in den vielfarbigen Strahlenkränzen der
Feldblumen erglänzen. Jesus geht lächelnd einher, und auch die Apostel, die
schon wieder Mut gefaßt haben, folgen ihm lächelnd... Sie kommen zum
Scheideweg. Der Hirte Annas sagt beschämt: «Hier sollte ich euch verlassen...
Kommst du nicht, um meine Schafe zu heilen? Auch ich habe Glauben; und bin ein
Proselyt... Versprichst du mir, wenigstens nach dem Sabbat zu kommen?»
«O Annas! Hast du denn immer noch
nicht begriffen, daß deine Schafe gesund sind, seit ich die Hand gegen
Lesemdan erhoben habe? Geh also auch du, das Wunder zu schauen und den Herrn
zu preisen.»
Ich glaube, daß die Frau Lots
nach ihrer Verwandlung in eine Salzsäule nicht viel anders ausgesehen hat als
dieser Hirte, der unbeweglich, ein wenig nach vorn gebeugt, mit erhobenem
Haupt stehengeblieben ist, um Jesus anzuschauen, einen Arm halb
ausgestreckt... Er scheint eine Statue zu sein, und man könnte darunter
schreiben: "Der Flehende." Doch schließlich kommt er zu sich und wirft sich
nieder mit den Worten: «O du Gesegneter! Du Guter! Du Heiliger! ... Aber ich
habe dir viel Geld versprochen und habe nur wenige Drachmen bei mir... Komm,
komm nach dem Sabbat zu mir...»
«Ich werde kommen. Nicht wegen
des Geldes, sondern um dich noch einmal zu segnen um deines einfachen Glaubens
willen. Leb wohl, Annas. Der Friede sei mit dir!»
Sie trennen sich.
«Auch das ist keine Niederlage,
Freunde, auch hier bin ich nicht verlacht, verjagt und verflucht worden...
Auf, beeilt euch! Da ist eine Mutter, die uns seit Tagen erwartet...»
Der Marsch geht weiter und wird
nur kurz unterbrochen, um Brot und Käse zu essen und an einer Quelle zu
trinken...
Die Sonne steht bereits im Zenit,
als die Wegkreuzung erscheint. «Schau, dort hinten, der Anfang der Treppe von
Tyrus», sagt Matthäus, und er freut sich bei dem Gedanken, daß mehr als die
Hälfte des Weges zurückgelegt ist.
An den römischen Wegweiser
gelehnt, steht eine Frau. Zu ihren Füßen, auf einer kleinen Matte, liegt ein
Mädchen von etwa sieben oder acht Jahren. Die Frau schaut nach allen
Richtungen, zur Felsentreppe, zur Straße von Ptolemais und nach Westen, wo
Jesus herkommt, und immer wieder bückt sie sich, um das Mädchen zu liebkosen,
um seinen Kopf mit einem
86
Tuch vor der Sonne zu schützen
und mit einem Schal die Hände und Füße zu bedecken...
«Da ist die Frau! Aber wo wird
sie wohl in diesen Tagen geschlafen haben?» fragt Andreas.
«Wahrscheinlich in dem Hause in
der Nähe der Kreuzung, denn es gibt in der Umgebung keine anderen Häuser»,
antwortet Matthäus.
«Oder im Freien», sagt Jakobus
des Alphäus.
«Nein, wegen des Mädchens sicher
nicht», entgegnet sein Bruder.
«Oh, um die Gnade zu
erlangen!...» sagt Johannes.
Jesus sagt nichts. Er lächelt
nur. Alle in einer Reihe, er in der Mitte und drei Apostel rechts und drei
links, nehmen sie die ganze Straße ein in dieser Stunde, in der die Fußgänger
anhalten, um dort zu essen, wo sie die Mittagszeit angetroffen hat.
Jesus lächelt, hochgewachsen und
schön, in der Mitte der Reihe. Es ist, als ob alles Licht der Sonne sich auf
sein Antlitz ergossen hätte, das so sehr leuchtet, daß er Strahlen auszusenden
scheint.
Die Frau erhebt ihre Augen... Sie
befinden sich jetzt in einer Entfernung von etwa fünfzig Metern von ihr.
Vielleicht wurde ihre Aufmerksamkeit durch den Blick, den Jesus auf sie
gerichtet hatte, geweckt. Sie schaut auf... und legt die Hände in einer
unwillkürlichen Gebärde der Angst und des Jubels auf ihre Brust.
Jesus lächelt noch liebevoller,
und dieses strahlende, unbeschreiblich gütige Lächeln Jesu muß der Frau so
viel bedeuten, daß sie ihre Angst vergißt und ebenfalls lächelt, als ob sie
schon glücklich wäre. Dann beugt sie sich nieder, um ihr Kind aufzunehmen, und
hält es mit ausgestreckten Armen vor sich hin, als ob sie es Gott darbringen
wollte. So geht sie vorwärts, und zu Jesu Füßen angelangt, kniet sie nieder
und hebt das liegende Mädchen, das entzückt auf das wunderschöne Antlitz Jesu
blickt, so hoch empor als sie kann.
Die Frau sagt kein Wort, und was
könnte sie tiefgründigeres sagen, als das, was ihr Gesicht schon ausdrückt?
...
Jesus sagt nur ein Wort, ein
kurzes, aber machtvolles, erfreuendes Wort, wie das "Fiat" Gottes bei der
Schöpfung der Welt: "Ja", und legt dabei die Hand auf die kleine Brust des
liegenden Mädchens.
Da trillert das Kind wie eine aus
dem Käfig befreite Lerche: «Mutter!»setzt sich plötzlich auf, gleitet auf die
Füße und umarmt seine Mutter, die vor Müdigkeit erschöpft wankt und beinahe zu
Boden fällt; die schwindende Angst, die plötzlich über sie gekommene Freude,
und das durchgestandene Leid haben ihr Herz alle Kraft gekostet.
Jesus ist auch schon bereit, sie
zu stützen. Er ist eine größere Hilfe als das Mädchen, das durch sein Gewicht
die mütterlichen Arme belastet. Jesus läßt sie niedersitzen und flößt ihr
Kraft ein... Er betrachtet sie, während stumme Tränen über das Antlitz der
Frau rinnen, das zugleich
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Müdigkeit und Seligkeit
ausdrückt. Dann kommen die Worte: «Danke, mein Herr! Dank und Segen! Meine
Hoffnung wurde gekrönt ... Ich habe so sehnlichst auf dich gewartet... doch
jetzt bin ich glücklich ...»
Die Frau, die einer Ohnmacht nahe
war, hat nun ihre Schwäche überwunden und kniet wieder nieder, um Jesus zu
verehren. Sie hat das geheilte Mädchen vor sich, das Jesus nun liebkost, und
berichtet: «Seit zwei Jahren verzehrte sich ein Knochen in ihrem Rücken, so
daß sie gelähmt war und langsam und unter großen Schmerzen dem Tode
entgegenging. Wir haben sie zu Ärzten in Antiochia, Tyrus und Sidon gebracht,
und auch nach Caesarea und Paneas, und haben so viel ausgegeben für Ärzte und
Medikamente, daß wir das Haus in der Stadt verkaufen und uns aufs Land
zurückziehen mußten. Wir mußten die Diener des Hauses entlassen und konnten
nur die Landarbeiter behalten, und die Produkte, die wir früher selbst
verbrauchten, haben wir verkauft... Doch alles war umsonst! Dann habe ich dich
gesehen und von dem erfahren, was du schon anderswo gewirkt hast. So habe ich
auch für mich auf Gnade gehofft... und nun habe ich sie erhalten! Jetzt kehre
ich nach Hause zurück, erleichtert und fröhlich... und werde meinem Gatten
eine große Freude bereiten. Er hat mir die Hoffnung ins Herz gelegt, indem er
mir von dem berichtete, was durch deine Macht in Galiläa und Judäa geschehen
war. Oh, wenn wir nicht hätten fürchten müssen, dich nicht zu finden, wären
wir mit dem Mädchen gekommen. Aber du bist immer unterwegs!...»
«Wandernd bin ich zu dir
gekommen... Aber wo hast du denn in diesen Tagen Unterkunft gefunden?»
«In dem Haus dort... Und in der
Nacht schaute eine gute Frau nach dem Kind; ich selbst blieb immer hier, aus
Angst, du könntest während der Nacht vorübergehen.»
Jesus legt ihr die Hand aufs
Haupt: «Du bist eine gute Mutter, und Gott liebt dich dafür. Du siehst ja, wie
er dir in allem geholfen hat.»
«O ja! Ich habe es förmlich
gespürt, als ich kam. Ich bin von zu Hause in die Stadt gegangen im Glauben,
dich dort zu finden; mit wenig Geld bei mir und allein. Dann bin ich, dem Rat
des Mannes folgend, nach hier aufgebrochen. Ich habe jemanden nach Hause
geschickt, um es mitzuteilen, und bin gekommen... und nie hat mir etwas
gefehlt, weder Brot, noch Unterkunft, noch Kraft.»
«Immer mit dieser Last auf den
Armen? Konntest du keinen Wagen benützen? ...» fragt Jakobus des Alphäus
mitleidig.
«Nein, das Kind hätte zu sehr
gelitten und wäre daran gestorben. Auf den Armen ihrer Mutter ist meine
Johanna zur Gnade gelangt.»
Jesus streichelt beiden
liebkosend das Haar: «Geht nun und bleibt stets dem Herrn treu! Der Herr und
mein Friede seien mit euch!»
Jesus geht auf der Straße nach
Ptolemais weiter.
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«Auch das ist keine Niederlage,
Freunde, und auch hier wurde ich nicht verjagt, verlacht und verflucht.»
Auf der ebenen Straße ist bald
die Hufschmiede bei der Brücke erreicht. Der römische Hufschmied ruht sich in
der Sonne, den Rücken ans Haus gelehnt, aus. Er erkennt Jesus wieder und grüßt
ihn. Jesus erwidert den Gruß und fügt hinzu: «Läßt du mich eine Weile hier
bleiben, damit ich mich etwas ausruhen und ein wenig Brot verzehren kann?»
«Ja, Rabbi! Meine Frau wollte
dich sehen; denn ich habe ihr auch das gesagt, was sie von deiner letzten
Predigt nicht gehört hat. Esther ist Jüdin. Aber ich, als Römer, habe es dir
nicht zu sagen gewagt. Ich hätte dich zu ihr geschickt...»
«Rufe sie also!»
Jesus setzt sich auf eine Bank an
der Wand, während Jakobus des Zebedäus Brot und Käse austeilt...
Es kommt eine etwa vierzig Jahre
alte Frau heraus, verwirrt und schamrot.
«Der Friede sei mit dir, Esther!
Du hast dich danach gesehnt, mich kennenzulernen? Warum?»
«Wegen dem, was du gesagt hast...
Die Rabbis verachten jene, die mit Römern verheiratet sind... Aber ich habe
alle meine Kinder zum Tempel gebracht, und alle männlichen sind beschnitten.
Ich habe es Titus schon gesagt, als er um mich warb. Er ist gut! Er läßt mir
mit den Kindern freie Hand. Gebräuche, Riten, alles ist hier hebräisch, aber
die Rabbis und die Synagogenvorsteher verfluchen uns. Du nicht! ... Du hast
Worte des Erbarmens für uns... Oh, weißt du, was das für uns bedeutet? Es ist,
als ob man sich von den Armen des Vaters und der Mutter, die uns verstoßen und
verflucht hatten oder streng zu uns waren, umarmt fühlte... Es ist, als ob man
seinen Fuß in das verlassene Elternhaus setzen und sich dort nicht mehr fremd
fühlen würde: Titus ist gut! An unseren Festen schließt er die Hufschmiede,
trotz der großen Einbuße an Geld, und begleitet mich mit den Kindern zum
Tempel. Er sagt, daß man ohne Religion nicht leben kann und daß die seine die
Familie und die Arbeit ist, während es früher die Soldatenpflicht war. Aber
ich... Herr, ich wollte mit dir über etwas sprechen... Du hast gesagt, daß die
Nachfolger des wahren Gottes etwas von ihrem heiligen Sauerteig nehmen und ihn
mit gutem Mehl vermischen müssen, um dieses heiligmäßig gären zu lassen.
Ich habe es so mit meinem Manne
gemacht. Während der zwanzig Jahre, die wir zusammen leben, habe ich versucht,
mit dem Sauerteig Israels an seiner Seele zu arbeiten, die edel ist. Aber er
kann sich nicht entscheiden... und er wird alt. Ich möchte ihn doch auch im
anderen Leben bei mir haben, vereint im Glauben, wie wir in der Liebe vereint
sind. Ich bitte dich nicht um Schätze, Wohlstand oder Gesundheit, all das
haben wir zur
89
Genüge. Gott sei dafür gepriesen!
Aber um dies möchte ich dich bitten: bete für meinen Gatten, damit er zum
wahren Gott gelangen möge...»
«Er wird zu ihm gelangen, sei
dessen gewiß. Du bittest um etwas Heiliges und wirst erhört werden. Du hast
deine Pflichten als Frau Gott und dem Gatten gegenüber verstanden. Wären doch
alle Ehefrauen so! Wahrlich, ich sage dir, daß viele dich nachahmen sollten.
Bleibe so, und du wirst die Freude erleben, deinen Titus im Gebet und im
Himmel an deiner Seite zu haben. Zeige mir deine Kinder!»
Die Frau ruft die zahlreiche
Kinderschar herbei: «Jakob, Judas, Levi, Maria, Johannes, Anna, Elisa und
Markus.» Dann geht sie ins Haus und kommt zurück mit einem, das noch kaum
gehen kann, und einem, das höchstens drei Monate alt ist.
«Das ist Isaak, und diese Kleine
heißt Judith», sagt sie, die Vorstellung beendend.
«Welch ein Überfluß», sagt
Jakobus des Zebedäus lachend.
Judas ruft aus: «Sechs Knaben!
und alle beschnitten und mit reinen Namen. Brav ist sie!»
Die Frau ist glücklich und
beginnt, Jakob, Judas und Levi zu loben, die bereits dem Vater helfen. «Alle
Tage mit Ausnahme des Sabbat, dem Tage, an dem Titus allein arbeitet, um die
schon vorbereiteten Hufeisen anzubringen», sagt sie. Sie lobt Maria und Anna,
«weil sie ihrer Mama eine große Hilfe sind.» Aber auch die vier Kleinsten läßt
sie nicht ohne Lob. «Gut und ohne Launen sind sie. Titus hilft mir, sie zu
erziehen; er, der ein disziplinierter Soldat gewesen ist», sagt sie und wirft
ihrem Mann einen liebevollen Blick zu, der sich, einen Arm in die Seite
gestemmt, an einen Pfosten gelehnt und allem zugehört hat, was die Frau gesagt
hat. Er hat ein Lächeln auf seinem freundlichen Gesicht und brüstet sich ein
wenig, nachdem seine militärischen Verdienste erwähnt worden sind.
«Sehr gut! Die Disziplin der
Waffen ist nicht verwerflich in den Augen Gottes, wenn die Soldatenpflicht mit
Menschlichkeit erfüllt wird. Die Hauptsache ist, daß man jede Arbeit mit
Rechtschaffenheit tut, um immer tugendhaft zu sein. Diese deine frühere
Disziplin, die du auf deine Kinder überträgst, möge dir helfen, dich auf einen
höheren Dienst vorzubereiten: den Dienst Gottes. Jetzt müssen wir uns trennen.
Ich werde es gerade noch schaffen, vor Sonnenuntergang in Achsib zu sein. Der
Friede sei mit dir, Esther, und mit deinem Hause. Mögt ihr alle in Bälde dem
Herrn angehören.»
Die Mutter und die Kinder knien
nieder, während Jesus die Hände zum Segen erhebt. Der Mann steht stramm, als
wäre er wieder der römische Soldat vor seinem Kaiser, und grüßt nach römischer
Art.
Dann gehen sie... Nach einigen
Metern legt Jesus die Hand auf die Schulter des Jakobus: «Und noch einmal, das
vierte Mal an diesem Tage, mache ich dich darauf aufmerksam, daß dies keine
Niederlage war; daß
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ich nicht verjagt, ausgelacht und
verflucht worden bin... Was sagst du nun?»
«Daß ich ein Dummkopf bin, Herr!»
sagt Jakobus des Zebedäus stürmisch.
«Nein, du bist wie alle übrigen
immer noch zu menschlich eingestellt, ihr denkt wie Menschen, die stärker von
ihrer Menschlichkeit als von ihrem Geiste beherrscht sind. Wenn der Geist
einmal die Oberhand gewonnen hat, erregt er sich nicht mehr bei jedem
Windstoß, der nicht immer eine duftende Brise sein kann...
Er wird vielleicht zu leiden
haben, aber er wird sich nicht mehr erregen. Ich bete immer, daß ihr zu dieser
Vorherrschaft des Geistes gelangen mögt. Aber ihr müßt mich mit eurer
Anstrengung unterstützen... Nun gut! Die Reise ist beendet. Auf ihr habe ich
gesät, was notwendig war, um euch den Weg zu bereiten für die Zeit, da ihr die
Verkünder der Frohen Botschaft sein werdet. Nun können wir die Sabbatruhe
antreten in dem Bewußtsein, unsere Pflicht getan zu haben. Wir werden auf die
anderen warten und dann weitergehen... immer weiter... bis alles erfüllt
ist...»
377. BARTHOLOMÄUS VERSTEHT DEN
GRUND...
Der Tag nach dem Sabbat.
Jesus ist zusammen mit den sechs
Aposteln in einem Zimmer, in dem sehr armselige Lagerstätten dicht
nebeneinander aufgestellt sind. Der freie Raum ist kaum ausreichend um von
einer Seite des Zimmers zur anderen zu gelangen. Sie nehmen das äußerst
einfache Mahl auf Brettern sitzend ein, da es keine Tische und Stühle gibt.
Johannes setzt sich schließlich auf der Suche nach Sonne auf den Fenstersims
und sieht so als erster die Erwarteten, Petrus, Simon, Philippus und
Bartholomäus, die auf das Haus zukommen. Er ruft ihnen zu und eilt dann, von
den anderen gefolgt, hinaus. Nur Jesus bleibt zurück, und seine einzige
Bewegung besteht darin, daß er aufsteht und sich umwendet, um zur Türe zu
schauen...
Die Ankömmlinge treten ein. Die
Überschwenglichkeit des Petrus kann man sich leicht vorstellen, ebenso die
tiefe Ehrfurcht Simons des Zeloten. Was überrascht, ist das Verhalten des
Philippus, und besonders das des Bartholomäus. Sie treten ein, ich möchte fast
sagen, ängstlich und betrübt, und obwohl Jesus ihnen die Arme öffnet, um mit
ihnen den Friedenskuß auszutauschen, den er schon Petrus und Simon gegeben
hat, fallen sie auf ihre Knie, neigen die Stirne bis zum Boden, küssen Jesus
die Füße und verweilen in dieser Haltung... Die unterdrückten Seufzer des
Bartholomäus verraten, daß er still zu Jesu Füßen weint.
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«Warum dieser Kummer,
Bartholomäus? Kommst du nicht in die Arme deines Meisters? Du, Philippus,
warum so furchtsam? Wenn ich nicht wüßte, daß ihr zwei ehrenwerte Männer seid,
in deren Herzen keine Bosheit Platz findet, müßte ich annehmen, daß ihr eine
Schuld auf euch geladen habt. Doch dem ist nicht so. Auf, also! Seit langem
ersehne ich eure Umarmung und den klaren Blick eurer treuen Augen...»
«Auch wir, Herr ...» sagt
Bartholomäus und erhebt sein Gesicht, auf dem Tränen glänzen. «Wir haben uns
stets nur nach dir gesehnt und uns gefragt, worin wir dir wohl mißfallen
haben, daß wir so lange von dir getrennt sein mußten, und wir erachteten es
als ungerecht... Doch nun wissen wir... Bescheid und bitten dich um
Verzeihung, o Herr! Verzeihung! Ich vor allem bitte dich darum, denn Philippus
war meinetwegen von dir getrennt, ihn habe ich schon um Verzeihung gebeten.
Ich, ich allein bin der Schuldige, ich, der alte Israelit, der dir Schmerz
bereitet hat und der es nur schwerlich fertigbringt sich zu erneuern.»
Jesus beugt sich nieder und zieht
ihn und dann Philippus mit Gewalt empor. Dann umarmt er sie beide mit den
Worten: «Aber wessen klagst du dich an? Du hast nichts Böses getan, gar
nichts, und Philippus auch nicht. Ihr seid meine teuren Apostel, und ich bin
heute wirklich glücklich, euch bei mir zu haben, vereint für immer!»
«Nein, nein! Lange Zeit haben wir
den Grund nicht erkannt, weshalb du uns gerechterweise so sehr mißtraut hast,
daß du uns von der Apostelfamilie ausgeschlossen hast. Aber nun wissen wir es
und bitten um Verzeihung, Verzeihung, Verzeihung, ich ganz besonders, Jesus,
mein Meister!»
Bartholomäus schaut ihn voller
Angst, Liebe und Mitleid an. Alt wie er ist, gleicht er einem Vater, der
seinen betrübten Sohn betrachtet und in seinem Gesichte forscht, das von einem
Leid gezeichnet ist, das er nicht geahnt hat, und dessen Abmagern und Altern
er vorher nicht bemerkt hat... Wieder rinnen Tränen über die Wangen von
Bartholomäus, während er fragt: «Aber was haben sie dir angetan? Was haben sie
uns getan, daß wir alle so leiden müssen? Es ist, als ob ein böser Geist unter
uns geraten wäre, um uns zu quälen, zu betrüben, zu schwächen, teilnahmslos
und töricht zu machen... so töricht, daß wir nicht gemerkt haben, daß du
gelitten hast... So töricht, daß wir dein Leid noch vermehrt haben durch
unsere Engherzigkeit, Stumpfsinnigkeit, Menschenfurcht und Unfähigkeit, uns zu
erneuern... Ja, der alte Mensch hat immer in uns triumphiert, ohne daß deine
vollkommene Lebendigkeit uns hätte erneuern können. Genau das ist es, was mir
keine Ruhe läßt! Mit all meiner Liebe war ich nicht imstand, mich zu erneuern,
dich zu verstehen und dir zu folgen... Nur körperlich bin ich dir gefolgt,
aber du wolltest, daß wir dir auch geistig nachfolgen... und deine
Vollkommenheit verstehen... damit wir fähig werden, dich zu vertreten... O
mein Meister! Mein Meister, der du uns eines Tages verlassen wirst, nach
vielen Kämpfen, Nachstellungen, Widrigkeiten und
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Schmerzen und mit dem Leid, uns
unvorbereitet zu wissen! ...» Bartholomäus lehnt den Kopf an seine Schulter
und weint ganz untröstlich, zerknirscht in der Erkenntnis, daß er ein
oberflächlicher Jünger gewesen ist.
«Verzage nicht, Nathanael. Du
siehst alles wie etwas Riesengroßes, das dich überwältigt, aber dein Jesus
weiß, daß ihr Menschen seid, und verlangt von euch nicht mehr, als ihr zu
geben imstand seid. Oh, ihr habt mir ja alles gegeben, wirklich alles! Doch
jetzt müßt ihr heranwachsen, euch bilden... dies ist eine lange Arbeit, aber
ich kann warten. Ich freue mich über euer Heranreifen, denn es ist ein
fortwährendes Wachsen in meinem Leben. Selbst deine Tränen und die Eintracht
derer, die bei mir waren, sowie die Milde und die Liebe, die der Härte, der
Selbstsucht, der Engstirnigkeit, die eure Natur waren, gefolgt sind, und euer
gegenwärtiger Ernst, all das sind Phasen des Wachsens in mir. Auf, also! Sei
in Frieden, ich weiß um alles, und auch deine Ehrlichkeit, deinen guten
Glauben, deine Hochherzigkeit und deine aufrichtige Liebe kenne ich. Sollte
ich zweifeln an meinem weisen Bartholomäus und an Philippus, der so
ausgeglichen und treu ist? Ich würde meinem Vater Unrecht tun, der mir
gestattet hat, euch zu meinen Getreuesten zu zählen. Doch nun... kommt, setzen
wir uns hier nieder, und wer schon ausgeruht hat, möge für die müden,
hungrigen Brüder Speise und Erquickung besorgen. Inzwischen erzählt eurem
Meister und den Brüdern, was sie noch nicht wissen.»
Er setzt sich auf sein
Bettgestell, behält Philippus und Nathanael bei sich, während Petrus und Simon
sich auf das Jesus gegenüberliegende Bett setzen, Knie an Knie.
«Sprich du, Philippus. Ich habe
schon geredet, und du bist in dieser Zeit auch viel gerechter gewesen als ich
...»
«O Bartholomäus! Gerecht! Ich
hatte nur verstanden, daß es nicht Abneigung oder Launenhaftigkeit des
Meisters uns gegenüber sein konnte, daß er uns nicht bei sich wollte. Ich
suchte dich möglichst zu beruhigen, indem ich dich daran hinderte, Dinge zu
denken, die dir nur Schmerz und Gewissensbisse verursacht hätten. Nur eines
bereue ich... dich zurückgehalten zu haben, als du mit Simon des Jonas nach
Nazareth gehen wolltest, um Margziam zu holen. Danach... habe ich dich so sehr
an Leib und Seele leiden sehen, daß ich mir eingestehen mußte: "Es wäre besser
gewesen, ich hätte ihn gehen lassen! Der Meister hätte ihm den Ungehorsam
verziehen, und Bartholomäus hätte seinen Geist nicht mehr mit solchen Gedanken
verbittert. Aber du siehst es ja! Wenn du weggegangen wärest, hättest du den
Schlüssel zum Geheimnis nie gefunden... und vielleicht wäre dein Verdacht über
den Wankelmut des Meisters nie mehr erloschen. So hingegen...
«Ja, so habe ich es verstanden,
Meister. Simon des Jonas und Simon der Zelote, die ich mit Fragen bestürmt
habe, um vieles zu erfahren, und eine Bestätigung für vieles, was mir schon
bekannt war zu erhalten, haben
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nur gesagt: "Der Meister hat sehr
gelitten, so sehr, daß er abgemagert und gealtert ist, und ganz Israel, und
wir als erste, sind daran schuld. Er liebt uns und wird uns verzeihen, doch
wünscht er, daß über die Vergangenheit nicht mehr gesprochen wird. Daher raten
wir euch, nicht mehr zu fragen und nichts mehr zu sagen..." Aber ich will doch
noch etwas sagen. Fragen stelle ich nicht. Trotzdem muß ich etwas sagen, damit
du es weißt, denn nichts darf dir verborgen bleiben, was in der Seele deines
Apostels ist. Eines Tages – Simon und die anderen waren schon einige Tage fort
-kam Michael von Kana zu mir. Er ist ein wenig verwandt mit mir; wir sind gute
Freunde und sind zusammen zur Schule gegangen. Ich bin sicher, daß er in guter
Absicht gekommen ist, denn er hat mich gern, doch der, der ihn gesandt hat,
hegt keine guten Absichten. Er wollte wissen, warum ich zu Hause geblieben
war, während die anderen fortgingen, und sagte: "Dann ist es also wahr? Du
hast dich von ihnen getrennt, weil du als guter Israelit gewisse Dinge nicht
billigen kannst, und die anderen lassen dich gerne zurück, angefangen bei
Jesus von Nazareth, da sie überzeugt sind, daß du ihnen nicht einmal mit
deinem Schweigen helfen würdest. Du tust gut daran! Ich erkenne in dir wieder
den Mann früherer Zeiten. Ich dachte, du seiest verführt worden und hättest
Israel verleugnet. Du dienst so deinem Geist, dir selbst und den Deinen. Denn
was da vor sich geht, wird vom Hohen Rat nicht verziehen, und die, die daran
teilgenommen haben, werden verfolgt werden. Ich habe erwidert: "Aber wovon
sprichst du denn? Ich habe dir doch gesagt, daß ich die Anweisung erhalten
habe, zu Hause zu bleiben, einerseits wegen der Jahreszeit und andererseits,
um eventuelle Pilger nach Nazareth zu schicken oder ihnen zu sagen, daß sie
den Meister am Ende des Schebat in Kapharnaum erwarten sollen. Du aber
sprichst von Trennung, Mittäterschaft, Verfolgungen! Erkläre mir!" Ist es
nicht wahr, Philippus, daß ich das gesagt habe?»
Philippus bejaht es.
Bartholomäus fährt fort: «Da hat
Michael gesagt, es sei bekannt, daß du dich gegen die Weisung und den Befehl
des Hohen Rates auflehnst, indem du Johannes von Endor und eine Griechin bei
dir behältst... Herr, ich weiß, ich tue dir damit weh, aber ich muß es
trotzdem sagen. Ich frage dich: Ist es wahr, daß sie in Nazareth waren?»
«Ja, es ist wahr.»
«Ist es auch wahr, daß sie mit
dir abgereist sind?»
«Ja, das stimmt.»
«Philippus, Michael hatte recht!
Aber woher konnte er es wissen?»
«Ach, laß das! Es sind diese
Schlangen, die mich und Simon aufgehalten haben, und wer weiß wie viele
andere. Es sind immer dieselben Schlangen», sagt Petrus aufgebracht.
Jesus jedoch fragt ruhig: «Hat er
dir sonst nichts gesagt? Sei ganz aufrichtig mit deinem Meister.»
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«Sonst nichts. Er wollte von mir
wissen... und da habe ich Michael angelogen, denn ich habe gesagt: "Bis zum
Passahfest bleibe ich in meinem Hause", aus Angst, daß er mir folgen könnte...
ich weiß es auch nicht... aus Angst, daß er dir Böses antun könnte... und
damals habe ich verstanden, weshalb du mich zurückgelassen hast... weil du
wußtest, daß ich noch zu sehr an Israel hing.» Bartholomäus beginnt wieder zu
weinen... «Und du hast an mir gezweifelt...»
«Nein, das nicht! Absolut nicht.
Du warst damals nicht notwendig bei den Gefährten, während du es in Bethsaida
wohl warst, du hast es selbst eingesehen. Jeder hat seine Mission, und jedes
Alter seine Plage...»
«Nein, nein! Herr, trenne mich
keiner Mühe wegen mehr von dir, nimm auf nichts mehr Rücksicht... Du bist
gütig, aber ich will mit dir zusammenbleiben. Fern von dir zu sein ist für
mich eine Strafe... und ich Törichter, der zu nichts fähig ist, hätte dich
wenigstens trösten können, wenn ich schon nichts anderes tun konnte. Nun habe
ich verstanden... Du hast diese mit den beiden fortgeschickt. Sage es mir
nicht, ich will es nicht wissen, aber ich fühle, daß es so ist, und sage es.
Dann hätte ich also bei dir sein können und müssen, und du hast mich nicht
geholt, um mich zu strafen, weil ich mich dagegen sträube, ein "neuer Mensch"
zu werden. Doch ich schwöre dir, Meister, daß, was ich gelitten habe, mich
erneuert hat, und daß du nie mehr in mir den alten Nathanael wiederfinden
wirst.»
«Du siehst also, daß die Leiden
sich für alle in Freude gewandelt haben. Jetzt werden wir langsam Thomas und
Judas entgegengehen, ohne abzuwarten, daß sie den Ort erreichen, an dem wir
uns treffen wollten. Dann werden wir mit ihnen noch... Es ist so viel zu tun!
... Morgen werden wir uns früh auf den Weg machen. Sehr früh!»
«Das wird richtig sein, denn ein
Nordwind kommt auf und das Wetter ändert sich. Ein Unheil für die
Pflanzungen», sagt Philippus.
«Ja, die letzten Hagelwetter
haben ganze Landstriche verwüstet. Wenn du es gesehen hättest, Herr! Es
schien, als ob manche Gegenden vollständig abgebrannt wären, und das Seltsame
daran ist, daß, wie ich gesagt habe, nur gewisse Landstriche davon betroffen
wurden», sagt Petrus.
«Während eurer Abwesenheit hat es
oft gehagelt. Eines Tages, um die Mitte des Monats Tebet, war es eine wahre
Plage. Man hat mir gesagt, daß einige Bauern in der Ebene noch einmal säen
müßten. Vor dem Unwetter war es schon ziemlich warm, aber jetzt sucht man die
Sonne gerne auf. Es geht wieder rückwärts mit der Jahreszeit... Welch
eigenartige Zeichen! Was haben sie wohl zu bedeuten?» fragt Philippus.
«Es handelt sich nur um
Mondeinwirkungen. Denke nicht darüber nach, das sind nicht Dinge, die uns
beeindrucken sollen. Übrigens werden wir in die Ebene gehen, wo es angenehm
sein wird zu wandern, frisch, nicht zu kalt und trocken. Kommt jetzt, auf der
Terrasse ist es sonnig, und wir wollen uns dort alle zusammen ausruhen ...»
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378. AUF DEM RÜCKWEG NACH GALILÄA
«Was machen wir nun, nachdem wir
auch den Hirten zufriedengestellt haben?» fragt Petrus, der allein mit Jesus
vorausgeht, während die anderen in einer Gruppe einige Meter hinter ihnen
folgen.
«Wir gehen zur Straße, die dem
Ufer entlang nach Sycaminon führt.»
«Ja?! Ich dachte, wir wären auf
dem Weg nach Kapharnaum ...»
«Dorthin brauchen wir nicht zu
gehen, Simon des Jonas; es ist nicht nötig, denn Nachrichten von deiner Frau
und von dem Knaben hast du erhalten, und was Judas anbelangt, ist es am
einfachsten, wenn wir ihm entgegengehen.»
«Eben deswegen, Herr. Nimmt er
nicht den Überlandweg am Fluß und am See entlang? Es ist der kürzeste und
beste.»
«Aber er wird diesen nicht
einschlagen, denn vergiß nicht, daß er die Jünger zu überwachen hat, und sie
sind zu dieser Jahreszeit und besonders jetzt, da es wieder sehr kalt geworden
ist, im Westen verstreut.»
«Gut, gut, wenn du es sagst. Mir
genügt es, wenn ich bei dir bin und dich weniger traurig sehe. Im übrigen habe
ich wirklich keine Eile, Judas des Simon zu begegnen. Oh, wenn wir ihn etwa
gar nicht antreffen würden! Wir haben uns so wohl gefühlt unter uns!»
«Simon, Simon, ist das deine
Bruderliebe?»
«Herr... das ist meine
Aufrichtigkeit», sagt Petrus offen heraus, und zwar mit einem solchem
Nachdruck und Gesichtsausdruck, daß Jesus Mühe hat, nicht zu lächeln. Wie
könnte man denn nur einen so aufrichtigen, treuen Menschen streng
zurechtweisen? Jesus zieht es vor zu schweigen, und zeigt indessen
überschwengliches Interesse an den Hängen auf der linken Seite, während die
Ebene, die man zur Rechten sieht, immer flacher wird. Hinter ihnen, in einer
Gruppe, sprechen die übrigen neun miteinander und Johannes mit einem Schäflein
auf den Schultern, gleicht einem guten Hirten; wahrscheinlich ist es ein
Geschenk des Hirten Annas.
Nach einiger Zeit beginnt Petrus
wieder zu fragen: «Und nach Nazareth gehen wir nicht?»
«Gewiß werden wir dorthin gehen.
Meine Mutter wird sich freuen, etwas über die Reise von Johannes und Syntyche
zu erfahren.»
«Und dich wiederzusehen!»
«Und mich zu sehen.»
«Ob man wohl wenigstens sie in
Ruhe gelassen hat?»
«Das werden wir erfahren.»
«Aber warum sind sie so grimmig?
Es gibt doch so viele in Judäa wie
Johannes, und doch... Ja, um Rom
zu ärgern, beschützen und verbergen sie diese sogar...»
«Überzeuge dich, daß sie nicht
wegen Johannes so handeln, sondern nur, um einen Vorwand für eine Anklage
gegen mich zu haben.»
96
«Aber sie werden ihn nicht mehr
finden! Du hast alles gut geplant... uns allein zu schicken... auf dem Meer...
in einer Barke für einige Meilen, und dann, jenseits der Grenze, mit einem
Schiff... Oh, das war gut so. Ich hoffe wirklich, daß sie enttäuscht sind.»
«Gewiß werden sie es sein.»
«Ich bin neugierig, Judas von
Kerioth zu sehen, um ihn ein wenig auszuforschen wie einen Himmel voller Winde
und Zeichen, und zu sehen, ob ...»
«Genug, Petrus! ...»
«Du hast recht. Ich habe ein
Brett vor den Kopf», und er schlägt sich auf die Stirne.
Um ihn abzulenken, ruft Jesus
alle anderen zu sich und macht sie auf die eigenartige Zerstörung aufmerksam,
die durch Hagel und Kälte verursacht werden sind, zu einer Jahreszeit in der
man annehmen könnte, daß die Kälte schon vorüber wäre... Der eine sagt dies,
der andere das. Doch alle wollen darin eine göttliche Strafe sehen, die das
widerspenstige Palästina getroffen hat, das den Herrn nicht aufnehmen will.
Die Gelehrteren zitieren ähnliche Ereignisse, bekannt durch Berichte aus alter
Zeit, während die Jüngeren und weniger Gebildeten erstaunt und aufmerksam
zuhören.
Jesus schüttelt den Kopf: «Es ist
die Wirkung des Mondes und ferner Winde. Ich habe es euch schon gesagt. In den
nördlichen Gegenden hat sich ein Phänomen ereignet, dessen Folgen sich auf
ganze Regionen auswirken.»
«Aber warum sind dann manche
Felder so schön?»
«Der Hagel ist nun einmal so.»
«Aber könnte es sich nicht um
eine Züchtigung für die Allerschlimmsten handeln?»
«Es könnte so sein, aber es ist
nicht so. Wehe, wenn es so wäre...»
«Dann würde fast unser ganzes
Vaterland trocken und öde sein, nicht wahr, Herr?» sagt Andreas.
«Aber in den Prophezeiungen wird
durch Symbole vorhergesagt, daß Strafen über diejenigen hereinbrechen werden,
die den Messias nicht aufnehmen. Können die Propheten die Unwahrheit sagen?»
«Nein Bartholomäus. Was
vorausgesagt wurde, wird auch eintreffen. Aber der Allerhöchste ist so
unendlich gütig, daß etwas noch viel Schlimmeres geschehen muß, damit er
bestraft. Seid auch ihr gut und fordert nicht immer Strafen für die
Hartherzigen und Verstockten. Wünscht ihre Bekehrung, nicht ihre Strafe.
Johannes, gib das Lamm einem Kameraden und komm, um von den Sanddünen aus dein
Meer zu betrachten; auch ich werde kommen.»
Sie sind jetzt auf einer Straße
ganz nahe am Meer, und nur ein breites Band gewellter Dünen trennt sie vom
Wasser. Auf diesen Dünen wiegen
97
sich schlanke Palmen und wachsen
durcheinander Tamarinden, Mastixbäume und andere Sandgewächse.
Jesus geht mit Johannes, und wer
bleibt zurück? Niemand. Bald sind sie alle oben, an der angenehmen Sonne, und
vor ihnen das heitere, schöne Meer...
Die Stadt Ptolemais mit ihren
weißen Häusern ist ganz nahe.
«Werden wir dort hingehen?» fragt
Judas des Alphäus.
«Das ist nicht nötig, wir werden
bei den ersten Häusern anhalten und etwas essen. Ich möchte am Abend in
Sycaminon sein. Vielleicht treffen wir dort Isaak an.»
«Wieviel Gutes er dort tut! Hast
du Abel, Johannes und Joseph gehört?»
«Ja! Aber alle Jünger sind sehr
eifrig, und dafür preise ich meinen Vater Tag und Nacht. Ihr alle seid meine
Freude, mein Friede, meine Gewähr...», und er betrachtet sie mit einer so
unendlichen Liebe, daß den zehn Aposteln die Tränen in die Augen steigen.
Bei diesem liebevollen Blick
schwindet mir die Fähigkeit, noch mehr zu sehen...
379. BEGEGNUNG MIT JUDAS ISKARIOT
UND THOMAS
Durch das Tal des Kischon fegt
trotz der am heiteren Himmel strahlenden Sonne ein eiskalter Wind, der aus den
nördlichen Bergen kommt und den zarten Pflänzchen schadet. Sie erfrieren,
sehen wie versengt aus und sind wohl dazu bestimmt, in ihrem neuen Grün
abzusterben.
«Wird diese Kältewelle noch lange
andauern?» fragt Matthäus und hüllt sich enger in seinen großen Mantel ein,
aus dem nur noch ein kleiner Teil seines Gesichtes herausschaut, das heißt,
die Augen und die Nase.
Mit einer durch den Mantel
gedämpften Stimme (er hat ihn über den Mund gezogen) antwortet Bartholomäus:
«Vielleicht für den Rest des Monats.»
«Um Himmelswillen! Nun, Geduld!
Wenigstens werden wir in Nazareth in gastfreundlichen Häusern unterkommen...
und inzwischen wird die Kälte vorübergehen.»
«Ja, Matthäus. Aber für mich ist
sie schon vorüber, wenn ich sehe, daß Jesus nicht mehr so niedergedrückt ist.
Scheint dir nicht auch, daß er fröhlicher geworden ist?» fragt Andreas.
«Er ist es! Aber ich... Nun, es
scheint mir unmöglich, daß man so abgezehrt sein kann, demnach, was wir
wissen. Ist denn sonst wirklich nichts passiert?» fragt Philippus.
«Nichts, wirklich nichts.
Vielmehr hat er an der syrisch-phönizischen
98
Grenze viel Freude mit gläubigen
Seelen erlebt, und die Wunder gewirkt, von denen ich dir erzählt habe»,
versichert Jakobus des Alphäus.
«Er ist seit einigen Tagen viel
mit Simon des Jonas zusammen, und Simon ist sehr verändert... Ja, ihr seid
alle verändert. Ich weiß nicht ... Ihr seid viel... ernster geworden, das ist
es», sagt Philippus.
«Aber das ist nur ein Eindruck!
... In Wirklichkeit sind wir die, die wir waren. Gewiß, den Meister so betrübt
zu sehen wegen vieler Dinge, ist nicht erhebend, und ebenso hat es uns leid
getan, hören zu müssen, wie viele gegen ihn sind... Aber wir werden ihn
verteidigen. Oh, sie werden es nicht wagen ihm etwas anzutun, wenn wir bei ihm
sind. Gestern abend habe ich ihm gesagt, nachdem ich die Worte von Hermas
gehört hatte, der ein ernster, glaubwürdiger Mensch ist: "Du darfst nicht mehr
allein bleiben. Du hast die Jünger, die, wie du siehst, unentwegt Gutes tun
und immer zahlreicher werden. Deswegen werden wir bei dir bleiben. Ich sage
dir nicht, daß du alles tun sollst. Es ist an der Zeit, dich zu erheben, mein
Bruder. Aber du wirst bei uns sein, wie Moses auf dem Berge, und wir werden
für dich kämpfen, bereit, dich notfalls auch mit unseren Händen zu
verteidigen. Was mit Johannes dem Täufer geschehen ist, darf dir nicht
zustoßen." Schließlich, wenn die Jünger des Täufers nicht auf zwei oder drei
Kleinmütige zusammengeschmolzen wären, hätte man ihn nicht gefangengenommen.
Wir hingegen sind zwölf, und ich will sie überzeugen, wenigstens einige der
treuesten und energischsten Jünger, in seiner Nähe zu bleiben. Jene, die mit
Johannes in Machärus waren, zum Beispiel. Männer mit tiefem Glauben und großem
Mut, wie Johannes, Matthias und auch Joseph. Wißt ihr, daß dieser Jüngling
vielversprechend ist?» sagt Thaddäus.
«Ja. Isaak ist ein Engel, aber
seine Kraft liegt ganz im Geiste. Joseph hingegen ist auch körperlich stark
und hat fast das gleiche Alter wie wir.»
«Zudem hat er ein gutes
Auffassungsvermögen. Hast du gehört, was Hermas gesagt hat? "Wenn er studiert
hätte, wäre aus ihm nicht nur ein Gelehrter, sondern zudem noch ein Rabbi
geworden"! Und Hermas weiß, was man so spricht.»
«Ich jedoch... würde auch
Stephanus, Hermas und den Priester Johannes in der Nähe behalten, wegen ihrer
Kenntnis des Gesetzes und des Tempels. Wißt ihr, was ihre Anwesenheit
angesichts der Schriftgelehrten und Pharisäer bedeutet? Eine Aufsicht, ein
Zügel... und für Zweifler ist es, als ob man sagen würde: "Seht, auch die
Besten Israels sind beim Rabbi als Schüler und Diener"», sagt Jakobus des
Alphäus.
«Du hast recht, wir müssen es dem
Meister berichten. Habt ihr gehört, was er gestern gesagt hat? "Ihr sollt
gehorchen, aber ihr habt auch die Pflicht, mir euer Herz zu öffnen und das zu
sagen, was euch richtig scheint, um euch daran zu gewöhnen, in Zukunft selbst
die Führung zu übernehmen; und wenn ich sehe, daß ihr recht habt, werde ich
eure Vorschläge annehmen», sagt der Zelote.
99
«Vielleicht tut er es auch, um
uns zu zeigen, daß er uns liebt, da wir alle mehr oder weniger davon überzeugt
sind, daß wir die Ursache seiner Pein sind», bemerkt Bartholomäus.
«Oder er ist es wirklich müde,
immer an alles denken, alle Entscheidungen alleine treffen und die ganze
Verantwortung tragen zu müssen. Vielleicht erkennt er auch, daß seine
vollkommene Heiligkeit... eine, ich möchte fast sagen, Unvollkommenheit ist
gegenüber der Welt, die nicht heilig ist. Wir sind keine vollkommenen
Heiligen. Wir sind kaum etwas weniger spitzbübisch als die anderen... und
daher fähig, denen zu antworten, die ungefähr so sind wie wir», sagt Simon der
Zelote.
«Und sie zu kennen, mußt du
sagen!» fügt Matthäus hinzu.
«Oh, was das betrifft, bin ich
sicher, daß auch er sie kennt. Vielmehr, er kennt sie noch besser als wir, da
er in den Herzen liest; das weiß ich gewiß, so wahr ich lebe», sagt Jakobus
des Zebedäus.
«Also, warum tut er dann manchmal
Dinge, die Widerwärtigkeiten und Gefahren mit sich bringen?» fragt Andreas
betrübt.
«Nun, ich weiß nicht, was ich
darauf antworten soll», sagt Thaddäus und zuckt die Achseln. Auch andere sind
mit seiner Meinung einverstanden.
Johannes schweigt. Sein Bruder
neckt ihn: «Du, der du immer alles über Jesus weißt – manchmal gleicht ihr
zwei Verliebten – hat er dir nicht gesagt, warum er so handelt?»
«Ja. Als ich ihn vor kurzem
wieder danach gefragt habe, hat er mir immer geantwortet: "Weil ich es tun muß!
Ich muß so handeln, als ob die Welt voll von unwissenden, aber guten Menschen
wäre. Allen lasse ich dieselbe Lehre zukommen, und so werden sich die Kinder
der Wahrheit von denen der Lüge scheiden." Er hat mir auch gesagt: "Siehst du,
Johannes, es ist wie ein erstes Gericht, jedoch weder ein weltweites noch ein
gemeinsames, sondern ein den einzelnen Menschen betreffendes. Aufgrund ihrer
Werke des Glaubens, der Liebe und der Gerechtigkeit werden die Schafe von den
Böcken getrennt. Das wird weiter so sein, auch wenn ich nicht mehr da bin,
aber meine Kirche da sein wird durch die Jahrhunderte hindurch bis ans Ende
der Welt. Das erste Gericht der Menschenmassen wird in der Welt stattfinden,
dort, wo die Menschen das Gute und das Böse, die Wahrheit und die Lüge vor
sich haben und nach freiem Willen handeln, so wie das erste Gericht im
irdischen Paradies, das die Gott Ungehorsamen entweiht haben, vor dem Baume
des Guten und des Bösen gehalten wurde. Dann, wenn einst der Tod über den
einzelnen Menschen kommt, wird die Göttliche Allwissenheit unfehlbar das im
Buch des Lebens bereits aufgezeichnete Urteil bestärken. Zuletzt wird das
große, das schreckliche Gericht kommen; dann werden alle Menschen noch einmal
zusammen, von Adam bis zum letzten Menschen, gerichtet werden für das, was sie
auf Erden aus freiem Willen getan haben. Wenn ich selbst
100
bestimmen würde, wer das Wort
Gottes, das Wunder, die Liebe verdient und wer sie nicht verdient – dazu hätte
ich das göttliche Recht und die göttliche Macht – dann würden die
Ausgeschlossenen, selbst wenn es Teufel gewesen wären, am Tage ihres einzelnen
Gerichtes schreien: "Der Schuldige ist dein menschgewordener Sohn, der uns
nicht unterweisen wollte." Aber das werden sie nicht sagen können... Oder sie
werden es sagen und eine Lüge mehr zu den schon vorangegangenen hinzufügen,
und dafür gerichtet werden.»
«Das heißt also, daß wer die
Lehre nicht anerkennt und aufnimmt, verdammt wird?» fragt Matthäus.
«Das weiß ich nicht, ob nun alle,
die nicht glauben, wirklich verdammt werden. Wenn ihr euch daran erinnert, hat
er, als er mit Syntyche sprach, zu verstehen gegeben, daß diejenigen, die sich
aufrichtig bemühen, rechtschaffen zu leben, nicht verdammt werden, selbst wenn
sie einer andere Religion angehören... Aber wir können ihn ja fragen. Gewiß
wird Israel, das vom Messias weiß und ihm nur teilweise oder gar nicht glaubt
oder ihn ablehnt, streng bestraft werden.»
«Der Meister spricht viel mit
dir, und du weißt vieles, was wir nicht wissen», bemerkt sein Bruder Jakobus.
«Das ist deine und eure Schuld.
Ich frage ihn ganz einfach, und manchmal frage ich Dinge, die ihn vermuten
lassen müssen, daß sein Johannes ein großer Dummkopf ist. Aber mir macht es
nichts aus, als solcher zu gelten, mir genügt es, seine Gedanken zu kennen, um
sie zu meinen zu machen. So solltet ihr es auch machen. Aber ihr habt immer
Angst! Wovor denn? Daß ihr unwissend seid, daß ihr oberflächlich seid und
starrköpfig ? Ihr solltet nur davor Angst haben, dann immer noch unvorbereitet
zu sein, wenn er uns einst verlassen wird. Er sagt es immer... und ich sage es
mir auch immer, um mich auf die Trennung vorzubereiten... aber ich fühle, daß
es dennoch ein großer Schmerz sein wird ...»
«Laß mich nicht daran denken!»
ruft Andreas aus, und ein Echo von Seufzern der anderen folgen seinem Ausruf.
«Aber wann wird dies geschehen?
Denn er sagt immer: "Bald!" Aber bald kann in einem Monat oder auch in einigen
Jahren sein. Er ist noch so jung, und die Zeit vergeht so rasch... Was hast
du, Bruder? Du wirst ganz bleich...», fragt Thaddäus den Jakobus.
«Nichts, nichts! Ich dachte...»
sagt Jakobus des Alphäus rasch mit geneigtem Haupt.
Thaddäus beugt sich über ihn, um
ihn besser sehen zu können... «Aber du hast ja Tränen in den Augen! Was hast
du? ...»
«Nicht mehr als das, was auch ihr
habt... Ich dachte an die Zeit, da wir allein sein werden.»
«Oh! Aber was hat Simon des
Jonas, daß er wegläuft und krächzt wie ein Seerabe im Gewitter», fragt Jakobus
des Zebedäus und deutet auf
101
Petrus, der Jesus alleingelassen
hat, davonrennt und Worte hinausschreit, die das Sausen des Windes übertönen.
Sie beschleunigen ihre Schritte
und sehen, daß Petrus einen kleinen Pfad eingeschlagen hat, der zu dem nunmehr
nahegelegenen Sephoris führt. (So sagen die Jünger, die sich fragen, ob er auf
Anweisung Jesu diese Abkürzung nach Sephoris nimmt.) Aber dann, bei genauem
Hinsehen, bemerken sie, daß die einzigen Wanderer, die von der Stadt her zur
Hauptstraße kommen, Thomas und Judas sind.
«Schaut! Hier? Ausgerechnet hier?
Oh, was machen die denn hier? Von Nazareth sollten sie nach Kana gehen und
dann nach Tiberias...»fragen sich viele.
«Vielleicht sind sie auf der
Suche nach Jüngern hierher gekommen, denn das war ja ihre Aufgabe», sagt der
Zelote vorsichtig, weil er spürt, daß der Verdacht aufkommt, der wie eine
erwachende Schlange den Kopf hebt.
«Beschleunigen wir den Schritt.
Jesus ist allein und scheint auf uns zu warten ...» rät Matthäus.
Sie gehen und erreichen Jesus
gleichzeitig mit Petrus, Judas und Thomas. Jesus ist totenbleich, so daß
Johannes fragt: «Fühlst du dich nicht wohl?»
Aber Jesus lächelt ihm zu und
macht eine verneinende Gebärde, während er die beiden begrüßt, die nach sehr
langer Abwesenheit zurückgekehrt sind.
Er umarmt zuerst Thomas, der
blühend und fröhlich wie immer ist, jedoch ernst wird, als er den Meister so
offensichtlich verändert sieht, und besorgt fragt: «Bist du krank gewesen?»
«Nein, Thomas, durchaus nicht.
Und du? Ist es dir gut gegangen? Bist du glücklich?»
«Ich? Ja, Herr! Es ist mir immer
gut gegangen und ich war immer glücklich. Nur du hast mir gefehlt zur
Glückseligkeit meines Herzens. Mein Vater und meine Mutter sind dir dankbar,
daß du mich für einige Zeit zu ihnen geschickt hast. Mein Vater war kränklich,
und so habe ich für ihn gearbeitet. Ich bin auch bei meiner Zwillingsschwester
gewesen und habe meinen kleinen Neffen kennengelernt, dem ich den Namen habe
geben lassen, den du mir gesagt hattest. Danach ist Judas gekommen und hat
mich herumgeführt, wie eine Turteltaube in ihrer Brunstzeit, hinauf und hinab,
wo immer Jünger waren. Er war schon allein weit herumgegangen. Nun wird er es
dir gleich erzählen, denn er hat für zehn gearbeitet und verdient es, daß du
ihm zuhörst.»
Jesus läßt ihn gehen; nun ist die
Reihe an Judas, der geduldig gewartet hat und nun unbefangen und kühn
triumphierend hervortritt. Jesus durchbohrt ihn mit seinen Augen, die wie
Saphire blitzen. Doch er küßt ihn und wird von ihm wie von Thomas geküßt, und
die darauffolgenden
102
Worte sind liebevoll: «Deine
Mutter, Judas, war sie glücklich, dich bei sich zu haben? Geht es dieser
gerechten Frau gut?»
«Ja, Meister, und sie preist dich
dafür, daß du ihr ihren Judas geschickt hast. Sie wollte mir Geschenke für
dich mitgeben. Aber wie hätte ich sie tragen können über Berg und Tal? Du
kannst beruhigt sein, Meister, alle Jüngergruppe, die ich besucht habe,
arbeiten mit heiligem Eifer, die Lehre verbreitet sich immer mehr, und ich
wollte deren Auswirkung auf die mächtigen Schriftgelehrten und Pharisäer
selbst prüfen. Viele kannte ich und viele habe ich kennengelernt, um deiner
Liebe willen. Ich habe mich Sadduzäern und Herodianern genähert... Oh, ich
versichere dir, daß meine Würde zunichte gemacht wurde... Dir zuliebe habe ich
es getan und werde noch mehr tun. Ich wurde mit Verachtung zurückgewiesen und
geächtet, aber bei einigen, die dir gegenüber voreingenommen waren, ist es mir
auch gelungen, sie dir wohlgesinnt zu stimmen. Ich will deswegen nicht von dir
gelobt werden, es genügt mir, meine Pflicht getan zu haben, und ich danke dem
Ewigen, daß er mir immer beigestanden hat. In manchen Fällen mußte ich auf
Wunder zurückgreifen, was mich betrübte, denn sie hätten Blitze und nicht
Segen verdient.
Doch du lehrst, daß man Liebe und
Geduld üben soll... und ich habe es so gehalten zur Ehre und zum Ruhm Gottes
und um dir Freude zu bereiten. Ich hoffe, daß viele Hindernisse nun für immer
beseitigt sind, umsomehr, als ich auf meine Ehre zugesichert habe, daß die
zwei, die so viel Verdacht erregten, nicht mehr bei dir sind. Später erst sind
mir Bedenken gekommen, ob ich nicht etwas versichert habe, was ich nicht mit
Bestimmtheit weiß. Ich wollte also die Sache überprüfen, um vorzusorgen, daß
ich nicht bei einer Lüge ertappt werde, was mich für immer bei den zu
Bekehrenden in Mißkredit gebracht hätte. Stell dir vor, auch Annas und Kaiphas
habe ich besucht! ... Oh, sie wollten mich mit ihren Vorwürfen vernichten...
Aber ich war so demütig, so überzeugend, daß sie schließlich sagten: "Nun,
wenn die Dinge wirklich so stehen... Wir wurden anders informiert. Die
Ältesten des Hohen Rates, die es hätten wissen können, hatten uns das
Gegenteil berichtet und..."»
«Du wirst damit nicht sagen
wollen, daß Joseph und Nikodemus Lügner waren?» unterbricht ihn der Zelote,
der sich bis dahin beherrscht hat und ganz fahl von der Anstrengung geworden
ist.
«Wer sagt das? Im Gegenteil!
Joseph hat mich gesehen, als ich von Annas kam, und hat gesagt: "Warum bist du
so erregt?" Ich habe ihm alles erzählt, auch daß du, Meister, gemäß seinem Rat
und dem des Nikodemus, den Galeerensträfling und die Griechin fortgeschickt
hast. Denn du hast sie doch weggeschickt, nicht wahr?» sagt Judas, und er
blickt dabei Jesus mit seinen listigen Augen, die phosphoreszierend schillern,
scharf an. Er scheint Jesus mit seinem Blick durchbohren zu wollen, um zu
ergründen, was Jesus getan hat.
103
Jesus, der ihm immer ganz nahe
gegenübersteht, sagt ruhig: «Ich bitte dich, deine Erzählung, die mich sehr
interessiert, fortzusetzen. Es ist ein genauer Bericht, der sehr nützlich sein
kann.»
«Ah! Also, ich sagte, daß Annas
und Kaiphas ihren Irrtum eingesehen haben, und das ist schon viel für uns,
nicht wahr? Dann ... Oh, jetzt werdet ihr lachen! Denkt euch, die Rabbis haben
mich in ihre Mitte genommen und haben mich aufs neue einer Prüfung unterzogen,
als wäre ich ein Minderjähriger, der volljährig wird. Und was für ein Examen!
Gut, ich habe sie überzeugt, und sie haben mich gehen lassen. Dann aber
überkamen mich der Verdacht und die Angst, etwas Unwahres gesagt zu haben. Da
habe ich beschlossen, Thomas mitzunehmen und nochmals dorthin zu gehen, wo
Jünger waren oder wo sich Johannes und die Griechin vermutlich aufhalten
könnten. Ich bin bei Lazarus, bei Manaen, im Palast des Chuza, bei Elisa in
Bethsur, in Bether in den Gärten der Johanna, in Gethsemane, im kleinen Haus
Salomons auf der anderen Seite des Jordans, beim "Trügerischen Gewässer", bei
Nikodemus, bei Joseph gewesen...»
«Und du hast sie nicht gesehen.»
«Ja. Joseph hat mir beteuert, die
beiden nie mehr wiedergesehen zu haben. Aber weißt du... ich wollte sicher
sein... Kurz, ich habe alle Orte abgesucht, wo ich vermutete, daß die beiden
hätten sein können. Glaube nicht, daß es mir etwa leid getan hätte, sie nicht
zu finden; du wärest im Unrecht. Jedesmal – und Thomas kann es bestätigen –
jedesmal, wenn ich einen Ort verließ, ohne sie gefunden zu haben, sagte ich:
"Lob sei dem Herrn!" und: "0 Ewiger, gib, daß ich sie nie mehr sehe!"
Wahrlich, das war der Seufzer meiner Seele... Der letzte Ort war Esdrelon...
Ach, übrigens! Ismael, der Sohn des Fabi, der sich im Gebiet von Mageddo in
seinem Palast aufhält, wünscht, dich zu Gast zu haben... doch ich an deiner
Stelle würde nicht hingehen ...»
«Warum? Gewiß werde ich hingehen,
denn auch ich habe den Wunsch, ihn zu sehen. Wir werden sogar sofort hingehen,
und anstatt nach Sephoris, werden wir nach Esdrelon gehen, um übermorgen, zum
Vorabend des Sabbat, in Maggedo zu sein. Von dort begeben wir uns dann in das
Haus Ismaels.»
«Aber nein, Herr! Warum? Glaubst
du, daß er dich liebt?»
«Aber wenn du ihm nahegekommen
bist und ihn zu meinen Gunsten umgestimmt hast, warum willst du dann nicht,
daß ich hingehe?»
«Ich habe mich ihm nicht
genähert... Er war auf den Feldern und hat mich erkannt. Aber ich – nicht
wahr, Thomas – wollte fliehen, als ich ihn sah und konnte nicht, weil er mich
beim Namen gerufen hat. Ich... ich kann nichts anderes tun, als dir raten,
niemals mehr zu Pharisäern, Schriftgelehrten oder ähnlichen Leuten zu gehen.
Es bringt dir keinen Nutzen. Bleiben wir unter uns, mit dem Volk, das genügt.
Auch Lazarus,
104
Nikodemus, Joseph... es wird ein
Opfer sein... Aber es ist besser, dieses Opfer zu bringen, um nicht Eifersucht
und Neid aufkommen zu lassen und Gelegenheit zur Kritik zu geben... Bei Tisch
wird viel gesprochen... und man legt deine Worte mit Arglist aus. Doch, um auf
Johannes zurückzukommen... Ich war nun auf dem Weg nach Sycaminon, obwohl
Isaak, den ich an der Grenze von Samaria traf, mir geschworen hatte, sie beide
seit Oktober nicht mehr gesehen zu haben.»
«Isaak hat die Wahrheit
geschworen. Aber bezüglich deiner Ratschläge, was mein Zusammenkommen mit
Schriftgelehrten und Pharisäern betrifft, möchte ich dich darauf aufmerksam
machen, daß sie im Gegensatz zu dem stehen, was du vorher gesagt hast. Du hast
mich verteidigt, du hast dies getan, nicht wahr? Du hast gesagt: "Ich habe
viele Vorurteile gegen dich aus dem Weg geräumt." So hast du gesagt, nicht
wahr?»
«Ja, Meister.»
«Warum kann ich mich dann nicht
schließlich auch selbst verteidigen? Wir gehen also zu Ismael, und du kehrst
jetzt zurück und meldest uns bei ihm an. Andreas, Simon der Zelote und
Bartholomäus werden dich begleiten. Wir werden bei den Bauern rasten. Von
Sycaminon kommen wir soeben zurück. Wir waren zu elft und können dir
versichern, daß Johannes nicht dort ist, und er ist auch nicht in Kapharnaum,
noch in Bethsaida, Tiberias, Magdala, Nazareth, Chorazim, Bethlehem in Galiläa
oder an all den anderen Orten, die du vielleicht im Sinn hattest noch
aufzusuchen, um... dich selbst zu überzeugen, daß Johannes nicht bei Jüngern
oder in befreundeten Häusern ist.»
Jesus spricht ruhig und
natürlich... aber irgendetwas muß an ihm sein, das Judas verwirrt, denn er
wechselt für einen Augenblick die Farbe. Jesus umarmt ihn, wie um ihn zu
küssen... und während er ihn so hält, Wange an Wange, flüstert er ihm leise
zu: «Du Unglücklicher! Was hast du aus deiner Seele gemacht?»
«Meister... ich...»
«Geh! Du verpestest die Luft mit
der Hölle, mehr als Satan selbst! Schweig! ... und bereue, wenn du kannst!»
Judas ... ich, an seiner Stelle,
wäre mit Riesenschritten davongerannt, doch er sagt laut mit dreister
Frechheit: «Danke, Meister! Aber ich bitte dich, bevor ich gehe: zwei Worte
unter vier Augen.»
Alle ziehen sich einige Meter von
ihnen zurück.
«Warum hast du mir diese Worte
gesagt, Herr? Du hast mir dadurch Schmerz bereitet ...»
«Weil ich die Wahrheit bin. Wer
mit Satan verkehrt, nimmt den Geruch Satans an.»
«Ah! Ist es wegen der
Geisterbeschwörung? Oh, welche Furcht hast du mir eingejagt! Es war nur ein
Scherz, nicht mehr als der Scherz eines neugierigen Kindes, der mir geholfen
hat, mich den Sadduzäern zu nähern;
105
und dann habe ich die Lust daran
verloren. Du siehst also, daß du mich ruhigen Gewissens lossprechen kannst. Es
sind unnütze Dinge, wenn man deine Macht hat, du hast recht gehabt. Auf,
Meister! Meine Schuld ist so geringfügig! ... Groß ist deine Weisheit. Aber
wer hat dir davon erzählt?»
Jesus schaut ihn streng an und
antwortet nicht.
«Hast du die Sünde wirklich in
meiner Seele gesehen?» fragt Judas etwas verängstigt.
«Und du hast mich angewidert.
Geh, und sage kein Wort mehr!» Er wendet ihm den Rücken zu und kehrt zu den
Jüngern zurück, denen er befiehlt, eine andere Straße einzuschlagen, nachdem
er sich von Bartholomäus, Simon und Andreas verabschiedet hat, die Judas
einholen und sich eiligen Schrittes mit ihm entfernen. Die Zurückgebliebenen
machen sich langsam auf den Weg und ahnen die Wahrheit, die nur Jesus kennt,
nicht.
So ahnungslos sind sie, daß sie
Judas seiner Tüchtigkeit und seines Scharfsinns wegen loben, und der ehrliche
Petrus klagt sich aufrichtig an ob des verwegenen Gedankens, den er in seinem
Herzen gegenüber dem Gefährten gehegt hat...
Jesus lächelt. Es ist ein
sanftes, etwas müdes Lächeln, als ob er in Gedanken verloren wäre und das
Geplauder der Gefährten kaum hören würde, die von den Dingen nur das wissen,
was ihnen ihr Menschsein gestattet.
380. ISMAEL BEN FABI
Ich sehe Jesus auf einer
Hauptstraße dahineilen, über die ein kalter, morgendlicher Wind fegt und sie
anstrengend zu gehen macht. Die Felder auf beiden Seiten der Straße sind von
einem Flaum von sprießendem Getreide bedeckt, von einem grünen Schleier, in
dem ein kaum angedeutetes Versprechen für künftiges Brot liegt. Die Schollen
im Schatten weisen allerdings noch nicht dieses gesegnete Grün auf, und nur
die am meisten der Sonne ausgesetzten Stellen zeigen das zarte Sprießen, das
auch den nahen Frühling ankündigt. Die Obstbäume sind noch kahl, nicht eine
einzige Knospe schwillt auf den dunklen Zweigen. Nur die Olivenbäume tragen
ihr ewiges graugrünes Gewand, das sowohl in der Augustsonne wie auch an diesem
hellen Wintermorgen traurig erscheint. Auch die fetten Blätter der Kakteen
haben das zarte Grün leicht gefärbter Keramik.
Jesus geht, wie so oft, den
Jüngern zwei oder drei Schritte voraus. Alle haben sich gut in ihre Wollmäntel
eingehüllt.
Auf einmal bleibt Jesus stehen
und wendet sich fragend an die Jünger: «Kennt ihr den Weg?»
106
«Dies ist der Weg, aber wo das
Haus liegt, wissen wir nicht... es muß im Ort sein... vielleicht dort, wo die
Olivenbäume dichter stehen...»
«Nein. Es muß dort hinten sein,
wo die großen, kahlen Bäume stehen ...»
«Es müßte dort eine für Wagen
befahrbare Straße sein...»
Sie wissen nichts Genaues, und
auf dem Weg oder auf den Feldern ist kein Mensch zu sehen. So gehen sie auf
gut Glück vorwärts auf der Suche nach der Straße.
Bald finden sie eine kleines
Häuschen armer Leute mit zwei oder drei Äckerchen darum herum. Ein Mädchen
schöpft Wasser aus einem Brunnen.
«Der Friede sei mit dir, Kind»,
sagt Jesus und bleibt am Durchgang einer Hecke stehen.
«Der Friede sei mit dir! Was
willst du?»
«Eine Auskunft. Wo ist das Haus
des Pharisäers Ismael?»
«Du hast den Weg verfehlt, Herr.
Nun mußt du bis zum Scheideweg zurückkehren und die Straße nehmen, die in die
Richtung führt, in der die Sonne untergeht. Aber es ist ein weiter Weg, denn
du mußt zu der Abzweigung zurückkehren und dann immer weiter gehen. Hast du
schon gegessen? Es ist kalt, und mit einem leeren Magen fühlt man die Kälte
noch mehr. Tritt ein, wenn du willst. Wir sind arm, aber auch du bist nicht
reich. Du kannst dich anpassen. Komm!» Und mit heller Stimme ruft das Mädchen:
«Mutter!»
Auf der Schwelle erscheint eine
Frau zwischen dreißig vierzig Jahren. Sie hat ein ehrliches, etwas wehmütiges
Gesicht. Auf den Armen trägt sie einen vielleicht dreijährigen, halb
angezogenen Knaben.
«Komm herein, das Feuer brennt.
Ich werde dir Milch und Brot geben.»
«Ich bin nicht allein, ich bin
mit diesen Freunden.»
Alle sollen hereinkommen, und der
Segen Gottes sei mit euch Gästen, die ich bewirte!»
Sie treten in eine niedrige,
dunkle Küche ein, die von einem lebhaften Feuer erhellt wird und setzen sich
da und dort auf einfache Truhen.
«Jetzt will ich etwas für euch
zubereiten... Es ist Morgen... und ich habe noch nirgends Ordnung gemacht...
Entschuldigt!»
«Bist du allein?» fragt Jesus.
«Ich habe einen Mann und sieben
Kinder. Die zwei größten sind noch auf dem Markt in Naim. Da mein Mann krank
ist, müssen sie zum Markt gehen. Ein großes Leid! ... Die Mädchen helfen mir.
Dies hier ist der Jüngste, aber ich habe noch einen, der nur ein wenig älter
ist.»
Der Kleine, der nunmehr mit einem
Röckchen bekleidet ist, läuft mit nackten Füßchen auf Jesus zu und schaut ihn
neugierig an. Jesus lächelt ihm zu und die Freundschaft ist geschlossen. «Wer
bist du?» fragt das Kind vertrauensvoll.
107
«Ich bin Jesus.»
Die Frau wendet sich um, bleibt
mit einem Brot in den Händen zwischen der Feuerstelle und dem Tisch stehen und
mustert ihn aufmerksam. Dann öffnet sie den Mund, um etwas zu sagen, bleibt
jedoch stumm.
Das Kind fragt weiter: «Wohin
gehst du?»
«Ich ziehe durch die Welt.»
«Um was zu tun?»
«Um die guten Kinder und ihre
Häuser, in denen man dem Gesetz treu ist, zu segnen.»
Die Frau macht wieder eine
Bewegung. Dann gibt sie Judas Iskariot, der ihr am nächsten steht, ein
Zeichen. Er neigt sich zu der Frau, die ihn fragt: «Wer ist denn dein Freund?»
Triumphierend, als ob Jesus durch
sein Verdienst und seine Gnade der Messias wäre, antwortet Judas: «Es ist der
Rabbi von Galiläa: Jesus von Nazareth. Weißt du das nicht, Frau?»
«Ich wohne hier abgelegen und
habe viele Sorgen... Aber... ich könnte sie ihm sagen?»
«Das kannst du», sagt Judas
herablassend und gleicht einem großen Herrn, der eine Audienz bewilligt...
Jesus ist immer noch im Gespräch mit dem Kind, das ihn fragt, ob auch er
Kinder hätte.
Während das bereits bekannte und
ein noch etwas größeres Mädchen Milch und Geschirr herbeibringen, nähert sich
die Frau zögernd Jesus. Dann kommt der unterdrückte Schrei: «Jesus, hab
Erbarmen mit meinem Mann!»
Jesus erhebt sich. Er überragt
sie mit seiner stattlichen Gestalt, aber er betrachtet sie mit so großer Güte,
daß sie neuen Mut schöpft.
«Was möchtest du, daß ich für ihn
tue?»
«Er ist schwer krank,
angeschwollen wie ein Schlauch, und kann sich nicht mehr bücken, um zu
arbeiten. Er findet keine Ruhe, weil er oft dem Ersticken nahe ist, und er ist
immer erregt... Wir haben noch kleine Kinder...»
«Du möchtest also, daß ich ihn
heile? Aber warum verlangst du das gerade von mir?»
«Weil du der bist, der du bist.
Ich kenne dich nicht, aber ich habe von dir gehört. Das Schicksal hat dich in
mein Haus geführt, nachdem ich dich schon dreimal in Naim und Kana gesucht
habe. Zweimal war auch mein Mann dabei. Er suchte dich, obwohl die Fahrt mit
dem Wagen für ihn sehr schmerzvoll war... Auch jetzt ist er mit seinem Bruder
unterwegs... Man hat uns benachrichtigt, daß der Rabbi Tiberias verlassen
hätte und auf dem Weg nach Caesarea Philippi sei. Er hat sich dorthin begeben,
um auf dich zu warten...»
«Ich bin nicht nach Caesarea
gegangen. Ich gehe zum Pharisäer Ismael, und dann werde ich zum Jordan
gehen...»
108
«Du, der Gute, zu Ismael?»
«Ja. Warum?»
«Weil... weil ... Herr, ich weiß,
daß du sagst, man soll nicht urteilen, sondern verzeihen und sich lieben. Ich
habe dich nie gesehen. Aber ich habe versucht, so viel als möglich über dich
zu erfahren, und habe den Ewigen darum gebeten, dich wenigstens einmal hören
zu dürfen. Nichts will ich tun, was dir mißfällt... Aber wie kann man Ismael
nicht verurteilen oder ihn gar lieben? Ich habe nichts mit ihm zu schaffen,
und daher habe ich ihm auch nichts zu verzeihen. Die Schmähungen, die er gegen
uns ausstößt, wenn er auf seinem Weg unserer Armut begegnet, schütteln wir mit
derselben Geduld ab wie den Schmutz und den Staub, den er aufwirbelt, wenn er
mit seinen Kutschen an uns vorüberfährt. Aber ihn zu lieben und ihn nicht zu
verurteilen, ist doch zu schwer... Er ist so böse!»
«Er ist so böse? Mit wem?»
«Mit allen. Er unterdrückt die
Knechte, er leiht auf Wucher und fordert erbarmungslos. Er liebt nur sich
selbst. Er ist der Grausamste der ganzen Gegend. Er verdient es nicht, Herr.»
«Ich weiß es. Du sagst die
Wahrheit.»
«Und du gehst zu ihm?»
«Er hat mich eingeladen.»
«Mißtraue ihm, Herr! Er hat es
sicher nicht aus Liebe getan, denn er kann dich nicht lieben. Und du... auch
du kannst ihn nicht lieben.»
«Ich liebe auch die Sünder, Frau.
Ich bin gekommen, um jene zu retten, die verlorengegangen sind...»
«Aber diesen wirst du nicht
retten können. Oh, verzeih, daß ich geurteilt habe! Du weißt... Alles, was du
tust, ist gut. Verzeihe meiner törichten Zunge und bestrafe mich nicht.»
«Ich werde dich nicht bestrafen.
Aber tue es nicht mehr, und liebe auch die Bösen, nicht ihrer Böswilligkeit
wegen, sondern weil man nur durch Liebe zu ihnen die Barmherzigkeit erwerben
kann, die bekehrt. Du bist gut und willens, immer besser zu werden. Du liebst
die Wahrheit, und die Wahrheit, die zu dir spricht, sagt dir, daß sie dich
liebt, weil du dem Gast und Pilger gegenüber, dem Gesetz entsprechend,
barmherzig bist und auch deine Kinder so erzogen hast. Gott wird dein Lohn
sein. Ich muß zu Ismael gehen, der mich eingeladen hat, um mich vielen seiner
Freunde vorzustellen, die mich kennenlernen wollen. Ich kann auf deinen Mann
nicht warten, der sich schon auf dem Rückweg befindet. Aber sage ihm, daß er
noch ein wenig leiden und sofort zu Ismael kommen muß. Komme auch du mit ihm,
ich werde ihn heilen.»
«O Herr! ...» Die Frau ist zu
Füßen Jesu auf die Knie gesunken und schaut ihn lächelnd und weinend an. Dann
sagt sie: «Aber heute ist Sabbat!»
109
«Ich weiß es. Es muß so sein, daß
Sabbat ist, denn ich will Ismael genau diesbezüglich etwas sagen. Alles, was
ich tue, tue ich mit einer bestimmten Absicht und ohne zu fehlen. Ihr alle
sollt es wissen, auch ihr, meine Freunde, die ihr euch fürchtet und wünscht,
daß ich eine Haltung einnehme, die den Menschen angemessen ist, um mir nicht
selbst zu schaden. Es ist die Liebe, die euch dazu verleitet, ich weiß es.
Aber ihr müßt imstand sein, den, den ihr liebt, mehr zu lieben, indem ihr
göttliche Belange nie denen des von euch Geliebten hintansetzt. Frau, ich gehe
und erwarte dich. Der Friede sei immer in diesem Haus, wo man Gott und sein
Gesetz liebt, den Ehemann achtet, die Kinder heiligmäßig erzieht,
Nächstenliebe übt, und die Wahrheit sucht... Lebe wohl.»
Jesus legt seine Hand auf das
Haupt der Frau und ihrer beiden Mädchen; dann neigt er sich, um die kleinsten
Kinder zu küssen, und geht hinaus.
Jetzt erwärmt ein schwacher
Sonnenschein die kalte Luft. Ein Knabe von etwa fünfzehn Jahren wartet mit
einem sehr wackligen Bauernkarren auf die Gäste.
«Ich habe nur diesen, Herr. Aber
du wirst so doch rascher und leichter ans Ziel kommen.»
«Nein, Frau. Lasse das Pferd
ausruhen, um danach zu Ismael zu kommen. Zeige mir nur den kürzesten Weg.»
Der Knabe geht an seiner Seite
durch Felder und Wiesen auf eine hügelige Gegend zu. Hinter dieser befindet
sich eine weite Mulde, die eine Ausdehnung von einigen Hektar hat und deren
Felder sehr gepflegt sind. In der Mitte sehe ich ein schönes, breites,
niedriges Haus, das von gut gepflegten Gärten umgeben ist.
«Das ist das Haus, Herr», sagt
der Junge. «Wenn du mich nicht mehr brauchst, kehre ich nach Hause zurück, um
meiner Mutter zu helfen.»
«Geh und sei stets ein guter
Sohn. Gott sei mit dir!»
Jesus begibt sich zum Eingang des
prunkvollen Landhauses des Ismael. Zahlreiche Diener eilen dem Gast entgegen,
der gewiß schon erwartet wird. Andere benachrichtigen den Hausherrn, der aus
dem Haus kommt und während er Jesus entgegengeht tiefe Verneigungen macht.
«Sei willkommen in meinem Hause,
Meister!»
«Der Friede sei mit dir, Ismael
Ben Fabi! Du hast nach mir verlangt, und ich komme. Warum wolltest du, daß ich
komme?»
«Um die Ehre deiner Anwesenheit
zu haben und dich meinen Freunden vorzustellen. Ich möchte, daß sie auch die
deinen werden. So, wie ich will, daß du mein Freund bist.»
«Ich bin der Freund aller,
Ismael.»
«Das weiß ich, aber bedenke, daß
es immer gut ist, auch in den gehobenen Kreisen Freundschaften zu haben, und
ich und meine Freunde verkehren in dieser Gesellschaftsschicht. Verzeih, wenn
ich es dir sage, aber
110
du vernachlässigst zu sehr
diejenigen, die dich unterstützen können...»
«Und du gehörst zu ihnen? Warum?»
«Ich gehöre zu diesen, weil ich
dich bewundere und möchte, daß du mein Freund bist.»
«Freund! Aber weißt du, Ismael,
welche Bedeutung ich diesem Wort beimesse? Für viele bedeutet es einen
Bekannten, für andere einen Helfershelfer, wieder für andere einen Diener. Für
mich ist es der, der dem Wort des Vaters treu ist. Wer das nicht ist, kann mir
nicht Freund sein, und ich kann nicht sein Freund sein.»
«Aber gerade deswegen, weil ich
treu sein will, möchte ich deine Freundschaft. Glaubst du es mir nicht? Schau,
da kommt Eleazar. Frage ihn, wie ich dich bei den Ältesten verteidigt habe.
Eleazar, ich grüße dich. Komm, der Rabbi will dich etwas fragen.»
Großartige Begrüßung und
forschende Blicke.
«Sag du, Eleazar, was ich bei
unserer letzten Versammlung über den Meister gesagt habe.»
«Oh! Es war ein wirkliches Lob!
Eine leidenschaftliche Verteidigung! Ismael hat von dir, Meister, als vom
größten Propheten gesprochen, den Israel je gehabt hat, und er hat dies so gut
ausgelegt, daß ich damals Lust bekam, dich zu hören. Ich erinnere mich, wie er
beteuerte, daß niemand tiefsinnigere Worte und ein faszinierenderes Auftreten
habe als du, und daß Israel, wenn du das Schwert so zu handhaben verstehst wie
das Wort, nie einen größeren König haben würde als dich.»
«Mein Reich! ... Mein Reich ist
nicht von dieser Welt, Eleazar.»
«Aber der König von Israel?!»
«Möge sich euer Geist
erschließen, um den Sinn der geheimnisvollen Worte zu verstehen. Es wird das
Reich des Königs der Könige kommen, aber nicht nach menschlichen Begriffen,
weil es nicht vergänglich, sondern ewig ist. Zu ihm kann man nicht auf den
geschmückten Straßen des Triumphes, noch auf dem roten Teppich feindlichen
Blutes gelangen, sondern auf dem steilen Weg des Opfers und der sanften Leiter
der Verzeihung und Liebe. Die Siege über uns selbst werden uns dieses Reich
bescheren. Gebe Gott, daß die meisten Menschen Israels mich verstehen. Doch
wird es nicht so sein. Ihr denkt an das, was nicht ist. In meiner Hand wird
ein königliches, ewiges Zepter sein, und das Volk Israels wird es hineingelegt
haben. Kein König wird es aus meinem Haus entwenden und viele in Israel werden
es nicht sehen können, ohne vor Schrecken zu erzittern, weil es einen Namen
hat, vor dem sie sich fürchten.»
«Glaubst du, daß wir dir nicht
folgen könnten?»
«Wenn ihr wolltet, könntet ihr
es, aber ihr wollt nicht, und weshalb? Ihr seid schon alt, und das Alter
sollte euch verständig und gerecht werden lassen. Gerecht auch euch selbst
gegenüber. Junge Menschen können sich irren und es dann bereuen. Aber ihr! Der
Tod ist den Alten immer
111
nahe. Eleazar, du bist nicht so
sehr von den Theorien vieler deinesgleichen umgarnt. Öffne deinen Geist dem
Licht...»
Ismael kommt jetzt mit fünf
prunkvoll aufgemachten Pharisäern zurück. «Kommt nun ins Haus», sagt der Herr
des Hauses. Durch eine Vorhalle, die reich mit Sitzen und Teppichen
ausgestattet ist, gelangen sie in einen Raum, in den Krüge und Schüsseln für
die Waschungen gebracht werden. Dann kommen sie in den Speisesaal, der für ein
reichhaltiges Gastmahl vorbereitet ist.
«Jesus möge an meiner Seite,
zwischen mir und Eleazar, Platz nehmen», ordnet der Hausherr an.
Jesus, der sich inzwischen hinten
im Saal bei den etwas eingeschüchterten und vernachlässigten Jüngern
aufgehalten hat, muß nun seinen Ehrenplatz einnehmen.
Das Gastmahl nimmt seinen Anfang
mit zahlreichen Fleischgerichten und verschiedenen gebratenen Fischen. Weine,
und wie mir scheint, Sirupe oder zumindest Honigwasser werden immer wieder
gereicht.
Alle versuchen, Jesus zum Reden
zu bringen. Einer, ein ganz zittriger Greis, fragt mit der kreischenden Stimme
eines Altersschwachen: «Meister, ist es wahr, daß du, wie man sagt, die
Absicht hast, das Gesetz zu ändern?»
«Ich werde kein Jota am Gesetz
ändern. Im Gegenteil (und Jesus betont diese Worte ausdrücklich), ich bin
eigens gekommen, um es euch wieder in der vollständigen Form zu geben, so wie
es war, als ihr es von Moses erhalten habt.»
«Willst du damit sagen, daß es
abgeändert wurde?»
«Nein, nie. Einzig, daß es das
Geschick aller erhabenen Dinge, die in Menschenhand gelegt wurden, erlitten
hat.»
«Was willst du damit sagen?
Erläutere dies genauer.»
«Ich will sagen, daß der Mensch
durch seinen althergebrachten Hochmut und seine überkommene Tendenz zur
dreifachen Neigung zur Sünde die Geradheit des Wortes nachträglich verbessern
wollte, und daraus etwas gemacht hat, was die Gläubigen bedrückt, während es
für die Verbesserer nur eine Ansammlung abgedroschener Worte ist... welche man
den anderen überläßt.»
«Aber Meister! Unsere Rabbis...»
«Das ist eine Beschuldigung!»
«Enttäusche uns nicht in unserem
Begehren, dir zu nützen! ...»
«He, he, sie haben recht, dich
einen Rebellen zu nennen!»
«Ruhe! Jesus ist mein Gast! Dir
steht es frei zu sprechen.»
«Bereits zu Beginn ihrer Arbeit
bemühten sich unsere Rabbis, und zwar in heiliger Absicht, das Gesetz
verständlicher zu gestalten, um seine Befolgung zu erleichtern. Gott selbst
begann damit, als er den Worten der Zehn Gebote sehr genaue Erläuterungen
hinzufügte, damit der Mensch
112
keinen Vorwand habe, und nicht
sage, er habe sie nicht verstanden. Es ist daher ein heilsames Werk, wenn
unsere Lehrer das von Gott dem Geiste gegebene Brot für die Kleinen in
Stücklein brechen, ein heilsames Werk, solange es in aufrichtiger Absicht
geschieht. Doch geschah dies nicht immer so, und heute weniger denn je. Aber
weshalb wollt ihr mich zum Sprechen ermuntern, da ihr doch gekränkt seid, wenn
ich euch die Sünden der Mächtigen aufzähle?»
«Sünden! Sünden! Haben wir denn
nichts als Sünden?»
«Ich wollte, ihr hättet nur
Verdienste.»
«Aber wir haben keine. Das denkst
du doch, denn dein Auge verrät es. Jesus, nicht durch Tadel gewinnt man die
Mächtigen zum Freund, und so wirst du auch nicht herrschen, da du diese Kunst
nicht kennst.»
«Ich verlange nicht zu herrschen,
wie ihr vermutet, und erbettle keine Freundschaften. Ich will Liebe, aber
ehrliche und heilige Liebe. Eine Liebe, die von mir auf jene überströmt, die
ich liebe, und die sich dadurch kundtut, daß man den Armen erweist, was ich
predige: Barmherzigkeit!»
«Seit ich dich gehört habe, habe
ich nicht mehr Wucher getrieben», sagt einer.
«Gott wird es dir vergelten.»
«Der Herr ist mein Zeuge, daß ich
keinen Diener, der Peitschenhiebe verdient hätte, mehr geschlagen habe, seit
mir eines deiner Gleichnisse erzählt wurde», sagt ein anderer.
«Und ich? Mehr als zehn Scheffel
Weizen habe ich auf den Feldern für die Armen zurückgelassen», wendet ein
anderer ein.
Die Pharisäer loben sich selbst
auf wunderbare Weise.
Ismael hat nichts gesagt, da
fragt ihn Jesus: «Und du, Ismael?»
«Oh, ich! Schon immer habe ich
Barmherzigkeit geübt, und brauche nur weiterhin so zu handeln, wie ich es
bisher getan habe.»
«Gut für dich! Wenn dem so ist,
bist du ein Mensch, der keine Gewissensbisse kennt.»
«Oh, wirklich nicht!»
Jesus durchbohrt ihn mit seinen
saphirblauen Augen. Eleazar berührt ihn am Arm: «Meister, höre mich an. Ich
muß dir einen besonderen Fall vortragen. Letzthin habe ich ein Eigentum
erworben von einem Unglücklichen, der sich wegen einer Frau ruiniert hat. Er
hat mir sein Haus verkauft, ohne mich darauf hinzuweisen, daß auf dem Gut eine
alte, blinde und halb taube Dienerin war, seine Amme. Der Verkäufer will sie
nicht. Ich... will sie auch nicht. Aber sie auf die Straße werfen... Was
würdest du tun, Meister?»
«Was würdest du sagen, wenn du
einem anderen einen Rat geben müßtest ?»
«Ich würde sagen: "Behalte sie.
Wegen des Brotes, das du ihr gibst, wirst du nicht zugrunde gehen."»
113
«Und weshalb würdest du das
sagen?»
«Nun... weil ich denke, daß ich
so handeln würde, und wollte, daß auch mir so geschähe ...»
«Du bist sehr nahe an der
Gerechtigkeit, Eleazar. Tue, wie du den anderen raten würdest, zu tun, und der
Gott Jakobs wird immer mit dir sein.»
«Danke, Meister.»
Die anderen murren untereinander.
«Was habt ihr zu murren?» fragt
Jesus. «Habe ich nicht richtig geantwortet? Hat Eleazar nicht gerecht
gesprochen? Ismael, verteidige nun deine Gäste, du, der du immer barmherzig
gewesen bist.»
«Meister, du sprichst gut,
aber... wenn man immer so handeln würde, würde man zum Opfer der anderen.»
«Deiner Meinung nach wäre es
besser, wenn die anderen unsere Opfer wären, nicht wahr?»
«Das sage ich nicht. Aber es gibt
Fälle...»
«Das Gesetz sagt, man soll
Barmherzigkeit üben...»
«Ja, am armen Bruder, am
Fremdling, am Pilger, an Witwen und Waisen. Aber diese Alte, die Eleazar in
seinem Haus vorgefunden hat, ist weder seine Schwester, noch eine Pilgerin,
weder eine Fremde, noch eine Waise oder eine Witwe. Nichts ist sie für ihn,
nicht mehr und nicht weniger als ein alter Gebrauchsgegenstand, der ihm nicht
gehört und den der wirkliche Eigentümer in dem verkauften Haus vergessen hat.
Daher könnte Eleazar sie auch ohne irgendwelche Skrupel fortjagen, denn
schließlich wäre nicht er, sondern ihr wirklicher Gebieter an ihrem Tode
schuld...»
«... der sie nicht ernähren
könnte, weil er jetzt verarmt ist und daher auch keine Verpflichtungen mehr
hat. Wenn die Alte vor Hunger sterben würde, dann wäre es ihre eigene Schuld.
Ist es nicht so?»
«So ist es, Meister. Das ist das
Los derer, die... zu nichts mehr nütze sind. Kranke, Alte und
Arbeitsuntaugliche sind zum Elend, zum Betteln verurteilt, und der Tod wäre
das Beste für sie... So ist es, seit die Welt besteht, und so wird es immer
sein!»
«Jesus, erbarme dich meiner!» Ein
Jammern dringt durch die versperrten Fenster; denn der Raum ist vielleicht
wegen der Kälte geschlossen und die Leuchter sind angezündet worden.
«Wer ruft mich?»
«Irgendein Störenfried, ich werde
ihn wegjagen lassen. Oder, es könnte auch ein Bettler sein. Dann werde ich ihm
ein Brot geben lassen.»
«Jesus, ich bin krank. Rette
mich!»
«Ich habe es ja gesagt, daß es
irgendein lästiger Mensch ist. Nun werde ich die Diener bestrafen, weil sie
ihn durchgelassen haben», murrt Ismael und steht auf.
Aber Jesus, der wenigstens
zwanzig Jahre jünger und um einen Kopf
114
größer ist als er, legt ihm seine
Hand auf die Schulter, zwingt ihn, sich niederzusetzen, und gebietet: «Bleib,
Ismael. Ich will den, der mich sucht, sehen. Laßt ihn eintreten.»
Es kommt ein Mann mit noch ganz
schwarzem Haar herein. Er mag ungefähr vierzig Jahre alt sein, ist aufgebläht
und rund wie ein Faß. Seine Haut ist gelb wie eine Zitrone, und seine Lippen
violett. Mit halbgeöffnetem Mund steht er keuchend da. Er ist in Begleitung
der Frau, über die im ersten Teil der Vision berichtet wird.
Der Mann kommt wegen seiner
Krankheit und der Angst, die ihn gepackt hat, nur mühsam voran. Er sieht, daß
man ihn so böse anschaut. Aber Jesus hat seinen Platz verlassen, ist dem
Unglücklichen entgegengegangen, um ihn bei der Hand zu nehmen und ihn in die
Mitte des Saales, in den freien Raum zwischen den Tischen, die U-förmig
aufgestellt sind, zu führen. Genau unter dem Leuchter stehen sie nun.
«Was möchtest du von mir?»
«Meister... ich habe dich so
sehnlichst gesucht... schon so lange... Ich will nichts anderes als die
Gesundheit... meiner Frau und der Kinder wegen... Du kannst alles... Siehst
du, wie ich zugerichtet bin? ...»
«Und du glaubst, daß ich dich
heilen kann?»
«Ob ich es glaube! ... Jeder
Schritt ist für mich ein Schmerz, jede Erschütterung bereitet mir Pein... und
dennoch habe ich Meilen zurückgelegt, um dich zu suchen... Dann bin ich auch
mit dem Wagen hinter dir hergefahren... aber ich habe dich nicht erreichen
können... Und wie ich es glaube! ... Es wundert mich, daß ich noch nicht
geheilt bin, da meine Hand in der deinen liegt, denn alles ist heilig an dir,
du Heiliger Gottes!»
Der Arme schnauft wie ein
Blasebalg infolge der Anstrengung, die ihn diese vielen Worte kosten. Die Frau
betrachtet ihren Mann und dann Jesus und weint.
Jesus schaut beide an und
lächelt. Dann wendet er sich um und fragt: «Du, alter Schriftgelehrter (es
betrifft den zittrigen Alten, der zuerst gesprochen hat), antworte mir: Ist es
erlaubt, am Sabbat zu heilen?»
«Am Sabbat ist es nicht erlaubt,
Werke zu vollbringen, was immer es auch sei.»
«Nicht einmal, jemanden vor der
Verzweiflung zu retten? Das ist doch keine Handarbeit.»
«Der Sabbat ist dem Herrn
heilig.»
«Welches Werk ist des Tages, der
dem Herrn heilig ist, würdiger als jenes, welches bewirkt, daß ein Kind Gottes
zum Vater sagt: "Ich liebe dich und preise dich, weil du mich geheilt hast"?!»
«Er muß es tun, auch wenn er
unglücklich ist.»
«Chananias, weißt du, daß in
diesem Augenblick dein schönster Wald in Flammen steht, und der ganze Hang des
Hermon im Purpur der Flammen leuchtet?»
115
Der Alte springt auf, als hätte
ihn eine Viper gebissen: «Meister, sagst du die Wahrheit oder machst du einen
Scherz?»
«Ich sage die Wahrheit. Ich sehe
und weiß.»
«Oh, ich Armer! Mein schönster
Wald! Tausende von Hektaren in Asche! Verflucht! Verflucht die Hunde, die mir
das Feuer gelegt haben! Sie sollen in ihren Eingeweiden brennen wie meine
Bäume.» Der Alte ist verzweifelt.
«Es ist nur ein Wald, Chananias,
und du beklagst dich! Warum lobst du nicht den Herrn in diesem Unglück? Dieser
hier verliert nicht Bäume, die wieder wachsen, sondern das Leben und das Brot
für die Kinder, und er sollte Gott loben, während du es nicht tust? Nun,
Schriftgelehrter, ist es mir also nicht erlaubt, diesen hier am Sabbat zu
heilen?»
«Seid verflucht, du, er und der
Sabbat! Ich habe an anderes zu denken...» Nachdem er Jesus, der ihm seine Hand
auf den Arm gelegt hatte, einen Stoß versetzt hat, rennt er wütend hinaus, und
man hört, wie er mit seiner heiseren Stimme schreit, damit man ihm seinen
Wagen bringt.
«Und nun?» fragt Jesus, indem er
zu den anderen hinschaut. «Sagt ihr mir nun, ob es erlaubt ist oder nicht?»
Keine Antwort. Eleazar erschauert
in der Kälte, die in den Saal eingedrungen ist, und neigt das Haupt, nachdem
er den Mund halb geöffnet und sogleich wieder geschlossen hat.
«Nun gut, dann werde ich
sprechen», sagt Jesus, und in würdevoller Haltung und mit klarer Stimme, wie
immer, wenn er ein Wunder wirkt, sagt er: «Ich werde sprechen. Ich spreche und
sage dir: Mensch, es geschehe dir nach deinem Glauben, sei geheilt. Lobe den
Ewigen, und gehe hin in Frieden!»
Der Mann bleibt wie gebannt
stehen. Vielleicht glaubte er, auf einen Schlag wieder schlank zu werden wie
früher, und es scheint ihm, daß er noch nicht geheilt ist. Aber wer weiß, was
er fühlt... Er schreit vor Freude auf, wirft sich Jesus zu Füßen und küßt sie.
«Geh nun und sei immer gut! Lebe
wohl!»
Der Mann geht hinaus, gefolgt von
seiner Frau, die sich bis zuletzt immer wieder umdreht, um Jesus zu grüßen.
«Aber Meister... in meinem
Hause... am Sabbat...»
«Ich weiß, daß du es nicht
gutheißen kannst, und deswegen bin ich gekommen. Du willst mein Freund sein?
Nein, du bist mein Feind, denn du bist weder mir, noch Gott gegenüber
aufrichtig.»
«Willst du mich jetzt
beleidigen?»
«Nein, ich sage die Wahrheit. Du
hast gesagt, daß Eleazar nicht verpflichtet ist, jener Greisin zu Hilfe zu
kommen, weil sie nicht ihm gehört. Aber du hattest zwei Waisenkinder auf
deinem Gut, Kinder von zwei treuen Dienern, die in deinem Dienst bei der
Arbeit gestorben sind: der eine mit der Sichel in der Hand, die andere wegen
Überanstrengung, weil du zu
116
große Anforderungen an sie
gestellt hast, denn sie mußte ja auch die Arbeit ihres Gatten bewältigen. Du
hast ihr gesagt: "Ich habe einen Vertrag mit zwei Personen abgeschlossen, und
wenn du weiterhin in meinen Diensten bleiben willst, mußt du auch die Arbeit
deines verstorbenen Mannes verrichten." Sie hat sie getan und ist mit dem
bereits empfangenen Kind gestorben, denn sie war schwanger. Nicht einmal das
Erbarmen hast du ihr erzeigt, das man für ein gebärendes Tier hat. Wo bleiben
jetzt die beiden Kinder?»
«Ich weiß es nicht... Sie sind
eines Tages verschwunden.»
«Lüge jetzt nicht, es genügt
schon, daß du grausam gewesen bist. Es ist nicht nötig, auch noch Lügen
hinzuzufügen, um deinen Sabbat Gott verhaßt zu machen, auch wenn du
knechtliche Arbeiten vermeidest. Wo sind diese Kinder?»
«Ich weiß es nicht. Ich weiß es
nicht mehr, glaube mir!»
«Aber ich weiß es, denn ich habe
sie an einem kalten, regnerischen, finsteren Novemberabend gefunden. Hungernd
und frierend waren sie vor einem Hause, wie zwei Hündlein auf der Suche nach
einem Bissen Brot... verflucht und verjagt von jemandem, der das Herz eines
Hundes hat, ja, weniger Gefühl als ein richtiger Hund, denn ein Hund hätte
Erbarmen gezeigt mit diesen beiden Waisenkindern. Du und jener Mann aber, ihr
habt euch ihrer nicht erbarmt. Ihre Eltern nützten dir nichts mehr, nicht
wahr? Sie waren tot. Die Toten weinen alleine in ihren Gräbern, weil sie das
Schluchzen ihrer unglücklichen, verwahrlosten Kinder hören, um die sich
niemand kümmert. Die Toten jedoch tragen ihre Tränen und die Tränen ihrer
Waisen in ihrem Geist zu Gott und bitten: "Herr, räche du dich an unserer
Stelle, denn die Welt unterdrückt die, die man nicht mehr ausnützen kann." Die
Kinder waren dir zu nichts nütze, nicht wahr? Ja und nein, denn das Mädchen
hätte dir dazu dienen können, Ähren zu sammeln... Aber du hast sie verjagt und
ihnen auch das Wenige versagt, was Vater und Mutter gehörte. Sie hätten vor
Hunger und Kälte wie zwei Hunde auf einem Feldweg sterben können. Sie hätten
sich durchschlagen können, wenn der Junge ein Dieb und das Mädchen eine Hure
geworden wäre, denn der Hunger treibt zur Sünde. Aber was kümmert dich das
schon!
Vorhin hast du das Gesetz, auf
deine eigenen Theorien gestützt, zitiert, und sagt das Gesetz etwa nicht:
"Fügt Witwen und Waisen keinen Schaden zu, denn wenn ihr ihnen dieses Leid
antut, werden sie ihre Stimmen zu mir erheben, und ich werde ihr Rufen
erhören. Mein Zorn wird aufflammen, und ich werde euch durch das Schwert
ausrotten, und eure Frauen werden zu Witwen und eure Kinder zu Waisen werden?"
Steht es im Gesetz nicht so? Und warum beachtest du es dann nicht? Du willst
mich anderen gegenüber verteidigen? Warum verteidigst du dann meine Lehre
nicht, wenn sie dich selbst betrifft? Du möchtest ein Freund von mir sein?
Warum tust du dann das Gegenteil von dem, was ich sage?
117
Einer von euch läuft atemlos
davon und rauft sich die Haare, weil das Feuer einen seiner Wälder vernichtet.
Aber um der Ruinen seines Herzens willen rauft er sich nicht die Haare. Und
du, auf was wartest du um es zu tun? Warum glaubt ihr immer, vollkommen zu
sein, nur weil das Schicksal euch einen hohen gesellschaftlichen Rang
zugeteilt hat? Selbst wenn ihr in einigen Dingen höher gestellt wäret, warum
sucht ihr dann nicht, es in allem zu sein? Warum haßt ihr mich, weil ich eure
Fehler aufdecke? Ich bin der Arzt eurer Seelen, und wie kann denn ein Arzt
heilen, wenn er ,nicht die Wunden aufdeckt und sie reinigt? Wißt ihr nicht,
daß viele, und auch jene Frau, die soeben fortgegangen ist, die ersten Plätze
beim Gastmahl Gottes verdienen, obwohl sie ihrem Äußeren nach gering
erscheinen? Nicht auf das Äußere kommt es an, sondern im Herzen und in der
Seele ist der Wert eines Menschen. Gott sieht euch und richtet euch von der
Höhe seines Thrones. Wie viele sieht er, die besser sind als ihr! Daher hört
mir zu!
Dies soll eure Verhaltensregel
sein: Wenn man euch zu einem Hochzeitsmahl einlädt, wählt immer den letzten
Platz. Doppelte Ehre wird euch zuteil, wenn der Hausherr euch auffordert:
"Freund, komm nach vorn." Ehre des Verdienstes und Ehre der Demut. Welch
traurige Stunde ist es jedoch für den Hochmütigen, wenn er beschämt wird und
hören muß, wie man ihn zurechtweist: "Geh dort nach hinten, denn hier ist
einer, der höher steht als du." Handelt ebenso beim geheimnisvollen Gastmahl
eures Geistes, beim Hochzeitsmahl mit Gott. Wer sich erniedrigt, wird erhöht
werden, und wer sich erhöht, wird erniedrigt werden.
Ismael, hasse mich nicht, weil
ich dich heilen will. Ich hasse dich nicht und bin gekommen, um dich zu
heilen. Du bist kränker als jener Mann, denn du hast mich eingeladen um deines
eigenen Ruhmes willen und um deine Freude zufriedenzustellen. Oft gibst du
Einladungen, aber aus Hochmut und zum Vergnügen. Tue das nicht! Lade nicht
Reiche, Verwandte und Freunde ein, sondern öffne dein Haus, öffne dein Herz
den Armen, den Bettlern, den Krüppeln, den Lahmen, den Waisen und Witwen. Sie
werden dir nur Segen bringen als Entgelt, doch Gott wird ihn in Gnaden für
dich umwandeln. Dann, am Ende... Oh, welch glückliches Los erwartet alle
Barmherzigen, die einst bei der Auferstehung der Toten von Gott belohnt
werden!
Wehe denen, die nur der Hoffnung
auf Nutzen schmeicheln und ihr Herz dem Bruder verschließen, der ihnen nicht
mehr dienen kann. Wehe ihnen! Ich werde mich anstelle der Verlassenen rächen.»
«Meister... ich... ich möchte
dich zufriedenstellen und die Kinder wieder zu mir nehmen.»
«Nein.»
«Warum?»
«Ismael?! ...»
118
Ismael will den Demütigen spielen
und läßt den Kopf sinken. Aber er ist eine Viper, der das Gift ausgedrückt
worden ist und die nicht beißt, weil sie kein Gift mehr hat, aber nur darauf
wartet, beißen zu können.
Eleazar bemüht sich, den Frieden
wieder herzustellen indem er sagt: «Selig jene, die in ihrem Geist am Gastmahl
Gottes im ewigen Reich teilnehmen. Doch glaube mir, Meister, manchmal ist es
das Leben, das uns daran hindert... unsere Verpflichtungen... die
Beschäftigungen...»
Jesus erzählt nun das Gleichnis
vom Gastmahl und schließt mit den Worten: «Die Verpflichtungen... die
Beschäftigungen, hast du gesagt. Es ist wahr. Aber deswegen habe ich dir zu
Beginn dieses Gastmahles gesagt, daß man mein Reich mit den Siegen über sich
selbst und nicht mit Waffen auf dem Schlachtfeld erobert. Die Plätze beim
großen Gastmahl sind für die, die demütigen Herzens sind, die groß zu sein
wissen durch ihre treue Liebe, kein Opfer scheuen und alles überwinden, um zu
mir zu gelangen. Eine einzige Stunde kann genügen, um ein Herz zu verwandeln,
wenn dieses Herz willens ist. Ein Wort kann genügen, und ich habe euch viele
gesagt, und beobachte euch... In einem Herzen sehe ich eine heilige Pflanze
sprießen, in einem anderen Bedrängnisse für mich, und in den Bedrängnissen
Vipern und Skorpione. Es macht nichts. Ich gehe meinen geraden Weg, und wer
mich liebt, der folge mir nach. Ich gehe rufend durch die Welt. Die nach der
Wahrheit suchen, mögen zur Quelle kommen, und die anderen wird der himmlische
Vater richten.
Ismael, ich grüße dich. Hasse
mich nicht. Denke über meine Worte nach und erkenne, daß ich aus Liebe und
nicht aus Haß streng war. Der Friede sei mit diesem Hause und seinen
Bewohnern. Der Friede sei mit all denen unter euch, die Frieden verdienen.»
381. JESUS MIT SEINEN VETTERN UND
MIT PETRUS UND THOMAS IN NAZARETH
Jesus und die Seinen befinden
sich wieder auf der Straße, die von der Ebene Esdrelon nach Nazareth führt.
Sie müssen irgendwo übernachtet haben, denn es ist wieder Morgen. Eine
Zeitlang legen sie ihren Weg schweigend zurück. Jesus geht zuerst allein
voran, dann ruft er Petrus und Simon zu sich, und schließlich erreichen sie in
einer geschlossenen Gruppe eine Abzweigung, die nach Nordosten führt. Die
Berge sind nun auf beiden Seiten nahe.
Jesus gebietet denen, die gerade
sprechen, zu schweigen und sagt: «Jetzt trennen wir uns. Ich gehe mit den
Brüdern und mit Petrus und Thomas nach Nazareth, und ihr werdet unter der
Führung von Simon dem Zeloten auf dem Weg zum Tabor und der Karawanen nach
Debaret,
119
Tiberias, Magdala und Kapharnaum
gehen. Von dort begebt ihr euch dann nach Meron und haltet bei Jakob an, um zu
sehen, ob er sich bekehrt hat, und bringt Judas und Anna meinen Segen. Wohnt
dort, wo man am meisten darauf besteht, euch zu beherbergen, und bleibt
jeweils nur eine Nacht an jedem Ort, denn am Abend des Sabbats wollen wir uns
auf der Straße nach Sefed wieder treffen. Ich werde den Sabbat in Chorazim, im
Hause der Witwe, feiern. Geht dort vorbei und verständigt sie. So wird auch
Judas seinen Seelenfrieden wieder erlangen, wenn er sich davon überzeugen
kann, daß Johannes sich auch an diesen gastlichen Orten nicht aufhält...»
«Meister! Aber ich glaube ...»
«Es ist doch gut, wenn du dich
selbst vergewisserst, um nicht vor Kaiphas und Annas erröten zu müssen, wie
auch ich weder vor dir noch vor einem anderen Menschen erröte, wenn ich
behaupte, daß Johannes nicht mehr bei uns ist. Thomas nehme ich mit nach
Nazareth. So kann er auch bezüglich dieses Ortes beruhigt sein, wenn er sich
dort mit eigenen Augen davon überzeugen kann ...»
«Aber ich, Meister! Was kümmert
mich das? Es tut mir sogar leid, daß dieser Mann nicht mehr bei uns ist. Was
gewesen ist, ist gewesen. Aber seit wir ihn kennen, ist er stets besser
gewesen als viele berühmte Pharisäer. Mir genügt es zu wissen, daß er dich
nicht verleugnet und dir kein Leid zugefügt hat, und dann... kann er von mir
aus noch auf Erden oder bereits im Schoß Abrahams sein, das ist ja nicht
wichtig für mich. Glaube es mir. Selbst wenn er in meinem Hause wäre... würde
ich keinen Abscheu empfinden. Ich hoffe, daß du jetzt nicht denkst, daß dein
Thomas in seinem Herzen mehr als nur eine natürliche Neugierde verspürt, und
nicht etwa Widerwillen oder den Anreiz zu mehr oder weniger berechtigten
Nachforschungen, oder die Neigung, freiwillig, unfreiwillig oder mit Erlaubnis
herumzuspüren, oder auch den Wunsch, zu schaden...»
«Du beleidigst mich! Du machst
Anspielungen auf mich! Du lügst! Du hast doch gesehen, daß mein Benehmen in
dieser Zeit stets gut war. Warum sagst du dann dies alles? Was kannst du über
mich sagen? Sprich!» Judas ist giftig und wütend.
«Ruhe! Thomas, antwortet nur mir
allein auf meine Fragen, und ich glaube den Worten von Thomas; aber ich will
es so, und so soll es sein, und keinem von euch steht das Recht zu, mir meine
Handlungsweise vorzuwerfen.»
«Ich werfe dir nichts vor... Ich
habe mich von der Anspielung betroffen gefühlt und...»
«Ihr seid zwölf. Warum hat das,
was ich zu euch allen gesagt habe gerade nur dich getroffen?» fragt Thomas.
«Weil ich es war, der Johannes
überall gesucht hat.»
Jesus sagt: «Auch andere deiner
Gefährten haben ihn gesucht, und
120
wieder andere Jünger werden es
noch tun, und deshalb wird sich niemand von den Worten des Thomas betroffen
fühlen. Es ist keine Sünde, wenn man sich in ehrlicher Gesinnung nach einem
Mitjünger erkundigt. Es ist auch nichts Beleidigendes in den ausgesprochenen
Worten, wenn in uns nur Liebe und Redlichkeit ist, wenn nichts unser Herz
quält und überempfindlich macht, weil es schon von Gewissensbissen verwundet
ist. Warum willst du in Gegenwart deiner Gefährten diese Einwände vorbringen?
Möchtest du der Sünde verdächtigt werden? Zorn und Hochmut sind zwei schlechte
Begleiter, Judas. Sie lassen den Menschen in einen Wahn verfallen, und ein dem
Wahn Verfallener sieht, was nicht ist, und sagt, was er nicht sagen sollte...
so wie Habsucht und Begierde zu schlechten Handlungen antreiben, bis zu ihrer
Befriedigung... Befreie dich von diesen niederträchtigen Eigenschaften... und
wisse, daß während der vielen Tage deiner Abwesenheit stets gute Eintracht
unter uns geherrscht hat, und daß mir deine Gefährten immer gehorcht und sich
gegenseitig geachtet haben. Wir haben uns geliebt, verstehst du? ... Lebt
wohl, geliebte Freunde. Geht und liebt! Versteht ihr? Liebet einander, ertragt
euch, sprecht wenig und tut Gutes. Der Friede sei mit euch!»
Er segnet sie, und während sie
nach rechts abbiegen, setzt Jesus seinen Weg zusammen mit den Vettern und
Petrus und Thomas in tiefem Schweigen fort.
Dann ruft Petrus laut: «Bah!»,
was den Schlußpunkt einer wer weiß wie langen Überlegung setzen soll. Die
anderen schauen ihn an...
Jesus ist gleich bereit, weitere
Fragen zu verhindern, indem er sagt: «Seid ihr beide zufrieden, mit mir nach
Nazareth zu kommen?» und legt seine Arme um die Schultern von Petrus und
Thomas.
«Das fragst du uns noch?»
antwortet Petrus in seiner Überschwenglichkeit.
Thomas, nun etwas ruhiger, und
mit seinem rundlichen Gesicht, das vor Freude strahlt, fügt an: «Weißt du
nicht, daß für mich die Nähe deiner Mutter so süß und wohltuend ist, daß sich
dies nicht in Worten ausdrücken läßt? Maria ist meine Liebe. Ich bin nicht
jungfräulich, und ich war auch nicht dagegen, eine Familie zu gründen und
hatte schon einige Mädchen in die engere Wahl gezogen. Doch war ich noch nicht
sicher, welche von ihnen ich zur Frau nehmen wollte. Aber jetzt! Jetzt! Ach!
Meine Liebe ist Maria! Eine für die Sinne nicht zu erfassende Liebe! Die
Sinnlichkeit erlischt schon allein beim Gedanken an sie, der Seele
seligmachende Liebe! Ach! Alles, was ich an den Frauen gesehen habe, auch bei
den liebsten, wie meine Mutter und meine Zwillingsschwester, alles, was ich
Gutes an ihnen bemerke, vergleiche ich mit dem, was ich in deiner Mutter
erkenne, und sage mir dann: In ihr ist alle Gerechtigkeit, alle Gnade und
Schönheit vereint. Ein paradiesisches Blumenbeet ist ihr lieblicher Geist...
ein Gedicht ihr Antlitz... Oh, daß wir in Israel, die wir nicht
121
einmal an die Engel zu denken
wagen und wo die Cherubim des Allerheiligsten mit ehrfurchtsvollem Zittern
betrachtet werden... Wie töricht sind wir doch, daß wir bei ihrem Anblick
nicht zehnmal mehr in Ehrfurcht erzittern! ... da sie doch, und ich bin dessen
sicher, in den Augen Gottes alle Schönheit der Engel übertrifft...»
Jesus blickt auf den von der
Liebe zu seiner Mutter Überwältigten, der sich gleichsam zu vergeistigen
scheint, so sehr verwandeln seine Gefühle für Maria den gutmütigen Ausdruck
seines Gesichtes. «Nun gut, einige Stunden werden wir mit ihr zusammen sein,
denn wir werden uns bis übermorgen in Nazareth aufhalten. Dann gehen wir nach
Tiberias, um die beiden Kinder aufzusuchen, und nehmen ein Boot nach
Kapharnaum.»
«Und Bethsaida?» fragt Petrus.
«Auf dem Rückweg, Simon, gehen
wir dorthin und holen Margziam für die österliche Pilgerfahrt ab.»
Am Abend desselben Tages sind sie
in Nazareth, in dem stillen Häuschen, und Petrus und Thomas schlafen schon.
Mutter und Sohn halten eine liebevolle Zwiesprache.
«Alles ist gut gegangen, meine
Mutter, und nun sind sie ruhig. Deine Gebete haben den Pilgern geholfen und
heilen nun ihre Schmerzen, wie Tau auf dürstenden Blumen.»
«Deinen Schmerz möchte ich
heilen, mein Sohn! Wieviel mußt du gelitten haben! Schau! Die Schläfen und
auch die Wangen fallen ein, und eine Falte durchfurcht deine Stirne wie das
Zeichen eines Schwertes. Wer hat dich so verwundet, mein Herz?»
«Der Schmerz! Schmerz zufügen zu
müssen, Mutter!»
«Das allein, mein Jesus? Haben
deine Jünger dir kein Leid verursacht?»
«Nein, Mutter. Sie sind so gütig
wie Heilige gewesen.»
«Die, die bei dir waren... Aber
ich meine alle ...»
«Du siehst, ich habe Thomas
mitgebracht, um ihn zu belohnen, und ich hätte auch gerne jene hergebracht,
die letztesmal nicht hier waren. Aber ich mußte sie anderswohin entsenden ...»
«Und Judas von Kerioth?»
«Judas ist bei ihnen.»
Maria umarmt ihren Sohn, legt ihr
Haupt an seine Schulter und weint.
«Warum weinst du, Mutter?» fragt
Jesus und streichelt ihr Haar.
Maria schweigt und weint. Erst
als Jesus zum drittenmal fragt, flüstert sie: «Aus Angst... Ich möchte immer,
daß er dich verläßt... Ich tue unrecht, nicht wahr, wenn ich dies wünsche?
Aber so stark, so stark ist meine Angst vor ihm, deinetwegen ...»
«Nur wenn er den Tod finden
würde, würden sich die Dinge ändern. Aber weshalb sollte er sterben?»
122
«Ich hege keine so bösen
Wünsche... denn auch er hat eine Mutter... und auch er hat eine Seele... Eine
Seele, die immer noch gerettet werden kann. Aber... oh, mein Sohn, wäre wohl
der Tod nicht zu seinem Heil?»
Jesus seufzt und flüstert:
«Vielen würde der Tod zum Heil gereichen ...», dann fügt er mit etwas
erhobener Stimme bei: «Weißt du, wie es der alten Johanna geht? Ihre Felder?
...»
«Ich bin mit Maria des Alphäus
und Salome des Simon nach dem Hagelwetter dort gewesen. Aber ihr Getreide,
wohl weil es mit Verspätung gesät worden ist, war noch nicht aufgegangen, und
so hat es auch keinen Schaden erlitten. Vor drei Tagen ist Maria wieder zu ihr
gegangen, um nachzusehen. Sie sagt, daß ihre Felder Teppichen gleichen, es
sind die schönsten Felder der Umgebung! Rachel geht es gut, und die alte Frau
ist glücklich. Auch Maria des Alphäus ist jetzt glücklich, da Simon ganz zu
dir steht. Morgen wirst du ihn gewiß sehen, denn er kommt jeden Tag. Heute war
er gerade fortgegangen, als du ankamst. Weißt du, niemand hat bemerkt, daß sie
hier gewesen sind, sonst hätten sie im Dorf darüber gesprochen. Aber erzähle
mir von ihrer Reise, wenn du nicht zu müde bist ...»
Jesus erzählt seiner aufmerksamen
Mutter alles, mit Ausnahme der Leiden in der Grotte von Jiphtael.
382. DIE GEKRÜMMTE FRAU VON
CHORAZIM
Jesus befindet sich in der
Synagoge von Chorazim, die sich allmählich mit Menschen füllt. Die Vorsteher
des Ortes müssen darauf gedrängt haben, daß Jesus an diesem Sabbat bei ihnen
lehrt. Ich entnehme dies ihren Erwägungen und den Antworten Jesu.
«Wir sind nicht anmaßender als
die Juden oder die von der Dekapolis», sagen sie, «und dennoch gehst du immer
wieder dorthin.»
«Auch hier habe ich dasselbe
getan, und euch durch Worte, Werke, Schweigen und durch Taten unterrichtet.»
«Aber da wir starrköpfiger sind
als die anderen, ist dies ein Grund mehr, daß du immer wieder kommen mußt...»
«Schon gut, schon gut.»
«Gewiß ist es gut! Wir gestatten
dir gerade deshalb, unsere Synagoge für deine Unterweisung zu benützen, weil
wir es für richtig erachten. Nimm daher unsere Einladung an und sprich.»
Jesus breitet die Arme aus, als
Zeichen zum Schweigen für die Anwesenden. Im Psalmton, langsam und
ausdrucksvoll beginnt er seine Predigt: «"Arauna sprach zu David: 'Mein Herr
und König nehme und opfere, was ihn gut dünkt! Siehe, hier sind die Rinder für
das Brandopfer, und
123
hier alle Dreschschlitten und das
Rindergeschirr als Opferholz! Das alles, mein König, schenkt Arauna dem
König!' Und er fügte hinzu: 'Der Herr, dein Gott, sei dir gut und nehme dein
Gelübde an.' Aber der König antwortete und sagte: 'Nicht so! Um einen
festgesetzten Preis will ich sie von dir erwerben. Ich kann dem Herrn, meinem
Gott, nicht geschenkte Brandopfer darbringen!'"»
Nun senkt Jesus seinen Blick,
denn bis dahin hat er gleichsam mit zur Decke erhobenen Augen gesprochen. Er
schaut den Synagogenvorsteher und die vier Ältesten, die bei ihm sind, scharf
an und fragt: «Habt ihr den Sinn dieser Worte verstanden?» «Sie stehen im
zweiten Buch der Könige geschrieben, dort, wo der heilige König die Tenne des
Arauna kauft ... Aber wir verstehen nicht, weshalb du sie uns zitiert hast.
Hier wütet nicht die Pest, und es gibt keinen Grund, ein Brandopfer
darzubringen; zudem bist du kein König... wir wollen sagen: du bist es noch
nicht.»
«Wahrlich, ihr seid langsam im
Erfassen der Sinnbilder, und euer Glaube ist noch unsicher, denn wenn er
gefestigt wäre, würdet ihr erkennen, daß ich schon König bin, wie ich gesagt
habe, und wenn ihr eine wache gefühlsmäßige Erkenntnis hättet, würdet ihr
einsehen, daß hier eine viel schlimmere Pest wütet, als die, welche David
plagte. Hier herrscht jene des Unglaubens, die euch zugrunde richtet.»
«Nun gut, wenn wir langsam im
Erfassen und ungläubig sind, dann verleihe uns Verstand und Glauben und
erkläre, was du uns damit hast sagen wollen.»
«Ich sage: ich bringe Gott keine
erzwungenen Opfer dar, solche, die aus elendem Eigennutz dargebracht werden.
Ich, der ich gekommen bin, um zu euch zu sprechen, akzeptiere es nicht, daß
ich nur dann sprechen darf, wenn ihr es mir erlaubt. Es ist mein gutes Recht,
und ich bestehe darauf. Sei es nun unter freiem Himmel oder hinter
verschlossenen Türen, auf der Höhe der Berge oder in der Tiefe der Täler, auf
dem Meere oder an den Ufern des Jordan, überall habe ich das Recht und die
Pflicht, zu lehren und durch mein Werk die einzigen Opfer, die Gott
wohlgefällig sind, zu erwerben, nämlich: Durch mein Wort bekehrte und gläubig
gewordene Herzen. Ihr von Chorazim, habt dem Wort wohl zu reden gestattet,
jedoch nicht aus Ehrfurcht und Glauben, sondern weil ihr in eurem Herzen eine
Stimme hört, die euch wie ein im Holz nagender Wurm quält: "Dieser Frost ist
die Strafe für unsere Herzenshärte." Ihr möchtet wieder gutmachen aber des
Geldes wegen und nicht eurer Seele wegen. O heidnisches und starrköpfiges
Chorazim! Doch nicht alle Menschen in Chorazim sind so, und ich werde für die,
die nicht so sind, in einem Gleichnis sprechen.
Hört! Einem Goldschmied wurde von
einem törichten Reichen ein großer Klumpen gebracht aus einer Masse, die so
blond war wie feinster Honig, mit dem Auftrag, daraus einen verzierten Krug
anzufertigen.
124
"Das Material eignet sich nicht
zur Verarbeitung", sagte der Goldschmied zu dem Reichen. "Siehst du? Es ist zu
weich und nachgiebig. Wie könnte ich es formen und hämmern?"
"Wie? Es ist nicht geeignet? Das
ist ein kostbares Harz, und ein Freund von mir hat ein kleines Krüglein, in
dem sein Wein einen ganz besonderen Geschmack bekommt. Ich habe es sehr teuer
bezahlt, um einen größeren Krug zu haben und so meinen Freund zu übertrumpfen,
der sich seines Kruges rühmt. Mache ihn mir, und zwar sofort, sonst werde ich
sagen, daß du ein unfähiger Künstler bist."
"Der Krug deines Freundes wird
aus goldfarbenem Alabaster sein!"
"Nein, er ist aus dem gleichen
Material."
"Er wird aus feinem Bernstein
sein."
"Nein, er ist aus diesem
Material."
"Angenommen, daß er aus demselben
Material ist, dann ist es fester, hart geworden im Laufe der Jahrhunderte oder
durch Beimischung von anderem festigenden Material. Frage ihn danach, und dann
komme wieder und sage mir, wie sein Gefäß gemacht wurde."
"Nein. Er hat mir diesen Klumpen
selbst verkauft und mir versichert, daß man ihn so verwendet."
"Dann hat er dich also betrogen,
um dich für deinen Neid wegen seines schönen Kruges zu bestrafen."
"Gib acht, wie du sprichst!
Arbeite, oder ich werde dich bestrafen und dir den Laden wegnehmen, der nicht
einmal so viel wert ist, wie mich dieses wunderbare Harz gekostet hat."
Tief betrübt machte sich der
Künstler ans Werk. Er fertigte eine Paste an... aber die Paste blieb an seinen
Fingern hängen. Er versuchte, ein Stückchen mit Kitt und Pulver zu härten...
aber das Harz verlor seine Durchsichtigkeit. Er brachte es schließlich in den
Schmelzofen, in der Hoffnung, daß es durch die Hitze gehärtet würde, doch
händeringend mußte er es wieder herausnehmen, da es flüssig geworden war. Dann
schickte er jemanden auf den großen Hermon, um verharschten Schnee zu holen,
und tauchte es in diesen ein. Es wurde hart und schön, doch ließ es sich nicht
mehr modellieren. "Ich werde es mit dem Meißel behauen", nahm er sich vor,
doch beim ersten Meißelhieb sprang das Harz in Stücke.
Der Künstler, ganz verzweifelt
und fest überzeugt, daß sich dieses Material nicht bearbeiten ließe, machte
einen letzten Versuch und nahm alle Stücke, machte sie in der Hitze des Ofens
von neuem flüssig, ließ sie wieder ein wenig im Schnee erkalten, und versuchte
die noch etwas weiche Masse mit Spatel und Meißel zu bearbeiten. Die Arbeit
glückte ihm, o ja, doch sobald er Meißel und Spatel entfernte, nahm die Masse
wieder die ursprüngliche Form an, als wäre sie ein im Backtrog aufgehender
Brotteig.
Der Mann gab sich geschlagen, und
um der Erpressung des Reichen und seinem eigenen Ruin zu entgehen, lud er in
der Nacht Frau, Kinder,
125
Möbel und sein Handwerkszeug auf
einen Wagen. In seiner Werkstätte, die nun leer war, ließ er die goldfarbene
Masse Harz zurück und legte einen Zettel dazu mit den Worten: "Nicht zu
bearbeiten", und floh über die Grenze...
Ich bin gesandt worden, um die
Herzen zur Wahrheit und zum Heil zu erziehen, und in meinen Händen habe ich
Herzen aus Eisen, Blei, Zinn, Alabaster, Marmor, Silber, Gold, Jaspis und
Edelsteinen gehabt. Harte Herzen, wilde Herzen, wertvolle Herzen, kurz, alle
Arten von Herzen. An allen habe ich gearbeitet, und viele habe ich geformt
nach dem Wunsch dessen, der mich gesandt hat. Einige haben mich verletzt,
während ich wirkte, andere haben es vorgezogen, zu zerbrechen, anstatt sich
vollends bearbeiten zu lassen, doch vielleicht werden sie in ihrem Haß immer
ein Andenken an mich bewahren.
Ihr seid nicht zu bearbeiten,
denn weder Liebesglut, noch geduldige Unterweisung, noch die Arbeit des
Meißels nützt bei euch, da ihr den Mahnungen gleichgültig gegenübersteht.
Sobald meine Hände von euch lassen, werdet ihr wieder zu dem, was ihr vorher
gewesen seid. Nur eines müßtet ihr tun, um euch zu ändern: euch gänzlich mir
überlassen! Doch das tut ihr nicht, und werdet es nie tun, und der tief
betrübte Arbeiter überläßt euch eurem Schicksal. Da er jedoch gerecht ist,
verläßt er euch nicht alle gleicherweise. Trotz seiner Enttäuschung weiß er
alle auszuwählen, die seine Liebe verdienen, und tröstet und segnet sie. Frau,
komm zu mir!» sagt er und winkt einer an der Wand stehenden Frau zu, die so
gekrümmt ist, daß sie einem Fragezeichen gleicht.
Die Leute schauen in die
Richtung, in die Jesus zeigt, sehen jedoch die Frau nicht, die ihrer Haltung
wegen Jesus und auch seine Hand nicht sehen kann. «So geh doch, Martha! Er
ruft dich», sagen einige, und die Arme kommt hinkend, auf ihren Stock
gestützt, der ihr bis zum Kopf reicht, nach vorne.
Nun steht sie vor Jesus, der zu
ihr sagt: «Frau, empfange ein Andenken an meine Durchreise und eine Belohnung
für deinen stillen, demütigen Glauben. Sei befreit von deinen Gebrechen!»
Seine letzten Worte betont er besonders, indem er ihr seine Hände auf die
Schultern legt.
Plötzlich richtet sich die Frau
auf, steht aufrecht wie eine Palme da, erhebt ihre Arme und ruft: «Hosanna! Er
hat mich geheilt! Er hat auf seine treue Dienerin geschaut und ihr diese
Wohltat erwiesen. Lob dem Erlöser und König Israels! Hosanna dem Sohne
Davids!»
Das Volk stimmt ein mit seinen
Hosannarufen in das Hosanna der Frau, die nun zu Füßen Jesu kniend den Saum
seines Gewandes küßt, während er zu ihr sagt: «Geh in Frieden und verharre im
Glauben!»
Der Synagogenvorsteher, dem die
Worte, die Jesus vor dem Gleichnis gesagt hat, noch immer in den Ohren klingen
müssen, will wütend auf den Vorwurf antworten und schreit entrüstet, während
die Menge der
126
wunderbar Geheilten einen Weg
bahnt: «Sechs Tage sind da zum Arbeiten, sechs Tage, an denen man fordern und
geben kann. Kommt daher an diesen Tagen, sowohl zum Fordern, als auch zum
Geben. Kommt an diesen Tagen zum Heilen, ohne das Gebot des Sabbats zu
verletzen, ihr Sünder und Ungläubige, ihr Verdorbene und Verderber des
Gesetzes!» und er versucht, alle aus der Synagoge zu vertreiben, als wolle er
die Schänder aus dem Haus des Gebets verjagen.
Aber Jesus, der ihn sieht, und
wie er von den vier zuvor erwähnten Ältesten unterstützt wird, sowie von
einigen anderen aus der Menge, die durch das "Vergehen Jesu" noch empörter,
verärgerter und gequälter zu sein scheinen, ruft ihnen nun mit auf der Brust
verschränkten Armen, ernst und gebieterisch blickend, zu: «Ihr Heuchler! Wer
von euch hat an diesem Tag nicht den Ochsen oder den Esel von der Futterkrippe
losgebunden, um ihn zur Tränke zu führen, und wer hat nicht den Schafherden
die Grasbündel gebracht und die Milch aus den vollen Eutern gemolken? Warum
also, wenn ihr sechs Tage dafür habt, tut ihr es auch heute für die paar
Denare Milchgeld oder aus Angst, daß euch Ochs und Esel verdursten könnten?
Und ich hätte diese Frau nicht auch am Sabbat von ihren Fesseln befreien
sollen, nachdem Satan sie achtzehn Jahre lang gefesselt hielt? Geht! Sie habe
ich von ihrem unfreiwilligen Elend erlösen können, doch euch werde ich nie die
freiwilligen Fesseln lösen können, ihr Feinde der Weisheit und der Wahrheit!»
Die guten Menschen unter den
vielen nicht guten von Chorazim billigen und loben seine Worte, während die
anderen, vor Wut keuchend, fliehen und den gehässigen Synagogenvorsteher im
Stich lassen.
Auch Jesus läßt ihn stehen und
verläßt die Synagoge in Begleitung der Guten, die ihn umringen, bis er das
offene Feld erreicht hat, wo er sie ein letztes Mal segnet. Dann schlägt er
zusammen mit den Vettern, mit Petrus und Thomas die Hauptstraße ein.
383. DER UNFRUCHTBARE FEIGENBAUM;
AUF DEM WEG NACH SEFED
Die Straße, die nach Sefed führt,
verläßt die Ebene von Chorazim, um eine ziemlich bedeutende und dicht
bewachsene Bergkette zu erklettern. Ein Wasserlauf durchquert diese Berge,
sicher in Richtung des Sees von Tiberias.
Die Pilger warten an einer
Brücke, bis die anderen, die zum Meronsee gesandt worden waren, sie erreichen.
Sie lassen nicht lange auf sich warten. Zur abgemachten Stunde kommen sie
eiligen Schrittes, gesellen sich voller Freude zum Meister und zu den
Gefährten und berichten über den
127
Verlauf der Reise. Sie erzählen
von einigen Wundern, die abwechselnd von allen Aposteln gewirkt worden sind,
wie sie erklären. Aber Judas von Kerioth verbessert: «Mit Ausnahme von mir,
dem nichts gelungen ist», und seine Beschämung bei diesem Bekenntnis ist ihm
peinlich.
«Wir haben dir schon gesagt, daß
es so gewesen ist, weil wir einen großen Sünder vor uns hatten», entgegnet
Jakobus des Zebedäus, und erklärt: «Weißt du, Meister, es handelt sich um
Jakob, einen Schwerkranken, der dich nur anruft aus lauter Angst vor dem Tod
und dem Gericht Gottes. Doch er ist jetzt geiziger denn je, da er nach dem
Frost eine schreckliche Mißernte voraussieht. All sein Saatgut ist verloren
und er kann kein anderes mehr säen, da er krank ist und seine Magd, die durch
mühselige Arbeiten und Hunger erschöpft ist, die Felder nicht pflügen kann. Er
spart sogar mit dem Mehl für das Brot, da er befürchtet, eines Tages nichts
mehr zu essen zu haben. Wir haben vielleicht gesündigt, aber wir haben den
ganzen Freitag bis zum letzten Tageslicht und nach dem Sonnenuntergang sogar
im Schein von Fackeln und eines Holzstoßes gearbeitet und einen Großteil
seiner Felder gepflügt. Philippus, Johannes und Andreas verstehen sich darauf,
und ich auch. Wir haben geschuftet... Simon, Matthäus und Bartholomäus kamen
hinter uns her und säuberten die Schollen vom aufgegangenen und kurz darauf
abgestorbenem Getreide. Judas ist hingegangen, um in deinem Namen etwas Samen
von Judas und Annas zu erbitten, und hat ihnen unseren Besuch für heute
versprochen. Er hat sogar einen ausgezeichneten Samen erhalten. Also haben wir
uns gesagt: "Morgen werden wir säen" und deswegen sind wir etwas später
gekommen, denn wir haben bei Sonnenuntergang damit begonnen. Der Ewige möge
uns verzeihen, daß wir aus diesem Grund gesündigt haben. Judas blieb
inzwischen am Bett Jakobs, um ihn zu bekehren. Er kann besser reden als wir,
Bartholomäus und der Zelote behaupten dies wenigstens. Aber Jakob blieb allen
Argumenten gegenüber taub. Er wollte die Heilung, weil ihm die Krankheit
Kosten verursacht. Er beschimpfte auch die Magd und nannte sie eine
Faulenzerin.
Um ihn zu beruhigen und
angesichts seiner Worte: "Ich werde mich bekehren, wenn ich geheilt werde",
legte ihm Judas die Hände auf. Aber Jakob blieb krank wie zuvor. Judas teilte
es uns ganz traurig mit. Bevor wir uns zur Ruhe begaben, versuchten wir es,
doch auch wir erlangten kein Wunder. Judas besteht nun darauf, daß dies
geschehen ist, weil er bei dir in Ungnade gefallen ist, seit er dir mißfallen
hat, und ist sehr niedergeschlagen. Wir jedoch sind der Meinung, daß es so
sein mußte, weil wir einen verstockten Sünder vor uns hatten, der glaubte,
alles erreichen zu können, was er wollte, indem er selbst Gott Grenzen setzte
und ihm Befehle erteilte. Wer hat nun Recht?»
«Ihr sieben habt recht. Und Judas
und Annas? Wie steht es um ihre Felder?»
128
«Auch ihre Felder haben ziemlich
unter dem Frost gelitten. Aber sie hatten genügend Mittel, und alles ist schon
wieder in Ordnung gebracht. Die beiden sind wirklich gut! Nimm, sie schicken
dir diese Spende und diese Nahrungsmittel und hoffen, dich bald einmal
wiederzusehen. Was uns betrübt, ist der Seelenzustand Jakobs. Ich hätte lieber
seine Seele als seinen Leib geheilt....», sagt Andreas.
«Und an den anderen Orten?»
«Oh! auf dem Weg nach Debaret, in
der Nähe des Dorfes, haben wir -es war Matthäus – einen Mann vom Fieber
geheilt, der von einem Arzt herkam, der ihn aufgegeben hatte. Von
Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang sind wir bei ihm geblieben, und das Fieber
ist nicht wiedergekommen. Zudem hat er uns versichert, daß er sich wohl und
stark fühlt. Dann hat Andreas einen Bootsmann in Tiberias geheilt, der sich
bei einem Sturz auf Deck eine Schulter gebrochen hatte. Er legte ihm die Hände
auf, und die Schulter war geheilt. Stell dir den Mann vor! Er wollte uns
umsonst nach Magdala, Kapharnaum und Bethsaida fahren, wo er geblieben ist,
weil dort die Jünger Timoneus von Aera, Philippus von Arbela, Ermastheus und
Markus des Josia sind. Letzterer ist einer von denen, die bei Gamala von der
Besessenheit befreit worden sind. Auch Joseph, der Bootsverleiher, möchte ein
Jünger werden...
Den Kindern geht es gut bei
Johanna. Sie scheinen nicht mehr die gleichen zu sein. Sie waren im Garten und
spielten mit Johanna und Chuza...»
«Ich habe sie gesehen. Auch ich
bin dort vorbeigekommen. Erzählt weiter.»
«In Magdala war es Bartholomäus,
der ein sittenloses Herz und einen sittenlosen Leib geheilt hat. Wie gut hat
er gesprochen! Er hat erklärt, wie die Verwirrung des Geistes Unordnung im
Körper hervorruft und jedes Nachgeben der Unehrbarkeit gegenüber zum Verlust
der Ruhe, der Gesundheit und schließlich der Seele führt. Als er ihn reuevoll
und überzeugt gesehen hat, hat er ihm die Hand aufgelegt, und der Mann ist
geheilt worden. Sie wollten uns in Magdala zurückhalten, aber wir waren
gehorsam und sind am nächsten Morgen nach Kapharnaum gefahren.
Dort trafen wir die fünf an, die
dich um Gnade gebeten haben. Sie wollten den Ort eben enttäuscht verlassen,
aber wir heilten sie und fuhren dann gleich nach Bethsaida, um den Fragen des
Eli, des Urias und ihrer Begleiter auszuweichen. In Bethsaida! ... Aber
erzähle du, Andreas, deinem Bruder ...» schließt Jakobus des Zebedäus, der bis
jetzt immer gesprochen hat. «O Meister! O Simon! Wenn ihr Margziam sehen
könntet! Er ist nicht mehr wiederzuerkennen!»
«O Schicksal! Er wird doch nicht
etwa ein Mädchen geworden sein?» ruft Petrus fragend aus.
«Nein, im Gegenteil! Er ist ein
schöner Jüngling, groß und schlank,
129
weil er so schnell gewachsen
ist... Wunderbar! Wir haben ihn kaum wiedererkannt. Er ist so groß wie deine
Frau und wie ich...»
«Oh, gut! Weder ich, noch du,
noch Porphyria sind Palmen! Man könnte uns eher mit Dornbüschen vergleichen
...» sagt Petrus, der sich freut, als er hört, daß sein Adoptivsohn sich so
gut entwickelt hat.
«Ja, Bruder. Aber noch zur Zeit
des Lichterfestes war er ein Knäblein, das mir kaum bis an die Schultern
reichte, und heute ist er wirklich ein junger Mann, in Gestalt, Stimme und
Haltung. Ihm ist es ergangen wie den Bäumen, deren Wachstum jahrelang stockt
und die dann plötzlich ein erstaunlich üppiges Aufblühen erleben. Deine Frau
hat ordentlich zu tun gehabt mit dem Verlängern der alten Gewänder und der
Anfertigung von neuen. Sie versieht sie mit breiten Säumen und Falten an den
Hüften, denn sie sieht mit Recht voraus, daß Margziam weiterwachsen wird. Noch
mehr wächst er in der Weisheit heran. Meister, die weise Bescheidenheit
Nathanaels hat dir verschwiegen, daß Bartholomäus zwei Monate lang als Lehrer
des jüngsten und heldenhaftesten Jüngers gewaltet hat, der sich schon vor dem
Morgengrauen erhebt, um die Schafe zu weiden, Holz zu hacken, Wasser zu
schöpfen, Feuer anzuzünden, sauberzumachen und Einkäufe für seine Pflegemutter
zu erledigen; und am Nachmittag lernt und schreibt er jeweils bis zum späten
Abend, wie ein kleiner Gelehrter. Stell dir vor, er hat alle Kinder von
Bethsaida versammelt, und am Sabbat belehrt er sie über die Frohe Botschaft.
So haben die Kinder, die, um Störungen zu vermeiden, von den Gottesdiensten in
der Synagoge ausgeschlossen sind, ihren Tag des Gebetes wie die Erwachsenen.
Die Mütter sagen mir, daß es schön ist, ihn sprechen zu hören, und daß die
Kinder ihn gern haben, ihm ehrfurchtsvoll gehorchen und immer braver werden.
Welch ein Jünger wird aus ihm noch werden!»
«Schau einer an! Ich... bin ganz
gerührt... mein Margziam! Aber schon in Nazareth, nicht wahr? Welch ein
Heroismus für... jenes Mädchen, Rachel, nicht wahr?» Petrus unterbricht sich
gerade noch rechtzeitig und ist purpurrot geworden aus Furcht, zu viel gesagt
zu haben.
Zum Glück kommt ihm Jesus zu
Hilfe, und Judas ist in seine eigenen Gedanken vertieft und achtet nicht auf
seine Worte, oder er tut jedenfalls so. Jesus sagt: «Ja, Rachel, du hast
recht, sie ist geheilt, und die Felder werden viel Getreide geben. Jakobus und
ich sind dort vorbeigekommen. So viel vermag das Opfer eines gerechten
Kindes.»
«In Bethsaida war es Jakobus, der
ein Wunder an einem armen Krüppel wirkte, und Matthäus heilte auf dem Weg zum
Hause Jakobs einen Knaben. Gerade heute haben Philippus und Johannes auf dem
Platze jenes Dorfes bei der Brücke einen Augenkranken und einen besessenen
Knaben geheilt.»
«Ihr habt es alle gut gemacht.
Sehr gut! Nun werden wir uns zu dem Dorf dort am Hang begeben, um in
irgendeinem Haus übernachten.»
130
«Aber du, Meister, was hast du
getan? Wie geht es Maria und der anderen Maria? fragt Johannes.
«Es geht ihnen gut, und sie
lassen euch alle grüßen. Sie richten schon die Gewänder und alles, was für die
Pilgerreise im Frühjahr erforderlich ist, her. Sie können die Stunde nicht
erwarten, wieder mit uns zusammen zu sein.»
«Auch Susanna, und Johanna und
unsere Mutter haben dieselbe Sehnsucht», sagt wiederum Johannes.
Bartholomäus fügt bei: «Auch
meine Frau will mit unseren Töchtern nach so vielen Jahren wieder nach
Jerusalern mitkommen. Sie sagt, daß es nie mehr so schön sein wird, wie dieses
Jahr... Ich weiß nicht, warum sie das sagt; aber sie behauptet, es im Herzen
zu fühlen.»
«Dann wird bestimmt auch die
meinige kommen. Sie hat noch nicht davon gesprochen, aber was Anna tut, macht
auch Maria immer», sagt Philippus.
«Was machen die Schwestern des
Lazarus? Ihr, die ihr sie gesehen habt», fragt der Zelote.
«Sie gehorchen schweren Herzens
dem Befehl des Meisters und der Notwendigkeit... Lazarus ist sehr leidend,
nicht wahr Judas? Er muß fast immer liegen. Doch erwarten sie sehnlichst den
Meister», sagt Thomas.
«Bald ist das Passahfest, und wir
werden Lazarus aufsuchen.»
«Aber du, was hast du in Nazareth
und Chorazim getan?»
«In Nazareth habe ich Verwandte
und Freunde besucht, auch die Verwandten der beiden Jünger. In Chorazim habe
ich in der Synagoge gesprochen und eine Frau geheilt. Wir haben bei der Witwe
Aufenthalt genommen. Ihre Mutter ist gestorben. Es war ein Schmerz und eine
Erleichterung zugleich, wegen der geringen Einnahmen und wegen der Zeit,
welche die Pflege der Kranken in Anspruch nahm; denn die Witwe hat begonnen,
in Lohnarbeit für andere zu spinnen. Aber sie ist nicht mehr verzweifelt wie
früher. Das Notwendige ist gesichert, und sie ist zufrieden damit. Joseph geht
jeden Morgen zu einem Zimmermann am Jakobsbrunnen, um das Handwerk zu
erlernen.»
«Haben sich die Leute von
Chorazim gebessert?» fragt Matthäus.
«Nein, Matthäus! Sie werden immer
schlimmer», bekennt Jesus offen. «Sie haben uns schlecht behandelt, die
Mächtigen natürlich, nicht das einfache Volk.»
«Es ist ein schrecklicher Ort.
Geh nicht mehr dorthin», mahnt Philippus.
«Das würde dem Jünger Elias sehr
weh tun, und ebenso der Witwe, der heute geheilten Frau und den andern guten
Leuten.»
«Ja, aber es sind so wenige, daß
ich mich nicht mehr dieses Ortes annehmen würde. Du selbst hast es gesagt:
"Die Leute dort lassen sich nicht belehren", sagt Thomas.
131
«Etwas wird bleiben, wie ein
Same, der tief unter sehr harten Schollen liegt. Es wird lange dauern, bis er
keimt, aber schließlich wird er keimen. So ist es mit Chorazim. Eines Tages
wird das, was ich gesät habe, aufgehen. Man darf sich nicht von den ersten
Niederlagen entmutigen lassen. Hört dieses Gleichnis. Es könnte den Titel
tragen: Das Gleichnis vom guten Landmann.
Ein reicher Mann hatte einen
großen und schönen Weinberg, in dem auch Feigenbäume verschiedener Güte waren.
Die Arbeiten im Weinberg besorgte einer seiner Knechte mit viel Erfahrung als
Winzer und im Beschneiden der Obstbäume, der seine Pflicht in Liebe zu seinem
Herrn und zu den Pflanzen erfüllte. Alle Jahre ging der Reiche in der
schönsten Jahreszeit mehrmals in seinen Weinberg, um das Heranreifen der
Weintrauben und der Feigen zu betrachten und um sie zu genießen, indem er sie
mit eigenen Händen von den Pflanzen pflückte. Eines Tages kam er zu einem
besonders edlen Feigenbaum, dem einzigen Baum dieser Art im Weinberg. Wie in
den beiden letzten Jahren, fand er ihn auch jetzt wieder voller Blätter, aber
ohne Früchte. Er rief den Winzer herbei und sagte: "Es sind nun schon drei
Jahre, daß ich komme und an diesem Feigenbaum Früchte suche, jedoch nur Laub
vorfinde. Ich sehe nun, daß dieser Baum nie mehr Früchte tragen wird. Haue ihn
um. Es ist zwecklos, daß er hier den Platz beansprucht und deine Zeit
verschwendet, um schließlich doch nichts hervorzubringen. Säge ihn ab,
verbrenne ihn, grabe seine Wurzeln aus und setze an die Stelle einen neuen
Baum; in einigen Jahren wird er Früchte bringen." Der Winzer, der geduldig und
liebevoll war, antwortete: "Du hast recht, aber laß mich ihn noch ein Jahr
pflegen. Ich werde ihn nicht absägen, sondern vielmehr mit noch größerer
Sorgfalt den Boden um ihn herum auflockern, ihn düngen und bewässern.
Vielleicht wird er dann doch noch Früchte tragen. Wenn er nach diesem letzten
Versuch keine Früchte tragen sollte, werde ich deinen Wunsch erfüllen und ihn
umhauen."
Chorazim ist der Feigenbaum, der
keine Früchte trägt; ich bin der gute Gärtner, und ihr seid der ungeduldige
Reiche. Laßt den guten Gärtner wirken!»
«Gut! Aber du hast dein Gleichnis
nicht beendet. Hat der Feigenbaum dann im nächsten Jahr Früchte getragen?»
fragt der Zelote.
«Er hat keine Früchte getragen
und ist umgehauen worden. Aber der Gärtner konnte eine noch junge, kräftige
Pflanze mit gutem Gewissen fällen, denn er hatte seine Pflicht getan. Auch ich
will gerechtfertigt sein hinsichtlich derer, an die ich die Axt anlegen werde,
um sie aus meinem Weinberg zu entfernen, wo es unfruchtbare und giftige
Pflanzen, Schlangennester, Parasiten und Schädlinge gibt, welche den Jüngern
schaden oder sie gar verderben, oder auch ungerufen, mit ihren bösartigen
Wurzeln und widerspenstig gegen jede Veredelung, in meinen Weinberg
eindringen, um
132
sich dort zu vermehren. Sie haben
sich nur eingeschlichen, um auszukundschaften, anzuschwärzen und mein Feld
unfruchtbar zu machen. Diese werde ich ausrotten, nachdem ich alles versucht
habe, um sie zu bekehren. Vorerst jedoch, bevor ich die Axt zur Hand nehme,
ergreife ich das Messer und die Baumschere und beschneide und veredle... Oh,
es wird eine harte Arbeit sein, sowohl für mich, der sie ausführt, als auch
für jene, an denen sie vorgenommen wird. Aber es muß geschehen, damit man im
Himmel sagen kann: "Alles hat er getan, doch sie sind immer unfruchtbarer und
bösartiger geworden, je mehr er sie bewässerte und veredelte, je mehr er das
Erdreich auflockerte und düngte, mit Schweiß und Tränen, mit Mühen und
Blut..." Nun sind wir im Dorf angekommen. Geht alle voraus und fragt nach
einer Unterkunft. Du, Judas von Kerioth, bleibe bei mir!»
Sie bleiben allein zurück und
gehen im Halbdunkel des Abends schweigend nebeneinander.
Schließlich sagt Jesus, so als
rede er mit sich selbst: «Und doch, auch wenn man bei Gott in Ungnade gefallen
ist, weil man gegen sein Gesetz gehandelt hat, kann man immer noch
zurückkehren und das werden, was man vorher war, wenn man der Sünde entsagt
...»
Judas sagt nichts.
Wieder beginnt Jesus zu reden:
«Und wenn man begreift, daß man nicht mehr über die göttliche Macht verfügen
kann, weil Gott nicht dort ist, wo Satan ist, kann man doch mit Leichtigkeit
alles wieder gutmachen, wenn man das, was Gott zusteht, dem vorzieht, was
unser Stolz begehrt.»
Judas schweigt.
Schon sind sie am ersten Haus des
Dorfes angekommen, und Jesu sagt, als würde er zu sich selber sprechen: «Wenn
ich bedenke, daß ich harte Buße getan habe, auf daß er sein Unrecht einsehe
und zum Vater zurückkehre...»
Judas zuckt zusammen, hebt den
Kopf hoch, schaut ihn an... sagt aber kein Wort.
Auch Jesus schaut ihn an... und
fragt dann: «Judas, zu wem rede ich?»
«Zu mir, Meister. Deinetwegen
habe ich keine Macht mehr, weil du sie mir genommen hast, um Johannes, Simon,
Jakobus und allen andern mehr davon zu verleihen als mir. Du liebst mich
nicht, das ist es! Ich werde noch soweit kommen, daß ich dich nicht mehr liebe
und die Stunde verwünsche, in der ich dich geliebt habe und in den Augen der
Welt für einen verzagten, unkriegerischen König, der sich vom Pöbel
überwältigen läßt, mein Ansehen verloren habe. Das habe ich nicht von dir
erwartet!»
«Auch ich habe so etwas nicht von
dir erwartet, doch habe ich dich nie betrogen und dich nie zu etwas gezwungen.
Warum bleibst du also an meiner Seite?»
«Weil ich dich liebe und mich
nicht mehr von dir trennen kann. Du
133
ziehst mich an und erregst
zugleich Abscheu in mir. Ich verlange nach dir wie nach der Luft zum Atmen,
und... du flößest mir Angst ein. Ach, ich bin verflucht! Ich bin verdammt!
Warum befreist du mich nicht vom Teufel, du, der du es kannst?» Das Gesicht
des Judas ist fahl und verzerrt. Wahnsinn, Furcht und Haß zeichnen sich darauf
ab... Es erinnert schon, wenn auch nur schwach, an die satanische Maske des
Judas am Karfreitag.
Das Antlitz Jesu hingegen gemahnt
an den gegeißelten Nazarener, der im Hofe des Prätoriums auf einer
umgestülpten Bütte sitzt und mit unendlich liebevoller Barmherzigkeit auf die
schaut, die ihn verspotten. Er sagt, und mir scheint, ein Schluchzen sei schon
in seiner Stimme zu hören: «Warum verspürst du keine Reue in dir, sondern nur
Haß gegen Gott, als ob er an deiner Sünde Schuld trüge?»
Judas stößt einen häßlichen Fluch
aus...
«Meister, wir haben Unterkunft
gefunden, fünf in einem Haus, drei in einem andern, zwei in einem weiteren,
und je einer wiederum in zwei andern Häusern. Anders war es nicht möglich»,
sagen die Jünger.
«Gut. Ich gehe mit Judas von
Kerioth», sagt Jesus.
«Nein, ich ziehe es vor, allein
zu bleiben. Ich bin unruhig und würde dich nicht schlafen lassen ...»
«Wie du willst... Dann werde ich
mit Bartholomäus gehen, und ihr könnt tun, wie es euch beliebt. Zunächst gehen
wir in das Haus, in dem am meisten Platz ist, um miteinander zu Abend zu
essen.»
384. AUF DEM WEG NACH MEIRON
Der schöne Sonnenaufgang eines
Frühlingstages rötet den Himmel und läßt die Hügel in einem angenehmen Licht
leuchten. Die Jünger erfreuen sich daran, während sie sich am Eingang des
Dorfes versammeln und auf die Nachzügler warten.
«Dies ist nach den Hagelschauern
der erste nicht mehr so kalte Tag», sagt Matthäus und reibt sich die Hände.
«Es ist die Zeit, in der es
wärmer wird, denn wir sind im Neumond des Adar!» ruft Andreas aus.
«Gut so! Gut so! Wenn wir bei der
Kälte der letzten Tage hätten in die Berge gehen müssen!» bemerkt Philippus.
«Aber wohin geht es denn?» fragt
Andreas.
«Wer weiß! Von hier kann man nach
Sefed oder nach Meiron gehen, aber dann?» antwortet ihm Jakobus des Zebedäus
und wendet sich an die beiden Söhne des Alphäus: «Wißt ihr, wohin es geht?»
«Jesus hast uns gesagt, daß er
nach Norden gehen will, und nichts weiter», sagt Judas des Alphäus lakonisch.
134
«Noch einmal? Im nächsten Monat
müssen wir schon die österliche Pilgerfahrt beginnen ...», sagt Petrus nicht
sehr begeistert.
«Es verbleibt uns noch reichlich
Zeit», entgegnet Thaddäus.
«ja, aber kein Ausruhen in
Bethsaida ...»
«Wir werden sicher dort
vorbeikommen, um die Frauen und Margziam abzuholen», entgegnet Philippus dem
Petrus.
«Um eines möchte ich euch bitten:
Zeigt euch nicht etwa gelangweilt, unwillig oder dergleichen. Jesus ist
zutiefst betrübt... Gestern Abend hat er geweint. Ich habe es gesehen, während
wir das Abendessen vorbereitet haben. Er betete nicht draußen auf der
Terrasse, wie wir glaubten, sondern er weinte», sagt Johannes.
«Hast du ihn gefragt, weshalb er
weint?» wollen alle wissen.
«Ja, aber er hat mir nur gesagt:
"Liebe mich, Johannes."»
«Vielleicht... war es wegen jenen
von Chorazim?»
Der Zelote, der sie in diesem
Augenblick einholt, sagt: «Da kommt der Meister mit Bartholomäus. Wir wollen
ihm entgegengehen.»
Sie gehen und setzen ihre
Unterhaltung fort: «Oder war es etwa wegen Judas? Gestern abend waren sie
miteinander allein ...» sagt Matthäus.
«Natürlich; und Judas hat vorher
gesagt, daß er unruhig sei und niemand um sich haben wolle», bemerkt
Philippus.
«Nicht einmal mit dem Meister
wollte er zusammen sein, und ich wäre so gern bei ihm geblieben!» seufzt
Johannes.
«Auch ich!» sagen alle anderen.
«Dieser Mann gefällt mir nicht...
Entweder ist er krank oder verhext, irrsinnig oder besessen... Irgend etwas
ist mit ihm», sagt Thaddäus mit Bestimmtheit.
«Und doch, ihr könnt es mir
glauben, auf der Rückreise hat er sich vorbildlich benommen und stets den
Meister und dessen Interessen verteidigt, wie keiner von uns es je getan hat.
Ich habe es selbst gesehen und gehört und hoffe, daß ihr nicht an meinen
Worten zweifelt», sagt Thomas.
«Meinst du, daß wir dir nicht
glauben? Ach nein, Thomas, es freut uns, daß Judas besser ist als wir. Aber du
siehst es doch ein, daß er eigenartig ist», entgegnet Andreas.
«Oh, sicher ist er eigenartig,
doch vielleicht leidet er in seinem Innersten wegen irgendetwas... und
vielleicht auch, weil er kein Wunder gewirkt hat. Er ist etwas stolz, im
positiven Sinn, und es liegt ihm daran, viel zu tun und öffentlich dafür
gelobt zu werden...»
«Hm! Mag sein. Tatsache ist, daß
der Meister traurig ist. Schaut ihn doch an und sagt mir, ob er noch der Mann
ist, der er war, als wir ihn kennengelernt haben. Aber es lebe der Herr! Wenn
es mir gelingt, den zu entdecken, um dessentwillen der Meister leidet...
Genug! Dann weiß ich, was ich ihm antun werde», sagt Petrus.
135
Jesus, der eifrig mit Nathanael
spricht, erblickt sie, lächelt, und beschleunigt seine Schritte.
«Der Friede sei mit euch! Seid
ihr alle da?»
«Nur Judas des Simon fehlt, und
ich habe geglaubt, er sei bei dir, denn im Haus, in dem er übernachten sollte,
hat man mir gesagt, sie hätten sein Zimmer leer und in Ordnung vorgefunden»,
erklärt Andreas.
Jesus runzelt einen Augenblick
die Stirn und senkt gedankenverloren sein Haupt. Nach einer Weile sagt er: «Es
macht nichts, wir brechen trotzdem auf. Sagt jenen bei den letzten Häusern,
daß wir nach Meiron und von dort nach Gischala gehen werden, und sollte Judas
uns suchen, so möchten sie ihn dorthin schicken. Laßt uns gehen.»
Alle spüren eine Gewitterstimmung
und gehorchen atemlos. Jesus fährt fort, sich mit Bartholomäus zu unterhalten,
indem er den anderen einige Schritte vorangeht. Ihrem Gespräch entnehme ich
große Namen, wie Hillel, Jael, Barak und andere berühmte Männer des Landes,
sowie bewundernde Bemerkungen über große Gelehrte. Auch Bedauern entnimmt man
den Worten des Bartholomäus.
«Ach, wäre doch der große Weise
noch am Leben. Hillel war gut, aber auch streng mit sich selbst. Er hätte sich
nicht beeinflussen lassen und hätte selbst geurteilt!»
«Nimm es nicht zu schwer,
Bartholomäus, und preise den Herrn, der ihn in seinen Frieden aufgenommen hat;
so wurde der Geist des Weisen nicht durch den großen Haß gegen mich bedrängt.»
«Mein Herr! Nicht nur Haß!»
«Mehr Haß als Liebe, Freund, und
so wird es immer sein.»
«Sei nicht traurig, wir werden
dich verteidigen...»
«Es ist nicht die Angst vor dem
Tod, die mich peinigt, sondern die Sünden der Menschen.»
«Der Tod, nein... Sprich nicht
vom Tod, denn so weit werden sie es nicht kommen lassen ... weil sie sich
fürchten...»
«Der Haß wird stärker sein als
die Furcht, Bartholomäus, und wenn ich einst gestorben und in der Seligkeit
des Himmels bin, dann sage zu den Menschen: "Nicht so sehr wegen des Todes
litt er als wegen eures Hasses! "»
«Meister! Meister! Meister!
Sprich nicht so! Niemand haßt dich so sehr, daß er dich umbringen würde. Zudem
würdest du es immer verhindern können, du, der du so mächtig bist!»
Jesus lächelt traurig, ich würde
fast sagen, wehmütig, während er gemessenen Schrittes die Gebirgsstraße nach
Meiron hinaufgeht. Je höher sie steigt, umso schöner wird der sich bietende
Blick auf den See von Tiberias, der an einer schluchtartigen Stelle zwischen
den Hügeln erscheint. Man sieht auch die wie eine Kette aneinandergereihten
benachbarten Hügel, welche die Sicht auf den Meronsee verdecken, und jenseits
des Sees
136
von Tiberias die Hochebene von
Transjordanien und die zerklüfteten Berge des fernen Hauran, der Trachonitis
und von Peräa.
Jesus deutet in Richtung
Nord-Nordosten und sagt: «Nach dem Passahfest werden wir dorthin gehen müssen,
in den Landesteil des Philippus, und werden so gerade genügend Zeit haben, um
an Pfingsten wieder in Jerusalern zu sein.»
«Aber wäre es nicht besser, jetzt
dorthin zu gehen, über Transjordanien zu den Jordanquellen... und über die
Dekapolis zurückzukehren...»
Jesus fährt sich müde mit der
Hand über die Stirn und sagt ruhig: «Ich weiß nicht, ich weiß es wirklich noch
nicht, Bartholomäus!» Wieviel Trostlosigkeit, Schmerz und Flehen verrät seine
Stimme.
Bartholomäus neigt sich ein
wenig, betroffen von diesem eigenartigen Ton, der ihm neu ist, und sagt mit
liebevollem Eifer: «Meister, was hast du? Was willst du vom alten Nathanael?»
«Nichts, Bartholomäus! ... Dein
Gebet ... auf daß ich erkennen möge, was zu tun ist! Man ruft uns,
Bartholomäus ... Wir wollen hier anhalten...»
Bei einer Baumgruppe bleiben sie
stehen, und sehen nahe einer Wegbiegung die anderen in einer Gruppe. «Meister!
Judas ist außer Atem, so schnell rennt er uns nach ...»
«Dann laßt uns auf ihn warten.»
Tatsächlich kommt Judas im Laufschritt an. «Meister, ich bin etwas
verspätet... ich habe verschlafen ...»
«Wo denn? Ich habe dich doch im
Haus nicht vorgefunden.» fragt Andreas verwundert.
Judas ist einen Augenblick
sprachlos, doch dann faßt er sich plötzlich und sagt: «Oh, es tut mir leid,
daß meine Buße aufgedeckt worden ist! Ich bin die ganze Nacht im Wald gewesen
um zu beten und Opfer zu bringen... Beim Morgengrauen hat mich der Schlaf
übermannt. Ich bin ein Schwächling... doch der Allerhöchste wird Nachsicht mit
seinem Diener haben. Nicht wahr, Meister? Ich bin zu spät aufgewacht und noch
ganz schlaftrunken.»
«Ja wirklich, man sieht dir an,
daß du ganz erschöpft bist», bemerkt Jakobus des Zebedäus.
Judas lacht. «Ach ja! Aber meine
Seele ist nun froher. Das Gebet tut gut, die Buße gibt ein fröhliches Herz und
verleiht Demut und Großmut. Meister, verzeih deinem törichten Judas ...» und
er kniet zu Füßen Jesu nieder.
«Ja. Steh auf, und laßt uns
gehen.»
«Gib mir Frieden durch deinen Kuß,
zum Zeichen dafür, daß du mir meine gestrigen Launen verziehen hast. Ich
wollte nicht bei dir sein, das stimmt, doch es war nur, weil ich beten wollte
...»
«Dann hätten wir zusammen beten
können ...»
Judas sagt lachend: «Nein, du
hättest heute Nacht nicht mit mir beten können, oder dort sein, wo ich war
...»
137
«Oh, das wäre noch schöner! Warum
denn nicht? Er ist immer bei uns, und er hat uns beten gelehrt!» sagt Petrus
erstaunt.
Alle lachen, außer Jesus. Er
schaut Judas streng an, der ihn geküßt hat und ihn mit lachenden,
verschmitzten Augen anblickt, als ob er ihn herausfordern wollte.
Er wagt es sogar nocheinmal zu
fragen: «Nicht wahr, du hättest heute Nacht nicht bei mir sein können?»
«Ich hätte nicht bei dir sein
können. Ich konnte es nicht und werde niemals die Vereinigung meines Geistes
mit meinem Vater mit einem dritten, der nur Mensch ist, wie du es bist, teilen
können, und noch dazu an den Orten, wo du hingehst... Ich liebe die
Einsamkeit, dort, wo nur Engel anwesend sind, um zu vergessen, daß der Mensch
ein stinkendes Fleisch ist, von Sinnlichkeit, Gold, der Welt und Satan
verdorben.»
Judas lacht nicht einmal mehr mit
den Augen und antwortet ernst: «Du hast recht und dein Geist hat das Wahre
erkannt. Wohin gehen wir nun?»
«Die Gräber der großen Rabbis und
der Helden Israels zu ehren.»
«Was? Wie? Gamaliel liebt dich
doch nicht und die anderen hassen dich sogar», sagen viele unter ihnen.
«Das macht nichts, ich verneige
mich ja vor den Gräbern der Gerechten, die auf ihre Erlösung warten, um zu
ihren Gebeinen zu sagen: "Bald wird der, der euren Geist belebte, im
Himmelreich sein, um am Jüngsten Tage von dort herabzusteigen und euch im
Paradies für alle Ewigkeit zu neuem Leben zu erwecken."»
Sie gehen immer weiter, bis sie
das Dorf Meiron erreichen. Es ist schön, in gutem Zustand, voller Licht und
Sonne, und liegt zwischen fruchtbaren Hügeln und Gipfeln.
«Hier halten wir an, und am
Nachmittag werden wir nach Gischala weitergehen, wo die großen Gräber zwischen
diesen Hängen die Stunde des glorreichen Erwachens erwarten.»
385. AM GRABE HILLELS IN GISCHALA
Beim Verlassen der Ortschaft
Meiron nimmt Jesus mit seinen Aposteln einen Weg, der in Richtung Nordwesten
führt und immer noch in einer gebirgigen Gegend zwischen Gebüsch und Weiden
verläuft und weiter ansteigt. Vielleicht haben sie die Gräber schon besucht,
denn ich höre, wie sie miteinander darüber sprechen.
Jetzt ist es ausgerechnet
Iskariot, der mit Jesus vorausgeht. Natürlich haben sie in Meiron Almosen
empfangen und gegeben, daher legt Judas Rechenschaft ab, wie viele Gaben sie
empfangen und wieviele Almosen sie
138
gegeben haben, und schließt mit
den Worten: «Hier ist auch meine Spende. Ich habe mir heute Nacht geschworen,
dir diese für die Armen zu geben als Buße. Es ist nicht viel, denn ich habe ja
nicht viel Geld. Aber ich habe meine Mutter überredet, mir öfters etwas durch
einen meiner vielen Freunde zukommen zu lassen. Früher hatte ich immer viel
Geld bei mir, wenn ich das Haus verließ. Aber diesmal habe ich nur so viel
mitgenommen, wie ich für die Dauer der Reise nötig hatte, da ich allein oder
nur mit Thomas durch die Berge wandern mußte. Es ist besser so. Nur... werde
ich dich hie und da bitten müssen, mich für einige Stunden von euch trennen zu
dürfen, um zu meinen Freunden zu gehen. Ich habe schon alles vereinbart...
Meister, soll ich weiterhin das Geld verwalten? Vertraust du mir noch?»
«Judas, du sagst immer alles von
dir aus, und ich weiß nicht, weshalb du das tust. Du sollst wissen, daß sich
für mich nichts geändert hat... denn ich hoffe, daß du dich dadurch bessern
und wieder der frühere Jünger und Gerechte werden wirst. Und ich bete und
leide für deine Bekehrung.»
«Du hast recht, Meister, und mit
deiner Hilfe werde ich es ganz gewiß! Übrigens... es sind Unvollkommenheiten
der Jugend, belanglose Dinge, die sogar helfen, unsere Mitmenschen verstehen
und heilen zu können.»
«Wahrlich, Judas, deine
Auffassung der Moral ist sehr eigenartig! Ja, ich müßte noch mehr sagen.
Niemals hat es einen Arzt gegeben, der freiwillig erkrankt wäre, um danach
sagen zu können: "Nun kann ich die Kranken besser von diesem Übel heilen." So
bin ich also unfähig?»
«Wer sagt das, Meister?»
«Du! Ich begehe keine Sünden,
daher bin ich also auch nicht imstande, die Sünder zu bekehren.»
«Du bist du, aber wir sind nicht
wie du und bedürfen der Erfahrung, um zu wissen, wie wir handeln sollen.»
«Das ist deine alte Idee,
dieselbe, die du schon vor zwanzig Monaten gehabt hast, nur warst du damals
noch der Meinung, daß ich sündigen müßte, um erlösen zu können. Wahrlich, es
wundert mich, daß du nicht versucht hast, diesen meinen... Fehler entsprechend
deiner Denkart zu verbessern und mich zu befähigen, die Sünder zu verstehen.»
«Du scherzest, Meister, und das
freut mich, denn du hast mir leid getan, als ich dich so traurig sah. Daß
ausgerechnet ich es bin, der dich zum Scherzen veranlaßt, bereitet mir
doppelte Freude. Aber ich habe nie daran gedacht, mich als dein Lehrmeister
aufzuspielen. Übrigens siehst du, daß ich meine Denkart geändert habe, da ich
erkläre, daß diese Erfahrung nur für uns notwendig ist, für uns arme Menschen!
Du bist der Sohn Gottes, nicht wahr? Also besitzest du eine Weisheit, die
keiner Erfahrung bedarf, um diese Weisheit zu sein.»
«Nun gut, dann mußt du wissen,
daß auch die Unschuld Weisheit ist,
139
und zwar eine viel größere
Weisheit als die niedrige, gefährliche Erfahrung des Sünders. Wo die heilige
Unkenntnis des Bösen der Fähigkeit, sich selbst und andere zu führen, Grenzen
setzen würde, schaltet sich die Hilfe der Engel ein, die niemals dem Herz des
Reinen ferne sind. Glaube mir, daß die Engel, die selbst vollkommen rein sind,
ebenfalls zwischen Gut und Böse zu unterscheiden wissen und den Reinen auf den
rechten Weg führen und zum Guten anleiten. Die Sünde ist keine Vermehrung der
Weisheit, sie ist weder Licht noch Führung, sondern Verderben, Verblendung;
sie ist Chaos, so daß, wer sie ernstlich begangen hat, ihren Geschmack kennt,
jedoch auch die Fähigkeit verliert, viele geistige Dinge zu verstehen. Der
Sünder hat keinen Engel Gottes mehr zur Seite, keinen Geist der Ordnung und
der Liebe, der ihn leitet, sondern einen Engel Satans, der ihn zu immer
größerer Unordnung treibt durch den unersättlichen Haß, der diese teuflischen
Geister verzehrt.»
«Höre, Meister! Wenn nun einer
wieder einen Engel als Führer haben will, genügt dann die Reue, oder wirkt das
Gift der Sünden weiter, auch nachdem er bereut hat und ihm vergeben worden
ist... Weißt du, wenn einer, der sich zum Beispiel dem Weine ergeben hat, auch
aufrichtig schwört, daß er sich nie mehr betrinken wird, so verspürt er doch
immer wieder den Drang zu trinken und leidet darunter...»
«Gewiß leidet er, und gerade
deswegen sollte man nie zum Sklaven von etwas Schlechtem werden. Aber leiden
ist nicht Sünde, sondern Sühne, so wie ein reumütiger Trinker nicht sündigt,
sondern Verdienste sammelt, wenn er dem Verlangen nach Wein heroisch
widersteht, so sammelt auch derjenige Verdienste, der gesündigt hat, bereut
und jeder Versuchung widersteht. Ihm wird es nicht an übernatürlicher Hilfe
fehlen. Versucht zu werden ist noch keine Sünde, nein, es ist vielmehr eine
Schlacht, die zum Sieg führt. Glaube mir, Gott hat nur das Verlangen, dem, der
gefehlt hat, aber dann bereut, zu verzeihen und zu helfen...»
Judas schweigt eine Weile, dann
ergreift er die Hand Jesu und küßt sie mit den Worten: «Aber gestern abend
habe ich das Maß überschritten und dich beschimpft, Meister... Ich habe
gesagt, daß ich dich schließlich hassen werde... Wie viele Flüche habe ich
ausgesprochen! Kann mir dies je verziehen werden?»
«Die größte Sünde ist, an der
Barmherzigkeit Gottes zu zweifeln... Judas, und ich habe es schon gesagt:
"Jede Sünde gegen den Menschensohn wird verziehen werden." Der Menschensohn
ist gekommen, den Menschen zu verzeihen, sie zu retten, zu heilen, und sie zum
Himmel zu führen. Warum willst du den Himmel verlieren? Judas! Judas! Judas!
Schau mich an! Wasche deine Seele in der Liebe, die aus meinen Augen strahlt
...»
«Aber errege ich keinen Abscheu
in dir?»
«Ja... Aber die Liebe ist stärker
als der Abscheu. Judas, armer
140
Aussätziger, größter Aussätziger
Israels, komm und flehe den um das Heil an, der es dir geben kann...»
«Gib es mir, Meister!»
«Nein, in diesem Zustand nicht,
denn ich sehe in dir keine wahre Reue und keinen festen Willen, nur einen Rest
von Liebe zu mir, die dir aus vergangener Berufung eigen ist. Ich sehe ein
Hin- und Herschwanken in deiner Reue, die nur menschlich ist. All das ist
nicht schlecht, nein, es ist sogar der erste Schritt zum Guten. Pflege,
vermehre, veredle sie mit Übernatürlichem, mache daraus eine wahre Liebe zu
mir, eine wahre Rückkehr zu dem, was du warst, als du zu mir kamst; wenigstens
das, wenigstens das! Mache daraus nicht den vorübergehenden Herzschlag einer
unwirksamen Sentimentalität, sondern ein wahres Gefühl tatkräftiger Neigung
zum Gutem. Judas, ich warte, und ich kann warten. Ich bete. Ich bin es, der in
dieser Erwartung deinen angewiderten Engel ersetzt. Meine Barmherzigkeit,
meine Geduld und meine Liebe, die in ihrer Vollkommenheit jene der Engel
übertreffen, vermögen helfend an deiner Seite zu bleiben, trotz der
abstoßenden Fäulnis, die in deinem Herzen gärt!»
Judas ist nicht nur nach außen
hin, sondern innerlich erschüttert. Bleich, mit zitternden Lippen und einer
durch das, was ihn bewegt, unsicher gewordenen Stimme, fragt er: «Aber weißt
du denn wirklich, was ich getan habe?»
«Alles, Judas! Willst du, daß ich
es dir sage oder ziehst du es vor, daß ich dir diese Demütigung erspare?»
«Aber... ich kann es nicht
glauben... das ist es...»
«Gehen wir also die Ereignisse
zurückschauend durch und sagen wir dem Ungläubigen die Wahrheit. Du hast heute
morgen schon mehrmals gelogen, sowohl wegen des Geldes, als auch darüber, wie
du die vergangene Nacht verbracht hast. Du hast gestern abend versucht, durch
die Wollust alle deine anderen Gefühle, allen Haß und alle Gewissensbisse zu
verdrängen. Du ...»
«Genug! Genug! Bitte, sprich
nicht weiter, oder ich werde vor deinem Antlitz fliehen.»
«Du müßtest hingegen meine Knie
umfassen und um Verzeihung bitten.»
«Ja, ja. Verzeihung! Verzeihung,
mein Meister! Verzeihung! Hilf mir! Hilf mir! Es ist stärker als ich! Alles
ist stärker als ich.»
«Alles, außer der Liebe, die du
für Jesus haben solltest... Aber komm hierher, damit ich deine Versuchung
besiege und dich davon befreie.» Er nimmt ihn in seine Arme, und stille Tränen
fließen auf das dunkle Haupt des Judas.
Die anderen, einige Meter hinter
ihnen, sind vorsichtigerweise stehengeblieben und bemerken:
«Seht ihr? Vielleicht tut es
Judas wirklich leid.»
141
«Also hat er heute morgen dem
Meister sein Herz ausgeschüttet.»
«Der Dummkopf! Ich hätte es
sofort getan.»
«Es wird sich wohl um peinliche
Dinge handeln.»
«Oh, sicher nicht um das
schlechte Betragen seiner Mutter! Sie ist eine rechtschaffene Frau! Was gäbe
es sonst noch Peinliches?»
«Vielleicht schlechte
Geschäfte...»
«Aber nein! Er spendet Almosen
und erweist den Armen reichlich Wohltaten.»
«Gut, das sind seine
Angelegenheiten. Hauptsache, daß er mit dem Meister auskommt, und es scheint,
daß es so ist. Sie sprechen schon seit einiger Zeit friedlich miteinander, und
jetzt umarmen sie sich... Sehr gut!»
«Ja, da er fähig ist und viele
Beziehungen hat, ist es gut, wenn wir uns miteinander vertragen und er uns,
und besonders dem Meister gegenüber, guten Willen zeigt.»
«Jesus hat in Hebron gesagt, daß
die Gräber der Gerechten Orte des Wunders sind, oder ähnliches... und in
dieser Gegend gibt es viele. Vielleicht haben die von Meiron ein Wunder
gewirkt und Judas von seiner Verwirrung befreit.»
«Oh! So wird er dann am Grabe
Hillels ein Heiliger werden. Ist das dort nicht Gischala?»
«Ja, Bartholomäus.»
«Aber voriges Jahr sind wir hier
nicht vorbeigekommen.»
«Gewiß, denn damals kamen wir von
der anderen Seite!»
Jesus wendet sich und ruft sie.
Sie eilen freudig herbei.
«Kommt, die Stadt ist in Sicht.
Wir müssen sie durchqueren, um zur Grabstätte Hillels zu gelangen, und wollen
es in einer geschlossenen Gruppe tun», sagt Jesus ohne weitere Erklärung,
während die Elf ihn und Judas neugierig und verstohlen betrachten. Wenn auch
Judas ein beruhigtes und demütiges Gesicht zeigt, hat doch Jesus kein
strahlendes Antlitz, es ist feierlich, aber ernst.
Sie betreten Gischala, das
ausgedehnt, schön und gut gepflegt ist. Ein blühendes rabbinisches Zentrum muß
hier seinen Sitz haben, denn ich sehe viele Gruppen von Gelehrten umringt von
Schülern, die ihren Vorträgen zuhören. Das Vorübergehen der Apostel und
besonders des Meisters fällt auf, und viele schließen sich ihrer Gruppe an.
Einige grinsen, andere rufen Judas von Kerioth. Aber er ist an der Seite des
Meisters und dreht sich nicht einmal um. Sie verlassen die Stadt und gehen zu
dem Hause, in dessen Nähe das Grab Hillels liegt.
«Welch eine Unverschämtheit!»
«Er ist unvorsichtig und
unverschämt!»
«Er fordert uns heraus!»
«Schänder!»
142
«Sag es ihm, Uriel!»
«Ich will mich nicht
verunreinigen. Sag du es ihm, Saulus, der du nur ein Schüler bist.»
«Nein. Wir wollen es Judas sagen.
Geh und rufe ihn herbei!»
Der mit Saulus angesprochene
Jüngling, ein schmächtiger, bleicher Bursche, nur Augen und Mund, geht zu
Judas und sagt zu ihm: «Komm. Die Rabbis wollen dich sehen.»
«Ich komme nicht. Ich bleibe, wo
ich bin. Laßt mich in Ruhe.»
Der Jüngling kehrt um und richtet
seinen Vorgesetzten die Antwort des Judas aus.
Inzwischen betet Jesus im Kreise
der Seinen ehrfurchtsvoll beim schneeweiß gekalkten Grabe Hillels.
Die Rabbis kommen langsam näher,
geräuschlos wie Schlangen, und beobachten. Zwei bärtige Alte ziehen Judas am
Gewand, der in seiner Gebetsstellung nicht mehr von den anderen Kameraden
geschützt wird.
«Was wollt ihr denn eigentlich?»
fragt er leise, aber gereizt. «Nicht einmal beten kann man!»
«Nur ein Wort! Dann lassen wir
dich in Frieden.»
Simon der Zelote und Thaddäus
drehen sich um und bringen die Störenfriede zum Schweigen. Judas entfernt sich
zwei oder drei Schritte und fragt: «Was wollt ihr?»
Ich kann nicht hören, was ihm der
Alte ins Ohr flüstert. Aber ich sehe die Bewegung des Judas, der plötzlich zur
Seite springt und sagt: «Nein. Laßt mich in Ruhe, ihr giftigen Seelen. Ich
kenne euch nicht und will euch nicht mehr kennen!»
Ein verächtliches Gelächter
erschallt in der rabbinischen Gruppe, und eine Drohung: «Paß auf, was du tust,
du törichter Junge!»
«Hütet ihr euch! Weg von hier!
Geht nur und sagt es den anderen. Allen anderen, habt ihr verstanden? Wendet
euch an wen ihr wollt, aber nicht an mich, Teufel, die ihr seid», und er läßt
sie stehen.
Er hat so laut gesprochen, daß
die Apostel sich erstaunt umgedreht haben, nur Jesus nicht, und zwar nicht
einmal bei dem höhnischen Gelächter und dem Versprechen: «Wir werden uns
wiedersehen, Judas des Simon! Wir werden uns wiedersehen!», das in der Stille
des Ortes widerhallt. Judas kehrt an seinen Platz zurück, schiebt Andreas zur
Seite, der sich neben Jesus gestellt hat, und nimmt, wie zum Schutz und zur
Verteidigung, einen Zipfel des Gewandes Jesu in seine Hände.
Der Zorn wird nun an Jesus
ausgelassen. Sie drängen sich vor, drohen und schreien: «Was tust du hier, du
von Israel Verfluchter? Fort mit dir! Bringe die Gebeine des Gerechten nicht
zum Schaudern, du, der du nicht würdig bist, dich ihm zu nähern. Wir werden es
Gamaliel berichten und dich bestrafen lassen.»
Jesus wendet sich um und schaut
sie einen nach dem anderen an.
143
«Warum schaust du uns so an, du
Besessener?»
«Um eure Gesichter und eure
Herzen gut zu erforschen, denn nicht nur mein Apostel, sondern auch ich werde
euch wiedersehen. Ich möchte euch gut kennengelernt haben, um euch sogleich
gut wiederzuerkennen.»
«Gut. Nun hast du uns gesehen,
geh jetzt fort. Wenn Gamaliel hier wäre, würde er es nicht erlauben.»
«Im vergangenen Jahr war ich mit
ihm zusammen hier...»
«Das ist nicht wahr, du Lügner!»
«Fragt ihn, er ist ehrlich und
wird es euch bestätigen. Ich liebe und verehre Hillel, und ich achte und ehre
Gamaliel. Sie sind zwei Menschen, in denen sich der Ursprung des Menschen
offenbart durch ihre Gerechtigkeit und Weisheit, welche daran erinnern, daß
der Mensch nach dem Ebenbilde Gottes erschaffen wurde.»
«In uns nicht, he?» unterbrechen
ihn die Erbosten.
«In euch ist dies durch
Interessen und Haß getrübt.»
«Hört ihn! Im fremden Haus redet
und beleidigt er auf solche Weise. Fort mit dir! Fort von hier, du Verderber
der Gerechten Israels! Oder wir werden zu Steinen greifen. Hier ist nicht Rom,
um dich zu beschützen, der du mit den heidnischen Feinden liebäugelst ...»
«Warum haßt ihr mich? Warum
verfolgt ihr mich? Was habe ich euch angetan? Alle habe ich stets geachtet,
und einigen unter euch habe ich sogar Wohltaten erwiesen. Warum seid ihr so
grausam zu mir?» Jesus, demütig, sanft, betrübt und liebevoll, fleht sie an,
ihn zu lieben.
Man deutet diese Worte als
Zeichen der Furcht und Schwäche und bedrängt ihn. Der erste Stein fliegt und
streift Jakobus des Zebedäus. Dieser will rasch zurückschlagen und den Stein
auf die Angreifer schleudern, während sich alle um Jesus scharen. Aber sie
sind zu zwölft gegen etwa hundert. Ein anderer Stein trifft die Hand Jesu, der
den Seinen gerade befiehlt, sich nicht zu wehren. Der Handrücken blutet, und
es scheint als wäre er bereits vom Nagel durchbohrt...
Jetzt bittet Jesus nicht mehr; er
richtet sich mit seiner eindrucksvollen Gestalt auf und schaut sie mit
blitzenden Augen an. Aber ein weiterer Stein bringt die Schläfe Jakobus des
Alphäus zum Bluten. Jesus muß jegliches weitere Vorgehen durch seine Macht
lähmen, um seine Apostel zu verteidigen, die gehorsam und widerstandslos die
Steinwürfe über sich ergehen lassen.
Als die Niederträchtigen vom
Willen Jesu beherrscht sind, sagt er -und er ist von einer erschreckenden
Majestät – mit donnernder Stimme: «Ich gehe fort! Aber wißt, daß Hillel euch
für diese eure Tat verflucht hätte. Ich gehe fort. Aber vergeßt nicht, daß
nicht einmal das Rote Meer die Israeliten auf dem Weg, den Gott ihnen
vorgezeichnet hatte, aufhalten konnte. Alles ebnete sich und bereitete dem
Willen Gottes Weg und Durchgang, und das gilt auch für mich. Wie damals
Ägypter und Philister,
144
Amoniter und Kananiter, und alle
anderen Völker den Triumphzug Israels nicht aufhalten konnten, so werdet auch
ihr, die ihr noch schlimmer seid als jene, mich in meiner Mission nicht
aufhalten können. Vergeßt nicht, daß am Brunnen des von Gott geschenkten
Wassers gesungen wurde: "Spring auf, Brunnen! Spring auf! Du Brunnen, von
Fürsten gegraben, gebohrt von den Edlen des Volkes mit dem Zepter, mit ihren
Stäben!" Ich bin jener Brunnen, der Brunnen von den Himmeln, gebohrt durch
alle Gebete und gerechten Werke der wahren Fürsten und Edlen des heiligen
Volkes, das ihr nicht seid! Nein, ihr seid es nicht! Euretwegen wäre der
Messias nicht gekommen, denn ihr verdient es nicht, und seine Ankunft ist euer
Verderben. Der Allerhöchste kennt alle Gedanken der Menschen, er kannte sie
seit aller Ewigkeit, schon bevor Kain war, von dem ihr abstammt, und Abel, dem
ich ähnlich bin, schon bevor Noe, mein Sinnbild, war; schon bevor Moses war,
der als erster mein Zeichen annahm, schon bevor Bileam war, der den Stern
voraussagte, und Isaias und alle Propheten. Gott kennt eure Gedanken und
erschaudert, und ist stets darüber erschaudert, so wie er immer über die
Gerechten gejubelt hat, um deretwillen er mich gerechterweise gesandt hat, und
die mich wahrlich aus der Tiefe der Himmel angezogen haben, auf daß ich den
Durst der Menschheit mit lebendigem Wasser stille. Ich bin die Quelle des
ewigen Lebens, aber da ihr euch an ihr nicht laben wollt, werdet ihr sterben.»
Langsam schreitet er zwischen den
gelähmten Rabbis und ihren Schülern hindurch und setzt geruhsam und feierlich
seinen Weg fort, im staunenden Schweigen der Menschen und Dinge.
386. DER AN DER PHÖNIZISCHEN
GRENZE GEHEILTE TAUBSTUMME
Ich weiß nicht, wo die Pilger
übernachtet haben, ich sehe nur, daß es wieder Morgen ist und sie in bergigen
Gegenden unterwegs sind, daß Jesus die Hand verbunden hat und Jakobus des
Zebedäus einen Verband an der Stirne trägt, während Andreas stark hinkt und
Jakobus des Zebedäus ohne Reisetasche ist, da sein Bruder Johannes sie ihm
abgenommen hat.
Zweimal hat Jesus schon gefragt:
«Kannst du noch gehen, Andreas?»
«Ja, Meister. Es geht schlecht
wegen der Binden; aber der Schmerz ist nicht stark.»
Beim zweiten Mal fügt er hinzu:
«Und deine Hand, Meister?»
«Eine Hand ist kein Fuß, sie ruht
aus und schmerzt wenig.»
«Hin! Wenig, das glaube ich
nicht. Sie ist so angeschwollen und aufgerissen bis zum Knochen... Das Öl tut
gut. Aber vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir uns etwas von der Salbe
deiner Mutter von...»
145
«Von meiner Mutter hätten geben
lassen. Du hast recht», sagt Jesus rasch, der ahnt, daß etwas über die Lippen
von Petrus kommen will. Petrus errötet verwirrt und schaut Jesus mit einem so
traurigen Blick an, daß dieser darüber lächelt und ausgerechnet die verletzte
Hand auf die Schulter von Petrus legt, um ihn an sich zu ziehen.
«Es wird dich schmerzen, die Hand
so zu halten.»
«Nein, Simon, du hast mich lieb,
und deine Liebe ist heilsames Öl.»
«Oh, dann müßte deine Hand schon
längst geheilt sein! Wir alle haben darunter gelitten, dich so behandelt zu
sehen, und mancher hat auch geweint.» Petrus blickt auf Johannes und Andreas.
«Öl und Wasser sind gute
Heilmittel, aber Tränen der Liebe und des Mitleids sind stärker als alles
andere. Und seht ihr? Ich bin viel glücklicher als gestern, denn heute weiß
ich, wie gehorsam und wie liebevoll ihr mir gegenüber seid. Ihr alle!» Jesus
betrachtet sie mit seinem sanften Blick, in dessen gewohnter Traurigkeit heute
morgen ein schwacher Schein von Freude aufleuchtet.
«Welche Hyänen! Nie habe ich
einen solche Haß erlebt!» sagt Judas des Alphäus. «Das müssen alles Judäer
gewesen sein.»
«Nein, Bruder. Er liegt nicht an
der Gegend, Haß ist überall Haß. Erinnerst du dich nicht, daß man mich in
Nazareth schon vor Monaten verjagt hat und Steine nach mir werfen wollte?»
sagt Jesus ruhig, und seine Worte sollen alle trösten, die aus Judäa sind,
nach der Bemerkung von Thaddäus.
Ja, sie sind so tröstlich, daß
Judas Iskariot sagt: «Aber das werde ich sagen! Oh, und ob ich es sagen werde!
Wir haben nichts Böses getan, nicht zurückgeschlagen, und Jesus hat am Anfang
voller Liebe gesprochen. Mit Steinen haben sie nach uns geworfen, wie nach
Schlangen. Das werde ich sagen!»
«Wem denn, wenn alle gegen uns
sind?»
«Ich weiß, wem. Sobald ich
Stephanus und Hermas sehe, werde ich es erst einmal ihnen berichten, und somit
wird es Gamaliel unverzüglich erfahren. Dann am Passahfest werde ich es denen
sagen, die ich im Sinn habe. Ich werde ihnen sagen: "Es ist nicht recht, so zu
handeln, und in eurer Wut habt ihr gegen das Gesetz verstoßen. Ihr seid
schuldig, und nicht er."»
«Du würdest besser tun, dich
diesen Herren nicht zu sehr zu nähern! ... Mir scheint, daß auch du in ihren
Augen schuldig bist», rät Philippus vorsichtig.
«Es ist wahr. Am besten ist es,
wenn ich überhaupt nicht mehr mit ihnen zusammenkomme. Ja, das ist am besten.
Stephanus jedoch werde ich es erzählen, denn er ist gut und nicht gehässig...»
«Laß das, Judas! Du würdest
nichts zum Besseren wenden können. Ich habe verziehen. Denken wir nicht mehr
daran», sagt Jesus ruhig und überzeugend.
146
Zweimal, als sie zu einem
Bächlein kommen, befeuchten sowohl Andreas als auch die beiden Jakobus die
Binden, die sie um ihre Wunden traben. Jesus verzichtet darauf. Er geht ruhig
weiter, als ob er keine Schmerzen hätte.
Trotzdem muß er starke Schmerzen
haben, denn als sie zum Essen haltmachen, muß er Andreas bitten, das Brot zu
brechen, und als sich die Riemen einer seiner Sandalen lösen, bittet er
Matthäus, sie ihm wieder zu schnüren... Beim Abstieg auf einer steilen
Abkürzung stößt er gegen einen Baumstumpf, weil sein Fuß ausgeglitten ist, und
kann einen Klagelaut nicht unterdrücken. Der Verband rötet sich erneut, so daß
sie beim ersten Hause eines Dorfes, in dem sie gegen Abend rasten, Wasser und
Öl erbitten, um die Hand zu behandeln und neu zu verbinden; die rote Wunde in
der Mitte ist stark angeschwollen und bläulich geworden.
Während sie darauf warten, daß
die Frau des Hauses Wasser und Öl bringt, neigen sich alle über die verletzte
Hand Jesu und sprechen ihr Bedauern aus. Johannes jedoch entfernt sich ein
wenig, um seine Tränen zu verbergen. Jesus ruft ihn zu sich: «Komm nur her, es
ist nicht schlimm. Weine nicht!»
«Ich weiß es, denn wenn ich die
Wunde hätte, würde ich nicht weinen; aber du hast sie und sagst uns nicht, wie
weh dir diese liebe Hand tut, die keinem Menschen Leid zugefügt hat»,
antwortet Johannes, dem Jesus seine blutende Hand überlassen hat. Er
streichelt sie zärtlich an den Fingerspitzen, am Puls, rings um die Wunde, und
wendet sie dann liebevoll, um die Handfläche zu küssen und seine Wange darauf
zu legen, und sagt: «Sie ist heiß! ... Wie sehr muß dich die Wunde schmerzen»,
und Tränen des Mitleids fallen auf sie.
Die Frau bringt Wasser und Öl.
Johannes trocknet mit einem Linnen das Blut auf, das die Hand bedeckt, und
läßt vorsichtig das lauwarme Wasser auf die Wunde rinnen; dann salbt er sie,
verbindet sie mit sauberen Binden und drückt zuletzt einen Kuß auf den
Verband. Jesus legt ihm die andere Hand auf das geneigte Haupt.
Die Frau fragt: «Ist er dein
Bruder?»
«Nein, er ist mein Meister. Unser
Meister!»
«Woher kommt ihr denn?» fragt sie
die anderen.
«Vom Galiläischen Meer.»
«Von so weit her, und warum?»
«Um das Heil zu verkünden.»
«Es ist bald Abend. Bleibt in
meinem Haus. Es ist ein Haus armer, aber redlicher Menschen. Sobald meine
Kinder mit den Schafen zurückkommen, kann ich euch Milch geben, und mein Mann
wird euch gerne aufnehmen.»
«Danke, Frau! Wenn der Meister
einverstanden ist, werden wir hierbleiben.»
147
Die Frau kehrt zu ihrer Arbeit
zurück, während die Apostel Jesus fragen, was sie tun sollen.
«Ja, es ist in Ordnung. Morgen
werden wir nach Kedes gehen und dann nach Paneas. Ich habe darüber
nachgedacht, Bartholomäus. Du hast mir einen guten Rat gegeben, und es ist
besser, daß wir es so machen, wie, du sagst. Ich hoffe so noch andere Jünger
zu finden, die ich dann nach Kapharnaum vorausschicken werde. Ich weiß, daß
einige in Kedes gewesen sind, und unter ihnen die Hirten vom Libanon.»
«Die Frau läßt fragen, ob wir
ihre Einladung annehmen?»
«Ja, gute Frau, wir bleiben heute
Nacht hier.»
«Das Abendessen? Oh, nehmt es an,
es macht mir keine Mühe. Außerdem haben uns einige Jünger von Jesus aus
Galiläa, der der Messias genannt wird, viele Wunder wirkt und das Reich Gottes
predigt, gelehrt, barmherzig zu sein. Zu uns ist Jesus noch nie gekommen,
vielleicht weil wir an der syrisch-phönizischen Grenze leben. Aber seine
Jünger waren da, und das ist schon viel! Zum Passahfest wollen wir alle aus
dem Dorf nach Judäa gehen, um zu sehen, ob wir diesen Jesus finden, denn wir
haben Kranke hier. Die Jünger haben wohl einige von ihnen geheilt, andere aber
nicht, und unter ihnen ist ein junger Sohn des Bruders der Frau meines
Schwagers.»
«Was hat er denn?» fragt Jesus
lächelnd.
«Er kann weder sprechen noch
hören. Er ist taubstumm zur Welt gekommen. Vielleicht hat sich ein Dämon in
den Schoß der Mutter eingeschlichen, um sie zur Verzweiflung zu bringen und zu
quälen. Aber der Sohn ist gut, und es scheint nicht, daß er besessen ist. Die
Jünger haben gesagt, daß nur Jesus von Nazareth ihm helfen kann, da es sich um
einen besonderen Fall handelt, und nur dieser Jesus von Nazareth... Oh, da
kommen meine Söhne und mein Mann! Melchias, ich habe diese Pilger im Namen des
Herrn aufgenommen und erzählte ihnen gerade von Levi... Sara, geh rasch Milch
melken, und du, Samuel, geh zur Grotte hinunter, um Öl und Wein zu holen, und
bringe auch Äpfel vom Dachboden. Beeile dich, Sara, wir müssen noch die Betten
in den oberen Räumen vorbereiten.»
«Mühe dich nicht ab, Frau. Wir
sind mit allem zufrieden und fühlen uns überall wohl. Könnte ich den Jungen
sehen, von dem du gesprochen hast?»
«Ja... Aber... O Herr! Bist du
vielleicht selbst der Nazarener?»
«Ich bin es!»
Die Frau fällt auf die Knie und
ruft aus: «Melchias, Sara, Samuel! Kommt und huldigt dem Messias! Welch ein
Tag! Welch ein Tag! Und ich darf ihn in meinem Haus aufnehmen und habe so
einfach mit ihm gesprochen! Ich habe ihm Wasser für seine Wunde gebracht. Oh!
...» und ihr bleibt vor Erregung der Atem weg. Dann aber eilt sie zum
Waschbecken
148
und sieht, daß es leer ist.
«Warum habt ihr das Wasser weggeschüttet! Es war heilig! O Melchias! Der
Messias ist bei uns!»
«Ja. Aber beruhige dich Frau, und
sage es niemandem. Geh vielmehr den Taubstummen holen und bringe ihn zu mir!»
sagt Jesus lächelnd...
... Bald kehrt Melchias mit dem
jungen Taubstummen, seinen Verwandten und fast dem halben Dorf zurück. Die
Mutter des Unglücklichen betet und fleht Jesus an.
Jesus sagt: «Ja, dein Wunsch wird
in Erfüllung gehen», und nimmt den Taubstummen bei der Hand. Er zieht ihn aus
der dicht gedrängten Menge, welche die Apostel mit Rücksicht auf die verletzte
Hand Jesu zurückzuhalten versuchen. Jesus holt den Taubstummen zu sich heran,
steckt ihm die Zeigefinger in die Ohren und berührt mit der Zunge die
halbgeöffneten Lippen; dann erhebt er seine Augen zum Himmel, der schon dunkel
wird, haucht ins Gesicht des Taubstummen und ruft laut: «Öffnet euch!» Dann
läßt er ihn gehen.
Der Jüngling schaut Jesus einen
Augenblick an, während die Leute miteinander flüstern. Die Veränderung in
seinem Gesicht ist überraschend, denn vorher schien er apathisch und traurig,
während er jetzt erstaunt lächelt, seine Hände zu den Ohren führt,
daraufdrückt und sie dann wieder wegnimmt. Er überzeugt sich, daß er
tatsächlich hören kann, er öffnet den Mund und spricht: «Mama, ich höre! O
Herr, ich bete dich an!»
Die Menge ist wie immer
begeistert, umso mehr, als man sich fragt: «Wie ist es nur möglich, daß er
schon sprechen kann, da er von Geburt an nie ein Wort gehört hat? Ein Wunder
im Wunder! Er hat ihm die Stimme gegeben, die Ohren geöffnet und ihn zugleich
sprechen gelehrt. Es lebe Jesus von Nazareth! Hosanna dem Heiligen, dem
Messias!»
Man drängt sich um ihn, während
er seine verletzte Hand zum Segen erhebt. Einige Leute waschen sich auf
Anweisung der Hausfrau Gesicht und Glieder mit den restlichen Tropfen im
Becken.
Jesus sieht es und ruft aus: «Um
eures Glaubens willen, seid alle geheilt. Geht in eure Häuser, seit gut und
redlich. Glaubt an das Wort der Frohbotschaft und bewahrt für euch, was
geschehen ist, bis die Stunde kommt, um es auf den Plätzen und Straßen der
Welt zu verkünden. Mein Friede sei mit euch!»
Hierauf betritt er die geräumige
Küche, in der ein Feuer brennt und die durch die Flammen zweier Lampen erhellt
wird.
149
387. JESUS IN KEDES
Die Stadt Kedes liegt auf einem
kleinen Berg, etwas abseits, im Osten einer langen Gebirgskette, die sich von
Norden nach Süden hinzieht, während im Westen eine Hügelkette fast parallel
dazu verläuft. Es sind zwei parallel verlaufende Linien, die sich in der Mitte
einander etwas nähern und so fast ein X bilden. Gerade dort, wo sich die
beiden Ketten am nächsten sind, erhebt sich der Berg, an dessen Hängen Kedes
liegt, das sich von der Höhe nach allen Seiten hin ausbreitet und das frische,
grüne Talgelände beherrscht, das im Osten enger ist als im Westen.
Es ist eine prächtige, von Mauern
umgebene Stadt mit schönen Häusern und einer mächtigen Synagoge, sowie einem
stattlichen Brunnen mit vielen Abflüssen, von denen sich kühles Wasser
reichlich in ein darunterliegendes Becken ergießt, um es dann wieder in
kleinen Bächlein zu verlassen, die dazu bestimmt sind, andere Brunnen zu
speisen oder vielleicht Gärten zu bewässern, ich weiß es nicht.
Jesus betritt die Stadt an einem
Markttage. Seine Hand ist nicht mehr verbunden, aber es ist noch eine braune
Kruste und ein großer blauer Fleck auf dem Handrücken. Auch Jakobus des
Alphäus hat eine kleine rotbraune Kruste an der Schläfe und rundherum einen
großen blauen Fleck. Andreas und Jakobus des Zebedäus, weniger stark verletzt,
zeigen keine Anzeichen des erlebten Abenteuers mehr und schreiten rasch
einher. Sie spähen nach vorn und besonders nach allen Seiten, denn sie haben
sich vor und hinter Jesus gruppiert. Nach dem, was ich ihren Gesprächen
entnehme, habe ich den Eindruck, daß sie sich zwei oder drei Tage in dem
gestern beschriebenen Ort oder in dessen Nähe aufgehalten haben, um einen
gewissen Abstand zwischen sich und die Rabbis zu legen, da sie befürchten, daß
sich diese in die größeren Städte begeben haben in der Hoffnung, sie in eine
Falle locken und ihnen noch mehr schaden zu können.
«Aber diese Stadt ist ein
Zufluchtsort!» sagt Andreas.
«Glaubst du, daß gerade sie einen
Zufluchtsort und die Heiligkeit eines Ortes achten? Wie bist du doch naiv,
Bruder!» antwortet ihm Petrus.
Jesus geht zwischen den beiden
Judas. Vor ihm sind Jakobus und Johannes als Vortrupp, dann der andere
Jakobus, Philippus und Matthäus, und hinter ihm Petrus, Andreas und Thomas.
Zuletzt kommen Simon der Zelote und Bartholomäus.
Alles geht gut, bis sie auf einem
schönen Platz mit einem Brunnen ankommen, an dem die Synagoge steht und auf
dem die Leute geschäftig miteinander verhandeln. Der Marktplatz liegt weiter
unten, gegen Südwesten, dort, wo die Hauptstraße, die von Süden kommt, und die
andere, auf der Jesus von Westen her gekommen ist, im rechten Winkel
aufeinanderstoßen und dann zu einer einzigen Straße werden, die durch das Tor
150
führt, bis sie sich zu einem
großen, länglichen Platz erweitert, auf dem Esel, Strohmatten, Käufer und
Verkäufer sind und der übliche Lärm herrscht...
Doch als Jesus und die Seinen den
anderen, schöneren Platz erreicht haben – der das Herz der Stadt zu sein
scheint, nicht so sehr, weil er genau im Zentrum liegt, sondern weil hier das
geistige Leben und der Handel von Kedes pulsiert; das scheint auch seine
erhöhte Lage im Ort anzuzeigen, von wo aus man alles überblickt und wodurch er
wie eine Burg verteidigt werden kann – beginnen die Schwierigkeiten. Wie
knurrende Hunde, bereit, sich auf ein wehrloses, schwaches Tier zu stürzen,
oder eher wie Spürhunde, die das Wild wittern, wartet eine zahlreiche Gruppe
von Pharisäern und Sadduzäern vor dem großen, mit schönen Skulpturen
verzierten Portal der Synagoge. Unter diese haben sich, sozusagen als Gewürz,
Rabbis, unter ihnen auch Uriel, gemischt, die ich schon in Gischala gesehen
habe. Sogleich sprechen sie miteinander über Jesus und die Apostel.
«O weh, Herr! Sie sind auch
hier!» sagt Johannes bestürzt und wendet sich um, um mit Jesus zu sprechen.
«Fürchte dich nicht! Geh ruhig
weiter. Die, die nicht mit diesen Unglücklichen zusammentreffen wollen, sollen
sich in die Herberge zurückziehen. Ich will unbedingt in dieser antiken Stadt
der Leviten und Zufluchtsstätte sprechen.»
Alle protestieren: «Meister,
kannst du dir vorstellen, daß wir dich alleinlassen? Sie sollen uns alle
umbringen, wenn sie wollen, aber wir werden dein Los teilen.»
Jesus schreitet an der
feindlichen Gruppe vorüber und begibt sich zu einer Gartenmauer, über die
weiße Blütenblätter von einem Birnbaum herabregnen. Die dunkle Mauer und die
weiße Wolke bilden Hintergrund und Krone für Christus, der seine Zwölf vor
sich stehen hat.
Jesus beginnt zu reden, und seine
schöne, wohlklingende Stimme erfüllt den Platz und läßt alle sich umwenden: «O
ihr, die ihr hier versammelt seid, kommt und vernehmt die Frohe Botschaft,
denn von größerem Nutzen als Handel und Geld ist der Erwerb des
Himmelreiches.»
«Oh! Das ist doch der Rabbi von
Galiläa!» sagt einer. «Kommt, wir gehen hin und hören ihm zu, und vielleicht
wirkt er gar ein Wunder.»
Wieder ein anderer sagt: «Ich
habe ihn in Bethginna ein Wunder wirken sehen. Und wie gut er spricht, nicht
wie die gierigen Sperber und hinterlistigen Schlangen dort!»
Jesus ist sogleich von einer
Menschenmenge umgeben und fährt fort, zu der aufmerksamen Volksmenge zu
sprechen.
«Im Herzen dieser Levitenstadt
will ich nicht an das Gesetz erinnern, denn ich weiß, daß es in euren Herzen
eingegraben ist, wie in wenigen anderen Städten Israels, und dies beweist auch
die Ordnung, die ich hier
151
beobachte, die Ehrlichkeit,
welche die Kaufleute an den Tag legen, von denen ich die Nahrungsmittel für
mich und meine kleine Herde gekauft habe. Auch diese Synagoge ist geschmückt,
wie es sich geziemt für Orte, an denen man Gott verehrt. Aber in eurem
Innersten ist noch ein weiterer Ort, an dem Gott ebenfalls verehrt wird, ein
Ort, an dem die heiligsten Sehnsüchte verborgen sind und die süßesten,
hoffnungsvollsten Worte unseres Glaubens und der innigsten Gebete widerhallen,
auf daß die Hoffnung Wirklichkeit werde: Es ist die Seele. Das ist der heilige
und einzigartige Ort, an dem man von Gott und mit Gott spricht in der
Erwartung, daß die Verheißung sich erfülle.
Nun hat sich die Verheißung
erfüllt: Israel hat seinen Messias, der euch das Wort und die Gewißheit
bringt, daß die Zeit der Gnade gekommen und die Erlösung nahe ist; daß der
Erlöser unter euch ist und das Reich, das keine Niederlagen kennt, seinen
Anfang nimmt.
Wie oft hat man euch Habakuk
vorgelesen! Die Nachdenklichsten unter euch werden dabei gemurrt haben: "Auch
ich kann sagen: Wie lange Herr, muß ich um Hilfe rufen, doch du hörst nicht?"
Seit Jahrhunderten seufzt Israel
so, doch nun ist der Erlöser gekommen. Der große Raub, der beständige Kummer,
die Unordnung und Ungerechtigkeit, die Satan verursacht hat, schwinden dahin,
denn der Gesandte Gottes verleiht dem Menschen wieder seine Würde als Kind
Gottes und Miterbe des Reiches Gottes. Laßt uns die Prophezeiungen des Habakuk
neu betrachten, und wir werden erkennen, daß er schon von mir Zeugnis gibt und
die Sprache der Frohen Botschaft spricht, die ich den Kindern Israels
verkünde.
Aber nun bin ich es, der seufzt:
"Das Urteil ist gefällt, doch der Widerspruch triumphiert", und ich seufze in
großer Pein. Nicht so sehr meinetwegen, der ich über dem menschlichen Urteil
stehe, als vielmehr über sie, die mit ihrer Widersetzlichkeit sich selbst
verurteilen, und über die, die von diesen Widerspenstigen verführt werden. Ihr
wundert euch über das, was ich sage? Unter euch sind Kaufleute aus anderen
Gegenden Israels. Sie können euch sagen, daß ich nicht lüge. Ich lüge nicht,
denn ich führe kein Leben, das im Gegensatz zu meiner Lehre und zu dem, was
man vom Erlöser erwartet, steht. Ich lüge nicht, wenn ich sage, daß sich der
menschliche Widerspruch erhebt gegen den Beschluß Gottes, der mich gesandt
hat, und gegen das Urteil der demütigen und aufrichtigen Scharen, die mich
gehört haben und als den erkennen, der ich bin!»
Einige in der Menge flüstern:
«Das ist wahr! Das ist wahr!Wir aus dem Volk wollen ihn und halten ihn für
heilig. Aber sie (und sie deuten auf die Pharisäer und ihre Freunde) bekämpfen
ihn!»
Jesus fährt fort: «Um dieser
Widersetzlichkeit willen ist das Gesetz verletzt worden, und immer mehr wird
es verletzt, bis es abgeschafft werden wird, um die größte Ungerechtigkeit zu
begehen, die nicht von langer
152
Dauer sein wird. Selig jene, die
während dieser kurzen und schrecklichen Zeitspanne, in der es den Anschein
hat, daß der Widersacher über mich triumphiert, ausharren im Glauben an Jesus
von Nazareth, den Sohn Gottes, den Menschensohn, der von den Propheten
vorausgesagt wurde. Ich könnte den Beschluß Gottes bis ins letzte erfüllen und
alle Söhne Israels retten. Aber es wird mir nicht gelingen, weil der Gottlose
gegen sich selbst, gegen sein eigenes, besseres Selbst triumphieren wird, und
so wie er meine Rechte und die meiner Gläubigen mit Füßen tritt, so wird er
auch die Rechte seines Herzens, das meiner bedarf, um gerettet zu werden, mit
Füßen treten und es Satan übergeben, nur um es mir zu verweigern.»
Die Pharisäer murren, doch ein
stattlicher Greis, der sich vor einer Weile in die Nähe Jesu begeben hat, sagt
nun während einer Redepause: «Ich bitte dich, geh in die Synagoge und lehre
dort, denn niemand hat ein größeres Recht dazu als du. Ich bin Matthias, der
Synagogenvorsteher. Komm, und das Wort Gottes sei in meinem Hause, wie du es
verkündigst!»
«Danke, Gerechter Israels. Der
Friede sei allezeit mit dir!»
Jesus bahnt sich ein Weg durch
die Menge, die sich wie eine Woge teilt, um ihn durchzulassen, und sich dann
hinter ihm wie ein Kielwasser wieder schließt und ihm folgt. So überquert er
den Platz und tritt in die Synagoge ein, wobei er wieder an den schimpfenden
Pharisäern vorbeikommt. Auch diese betreten die Synagoge und versuchen, sich
in arroganter Weise breitzumachen. Aber die Menge schaut sie böse an und sagt:
«Woher kommt ihr? Geht in eure Synagogen und wartet dort auf den Rabbi. Dies
hier ist unser Haus.» Die Rabbis, Sadduzäer und Pharisäer müssen diese Schmach
erdulden und demütig am Eingang stehenbleiben, um nicht von den Bewohnern von
Kedes vertrieben zu werden.
Jesus ist an seinem Platz beim
Synagogenvorsteher und anderen Synagogenmitgliedern, ich weiß nicht, ob es
Söhne oder Gehilfen sind. Er hebt wiederum zu reden an: «Habakuk sagt, und wie
liebevoll lädt er euch ein, aufzumerken: "Blickt auf die Völker und schaut,
staunt und erstarrt! Denn ich vollbringe ein Werk in euren Tagen, das ihr
nicht glauben würdet, wenn man es euch erzählte." Auch jetzt haben wir äußere
Feinde um Israel. Aber laßt uns diesen kleinen Teil der Prophetie übergehen
und nur die große, rein geistige Voraussage in ihr betrachten, denn die
Weissagungen beinhalten, auch wenn es scheint, daß sie sich nur auf äußere
Dinge beziehen, immer einen geistigen Hintergrund. Was sich ereignet hat -und
es ist so großartig, daß es niemand annehmen kann, der nicht von der
unendlichen Liebe des wahren Gottes überzeugt ist – besteht darin, daß er sein
Wort gesandt hat, um die Welt zu retten und zu erlösen. Gott trennt sich von
Gott, um das sündige Geschöpf zu retten, und dazu bin ich gesandt worden.
Keine Macht der Welt wird meinen Triumphzug über Könige und Tyrannen, über
Sünden und Torheiten aufhalten können, denn ich werde siegen, da ich der
Sieger bin.»
153
Ein höhnisches Gelächter und
Geschrei erschallt im Hintergrund der Synagoge. Die Leute protestieren, und
der Synagogenvorsteher, der mit geschlossenen Augen dasteht – so sehr ist er
vertieft, Jesus zuzuhören – richtet sich auf, gebietet den Störenfrieden zu
schweigen und droht ihnen, sie aus der Synagoge zu weisen.
«Laß sie nur machen. Vielmehr
lade sie ein, ihre Widersprüche vorzutragen», sagt Jesus mit lauter Stimme.
«Oh, gut! Das ist gut! Laß uns in
deine Nähe kommen, wir wollen dich ausfragen», schreien die Widersacher
spöttisch.
«Kommt. Laßt sie durch, ihr Leute
von Kedes!»
Die Menge läßt sie, von
feindlichen Blicken, Grimassen und einigen Schimpfworten begleitet, durch und
nach vorne kommen.
«Was wollt ihr wissen?» fragt
Jesus streng.
«Du sagst also, daß du der
Messias bist? Bist du dessen sicher?»
Jesus, der mit auf der Brust
verschränkten Armen vor dem Sprecher steht, sieht ihn mit so gebieterischen
Augen an, daß ihm die Ironie vergeht, und er verstummt.
Doch ein anderer ergreift das
Wort: «Du kannst nicht verlangen, daß man deinen Worten Glauben schenkt, denn
jedermann kann, auch ohne böse Absicht, etwas Falsches behaupten. Um glauben
zu können, braucht man Beweise, und nun beweise uns, daß du der bist, der du
zu sein vorgibst.»
«Israel ist voll von meinen
Beweisen», sagt Jesus entschieden.
«Oh... Kleinigkeiten, die jeder
Heilige zu tun vermag; all dies ist schon früher geschehen und wird auch in
Zukunft durch die Gerechten Israels bewirkt werden», sagt ein Pharisäer.
Ein anderer fügt hinzu: «Es ist
aber nicht gesagt, daß du diese Werke aus Heiligkeit und mit der Hilfe Gottes
vollbringst! Man sagt, und wahrlich, es klingt sehr glaubhaft, daß du vom
Teufel unterstützt wirst. Wir wollen andere Beweise, höhere, solche, die Satan
nicht geben kann.»
«Aber ja! Einen überwundenen
Tod...» sagt ein anderer.
«Ihr habt diese Beweise schon
erhalten!»
«Es hat sich dabei nur um
Scheintote gehandelt. Zeige uns zum Beispiel einen Verwesten, der sich belebt
und wieder aufsteht, damit wir sicher sein können, daß Gott mit dir ist: Gott,
der einzige, der dem Schlamm, der schon zum Staub zurückkehrt, Atem einhauchen
kann.»
«Das wurde nie von den Propheten
verlangt, damit man ihnen glaube!»
Ein Sadduzäer schreit: «Du bist
mehr als ein Prophet. Du bist – wenigstens behauptest du es – der Sohn
Gottes... Ha, ha, ha! Warum handelst du dann nicht wie ein Gott? Auf also! Gib
uns ein Zeichen! Ein Zeichen!»
«Jawohl, ein Zeichen des Himmels,
das dich als den Sohn Gottes bestätigt, und dann werden wir dir huldigen!»
ruft ein Pharisäer.
154
«Gewiß! Das hast du gut gesagt,
Simon! Wir wollen nicht in die Sünde des Aaron zurückfallen! Wir beten weder
Götzenbilder, noch ein goldenes Kalb an, aber das Lamm Gottes könnten wir
anbeten. Bist nicht du es? Dann möge der Himmel uns beweisen, daß du es bist»,
sagt jener mit Namen Uriel, der schon in Gischala war und jetzt sarkastisch
lacht.
Nun beginnt ein anderer zu
schreien: «Laß mich jetzt reden; ich bin Sadok, der große Schriftgelehrte.
Höre mir zu, Christus! Du hast zu viele Vorgänger gehabt, die nicht Christus
waren. Genug mit diesem Schwindel. Nur ein Zeichen wollen wir, daß du es bist,
und wenn Gott mit dir ist, kann er es dir nicht verweigern; und dann werden
wir an dich glauben und zu dir halten. Andernfalls weißt du ja, was dich,
gemäß den Geboten Gottes, erwartet.»
Jesus erhebt seine verletzte
Rechte und zeigt sie seinem Widersacher: «Siehst du dieses Zeichen? Du hast es
verursacht, und mit dem Zeigefinger auf ein anderes Wundmal hingewiesen; und
wenn du sehen wirst, daß es ins Fleisch des Lammes eingegraben ist, dann wirst
du frohlocken. Schau es an! Siehst du es? Du wirst es auch im Himmel sehen,
wenn du einst vor Gott erscheinen wirst und Rechenschaft über deinen
Lebenswandel ablegen mußt. Denn ich werde dich richten, ich, an dem das Mal
meiner Liebe und eures Hasses sichtbar sein wird, werde mit meinem
verherrlichten Leib dort sein. Auch du wirst es sehen, Uriel, und du, Simon,
und auch Annas und Kaiphas werden es sehen und viele andere, am letzten Tage,
am Tage des Zornes, am Tage des Schreckens; und ihr werdet es vorziehen, im
Abgrund zu sein, da das Zeichen an meiner Hand stärker brennen wird als die
Flammen der Hölle.»
«Oh, das sind gotteslästerliche
Worte! Du mit deinem Leib im Himmel? Du Gotteslästerer! Du Richter anstelle
Gottes! Fluch über dich, der du den Hohenpriester verspottest! Du verdienst,
gesteinigt zu werden», schreien die Pharisäer, Sadduzäer und Schriftgelehrten
im Chor.
Der Synagogenvorsteher erhebt
sich wieder, patriarchalisch, strahlend wie Moses mit seinem weißen Haar, und
ruft: «Kedes ist die Stadt der Zuflucht und die Stadt der Leviten. Achtet
es...»
«Alte Geschichten zählen nicht
mehr!»
«Oh, ihr gotteslästerlichen
Zungen! Ihr seid Sünder, nicht er, und ich verteidige ihn. Er sagt nichts
Böses. Er erklärt nur die Prophetenworte und bringt uns die verheißene
Botschaft, und ihr unterbrecht ihn, versucht ihn, beleidigt ihn. Das erlaube
ich nicht. Er ist hier unter dem Schutz des alten Matthias aus dem Stamme des
Levi väterlicherseits und des Aaron mütterlicherseits. Geht hinaus und laßt
ihn mein Alter und das Mannesalter meiner Söhne unterweisen», und er legt
seine runzlige Hand auf den Unterarm Jesu, wie um ihn zu verteidigen.
«Er soll uns doch ein wirkliches
Zeichen geben, und wir werden überzeugt weggehen», schreien die Feinde.
155
«Beunruhige dich nicht, Matthias.
Ich werde sprechen», sagt Jesus zum Synagogenvorsteher, und zu den Pharisäern,
Sadduzäern und Schriftgelehrten gewandt sagt er: «Wenn der Abend anbricht,
dann betrachtet ihr prüfend den Himmel, und wenn er sich beim Sonnenuntergang
rötet, sagt ihr nach altem Brauch: "Morgen wird es gutes Wetter geben, denn
der Sonnenuntergang rötet den Himmel." Ebenso sagt ihr beim Morgengrauen, wenn
sich die Sonne in der nebelschweren Luft nicht golden ankündigt, sondern
vielmehr den Himmel blutrot färbt: "Noch bevor der Tag zu Ende geht, wird es
ein Gewitter geben." Ihr könnt also den Verlauf des Tages voraussehen, indem
ihr die unsteten Zeichen am Himmel und die stets veränderlichen Winde
beobachtet, und es gelingt euch nicht, die Zeichen der Zeiten zu deuten? Dies
ehrt weder euren Geist noch eure Weisheit, sondern stellt eurem Geist und
eurer Weisheit ein schlechtes Zeugnis aus. Ihr seid ein böses und
ehebrecherisches Geschlecht, geboren in Israel aus einer Verbindung von
Menschen, die mit dem Bösen Unzucht getrieben haben. Ihr seid ihre Erben und
vermehrt eure Bosheit und eure Unzucht, indem ihr die Sünden der Väter dieses
Irrtums wiederholt. Dies sollst du wissen, Matthias, und ihr, Leute von Kedes,
sollt es wissen, und jeder Anwesende, ob er nun getreu oder feindlich gesinnt
ist. Dies ist die Prophezeiung, die ich euch selbst gebe, anstelle jener, die
ich euch bei Habakuk erklären wollte: diesem bösen und ehebrecherischen
Geschlecht, das ein Zeichen verlangt, wird kein anderes gegeben als das des
Jonas ... Laßt uns gehen. Der Friede sei mit denen, die guten Willens sind.»
Durch eine Seitenpforte, die auf
eine ruhige Straße zwischen Gärten und Häusern hinausführt, entfernt sich
Jesus zusammen mit seinen Aposteln.
Doch die von Kedes geben sich
nicht geschlagen. Einige folgen ihm, und da sie ihn in der östlichen Vorstadt
in eine kleine Herberge eintreten sehen, melden sie es dem alten
Synagogenvorsteher und ihren Mitbürgern. Jesus ist noch bei der Mahlzeit, als
sich der sonnenbeschienene Hof schon mit Menschen füllt und der
Synagogenvorsteher mit anderen Ältesten von Kedes am Eingang des Raumes steht,
in dem sich Jesus aufhält, und sich vor ihm flehentlich bittend verneigt:
«Meister, in uns ist die
Sehnsucht nach deinen Worten geblieben. Die Prophezeiung des Habakuk war, von
dir erklärt, so schön. Weil es Menschen gibt, die dich hassen, soll es jenen,
die dich lieben und an deine Wahrheit glauben, nicht vergönnt sein, dich
kennenzulernen?»
«Nein, Vater. Es wäre ungerecht,
die Guten der Bösen wegen zu bestrafen. Hört also...» und Jesus hört auf zu
essen, um sich zur Türe zu begeben und zu denen zu sprechen, die sich im
stillen Hofe versammelt haben.
«In den Worten eures
Synagogenvorstehers liegt ein Echo der Worte des Habakuk. Er bekennt, für sich
und für euch alle, daß ich die Wahrheit
156
bin. Habakuk bekannte und
erklärte: "Bist nicht du, Herr, von Anfang an mein heiliger Gott, der niemals
stirbt?" Und so wird es sein, denn wer an mich glaubt, wird nicht sterben. Der
Prophet beschreibt mich als den, den Gott dazu bestimmt hat, zu richten, als
den, dem Gott Macht gegeben hat, zu bestrafen, als den, dessen Augen zu heilig
sind, als daß sie das Böse sehen könnten, und dem die Sünde unerträglich ist;
so seht ihr, daß ich selbst, da ich der Erlöser bin, auch jenen die Arme
öffne, die ihre Sünden bereuen. Daher schaue ich auch auf den Schuldigen und
lade den Gottlosen zur Reue ein...
Oh, ihr von Kedes, der
Levitenstadt, dieser vom Band der Liebe geheiligten Stadt: wer schuldig ist –
und jeder Mensch hat gegen Gott, gegen seine Seele, gegen seinen Nächsten
gesündigt – komme also zu mir, der Zuflucht der Sünder. Hier, in meiner Liebe,
kann nicht einmal der Fluch Gottes euch treffen; denn mein flehentlicher Blick
verwandelt den Fluch Gottes für euch in einen Segen der Vergebung. Hört! Hört!
Prägt dieses Versprechen in eure Herzen ein, wie Habakuk seine Prophezeiung
auf die Buchrolle schrieb. Dort steht geschrieben: "Wenn sich die Zeit
verzögert, so harre auf sie, denn sie kommt sicher und bleibt nicht aus."
Seht, der da kommen sollte, ist gekommen. Ich bin es!
"Wer ungläubig ist, hat keine
gerechte Seele", sagt der Prophet, und in seinen Worten liegt die Verurteilung
derer, die mich versucht und geschmäht haben. Nicht ich verdamme sie, sondern
der Prophet, der mich vorausgesehen und an mich geglaubt hat, und wie er mich
als Sieger schildert, so beschreibt er den Menschen und sagt, daß er ehrlos
ist, da er seine Seele der Begierde und Unersättlichkeit erschlossen hat, so
wie auch die Hölle begierig und unersättlich ist. Er droht. "Wehe dem, der
fremdes Eigentum aufhäuft und großen Unrat auf seinen Rücken lädt." Die
schlechten Taten gegen den Menschensohn sind dieser Schlamm, und der Wille,
ihn seiner Heiligkeit zu berauben, damit er nicht ihre eigene verdunkle, ist
Begierde.
"Wehe" sagt der Prophet, "wehe
dem, der in seinem Haus die Früchte seines ungerechten Gewinnes sammelt, um in
der Höhe sein Nest zu bauen, im Glauben, den Krallen des Bösen entrinnen zu
können." Das bedeutet, sich entehren und die eigene Seele töten.
"Wehe dem, der eine Stadt erbaut
auf Blut und die Festung gründet auf Unrecht." Wahrlich, zu sehr baut Israel
seine begehrlichen Festungen auf Tränen und Blut und wartet nun, um am Ende
seine größte Missetat zu begehen. Aber was vermag eine Festung gegen die
Blitze Gottes? Was vermag eine Handvoll Menschen gegen die Gerechtigkeit der
ganzen Welt, die vor Schrecken aufschreien wird über das beispiellose
Verbrechen?
Oh, wie gut sagt es Habakuk! "Was
nützt denn ein Schnitzbild?" Zu einem Götzenbild ist die lügnerische
Heiligkeit Israels geworden. Nur der Herr in seinem Tempel ist heilig, und nur
vor ihm wird sich die Erde
157
verneigen und erzittern in
Anbetung und Schrecken, während das verheißene Zeichen einmal und noch einmal
gegeben wird; und der wahre Tempel, in dem Gott ruht, wird glorreich
emporsteigen, um dem Himmel zu sagen: "Es ist vollbracht!" So wie er über die
Erde geseufzt haben wird, um sie durch seine Frohbotschaft zu reinigen.
"Fiat" ' "es geschehe!" sagte der
Allerhöchste, und die Welt entstand. "Fiat", wird der Erlöser aussprechen, und
die Welt wird erlöst sein. Ich werde der Welt das geben, wodurch sie erlöst
wird, und die Erlösten werden jene sein, die den Willen haben, es zu sein!
Steht jetzt auf. Beten wir das
Gebet des Propheten, so wie es für diese Gnadenzeit richtig ist:
"Herr, ich habe Kunde von dir
vernommen, und ich habe dabei frohlockt." Es ist nicht mehr die Zeit des
Schreckens, o ihr, die ihr an den Messias glaubt.
"Herr, die Jahre deines Werkes
nähern sich, rufe es ins Leben trotz der Nachstellung der Feinde; in den nahen
Jahren wirst du es offenbaren." Ja, wenn die Zeit erfüllt ist, wird auch das
Werk vollendet sein.
"Und im Zorn gedenke des
Erbarmens", denn der Zorn wird sich nur über jene ergießen, die Netze und
Schlingen gelegt haben und Pfeile auf das Lamm, den Erlöser, geschleudert
haben.
"Gott wird kommen aus dem Licht
zur Welt." Ich bin das Licht, das gekommen ist, euch Gott zu bringen. Mein
Glanz wird die Welt erfüllen und sich wie Ströme aus den Wunden jener
ergießen, "die von den spitzen Hörnern getroffen worden sind"; "der letzte
Sieg des Todes und Satans, die vor dem Lebendigen und Heiligen fliehen."
Ehre dem Herrn! Ehre dem, der
alles erschaffen hat. Ehre dem, der Sonne und Sterne erschuf. Dem Schöpfer der
Berge und der Meere. Ehre, unendliche Ehre dem Guten, der den Gesalbten hat
senden wollen zur Rettung seines Volkes, zur Erlösung der Menschen. Vereinigt
eure Stimmen und singt mit mir, denn meine Barmherzigkeit ist in die Welt
gekommen und die Zeit des Friedens ist nahe. Mit ihm, der euch die Hand
entgegenhält, euch ermahnt, zu glauben und im Herrn zu leben, denn die Zeit
ist nahe, in der Israel in Wahrheit gerichtet werden wird.
Der Friede sei mit euch allen
hier, mit euren Familien und euren Häusern.»
Jesus macht eine weite segnende
Geste und will sich entfernen.
Aber der Synagogenvorsteher
bittet ihn: «Bleibe noch hier.»
«Ich kann nicht, Vater.»
«Schicke uns wenigstens deine
Jünger.»
«Dessen kannst du sicher sein.
Lebt wohl. Geht hin in Frieden.»
Dann sind sie allein...
«Aber ich möchte wissen, wer sie
hierher geschickt hat. Sie scheinen Schwarzkünstler zu sein...», sagt Petrus.
158
Iskariot drängt sich vor, bleich
im Gesicht. Er kniet zu Jesu Füßen nieder: «Meister, ich bin der Schuldige,
ich hatte im Dorf... mit einem von ihnen, dessen Gast ich war, gesprochen...»
«Wie? Und du sprichst von Buße?
Du bist ...»
«Schweige, Simon des Jonas! Dein
Bruder klagt sich aufrichtig an. Achte ihn um dieser seiner Verdemütigung
willen. Gräme dich nicht, Judas. Ich verzeihe dir, und du weißt, daß ich dir
verzeihe. Sei ein andermal klüger... Nun wollen wir gehen. Wir werden wandern,
solange der Mond scheint, und sollten den Fluß überqueren, bevor der Tag
anbricht... Gehen wir! Da hinten beginnt der Wald. Sowohl die Guten als auch
die Bösen werden unsere Spur verlieren. Morgen werden wir auf dem Weg nach
Paneas sein.»
388. AUF DEM WEG NACH CAESAREA
PHILIPPI
Die Ebene erstreckt sich auf
beiden Seiten des Jordans, bis sich dieser in den Meronsee ergießt. Eine
schöne Ebene, in der von Tag zu Tag das Getreide höher wächst und die
Obstbäume sich mit neuen Blüten bedecken. Die Hügel hinter Kedes liegen nun im
Rücken der Pilger, die im ersten Tageslicht, sehnsüchtig zur aufgehenden Sonne
schauend dahinschreiten und fröstelnd die Stellen aufsuchen, wo die
Sonnenstrahlen zuerst die Wiesen berühren und die Blätter liebkosen. Sie
müssen im Freien geschlafen haben oder aber auf einem Strohlager, denn ihre
Kleider sind zerknittert und es hängen Strohhalme und trockene Blätter daran,
die sie, sobald sie sie bei der zunehmenden Helligkeit bemerken, entfernen.
Der Fluß kündigt sich durch ein
Rauschen an, das im morgendlichen Schweigen der Landschaft widerhallt, und
durch eine dichte Baumreihe mit jungem Grün, das in der leichten Morgenbrise
zittert. Man kann den Fluß noch nicht sehen, da er tiefer liegt als die flache
Ebene. Als man im frischen Grün der jungen Blätter sein blaues Gewässer
erblickt, das durch die zahlreichen Bächlein, die von den nördlichen Hügeln
herabfließen, angeschwollen ist, ist man schon nahe am Ufer.
«Wollen wir bis zur Brücke am
Ufer entlang weitergehen oder schon hier den Fluß überqueren?» fragen die
Apostel Jesus, der allein vorausgegangen und jetzt nachdenklich
stehengeblieben ist, um auf sie zu warten.
«Seht nach, ob es eine Barke zum
Übersetzen gibt, denn es ist besser, wenn wir ihn hier überqueren ...»
«Ja. An der Brücke, über die die
Straße nach Caesarea Paneas führt, könnten wir wieder jemandem begegnen, den
man uns auf die Fersen gesetzt hat», bemerkt Bartholomäus mit hochgezogenen
Augenbrauen und schaut dabei auf Judas.
159
«Nein! Schau mich nicht so böse
an. Ich wußte ja gar nicht, daß wir hierher kommen würden, und habe auch
nichts gesagt. Es war leicht anzunehmen, daß Jesus von Sefed zu den Gräbern
der Rabbis und nach Kedes gehen würde, doch hätte ich nie gedacht, daß er sich
bis zur Hauptstadt des Philippus vorwagen würde. Daher können sie nichts davon
wissen und wir werden sie nicht antreffen, weder durch meine Schuld, noch
durch ihren eigenen Willen. Es sei denn, daß sie Beelzebub als Führer hätten»,
sagt Iskariot ruhig und demütig.
«Das stimmt, aber bei gewissen
Leuten... muß man die Augen offen halten und die Worte abwägen, um nichts von
unseren Plänen zu verraten. In allem muß man vorsichtig sein. Sonst verwandelt
sich unsere Verkündigung der Frohbotschaft in eine andauernde Flucht»,
erwidert Bartholomäus.
Johannes und Andreas kommen
zurück und berichten: «Wir haben zwei Boote gefunden. Man setzt uns für eine
Drachme pro Boot über. Gehen wir zum Ufer hinab.»
Mit den beiden Barken gelangen
alle nach zweimaliger Fahrt auf die andere Seite. Hier empfängt sie eine
flache und fruchtbare Ebene, die jedoch nicht dicht bevölkert ist, denn nur
die Bauern, die sie bebauen, haben hier ihre Häuser.
«Hm! Wie werden wir uns Brot
besorgen? Ich habe Hunger, und hier gedeihen nicht einmal die Ähren der
Philister... Gras und Blätter, Blätter und Blüten. Ich bin weder ein Schaf
noch eine Biene», flüstert Petrus den Kameraden zu, welche bei dieser
Bemerkung lächeln.
Judas Thaddäus wendet sich um –
er ist etwas vorausgegangen – und bemerkt: «Wir werden im ersten Dorf Brot
finden.»
«Vorausgesetzt, daß man uns nicht
verjagt», entgegnet Jakobus des Zebedäus.
«Paßt auf, ihr, die ihr stets
sagt, daß man auf alles achtgeben soll, daß ihr nicht die Hefe der Pharisäer
und der Sadduzäer übernehmt. Mir scheint, daß ihr dies tut, ohne zu bedenken,
welches Unheil ihr dabei anrichtet. Paßt auf! Hütet euch!» sagt Jesus.
Die Apostel mustern sich
gegenseitig und flüstern: «Aber was sagt er denn? Die Brote haben uns doch die
Frau des Taubstummen und der Gastgeber von Kedes gegeben. Es ist alles, was
wir noch haben, und wir wissen nicht einmal, ob wir noch etwas anderes finden
werden, um unseren Hunger zu stillen. Wie kann er also sagen, daß wir von
Sadduzäern und Pharisäern Brot kaufen, das ihre Hefe enthält? Vielleicht will
er nicht, daß wir in den nahen Dörfern einkaufen...»
Jesus, der wiederum allein
vorausgegangen ist, dreht sich zu ihnen um: «Warum habt ihr Angst, daß ihr
kein Brot mehr für euren Hunger erhaltet? Auch wenn hier alle Pharisäer und
Sadduzäer wären, würdet ihr nicht ohne Nahrung bleiben, sofern ihr meinen Rat
befolgt. Ich spreche nicht
160
vom Sauerteig, den das Brot
enthält, und daher könnt ihr Brot für euren Hunger kaufen, wo ihr wollt.
Selbst wenn euch niemand etwas verkaufen wollte, wäret ihr trotzdem nicht ohne
Brot. Erinnert ihr euch nicht an die fünf Brote, mit denen ihr fünftausend
Menschen gesättigt habt? Erinnert ihr euch nicht an die zwölf Körbe, die ihr
mit den übriggebliebenen Brotresten gefüllt habt? Ich könnte für euch, die ihr
zwölf seid und ein Brot habt, dasselbe tun, was ich für die fünftausend mit
fünf Broten getan habe. Versteht ihr nicht, welchen Sauerteig ich meine? Den
Sauerteig, der sich in den Herzen der Pharisäer, der Sadduzäer und der
Schriftgelehrten gegen mich aufbläht. Es ist der Haß. Es ist die Häresie, und
ihr seid auf dem Weg zum Haß, so als ob etwas vom Sauerteig der Pharisäer in
euch eingedrungen wäre. Man darf nicht einmal jenen hassen, der uns feindlich
gesinnt ist. Öffnet dem, was nicht Gottes ist, nicht einmal einen Spalt. Durch
ihn würden zuerst andere Elemente eindringen, die gegen Gott sind. Es ist
manchmal so, daß man, wenn man die Feinde zu sehr mit ihren eigenen Waffen
bekämpfen will, damit endet, daß man verwundet oder besiegt wird, und als
Besiegte könntet ihr ihre Lehren in euch aufnehmen. Nein, liebt und seid
zurückhaltend. Ihr seid in eurem Inneren noch nicht stark genug, um diese
Lehren bekämpfen zu können, ohne selbst davon angesteckt zu werden. Denn
einige ihrer grundlegenden Elemente habt ihr ja in euch selbst, und der Groll
gegen sie ist eines davon. Noch einmal sage ich euch: sie könnten ihre Methode
ändern, um euch zu verführen und euch mir abspenstig zu machen, indem sie euch
tausend Freundlichkeiten erweisen und eine scheinbare Reue an den Tag legen,
da sie angeblich mit mir Frieden schließen wollen. Ihr dürft nicht fliehen.
Aber wenn sie versuchen, euch ihre Lehren einzuimpfen, dann wißt, euch dagegen
zu wehren. Seht, das ist der Sauerteig, von dem ich gesprochen habe, der
Unmut, der sich zugleich gegen die Liebe und die falschen Lehren richtet. Ich
sage euch: seid vorsichtig!»
«War das Zeichen, das die
Pharisäer gestern verlangten, "Sauerteig", Meister?» fragt Thomas.
«Es war Sauerteig und Gift!» «Du
hast gut daran getan, ihnen das Zeichen nicht zu geben.» «Aber eines Tages
werde ich es ihnen geben.»
«Wann? Wann?» fragen sie
neugierig.
«Eines Tages...»
«Was für ein Zeichen wird es
sein? Sagst du es nicht einmal uns, deinen Aposteln, damit wir es sofort
erkennen könnten», fragt Petrus, der mehr darüber wissen möchte.
«Ihr solltet keines Zeichens
bedürfen.»
«Oh, nicht um an dich zu glauben!
Wir sind nicht wie die Leute, die sich allerlei Gedanken machen, denn wir
haben nur einen Gedanken: dich zu lieben», sagt Jakobus des Zebedäus eifrig.
161
«Aber sagt mir, ihr, die ihr dem
Volk nahekommt, ohne es einzuschüchtern wie ich. Was denken die Leute von mir,
vom Menschensohn?»
«Die einen sagen, daß du Jesus
oder der Christus bist, und das sind die Besten. Andere nennen dich einen
Propheten, andere wiederum sehen in dir nur einen Rabbi, und wieder andere...
du weißt es, nennen dich einen Wahnsinnigen und Besessenen.»
«Einige jedoch nennen dich bei
dem Namen, den du dir selbst gegeben hast: "Menschensohn"!»
Andere sagen, daß das nicht sein
kann, da der Menschensohn etwas ganz anderes ist. Es ist nicht immer eine
Verneinung, denn grundsätzlich geben sie zu, daß du mehr als der Menschensohn
bist, da sie sagen, daß du der Sohn Gottes bist. Andere hingegen glauben, daß
du nicht einmal der Menschensohn, sondern nur ein armer Mensch bist, von Satan
angetrieben oder vom Wahnsinn verwirrt. Du siehst, daß die Ansichten zahlreich
und alle verschieden sind», sagt Bartholomäus.
«Wer ist also nach der Meinung
des Volkes der Menschensohn?»
«Er ist ein Mensch, in dem alle
Tugenden des Menschen vereint sind, ein Mensch, dem alle Gaben des Verstandes,
der Weisheit und der Gnade innewohnen, die wir in unserer Vorstellung Adam
beimessen, und einige fügen diesen Eigenschaften noch die Unsterblichkeit
hinzu. Du weißt, daß bereits das Gerücht umgeht, daß Johannes nicht gestorben,
sondern einfach von Engeln irgendwohin gebracht worden ist. Man behauptet,
Herodes, und besonders Herodias hätten, um sich nicht sagen zu müssen, sie
wären von Gott besiegt worden, einen Diener getötet, ihm das Haupt
abgeschlagen und dann den Rumpf des getöteten Sklaven als Leiche des Täufers
herumgezeigt. Das Volk redet so viel! Deshalb glauben viele, daß der
Menschensohn Jeremias oder Elias oder einer der Propheten oder auch der Täufer
selbst, in dem Gnade und Weisheit war und den man den Vorläufer des Christus,
des Gesalbten Gottes, nannte, gewesen ist. Der Menschensohn: ein großer
Mensch, geboren aus einem Menschen. Viele können oder wollen nicht zugeben,
daß Gott seinen Sohn auf die Erde senden wollte. Du hast es gestern gesagt:
"Es werden nur jene glauben, die von der unendlichen Güte Gottes überzeugt
sind." Israel glaubt mehr an die Strenge Gottes, als an seine Güte ...» sagt
wiederum Bartholomäus.
«Ja, sie erachten sich
tatsächlich für so unwürdig, daß sie es für unmöglich halten, daß Gott so gut
ist, sein Wort zu senden, um sie zu retten. Der elende Zustand ihrer Seelen
hindert sie zu glauben», bestätigt der Zelote und fährt fort: «Du sagst, daß
du der Sohn Gottes und des Menschen bist. Tatsächlich ist in dir alle Gnade
und Weisheit, die ein Mensch besitzen kann. Ich glaube wirklich, daß, wenn
Adam, als er noch im Stande der Gnade lebte, ein Sohn geboren worden wäre, dir
dieser an Schönheit, Verstand und jeder anderen Tugend ähnlich gewesen wäre.
In dir erstrahlt Gott durch seine Macht. Aber wer von denen, die sich selbst
für Götter
162
halten und in ihrem grenzenlosen
Hochmut Gott mit ihrem eigenen Maßstab messen, kann das glauben? Sie, die
Grausamen, die Gehässigen, die Räuber, die Unkeuschen, können sich nicht
vorstellen, daß Gott in seiner Güte so weit gegangen ist, daß er sich selbst
hingegeben hat, um sie zu erlösen; daß er ihnen seine Liebe geschenkt hat, um
sie zu retten; daß er sich in seiner Hochherzigkeit der Willkür der Menschen
ausgesetzt, und seine Reinheit entsandt hat, auf daß sie sich für den Menschen
aufopfere. Sie können es nicht glauben, nein, sie sind so unerbittlich und
erfinderisch im Suchen nach Sünden und deren Bestrafung.»
«Doch ihr, was meint ihr, wer ich
bin? Sagt es, ohne Rücksicht auf meine Worte oder auf die anderer. Wenn ihr
über mich urteilen müßtet, was würdet ihr von mir sagen?»
«Du bist Christus, der Sohn des
lebendigen Gottes», ruft Petrus, indem er sich mit zum Himmel erhobenen Armen
niederkniet und zu Jesus aufschaut, der mit strahlendem Antlitz auf ihn
niedersieht und sich über ihn neigt, um ihm wieder aufzuhelfen und ihn zu
umarmen mit den Worten: «Selig bist du, Simon, Sohn des Jonas! Denn nicht
Fleisch und Blut haben dir das geoffenbart, sondern mein Vater, der im Himmel
ist. Vom ersten Augenblick an, da du zu mir gekommen bist, hast du dir diese
Frage gestellt, und da du einfach und redlich bist, hast du die Antwort, die
dir der Himmel eingab, verstanden und angenommen. Bevor du mir begegnet bist,
hattest du keine übernatürlichen Zeichen erfahren, wie dein Bruder und
Johannes und Jakobus. Du kanntest meine Heiligkeit als Sohn, als Arbeiter, als
Bürger nicht, wie Judas und Jakobus, meine Brüder. Bevor du mein Jünger
wurdest, hattest du kein Wunder gesehen, noch hatte ich dir ein Zeichen meiner
Macht gegeben, wie ich es bei Philippus, Nathanael, Simon dem Kananäer, Thomas
und Judas tat. Du wurdest nicht von meinem Willen überwältigt wie Levi, der
Zöllner, und dennoch hast du vom ersten Augenblick an ausgerufen: "Er ist der
Gesalbte!" Von der ersten Stunde an, da du mich gesehen hattest, glaubtest du,
und nie wurde dein Glaube durch etwas erschüttert. Deshalb habe ich dich
Kephas genannt, und deshalb werde ich auf dir, dem Felsen, meine Kirche
erbauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen. Dir will ich
die Schlüssel des Himmelreiches geben, und was immer du auf Erden binden
wirst, wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst,
wird auch im Himmel gelöst sein, o du getreuer und kluger Mensch, dessen Herz
ich erproben konnte. Jetzt, von diesem Augenblick an, bist du das Haupt, dem
Gehorsam und Achtung gebührt, wie mir selbst. Dazu ernenne ich ihn vor euch
allen.»
Wenn Jesus Petrus unter einem
Hagel von Vorwürfen niedergeschmettert hätte, wäre sein Weinen nicht so heftig
gewesen. Er weint, von Schluchzen geschüttelt, das Antlitz an der Brust Jesu.
Ein Weinen ist es, das sich nur wiederholt hat, als ihn der Schmerz über die
Verleugnung
163
Jesu übermannte. Jetzt ist es ein
Weinen, das tausend demütigen und guten Gefühlen entspringt... Ein weiteres
kleines bißchen des alten Simon – des Fischers von Bethsaida, der bei der
ersten Verkündigung von seiten seines Bruders lachend und ungläubig
geantwortet hat: «Ausgerechnet dir soll der Messias erscheinen! ...
Ausgerechnet dir!» – ein weiteres kleines bißchen des alten Simon bröckelt ab
unter diesen Tränen und läßt unter der dünner werdenden Kruste seiner
Menschlichkeit immer klarer den Petrus, das Oberhaupt der Kirche Christi,
erscheinen.
Als er sein Haupt scheu und
verwirrt erhebt, weiß er nur eines zu tun, um alles auszudrücken, alles zu
versprechen und sich Kraft zu holen für seine neue Aufgabe: er wirft seine
kurzen, muskulösen Arme um den Hals Jesu und zwingt ihn so, sich zu ihm
herabzuneigen und ihn zu küssen, wobei seine etwas struppigen und
graumelierten Haare und sein Bart sich mit den weichen, goldfarbenen Haaren
und dem Barte Jesu vermischen. Dann schaut er ihn anbetend, liebevoll und
flehend an mit seinen großen, leuchtenden und von den Tränen geröteten Augen,
während er mit den mit Schwielen bedeckten, breiten, kurzen Händen das
asketische Antlitz des Meisters ergreift, das sich über das seinige neigt, als
wäre es ein Gefäß, aus dem Lebenssäfte fließen... und er trinkt, trinkt,
trinkt Süßigkeit und Gnade, Sicherheit und Stärke aus diesem Antlitz, aus
diesen Augen, aus diesem Lächeln...
Schließlich trennen sie sich und
setzen ihren Weg nach Caesarea Philippi fort, und Jesus sagt zu allen: «Petrus
hat die Wahrheit gesagt. Viele ahnen sie, ihr kennt sie. Aber sagt vorläufig
niemandem, was dieser Christus gemäß der vollen Wahrheit, die ihr erkennt,
ist. Laßt Gott in den Herzen sprechen, wie er in den euren spricht. Wahrlich,
ich sage euch, daß alle, die meine oder eure Aussagen mit einem vollkommenen
Glauben und einer vollkommenen Liebe verbinden, dahin gelangen werden, den
wahren Sinn der Worte: "Jesus, Christus, das Wort, der Sohn des Menschen und
Gottes" zu verstehen.»
389. IN CAESAREA PHILIPPI
Die Stadt muß erst jüngst erbaut
worden sein, wie es auch bei Tiberias und Askalon der Fall ist. Sie breitet
sich in einer Senke aus und wird von einer Festung mit hohen Türmen überragt,
die von riesigen Mauern und tiefen Gräben umgeben ist. In letztere ergießt
sich ein Teil des Wassers der beiden kleinen Flüsse, die sich an einer Stelle
beinahe vereinigen, um sich dann wieder voneinander zu trennen, derart, daß
der eine außerhalb und der andere innerhalb der Stadt dahinfließt. Schöne
Straßen, Plätze, Brunnen, eine Nachahmung der Bauart Roms. Man sagt, daß sich
auch hierin
164
knechtische Ehrerbietung dem
Tetrarchen gegenüber offenbart, ohne Rücksicht auf die Gebräuche des
Vaterlandes.
Die Stadt, vielleicht weil sie
Knotenpunkt wichtiger Haupt- und Karawanenstraßen nach Damaskus, Tyrus, Sefed
und Tiberias ist, wie es die Wegweiser an jedem Tor anzeigen, ist voller
Bewegung und Menschen. Fußgänger, Reiter, lange Karawanen mit Eseln und
Kamelen kreuzen sich auf den breiten, gut gepflegten Straßen, und Gruppen von
Händlern oder Müßiggängern stehen auf Plätzen unter den Bogengängen und vor
den vornehmen Wohnungen – vielleicht gibt es auch Thermen – herum und
betreiben Geschäfte oder schwatzen über belanglose Dinge.
«Weißt du, wo wir sie finden
können?» fragt Jesus Petrus.
«Ja. Die, die ich gefragt habe,
haben mir gesagt, daß die Jünger des Rabbi sich gewöhnlich zur Essenszeit in
einem Haus treuer Israeliten versammeln, das sich in der Nähe der Festung
befindet. Man hat es mir genau beschrieben, also kann ich nicht fehlgehen: ein
israelitisches Haus schon seinem Äußeren nach, mit einer Vorderseite ohne
Fenster und einem hohen Tor mit einem Guckloch, einem kleinen Springbrunnen an
der Mauerseite, hohen Gartenmauern, die auf beiden Seiten in kleinen Gassen
enden, und einer hoch auf dem Dach gelegenen Terrasse mit vielen Tauben.»
«Gut. Gehen wir also»...
Sie durchqueren die ganze Stadt
bis zur Zitadelle, erreichen das gesuchte Haus und klopfen an. Am Guckloch
erscheint das runzlige Gesicht einer alten Frau.
Jesus tritt vor und grüßt: «Der
Friede sei mit dir, Frau. Sind die Jünger des Rabbi zurückgekehrt?»
«Nein, Herr. Sie sind mit
anderen, die von vielen Dörfern jenseits des Flusses gekommen sind, zur
"Großen Quelle" gegangen, um eben nach dem Rabbi zu suchen. Alle erwarten ihn.
Bist du auch einer von ihnen?»
«Nein, ich suche die Jünger.»
«Dann schau: siehst du die Straße
ungefähr gegenüber dem Brunnen? Gehe dort hinauf, bis du an einer großen
Felswand angelangt bist, aus der Wasser hervorsprudelt, das sich in eine Art
Becken ergießt und dann zu einem Bächlein wird. Dort in der Nähe wirst du sie
finden. Aber kommst du von weither? Willst du dich erfrischen, hereinkommen
und auf sie warten? Wenn du willst, rufe ich meine Herrschaft. Es sind getreue
Israeliten, weißt du, und sie glauben an den Messias. Sie sind seine Jünger,
seit sie ihn einmal in Jerusalern im Tempel gesehen haben. Doch nun haben die
Jünger des Messias sie über ihn unterrichtet und selbst Wunder gewirkt, weil
...»
«Ist gut, Frau! Ich werde später
zusammen mit den Jüngern zurückkommen. Der Friede sei mit dir! Kehre nur zu
deiner Arbeit zurück», sagt Jesus voller Güte, aber auch mit Autorität, um
diesen Redestrom aufzuhalten.
165
Sie gehen weiter, und die
jüngeren Apostel lachen herzlich über die Szene mit der Frau und entlocken
auch Jesus ein Lächeln.
«Meister», sagt Johannes, «sie
schien selbst die "Großen Quelle" zu sein, meinst du nicht auch? Die Worte,
die ununterbrochen aus ihr hervorsprudelten, haben uns in Becken verwandelt,
von denen ebenso viele Bächlein ausgingen, die voller Worte waren...»
«Ja. Ich hoffe, daß die Jünger
kein Wunder an ihrer Zunge gewirkt haben... Sonst müßte man sagen: ihr habt
ein zu großes Wunder gewirkt», meint Thaddäus, der entgegen seiner Gewohnheit
herzlich lacht.
«Das Schönste wird sein, wenn sie
uns zurückkommen sieht und den Meister als den erkennt, der er ist! Wer wird
sie dann noch zum Schweigen bringen?» fragt Jakobus des Zebedäus.
«Nein, im Gegenteil, sie wird vor
Staunen sprachlos sein», sagt Matthäus, der an dem jugendlichen Geplauder
teilnimmt.
«Ich werde den Allerhöchsten
preisen, wenn die Verblüffung ihre Zunge lähmen wird. Vielleicht ist es mir so
ergangen, weil ich noch nüchtern bin, aber sicher ist, daß ihr Wortschwall mir
Schwindel verursacht hat», sagt Petrus.
«Und wie sie geschrieen hat! Ob
sie wohl taub ist?» fragt Thomas.
«Nein, sie hat uns für taub
gehalten», antwortet Iskariot.
«Laßt sie in Ruhe, die arme alte
Frau! Sie ist gut und gläubig. Ihr Herz ist großmütig wie ihre Zunge», sagt
Jesus ziemlich ernst.
«Oh, mein Meister, dann ist die
alte Frau ebenso heroisch wie großmütig», sagt Johannes herzlich lachend.
Die felsige Kalksteinwand ist
schon sichtbar, und man hört auch bereits das Rauschen der Wasser, die sich in
das Becken ergießen...
«Da ist das Bächlein. Folgen wir
ihm... Da ist die Quelle... und dort: Benjamin! Daniel! Abel! Philippus!
Ermastheus! Wir sind hier! Der Meister ist da!» ruft Johannes einer Gruppe von
Männern zu, die sich um jemanden scharen, den man nicht sehen kann.
«Schweig, Junge, sonst wirst du
bald wie dieses alte Huhn aussehen», rät Petrus.
Die Jünger haben sich umgewandt,
und im selben Augenblick, in dem sie den Meister mit den Aposteln erblicken,
stürzen sie auch schon in großen Sprüngen von der Felsenterrasse herab. Da
sich nun das Menschenknäuel auflöst, sehe ich, daß sich zu den vielen nunmehr
älteren Jüngern auch Bewohner von Kedes und sogar aus dem Dorf des Taubstummen
gesellt haben. Sie müssen wohl direktere Wege gewählt haben, da sie vor dem
Meister eingetroffen sind. Die Freude ist groß und die Fragen und die
Antworten sind zahlreich. Jesus hört geduldig zu und antwortet, bis der
hagere, mit Vorräten beladene Isaak, lächelnd in Begleitung von zwei anderen
herbeikommt.
«Wir wollen in das
gastfreundliche Haus gehen, Herr, und dort wirst
166
du uns erklären, was wir nicht
sagen sollten, da wir es selbst nicht wissen. Die zuletzt Angekommenen – sie
sind erst seit einigen Stunden bei uns -möchten wissen, welches das Zeichen
des Jonas ist, das du dem bösen Geschlecht, welches dich verfolgt,
vorausgesagt hast», sagt Isaak.
«Ich werde es ihnen unterwegs
erklären...»
Unterwegs? Das ist schnell
gesagt! Als ob Blumenduft sich durch die Luft verbreitet hätte und zahlreiche
Bienen darauf zufliegen würden, so eilen von allen Seiten Leute herbei, um
sich mit denen zu vereinigen, die Jesus umgeben.
«Es sind unsere Freunde», erklärt
Isaak. «Leute, die geglaubt und auf dich gewartet haben...»
«Leute, die von den Jüngern und
ganz besonders von ihm Wohltaten empfangen haben», ruft einer aus der Menge.
Isaak wird glühend rot und sagt,
fast wie um sich zu entschuldigen:
«Ich bin nur ein Diener, er ist
der Herr! Ihr, die ihr wartet: seht, da ist der Meister, Jesus!»
Der ruhige, etwas abseits
gelegene Winkel von Caesarea wird auf einmal belebter und lauter als ein
Markt. Hosannarufe! Beifall! Bittrufe! Es fehlt an nichts. Jesus kommt nur
sehr langsam vorwärts, eingezwängt in eine Schar Menschen voll liebevoller
Zuneigung. Er lächelt und segnet. So langsam kommt man vom Fleck, daß es
einigen gelingt wegzulaufen, um die Nachricht zu verbreiten, und mit Freunden
oder Verwandten zurückzukehren; Kinder werden hochgehalten, damit sie, ohne
Schaden zu nehmen, bis zu Jesus gelangen, der sie liebkost und segnet.
So erreichen sie das Haus von
vorhin und klopfen an. Die alte Dienerin öffnet ohne Zögern, als sie die
Stimmen hört. Nun... sieht sie Jesus inmitten der jubelnden Menge und
versteht... Sie fällt zu Boden und jammert: «Erbarmen, mein Herr! Deine
Dienerin hat dich nicht erkannt und dir nicht gehuldigt!»
«Das ist nicht schlimm, Frau, du
hast den Menschen nicht gekannt, hast jedoch an IHN geglaubt. Und das ist
erforderlich, um von Gott geliebt zu werden. Steh nun auf und führe mich zu
deiner Herrschaft.»
Die alte Frau gehorcht, zitternd
vor Ehrfurcht. Sie sieht hinten am Ende des etwas dunklen Ganges, den Herrn
und die Herrin in Ehrfurcht erstarrt an die Wand gelehnt stehen, weist auf sie
hin und sagt: «Da sind sie.»
«Der Friede sei mit euch und mit
diesem Haus! Der Herr segne euch ob eures Glaubens an Christus und eurer Liebe
zu seinen Jüngern», sagt Jesus, indem er dem alten Ehepaar, oder Bruder und
Schwester, entgegengeht. Sie erweisen ihm Ehre und begleiten ihn auf die
geräumige Terrasse, wo viele gedeckte Tische unter einem schweren Zeltdach
bereitstehen. Von hier hat man einen weiten Ausblick über Caesarea und die
Berge, die seitlich und jenseits des Ortes liegen. Die Tauben fliegen von der
Terrasse zum Garten voll blühender Obstbäume.
167
Während ein alter Diener noch
mehr Sitzplätze herrichtet, erklärt Isaak: «Benjamin und Anna nehmen nicht nur
uns auf, sondern alle, die um deinetwillen hierher kommen. Sie tun es in
deinem Namen!»
«Der Himmel möge sie stets
segnen.»
«Oh, wir sind vermögend und haben
keine Erben, und nun, am Ende unseres Lebens, adoptieren wir anstatt der
Kinder die Armen des Herrn», sagt die Greisin schlicht.
Jesus legt ihr seine Hand auf das
weiße Haupt mit den Worten: «Das läßt dich mehr Mutter sein, als wenn du
sieben und mehr Kinder empfangen hättest. Doch erlaubt mir, daß ich einigen
Leuten erkläre, was sie wissen möchten, damit wir uns dann von den Bürgern
verabschieden und uns zu Tisch setzen können.»
Die Terrasse ist mit Menschen
überfüllt, und immer noch kommen neue hinzu und drängen sich in die noch
freien Lücken. Jesus ist umringt von einer Reihe von Kindern, die verzückt mit
ihren großen unschuldigen Augen zu ihm aufschauen. Er sitzt mit dem Rücken zum
Tisch und lächelt diesen Kindern zu, obgleich er über ein ernstes Thema
spricht. Es scheint, als ob er auf diesen unschuldigen Gesichtlein die
Wahrheit, nach der man ihn fragt, lesen würde.
«Hört! Das Zeichen des Jonas, das
ich den Bösewichten vorausgesagt habe und auch euch verheiße, nicht etwa weil
ihr böse seid, sondern damit ihr, wenn ihr es erfüllt seht, die Vollkommenheit
im Glauben erlangt, ist dieses: So wie Jonas drei Tage und drei Nächte im
Bauche des Seeungeheuers war und danach der Welt zurückgegeben wurde, um
Ninive zu bekehren und zu retten, so wird auch der Menschensohn drei Tage und
drei Nächte im Herzen der Erde sein. Um die Wellen eines großen satanischen
Sturmes zu beruhigen, werden es die Großen Israels für gut halten, den
Unschuldigen zu opfern. Doch werden sie nichts anderes tun, als vermehrt
Gefahren heraufbeschwören, denn außer Satan, dem Lügner, haben sie Gott, der
ihre Verbrechen bestraft. Allein durch den Glauben an mich könnten sie den
satanischen Ansturm besiegen. Doch tun sie es nicht, da sie in mir den Urheber
ihrer Verwirrung, ihrer Ängste, ihrer Gefahren und den, der ihre falsche
Heiligkeit entlarvt, sehen. Aber wenn die Stunde gekommen ist, wird das
unersättliche Ungeheuer, der Schlund der Erde, der alle Toten verschlingt,
sich öffnen, um der Welt jenes Licht wiederzugeben, das sie verleugnet hat.
Wie Jonas also für die Niniviten
ein Zeichen der Macht und Barmherzigkeit des Herrn war, so wird es der
Menschensohn für diese Generation sein, mit dem Unterschied, daß sich Ninive
bekehrte, während Jerusalem sich nicht bekehren wird, weil es von jenem bösen
Geschlecht, von dem ich gesprochen habe, durchdrungen ist. Daher wird die
Königin des Südens am Tage des Gerichtes über dieses Geschlecht auftreten und
es verurteilen, denn sie kam von den Enden der Erde, um die Weisheit Salomons
168
zu hören, während dieses
Geschlecht, das mich in seiner Mitte hat, mich nicht hören will und mich
verfolgt und verjagt wie einen Aussätzigen und einen Sünder; mich, der ich
viel mehr bin als Salomon. Auch die Niniviten werden am Tage des Gerichtes
auftreten gegen dieses böse Geschlecht, das sich nicht zum Herrn, seinem Gott,
bekehrt, während sich die Leute von Ninive auf die Predigt eines Menschen hin
bekehrt haben. Ich bin mehr als ein Mensch, und sei es auch Jonas oder
irgendein anderer Prophet.
Daher werde ich das Zeichen des
Jonas dem geben, der ein eindeutiges Zeichen verlangt. Eines und noch ein
Zeichen werde ich dem geben, der seine trotzige Stirn nicht beugen will vor
den schon gegebenen Beweisen des Lebens, das durch meinen Willen zurückkehrt.
Ich werde alle Zeichen geben, das eines verwesten Körpers, der unversehrt zum
Leben zurückkehrt, sowie das eines Leibes, der sich selbst erweckt, da seinem
Geist alle Macht gegeben ist. Aber dies werden keine Gnaden sein und es wird
von dem Gesagten nichts wegnehmen. Weder hier noch in den ewigen Büchern des
Lebens. Was geschrieben steht, steht geschrieben, und wie Steine für eine
bevorstehende Steinigung werden sich die Beweise häufen, gegen mich, um mir zu
schaden, ohne es zu vermögen, gegen sie, um sie auf ewig unter der Strafe
Gottes zu begraben, die den ungläubigen Böswilligen vorbehalten ist.
Das also ist das Zeichen des
Jonas, von dem ich gesprochen habe. Habt ihr sonst noch Fragen?»
«Nein, Meister! Wir werden es
unserem Synagogenvorsteher berichten, der in der Beurteilung des versprochenen
Zeichens der Wahrheit sehr nahegekommen ist.»
«Matthias ist ein Gerechter, und
die Wahrheit enthüllt sich den Gerechten, so wie sie sich diesen Unschuldigen
enthüllt, die besser als jeder andere wissen, wer ich bin. Laßt mich, bevor
ich mich verabschiede, die Barmherzigkeit Gottes von den Engeln der Erde
lobpreisen hören. Kommt, Kinder!»
Die Kinder, die sich bis dahin
mit Mühe ruhig verhalten haben, gehen nun auf ihn zu.
«Sagt mir, Geschöpfe ohne
Bosheit, welches ist für euch mein Zeichen ?»
«Daß du gut bist!»
«Daß du meine Mutter durch deinen
Namen heilst!»
«Daß du alle gern hast!»
«Daß du so schön bist, wie es ein
Mensch nicht sein kann!»
«Daß du jemanden gut machst,
selbst wenn er böse war wie mein Vater.»
Jeder kleine Kindermund verkündet
eine liebliche Eigenschaft Jesu oder ein Leid, das Jesus in ein Lächeln
verwandelt hat.
169
Aber der liebste von allen ist
ein kleiner Wildfang von etwa vier Jahren, der auf den Schoß Jesu klettert,
sich an seinen Hals hängt und sagt: «Dein Zeichen ist, daß du alle Kinder
liebst, und daß die Kinder dich lieb haben. So lieb! ...» Er breitet seine
rundlichen Ärmchen aus und lacht, um sich dann aufs neue an den Hals Jesu zu
klammern, indem er seine kindliche Wange an die Wange Jesus schmiegt, der ihn
küßt und fragt: «Aber warum liebt ihr mich, da ihr mich bis jetzt noch nie
gesehen habt?»
«Weil du wie der Engel des Herrn
aussiehst!»
«Du hast ihn doch nicht gesehen,
Kleiner ...» neckt Jesus ihn lächelnd.
Das Kind ist einen Augenblick
sprachlos. Dann aber lacht es, zeigt alle seine Zähnchen, und sagt: «Aber
meine Seele hat ihn gesehen! Die Mutter sagt, daß ich eine habe. Sie ist hier,
und Gott sieht sie, und die Seele hat Gott und die Engel gesehen und sieht sie
immer, und meine Seele kennt dich, weil du der Herr bist!»
Jesus hebt das Kind auf, küßt es
auf die Stirn und sagt: «Möge in dir durch diesen Kuß das Licht der Erkenntnis
wachsen.» Dann stellt er es auf den Boden, und das Kind eilt hüpfend zu seinem
Vater, drückt dessen Hand fest an die Stelle der Stirn, auf die der Herr es
geküßt hat, und jauchzt: «Zur Mutter, zur Mutter! Damit sie mich dort küßt, wo
der Herr mich geküßt hat, damit ihre Stimme zurückkehrt und sie nicht mehr
weinen muß.»
Man erklärt Jesus, daß es sich um
eine am Kehlkopf erkrankte Frau handelt, die sich ein Wunder erhoffte und von
den Jüngern nicht geheilt werden konnte, da das unerreichbare Übel sehr tief
steckt.
«Der kleinste Jünger, ihr
Söhnchen, wird sie heilen. Gehe hin in Frieden, Mann, und habe Glauben wie
dein Sohn», sagt er und verabschiedet sich vom Vater des Kindes.
Jesus küßt nun die anderen
Kinder, die ebenfalls einen Kuß auf die Stirn haben möchten, und entläßt die
Bürger. Es bleiben die Jünger, die von Kedes und die von dem anderen Ort,
zurück.
Während sie auf die Speisen
warten, befiehlt Jesus allen Jüngern, die ihm nach Kapharnaum vorausgehen
werden, um sich dort mit denen aus anderen Orten zu vereinigen, morgen
aufzubrechen. «Auf dem Weg nach Nazareth werdet ihr Salome, die Frauen und
Töchter Nathanaels und des Philippus, sowie Johanna und Susanna mitnehmen.
Dort werdet ihr meine Mutter und die Mutter meiner Brüder zu euch nehmen und
sie nach Bethanien, in das Haus Josephs auf den Gütern des Lazarus, begleiten.
Wir werden von der Dekapolis kommen.
«Und Margziam?» fragt Petrus.
«Ich habe gesagt: "Geht mir
voraus nach Kapharnaum." Ich habe nicht gesagt: "Geht." Aber von Kapharnaum
aus wird man die Frauen von unserer Ankunft benachrichtigen können, damit sie
sich vorbereiten,
170
um mit uns über die Dekapolis
nach Jerusalern zu ziehen. Margziam, der nunmehr ein Jüngling ist, wird mit
den Jüngern gehen und die Frauen beschützen...»
«Es ist nur... ich wollte auch
meine Frau nach Jerusalern mitnehmen. Die Arme, sie hat es sich immer
gewünscht und... ist nie dazugekommen, weil ich keine Unannehmlichkeiten haben
wollte! Aber dieses Jahr möchte ich ihr die Freude machen. Sie ist so gut!»
«Aber gewiß, Simon! Ein Grund
mehr, daß Margziam mit ihr geht. Wir werden gemächlich reisen und alle dort
zusammentreffen ...»
Der alte Hausherr sagt: «Nur für
so kurze Zeit bleibst du bei mir?»
«Vater, ich habe noch viel zu tun
und möchte wenigstens acht Tage vor dem Passahfest in Jerusalern sein.
Bedenke, daß die erste Phase des Monats Adar schon zu Ende ist...»
«Das ist wahr, aber ich habe mich
so sehr nach dir gesehnt... Ich habe das Gefühl, im Lichte des Himmels zu
sein, nun, da du hier bist... und daß, sobald du fortgehst, dieses Licht
erlöschen wird.»
«Nein, Vater. Ich werde es in
deinem Herzen zurücklassen, wie auch deiner Frau und eurem ganzen gastlichen
Haus.»
Alle setzen sich zu Tisch und
Jesus opfert die Speisen auf und segnet sie, worauf die Diener sie an den
verschiedenen Tischen austeilen.
390. AUF DER BURG VON CAESAREA
PHILIPPI
Die Mahlzeit im gastlichen Haus
ist beendet. Jesus, gefolgt von den Zwölfen, den Jüngern und dem alten
Hausherrn, geht aus dem Haus. Sie kehren zur "Großen Quelle" zurück, halten
sich dort jedoch nicht auf, sondern begeben sich in nördlicher Richtung
weiter.
Die eingeschlagene Straße ist,
obwohl zeitweilig ansteigend, bequem' denn es ist eine Straße, die auch für
Wagen und Reittiere geeignet ist. Auf dem Gipfel des Berges steht eine massive
Festung, die durch ihre eigenartige Form auffällt. Sie scheint sich aus zwei
Gebäuden zusammenzusetzen, von denen das eine einige Meter über dem anderen
errichtet worden ist. Das weiter zurückliegende Gebäude, das besser befestigt
ist, beherrscht das andere und dient wohl auch zu seiner Verteidigung. Eine
hohe, breite Mauer mit mächtigen, quadratischen Türmen erhebt sich zwischen
den beiden Bauten, die doch eine Einheit bilden, da sie von einer zweiten
Mauer aus roh bearbeiteten Quadersteinen, die beide umschließt und am Sockel
etwas schräg und breiter wird, um dem Gewicht der Bastionen besser standhalten
zu können, umgeben sind. Die Westseite sehe ich nicht, aber Nord- und Südseite
fallen senkrecht ab, ganz eins mit dem einzeln stehenden Berg. Ich nehme an,
daß auch die Westseite die gleichen Strukturen aufweist.
171
Der alte Benjamin, der wie alle
Bürger stolz auf seine Heimatstadt ist, erklärt, daß die Burg des Tetrarchen
außer einer Festung auch ein Vorposten zur Verteidigung der Stadt ist. Dann
spricht er von ihrer Schönheit und Festigkeit, von der Nützlichkeit der
Zisternen und der Becken, von der Geräumigkeit, der weiten Aussicht, der Lage
usw. usw. «Selbst die Römer, die etwas davon verstehen, sagen, daß sie schön
ist! ...»
Alsogleich fügt er an: «Ich kenne
den Verwalter, und daher habe ich freien Zutritt zur Festung. Ihr werdet von
dort den umfassendsten und schönsten Ausblick auf Palästina haben.»
Jesus hört gutmütig zu. Die
anderen, die schon so viele Panoramen gesehen haben, lächeln verschmitzt ...
Doch da der Alte eine so gute Seele ist, bringen sie es nicht übers Herz, ihn
zu demütigen, und entsprechen seinem Wunsch, Jesus schöne Dinge zu zeigen.
Sie erreichen den Gipfel des
Berges. Die Aussicht ist schon von dem kleinen Platz vor dem eisernen
Eingangstor aus wirklich prächtig. Nun sagt der alte Herr: «Kommt, kommt! ...
Drinnen ist es noch viel schöner. Wir werden auf den höchsten Turm der
Zitadelle steigen, und ihr werdet sehen...» Sie betreten den dunklen Durchgang
der mehrere Meter breiten Mauer und gelangen in einen Hof, in dem sie der
Verwalter mit seiner Familie erwartet. Die beiden Freunde begrüßen sich, und
der alte Herr erklärt den Grund des Besuches.
«Der Rabbi von Israel?! Schade,
daß Philippus nicht da ist. Er hatte von ihm gehört und wollte ihn sehen. Er
liebt die guten Rabbis, weil sie die einzigen waren, die sein Recht verteidigt
haben, und auch, weil er den Antipas ärgern will, der sie nicht mag. Kommt,
kommt! ...» Der Mann, der Jesus zuerst verstohlen angeschaut hat, hält es nun
für angebracht, ihn mit einer Verbeugung, die eines Königs würdig wäre, zu
begrüßen.
Sie gehen wieder durch einen Gang
und kommen in einen zweiten Hof zu einem zweiten Eisengitter, hinter dem ein
dritter Hof liegt, an dessen anderer Seite sich ein tiefer Graben und die mit
Türmen versehene Mauer der Zitadelle befinden. Neugierige Gesichter von
Bewaffneten und Hausaufsehern zeigen sich allenthalben. Sie treten in die
Zitadelle ein und gelangen dann über eine kleine Stiege auf die Bastion, und
von dort zu einem Turm. In den Turm begibt sich nur Jesus mit dem Aufseher,
Benjamin und den Zwölfen. Mehr Leute haben nicht Platz, denn sie sind schon so
gedrängt wie die Heringe. Die übrigen bleiben auf der Bastion.
Aber welch eine Aussicht genießen
Jesus und die anderen auf der kleinen Terrasse, welche den Turm krönt, und wo
sie sich über die massive Brustwehr beugen. Von der Westseite aus, dem
höchsten Punkt der Festung, sieht man ganz Caesarea am Fuß des Berges, und man
sieht es sehr gut, da es nicht nur Flachland, sondern sanfte Hänge gibt.
Jenseits von Caesarea und diesseits des Meronsees, erstreckt sich eine
fruchtbare Ebene. Der See, mit seinen zartgrünen und türkisfarbenen Wassern,
die in der
172
grünen Ebene wie Stücke eines
heiteren Himmels schimmern, scheint ein kleines Meer zu sein. Man sieht
verschwommen erkennbare Hügel, wie eine Halskette von dunklem Smaragd,
gestreift mit dem Silber der Olivenbäume, die da und dort die Ebene begrenzen,
und luftige Federbüsche oder dichte Bälle blühender Bäume... Im Norden und
Osten sieht man den mächtigen Libanon, den Hermon, der mit seinem Schnee wie
eine Perle in der Sonne glänzt; die Berge von Ituräa; das Jordantal,
eingeschlossen zwischen den Hügeln des Sees von Tiberias, und die Berge der
Gaulanitis verlieren sich in traumhafter Ferne und bieten einen wundervollen
Anblick.
«Schön! Schön! Sehr schön!» ruft
Jesus bewundernd aus, und es ist, als wolle er diese herrliche Landschaft
segnen oder mit seinen ausgebreiteten Armen und seinem Lächeln umarmen. Er
antwortet den Aposteln, die um diese oder jene Erklärung bitten, und deutet
auf Orte in denen sie schon gewesen sind.
«Ich kann den Jordan aber nicht
sehen», sagt Bartholomäus.
«Du siehst ihn nicht. Er ist
dort, in der Ebene zwischen den beiden Hügelketten, gleich hinter der
westlichen Kette. Wir werden uns dorthin begeben, denn in Peräa und in der
Dekapolis wurde die Frohe Botschaft noch nicht verkündigt.»
Aufmerksam geworden durch einen
jammervollen, unterdrückten Klagelaut, der nicht zum erstenmal an sein Ohr
dringt, wendet er sich sogleich um und schaut den Verwalter an, wie um ihn zu
fragen, was da geschieht.
«Es ist eine der Frauen der Burg,
eine Ehefrau, sie gebiert ein Kind. Es ist ihr erstes und letztes, denn ihr
Gatte ist am ersten Tag des Kislew gestorben. Ich weiß nicht, ob diese Frau
noch lange leben wird, denn seit sie Witwe ist, verzehrt sie sich in
andauernden Weinen. Sie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Hörst du? Sie
hat nicht einmal mehr die Kraft zu schreien. Gewiß... Witwe mit siebzehn
Jahren! ... Sie haben sich sehr geliebt. Meine Frau und die Schwiegermutter
meinen: "In ihrem Kind wird sie Tobias wiederfinden!"... Doch sind es nur
Worte! ...»
Sie steigen vom Turm herab,
machen einen Rundgang um die Festung und bewundern immer wieder den Ort und
den herrlichen Ausblick. Nun möchte der Verwalter den Besuchern unbedingt
Getränke und Früchte anbieten. Sie treten in einen geräumiges Zimmer des
vorderen Kastells, in dem Diener Speisen und Getränke auftragen.
Das Klagen wird nun
herzzerreißend und man hört es deutlich. Der Verwalter entschuldigt sich dafür
und auch, weil durch diesen Umstand seine Frau den Meister nicht begrüßen
kann. Aber ein noch qualvolleres Wehklagen folgt nach, so stark, daß alle
aufhören zu essen und zu trinken.
«Ich werde nachsehen, was
geschehen ist», sagt der Verwalter. Während
173
er hinausgeht, dringt das
Wehklagen noch stärker durch die halbgeöffnete Türe.
Er kehrt zurück und sagt: «Das
Neugeborene ist gestorben! Welch ein Schmerz! Sie versucht, das Kind mit ihren
dahinschwindenden Kräften zu beleben... doch es atmet schon nicht mehr und ist
schwarz!» «Arme Dorkas!» sagt er kopfschüttelnd.
«Bring mir das Kind.»
«Aber es ist tot, Herr.»
«Bring mir das Kind, sage ich, so
wie es ist, und sage der Mutter, sie soll Glauben haben.»
Der Verwalter eilt davon und
kehrt sogleich zurück: «Sie will nicht, sie sagt, sie wird es niemandem geben.
Wie eine Irre sieht sie aus und glaubt, wir würden nur versuchen, ihr das Kind
wegzunehmen!»
«Führe mich an die Schwelle ihres
Zimmers, damit sie mich sehen kann.»
«Aber ...»
«Laß es gut sein! Ich werde mich
nachher reinigen, wenn nötig ...»
Sie laufen eilends durch einen
düstern Gang bis zu einer geschlossenen Tür. Jesus öffnet sie und bleibt an
der Schwelle stehen. Ihm gegenüber, auf dem Bett, drückt ein zartes Geschöpf
ein kleines Wesen, das kein Lebenszeichen mehr von sich gibt, an sein Herz.
«Der Friede sei mit dir, Dorkas!
Schau mich an und weine nicht mehr. Ich bin der Erlöser. Gib mir dein Kind.»
Was in der Stimme Jesu liegt,
weiß ich nicht. Ich sehe nur, daß die Verzweifelte, die bei seinem Anblick das
Neugeborene sofort heftig an ihre Brust gedrückt hat, ihn nun anschaut, und
daß in ihre leidvollen und verwirrten Augen ein wehmütiges Leuchten, in dem
aber große Hoffnung ist, kommt. Sie überläßt das in weiche Leinwand gewickelte
Neugeborene der Frau des Verwalters ... und bleibt, mit ausgestreckten Händen,
das Leben, den Glauben in den weitgeöffneten Augen, taub für die Bitten der
Schwiegermutter, die sie auf die Kissen zurücklegen will.
Jesus nimmt das Bündelchen aus
halb erkaltetem Fleisch und Linnen. Er hält den Kleinen unter den Armen
aufrecht vor sich und drückt seinen Mund auf die kleinen, halb geschlossenen
Lippen; dabei steht er etwas gebeugt, da das kleine Köpfchen nach hinten
sinkt. Dann bläst er stark in den leblosen Hals... Einen Augenblick steht er
so da und berührt mit seinen Lippen den kleinen Mund, und dann erhebt er sein
Haupt... ein Piepsen, wie das eines Vögleins, zittert durch die unbewegte
Luft... ein zweites, stärkeres... ein drittes... und schließlich ein Gewimmer,
begleitet von einem Schütteln des Köpfleins, einem Herumfuchteln der Händchen
und Füßchen, während in einem langen, triumphalen Weinen des Neugeborenen das
behaarte Köpfchen und das kleine Gesichtlein Farbe annehmen... und die Mutter
freudig ausruft: «Mein Sohn! Meine Liebe! Same meines
174
Tobias! An mein Herz! Ans Herz
der Mutter, auf daß sie glücklich sterbe...» Die letzten Worte flüstert sie,
und ihre Stimme erstirbt in einem Kuß und in begreiflichen Gefühlsäußerungen.
«Sie stirbt!» schreien die
Frauen.
«Nein, sie fällt nur in einen
verdienten Schlaf. Wenn sie erwacht, sagt ihr, sie soll den Knaben
Jessai-Tobias nennen. Ich werde sie im Tempel, am Tag ihrer Reinigung,
wiedersehen... Lebt wohl! Der Friede sei mit euch.»Er schließt langsam die
Tür, wendet sich um und will dorthin gehen, wo er seine Apostel zurückgelassen
hat. Doch diese sind schon alle da, und ganz gerührt über das Geschehen
blicken sie ihn bewundernd an.
Zusammen kehren sie in den Hof
zurück und verabschieden sich von dem erstaunten Verwalter, der andauernd
wiederholt: «Wie leid wird es dem Tetrarchen tun, daß er nicht hier sein
konnte!» Dann setzen sie den Abstieg fort, um sich in die Stadt zu begeben.
Jesus legt die Hand auf die
Schulter des alten Benjamin und sagt: «Ich danke dir für das, was du uns
geboten hast, und dafür, daß du mir die Möglichkeit gegeben hast, ein Wunder
zu wirken.»...
391. JESUS SAGT ZUM ERSTEN MAL
SEINE LEIDEN VORAUS; PETRUS WIRD GETADELT
Jesus muß die Stadt Caesarea
Philippi schon im ersten Morgengrauen verlassen haben, denn sie liegt mit
ihren Bergen schon ziemlich weit hinter ihm, während er sich wieder in der
Ebene befindet. Er geht in Richtung Meronsee und von dort zum See von
Genesareth. Bei ihm sind die Apostel und alle Jünger, die in Caesarea waren.
Aber, daß eine so zahlreiche Pilgergruppe unterwegs ist, wundert niemanden,
denn man begegnet schon anderen Karawanen, die auf dem Weg nach Jerusalern
sind. Israeliten oder Proselyten kommen von allen Orten der Diaspora, um sich
einige Zeit in der heiligen Stadt aufzuhalten, um die Rabbis zu hören und
etwas länger im Tempel zu bleiben.
Unter der schon hoch stehenden
Sonne, die jedoch im Frühjahr angenehm ist und mit den jungen Blättern und den
blütenbedeckten Zweigen scherzt und Blumen hervorlockt, Blumen über Blumen an
allen Ecken und Enden, ziehen sie dahin. Die Ebene vor dem See ist ein
einziger Blumenteppich, und auf den Hügeln der Umgebung leuchten die weißen,
rosaroten oder dunkelroten Farben der vielen Obstbäume. Bei den vereinzelten
Bauernhäusern und vor den Hufschmieden am Straßenrand sieht man die ersten
blühenden Rosen in den Gärten, längs der Hecken und an den Mauern.
«Die Gärten Johannas müssen alle
in voller Blüte stehen», bemerkt Simon der Zelote.
175
«Auch der Garten von Nazareth
wird jetzt einem prächtigen Blumenkorb gleichen. Maria ist die süße Biene, die
sich von Rosenstrauch zu Rosenstrauch, zum Jasmin, der bald blühen wird, und
zu den knospenden Lilien begibt. Sie wird einen Mandelzweig pflücken, wie sie
es immer tut, das heißt, jetzt wird sie einen Zweig des Birn- oder
Granatapfelbaumes pflücken und ihn in den Krug in ihrem Zimmerchen stecken.
Als wir Kinder waren, fragten wir sie jedes Jahr: "Warum hast du dort immer
den Zweig eines blühenden Baumes und nicht einige von den ersten Rosen?"
Worauf sie jeweils antwortete: "Weil ich auf diesen Blütenblättern einen
Befehl Gottes geschrieben sehe und weil sie den reinen Duft des Himmels
verbreiten." Erinnerst du dich daran, Judas?» fragt Jakobus des Alphäus seinen
Bruder.
«Ja, ich erinnere mich. Ich
entsinne mich auch, wie ich, als ich zum Mann herangewachsen war, stets mit
Sehnsucht den Frühling erwartete, um Maria durch ihren Garten gehen zu sehen,
unter den Wolken ihrer blühenden Bäume und zwischen den Hecken der ersten
Rosen. Ich habe nie ein schöneres Schauspiel gesehen als das der ewigen
Jungfrau, die flink zwischen den fliegenden Tauben inmitten der Blumen hin-
und herging.»
«Oh, beeilen wir uns, um sie bald
zu sehen, Herr! Auch ich möchte dies alles sehen!» bettelt Thomas.
«Wir brauchen nur rascher zu
gehen und während der Nachtzeit weniger lange zu rasten, um rechtzeitig nach
Nazareth zu kommen», antwortet Jesus.
«Wirst du mich wirklich
zufriedenstellen, Herr?»
«Ja, Thomas! Wir werden alle nach
Bethsaida und dann nach Kapharnaum gehen, und uns dann dort trennen. Wir
werden mit dem Boot nach Tiberias fahren und dann unseren Weg nach Nazareth
fortsetzen. Mit Ausnahme von euch Judäern, werden wir leichtere Gewänder
anziehen, denn der Winter ist vorüber.»
«Ja, und wir werden zur Taube
sagen: "Auf, meine Freundin, meine Schönste, komm. Denn siehe, vorbei ist der
Winter, der Regen verschwunden, vergangen. Die Blumen erscheinen am Boden.
Auf, meine Freundin meine Schönste, komm! Komm, meine Taube im Verstecke des
Wandschirms. Laß deinen Anblick mich schauen, deine Stimme mich hören!"»
«Seht nur, Johannes ist wie ein
Verliebter, der seiner Schönen ein Ständchen bringt!» sagt Petrus.
«Gewiß bin ich es, und zwar
verliebt in Maria. Keine andere Frau könnte meine Liebe wecken, nur Maria, die
mit meinem ganzen Sein Geliebte!»
«Dasselbe habe auch ich vor einem
Monat gesagt, nicht wahr, Herr?» sagt Thomas.
«Ich glaube, wir sind alle in sie
verliebt, mit einer so erhabenen himmlischen Liebe... die nur sie, Maria, zu
wecken vermag. Die Seele liebt ihr
176
Seele in vollkommener Weise, der
Geist liebt und bewundert ihren Geist, das Auge sättigt sich an ihrer reinen
Anmut, die erfreut ohne erschauern zu machen, wie wenn man eine Blume
betrachtet... Maria, die Schönheit der Erde und, ich glaube, auch die
Schönheit des Himmels!» sagt Matthäus.
«Das ist wahr! Das ist wahr! Alle
sehen wir in Maria, was am anmutigsten ist an einer Frau. Sie ist das reine
Mädchen und die liebste Mutter, und man weiß nicht, ob man sie mehr der einen
oder der anderen Anmut wegen liebt...», sagt Philippus.
«Man liebt sie, weil sie "Maria"
ist. Das ist es!» meint Petrus.
Jesus hat ihnen zugehört und
sagt: «Alle habt ihr recht. Simon Petrus hat es sehr gut gesagt. Maria liebt
man, weil sie "Maria" ist. Ich habe euch auf dem Weg nach Caesarea gelehrt,
daß nur die, die den vollkommenen Glauben mit der vollkommenen Liebe
verbinden, imstand sein werden, die wahre Bedeutung der Worte zu verstehen:
"Jesus, der Gesalbte, das Wort, der Sohn Gottes und der Menschensohn." Aber
ich sage euch, daß es noch einen anderen Namen gibt, der reich an Bedeutung
ist. Es ist der Name meiner Mutter. Nur jene, die vollkommenen Glauben mit
vollkommener Liebe verbinden, werden auch dahin gelangen, die wahre Bedeutung
des Namens "Maria", der Mutter des Sohnes Gottes, zu erkennen. Die wahre
Bedeutung ihres Namens wird den wahrhaft Glaubenden und den wahren Liebenden
in einer schrecklichen Stunde des Schmerzes offenbar werden, wenn die
Gottesgebärerin mit ihrem Kinde gemartert werden wird, wenn die Miterlöserin
mit dem Erlöser vor den Augen der ganzen Welt und für alle Zeiten die Menschen
erlösen wird.»
«Wann wird das geschehen?» fragt
Bartholomäus, als sie am Ufer eines großen Gießbaches stehengeblieben sind,
aus dem mehrere der Jünger trinken.
«Laßt uns hier anhalten und das
Brot brechen. Die Sonne steht schon hoch. Heute abend werden wir am Meronsee
sein und den Weg mit kleinen Booten abkürzen», antwortet Jesus ausweichend.
Sie setzen sich alle auf das
frische weiche, von der Sonne erwärmte Gras an den Ufern des Baches, und
Johannes bemerkt: «Es tut einem leid, diese schönen Blümlein zu zerdrücken.
Sie gleichen Sternchen, die vom Himmel auf die Wiese gefallen sind.» Es sind
Hunderte und Aberhunderte von Vergißmeinnicht.
«Morgen werden neue und noch
schönere erblühen. Sie blühen, um aus dem Erdreich einen Speisesaal für
unseren Herrn zu machen», tröstet ihn sein Bruder Jakobus.
Jesus opfert und segnet die
Speise, und alle beginnen freudig zu essen. Die Jünger blicken alle, wie
Sonnenblumen, die sich nach der Sonne drehen, auf Jesus, der in der Mitte des
Kreises seiner Apostel sitzt... Das mit Frohsinn und reinem Wasser gewürzte
Mahl ist bald beendet. Doch da
177
Jesus noch sitzenbleibt, rührt
sich niemand. Die Jünger rücken zusammen, um näher bei Jesus zu sein und zu
hören, was er sagt, wenn er den Aposteln antwortet. Sie möchten Erläuterungen
über das, was er zuvor über seine Mutter gesagt hat.
«Ja, mir dem Fleische nach Mutter
zu sein, wäre schon etwas Erhabenes gewesen. Bedenkt, daß Anna des Elkana als
Mutter des Samuel erwähnt wird, und er war nur ein Prophet. Dennoch wird die
Mutter erwähnt, weil sie ihn geboren hat. Bedenkt nun, daß Maria das
allerhöchste Lob gebühren würde, weil sie der Welt den Erlöser geschenkt hat.
Doch auch das wäre wenig, wenn man bedenkt, was Gott alles von ihr verlangt,
um das, was zur Erlösung der Welt an meinen Drangsalen noch fehlt, zu
ergänzen. Maria wird dem Wunsche Gottes entsprechen. Nie hat sie ihn
enttäuscht, angefangen von den Forderungen der totalen Liebe bis zu denen des
totalen Opfers: sie hat sich hingegeben, und sie wird sich hingeben. Wenn sie
einst das höchste Opfer mit mir und für mich und für die Welt vollbracht haben
wird, dann werden die wahren Gläubigen und die wahren Liebenden die wahre
Bedeutung ihres Namens verstehen. Durch alle Jahrhunderte hindurch wird es
jedem wahren Gläubigen und Liebenden gegeben werden, ihn zu erkennen. Den
Namen der erhabenen Mutter, der heiligen Ernährerin, die durch alle
Jahrhunderte hindurch die Kinder des Gesalbten mit ihren Tränen nähren wird,
auf daß sie zum ewigen Leben im Himmel heranwachsen!»
«Tränen, Herr? Muß deine Mutter
weinen?» fragt Iskariot.
«Jede Mutter weint, und meine
Mutter wird mehr als jede andere weinen!»
«Aber warum? Ich habe meine
Mutter einigemale zum Weinen gebracht, denn ich war nicht immer ein guter
Sohn. Aber du! Du fügst deiner Mutter nie Schmerz zu.»
«Nein, gewiß werde ich ihr als
Sohn keinen Schmerz zufügen, jedoch als Erlöser werde ich die Ursache vieler
ihrer Tränen sein. Zwei werden es sein, die meine Mutter ohne Ende weinen
lassen: Ich, um die Menschheit zu erlösen, und die Menschheit durch ihr
fortwährendes Sündigen. Jeder Mensch, der gelebt hat, lebt und zukünftig leben
wird, kostet Maria Tränen.»
«Aber warum?» fragt Jakobus des
Zebedäus erstaunt.
«Weil mich jeder Mensch, den ich
erlöse, Qualen kostet.»
«Aber wie kannst du dies von
jenen sagen, die schon gestorben oder noch nicht geboren sind. Die Lebenden
verursachen dir Leiden, die Schriftgelehrten, die Pharisäer, die Sadduzäer mit
ihren Anklagen, ihren Eifersüchteleien, ihren Bosheiten. Aber mehr doch
nicht», behauptet Bartholomäus mit Bestimmtheit.
«Johannes der Täufer wurde auch
getötet... und er ist nicht der einzige Prophet, den Israel getötet hat, und
der einzige Priester nach dem Willen
178
Gottes, der getötet wurde, weil
er denen, die Gott ungehorsam sind, nicht genehm war.»
«Aber du bist doch mehr als ein
Prophet und sogar mehr als der Täufer, dein Vorläufer. Du bist das Wort
Gottes. Die Hand Israels wird sich nicht gegen dich erheben», sagt Judas
Thaddäus.
«Glaubst du das, Bruder? Dann
bist du im Irrtum», antwortet ihm Jesus.
«Nein! Das kann nicht sein! Das
darf nicht geschehen! Gott wird es nicht zulassen! Das wäre eine ewige
Erniedrigung seines Gesalbten!» Judas Thaddäus ist so erregt, daß er sich
erhebt.
Auch Jesus tut dasselbe. Er
schaut ihm fest in sein blaß gewordenes Antlitz, in seine aufrichtigen Augen
und sagt langsam: «Und doch wird es so sein», und er senkt den rechten Arm,
den er wie zum Schwur erhoben hatte.
Alle stehen auf und drängen sich
noch näher an ihn heran; ein Kranz betrübter, aber eher noch ungläubiger
Gesichter; ein Murmeln geht durch die Gruppe: «Gewiß... wenn es so wäre...
dann hätte Thaddäus recht.»
«Was mit dem Täufer geschah, war
schlecht. Aber es hat den Menschen erhöht, der bis zum Ende heldenhaft
ausharrte. Wenn dies sich jedoch bei Christus wiederholen sollte, wäre es eine
Herabsetzung.»
«Christus kann verfolgt, aber
nicht erniedrigt werden. Die Salbung Gottes ist über ihm.»
«Wer könnte noch glauben, wenn
man dich der Gewalt der Menschen ausgeliefert sähe?»
«Wir werden es nicht zulassen!»
Der einzige, der schweigt, ist
Jakobus des Alphäus. Sein Bruder fährt ihn an: «Du sagst nichts? Du rührst
dich nicht? Hörst du nicht? Verteidige Christus gegen sich selbst!»
Statt einer Antwort bedeckt
Jakobus sein Gesicht mit den Händen, entfernt sich ein wenig von der Gruppe
und weint.
«Er ist dumm!» schimpft sein
Bruder.
«Vielleicht weniger, als du
meinst», entgegnet Ermastheus. Dann fährt er fort: «Als der Meister gestern
die Prophezeiung erklärt hat, hat er von einem aufgelösten Körper gesprochen,
der sich erneuert, und von einem, der aus sich selbst aufersteht. Ich denke,
daß einer nicht auferstehen kann, wenn er nicht zuvor gestorben ist.»
«Aber er kann eines natürlichen
Todes, an Altersschwäche sterben. Das wäre schon viel für Christus!» meint
Thaddäus, und viele geben ihm recht.
«Ja, aber dann wäre es nicht ein
Zeichen, das dieser Generation gegeben wird, die viel älter ist als er»,
bemerkt Simon der Zelote.
«Sicher. Aber es ist nicht
gesagt, daß er über sich selbst spricht», entgegnet Thaddäus, beharrlich in
seiner Liebe und seiner Hochachtung.
179
Niemand, der nicht Gottes Sohn
ist, kann aus eigener Kraft auferstehen, so wie niemand außer dem Sohn Gottes
geboren werden kann, wie er geboren wurde. Ich sage es! Denn ich habe die
Herrlichkeit seiner Geburt gesehen», sagt Isaak mit Überzeugung.
Jesus hat ihnen mit verschränkten
Armen zugehört und sie einen nach dem andern angeschaut. Jetzt gibt er ein
Zeichen, daß er reden möchte und sagt: «Der Menschsohn wird in die Hände der
Menschen überliefert werden, weil er der Sohn Gottes und zugleich der Erlöser
der Menschen ist, und es gibt keine Erlösung ohne Leiden. Ich werde
körperlich, in Fleisch und Blut, leiden, um die Sünden des Fleisches und
Blutes zu sühnen. Auch ein moralisches Leiden werde ich durchzustehen haben,
um die Sünden des Verstandes und der Leidenschaften zu sühnen. Es wird dies
ein geistiges Leiden sein, um die Sünden des Geistes zu tilgen. Vollständig
wird es sein. Daher werde ich zur vorherbestimmten Stunde in Jerusalern
gefangengenommen werden, und nachdem ich durch die Schuld der Ältesten und der
Hohenpriester, der Schriftgelehrten und Pharisäer vieles erlitten haben werde,
werde ich zu einem schmählichen Tode verurteilt. Gott wird all dies zulassen,
denn so muß es geschehen, da ich das Sühnelamm bin für die Sünden der ganzen
Welt. Dann werde ich in einem Meer schrecklicher Angst, die meine Mutter und
wenige andere mit mir teilen werden, am Kreuzesholz sterben. Nach drei Tagen
werde ich durch meinen eigenen göttlichen Willen zum ewigen, glorreichen Leben
als Gottmensch auferstehen und wieder zum Vater im Himmel zurückkehren und mit
ihm und dem Geist Gott sein. Doch zuvor werde ich alle Schmach erleiden müssen
und mein Herz wird durchbohrt werden durch die Lüge und den Haß der Welt.»
Ein Chor heftiger Entrüstung
erhebt sich in der lauen, frühlingshaft duftenden Luft.
Auch Petrus ist empört und mit
entsetztem Gesicht ergreift er Jesus am Arm und zieht ihn etwas zur Seite, um
ihm leise ins Ohr zu flüstern: «Aber nein, Herr! Sage das nicht! Das ist nicht
richtig! Du siehst, wie sie sich entrüsten. Du verminderst dein Ansehen bei
ihnen. Um nichts in der Welt darfst du das zulassen; nie darf dir so etwas
zustoßen. Weshalb also soll es als eine Wirklichkeit ins Auge gefaßt werden?
Dein Ansehen bei den Menschen muß stets höher steigen, wenn du Anerkennung
ernten willst, und dein Leben solltest du vielleicht mit einem letzten Wunder
beschließen, zum Beispiel durch die Vernichtung deiner Feinde, doch niemals
darfst du dich so erniedrigen, daß du dich einem bestraften Verbrecher
gleichstellst.» Petrus gleicht einem betrübten Lehrer oder Vater, der seinem
Sohn, der irgendwelche Torheiten gesagt hat, liebevoll sanfte Vorwürfe macht.
Jesus, der sich etwas zu Petrus
geneigt hat, um sein Geflüster anzuhören, richtet sich nun ernst auf, seine
Augen funkeln verärgert, und er ruft
180
so laut, daß alle hören können,
was allen gilt: «Weiche von mir, der du in diesem Augenblick ein Satan bist
und mir rätst, dem Vater im Himmel meinen Gehorsam zu verweigern! Um ihm zu
gehorchen, bin ich gekommen, nicht um der Ehren willen! Du, der du mir zum
Hochmut, zum Ungehorsam und zur lieblosen Härte rätst, versuchst, mich zum
Bösen zu verführen. Geh, du bist mir ein Ärgernis! Du verstehst nicht, daß die
Größe nicht in den Ehren, sondern im Opfer besteht, und daß es nichts
bedeutet, in den Augen der Menschen ein Wurm zu sein, wenn Gott uns als Engel
erachtet! Du törichter Mensch verstehst nicht, worin die Größe Gottes und die
Weisheit Gottes bestehen, und siehst, urteilst, fühlst und sprichst aus dem,
was des Menschen ist!»
Der arme Petrus, vernichtet von
diesem strengen Tadel, entfernt sich beschämt und weint... und es sind nicht
Tränen der Freude, wie vor einigen Tagen, sondern es ist das trostlose Weinen
eines Menschen, der begreift, daß er Schuld auf sich geladen und den betrübt
hat, den er liebt. Jesus läßt ihn weinen, löst die Riemen seiner Sandalen,
hebt sein Gewand etwas hoch und watet durch den Bach. Die anderen machen es
ihm schweigend nach. Niemand wagt, ein Wort zu sagen. Als letzter folgt
Petrus, der vergeblich von Isaak und dem Zeloten getröstet wird. Andreas
wendet sich mehr als einmal nach ihm um und flüstert Johannes, der sehr
betrübt ist, etwas zu. Doch Johannes schüttelt nur den Kopf.
Da faßt Andreas Mut, eilt nach
vorn und holt Jesus ein. Leise ruft er, mit einem merklichen Zittern in der
Stimme: «Meister, Meister! ...»
Jesus läßt ihn mehrmals rufen,
und schließlich dreht er sich um und fragt streng: «Was willst du?»
«Meister, mein Bruder ist
betrübt... Er weint...»
«Er hat es verdient!»
«Das ist wahr, Herr. Aber er ist
doch nur ein Mensch... und kann nicht immer richtig reden.»
«In der Tat, heute hat er sehr
schlecht geredet», antwortet Jesus. Er ist schon weniger streng, und ein
Anflug von Lächeln mildert das göttliche Auge.
Andreas faßt Mut und fährt mit
seiner Fürsprache zugunsten seines Bruders fort: «Doch du bist gerecht und
weißt, daß es die Liebe zu dir war, die ihn hat irren lassen ...»
«Die Liebe muß Licht sein und
nicht Finsternis. Er hat sie in Finsternis gewandelt und seinen Geist damit
umhüllt.»
«Das ist wahr, Herr. Aber die
Binden kann man entfernen, wenn man den Willen dazu hat. Es ist nicht
dasselbe, wie wenn im Geist selbst Finsternis herrscht. Die Binden sind eine
Hülle. Der Geist ist das Innere, der lebendige Kern... Das Innere meines
Bruders ist gut.»
«Er soll also die Binden
entfernen, mit denen er seinen Geist umhüllt hat.»
181
«Er wird es gewiß tun, Herr, und
er tut es schon. Dreh dich um und schau, wie sein Gesicht entstellt ist vom
Weinen, weil du ihn nicht tröstest. Warum bist du so streng mit ihm?»
«Weil er die Pflicht hat, der
"Erste" zu sein, da ich ihm diese Ehre verliehen habe. Wer viel empfängt, muß
auch viel geben ...»
«Oh, Herr, das ist wahr. Aber
erinnerst du dich nicht an Maria des Lazarus? An Johannes von Endor? An
Aglaia? An die Schöne von Chorazim? An Levi? Diesen hast du alles gegeben, und
sie haben dir noch nichts anderes gegeben als die Absicht, sich erlösen zu
lassen... Herr 1
Du hast mich erhört zugunsten der
Schönen von Chorazim und der Aglaia. Willst du mich nicht für deinen und
meinen Simon erhören, der aus Liebe zu dir gesündigt hat?»
Jesus senkt seinen Blick zu dem
Sanften, der eifrig und eindringlich für seinen Bruder bittet, so wie er es
schweigend für Aglaia und die Schöne von Chorazim getan hat, und sein Antlitz
erstrahlt. «Geh und rufe mir deinen Bruder und bringe ihn her zu mir!» sagt
er.
«Oh, danke, mein Herr! Ich gehe
...», und er eilt davon, behende wie eine Schwalbe.
«Komm, Simon! Der Meister grollt
dir nicht mehr. Komm, er will dir etwas sagen.»
«Nein, nein. Ich schäme mich...
Es ist noch nicht lange her, daß er mich getadelt hat... Er ruft mich, um mich
noch einmal zu tadeln ...»
«Wie schlecht du ihn kennst! Auf,
komm! Meinst du, ich würde dir ein neues Leid antun? Wenn ich nicht sicher
wäre, daß dich bei ihm eine Freude erwartet, würde ich nicht darauf bestehen.
Komm!»
«Aber was soll ich ihm denn
sagen?» fragt Petrus und begibt sich etwas widerstrebend zu Jesus. Seine
Menschlichkeit hält ihn zurück, jedoch sein Geist, der nicht ohne
Willfährigkeit gegenüber Jesus und seiner Liebe sein kann, spornt ihn an.
«Was soll ich ihm sagen?» fährt
er fort zu fragen.
«Nichts! Zeig ihm dein Gesicht,
das wird genügen», ermuntert ihn der Bruder.
Alle Jünger, an denen die beiden
Brüder vorübergehen, schauen sie lächelnd an, denn sie verstehen, was vor sich
geht.
Sie haben Jesus nun eingeholt,
aber im letzten Augenblick bleibt Petrus stehen.
Andreas macht keine Geschichten
mehr, und mit einem energischen Ruck, wie er es bei seinem Boot tut, wenn er
es ins Wasser schiebt, stößt er ihn vorwärts. Jesus bleibt stehen. Petrus
erhebt sein Gesicht... Jesus senkt seinen Blick... Sie schauen einander an.
Zwei dicke Tränen rollen über die geröteten Wangen des Petrus...
«Komm her, du großes, unbedachtes
Kind, daß ich dir als Vater die Tränen trockne», sagt Jesus, hebt seine Hand,
auf der noch das Mal des
182
Steinwurfs von Gischala sichtbar
ist, und wischt mit seinen Fingern die beiden Tränen ab.
«O Herr, hast du mir verziehen?»
stottert Petrus zitternd, indem er die Hand Jesu in die seine nimmt und ihn
mit Augen eines treuen Hündleins anschaut, das sich von seinem erzürnten Herrn
verzeihen lassen will.
«Ich habe dich nie verurteilt...»
Aber vorhin...»
«Habe ich dich geliebt! Es ist
Liebe, nicht zu erlauben, daß die Verirrung des Gefühls und der Weisheit in
dir Wurzel faßt. Du mußt in allem der erste sein, Simon Petrus!»
«Dann... dann... liebst du mich
immer noch? Willst du mich wieder haben? Nicht, daß ich den ersten Platz haben
will, weißt du? Mir genügt auch der letzte. Aber ich will bei dir sein, in
deinen Diensten... und in deinem Dienste sterben, mein Herr und Gott!»
Jesus legt ihm den Arm um die
Schultern und zieht ihn an seine Seite. Da bedeckt Simon, der die andere Hand
Jesu noch nicht losgelassen hat, diese mit Küssen. Selig flüstert er: «Wie
sehr habe ich gelitten! ... Danke, Jesus!»
«Bedanke dich eher bei deinem
Bruder, und wisse in Zukunft deine Last mit Gerechtigkeit und Heldenmut zu
tragen. Wir wollen nun auf die anderen warten. Wo sind sie?»
Sie sind dort stehengeblieben, wo
Petrus Jesus eingeholt hat, um dem Meister die Möglichkeit zu geben, mit
seinem gedemütigten Apostel zu reden. Jesus winkt ihnen zu, daß sie
herankommen sollen. Bei ihnen steht eine kleine Gruppe von Landarbeitern, die
aufgehört haben, auf den Feldern zu arbeiten und gekommen sind, um den Jüngern
Fragen zu stellen.
Jesus, der immer noch seine Hand
auf der Schulter des Petrus liegen hat, sagt: «Nach dem, was hier vorgefallen
ist, habt ihr verstanden, daß es eine ernste Sache ist, in meinem Dienst zu
stehen. Ich habe Petrus getadelt, doch mein Tadel galt allen, denn die
gleichen Gedanken waren in den Herzen fast aller, und zwar schon geformt, oder
zumindest im Aufkeimen. So habe ich sie in euch ein für allemal entwurzelt,
und wer sie noch weiter hegen sollte, beweist dadurch, daß er weder meine
Lehre, noch meine Sendung, noch mich, verstanden hat.
Ich bin gekommen, um Weg,
Wahrheit und Leben zu sein. Ich gebe euch die Wahrheit durch meine Lehre. Ich
bereite euch den Weg durch mein Opfer; ich zeichne ihn vor und zeige ihn euch.
Aber das Leben gebe ich euch durch meinen Tod. Bedenket: wer immer meinem Ruf
folgt und sich mir anschließt, um an der Erlösung der Welt mitzuwirken, muß
stets bereit sein zu sterben, um anderen das Leben zu geben. Darum muß jeder,
der mir nachfolgen will, bereit sein, sich selbst zu verleugnen, den alten
Menschen mit seinen Leidenschaften, Neigungen, Sitten, Überlieferungen und
Gedanken abzulegen und mir mit seinem neuen Ich zu folgen.
183
Ein jeder nehme sein Kreuz auf
sich, wie ich es auf mich nehmen werde. Er nehme es auf sich, selbst wenn es
ihm allzu schmachvoll erscheinen sollte. Er erdulde, daß die Last seines
Kreuzes sein eigenes menschliches Ich erdrückt, um dadurch sein geistiges Ich
zu befreien, dem das Kreuz keinen Schrecken einflößt, sondern dem es vielmehr
zum Gegenstand der Stütze und der Verehrung wird; weil der Geist erkennt und
bedenkt. Mit seinem Kreuz folge er mir nach. Wird ihn am Ende seines Weges ein
schändlicher Tod erwarten, wie mich? Das tut nichts, er betrübe sich nicht,
sondern frohlocke, denn die Schmach dieser Erde wird sich im Himmel in große
Herrlichkeit wandeln, während es unehrenhaft wäre, feige hinsichtlich des
geistigen Heldentums zu sein. Ihr sagt immer, daß ihr mir bis in den Tode
folgen wollt. Folgt mir also nach, und ich werde euch in Gottes Reich führen
auf einem schweren, aber heiligen und siegreichen Weg, an dessen Ziel ihr das
auf ewig unveränderliche Leben erlangen werdet. Das wird "leben" sein. Auf den
Wegen der Welt und des Fleisches wandeln dagegen bedeutet "sterben". Deshalb
sage ich euch, wenn jemand sein Leben auf Erden retten will, wird er es
verlieren, während jener, der das Leben auf Erden meinetwegen und aus Liebe zu
meiner Frohen Botschaft verliert, es retten wird. Erwägt: Was nützt es dem
Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, jedoch dann seine Seele verliert?
Hütet euch wohl, jetzt und in
Zukunft, euch meiner Worte und Handlungen zu schämen. Auch das würde "sterben"
bedeuten, denn wer sich meiner und meiner Worte schämt, inmitten des
törichten, ehebrecherischen und sündhaften Geschlechtes, von dem ich
gesprochen habe, und von diesem Schutz und Vorteil erhofft, ihm huldigt und
dabei mich und meine Lehre verleugnet und meine Worte in das unreine Maul der
Schweine und Hunde wirft, um dafür Kot anstatt Gold zu erhalten, der wird vom
Menschensohn gerichtet werden, wenn er in der Herrlichkeit seines Vaters mit
den Engeln und Heiligen kommen wird, um die Welt zu richten. Dann wird er sich
dieser Ehebrecher, Verräter und Wucherer schämen und sie aus seinem Reiche
verjagen, denn im Himmlischen Jerusalern wird kein Platz sein für Ehebrecher,
Verräter, Flucher, Gotteslästerer und Diebe. Wahrlich, ich sage euch, es gibt
hier unter meinen Jüngern und Jüngerinnen solche, die der Tod nicht erreichen
wird, bevor sie das Reich Gottes auf Erden, mit seinem gekrönten und gesalbten
König erlebt haben.»
Sie setzen den Weg wieder fort,
und reden lebhaft miteinander, während die Sonne am Himmel langsam untergeht.
184
392. PROPHEZEIUNG ÜBER PETRUS UND
MARGZIAM; DER BLINDE VON BETHSAIDA
Sie gehen nicht mehr, sondern sie
eilen in einer neuen Morgenröte, die noch schöner und klarer als an den
vorhergehenden Tagen ist. Überall glitzern Tautropfen, die zusammen mit den
bunten Blüten auf ihre Köpfe und die Wiesen herabrieseln, um noch weitere
Farben unter die zahllosen, bereits auf den Wiesen und Feldern vorhandenen
Blümlein zu mischen und neue Diamanten auf den frischen Grashalmen zu
entzünden. Sie laufen und hören dem Singen der brünstigen Vögel zu, dem
Säuseln einer leichten Brise und dem Plätschern der Gewässer, die seufzen oder
wie Harfenklänge unter den Ästen ertönen, Gras und Getreide liebkosen, das von
Tag zu Tag höher wird, oder einfach zwischen den Ufern weiterfließen und sanft
die Halme, die das klare Wasser berühren, biegen. Sie laufen, als ginge es zu
einem Liebesmahl. Auch die Älteren, wie Philippus, Bartholomäus, Matthäus und
der Zelote teilen die heitere Eile mit den Jüngeren. So ist es auch bei den
Jüngern, bei denen die ältesten mit den jüngsten im hurtigen Wandern
wetteifern.
Noch ist der Tau auf den Wiesen
nicht getrocknet, als sie die Gegend von Bethsaida erreichen, die in den engen
Raum zwischen dem See, dem Fluß und dem Berg eingezwängt ist.
Aus dem Bergwald kommt auf einem
Pfade ein Jüngling mit einem Reisigbündel daher, steigt flink herab, fast im
Laufschritt, und sieht seiner gebückten Haltung wegen die Apostel nicht...
Fröhlich singend läuft er mit der Last seines Holzbündels zur Hauptstraße und
bei den ersten Häusern von Bethsaida angelangt, setzt er seine Bürde zu Boden
und richtet sich auf, um auszuruhen, und wirft seine braunen Haare zurück. Er
ist hochgewachsen, schlank und aufrecht, mit einem kräftigen Körper und
beweglichen, schlanken Gliedern. Eine schöne Jünglingsgestalt.
«Es ist Margziam», sagt Andreas.
«Bist du verrückt? Der dort ist
doch schon ein Mann!» antwortet ihm Petrus.
Andreas legt seine Hände wie
einen Trichter vor den Mund und ruft ihn laut. Der Jüngling, der sich gebückt
hat, um die Last wieder aufzunehmen, nachdem er den Gürtel an seiner kurzen
Tunika angezogen hat, die ihm kaum bis zu den Knien reicht und an der Brust
offen ist, da sie ihm wahrscheinlich zu eng ist, wendet sich in die Richtung
des Rufes und erblickt Jesus, Petrus und die anderen, die zu ihm hinschauen.
Sie sind bei einer Gruppe von Trauerweiden stehengeblieben, die ihre Zweige in
das Wasser eines breiten Baches tauchen, dem letzten Zufluß auf der linken
Seite des Jordan, bevor dieser sich an der Grenze des Dorfes in den See von
Galiläa ergießt.
185
Der Jüngling läßt das Bündel
fallen, erhebt seine Arme und ruft: «Mein Herr! Mein Vater!» und beginnt zu
laufen.
Aber auch Petrus beginnt zu
laufen und watet durch den Bach, ohne seine Sandalen auszuziehen, und
beschränkt sich nur darauf, die Kleider zusammenzuhalten. Dann läuft er auf
der staubigen Straße weiter, während die breiten nassen Spuren seiner Sandalen
auf dem trockenen Erdboden zurückbleiben.
«Mein Vater!»
«Lieber Sohn!»
Sie liegen sich in den Armen, und
Margziam ist wirklich so groß wie Petrus, so daß seine braunen Haare bei dem
liebevollen Kuß ins Antlitz des Petrus fallen. Er scheint sogar größer als
sein Adoptivvater zu sein, da er so schlank ist. Nun löst Margziam sich aus
der herzlichen Umarmung und beginnt weiterzulaufen, auf Jesus zu, der
inzwischen ebenfalls den Bach überquert hat und sich, umgeben von seinen
Aposteln, langsam nähert.
Margziam fällt ihm zu Füßen und
sagt mit erhobenen Händen: «O mein Herr, segne deinen Diener!»
Jesus aber neigt sich zu ihm
nieder und zieht ihn an sein Herz, küßt ihn auf beide Wangen und wünscht ihm:
«Beständiger Friede, Zunahme an Weisheit und Gnade auf den Wegen des Herrn!»
Auch die anderen Apostel feiern
den Jüngling, besonders diejenigen, die ihn seit Monaten nicht mehr gesehen
haben, und beglückwünschen ihn zu seiner Entwicklung.
Aber Petrus! Petrus! Selbst wenn
es sein leiblicher Sohn gewesen wäre, hätte er sich nicht mehr freuen können!
Er geht um ihn herum, schaut ihn an, berührt ihn und sagt zum einen und
andern: «Ist er nicht schön? Ist er nicht wohlgestaltet! Schaut, wie aufrecht
er ist! Welch breite Brust! Welch gerade Beine er hat! ... Etwas mager, noch
wenig Muskeln, doch läßt sich das Beste erhoffen. Wirklich, das Beste! Sein
Gesicht? Schaut, ob er noch das kleine Wesen ist, das ich letztes Jahr auf
meinen Armen getragen habe, als ich das Gefühl hatte, ein lahmes, dunkles,
trauriges, ängstliches Vögelchen zu bergen... Gute Porphyria! Ja, sie hat
wirklich alles gut gemacht, mit all dem Honig, der Butter, dem Öl, den Eiern
und der Fischleber, die sie ihm gegeben hat! Sie verdient, daß ich es ihr
sofort sage. Darf ich gleich zu meiner Frau gehen, Meister?»
«Geh, geh, Simon! Ich werde dich
bald einholen.»
Margziam, den Jesus noch an der
Hand hält, sagt: «Meister, mein Vater wird gewiß die Mutter bitten, ein
Gastmahl zu bereiten. Laß mich gehen, um ihr zu helfen...»
«Geht, und Gott möge dich segnen,
weil du Vater und Mutter ehrst.»
Margziam eilt davon, nimmt sein
Reisigbündel wieder auf und holt Petrus ein, an dessen Seite er nun geht.
186
«Sie gleichen Abraham und Isaak,
wie sie auf den Berg steigen», bemerkt Bartholomäus.
«Oh, armer Margziam! Das würde
gerade noch fehlen!» sagt Simon der Zelote.
«Und armer Bruder! Ich weiß
nicht, ob er die Kraft zur Tat Abrahams hätte..., sagt Andreas.
Jesus blickt ihn an, dann schaut
er auf das graumelierte Haupt des Petrus, der sich mit seinem Margziam
entfernt, und sagt: «Wahrlich, ich sage euch, eines Tages wird Simon Petrus
sich freuen zu erfahren, daß sein Margziam gefangengenommen, geschlagen,
gegeißelt worden und dem Tode nahe sein wird. An jenem Tag würde er den Mut
haben, ihn mit eigenen Händen an den Galgen zu hängen, um ihn dadurch mit dem
Purpur des Himmels zu bekleiden und die Erde mit dem Blut des Märtyrers zu
düngen, nur eines bedauern: daß er nicht an der Stelle seines Sohnes sein
kann, da seine Erwählung zum obersten Haupt meiner Kirche ihn verpflichtet,
sich so lange zu schonen, bis ich ihm sagen werde: "Geh nun und stirb für
sie." Ihr kennt Petrus noch nicht. Ich kenne ihn.»
«Siehst du das Martyrium für
Margziam oder meinen Bruder voraus?»
«Schmerzt es dich, Andreas?»
«Nein! Es schmerzt mich, weil du
es nicht auch für mich voraussiehst.»
«Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch, ihr werdet alle, ausgenommen einer, mit Purpur bekleidet sein!»
«Wer? Wer?»
«Breiten wir das Schweigen über
den Schmerz Gottes», sagt Jesus traurig und feierlich. Alle schweigen
verängstigt und nachdenklich.
Sie betreten die erste Straße von
Bethsaida, zwischen Gärten voll frischem Gemüse. Petrus und andere von
Bethsaida bringen einen Blinden zu Jesus. Margziam ist nicht dabei. Gewiß ist
er zu Hause geblieben, um Porphyria zu helfen. Unter denen von Bethsaida und
den Angehörigen des Blinden befinden sich viele Jünger, die von Sycaminon und
anderen Städten hergekommen sind, darunter Stephanus, Hermas, der Priester
Johannes, Johannes der Schriftgelehrte und viele andere.
(Sie alle im Gedächtnis zu
behalten ist nicht leicht. Es sind sehr viele.)
«Ich habe ihn zu dir gebracht. Er
wartet schon seit einigen Tagen hier», erklärt Petrus, während der Blinde und
die Verwandten ein Gejammer anstimmen: «Jesus, Sohn Davids, habe Erbarmen mit
uns!»
«Lege deine Hand auf die Augen
meines Sohnes, und er wird sehend werden.»
«Habe Erbarmen mit mir, Herr! Ich
glaube an dich!»
Jesus nimmt den Blinden an der
Hand und, da die Sonne bereits die Straße durchflutet, zieht er sich mit ihm
einige Meter zurück. Er lehnt ihn mit dem Rücken an die dichtbelaubte Mauer
des ersten Hauses des Dorfes und stellt sich ihm gegenüber. Dann benetzt er
die beiden Zeigefinger mit
187
Speichel und streicht ihm mit den
feuchten Fingern über die Lider. Er drückt die Hände auf die Augen, die
Handwurzel in die Augenhöhlen und die gespreizten Finger ins Haar des
Unglücklichen. So betet er. Schließlich nimmt er die Hände weg und fragt den
Blinden: «Was siehst du?»
«Ich sehe Menschen, gewiß sind es
Menschen, und blühende Bäume, so wie ich sie mir vorgestellt habe. Gewiß sind
das Menschen, denn sie bewegen sich und sind mir zugewandt.»
Jesus legt ihm noch einmal die
Hände auf, und dann nimmt er sie wieder weg und sagt: «Und nun?»
«Oh! Jetzt erkenne ich den
Unterschied deutlich zwischen den in die Erde gepflanzten Bäumen und den
Menschen, die mich anschauen... Und ich sehe dich! Wie schön du bist! Deine
Augen gleichen dem Himmel, und deine Haare scheinen Sonnenstrahlen zu sein...
Dein Blick und dein Lächeln sind göttlich! Herr, ich bete dich an!» und er
kniet nieder, um den Saum des Gewandes Jesu zu küssen.
«Steh auf und geh zu deiner
Mutter, die dir so viele Jahre Licht und Trost gewesen ist und von der du nur
Liebe erfahren hast.»
Er nimmt ihn bei der Hand und
führt ihn zur Mutter, die einige Schritte entfernt auf den Knien in Anbetung
verharrt, wie sie zuvor gefleht hat.
«Erhebe dich, Frau, hier ist dein
Sohn. Er sieht das Licht des Tages, möge sein Herz dem ewigen Licht folgen.
Geht nun nach Hause! Seid glücklich, und seid gerecht in Dankbarkeit gegen
Gott. Aber wenn ihr durch Dörfer kommt, sagt niemandem, daß ich ihn geheilt
habe, damit die Menschen nicht hierher eilen und mich daran hindern, mich
dorthin zu begehen, wo es gerecht ist, daß ich hingehe, um auch anderen
Kindern meines Vaters Glaubenskraft, Licht und Freude zu bringen.»
Dann entschwindet er rasch auf
einem kleinen Pfad zwischen Gärten und erreicht das Haus des Petrus, tritt
hinein und begrüßt Porphyria liebevoll.
393. VON KAPHARNAUM NACH NAZARETH
MIT MANAEN UND DEN JÜNGERINNEN
Als sie zum kleinen Gestade von
Kapharnaum kommen, werden sie von Kindergeschrei empfangen. Mit den
nestbauenden Schwalben wetteifern die Kleinen, so sehr eilen sie vom Strand zu
den Häusern und zwitschern dabei mit ihren hellen Stimmen, unbefangen, heiter
und froh, wie nur Kinder es sein können, für die es ein wunderbares Erlebnis
ist, ein totes Fischlein am Ufer oder ein von der Welle geschliffenes
Steinchen zu finden, das in seiner Farbe einem Edelstein gleicht, zwischen
Steinen eine
188
Blume zu entdecken oder einen
schillernden Käfer im Fluge einzufangen. Alles wundervolle Dinge, die man den
Müttern zeigen muß, damit sie an der Freude ihrer Kinder teilnehmen.
Doch nun haben diese menschlichen
Schwälbchen Jesus gesehen, der dabei ist, seinen Fuß an Land zu setzen, und
alle eilen ihm flugs entgegen. Es ist eine wahrhaftige Lawine von Kindern,
eine liebliche Kette zarter Kinderhände, ja, es ist die Liebe kindlicher
Herzen, die nun Jesus überströmt, der von ihr umgeben, umfaßt und wie durch
ein wohltuendes Feuer erwärmt wird.
«Ich! Ich!»
«Ein Kuß!»
«Mir!»
«Auch mir einen Kuß!»
«Auch ich möchte einen haben!»
«Jesus, ich habe dich lieb!»
«Bleib nicht mehr so lange fort!»
«Ich bin jeden Tag hierher
gekommen, um zu sehen, ob du wieder kommst.»
«Ich bin zu deinem Hause
gegangen.»
«Nimm diese Blume. Sie war für
meine Mutter, aber ich schenke sie dir.»
«Noch einen Kuß für mich, einen
schönen, festen. Der erste hat mich nicht berührt, denn Jaël hat mich
zurückgestoßen...» und die Stimmchen fahren fort zu zwitschern, während Jesus,
umringt von diesem Netz von Zärtlichkeiten, versucht, vorwärtszukommen.
«So laßt ihn doch einen
Augenblick in Ruhe! Weg! Genug!» rufen Jünger und Apostel und versuchen, Jesus
aus der Umklammerung zu befreien. Aber ja! Sie gleichen Lianen mit Saugnäpfen.
Hier löst man sie los, dort hängen sie sich wieder an.
«Laßt sie gewähren! Mit etwas
Geduld werden wir doch ankommen», sagt Jesus lächelnd und macht
unwahrscheinlich kleine Schritte, um voranzukommen, ohne auf die nackten
Füßchen zu treten.
Was ihn schließlich aus der
liebevollen Umklammerung befreit, ist das Erscheinen von Manaen mit anderen
Jüngern, unter ihnen die Hirten, die in Judäa waren.
«Der Friede sei mit dir,
Meister!» donnert der mächtige Manaen in seinem prächtigen Gewand. Er trägt
nun keinen Goldschmuck mehr an Stirn und Fingern, hat jedoch ein prächtiges
Schwert an der Seite, das ehrfurchtsvolle Bewunderung bei den Kindern
hervorruft, die angesichts dieses strammen Ritters im Purpurgewand und mit
einer so erstaunlichen Waffe furchtsam zurückweichen. Das ermöglicht es Jesus,
ihn und Elias, Levi, Matthias, Joseph, Johannes, Simon, und ich weiß nicht wie
viele andere zu umarmen.
189
«Wie kommt es, daß du hier bist,
und wie konntest du wissen, daß ich hier an Land gehen würde?»
«Erfahren habe ich es durch das
Kindergeschrei. Sie sind wie Pfeile freudig über die Mauern gejagt. Ich aber
bin hierher gekommen, da ich annehmen mußte, daß deine Reise nach Judäa
näherrückt und die Frauen sicherlich ebenfalls daran teilnehmen... Ich wollte
auch dabei sein... um dich zu beschützen, Herr, wenn es nicht allzu große
Anmaßung meinerseits ist, dies zu denken... Es gibt deinetwegen sehr viel
Aufregung in Israel. Es tut mir leid dir das sagen zu müssen, doch ist es dir
ja nicht unbekannt.» Während sie miteinander reden, erreichen sie das Haus und
treten ein.
Nachdem der Hausherr und seine
Frau den Meister begrüßt haben, fährt Manaen mit seinem Gespräch fort.
«Begeisterung und Interesse für dich verbreitet sich in allen Orten. Selbst
die Verstockten und die, die sich mit ganz anderen Dingen als den Deinen
beschäftigen, werden auf dich aufmerksam. Nachrichten über dein Wirken sind
hinter die schmutzigen Mauern von Machärus und in die prunkvollen Behausungen
des Herodes vorgedrungen, sowohl in den Palast von Tiberias, als auch in die
Schlösser der Herodias und in den herrlichen Königspalast der Asmonäer beim
Xystos. 1) Wie Wellen des Lichtes und der Macht überwinden sie die Schranken
der Finsternis und Niederträchtigkeit und reißen die Wälle der Sünde nieder,
die zur Verteidigung und zum Schutz der schmutzigen Liebschaften am Hofe und
der tückischen Verbrechen errichtet worden sind. Sie schießen wie
Feuerstrahlen hervor und schreiben weit schwerwiegendere Worte als jene beim
Gastmahl Belsazars an die unzüchtigen Wände der Schlaf-, Thron- und
Speisesäle. Sie künden deinen Namen und deine Macht, deine Natur und deine
Sendung. Herodes zittert darob vor Angst. Herodias findet keinen Schlaf mehr,
weil sie fürchtet, daß du der König der Rache bist, der ihr Reichtum und
Freiheit, wenn nicht gar das Leben nehmen und sie zum Spielball des Pöbels
machen wird, und sich an ihren zahlreichen Verbrechen rächen will. Man ist
erschüttert am Hofe, und zwar deinetwegen. Man zittert aus menschlicher und
übermenschlicher Furcht. Seit das Haupt des Johannes gefallen ist, scheint ein
Feuer in den Eingeweiden seiner Mörder zu glühen. Sie haben nicht einmal mehr
den ärmlichen Frieden von früher, den Frieden gesättigter Schweine, die Ruhe
vor ihren Gewissensbissen haben, wenn sie sich der Trunkenheit oder dem
Beischlaf hingeben... Nichts kann sie mehr beruhigen... Sie sind Verfolgte...
und sie hassen sich nach jeder Liebesstunde, sind einer des anderen
überdrüssig und beschuldigen sich gegenseitig des begangenen und quälenden
Verbrechens, das jedes Maß überschritten
_______
1) Xystos = Markt bzw.
Marktplatz.
190
hat; während Salome, wie von
einem Dämon besessen, von einer Erotik angetrieben wird, die eine Sklavin am
Mühlrad entehren würde. Der Palast stinkt abscheulicher als eine Kloake.
Herodes hat mich mehrmals über
dich ausgefragt, und jedesmal habe ich ihm geantwortet: "Für mich ist er der
Messias, der König Israels aus dem einzigen königlichen Stamm: dem des David.
Er ist der Menschensohn, von dem die Propheten sprechen, das Wort Gottes. Es
ist jener, der als der Christus, der Gesalbte Gottes, das Recht hat, über alle
Lebenden zu herrschen!" Herodes wurde jeweils bleich vor Angst, da er in dir
den Rächer ahnt, und verdrängt die Furcht, den Schrei seines von
Gewissensbissen gemarterten Herzens. Um ihn zu trösten, machen ihm seine
Höflinge vor, daß du Johannes bist, der irrtümlicherweise für tot gehalten
würde, und jagen ihm damit nur noch mehr Furcht ein. Sie wollen ihm auch
einreden, daß du Elias oder sonst ein Prophet der vergangenen Zeiten bist.
Aber er entgegnet stets: "Nein, Johannes kann er nicht sein, den habe ich
enthaupten lassen, und sein Haupt hat Herodias in sicherer Verwahrung. Auch
einer der Propheten kann er nicht sein, denn wenn einer einmal tot ist, lebt
er nicht ein zweites Mal. Doch auch der Christus kann er nicht sein. Wer
behauptet dies? Wer sagt, daß er es ist? Wer wagt mir zu sagen, daß er der
König aus dem einzigen königlichen Geschlecht ist? Ich bin der König, und
niemand anders! Der Messias ist von Herodes dem Großen getötet worden: Kaum
geboren, ist er in einem Meer von Blut ertränkt worden. Er ist abgestochen
worden wie ein Lämmlein... und war erst einige Monate alt... Hörst du, wie er
weint? Sein Blöken hallt immer in meinem Kopf wider, vereint mit dem Rufen des
Johannes, als er sagte: 'Es ist dir nicht erlaubt!'... Mir ist es nicht
erlaubt?! Doch! Alles ist mir erlaubt, denn ich bin der König. Her mit Wein
und Frauen! Wenn sich Herodias meiner Umarmung entzieht, dann soll Salome
tanzen und meine, von deinen furchterregenden Erzählungen betäubten Sinne
wieder erwecken."
Darauf betrinkt er sich in
Gesellschaft der Tänzerinnen seines Hofes, während seine verrückte Frau in
ihrer Kammer Flüche gegen den Märtyrer und Drohungen gegen dich ausstößt, und
Salome daraus entnehmen kann, was es heißt, aus den Sünden zweier Wollüstlinge
hervorgegangen zu sein und durch die Hingabe des Körpers an die tausend
Schändlichkeiten eines Wüstlings ein Verbrechen verschuldet zu haben. Doch
dann kommt Herodes wieder zu sich und will alles über dich wissen und dich
sehen. Gerade deswegen begünstigt er meine Besuche bei dir, weil er hofft, daß
ich dich zu ihm führe. Das ist etwas, was ich nie tun würde, denn niemals
würde ich deine Heiligkeit in die Höhle unreiner Bestien bringen. Herodias
möchte dich dort haben, um dich umzubringen, und sie droht es an, ihren Dolch
in den Händen... Auch Salome, die dich ohne dein Wissen im vorigen Etanim in
Tiberias gesehen hat, möchte dich haben, sie ist verrückt nach dir...
191
Das ist der Königspalast,
Meister! Aber ich bleibe dort, denn so beobachte ich ihre Absichten dir
gegenüber.»
«Ich bin dir dankbar und der
Allerhöchste segnet dich dafür, denn auch das heißt, dem Ewigen in seinen
Beschlüssen dienen.»
«Das habe ich gedacht, und
deswegen bin ich auch gekommen.»
«Manaen, ich möchte dich um eines
bitten, da du hier bist. Komme nicht mit mir, sondern begleite die Frauen nach
Jerusalern hinab. Ich gehe mit diesen hier auf einem unbekannten Weg, und so
wird man mir nichts anhaben können. Aber sie sind wehrlose Frauen und ihre
Begleiter sind sanftmütigen Herzens und angeleitet, dem, der sie schlägt, die
andere Wange zu bieten. Deine Gegenwart hingegen wird ein sicherer Schutz
sein. Ich weiß, daß es für dich ein Opfer bedeutet, doch danach werden wir in
Judäa beisammen sein. Schlage mir meine Bitte nicht ab, mein Freund!»
«Herr, jeder deiner Wünsche ist
für deinen Knecht Befehl. Ich stehe deiner Mutter und den Jüngerinnen von
diesem Augenblick an zu Diensten, und solange du willst.»
«Danke! Auch dieser dein Gehorsam
wird im Himmel geschrieben stehen. Laß uns die Zeit, in der wir auf die Boote
warten, nützen, um Kranken zu heilen, die auf mich warten.»
Jesus geht in den Garten
hinunter, wo sich Bahren und Kranke befinden, und heilt einen nach dem
anderen, während er die Begrüßung des Jairus und der wenigen Freunde von
Kapharnaum entgegennimmt.
Die Frauen – es sind Porphyria
und Salome, die schon ältere Frau des Bartholomäus und die etwas jüngere des
Philippus mit den jungen Töchtern – sind derweil mit der Vorbereitung der
Mahlzeit für die große Schar der Jünger beschäftigt. Ihr Hunger wird mit
Körben von Fischen, die ihnen die Leute aus Bethsaida und Kapharnaum geschenkt
haben, gestillt werden. Das große Ausweiden silbriger Bäuche, die noch zucken,
das Waschen der Fische in Eimern und das Braten auf den Feuerrosten in den
Küchen findet statt, während Margziam mit anderen Jüngern die Feuerstellen
unterhält und Krüge mit Wasser herbeiträgt, um den Frauen zu helfen.
Das Mahl ist bald fertig und auch
bald verzehrt. Da die Boote für den Transport der vielen Menschen nun bereit
sind, bleibt nichts anderes übrig, als sich nach Magdala einzuschiffen.
Prächtig ist der See, ruhig und heiter, fast himmlisch in der smaragdenen
Einfassung seiner Ufer.
Die Gärten und das gastliche Haus
Marias von Magdala sind bereitet worden, den Meister und seine Jünger zu
empfangen, ja, ganz Magdala ist an diesem sonnigen Nachmittag auf den Beinen,
um den Rabbi zu begrüßen, der nach Jerusalern zieht.
Die grünen Hänge der galiläischen
Hügel vernehmen den lauten, fröhlichen Abmarsch der getreuen Schar, gefolgt
von einem bequemen Wagen, auf dem sich Johanna mit Porphyria, Salome, die Frau
des
192
Bartholomäus, die des Philippus
und die beiden jungen Töchter dieses letzteren befinden, und sowohl die
lachenden Kinder, als auch Maria und Matthias, die nicht wiederzuerkennen
sind, wenn man vergleicht, wie sie vor fünf Monaten ausgesehen haben.
Margziam schreitet wacker mit den
Erwachsenen daher, ja, dem Willen Jesu folgend, ist er bei der Gruppe der
Apostel, zwischen Petrus und Johannes, und läßt sich kein Wort entgehen, das
Jesus sagt.
Die Sonne strahlt am klaren
Himmel und warme Lüfte bringen den Duft des Waldes, der Minze, der Veilchen,
der ersten Maiglöckchen und der immer prächtiger erblühenden Rosen. Alles ist
jedoch vom frischen, leicht herben Duft der blühenden Obstbäume beherrscht,
die überall einen Schnee von Blütenblättern auf das Gras des Erdreichs fallen
lassen, und alle haben sie auch auf ihrem Haar. Sie schreiten voran unter dem
fortwährenden Gezwitscher der Vögel, dem Pfeifen und den sanften Lockrufen,
die von einem Strauch zum anderen von den kühnen Männchen zu den schüchternen
Weibchen tönen. Die Mutterschafe weiden, und die ersten Lämmlein versuchen an
das runde Euter ihrer Mutter zu gelangen, um Milch zu saugen. Andere tummeln
sich im Wiesengrund im zarten Gras wie glückliche Kinder.
Wie schnell hat man nach Kana
Nazareth erreicht, wo Susanna sich den anderen Frauen angeschlossen hat. Sie
hat Erzeugnisse ihres Bodens in Körben und Gefäßen mitgebracht, und einen
ganzen Zweig roter Rosenknospen, die aufzubrechen beginnen, «um sie Maria zu
schenken», wie sie bemerkt.
«Auch ich, siehst du?» sagt
Johanna und öffnet eine Art Kiste, in welcher Rosen über Rosen in feuchtes
Moos eingebettet sind. «Die ersten und die schönsten, aber dennoch zu wenig
für sie, im Vergleich zu ihrer Liebe und Güte!»
Ich sehe, daß jede der Frauen
Vorräte für die Passahreise mitgenommen hat, und zusammen mit den
Lebensmitteln eine Blume oder irgend eine andere Pflanze für den Garten
Mariens.
Porphyria entschuldigt sich, daß
sie nur einen Topf mit Kampfer mitgebracht hat, dessen herrliche kleine,
graugrüne Blätter ihren Duft schon beim Berühren verbreiten. «Maria hat sich
diese balsamische Pflanze gewünscht...» sagt sie, und alle loben die üppige
Schönheit des Blümchens.
«Oh! Ich habe es den ganzen
Winter hindurch gehegt und es zum Schutz vor Kälte und Hagel in meinem Zimmer
aufbewahrt. Margziam hat mir immer geholfen, es in die Morgensonne zu tragen
und am Abend wieder hereinzuholen. Dieser gute Junge hätte es, wenn nicht das
Boot und jetzt der Wagen gewesen wäre, auf seine Schulter geladen, um es Maria
zu bringen und mir und ihr einen Gefallen zu tun», sagt die einfache Frau, die
immer aufgeschlossener wird durch die Güte Johannas und
193
außer sich ist vor Freude über
die Reise nach Jerusalern, zusammen mit dem Meister, ihrem Mann und ihrem
Margziam.
«Bist du noch nie dort gewesen?»
«Solange mein Vater gelebt hat,
ging ich jedes Jahr hin, doch dann... ist meine Mutter nicht mehr
hingegangen... Die Brüder hätten mich mitgenommen, aber es war für meine
Mutter leichter, wenn ich zu Hause blieb, und so ließ sie mich jeweils nicht
gehen. Dann habe ich Simon geheiratet... und gesundheitlich ging es mir nicht
sehr gut. Simon hätte mit mir zusammen länger für die Reise gebraucht, und das
paßte ihm nicht... So blieb ich zu Hause und wartete auf ihn... Der Herr
kannte meine Vorsätze... und es war mir jedesmal, als hätte ich ein Opfer im
Tempel dargebracht...» sagt die sanfte Frau.
Johanna, in ihrer Nähe, legt ihr
die Hand auf die herrlichen Zöpfe und sagt: «Du Liebe!» und in diesem einen
Wort liegt so viel Liebe, so viel Verständnis und so viel Bedeutung.
Wir sind in Nazareth
angekommen... beim Haus der Maria des Alphäus, die herzlich von ihren Söhnen
umarmt wird. Mit ihren noch von der Wäsche tropfenden und geröteten Händen,
streichelt sie sie, und eilt dann, während sie ihre Hände an der groben
Schürze trocknet, auf Jesus zu, um ihn zu umarmen... Unmittelbar gegenüber dem
Hause Marias ist das Haus des Alphäus der Sara. Alphäus, der seine größeren
Neffen beauftragt, vorauszueilen und Maria zu benachrichtigen, geht mit
Riesenschritten auf Jesus zu, wobei er einen seiner kleinen Neffen auf den
Armen trägt und ihn Jesus wie einen Blumenstrauß zur Begrüßung entgegenhält.
Siehe da, Maria erscheint im
Sonnenschein an der Tür, in ihrem himmelblauen, schon etwas verwaschenen
Hauskleid, und dem goldenen Haar, das auf der jungfräulichen Stirn leuchtet
und im Nacken in Zöpfen zu einem schweren Knoten geschlungen ist; sie wirft
sich an die Brust ihres Sohnes, der sie mit seiner ganzen Liebe küßt.
Die anderen bleiben klugerweise
stehen, um ihre Begegnung nicht zu stören. Doch Maria löst sich alsbald aus
der Umarmung Jesu, wendet ihr vom Alter unberührtes, durch die Überraschung
gerötetes Antlitz, das jetzt in einem Lächeln erstrahlt, und grüßt alle mit
ihrer engelgleichen Stimme: «Der Friede sei mit euch, Diener des Herrn und
Jünger meines Sohnes. Der Friede sei mit euch, Schwestern im Herrn», und mit
den Jüngerinnen, die vom Wagen gestiegen sind, tauscht sie einen
schwesterlichen Kuß.
«O Margziam, nun werde ich dich
nicht mehr auf meine Arme nehmen! Du bist ja ein Mann geworden. Aber komm zur
Mutter aller Guten, denn einen Kuß möchte ich dir trotzdem geben. Teurer! Gott
möge dich segnen und auf seinen Wegen heranwachsen lassen, stark wie dein
jugendlicher Körper, ja, noch mehr. Mein Sohn, wir sollten ihn doch einmal zu
194
seinem Großvater bringen. Er wird
glücklich sein, ihn so zu sehen», sagt sie dann, sich an Jesus wendend.
Hierauf umarmt sie Jakobus und
Judas des Alphäus und gibt ihnen die Nachricht, die sie bestimmt gerne hören:
«Dieses Jahr wird Simon mit mir kommen, als Jünger des Meisters. Er hat es mir
versichert.»
Einen nach dem anderen begrüßt
sie nun die Bekanntesten, die Einflußreichsten, und hat für jeden ein
liebevolles Wort. Manaen wird ihr von Jesus als ihr Beschützer und Begleiter
auf der Reise nach Jerusalern vorgestellt.
«Kommst du nicht mit uns, Sohn?»
«Mutter, ich muß an anderen Orten
die Frohe Botschaft verkünden, und danach werden wir uns in Bethanien
treffen.»
«Dein Wille geschehe, jetzt und
allezeit! Danke, Manaen. Du: ein Engel in Menschengestalt, zusammen mit
unseren Beschützern, den Engeln des Himmels: wir werden so sicher sein, als
wären wir im Allerheiligsten», und sie reicht Manaen zum Zeichen der
Freundschaft ihre zierliche Hand, und der Ritter, in Prunk und Reichtum
aufgewachsen, kniet nieder, um die ihm gebotene Hand zu küssen.
Inzwischen sind die Blumen und
alles, was sonst noch in Nazareth bleiben soll, abgeladen und der Wagen in
irgendeine Stallung des Städtchens gebracht worden.
Das kleine Haus gleicht einem
Rosengarten mit den von den Jüngerinnen überall hingestreuten Rosen. Doch das
Bäumchen der Porphyria auf dem Tisch erregt die lebhafteste Aufmerksamkeit
Marias, die es, auf Anweisung der Frau des Petrus, an einen geeigneten Platz
stellen läßt.
Nicht alle haben in dem kleinen
Haus Platz, auch nicht im Garten, der kein Landgut oder Park ist, wenngleich
er zum heiteren Himmel aufzusteigen scheint, so zahlreich sind die blühenden
Sträucher im Blumengarten. Judas des Alphäus fragt lächelnd Maria: «Hast du
auch heute einen Zweig für deine Vase gepflückt?»
«Gewiß, Judas, und gerade als ihr
angekommen seid, habe ich ihn betrachtet...»
«Er hat dich wohl wieder an dein
fernes Geheimnis erinnert, Mutter», sagt Jesus, umfaßt sie mit dem linken Arme
und zieht sie an sein Herz.
Maria hebt ihr rot gewordenes
Antlitz und seufzt: «Ja, mein Sohn... und ich erinnerte mich an den ersten
Schlag deines Herzens in mir ...»
Jesus sagt: «Die Jüngerinnen, die
Apostel, Margziam, die Hirtenjünger, der Priester Johannes, Stephanus, Hermas
und Manaen können hierbleiben, und die anderen sollen sich nach einer
Unterkunft umsehen...»
«Viele hätten bei mir zuhause
Platz...» ruft Simon des Alphäus, der an der Schwelle stehengeblieben ist.
«Ich bin ihr Mitjünger und lade sie gerne ein.»
«O Bruder! Komm her, daß ich dich
küsse!» sagt Jesus in herzlichem
195
Ton, während Alphäus der Sara,
Ismael und Aser, die beiden Jünger und einstigen Eseltreiber von Nazareth,
ihrerseits beifügen: «Auch in unserem Hause ist Platz! Kommt, ja kommt!»
Nachdem die ausgewählten Jünger
nun gehen, kann man die Türe schließen ... sie wird jedoch sofort wieder
geöffnet wegen der Ankunft Marias des Alphäus, die nicht fehlen will, selbst
wenn ihre Wäsche unter ihrer Abwesenheit leidet. So sind es fast vierzig
Personen, die sich in dem gemütlichen, ruhigen Garten aufhalten, bis die
Speisen, die für alle einen himmlischen Geschmack haben, herumgereicht werden.
Glücklich sind alle darüber, im Hause des Herrn genießen zu dürfen, was Maria
zubereitet hat.
Simon kehrt zurück, nachdem er
die Jünger untergebracht hat, und bemerkt: «Du hast mich nicht wie die anderen
genannt, doch ich bin dein Bruder und bleibe gleichwohl.»
«Willkommen, Simon. Ich habe euch
hier versammeln wollen, damit ihr Maria kennenlernt. Viele von euch kennen die
"Mutter" Maria, einige die "Braut" Maria, doch keiner kennt die "Jungfrau"
Maria. Ich möchte jedoch, daß ihr sie kennenlernt, in diesem Garten voller
Blüten, in den euer sehnsüchtiges Herz gekommen ist, fern eurer Heimat, mit
dem Wunsch nach einen Ort, an dem ihr euch von den Mühen des Apostolates
ausruhen könnt.
Ich habe euch reden hören, euch
Apostel, Jünger und Verwandte, und habe eure Eindrücke, eure Erinnerungen und
eure Aussagen über meine Mutter erfahren. Ich werde all die Bewunderung, die
aber noch sehr menschlich ist, in einer übernatürlichen Erkenntnis verklären,
denn meine Mutter möge vor mir in den Augen der Verdienstvollsten verklärt
sein, damit sie sie erkennen, wie sie in Wirklichkeit ist. Ihr seht in ihr
eine Frau, eine Frau, die euch ihrer Heiligkeit wegen anders zu sein scheint
als alle anderen, die ihr aber eigentlich als eine im Körper wohnende Seele
betrachtet, wie die Seele all ihrer Schwestern. Ich möchte euch nun jedoch die
Seele meiner Mutter enthüllen, ihre wahre und ewige Schönheit.
Komm zu mir, meine Mutter! Erröte
nicht, ziehe dich nicht schüchtern zurück, du liebliche Taube Gottes. Dein
Sohn ist das Wort Gottes und kann über dich und dein Geheimnis sprechen, o
erhabenes Mysterium Gottes. Wir wollen uns hier im angenehmen Schatten der
blühenden Bäume am Hause, neben deiner heiligen Kammer, niederlassen. So!
Heben wir den wallenden Vorhang, auf daß die Wogen der Heiligkeit und des
Paradieses aus diesem jungfräulichen Gemach strömen und wir alle von dir
erquickt werden mögen. Ja, auch ich! Auf daß ich deinen Wohlgeruch verspüre,
vollkommene Jungfrau, um den Gestank der Welt ertragen zu können, um Unschuld
erblicken zu können, indem meine Augen deine Reinheit trinken... Kommt
hierher, Margziam, Johannes, Stephanus und ihr, Jüngerinnen. Kommt vor die
offene Tür der reinen Wohnung der
196
Reinsten unter allen Frauen, und
nach euch, meine Freunde, hier an meine Seite, du, meine geliebte Mutter.
ich habe vorhin von der "ewigen
Schönheit der Seele meiner Mutter" gesprochen! Ich bin das Wort und daher weiß
ich das Wort ohne Irrtum zu gebrauchen. Ich habe gesagt: "ewig", nicht
"unsterblich", und dies habe ich nicht ohne Absicht gesagt. Unsterblich ist
der, der einmal geboren, nicht mehr stirbt. So ist die Seele der Gerechten
unsterblich im Himmel, und jene der Sünder unsterblich in der Hölle, denn die
Seele kann, wenn sie einmal erschaffen ist, nur der Gnade sterben. Aber die
Seele hat Leben, existiert also vom Augenblick an, da Gott sie gedacht hat,
denn es ist der Gedanke Gottes, der sie schafft. Die Seele meiner Mutter ist
seit jeher im Gedanken Gottes, und deshalb ist sie ewig in ihrer Schönheit, in
die Gott alle Vollkommenheit gegossen hat, um aus ihr Freude und Trost zu
schöpfen.
Im Buche unseres Ahnen Salomon,
der dich vorausgesehen hat und daher dein Prophet genannt werden kann, steht
geschrieben:
"Gott besaß mich im Anfang seiner
Werke, in der grauen Urzeit, noch vor der Schöpfung. Von Ewigkeit her war ich
vorbestimmt, von Urbeginn, vor dem Anbeginn der Erde. Die Abgründe waren noch
nicht, und ich war schon hervorgebracht. Die Wasserquellen flossen noch nicht,
auch die Berge waren noch nicht auf ihren harten Fundamenten, und ich war
schon. Vor Erschaffung der Hügel wurde ich geboren. Die Erde war noch nicht,
weder die Flüsse noch die Angeln der Welt, und ich war schon. Als er die
Himmel und das Paradies schuf, war ich zugegen. Als er in unumstößlichem
Gesetz unter der Wölbung den Abgrund verschloß, als er in der Höhe das
Himmelsgewölbe erschuf, und die Wasserquellen darüber ausgoß, als er dem Meer
seine Grenzen setzte, daß die Wasser nicht sein Geheiß übertraten; als er der
Erde Fundamente legte, stand ich als Vertraute an seiner Seite. Ich war seine
Wonne Tag für Tag, indem ich vor ihm spielte allezeit. Ich spielte und
frohlockte auf dem Rund seiner Erde."
Ja, o Mutter, mit der Gott, der
Unendliche, der Erhabene, der Reinste, der Unerschaffene gleichsam schwanger
ging, der dich getragen hat wie seine süßeste Last, der frohlockte, wenn er
verspürte, daß du dich in ihm bewegtest, um ihm das Lächeln zu schenken, aus
dem er die Schöpfung machte! Du, die er für den Schmerz gebar, um dich der
Welt zu schenken, sanfteste Seele, geboren aus dem Jungfräulichen, um die
"Jungfrau" zu sein, Vollkommenheit der Schöpfung, Licht des Paradieses, Rat
Gottes, der dich betrachtend die Sünde vergeben konnte, da du allein, aus dir
allein, zu lieben vermagst, wie die ganze Menschheit zusammengenommen nicht
lieben kann. In dir ist die Verzeihung Gottes! In dir ist das Heilmittel
Gottes, du Liebkosung des Ewigen auf der Wunde, die der Mensch Gott verursacht
hat! In dir ist das Heil der Welt, Mutter der fleischgewordenen Liebe und des
verheißenen Erlösers! Seele meiner Mutter! Vereinigt in der
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Liebe mit dem Vater, schaute ich
dich in mir, o Seele meiner Mutter! ... Dein Glanz, dein Gebet, der Gedanke,
von dir getragen zu sein, tröstete mich in Ewigkeit über meine Bestimmung zum
Leiden und zu den unmenschlichen Erfahrungen dessen, was die verdorbene Welt
für den vollkommenen Gott ist. Danke, o Mutter! Ich bin gekommen, schon
gesättigt von deinen Tröstungen; ich bin herabgestiegen und habe dich allein
gefühlt, deinen Duft, deinen Gesang, deine Liebe... Wonne, meine Wonne!
Aber hört, ihr, die ihr nun wißt,
daß eine nur die Frau ist, an der kein Makel haftet, eine nur die Kreatur, die
den Erlöser keine Wunde kostet, vernehmt die zweite Verklärung Mariens, der
Auserwählten Gottes.
Es war an einem heiteren
Nachmittag des Adar, die Bäume blühten im stillen Garten, und Maria, die Braut
Josephs, hatte einen blühenden Zweig gepflückt, um ihn in ihrem Gemach an den
Platz eines anderen zu stellen. Seit kurzem erst war sie vom Tempel nach
Nazareth gekommen, um ein Haus von Heiligen zu schmücken. Mit dreigeteilter
Seele, zwischen dem Tempel, dem Haus und dem Himmel, betrachtete sie den
Blütenzweig und gedachte eines anderen, der in ungewöhnlicher Weise
ausgeschlagen hatte; eines Zweiges, der im gleichen Garten, mitten im kalten
Winter, abgeschnitten worden war und vor der Lade des Herrn wie zur
Frühlingszeit erblühte. Vielleicht hatte die auf ihre Herrlichkeit strahlende
Sonne – Gott selbst – ihn erwärmt, und durch ihn hatte Gott ihr seinen Willen
kundgetan... Sie dachte auch daran, wie Joseph ihr am Tage der Hochzeit andere
Blumen gebracht hatte, aber nie mehr den ersten gleich, auf deren feinen
Blütenblättern geschrieben stand: "Ich will dich mit Joseph vermählen"... Sie
dachte an viele Dinge... und so in Gedanken versunken, stieg sie auf zu Gott.
Die Hände waren eifrig mit Spindel und Rocken beschäftigt und spannen einen
Faden, feiner als ein Haar ihres jungen Hauptes...
Ihre Seele webte, behende wie das
Weberschiffchen auf dem Webstuhl, einen Teppich der Liebe von der Erde zum
Himmel, von den Bedürfnissen des Hauses, des Bräutigams, zu denen der Seele
und Gottes. Sie sang und betete, und das Gewebe wuchs auf dem mystischen
Webstuhl, entrollte sich von der Erde und erhob sich zum Himmel, um dort zu
entschwinden... Woraus entstand dieses Gebilde? Aus den feinen, vollkommenen,
starken Fäden ihrer Tugenden; aus dem fliegenden Faden des Weberschiffchens,
das sie die "ihrige" glaubte, während es doch Gott angehörte: das
Weberschiffchen des Willens Gottes, auf dem der Wille der kleinen, großen
Jungfrau Israels, der der Welt Unbekannten und Gott Bekannten, aufgewickelt
war und mit dem Willen des Herrn eine Einheit bildete. Das Gewebe schmückte
sich mit den Blumen der Liebe, der Reinheit, mit Friedenspalmen, den Palmen
des Ruhmes, mit Veilchen und Jasmin... Alle Tugenden erblühten auf dem Gewebe
der Liebe, das die Jungfrau Gottes einladend von der Erde zum Himmel
ausrollte. Und da das Gewebe
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nicht genügte, erhob sie ihr Herz
im Gesang: "Es komme der Geliebte in den Garten und esse die Früchte seiner
Apfelbäume... Mein Geliebter steige in seinen Garten zu den Balsambeeten, um
zu weiden in den Auen und Lilien zu pflücken. Ich gehöre meinem Geliebten, und
mein Geliebter mir, er, der da weidet unter den Lilien."
Aus unendlicher Ferne, unter
Strömen des Lichtes, kam eine göttliche Stimme, die das menschliche Ohr nicht
zu hören noch die menschliche Stimme wiederzudrücken vermag, und sie sprach:
"Schön bist du, meine Freundin! Ja, schön! ... Es träufeln Honigseim deine
Lippen ... Ein verschlossener Garten bist du, eine versiegelter Quell, o
Schwester, meine Braut..." Dann vereinigten sich die beiden Stimmen, um
zusammen die ewige Wahrheit zu singen: "Stärker als der Tod ist die Liebe.
Nichts kann 'unsere' Liebe auslöschen oder überfluten." So verklärt war die
Jungfrau... als Gabriel herabstieg und sie mit seiner Glut zur Erde zurückrief
und ihre Seele wieder mit dem Fleisch vereinte, auf daß sie das Verlangen
dessen erkenne und erfassen konnte, der sie "Schwester" genannt hatte, sie
aber zur "Braut" haben wollte.
Da vollzog sich das Geheimnis...
Sie ist die Keusche, die keuscheste unter allen Frauen. Sie, die nicht einmal
den instinktiven Stachel des Fleisches kannte, war wie betäubt in Gegenwart
des Engels des Herrn, denn auch ein Engel verwirrt die Demut und die
Züchtigkeit der Jungfrau, und sie beruhigte sich erst, als sie ihn sprechen
hörte. Sie glaubte und sagte das Wort, um dessentwillen "ihre" Liebe Fleisch
wurde und den Tod besiegen wird, und diese Liebe vermag kein Wasser zu löschen
und keine Bosheit zu ersticken ...»
Jesus neigt sich liebevoll über
Maria, die ihm bei der Erwähnung jener fernen Stunde wie in Ekstase zu Füßen
gefallen ist, umflutet von einem außergewöhnlichen Licht, das ihrer Seele zu
entspringen scheint, und fragt sie mit leiser Stimme: «Welche Antwort, o
Reinste, gabst du dem, der dir versicherte, daß du als Mutter Gottes deine
vollkommene Jungfräulichkeit nicht verlieren würdest?»
Maria spricht fast wie im Traum,
sachte, lächelnd, mit Tränen der Glückseligkeit in den weit geöffneten Augen:
«Siehe, ich bin die Magd des Herrn! Mir geschehe nach deinem Worte», und neigt
in Anbetung ihr Haupt auf die Knie des Sohnes.
Jesus umhüllt sie mit seinem
Mantel und verbirgt sie vor den Augen aller mit den Worten: «Und es hat sich
erfüllt, und wird sich erfüllen, bis zu den anderen beiden Verklärungen. Immer
wird sie die "Magd des Herrn" sein. Sie wird immer tun, was "das Wort" ihr
sagen wird. Meine Mutter! Das ist meine Mutter, und es ist gut, daß ihr
anfangt, sie in ihrer ganzen heiligen Natur kennenzulernen... Mutter! Mutter!
Erhebe dein Antlitz, Geliebte... Ermahne deine dir Ergebenen auf Erden, wo wir
jetzt sind ...»So sagt er, indem er Maria nach einiger Zeit wieder enthüllt,
und kein
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anderes Geräusch zu vernehmen
ist, als das Summen der Bienen und das Tropfen des kleinen Brunnens.
Maria erhebt ihr vom Weinen
gezeichnetes Antlitz und flüstert: «Warum, mein Sohn, hast du mir das angetan?
Die Geheimnisse des Königs sind heilig...»
«Aber der König kann sie
enthüllen, wann er will. Mutter, ich habe es getan, damit das Wort eines
Propheten verstanden werde: "Eine Frau wird den Menschen in sich tragen"; und
das andere Wort eines anderen Propheten: "Die Jungfrau wird empfangen und
einen Sohn gebären." Und auch, damit diejenigen, die zurückschrecken vor so
vielen demütigenden, das Wort Gottes betreffenden Dingen, einen Ausgleich
haben in vielen anderen Dingen, die sie bestärken in der Wonne, die "Meinen"
zu sein. So werden sie keinen Anstoß mehr nehmen und daher auch den Himmel
erwerben... Wer jetzt zu den gastlichen Häusern gehen muß, der gehe. Ich
bleibe bei den Frauen und Margziam. Morgen, beim Morgengrauen, mögen alle
Männer sich hier einfinden, denn ich will euch an einen nicht sehr entfernten
Ort führen. Dann kehren wir zurück, um uns von den Jüngerinnen zu
verabschieden und nach Kapharnaum aufzubrechen, wo wir andere Jünger sammeln
und sie diesen hier nachsenden werden.»
394. DIE VERKLÄRUNG UND DIE
HEILUNG DES EPILEPTIKERS
Welcher Mensch hat noch nie einen
heiteren Märzmorgen gesehen? Wenigstens einmal? Wenn es einen solchen Menschen
gäbe, dann wäre er ein armer Mensch, denn er hätte keine Ahnung von den
Schönheiten in der vom Frühling erweckten Natur, die wieder rein und kindlich
erscheint, wie sie es am ersten Tage gewesen sein muß.
In dieser anmutigen Schönheit,
die in allem rein ist, gehen Jesus, die Apostel und die Jünger dahin. Es sind
da die jungen, taubedeckten Gräser, Blumen, die sich wie Kinder beim ersten
Tageslicht öffnen, Vögel, die erwachen mit einem Flügelschlag und ihrem ersten
fragenden "Zip" ' als Vorspiel zu allen Liedern, die sie während des Tages
singen; und schließlich die Düfte in der Luft, die sich in der Frühe durch das
Taubad und die Abwesenheit des Menschen gereinigt hat von Staub, Rauch und
Ausdünstungen menschlicher Körper. Auch Simon des Alphäus ist unter den Jünger
des Herrn. Sie gehen in Richtung Südosten, lassen die Hügel, die eine Kette um
Nazareth bilden, hinter sich, überschreiten einen Bach und überqueren eine
Ebene, die zwischen die Hügel von Nazareth und eine Berggruppe im Osten
eingezwängt ist. Diese Berge werden eingeleitet vom stumpfen Kegel des Tabor,
der mich eigenartigerweise mit seinem Scheitel an den Hut unserer Karabinieri,
von der Seite gesehen, erinnert.
200
Sie sind angekommen. Jesus bleibt
stehen und sagt:
«Petrus, Johannes und Jakobus des
Zebedäus werden mit mir auf den Berg steigen. Die anderen verteilen sich am
Fuße des Berges und verkünden auf den Wegen und Straßen den Herrn. Gegen Abend
möchte ich wieder in Nazareth sein. Entfernt euch also nicht zu sehr. Der
Friede sei mit euch!» Indem er sich den drei Ersteren zuwendet, sagt er: «Laßt
uns gehen.» Jesus beginnt den Aufstieg ohne sich umzuschauen und mit so
eiligen Schritten, daß es Petrus nur mit Mühe schafft, ihm nachzukommen.
Während eines Augenblickes der
Rast fragt Petrus, der rot und schweißgebadet ist, keuchend: «Aber wohin gehen
wir denn? Auf dem Berg gibt es doch keine Häuser. Auf dem Gipfel steht nur die
alte Festung. Willst du dort predigen?»
«Dann hätte ich den Weg auf der
anderen Seite des Berges eingeschlagen. Aber du siehst, daß ich ihm den Rücken
zuwende. Wir werden nicht zur Festung gehen, und die Leute in ihr werden uns
nicht einmal bemerken. Ich gehe, mich mit meinem Vater zu vereinigen, und ich
habe euch mitnehmen wollen, weil ich euch liebe. Auf also!»
«O mein Herr! Können wir nicht
etwas langsamer gehen und über das sprechen, was wir gestern gehört und
gesehen haben und was uns die ganze Nacht wachgehalten hat?»
«Zu Begegnungen mit Gott begibt
man sich immer eilenden Schrittes. Nimm dich zusammen, Simon Petrus! Wenn wir
oben sind, lasse ich euch dann ausruhen.» Und er geht weiter bergauf...
Jesus sagt: «Hier setzt ihr die
Vision der Verklärung vom 5. August 1944 ein, aber ohne das damit verbundene
Diktat. Wenn die Abschrift der Vision der Verklärung vom letzten Jahr beendet
ist, dann soll P. Migliorini abschreiben, was ich dir jetzt zeige.»
Ich bin mit meinem Jesus auf
einem hohen Berg. Mit Jesus sind Petrus, Jakobus und Johannes. Sie steigen
noch höher hinauf, und dem Blick öffnen sich immer weitere Horizonte, wo man
an diesem schönen, heiteren Tag auch die entferntesten Einzelheiten ganz klar
erkennen kann.
Der Berg gehört nicht zu einer
Bergkette wie die von Judäa, sondern erhebt sich völlig einsam in der Ebene
und hat von dem Ort aus gesehen, an dem wir uns befinden, den Osten vor sich,
den Norden links und den Süden rechts, und weiter hinten, gegen Westen, den
Gipfel, der noch etwa hundert Meter höher liegt.
Er ist sehr hoch, und man hat von
hier aus einen weiten Rundblick. Der See von Genesareth scheint ein Stück
Himmel zu sein, das in das Grün der Erde eingebettet liegt; ein türkisblaues
Oval, umringt von Smaragden bunter Schattierungen; ein zitternder Spiegel, der
sich im leichten Wind kräuselt und auf dem Boote mit gesetzten Segeln behende
wie Möven dahingleiten, leicht geneigt gegen die blauen Wellen und mit der
Anmut eines Eisvogels, der auf der Suche nach Beute über die Wellen streicht.
201
Nun sieht man aus dem
ausgedehnten Türkis einen Fluß herauskommen. Er ist dort, wo sich das Flußbett
verbreitert, hellblau, und wird allmählich dunkler, wo die Ufer sich verengen
und das Wasser tiefer und von Bäumen beschattet ist, die dank der Feuchtigkeit
des Erdreichs besonders üppig wachsen. Der Jordan gleicht einem geraden
Pinselstrich in der grünen Ebene, mit kleinen Ortschaften auf beiden Seiten
des Flusses über die ganze Ebene verstreut. Einige bestehen nur aus einzelnen
Häusern, andere sind ausgedehnter und gleichen Städtchen. Die Hauptstraßen
ziehen sich wie gelbliche Linien durch die grüne Landschaft. Aber hier, auf
der Seite des Berges, ist die Ebene fruchtbarer und dichter bebaut, sehr
schön. Man sieht die verschiedenen Kulturen in ihrer Farbenpracht in der
Sonne, die von einem heiteren Himmel herabscheint.
Es muß Frühling sein, vielleicht
März, wenn ich den Breitengrad von Palästina in Betracht ziehe, denn ich sehe
schon hohes, aber noch grünes Getreide. Es wogt wie ein blaugrünes Meer, und
die ersten weißen und rosaroten Kronen der Obstbäume zeichnen sich auf diesem
kleinen Meer von Pflanzen ab. Ferner sehe ich Wiesen mit unzähligen Blumen im
hohen Gras, in dem die Schafe aussehen wie Schnee, der sich da und dort im
Grün angehäuft hat.
Ganz nahe am Berg, auf den
niedrigen Hügeln, die sein Fundament bilden, liegen zwei Städtchen, eines
gegen Süden, das andere gegen Norden. Die sehr fruchtbare Ebene dehnt sich,
besonders in Richtung Süden, immer weiter aus.
Nach einer kurzen Rast im
Schatten einer Baumgruppe, sicher wegen Petrus, den der Aufstieg sichtlich
ermüdet hat, beginnt Jesus weiter aufzusteigen. Er geht fast bis zum Gipfel,
dorthin, wo sich ein mit Gras bewachsenes Plateau befindet, das im Halbkreis
von einigen Bäumen begrenzt wird.
«Ruht euch aus, Freunde. Ich will
dorthin gehen, um zu beten», sagt Jesus, indem er auf einen großen Felsblock
zeigt, der nicht gegen den Abhang, sondern nach innen, dem Gipfel zu,
emporragt.
Jesus kniet auf der Wiese nieder
und lehnt Hände und Haupt an den Felsblock, dieselbe Haltung, die er später
beim Gebet in Gethsemane einnehmen wird. Die Sonne bescheint ihn nicht, da der
Gipfel ihn vor ihr schützt, doch der übrige Rasenplatz ist sehr sonnig, außer
dem schattigen Rand mit den Bäumen, unter welchen sich die Apostel
niedergelassen haben.
Petrus löst seine Sandalen,
schüttelt Staub und Steinchen ab und bleibt barfuß, mit seinen müden Füßen im
frischen Gras, halb ausgestreckt liegen, wobei er den Kopf auf einem grünen
Büschel ruhen läßt, das etwas höher aus dem Gras ragt und eine Art Polster
bildet.
Jakobus tut es ihm nach. Doch, um
es sich bequemer zu machen, sucht er nach einem Baumstumpf, auf den er seinen
Mantel legt, um sich darauf zu stützen.
202
Johannes bleibt sitzen und
beobachtet den Meister. Aber die Ruhe des Ortes, das frische Lüftchen, die
Stille und die Müdigkeit überwältigen auch ihn, und sein Kopf sinkt auf die
Brust und seine Augen fallen zu. Keiner von den dreien schläft tief, sie sind
nur von der sommerlichen Schläfrigkeit wie betäubt.
Doch plötzlich werden sie durch
eine Lichtfülle aufgeweckt, die so lebendig erstrahlt, daß selbst die Sonne in
ihr entschwindet; sie dringt bis zum Grün der Bäume und Sträucher, wo sie sich
niedergelassen haben.
Erstaunt öffnen sie ihre Augen
und sehen Jesus verklärt. Jesus ist genau so, wie ich ihn in den Visionen des
Paradieses schaue, natürlich ohne die Wundmale und ohne das Siegeszeichen des
Kreuzes. Aber die Majestät seines Antlitzes und seiner Gestalt ist dieselbe,
er strahlt wie im Himmel und trägt dasselbe Gewand wie dort, das sich aus
einem dunkelroten in ein diamantenes, perlglänzendes immaterielles Gewebe
verwandelt hat. Sein Antlitz ist eine Sonne, die stärker leuchtet als Sterne,
und seine Augen strahlen wie Saphire. Er scheint noch stattlicher zu sein, als
habe die Verklärung seine Gestalt anwachsen lassen. Ich kann nicht sagen, ob
die Lichtfülle, die den ganzen Platz in phosphoreszierendes Licht taucht, ihm
entströmt, oder ob sich sein eigenes Licht mit dem vermischt, das sich vom All
und vom Paradies auf seinen Herrn ausgießt. Ich weiß nur, daß es etwas
Unbeschreibliches ist.
Jesus steht jetzt aufrecht da,
vielmehr, er schwebt über der Erde, denn zwischen ihm und dem Grün des Bodens
ist eine Lichtwolke, ein Zwischenraum aus lauter Licht, auf dem er zu stehen
scheint. Doch ist es so lebendig, daß ich mich auch täuschen könnte, und das
Verschwinden des Grüns unter den Füßen Jesu könnte auch hervorgerufen sein
durch dieses intensive Licht, das vibriert und wogt, wie man es oft bei großen
Feuern sieht, blendend weiße Wogen. Jesus steht da, mit zum Himmel erhobenem
Antlitz, und lächelt einer Vision zu, die ihn verzückt.
Die Apostel geraten beinahe in
Angst und rufen ihm zu, denn er scheint ihnen nicht mehr ihr Meister zu sein,
so erhaben verklärt und verwandelt ist er.
«Meister, Meister», rufen sie
leise und ängstlich.
Doch er hört sie nicht.
«Er ist in Ekstase», sagt Petrus
zitternd. «Was sieht er wohl?»
Die drei haben sich erhoben und
möchten sich Jesus nähern, aber sie wagen es nicht.
Das Licht wird noch stärker durch
zwei Flammen, die vom Himmel zu beiden Seiten Jesu herabkommen. Auf der Höhe
der Ebene öffnet sich ihr Schleier, und es erscheinen zwei majestätische,
strahlende Gestalten. Die eine ist älter, mit einem strengen, ernsten Blick
und einem langen, zweigeteilten Bart. Von seiner Stirne gehen zwei Lichthörner
aus, die ihn mir als Moses anzeigen. Die andere Gestalt ist hager, bärtig und
behaart,
203
ungefähr wie der Täufer, dem er
in Gestalt, Magerkeit und Strenge des Blickes ähnlich sieht. Während das Licht
von Moses weiß ist, wie das von Jesus, besonders die Strahlen, die von der
Stirn ausgehen, ist das Licht, das Elias ausströmt, sonnig, wie das einer
lebendigen Flamme.
Die beiden Propheten stehen
voller Ehrfurcht zu beiden Seiten ihres fleischgewordenen Gottes, und obwohl
er in familiärem Ton mit ihnen spricht, verharren sie in ihrer
ehrfurchtsvollen Haltung. Ich verstehe keines der gesprochenen Worte.
Die drei Apostel fallen zitternd
auf die Knie und halten die Hände vors Gesicht. Sie möchten hinschauen, aber
sie fürchten sich. Endlich sagt Petrus: «Meister, Meister, höre mich an!»
Jesus wendet sich Petrus zu und lächelt, so daß dieser Mut faßt und sagt: «Es
ist schön, mit dir, Moses und Elias hier zu sein. Wenn du willst, machen wir
drei Zelte, für dich, für Moses und für Elias, und bleiben hier, um euch zu
dienen...»
Jesus schaut ihn abermals an und
lächelt noch ausdrücklicher. Dann schaut er auch Johannes und Jakobus an. Ein
Blick, der die beiden mit Liebe umfängt! Auch Moses und Elias schauen die drei
an und ihre Augen leuchten wie Blitze. Es müssen Strahlen sein, welche die
Herzen durchdringen.
Die Apostel wagen kein Wort mehr
zu sagen. Verängstigt schweigen sie und scheinen vor Verwunderung wie betäubt
zu sein. Doch als ein Schleier, der weder ein Nebel, noch eine Wolke und auch
kein Strahl ist, die drei Verklärten einhüllt und hinter einem noch helleren
Lichtschirm verbirgt, und eine mächtige, wohlklingende Stimme die Luft
erfüllt, fallen die drei zu Boden und verbergen das Antlitz im Gras.
«Das ist mein vielgeliebter Sohn,
an dem ich mein Wohlgefallen habe. Auf ihn sollt ihr hören!»
Petrus hat, als er sich mit dem
Gesicht voran zu Boden geworfen hat, ausgerufen: «Erbarmen mit mir Sünder! Die
Herrlichkeit Gottes steigt herab!» Jakobus gibt keinen Laut von sich. Johannes
flüstert mit einem Seufzer, als wäre er nahe daran, ohnmächtig zu werden: «Der
Herr spricht!»
Keiner wagt seinen Kopf zu heben,
selbst als es wieder ganz still geworden ist, und sie bemerken daher nicht,
wie das natürliche Sonnenlicht zurückkehrt, in welchem Jesus in seinem roten
Gewand wieder wie gewohnt erscheint. Lächelnd schreitet er auf sie zu, berührt
und schüttelt sie und ruft sie beim Namen.
«Steht auf, ich bin es. Fürchtet
euch nicht», sagt er, denn die drei wagen nicht, ihre Augen zu erheben und
flehen um Barmherzigkeit für ihre Sünden, da sie fürchten, daß es der Engel
des Herrn ist, der sie dem Allerhöchsten zeigen will.
«So erhebt euch doch. Ich gebiete
es euch», wiederholt Jesus mit machtvoller Stimme. Sie schauen auf und sehen
Jesus, der ihnen zulächelt.
204
«Oh, Meister, mein Gott!» ruft
Petrus aus. «Wie wird es uns noch möglich sein, fortan an deiner Seite zu
leben, da wir deine Herrlichkeit geschaut haben? Wie werden wir unter den
Menschen leben können, wir sündigen Menschen, nun, da wir die Stimme Gottes
gehört haben?»
«Ihr werdet an meiner Seite leben
müssen und meine Herrlichkeit schauen bis zum Ende. Seid dessen würdig, denn
die Zeit ist nahe. Gehorcht meinem und eurem Vater. Nun wollen wir zu den
Menschen zurückkehren, denn ich bin gekommen, um unter ihnen zu sein und sie
Gott zuzuführen. Laßt uns gehen. Seid im Gedenken an diese Stunde heilig,
stark und treu. Ihr werdet einst teilhaben an meiner vollkommenen
Herrlichkeit. Aber sprecht jetzt mit niemandem über das, was ihr gesehen habt.
Auch nicht mit den Gefährten. Wenn der Menschensohn einst von den Toten
auferstanden und in die Herrlichkeit des Vaters zurückgekehrt sein wird, dann
werdet ihr sprechen, denn dann wird man, um an meinem Reiche teilzuhaben,
glauben müssen.»
«Aber muß nicht Elias kommen, um
dein Reich vorzubereiten? Die Rabbis sagen so.»
«Elias ist schon gekommen und hat
die Wege des Herrn bereitet. Alles geschieht so, wie es geoffenbart worden
ist. Aber jene, welche die Offenbarung lehren, kennen und begreifen sie nicht,
denn sie sehen und erkennen nicht die Zeichen der Zeit und die Gesandten
Gottes. Elias ist schon einmal zurückgekehrt. Ein zweites Mal wird er kommen,
wenn die Endzeit angebrochen ist, um die Letzten für Gott vorzubereiten.
Dieses Mal ist er gekommen, um die Ersten auf Christus vorzubereiten, und die
Menschen haben ihn nicht erkennen wollen, haben ihn gepeinigt und getötet. Das
gleiche werden sie mit dem Menschensohn tun, denn die Menschen wollen nicht
erkennen, was zu ihrem Heil ist.»
Die drei senken nachdenklich und
traurig ihre Häupter und gehen zusammen mit Jesus den gleichen Weg bergab, auf
dem sie gekommen sind.
... Wiederum ist es Petrus, der
bei einer Rast auf halbem Wege sagt: «Ach Herr! Ich sage, wie deine Mutter
gestern: "Warum hast du uns das angetan?" und füge hinzu: "Warum hast du uns
das gesagt?" Deine letzten Worte haben in unseren Herzen die Freude über diese
herrliche Schauung ausgelöscht. Welch ein Tag voll großer Angst! Zuerst hat
uns das große Licht Furcht eingeflößt, das du uns gezeigt hast, und das
stärker war, als wenn der ganze Berg gebrannt hätte und der Mond
herabgestiegen wäre, um vor unseren Augen auf dem Plateau zu erstrahlen. Dann
dein Aussehen und dein Schweben über der Erde, als wolltest du entschwinden.
Ich hatte gefürchtet, daß du, angeekelt von den Bosheiten Israels, vielleicht
auf Befehl des Allerhöchsten zum Himmel zurückkehren würdest. Dann hatte ich
Angst, als Moses erschien, den die Seinen einst nicht mehr anzuschauen
vermochten, ohne daß er mit einem Schleier bedeckt war: so
205
sehr erstrahlte sein Antlitz vom
Widerschein Gottes. Damals jedoch war er noch Mensch, während er jetzt selig
und von Gottes Licht erfüllt ist. Und Elias... Göttliche Barmherzigkeit! Ich
glaubte schon, meine letzte Stunde sei gekommen, und mit einem Male erinnerte
ich mich aller Sünden meines Lebens, von der ersten, da ich als Kind Obst aus
der Kammer stahl, bis zur letzten vor einigen Tagen, da ich dir einen
schlechten Rat gab. Mit welcher Furcht habe ich alles bereut! Dann hatte ich
das Gefühl, daß die beiden Gerechten mich liebten... und wagte zu sprechen.
Doch selbst ihre Liebe flößte mir Angst ein, denn ich verdiene die Liebe
solcher Geister nicht. Und dann... dann! ... Die Angst der Ängste! Die Stimme
Gottes! ... Jahwe hat gesprochen! Zu uns! Er hat zu uns gesagt: "Auf ihn sollt
ihr hören!" Auf dich! Und er hat dich seinen "geliebten Sohn, an dem er sein
Wohlgefallen hat", genannt. Welch eine Furcht! Jahwe! ... zu uns! ... Sicher
hat uns nur deine Macht am Leben erhalten! ... Als du uns berührtest – deine
Finger brannten wie Feuer – bin ich zum letzten Mal erschrocken. Ich glaubte,
die Stunde des Gerichtes wäre gekommen, und der Engel habe mich berührt, um
meine Seele zu nehmen und sie zum Allerhöchsten zu bringen... Wie hat nur
deine Mutter es vermocht, zu sehen und zu hören... ich will sagen, jene
Stunde, von der du uns gestern erzählt hast, zu überleben? Sie, die allein
war, noch so jung und ohne dich...»
«Maria, die Makellose, konnte gar
keine Angst vor Gott haben. Auch Eva hatte keine Angst vor ihm, solange sie
unschuldig war. Ich, der Vater und der Heilige Geist waren zugegen, wir, die
wir im Himmel, auf Erden und an jedem Ort gegenwärtig sind und unser Zelt im
Herzen Marias aufgeschlagen hatten», sagt Jesus sanft.
«Was! Was! ... Aber danach hast
du vom Tod gesprochen... und alle Freude war zu Ende... Aber warum ist gerade
uns dreien all dies geschehen? Wäre es nicht besser gewesen, wenn alle
Menschen deine Herrlichkeit geschaut hätten?»
«Gerade, weil ihr euch so
betroffen fühlt, wenn ihr vom qualvollen Tod des Menschensohnes reden hört,
habe ich, der Gottmensch, euch für diese Stunde und für immer stärken wollen
mit der Vorauskenntnis dessen, was ich nach dem Tode sein werde. Erinnert euch
stets daran, damit ihr es zu seiner Zeit verkündigen könnt... Habt ihr
verstanden?»...
«O ja, Herr! Es ist nicht
möglich, dies zu vergessen, und es wäre unnütz, darüber zu berichten. Sie
würden uns für betrunken halten.»
Sie kehren zurück ins Tal. Aber
als sie eine bestimmte Stelle erreicht haben, biegt Jesus in einen
abschüssigen Pfad ein, der nach Endor führt, also auf die entgegengesetzte
Seite, auf der er die Jünger zurückgelassen hat.
«Wir werden sie nicht mehr
finden», sagt Jakobus. «Die Sonne beginnt unterzugehen. Sie werden sich an dem
Ort versammeln, an dem du sie zurückgelassen hast.»
206
«Komm und mach dir keine dummen
Gedanken.»
Tatsächlich erblicken sie beim
Verlassen des Waldes, als sie über leicht abfallende Wiesen die Hauptstraße
erreichen, die vielen Jünger am Fuß des Berges, sowie neugierige Wanderer und
Schriftgelehrte, die wer weiß woher gekommen sind.
«O weh, Schriftgelehrte! ... sie
disputieren schon!» sagt Petrus auf sie zeigend und geht das letzte Stück
Weges schweren Herzens hinab.
Aber auch die unten haben sie
gesehen und deuten nun auf sie. Dann beginnen sie auf Jesus zuzulaufen und
schreien: «Wieso kommst du von dieser Seite, Meister? Wir waren dabei, zur
verabredeten Stelle zurückzukehren, aber die Schriftgelehrten mit ihren
Streitfragen und ein gequälter Vater mit seinen Bitten haben uns aufgehalten.»
«Worüber habt ihr gestritten?»
«Es ging um einen Besessenen. Die
Schriftgelehrten haben uns verspottet, weil wir ihn nicht befreien konnten.
Judas von Kerioth hat es dann noch einmal versucht, weil er sich durch ihre
Worte getroffen fühlte. Aber es war nutzlos. Da haben wir gesagt: "Versucht
ihr es doch", und sie haben geantwortet: "Wir sind keine Exorzisten." Zufällig
sind einige aus Caslot-Tabor vorbeigekommen, und unter ihnen waren zwei
Exorzisten. Doch auch sie haben nichts erreicht. Da ist der Vater, der kommt,
um dich um etwas zu bitten. Höre ihn an.»
Tatsächlich kommt ein Mann daher
und kniet flehend vor Jesus nieder, der auf dem Wiesenhang etwa drei Meter
über der Straße stehengeblieben, und daher für alle gut zu sehen ist.
«Meister», sagt der Mann zu ihm,
«ich bin mit meinem Sohn nach Kapharnaum gegangen, um dich zu suchen. Ich
wollte dir meinen unglücklichen Sohn bringen, damit du ihn befreist, du, der
du die Dämonen austreibst und alle Krankheiten heilst. Er ist oft von einem
stummen Geist besessen. Jedesmal wenn er ihn überfällt, kann er nur noch rauhe
Schreie ausstoßen, wie ein erstickendes Tier. Der Geist wirft ihn zu Boden,
und dann wälzt er sich, knirscht mit den Zähnen und schäumt wie ein Pferd, das
in den Zügel beißt, und verletzt sich oder läuft Gefahr zu ertrinken, zu
verbrennen oder sich den Hals zu brechen, denn der Geist hat ihn mehr als
einmal ins Wasser, ins Feuer und die Treppe hinuntergeworfen. Deine Jünger
haben alles versucht, jedoch nichts gegen ihn vermocht. O gütiger Herr! Hab
Erbarmen mit mir und meinem Knaben!»
Jesus flammt vor Macht, während
er ausruft: «O verderbtes Geschlecht! O satanische Horde, aufrührerische
Legion, ungläubiges und grausames Volk der Hölle, wie lange werde ich noch mit
dir zusammen sein müssen? Wie lange werde ich dich noch zu ertragen haben?»
Sein Auftreten ist so eindrucksvoll, daß plötzlich völliges Schweigen herrscht
und auch das höhnische Grinsen der Schriftgelehrten aufhört.
Jesus sagt zum Vater: «Steh auf
und bring deinen Sohn zu mir.»
207
Der Mann entfernt sich und kehrt
bald mit anderen Männern zurück, die in ihrer Mitte einen Knaben von etwa
zwölf bis vierzehn Jahren führen. Ein schöner Junge, aber mit einem
verschleierten Blick, als wäre er betäubt. An der Stirn hat er eine lange,
rote Wunde und etwas darunter eine helle, alte Narbe. Sobald er Jesus
erblickt, der ihn mit seinen magnetischen Augen ansieht, stößt er einen
heiseren Schrei aus und sein ganzer Körper wird von Krämpfen geschüttelt,
während er schäumend und mit rollenden Augen zu Boden fällt und als er sich im
typischen Anfall eines Epileptikers auf dem Boden wälzt, ist nur noch das
Weiße der Augäpfel sichtbar.
Jesus nähert sich ihm einige
Schritte und sagt: «Seit wann hat er diese Anfälle? Sprich laut, damit alle
dich hören können.»
Der Mann schreit laut, während
die Menschen sich um ihn drängen, und die Schriftgelehrten höher
hinaufsteigen, um die Szene zu überblicken: «Von Kindheit an. Wie ich dir
erzählt habe, fällt er oft ins Feuer, ins Wasser, die Treppen hinunter und von
den Bäumen, denn der Geist überfällt ihn ganz plötzlich und stürzt ihn dann zu
Boden, um ihn zu töten. Er ist voller Narben und Brandwunden, und es ist ein
Wunder, daß er nicht schon durch das Herdfeuer erblindet ist. Kein Arzt, kein
Exorzist und nicht einmal deine Jünger haben ihn heilen können. Aber wenn du
etwas tun kannst, woran ich fest glaube, dann erbarme dich unser und hilf
uns!»
«Wenn du so glauben kannst, ist
mir alles möglich, denn alles wird dem gewährt, der glaubt.»
«O Herr! Und wie ich glaube! Aber
wenn ich noch nicht genügend glaube, dann vermehre meinen Glauben, auf daß er
vollendet sei und das Wunder erlange», stottert der Mann weinend, während er
neben dem Sohn kniet, der sich in immer stärkeren Krämpfen windet.
Jesus richtet sich auf, geht zwei
Schritte zurück, und während die Menge sich immer näher um ihn drängt, ruft er
laut: «Verfluchter Geist, der du den Knaben taub und stumm machst und ihn
quälst, ich befehle dir: verlasse ihn und kehre nie wieder zurück!»
Der Knabe macht jetzt, obwohl er
auf dem Boden liegt, schreckliche Sprünge, indem er sich auf Kopf und Füße
stützt und zu einem Bogen biegt. Er stößt unmenschliche Schreie aus, und nach
einem letzten Aufbäumen, bei dem er nach vorne fällt und sich Stirn und Mund
an einem im Gras liegenden Stein blutig schlägt, bleibt er reglos liegen.
«Er ist tot!» rufen viele.
«Armer Knabe!» «Armer Vater!»
bemitleiden ihn die wohlmeinenden Menschen, und die Schriftgelehrten bemerken
spöttisch: «Der Nazarener hat dich gut bedient!» und an Jesus gewandt:
«Meister, was ist los? Dieses Mal hat Beelzebub dich blamiert...» und sie
lachen höhnisch dazu.
Jesus antwortet niemandem, selbst
nicht dem Vater, der den Sohn au
208
die Seite legt und ihm das Blut
von der verletzten Stirn und den verletzten Lippen wischt, während er Jesus
jammernd anfleht. Dann neigt sich der Meister nieder und nimmt den Knaben bei
der Hand. Dieser öffnet mit einem tiefen Seufzer die Augen, als ob er aus
einem Schlaf erwache, setzt sich auf und lächelt. Jesus läßt ihn aufstehen,
zieht ihn an sich und übergibt ihn dem Vater, während das Volk vor
Begeisterung schreit und die Schriftgelehrten sich, gefolgt vom Spott der
Menge, davonmachen...
«Nun wollen wir gehen», sagt
Jesus zu seinen Jüngern. Nachdem er sich von der Menge verabschiedet hat, geht
er eine Weile am Fuß des Berges entlang und erreicht die Straße, auf der er am
Morgen hergekommen ist.
Jesus sagt:
«Ich habe dich vorbereitet, meine
Herrlichkeit zu betrachten. Morgen (6. August) wird die Kirche das Fest der
Verklärung feiern. Doch möchte ich, daß mein kleiner Johannes sie in
Wirklichkeit schaut, um sie besser zu verstehen. Ich habe dich nicht nur dazu
erwählt, Traurigkeit und Leid deines Meisters kennenzulernen, denn wer fähig
ist, meinen Schmerz mit mir zu teilen, soll auch an meiner Herrlichkeit
teilhaben.
Ich möchte, daß du deinem Jesus
gegenüber, der sich dir zeigt, die gleiche Demut und Reue empfindest wie meine
Apostel.
Niemals darfst du stolz sein,
denn du würdest dafür bestraft werden indem du mich verlierst.
Bedenke immer, wer ich bin und
wer du bist.
Denke stets an deine
Fehlerhaftigkeit und an meine Vollkommenheit, um ein durch Reue gereinigtes
Herz zu haben, und habe auch gleichzeitig großes Vertrauen zu mir. Ich habe
gesagt: "Fürchtet euch nicht! Erhebt euch! Laßt uns unter die Menschen gehen,
denn ich bin gekommen, um bei ihnen zu sein. Seid heilig, stark und treu in
Erinnerung an diese Stunde." Dasselbe sage ich auch zu dir und zu allen meinen
Auserwählten unter den Menschen, zu jenen, die mich auf besondere Weise
besitzen.
Fürchtet euch nicht vor mir. Ich
zeige mich, um euch zu erheben, nicht um euch zu vernichten. Erhebt euch: die
Freude des Geschenkes gebe euch Kraft und stumpfe euch nicht ab zu einer
weichlichen Gelassenheit, indem ihr euch des Heiles schon sicher glaubt, weil
ich euch den Himmel gezeigt habe. Laßt uns zusammen unter die Menschen gehen.
Ich habe euch zu übermenschlichen Werken bestimmt, mit übermenschlichen
Visionen und Unterweisungen, auf daß ihr mir umso besser dienen könnt. Ich
lasse euch an meinem Werk teilnehmen, doch ich habe keine Ruhe gekannt und
kenne sie auch jetzt nicht; denn da das Böse nie ruht, muß das Gute stets
tätig bleiben, um das Werk des Feindes nach besten Kräften zunichte zu machen.
Wir werden ausruhen, wenn die Zeit erfüllt ist. Jetzt müssen wir unermüdlich
vorangehen, fortwährend wirken, uns rastlos verzehren für die Ernte Gottes.
Die immerwährende Vereinigung mit mir heilige euch. Meine fortwährende Lebte
kräftige euch, und meine besondere Bevorzugung für euch mache euch in jeder
Nachstellung standhaft. Seid nicht wie die alten Rabbis, die die Offenbarung
wohl lehrten, jedoch nicht daran glaubten, so daß sie schließlich die Zeichen
der Zeit und die Boten Gottes nicht mehr erkannten. Bekennt euch zu den
Vorläufern Christi bei seiner zweiten Ankunft, denn die Kräfte des
Antichristen wallen überall. Was viele für einen Sieg über den Anticliristen
halten, für einen scheinbaren Frieden, ist nichts anderes als eine Pause, die
den Feinden Christi Zeit läßt, ihre Kräfte zu sammeln, ihre Wunden zu heilen
und ihr Heer für eine noch grausamere Schlacht vorzubereiten.
Erkennt, ihr "Stimmen" eures
Jesu, des Königs der Könige, des Getreuen und Wahrhaftigen, der richtet und
kämpft in Gerechtigkeit und Sieger über das Tier, seine Diener und Propheten
sein wird: erkennt, was zu eurem Besten ist und verwirklicht es stets.
209
Kein trügerischer Anschein
verführe euch, und keine Verfolgung werfe euch nieder. Eure "Stimme"
wiederhole meine Worte. Euer Leben sei diesem Werk geweiht, und wenn ihr auf
Erden das gleiche Schicksal wie Jesus Christus, sein Vorläufer und Elias
erfahren solltet und körperliche oder seelische Leiden ertragen müßt, so freut
euch über euer künftiges Leben, das ihr mit Christus, mit seinem Vorläufer und
dem Propheten gemein haben werdet.
Wie in der Arbeit, so auch in den
Leiden und in der Verherrlichung bin ich Meister und Vorbild! Dort bin ich
Lohn und König! Mich zu besitzen, wird eure Glückseligkeit sein und euch den
Schmerz vergessen lassen. Keine Offenbarung kann euch ganz begreifen lassen,
wie es sein wird, denn die Seligkeit des künftigen Lebens übersteigt alle
Vorstellungskraft eines Geschöpfes, welches noch mit dem Fleisch umhüllt ist.»
395. BELEHRUNG DER APOSTEL NACH
DER VERKLÄRUNG
Sie sind jetzt wieder beim Haus
von Nazareth, genauer gesagt, auf dem Hang des Olivengartens verstreut, in der
Erwartung, zur Nachtruhe auseinanderzugehen. Sie haben ein kleines Feuer
angezündet, um das Dunkel zu erhellen, denn es ist bereits finster und der
Mond geht erst spät auf. Doch der Abend ist warm, «zu warm» meinen die
Fischer, die einen baldigen Regen vorhersehen. Es ist schön, so zusammen zu
sein, die Frauen im blühenden Garten um Maria geschart, die Männer weiter
oben, gleich viele hier wie dort, und am Rand des Vorsprungs Jesus, der diesem
und jenem antwortet, während die Jüngerinnen aufmerksam zuhören. Es muß gerade
von der Heilung des Epileptikers am Fuß des Berges die Rede gewesen sein, und
immer noch werden Bemerkungen darüber gemacht.
«Da mußtest du wirklich kommen!»
ruft der Vetter Simon aus.
«Oh! Obwohl sie sahen, daß auch
ihre Exorzisten nichts vermochten, die doch versicherten, die stärksten
Formeln angewandt zu haben, waren diese Geister nicht zu überzeugen!» sagt der
Fährmann Salomon kopfschüttelnd.
«Auch als man den
Schriftgelehrten die Folgerungen vor Augen hielt, wollten sie sich nicht
überzeugen lassen.»
«Ja. Mir schien, sie sprächen
gut, nicht wahr?» fragt einer, den ich nicht kenne.
«Sehr gut! Sie haben der Macht
Jesu jegliche dämonische Magie abgesprochen und gesagt, ein tiefer Friede sei
über sie gekommen, als der Meister das Wunder wirkte, während sie, wenn etwas
von einer bösen Macht ausgeht, so etwas wie einen Schmerz empfinden»,
antwortet Hermas.
«Aber was für ein hartnäckiger
Geist, he? Er wollte nicht ausfahren! Warum hat er den Knaben nur zeitweise
befallen? War es ein vertriebener und verirrter Geist, oder war der Knabe so
heiligmäßig, daß er ihn mit eigener Kraft vertreiben konnte?», fragt ein
anderer Jünger, dessen Name mir nicht bekannt ist.
210
Jesus erklärt unaufgefordert.
«Ich habe schon öfters gesagt, daß jede Krankheit, da sie eine Plage und eine
Unordnung ist, Satan in sich verbergen kann, und Satan kann sich in einer
Krankheit verstecken, um zu quälen und zur Gotteslästerung zu verleiten. Der
Knabe war ein Kranker, nicht ein Besessener, eine reine Seele. Deswegen habe
ich ihn mit Freude von dem hinterlistigen Dämon befreit, der sich dieser Seele
so sehr bemächtigen wollte, um sie unrein zu machen.»
«Und warum haben wir nichts
vermocht, wenn es sich nur um eine einfache Krankheit handelte?» fragt Judas
von Kerioth.
«Ja... Die Exorzisten konnten
selbstverständlich nichts erreichen, wenn es kein Besessener war! Aber wir?
...» bemerkt Thomas.
Judas Iskariot, der sich mit
seiner Niederlage nicht abfinden kann, da er mehrere Versuche mit dem Knaben
angestellt und diesen nur noch mehr zum Toben gebracht hat, sagt: «Wir haben
ihm anscheinend nur geschadet. Erinnerst du dich, Philippus? Du, der du mir
geholfen hast, hast gesehen wie er mir Fratzen geschnitten hat, und gehört,
daß er mir sogar befohlen hat: "Geh weg! Von uns beiden bist du der größere
Dämon", was die Schriftgelehrten veranlaßt hat, hinter meinem Rücken zu
lachen.»
«Hat dir dies mißfallen?» fragt
Jesus scheinbar unbekümmert.
«Gewiß ist es nicht angenehm,
verspottet zu werden, und nicht von Vorteil, wenn man dein Apostel ist, denn
man verliert dadurch an Autorität.»
«Wenn man mit Gott ist, verliert
man nie an Autorität, selbst wenn die ganze Welt spottet, Judas des Simon!»
«Schon gut. Aber du solltest
wenigstens in uns Aposteln die Macht vermehren, damit ähnliche Niederlagen
nicht mehr vorkommen.»
«Es wäre nicht gerecht und nicht
angebracht, wenn ich eure Macht vermehren würde. Ihr müßt das Eure dazutun, um
zum Ziel zu gelangen. Es liegt an eurer Unzulänglichkeit, wenn ihr nichts
erreicht. Ihr selbst habt das, was ich euch gegeben habe, durch unheilige
Elemente, die ihr in der Hoffnung auf größere Siege beigemengt habt,
verringert.»
«Soll das mir gelten?» fragt
Iskariot.
«Du wirst es selbst wissen, ob du
diese Worte verdienst. Ich spreche zu allen.»
Bartholomäus fragt: «Was ist denn
notwendig, um diese Dämonen zu besiegen?»
«Gebet und Fasten. Anderes ist
nicht nötig. Betet und fastet, und nicht nur dem Fleische nach. Deshalb ist es
gut, daß euer Hochmut der Befriedigung entbehrt. Der sich selbst genügende
Hochmut läßt Geist und Seele apathisch werden, und das Gebet wird lau und
unwirksam, so wie ein übersatter Leib schläfrig und schwerfällig wird. Nun
wollen auch wir uns zur verdienten Ruhe begeben. Morgen, bei Sonnenaufgang,
sollen sich
211
alle, mit Ausnahme Manaens und
der Hirtenjünger, auf der Straße von Kana einfinden. Geht nun, der Friede sei
mit euch.»
Doch dann hält er Isaak und
Manaen zurück und gibt ihnen besondere Anweisungen für den morgigen Tag, den
Tag der Abreise der Jüngerinnen und Marias, die zusammen mit Simon des Alphäus
und Alphäus der Sara die Passah-Pilgerfahrt antreten werden.
«Geht über Esdrelon, damit
Margziam seinen Großvater wiedersehen kann. Gebt den Landarbeitern die Börse,
die ich euch von Judas habe überreichen lassen. Mit der anderen, die ich euch
eben gegeben habe, helft den Armen, denen ihr auf eurer Reise begegnet. Wenn
ihr in Jerusalern angekommen seid, geht nach Bethanien und sagt dort, daß man
mich um den Neumond des Nisam erwarten soll. Ich werde nicht viel später als
an diesem Tag dort sein. Ich vertraue euch die mir teuerste Person und die
Jüngerinnen an. Aber ich bin ruhig, da sie in guten Händen sind. Geht nun! Wir
werden uns in Bethanien wiedersehen und dann für lange Zeit beisammen sein.»
Er segnet sie, und während sie
sich im Dunkel der Nacht entfernen, geht er in den Garten hinunter und ins
Haus, wo die Jüngerinnen und die Mutter mit Margziam bereits die Reisesäcke
zubinden. Sie bringen auch im Haus alles in Ordnung für die Zeit der
Abwesenheit, deren Dauer ihnen nicht bekannt ist.
396. DIE TEMPELABGABE UND DIE
MÜNZE IM SCHLUND DES FISCHES
Die beiden gemieteten Boote, in
denen sie nach Kapharnaum zurückkehren, gleiten auf einem unwahrscheinlich
ruhigen See dahin, eine wahre Scheibe himmlischen Kristalls, die, nachdem die
beiden Boote vorbeigefahren sind, jeweils sofort wieder ihre glatte Oberfläche
zurückgewinnt. Es sind jedoch nicht die Boote des Petrus und des Jakobus,
sondern zwei andere, die sie vielleicht in Tiberias gemietet haben, denn ich
höre, daß sich Judas etwas beklagt, weil er nach dieser letzten Ausgabe kein
Geld mehr hat.
«An die anderen hat man gedacht,
aber an uns? Was werden wir nun tun? Ich hoffte, daß Chuza... Aber nichts! Wir
sind nun in der Lage eines Bettlers, eines der vielen, die sich in dieser Zeit
an die Straßen stellen und die Pilger um Almosen bitten», sagt er leise und
unzufrieden zu Thomas.
Doch dieser antwortet gutmütig:
«Was tut das schon? Ich mache mir keine Sorgen.»
«Ja! Aber wenn die Stunde der
Mahlzeit kommt, bist du derjenige, der mehr als alle anderen essen möchte.»
212
«Gewiß, ich habe Hunger. Ich bin
auch in diesem Punkt tüchtig. Nun gut, heute werde ich, anstatt wie üblich
Brot und andere Speisen zu verteilen, diese direkt von Gott erbitten.»
«Heute! Heute! Aber morgen werden
wir uns wieder in derselben Lage befinden, und übermorgen ebenfalls. Zudem
sind wir auf dem Weg zur Dekapolis, wo uns niemand kennt und die Leute halbe
Heiden sind. Es ist nicht nur wegen des Brotes, sondern auch wegen der
Sandalen, die sich abnützen, und wegen der Armen, die dich belästigen. Einer
könnte auch krank werden, und ...»
«Und wenn du so weitermachst,
dann bringst du mich noch um und wirst auch an die Begräbniskosten denken
müssen. Oh, wie viele Sorgen! ich... bin wirklich sorgenfrei, ruhig wie ein
neugeborenes Kind.»
Jesus, der in seine Gedanken
versunken zu sein scheint und am Bug, fast auf dem Bootsrand, sitzt, dreht
sich um und sagt laut zu Judas, der am Heck sitzt – aber es sieht so aus, als
ob er zu allen sprechen würde -«Es ist ganz gut, ohne einen Pfennig zu sein,
umsomehr wird die Vatergüte Gottes auch in den kleinen Dingen erstrahlen.»
«Seit einigen Tagen ist für dich
alles gut. Es ist gut, daß kein Wunder geschieht, es ist gut, daß wir von
niemandem Spenden erhalten, es ist gut, daß wir alles, was wir besaßen,
verteilt haben, alles in allem ist gut... Aber mir ist sehr unbehaglich
dabei... Du bist ein teurer Meister, ein heiliger Meister, aber auf Dinge des
materiellen Lebens verstehst du dich überhaupt nicht», sagt Judas ohne
Bitterkeit, als ob er einem guten Bruder Vorhaltungen machte, dessen
unbedachter Güte er sich aber auch rühmt.
Jesus antwortet ihm mit einem
strahlenden Lächeln: «Es ist gerade mein größter Vorzug, ein Mensch zu sein,
der sich nicht auf Dinge des materiellen Lebens versteht... und ich
wiederhole: Es ist ganz gut, ohne einen Pfennig zu sein.»
Das Boot gleitet über den Kies
und hält an. Alle steigen aus, während sich das andere Boot nähert, um
anzulegen. Jesus begibt sich mit Judas, Thomas, Judas und Jakobus, Philippus
und Bartholomäus zu dem Haus...
Petrus steigt aus dem zweiten
Boot aus, und Matthäus, die Söhne des Zebedäus, Simon der Zelote und Andreas
folgen ihm; und während sich alle auf den Weg machen, bleibt Petrus am Ufer
zurück, um mit den Bootsmännern zu sprechen, die sie begleitet haben und die
er vielleicht kennt, und um ihnen bei der Abfahrt behilflich zu sein. Dann
zieht er wieder sein langes Gewand an und steigt das Ufer hinauf, um sich zum
Hause zu begeben.
Während er den Marktplatz
überquert, kommen ihm zwei Männer entgegen, die ihn anhalten und sagen: «Höre,
Simon des Jonas.»
«Ich höre. Was wollt ihr?»
«Bezahlt dein Meister, oder
bezahlt er die Doppeldrachme an den Tempel nicht, nur weil er Meister ist?»
213
«Gewiß bezahlt er sie! Warum
sollte er es nicht tun?»
«Nun ... weil er sich Sohn Gottes
nennt, und ...»
«Und er ist es auch», entgegnet
Petrus bestimmt, schon ganz rot vor Unwillen. Dann fügt er hinzu: «Doch da er
auch ein Sohn des Gesetzes ist, und der beste, den das Gesetz hat, zahlt er
wie jeder Israelit seine zwei Drachmen...»
«Das ist uns nicht bekannt. Man
hat uns vielmehr gesagt, daß er es nicht tut, und wir möchten ihm raten, es zu
tun.»
«Hm, hm», brummt Petrus, dessen
Geduld beinahe am Ende ist. «Hm, hm, hm... Mein Meister hat euren Rat nicht
nötig. Geht in Frieden und sagt denen, die euch geschickt haben, daß die
Drachmen bei der ersten Gelegenheit bezahlt würden.»
«Bei der ersten Gelegenheit
bezahlt würden! ... Warum nicht sofort? Wer garantiert uns, daß er es tun
wird, wenn er immer da und dort ist, ohne ein bestimmtes Ziel?»
«Jetzt nicht, weil er im
Augenblick keinen Pfennig besitzt. Ihr könntet ihn auf den Kopf stellen, und
es käme nicht die kleinste Münze zum Vorschein. Wir sind alle ohne Geld, denn
wir, die wir weder Pharisäer noch Schriftgelehrte, weder Sadduzäer noch
Begüterte, weder Spione noch Schlangen sind, sind es gewohnt, gemäß seiner
Lehre das, was wir haben, für die Armen zu verwenden. Verstanden? Gerade haben
wir alles weggegeben, und wenn der Allerhöchste nicht für uns sorgt, können
wir Hungers sterben oder uns als Bettler an die Straßenecke stellen. Berichtet
dies auch jenen, die behaupten, daß er ein Schlemmer wäre. Lebt wohl!»Dann
läßt er sie stehen und läuft brummend und glühend vor Erregung davon.
Er betritt das Haus und begibt
sich in den oberen Raum, wo Jesus einen Mann anhört, der ihn bittet, in ein
Haus auf dem Berg hinter Magdala zu kommen, wo jemand im Sterben liegt.
Jesus verabschiedet sich von dem
Mann und verspricht, bald zu kommen. Als der Besucher fort ist, wendet er sich
an Petrus, der sich nachdenklich in eine Ecke gesetzt hat, und sagt: «Was
meinst du, Simon, von wem bekommen die Könige der Erde in der Regel den Tribut
und die Steuern? Von den eigenen Kindern oder von den Fremden?»
Petrus fährt auf und sagt: «Woher
weißt du, Herr, was ich dir hätte sagen sollen?»
Jesus lächelt und macht eine
Gebärde, als wolle er sagen: «Laß es gut sein»; dann fügt er an: «Antworte mir
auf das, was ich dich frage.»
«Von den Fremden!»
«Also sind die Kinder davon
ausgenommen, wie es auch recht ist. Denn ein Sohn ist vom Blut und vom Haus
des Vaters und braucht dem Vater nur den Tribut der Liebe und des Gehorsams zu
leisten. Daher müßte ich, als Sohn des Vaters, keinen Tribut an den Tempel
bezahlen, da dieser das
214
Haus des Vaters ist. Du hast
ihnen richtig geantwortet. Aber da ein Unterschied zwischen dir und ihnen
besteht, und zwar dieser: du glaubst, daß ich der Sohn Gottes bin, während sie
und jene, die sie geschickt haben, dies nicht glauben, daher will ich, damit
wir ihnen nicht Anstoß geben, den Tribut bezahlen, und zwar sofort, solange
sie noch auf dem Platz sind, um ihn einzuziehen.»
«Und womit willst du bezahlen, da
wir doch keinen Pfennig mehr besitzen?» fragt Judas, der sich mit den anderen
genähert hat. «Siehst du jetzt, wie nötig es ist, etwas zu haben?»
«Wir werden uns vom Herrn des
Hauses etwas leihen», sagt Philippus.
Jesus macht ein Zeichen mit der
Hand, daß sie schweigen sollen, und sagt: «Simon des Jonas, geh ans Ufer des
Sees und wirf die Angel mit einem großen Haken aus. Sobald der erste Fisch
anbeißt, ziehe ihn ans Ufer. Es wird ein großer Fisch sein. Öffne ihm gleich
am Ufer das Maul; du wirst darin einen Stater finden. Nimm ihn, eile zu den
beiden und zahle für mich und für dich. Dann bring den Fisch hierher. Wir
werden ihn rösten, und Thomas wird uns aus Liebe zu Gott ein wenig Brot geben.
Wir werden essen und danach sogleich den Sterbenden aufsuchen. Jakobus und
Andreas, bereitet die Boote vor, um mit ihnen nach Magdala zu fahren, und am
Abend werden wir dann zu Fuß heimkehren, um Zebedäus und den Schwager Simons
nicht am Fischfang zu hindern.»
Petrus geht, und gleich darauf
sieht man ihn am Ufer in ein kleines, halb im Wasser liegendes Boot steigen
und eine dünne, starke Schnur auswerfen, die mit einem Stein oder
Bleistückchen beschwert ist und an deren Ende der Angelhaken hängt. Die Wasser
des Sees öffnen sich mit glitzernden Spritzern, als das Gewicht in ihnen
versinkt, und beruhigen sich dann wieder, nachdem die Ringe auf dem Wasser
ausgelaufen sind...
Nach einer Weile jedoch spannt
sich die Schnur, die locker in der Hand des Petrus gelegen ist... Petrus
zieht, zieht und zieht, während die Schnur immer stärker zuckende Bewegungen
macht. Schließlich ein heftiger Ruck, und die Angelschnur erscheint mit ihrer
Beute, die in der Luft über dem Kopf des Fischers zappelt und dann auf den
gelblichen Sand aufschlägt, wo sie sich vor Schmerz wegen des Angelhakens im
Gaumen und dem Beginn des Erstickens aufbäumt.
Es ist ein prächtiger Fisch, groß
wie ein Steinbutt und mindestens drei Kilogramm schwer. Petrus reißt den Haken
aus dem fleischigen Kiefer, steckt seinen dicken Finger in den Schlund und
zieht eine große Silbermünze heraus. Er hält sie zwischen Daumen und
Zeigefinder empor, um sie dem Meister zu zeigen, der an der Brüstung der
Terrasse steht. Dann nimmt er die Schnur, wickelt sie auf, ergreift den Fisch
und eilt davon, zum Marktplatz.
Die Apostel sind alle starr vor
Staunen... Jesus lächelt und sagt: «So haben wir ein Ärgernis verhindert...»
215
Petrus kehrt zurück: «Sie waren
schon mit Eli, dem Pharisäer, auf dem Wege hierher. Ich habe versucht, höflich
wie ein Mädchen zu sein, und habe sie gerufen: "He, ihr Boten des Fiskus!
Nehmt, hier sind vier Drachmen, nicht wahr? Zwei für den Meister und zwei für
mich. Nun ist alles in Ordnung, nicht wahr? Auf baldiges Wiedersehen im Tale
Josaphat, besonders mit dir, lieber Freund!" Sie waren beleidigt, weil ich
gesagt habe: "Fiskus". "Wir sind vom Tempel, nicht vom Fiskus." "Ihr nehmt
Steuern ein wie die Zöllner. Jeder Einnehmer ist für mich der Fiskus", habe
ich geantwortet. Aber Eli hat erwidert: "Unverschämter! Wünschest du mir den
Tod?" "Nein, Freund! Niemals. Ich wünsche dir eine glückliche Reise ins Tal
Josaphat. Gehst du nicht nach Jerusalern zum Passahfest? Dann könnten wir uns
dort irgendwo begegnen, Freund." "Lieber nicht; und ich erlaube dir auch
nicht, mich deinen Freund zu nennen." "Tatsächlich wäre es eine zu große
Ehre", habe ich geantwortet und bin dann fortgegangen. Das Schöne ist, daß
halb Kapharnaum anwesend war und gesehen hat, wie ich für dich und für mich
bezahlt habe. So wird diese alte Schlange nichts mehr sagen können.»
Die Apostel haben alle über die
Erzählung und die Mimik des Petrus lachen müssen. Jesus möchte ernst bleiben,
doch ein leichtes Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen, während er sagt: «Du
bist schärfer als der Senf», und er fügt hinzu: «Kocht nun den Fisch und
beeilen wir uns, denn bei Sonnenuntergang möchte ich wieder zurück sein.»
397. DER GRÖSSTE IM HIMMELREICH;
DER KLEINE BENJAMIN VON KAPHARNAUM
Gerade als der Himmel und der See
sich im Abendrot des Sonnenunterganges entzünden, kehren sie zurück nach
Kapharnaum. Sie sind zufrieden und reden miteinander. Jesus spricht wenig,
lächelt jedoch. Sie stellen fest, daß sie, wenn sich der Bote besser
ausgedrückt hätte, sich den Weg hätten ersparen können. Sie sagen aber auch,
daß sich die Mühe trotzdem gelohnt hat, denn eine Schar kleiner Kinder hat den
Vater geheilt zurückerhalten, als er schon im nahenden Tod erkaltete, und
außerdem sind sie nun nicht mehr ohne einen Pfennig.
«Ich hab euch doch gesagt, daß
der Vater für alles sorgen würde», sagt Jesus.
«War er nicht ein alter Verehrer
der Maria von Magdala?» fragt Philippus.
«Es scheint so... Demnach, was
man uns gesagt hat...» antwortet Thomas.
«Herr, was hat dir der Mann
gesagt?» fragt Judas des Alphäus.
216
Jesus lächelt ausweichend.
«Ich habe ihn mehrmals mit ihr
gesehen, als ich mit Freunden in Tiberias war. Ich bin sicher», bestätigt
Matthäus.
«Ja, Bruder, stelle uns
zufrieden... Hat dich der Mann nur um Heilung oder auch um Verzeihung
gebeten?» fragt Jakobus des Alphäus.
«Welch sinnlose Frage! Der Herr
erweist niemals eine Gnade, ohne zuvor Reue zu verlangen!» sagt Iskariot mit
einem gewissen Unwillen Jakobus des Alphäus gegenüber.
«Mein Bruder hat keine Torheit
gesagt. Jesus heilt oder befreit und sagt dann: "Gehe hin und sündige nicht
mehr"», entgegnet Thaddäus.
«Aber nur, weil er die Reue schon
in den Herzen sieht», erwidert Iskariot.
«In den Besessenen ist weder Reue
noch das Verlangen, befreit zu werden. Bei keinem einzigen war ein Anzeichen
dafür zu erkennen. Erinnere dich an die einzelnen Fälle, und du wirst sehen,
daß sie entweder flohen oder zu Feindseligkeiten übergingen, oder wenigstens
versuchten, das eine oder andere zu tun; und es gelang ihnen nur nicht, weil
sie von ihren Angehörigen daran gehindert wurden», sagt Thaddäus.
«Und von der Macht Jesu», ergänzt
der Zelote.
«Dann zieht Jesus eben den Wunsch
der Verwandten in Betracht, die den Willen des Besessenen darstellen, der,
wenn er vom Dämon nicht daran gehindert würde, die Befreiung wünschen würde.»
«Oh, wie viele Spitzfindigkeiten!
Und für die Sünder? Mir scheint, daß er das gleiche Prinzip anwendet, auch
wenn sie nicht besessen sind», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Zu mir hat er gesagt: "Folge
mir", und ich hatte über meinen Zustand noch kein Wort zu ihm gesagt», bemerkt
Matthäus.
«Aber er hat in deinem Herzen
gelesen», sagt Iskariot, der unbedingt immer recht haben will.
«Nun gut! Aber dieser Mann war
nach dem, was das Volk erzählt, ein der Sinnlichkeit ergebener großer Sünder
und nicht dem Teufel verfallen oder gar besessen, doch bei all den Sünden
hatte er wohl einen Dämon zum Gebieter. Er lag im Sterben und so weiter, aber
um was hat er gebeten? Wir kommen nicht weiter, scheint mir... Wir sind noch
immer bei der ersten Frage», sagt Petrus.
Jesus stellt ihn zufrieden: «Der
Mann wollte mit mir allein sein, um offen mit mir reden zu können. Er hat
nicht sofort über seinen Gesundheitszustand, sondern über seinen Seelenzustand
gesprochen, und hat gesagt: "ich liege im Sterben, aber es steht noch nicht so
schlimm um mich, wie ich die Umstehenden habe glauben lassen, um dich
schneller in meiner Nähe zu haben. Ich bedarf deiner Vergebung, um gesund zu
werden. Die Vergebung allein genügt mir. Wenn du mich nicht heilen willst,
werde ich mich darein ergeben, denn ich habe es verdient. Aber heile meine
Seele!",
217
und er hat mir seine vielen
Sünden, eine Kette von ekelerregenden Sünden, bekannt...» sagt Jesus, doch
sein Gesicht strahlt vor Freude.
«Und du freust dich auch noch
darüber, Meister? Das wundert mich!»bemerkt Bartholomäus.
«Ja, Bartholomäus, ich freue
mich, denn die Sünden sind nicht mehr, und mit ihnen habe ich den Namen der
Befreierin erfahren. In diesem Fall war der Apostel eine Frau.»
«Deine Mutter!» rufen viele aus,
und andere: «Johanna des Chuza! Da er oft nach Tiberias ging, hat er sie
vielleicht gekannt.» Jesus schüttelt den Kopf. Sie fragen ihn: «Wer dann?»
«Maria des Lazarus», antwortet
Jesus.
«Ist sie hierhergekommen? Warum
hat sie sich bei keinem von uns sehen lassen?»
«Sie ist nicht gekommen. Sie hat
ihrem alten Gefährten der Sünde geschrieben. Ich habe die Briefe gelesen.
Darin fleht sie ihn immer um dasselbe an: auf sie zu hören und sich zu
bekehren, wie sie sich selbst bekehrt hat; ihr im Guten zu folgen, wie er ihr
vorher in der Sünde gefolgt ist; und mit tränenvollen Worten bittet sie ihn
auch, ihre Seele von den Gewissensbissen, seine Seele verführt zu haben, zu
befreien. Sie hat ihn bekehrt, so daß er sich auf das Land zurückgezogen hat,
um den Versuchungen der Stadt zu entfliehen. Die Krankheit, mehr durch
Gewissensbisse verursacht als physischen Ursprungs, hat ihn schließlich für
die Gnade vorbereitet. Also, seid ihr jetzt zufrieden? Versteht ihr jetzt,
warum ich lächle?»
«Ja, Meister», sagen alle, und
als sie sehen, daß Jesus seine Schritte beschleunigt, wie um sich abzusondern,
fangen sie an, miteinander zu tuscheln ...
Kapharnaum ist schon in
Sichtweite, als sie an der Kreuzung mit dem Weg, der am See entlang nach
Magdala führt, auf Jünger stoßen, die zu Fuß, die Frohe Botschaft verkündend,
von Tiberias herkommen. Es sind alle mit Ausnahme von Margziam, den Hirten und
Manaen, die mit den Frauen von Nazareth nach Jerusalern aufgebrochen sind.
Die Gruppe der Jünger hat sich
sogar um einige vermehrt, die auf dem Rückweg von ihrer Mission zu ihr
gestoßen sind und einige neue Proselyten der christlichen Lehre mitgebracht
haben.
Jesus grüßt sie liebevoll,
sondert sich jedoch dann sofort wieder ab in Betrachtung und tiefem Gebet,
indem er einige Schritte vor ihnen hergeht. Die Apostel hingegen gesellen sich
zu den Jüngern, besonders zu den einflußreicheren, also Stephanus, Hermas, dem
Priester Johannes, Timoneus, Joseph von Emmaus, Ermastheus – der, soweit ich
es beurteilen kann, auf dem Weg der Vollkommenheit voranfliegt – und Abel von
Bethlehem in Galiläa, dessen Mutter mit anderen Frauen am Ende der Gruppe
geht. Jünger und Apostel tauschen Fragen und Antworten über
218
die Ereignisse seit ihrer
Trennung. So wird auch von der Heilung und Bekehrung am heutigen Tag und von
der Münze im Maul des Fisches berichtet... Die Gründe für dieses Wunder und
diese Bekehrung und Heilung sind der Anlaß zu viel Gerede, das sich von Reihe
zu Reihe verbreitet wie ein Feuer, das sich an trockenem Laub entzündet hat...
Jesus sagt: «Hier werdet ihr die
Vision vom 7. März 1944 einsetzen, welche den Titel "Der kleine Benjamin von
Kapharnaum" trägt. Die Auslegung könnt ihr weglassen und dann mit der Lehre
und mit der Vision fortfahren.»
Ich möchte noch im voraus
bemerken, daß ich den letzten Satz: «Hier endet die Vision...»auslasse. Er
wäre hier fehl am Platz, da die Vision weitergeht.
Ich sehe Jesus auf einer
Landstraße, von seinen Aposteln und Jüngern umgeben und gefolgt.
Der See von Galiläa ist nicht
mehr weit entfernt und schimmert ruhig und blau in der schönen Frühlings- oder
Herbstsonne. Es ist keine glühende Sonne wie im Sommer, doch vermute ich, daß
es Frühjahr ist, denn die Natur ist sehr frisch und hat nicht die goldenen,
matten Farben des Herbstes.
Es scheint, daß sich Jesus, da
der Abend hereinbricht, in das gastliche Haus zurückziehen möchte und sich
daher zur Ortschaft begibt, die schon in Sicht ist. Wie er es oft tut, geht
Jesus einige Schritte voraus, zwei oder drei, nicht mehr, doch genug, um sich
in Gedanken absondern zu können, des Schweigens bedürftig nach einem Tage der
Verkündigung der Frohen Botschaft. Ganz in sich gekehrt wandert er dahin, in
der rechten Hand einen grünen Zweig, den er wohl von einem Strauch abgerissen
hat und mit dem er nun, in Gedanken versunken, die Gräser am Wegrand berührt.
Hinter ihm sprechen die Jünger
lebhaft miteinander. Sie rufen sich die Ereignisse des Tages ins Gedächtnis
und sind nicht sehr nachsichtig, wenn es darum geht, Fehler und Bosheiten
anderer abzuwägen. Alle kritisieren mehr oder weniger, daß die Einnehmer der
Tempelsteuer von Jesus den Tribut verlangt haben.
Petrus, immer noch erregt,
bezeichnet dieses Vorgehen als Sakrileg, da der Messias nicht verpflichtet
ist, Steuern zu zahlen. «Das würde bedeuten, von Gott zu verlangen, daß er an
sich selbst bezahlt», sagt er. «Und das ist nicht gerecht. Wenn sie aber
glauben, daß er nicht der Messias ist, so wird auch das zum Sakrileg!»
Jesus wendet sich einen
Augenblick um und sagt: «Simon, Simon, viele werden an mir zweifeln, auch
einige von denen, die meinen, einen sicheren und unerschütterlichen Glauben an
mich zu haben. Richte nicht die Brüder, Simon! Richte immer zuerst dich
selbst!»
Judas sagt mit einem ironischen
Lächeln dem gedemütigten Petrus, der den Kopf gesenkt hat: «Das ist für dich.
Weil du der älteste bist, willst du
219
immer den Gescheiten spielen. Es
ist aber nicht gesagt, daß ein Verdienst immer im Verhältnis zum Alter steht.
Unter uns sind einige, die dich in Bezug auf Wissen und gesellschaftliche
Stellung übertreffen.»
Es beginnt nun eine Diskussion
über die Verdienste. Die einen rühmen sich, unter den ersten Jüngern gewesen
zu sein, die Jesus erwählt hat, andere glauben, daß er sie bevorzugt, weil sie
auf eine einflußreiche Stellung verzichtet haben, um Jesus zu folgen; wieder
ein anderer sagt, daß niemand solche Rechte habe wie er, da keiner einen so
großen Schritt zur Bekehrung getan habe, indem er vom Zöllner zum Jünger
wurde. Dieser Wortwechsel zieht sich in die Länge, und wenn ich nicht fürchten
würde, die Apostel zu beleidigen, würde ich sagen, daß er in einen
regelrechten Streit ausgeartet ist.
Jesus hält sich heraus. Es
scheint, als ob er nicht einmal ihre Stimmen hören würde. Inzwischen sind sie
bei den ersten Häusern des Ortes angelangt, den ich als Kapharnaum erkenne.
Jesus geht weiter, und die anderen folgen ihm und diskutieren immer noch.
Ein Knabe von sieben oder acht
Jahren hüpft hinter Jesus her und erreicht ihn, nachdem er die Gruppe der
lautstarken Apostel überholt hat. Es ist ein schöner Knabe mit dunkelbraunem,
gelocktem Haar, mit zwei schwarzen, klugen Äuglein im braunen Gesichtchen. Er
ruft den Meister so vertraulich, als ob er ihn gut kennen würde, und fragt:
«Jesus, darf ich bis zu deinem Hause mit dir kommen?»
«Weiß es deine Mutter?» fragt
Jesus mit einem gutmütigen Lächeln.
«Ja, sie weiß es.»
«Wirklich?» Jesus schaut ihn
immer noch lächelnd mit einem durchdringenden Blick an.
«Ja, Jesus, wirklich.»
«Dann komm.»
Das Kind macht einen
Freudensprung und ergreift die linke Hand Jesu, der sie ihm gereicht hat. Mit
welch liebevollem Vertrauen das Kind die kleine braune Hand in die lange Hand
meines Jesus legt! Auch ich würde gerne dasselbe tun!
«Erzähle mir ein schönes
Gleichnis, Jesus», sagt das Kind, indem es an der Seite des Meisters hüpft und
ihn von unten bis oben mit seinem freudestrahlenden Gesichtlein mustert.
Auch Jesus betrachtet das Kind
mit einem heiteren Lächeln, bei dem sich sein von dem rotblonden Bart
umschatteter Mund leicht öffnet. Seine Augen, von der Farbe dunkler Saphire,
lachen vor Freude, während er das Kind betrachtet.
«Was willst du mit dem Gleichnis
anfangen? Es ist kein Spielzeug.»
«Es ist schöner als ein
Spielzeug. Wenn ich schlafengehe, denke ich darüber nach, und dann träume ich
davon, und am Morgen erinnere ich mich daran und sage es wieder auf, um gut zu
sein. Es hilft mir, gut zu sein.»
220
«Und du erinnerst dich jeweils
wirklich daran?»
«Ja, möchtest du, daß ich dir
alle Gleichnisse aufsage, die du mir bisher erzählt hast?»
«Du bist tüchtig, Benjamin,
tüchtiger als die Erwachsenen, die vergessen. Als Belohnung will ich dir ein
Gleichnis erzählen.»
Das Kind hüpft jetzt nicht mehr.
Es schreitet ernst und gesammelt wie ein Erwachsener einher, und es entgeht
ihm kein Wort und kein Tonfall Jesu, den es aufmerksam beobachtet, ohne mehr
darauf zu achten, wohin es seinen Fuß setzt.
«Einem sehr guten Hirten kam zur
Kenntnis, daß an einem Orte dieser Welt sehr viele Schafe waren, die ihr
schlechter Hirte verlassen hatte. Sie irrten auf unwegsamen Pfaden und
schädlichen Weiden umher und liefen Gefahr, in immer tiefere und finsterere
Schluchten zu geraten. Der gute Hirte begab sich zu jenem Ort, verkaufte alle
seine Habe und erwarb die Schafe und deren Lämmlein.
Er wollte sie in sein Reich
bringen, denn dieser Hirte war auch König, wie so viele in Israel Könige
gewesen sind. In seinem Reich hätten diese Schafe und Lämmlein viele grüne
Weiden, frisches und reines Wasser, sichere Wege und Hürden gefunden, in die
kein Dieb und kein Wolf einbrechen konnte. Daher vereinigte der Hirte seine
Schafe und Lämmer und sagte zu ihnen: "Ich bin gekommen, euch zu retten, um
euch dorthin zu führen, wo ihr nicht mehr leiden und keine Nachstellungen und
Schmerzen kennen werdet. Liebt mich und folgt mir, denn ich liebe euch so
sehr, daß ich mich in jeder Weise aufgeopfert habe, um euch zu bekommen. Wenn
ihr mich liebt, wird mir mein Opfer keine Last sein. Folgt mir und laßt uns
gehen!"
Der Hirte voran, die Schafe
hinter ihm her, machten sie sich auf den Weg zum Reich der Freude.
Jeden Augenblick wandte sich der
Hirte um, um nachzusehen, ob sie ihm auch folgten, um die Müden anzuspornen
und die Entmutigten zu bestärken, um den Kranken unter ihnen zu helfen und die
Lämmlein zu streicheln. Wie sehr liebte er sie! Er gab ihnen sein Brot und
sein Salz, kostete als erster das Wasser der Quellen und segnete es, um zu
prüfen, ob es gesund sei und um es zu heiligen.
Aber die Schafe – glaubst du es,
Benjamin? – die Schafe wurden nach einiger Zeit müde. Zuerst eines, dann zwei,
dann zehn, dann hundert. Sie blieben zurück, um Gras zu fressen und sich damit
vollzustopfen, bis sie sich nicht mehr bewegen konnten. Dann legten sie sich
müde und satt in den Staub und den Schlamm. Andere liefen am Rand der Abgründe
dahin, obwohl der Hirte sie warnte: "Tut das nicht!" Er stellte sich dorthin,
wo die größte Gefahr war, um sie davon abzuhalten, aber sie stießen ihn mit
ihrem Kopf an und versuchten mehrmals, ihn in den Abgrund zu stürzen. So
endeten viele in den Schluchten und starben eines
221
elenden Todes. Andere stießen
sich mit ihren Köpfen und Hörnern und töteten sich gegenseitig.
Nur ein Lämmlein trennte sich nie
vom Hirten. Es lief, blökte und sagte mit seinem Blöken zum Hirten: "Ich liebe
dich!" Es folgte dem guten Hirten, und als sie an den Pforten seines Reiches
ankamen, waren es nur noch zwei; der Hirte und das getreue Lämmlein. Da sagte
der Hirte nicht: "Tritt ein", sondern: "Komm", und er nahm es auf seine Arme,
drückte es an seine Brust und trug es hinein, indem er alle seine Untergebenen
zusammenrief und zu ihnen sagte: "Seht, dieses liebt mich. Ich will, daß es in
alle Ewigkeit bei mir sei, und ihr sollt es lieben, denn es ist der Liebling
meines Herzens!"
Das Gleichnis ist zu Ende,
Benjamin. Kannst du mir nun sagen, wer der gute Hirte ist?»
«Du bist es, Jesus.»
«Und das Lämmlein?»
«Das bin ich, Jesus.»
«Aber nun werde ich fortgehen,
und du wirst mich vergessen.»
«Nein, Jesus. Ich werde dich
nicht vergessen, denn ich liebe dich.»
«Deine Liebe wird aufhören, wenn
du mich nicht mehr siehst ...»
«Ich werde in meinem Innern die
Worte wiederholen, die du mir gesagt hast, und es wird so sein, als ob du
selbst anwesend wärst. Auf diese Weise werde ich dich lieben und dir
gehorchen. Sag mir, Jesus, wirst du dich an Benjamin erinnern?»
«Immer!»
«Wie wirst du es machen, dich zu
erinnern?»
«Ich werde mir sagen, daß du mir
versprochen hast, mich zu lieben und mir zu gehorchen, und so werde ich mich
deiner erinnern.»
«Und wirst du mir dein Reich
geben?»
«Wenn du gut bist, ja!»
«Ich werde gut sein.»
«Wie wirst du es machen? Das
Leben ist lang.»
«Aber deine Worte sind so gut.
Wenn ich sie mir vorsage und das tue, was sie mir zu tun gebieten, dann werde
ich mich das ganze Leben lang gut bewahren. Ich werde es tun, weil ich dich
liebe. Wenn man liebt, dann macht es keine Mühe, gut zu sein. Ich werde nicht
müde, meiner Mutter zu gehorchen, denn ich liebe sie, und es wird mir keine
Mühe machen, dir zu gehorchen, weil ich dich liebe.»
Jesus ist stehengeblieben und
schaut das mehr von Liebe als von der Sonne entflammte Gesichtlein an. Die
Freude Jesu ist so lebhaft, daß es scheint, eine andere Sonne entzünde sich in
seiner Seele und strahle durch seine Augen. Er beugt sich nieder und küßt das
Kind auf die Stirn.
Vor einem kleinen einfachen
Hause, vor dem sich ein Brunnen befindet, ist er stehengeblieben. Jesus geht
zu diesem Brunnen und setzt sich
222
nieder, und dort finden ihn die
Apostel, die noch immer ihre gegenseitigen Vorzüge abwägen.
Jesus schaut sie an und ruft sie
zu sich. «Kommt hierher und hört euch die letzte Unterweisung des Tages an,
ihr, die ihr euch brüstet mit der Zurschaustellung eurer Verdienste und meint,
euch dadurch einen besonderen Platz zu erwerben. Seht ihr dieses Kind? Es ist
in der Wahrheit schon weiter voran als ihr. Seine Unschuld gibt ihm den
Schlüssel, um die Tore meines Reiches zu öffnen. In seiner kindlichen Einfalt
hat es verstanden, daß in der Liebe die Kraft liegt, mit der man groß wird,
und in dem aus Liebe geübten Gehorsam die Kraft, mit der man in mein Reich
gelangt. Seid einfältig, demütig und liebt mit einer Liebe, die nicht nur mir
gilt, sondern auch eurem Nächsten, indem ihr allen meinen Worten gehorcht,
auch diesen, wenn ihr dorthin gelangen wollt, wohin diese Unschuldigen
gelangen werden. Lernt von den Kindern. Der Vater enthüllt ihnen die Wahrheit,
wie er sie selbst den Weisen nicht enthüllt.»
Jesus spricht und hält dabei
Benjamin, die Hände auf seinen Schultern aufrecht gegen seine Knie. Jetzt ist
das Antlitz Jesu voll Majestät, nicht zürnend, jedoch ernst. Es ist wirklich
das Antlitz eines Meisters. Der letzte Sonnenstrahl bildet einen Strahlenkranz
um sein blondes Haupt.
Die Vision entschwindet und läßt
mich voller Glückseligkeit in meinen Schmerzen zurück.
Also: Die Jünger haben natürlich
nicht in das Haus hineingehen können, wegen ihrer großen Anzahl und aus
Ehrfurcht. Sie tun es nie, wenn sie nicht alle zusammen eingeladen oder vom
Meister dazu aufgefordert werden. Ich bemerke stets eine große Ehrfurcht, eine
große Zurückhaltung, trotz der Liebenswürdigkeit des Meisters und der schon
lange währenden Vertrautheit. Auch Isaak, der sich den ersten Jünger nennen
könnte, nimmt sich nie die Freiheit, zu Jesus zu gehen, ohne daß ein Lächeln,
wenigstens ein Lächeln des Meisters, ihn in seine Nähe rufen würde.
Ein wenig verschieden, nicht
wahr, von der raschen, fast scherzhaften Art, in der viele das Übernatürliche
behandeln... Das ist meine Meinung, und ich halte es für richtig, sie zu
sagen, denn ich kann es nicht ertragen, daß die Menschen Dinge, die über ihnen
stehen, nicht einmal so behandeln, wie sie ihresgleichen behandeln, nur weil
sie in der gesellschaftlichen Rangstufe ein wenig höher stehen als sie... Aber
fahren wir fort...
Die Jünger haben sich also am
Seeufer verstreut, um Fische, Brot und was sonst noch nötig ist für das
Abendessen zu kaufen. Auch Jakobus des Zebedäus kommt zurück und ruft den
Meister, der sich auf die Terrasse gesetzt hat und mit Johannes zu seinen
Füßen in ein sanftes, ruhiges Gespräch vertieft ist... Jesus steht auf und
beugt sich über die Brüstung.
Jakobus sagt: «So viele Fische,
Meister! Mein Vater sagt, daß du mit deinem Kommen die Netze gesegnet hast.
Schau, das ist für uns», und er zeigt einen Korb voll Fische, die wie Silber
glänzen.
«Gott möge ihm Gnade schenken für
seine Hochherzigkeit. Bereitet das Mahl, denn danach werden wir mit den
Jüngern zum Ufer gehen.»
223
Sie folgen seiner Anweisung. Der
See ist schwarz in der Nacht, in Erwartung des Mondes, der spät aufgeht. Mehr
als man den See sehen kann, hört man ihn zwischen den Steinen des Kiesgrundes
murmeln und plätschern. Nur die außergewöhnlich hellen Sterne des Orients
spiegeln sich im stillen Wasser. Apostel und Jünger nehmen im Kreise um eine
umgestürzte Barke, auf die Jesus sich gesetzt hat, Platz. Die kleinen Laternen
der Boote, die man mitten in den Kreis gebracht hat, beleuchten kaum die
allernächsten Gesichter. Das Antlitz Jesu wird durch eine Laterne, die man zu
seinen Füßen hingestellt hat, von unten her beleuchtet, und daher können ihn
alle gut sehen, während er mit diesem oder jenem spricht.
Anfänglich ist es eine schlichte,
familiäre Unterhaltung, doch dann nimmt sie den Ton einer Unterweisung an. Ja,
Jesus sagt ausdrücklich: «Kommt und hört! Bald werden wir uns trennen, und ich
möchte euch noch belehren, um euch besser heranzubilden.
Heute habe ich euch disputieren
gehört, und nicht immer mit liebevoller Nachsicht. Den Älteren von euch habe
ich bereits eine Unterweisung gegeben, aber ich möchte sie allen zuteil werden
lassen, und es wird den Älteren nicht schaden, wenn sie sie nocheinmal
mitanhören. Jetzt ist der kleine Benjamin nicht vor meinen Knien, er schläft
in seinem Bett und träumt seine unschuldigen Träume. Doch vielleicht ist seine
reine Seele trotzdem in unserer Mitte. Stellt euch einfach vor, daß er oder
irgendein anderes Kind hier ist, als Beispiel für euch. Alle habt ihr in euren
Herzen eine fixe Idee, eine Neugierde, eine Gefahr: Ihr möchtet die Ersten im
Himmelreich sein, und wollt wissen, wer der Erste im Himmelreich sein wird,
und endlich die Gefahr: ihr hegt den noch menschlichen Wunsch, einmal die
Antwort von wohlwollenden Kameraden oder vom Meister, vor allem vom Meister,
weil er die Wahrheit und die Zukunft kennt, zu hören: "Du bist der Erste im
Himmelreich."
Ist es vielleicht nicht so? Die
Frage schwebt auf euren Lippen und lebt im Grunde eures Herzens. Der Meister
beschäftigt sich mit dieser eurer Neugierde zu eurem Wohl, auch wenn er es
ablehnt, menschlicher Neugierde nachzugeben. Euer Meister ist kein
Marktschreier, den man für zwei Münzen im Marktlärm befragen kann. Er ist auch
kein Wahrsager, der für Geld die Zukunft prophezeit, um die beschränkten
Gehirne der Menschen zu befriedigen, die die Zukunft wissen möchten, um sich
dann danach richten zu können. Der Mensch kann sich nicht danach richten. Gott
regelt alles, wenn der Mensch sich ihm anvertraut. Es nützt auch nichts, zu
wissen oder zu glauben, daß man die Zukunft kennt, wenn man nicht die
Möglichkeit hat, die vorhergesagte Zukunft zu verhindern. Es gibt nur ein
Mittel: das Gebet zum Vater und Herrn, damit das vertrauensvolle Gebet eine
Strafe in Segen wandelt. Aber wer zu den Menschen seine Zuflucht nimmt, um als
Mensch und mit menschlichen Mitteln die Zukunft zu regeln, der ist nicht
imstand zu beten, oder nur sehr schlecht.
224
Da diese eure Neugierde Anlaß zu
einer guten Belehrung sein kann, antworte ich darauf, ich, der ich neugierige
und ehrfurchtslose Fragen verabscheue. Ihr fragt euch: "Wer von uns wird der
Größte im Himmelreich sein?"
Ich schalte die Einschränkung
"von uns" aus, erweitere die Grenzen auf die gegenwärtige und die zukünftige
Welt und antworte: Der Größte im Himmelreich ist der Geringste unter den
Menschen, das heißt, der, welcher von den Menschen als der Geringste angesehen
wird. Der Einfache, der Demütige, der Vertrauensvolle, der Unwissende. Das
Kind, oder wer kindlich zu sein weiß. Weder Wissenschaft, noch Macht, noch
Reichtum oder Geschäftigkeit, selbst wenn sie gut wären, sind es, die euch zu
den "Größten" im seligen Reiche machen, sondern kindliche Liebenswürdigkeit,
Demut, Einfalt und kindliches Vertrauen.
Beachtet, wie mich die Kinder
lieben, und ahmt sie nach. Beachtet, wie sie an mich glauben, wie sie sich
dessen erinnern, was ich sage, wie sie tun, was ich lehre, wie sie nicht
eifersüchtig werden auf mich und ihre Kameraden, und ahmt sie nach. Wahrlich,
ich sage euch, wenn ihr eure Denkart, eure Handlungsweise und eure Art zu
lieben nicht ändert und nicht wie die Kinder werdet, dann werdet ihr nicht in
das Himmelreich eingehen. Sie wissen das Wesentliche meiner Lehre, wie auch
ihr, aber mit welch einem Unterschied, wenn es darum geht, das, was ich lehre,
in die Tat umzusetzen! Ihr sagt nach jeder guten Tat, die ihr vollbracht habt:
"Ich habe das getan." Das Kind sagt zu mir: "Jesus, ich habe mich heute deiner
erinnert und dir gehorcht, ich habe geliebt, ich habe einen Streit
vermieden... und ich bin zufrieden, denn du, dessen bin ich gewiß, weißt es,
wenn ich gut bin, und bist dann glücklich." Beobachtet auch die Kinder, wenn
sie Fehler begehen. Mit welcher Demut bekennen sie: "Heute bin ich böse
gewesen. Es schmerzt mich, dir Leid zugefügt zu haben." Sie suchen nicht nach
Entschuldigungen, denn sie wissen, daß ich alles weiß. Sie glauben! Es
schmerzt sie, daß ich darunter leide.
Oh, ihr meinem Herzen so lieben
Kinder, in denen kein Hochmut, keine Doppelzüngigkeit und keine Gier ist! Ich
sage zu euch: Werdet wie die Kinder, wenn ihr in mein Reich eingehen wollt.
Liebt die Kinder, als engelgleiche Vorbilder, die ihr ja haben könnt, denn wie
Engel solltet ihr sein. Zu eurer Entschuldigung könntet ihr sagen: "Wir können
die Engel nicht sehen", doch Gott gibt euch die Kinder als Beispiel, und diese
habt ihr unter euch, und wenn ihr ein materiell oder moralisch verlassenes
Kind seht, das zugrunde gehen könnte, dann nehmt es in meinem Namen auf, denn
sie sind Gottes Vielgeliebte. Wer immer ein Kind in meinem Namen aufnimmt, der
nimmt mich auf, denn ich bin in der Seele des Kindes, die unschuldig ist. Wer
mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat, den Allerhöchsten, den
Herrn.
Hütet euch, bei einem dieser
Kinder, dessen Auge Gott sieht, Anstoß zu
225
erregen. Bei niemandem soll man
Anstoß erregen. Aber wehe, dreimal wehe dem, der den unschuldigen Glanz der
Kinder verletzt. Laßt sie Engel bleiben, solange ihr könnt! Zu abstoßend sind
Welt und Fleisch für die Seele, die aus den Himmeln kommt, und ein Kind ist
durch seine Unschuld noch ganz Seele. Habt Achtung vor der Seele des Kindes
und vor seinem Körper, wie ihr Achtung habt vor dem heiligen Ort. Heilig ist
das Kind auch, weil es Gott in sich hat. In jedem Körper ist der Tempel des
Geistes. Aber der Tempel des Kindes ist der heiligste und tiefste, er ist
jenseits des doppelten Vorhangs. Bewegt nicht einmal den Vorhang der heiligen
Unkenntnis der Begehrlichkeit mit dem Wind eurer Leidenschaften. Ich wollte,
daß in jeder Familie, in jeder Menschengruppe ein Kind wäre, das den
Leidenschaften der Menschen als Zügel diente.
Das Kind heiligt, es gibt
Erquickung und Frische, allein schon durch die Strahlen seiner Augen ohne
Bosheit. Aber wehe jenen, die dem Kinde durch ihr skandalöses Benehmen die
Heiligkeit rauben! Wehe jenen, die durch ihre Worte und ihren Spott das
Vertrauen der Kinder in mich beeinträchtigen! Es wäre besser für sie, wenn
ihnen ein Mühlstein an den Hals gehängt und sie ins Meer versenkt würden,
damit sie mit ihrer Unreinheit ertrinken. Wehe der Welt wegen der Ärgernisse,
die sie den Unschuldigen gibt! Denn, wenn es auch unvermeidlich ist, daß
Ärgernisse vorkommen, wehe jedoch dem Menschen, der sie bewußt hervorruft.
Niemand hat das Recht, seinem
Körper und seinem Leben Gewalt anzutun, denn Leben und Körper kommen von Gott,
und er allein hat das Recht, Teile davon oder das Ganze zu nehmen. Aber ich
sage euch, wenn euch eure Hand zum Ärgernis wird, ist es besser, daß ihr sie
abhaut, und wenn euer Fuß euch dazu führt, Ärgernis zu erregen, dann ist es
besser, daß ihr ihn abhaut. Denn es ist besser, verkrüppelt oder hinkend ins
ewige Leben einzugehen, als mit zwei Händen und zwei Füßen ins ewige Feuer
geworfen zu werden. Wenn es nicht genügt, eine Hand oder einen Fuß abzuhauen,
dann laßt euch auch die andere Hand oder den anderen Fuß abhauen, damit ihr
kein Ärgernis mehr erregen könnt und Zeit habt zu bereuen, bevor ihr dorthin
geworfen werdet, wo das Feuer nicht erlischt und in Ewigkeit bohrt wie ein
Wurm. Und wenn euer Auge Ursache eines Ärgernisses ist, dann reißt es euch
aus. Es ist besser, mit einem Auge zu leben, als mit beiden Augen in der Hölle
zu sein. Mit nur einem Auge oder mit gar keinem in den Himmel zu kommen, wird
euch nicht daran hindern, das Licht zu sehen, während ihr mit zwei sündhaften
Augen in der Hölle Finsternis und Schrecken sehen werdet, und nichts anderes.
Erinnert euch immer an all das.
Verachtet die Kleinen nicht, erregt bei ihnen kein Ärgernis und verlacht sie
nicht. Sie sind besser als ihr, denn ihre Engel schauen immerfort Gott, der
ihnen die Wahrheiten sagt, die sie den Kindern und jenen, die kindlichen
Herzens sind, enthüllen sollen.
Liebt euch untereinander wie die
Kinder, ohne Streit und ohne
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Hochmut! Seid friedsam mit euren
Gefährten, und auch mit allen anderen, denn ihr seid Brüder im Namen des
Herrn, und nicht Feinde, und es gibt keine und darf keine Feinde unter den
Jüngern des Herrn geben. Der einzige Feind ist Satan, und seine erbitterten
Feinde sollt ihr sein. Gegen ihn und gegen die Sünden, die Satan in die Herzen
trägt, sollt ihr kämpfen. Seid unermüdlich im Kampf gegen das Böse, welche
auch immer die Gestalt sei, die es annimmt.
Seid geduldig. Es gibt keine
Beschränkung für die Tätigkeit des Apostels, denn das Wirken des Bösen kennt
keine Grenzen. Der Dämon sagt nie: "Genug, nun bin ich müde und ruhe mich
aus!" Er ist unermüdlich. Viel behender als ein Gedanke eilt er von einem
Menschen zum anderen und versucht und nimmt, verführt und quält und läßt keine
Ruhe. Er greift mit Hinterlist an und schlägt nieder, wenn man nicht mehr
wachsam ist. Manchmal erobert er eine Seele wegen der Schwachheit des
Angegriffenen; andere Male erscheint er als Freund, da die Lebensweise des
gesuchten Opfers schon so ist, daß sie einem Bündnis mit dem Feind
gleichkommt. Es kann auch geschehen, daß er, von jemandem verjagt,
umherschweift und sich auf den Besten stürzt, um sich für die ihm von Gott
oder einem Diener Gottes zugefügte Niederlage zu rächen. Aber ihr müßt das
gleiche sagen, was er sagt: "Ich ruhe nicht." Er ruht nicht, um die Hölle zu
bevölkern. Ihr dürft nicht ruhen, um das Paradies zu bevölkern. Gewährt ihm
keinen Unterschlupf. Ich mache euch darauf aufmerksam, daß er euch umso mehr
quälen wird, je mehr ihr ihn bekämpft. Aber ihr dürft euch durch nichts
abschrecken lassen. Er kann die Erde durcheilen, aber in den Himmel dringt er
nicht ein. Daher wird er euch dort nicht mehr belästigen können, und alle
jene, die ihn bekämpft haben, werden dort sein ...»
Jesus unterbricht sich plötzlich
und fragt: «Aber warum stört ihr denn immer Johannes? Was wollen sie denn von
dir?»
Johannes wird feuerrot, und
Bartholomäus, Thomas und Iskariot senken den Kopf, da sie sich ertappt fühlen.
«Nun?» fragt Jesus mit Nachdruck.
«Meister, meine Kameraden wollen,
daß ich dir etwas sage.»
«So sage es mir.»
«Heute, während du bei dem
Kranken warst und wir durch den Ort gingen, wie du gesagt hattest, haben wir
einen Mann gesehen, der nicht dein Jünger ist und den wir nie unter denen
gesehen haben, die deine Lehre anhören, der aber dennoch in einer Gruppe von
Pilgern, die nach Jerusalern gingen, in deinem Namen Teufel ausgetrieben hat,
und es gelang ihm. Er hat einen Mann geheilt, der unter einem Zittern litt,
das ihn an jeglicher Arbeit hinderte. Dann hat er einem Mädchen die Sprache
wiedergegeben, das in einem Wald von einem Dämon in Gestalt eines Hundes
befallen worden war, der ihm die Stimme gelähmt hatte. Er sagte: "Weiche,
227
verfluchter Dämon, im Namen des
Herrn Jesus, des Christus, des Königs aus dem Geschlechte Davids, des Königs
Israels. Er ist der Erlöser und der Sieger. Fliehe vor seinem Namen!" Und
tatsächlich ist der Dämon geflohen. Wir haben uns darüber geärgert und es ihm
verboten, doch er sagte zu uns: "Was tue ich denn Schlechtes? Ich ehre
Christus, indem ich seinen Weg von den Dämonen befreie, die nicht würdig sind,
ihn anzuschauen." Wir antworteten: "Du bist kein Exorzist Israels und auch
kein Jünger Christi. Es ist dir nicht erlaubt, das zu tun", und er erwiderte:
"Gutes zu tun, ist immer erlaubt", und dann lehnte er sich gegen unsere
Anordnung auf mit den Worten: "Ich werde fortfahren, das zu tun, was ich tue."
Sieh, sie wollten, daß ich dir das berichte, besonders nachdem du gesagt hast,
daß im Himmel alle jene sein werden, die Satan bekämpft haben.»
«Gut. Zu diesen gehört jener
Mann. Er hatte recht, und ihr wart im Unrecht. Unendlich sind die Wege des
Herrn, und es ist nicht gesagt, daß nur die in den Himmel gelangen, die den
geraden Weg einschlagen. An jedem Orte, zu jeder Zeit und auf tausend
verschiedene Arten wird es Menschen geben, die zu mir kommen, selbst auf einer
anfänglich schlechten Bahn. Aber Gott sieht ihre rechte Absicht und führt sie
auf den rechten Weg. Ebenso wird es einige geben, die aus Lüsternheit und
dreifacher Begierlichkeit vom rechten Wege abkommen und einen Weg einschlagen,
der sie entfernt oder gar auf gefährliche Abwege führt. Ihr sollt daher nie
euresgleichen verurteilen, denn nur Gott allein sieht. Hütet euch, vom rechten
Wege abzuweichen, auf den euch, mehr als euer eigener Wille, der Wille Gottes
geführt hat. Wenn ihr jemanden seht, der an meinen Namen glaubt und für ihn
wirkt, dann nennt ihn nicht einen Fremden, einen Feind oder Gotteslästerer. Er
gehört immer zu meinen Dienern, meinen Freunden und Getreuen, denn er glaubt
freiwillig und aus eigenem Antrieb und besser als viele von euch an meinen
Namen, und daher wirkt mein Name auf seinen Lippen die gleichen Wunder wie bei
euch, und vielleicht noch größere. Gott liebt ihn, weil er mich liebt, und
wird ihn schließlich in den Himmel führen. Niemand, der in meinem Namen Wunder
wirkt, kann mir Feind sein und Böses über mich sagen, denn durch seine Werke
ehrt er vielmehr Christus und legt Zeugnis für seinen Glauben ab. Wahrlich,
ich sage euch, es genügt schon, an meinen Namen zu glauben, um die eigene
Seele zu retten, denn mein Name ist Heil. Daher sage ich euch: wenn ihr ihm
wieder begegnen solltet, verbietet es ihm nicht mehr, sondern nennt ihn
Bruder, denn das ist er, auch wenn er sich noch außerhalb der Hürde meiner
Herde befindet. Wer nicht gegen mich ist, der ist für mich. Wer nicht gegen
euch ist, der ist mit euch.»
«Haben wir gesündigt, Herr?»
fragt Johannes betrübt.
«Nein! Ihr habt aus Unkenntnis
gehandelt, nicht aus Bosheit. Daher ist es keine Sünde, doch in Zukunft wäre
es Sünde, da ihr es jetzt wißt. Laßt uns nun zu unseren Häusern gehen... Der
Friede sei mit euch 1»
228
398. BENJAMIN BLIEB TREU BIS IN
DEN TOD.
«Das, was ich meinem kleinen
Jünger gesagt habe, sage ich auch euch. Das Reich gehört meinen treuen
Schäflein, die mich lieben und mir folgen, ohne sich in leeren Versprechungen
zu verlieren, sondern mich lieben bis zum Ende.
ich sage euch, was ich auch
meinen erwachsenen Jüngern gesagt habe: "Lernt von den Kleinen." Nicht
Gelehrsamkeit, Reichtum oder Mut sind es, die euch das Himmelreich erobern
lassen, nicht die menschlichen Eigenschaften; ihr müßt sie vielmehr gemäß der
Weisheit und der Liebe besitzen, um auf übernatürliche Weise reich, gelehrt
und mutig zu werden.
Wie sehr erleuchtet die Liebe, um
die Wahrheit zu erkennen! Wie reich macht sie, damit man die Wahrheit erwerben
kann! Welch ein Vertrauen schenkt sie! Welch eine Sicherheit!
Macht es wie der kleine Benjamin,
meine kleine Blume, die an jenem Abend mein Herz mit einem Duft erfüllt hat,
der den Geruch rebellischen Menschseins überdeckte und ein engelhaftes Lied
sang, das den Lärm der menschlichen Streitigkeiten übertönte.
Möchtest du wissen, was später
aus Benjamin geworden ist? Er blieb das kleine Lamm Christi, und nachdem er
seinen Großen Hirten verloren hatte, da dieser in den Himmel zurückgekehrt
war, wurde er der Jünger dessen, der mir am meisten glich, empfing aus seiner
Hand das Sakrament der Taufe und wurde mit dem Namen Stephanus mein erster
Märtyrer. Er blieb treu bis in den Tod, und mit ihm seine Angehörigen, die
durch das Beispiel ihres kleinen Familienapostels zum Glauben gelangten. Du
sagst, daß er nicht bekannt ist? Viele von denen, die den Menschen unbekannt
blieben, sind mir in meinem Reich bekannt, und sie sind glücklich darüber,
denn weltlicher Ruhm fügt der Strahlenkrone der Seligen keinen Funken hinzu.
Kleiner Johannes, wandle stets
mit deiner Hand in der meinen, dann wirst du sicher gehen, und wenn du einst
in mein Reich gelangst, werde ich nicht zu dir sagen: "Tritt ein", sondern
"Komm"; und ich werde dich in meine Arme schließen, um dich dorthin zu führen,
wo meine Liebe dir den Platz bereitet hat, den deine Liebe verdient hat.
Geh in Frieden! Ich segne dich.»
399. DIE ZWEITE BROTVERMEHRUNG
Jesus spricht:
«Maria sage: "Hier bin ich", wie
die Sterne, von denen die Prophezeiung spricht, und komme voller Freude, um
mich anzuhören.
Es ist die Vigil von Pfingsten.
Die Weisheit ist nicht nur einmal mit ihrem Feuer herabgestiegen. Sie steigt
beständig herab, um euch ihre Erleuchtungen zu geben. Es genügt, daß ihr
229
sie liebt und sie wie den
kostbarsten Schatz sucht. Die Welt geht zugrunde, weil sie die Weisheit
verhöhnt und zurückgewiesen hat, indem sie außerhalb ihrer Wege wandelt. Viel
Wissen hat sich der Mensch heute in seinem Hirn angeeignet, ist jedoch
unwissender als er in alten Zeiten war. Damals suchte er den Weg des Herrn und
sehnte sich danach, seine Worte aufzunehmen. Nun sucht er alles, nur das
nicht, was er suchen sollte, und stopft sich voll mit lauter unnützen und
gefährlichen Worten, aber nicht mit denen, die für ihn Leben wären.
"Der Herr", sagt Baruch, "wählte
nicht die Riesen, um ihnen das Wort der Weisheit mitzuteilen." Nein, der Herr
wählt nicht die Riesen. Er wählt nicht sie, ihr Menschen, Laien oder Gesalbte,
die ihr euch viel einbildet, nur weil ihr voll Stolz seid, während ihr in
meinen Augen weniger als zirpende Grillen geltet. Der Herr schaut weder auf
eure Titel noch auf eure Ehrenämter, weder auf euer Gewand, noch auf den
Namen, den ihr habt. Das sind nur Deckmäntel, die das verbergen, was Gott
anschaut, um den Wert abzuwägen: Herz und Seele. Und wenn euer Herz nicht von
Liebe entzündet, großmütig im Opfer, demütig und keusch ist, dann wählt Gott,
der Herr, euch nicht als seine Bevorzugten aus, als Hüter seiner Reichtümer
der Weisheit.
Es ist nicht an euch, zu mir zu
sagen: "Ich möchte derjenige sein, der weiß." Ich bin es, der sagen kann: "Ich
will, daß dieser weiß." Ich kann Mitleid mit euch haben, das schon, da ihr
Unglückliche, an häßlichstem Aussatz Erkrankte seid. Aber ich habe für euch
keine bevorzugte Berufung. Nein, diese verdient ihr nicht.
Wißt sie euch durch einen
rechtschaffenen Lebenswandel zu verdienen. Rechtschaffen in allem. Wenn ihr in
euren höchsten Verpflichtungen die Treue bewahrt, jedoch in unscheinbaren,
aber tiefgründigeren Dingen fehlt, dann seid ihr nicht mehr rechtschaffen.
Nein, dann seid ihr es nicht, und diese eure Mißgunst hat nur ein lügenhafter
Schleier des Eifers bedeckt. Eure Absicht ist nicht ehrlich, und daher
wertlos.
Und du, komm, und unterhalte dich
mit deinem Meister. Komm, damit ich dich aus dem Grabe der Schmerzen
herausnehme, ohne dich durch eine Vision niederzuwerfen, die von
erschreckender Majestät ist und die du schon geschaut hast. Von der
Auferstehung der Toten betrachte nur die geistige Seite, die sich auf die
derzeitige Feierlichkeit bezieht. Es ist der Geist Gottes, der in euch
eingegossen wird und das Leben verleiht. Liebe ihn, rufe ihn an, bleibe ihm
treu. Du wirst das ewige Leben und den ewigen Frieden haben, jenes Leben nach
dem irdischen Leben, und den Frieden auch auf Erden.
Ich sehe eine Gegend, die gewiß
nicht eben ist, jedoch auch nicht gebirgig. Berge gibt es im Osten, aber sie
sind weit entfernt. Hier ist ein kleines Tal, und da einige weitere
Erhebungen, die jedoch kleiner und flacher sind. Ich sehe auch grüne Plateaus,
wohl die ersten Hänge einer Hügelgruppe. Die Gegend ist ziemlich trocken mit
nur wenigen Bäumen. Auf dem etwas steinigen Gelände wächst kurzes spärliches
Gras. Hier und dort stehen niedrige Büschel von dornigem Gesträuch. Gegen
Westen öffnet sich der Horizont weit und hell. Ich sehe nichts anderes, was
die Natur betrifft. Es ist noch Tag, doch möchte ich sagen, daß schon der
Abend hereinbricht, denn im Westen färbt das Abendrot den Himmel, während die
Berge im Osten bereits in Violett getaucht sind. Es ist die beginnende
Dämmerung, die die Einschnitte im Gebirge schwärzer und die höher gelegenen
Gebiete violett erscheinen läßt.
Jesus steht auf einem hohen
Felsblock und spricht zu einer großen, dicht gedrängten Menge, die sich auf
dem Plateau versammelt hat. Die Jünger umgeben ihn. Er erscheint noch
stattlicher, da er auf einer felsigen
230
Erhöhung steht und die ihn
umgebenden Menschen aller Alters- und Gesellschaftsstufen überragt.
Er muß Wunder gewirkt haben, denn
ich höre ihn sagen: «Nicht mir, sondern dem, der mich gesandt hat, müßt ihr
Lob und Dank erweisen. Das wahre Lob ist nicht jenes, das wie das Säuseln des
Windes von unbedachten Lippen kommt, sondern jenes, das aus dem Herzen quillt
und das wahre Gefühl eures Herzens ist. Das ist es, was Gott wohlgefällt. Die
Geheilten sollen den Herrn in Treue lieben, so wie auch die Angehörigen des
Geheilten ihn lieben sollen. Macht keinen schlechten Gebrauch vom Geschenk der
wiedererlangten Gesundheit. Fürchtet euch mehr vor den Krankheiten der Seele
als vor der Krankheit des Körpers, und sündigt nicht, denn jede Sünde ist eine
Krankheit. Es gibt sogar Sünden, die den Tod verursachen können. Ihr alle, die
ihr mir jetzt zujubelt, zerstört nicht den Segen Gottes durch die Sünde. Euer
Jubel würde ein Ende haben, denn die sündhaften Handlungen rauben den Frieden,
und wo kein Friede ist, ist auch keine Freude. Seid heilig! Seid vollkommen,
wie euer Vater es wünscht. Er wünscht es, weil er euch liebt, und denen, die
ihn lieben, will er sein Reich schenken. Aber in ein heiliges Reich werden nur
jene einkehren, die die Treue zum Gesetz vollkommen gemacht hat. Der Friede
Gottes sei mit euch.»
Jesus schweigt. Er kreuzt die
Arme über der Brust und betrachtet so das Volk, das ihn umgibt.
Dann schaut er umher und erhebt
die Augen zum heiteren Himmel, der sich immer mehr verdunkelt, da das
Tageslicht dahinschwindet. Er denkt nach. Dann steigt er von seinem Felsblock
herab und spricht mit den Jüngern.
«Mich erbarmt des Volkes. Es
folgt mir schon seit drei Tagen und hat seine ganzen Vorräte aufgebraucht. Es
ist auch kein Dorf in der Nähe, und ich fürchte, daß die Schwächeren zu sehr
leiden würden, wenn ich sie ohne Nahrung fortschicke.»
«Was willst du tun, Meister? Du
sagst es selbst: wir sind von allen Ortschaften weit entfernt, wo könnte man
nur in dieser öden Gegend Brot finden, und wer würde uns so viel Geld geben,
daß wir es für alle kaufen können?»
«Habt ihr nichts bei euch?»
«Wir haben einige Fische und
einige Stückchen Brot. Das, was von unseren Vorräten übriggeblieben ist. Aber
das reicht auf keinen Fall aus. Wenn du es den in der Nähe Stehenden gibst,
dann geraten die anderen in Aufruhr, wir haben nichts mehr, und auch den
übrigen ist nicht geholfen.» Es ist Petrus, der dies sagt.
«Bringt mir, was ihr habt.»
Sie bringen einen kleinen Korb
mit sieben Stücken Brot. Es sind nicht einmal ganze Brote, sondern vielmehr
große Scheiben, die von großen
231
Laiben abgeschnitten worden sind,
und eine Handvoll kleiner, über dem Feuer gerösteter Fische.
«Laßt die Leute sich in Gruppen
von fünfzig Personen niedersetzen. Sie sollen ruhig sein, wenn sie essen
wollen.»
Ein Teil der Jünger steigt auf
Felsblöcke, und der andere begibt sich unter die Menge, um die von Jesus
geforderte Ordnung herzustellen. Allmählich gelingt es ihnen. Einige Kinder
jammern, weil sie hungrig und schläfrig sind, andere weinen, weil die Mutter
oder irgendein Verwandter ihnen eine Ohrfeige verabreicht hat, um sie zum
Gehorsam zu bringen.
Jesus nimmt die Brote, nicht alle
natürlich: zwei, in jede Hand eines. Er opfert sie auf, legt sie nieder und
segnet sie. Darauf nimmt er die Fischlein, es sind so wenige, daß fast alle in
seinen schmalen Händen Platz haben. Er opfert sie ebenfalls auf, legt sie
nieder und segnet sie.
«Und nun nehmt, geht durch die
Menge und gebt jedem reichlich.»
Die Jünger gehorchen.
Jesus beobachtet und lächelt.
Seine weiße Gestalt beherrscht das Volk, das in großen Kreisen die ganze Ebene
bedeckt. Die Jünger gehen und gehen immer weiter. Sie verteilen und verteilen,
und immer noch ist der Korb mit Speisen gefüllt. Die Leute essen, während der
Abend hereinbricht, und es herrscht großes Schweigen und großer Friede.
400. DAS GEISTIGE WUNDER
DER VERMEHRUNG DES WORTES
Jesus sagt:
«Sieh, da ist noch etwas, das den
schwierigen Gelehrten unangenehm sein wird: meine Auslegung dieser
evangelischen Vision. Ich verlange nicht von dir, daß du über meine Macht und
Güte oder über den Glauben und den Gehorsam der Jünger nachdenkst. Nichts von
alledem. Ich will dir eine Analogie zwischen dieser Episode und dem Wirken des
Heiligen Geistes aufzeigen.
Sieh, ich gebe mein Wort. Ich
gebe alles, was ihr verstehen und aufnehmen könnt, um es als Speise für eure
Seele zu verwerten. Aber ihr seid so schwerfällig geworden durch Müdigkeit und
Langeweile, daß ihr nicht die ganze Nährkraft verwerten könnt, die in meinem
Wort enthalten ist. Ihr hättet noch viel mehr nötig, viel, viel mehr, doch ihr
seid nicht fähig, viel aufzunehmen. Ihr seid wirklich arm an geistigen
Kräften! Mein Wort belastet euch, ohne euch Blut und Kraft zu verleihen, und
sieh, da wirkt der Heilige Geist das Wunder für euch, das geistige Wunder der
Vermehrung des Wortes. Er erleuchtet euch über geheimsten Bedeutungen des
Wortes und vermehrt dieses Wort, auf daß ihr, ohne euch mit einer Last zu
232
beschweren, die euch nur, ohne
euch zu stärken, erdrücken würde, genährt werdet und nicht mehr erschöpft in
der Wüste des Lebens niedersinkt.
Sieben Brote und wenige
Fischlein!
Ich habe drei Jahre gepredigt,
und mein vielgeliebter Johannes sagt: "Wenn man alle seine Worte und alle
Wunder, die er gesagt und gewirkt hat, niederschreiben wollte, um euch eine
Überfülle an Nahrung zu geben, damit ihr ohne Schwächen bis ins himmlische
Reich gelangt, würde die Welt die Bücher nicht fassen." Selbst wenn dies
geschehen wäre, hättet ihr so viele umfangreiche Bücher nicht lesen können.
Ihr lest ja nicht einmal, wie ihr solltet, das Wenige, das über mich
geschrieben worden ist. Es ist das Einzige, was ihr wissen müßtet, wie ihr
auch seit eurer frühesten Kindheit die notwendigen Wörter kennt.
So kommt die Liebe und vermehrt
das Wort; er, der eins ist mit mir und dem Vater, hat "Erbarmen mit euch, die
ihr vor Hunger sterbt"; und durch ein Wunder, das sich seit Jahrhunderten
stets wiederholt, verdoppelt, verzehnfacht, ja verhundertfacht er die
Bedeutung, das Licht und die Nährkraft eines jeden meiner Worte, und es wird
zu einem unermeßlichen Schatz himmlischer Speise, der euch von der
Barmherzigkeit Gottes angeboten wird. Schöpft ohne Furcht daraus. Je mehr eure
Liebe daraus schöpft, umsomehr wird als Frucht der Liebe seine Kraft und
Wirkung zunehmen. Gott kennt keine Grenzen in seinem Reichtum und seinen
Möglichkeiten. Ihr seid beschränkt. Er nicht. Er ist unendlich, in allen
seinen Werken, auch darin, euch zu jeder Stunde und bei jedem Ereignis die
Erleuchtungen zu verleihen, deren ihr im gegebenen Augenblick bedürft. So wie
am Tage des Pfingstfestes der über die Apostel ausgegossene Geist deren Worte
allen verständlich machte, den Partern, Medern, Skyten, Kappadoziern,
Pontiern, Phrygiern, Ägyptern, Römern, den Griechen und den Libyern, so wird
er auch euch Trost geben, wenn ihr weint, Rat, wenn ihr darum bittet, und
Anteil an der Freude, wenn ihr euch freut; alles mit demselben Wort.
Oh, wahrlich, wenn der Geist euch
erleuchtet, dann sind die Worte: "Gehe hin in Frieden und sündige nicht mehr"
eine Belohnung für den, der nicht gesündigt hat, eine Ermutigung für den noch
Schwachen, der nicht sündigen will, eine Vergebung für den reumütigen Sünder,
ein durch Barmherzigkeit gemässigter Tadel für den, der auch nur einen Funken
von Reue verspürt. Es ist doch nur ein einziger Satz, einer der einfachsten,
aber wie viele solche Worte enthält meine Frohe Botschaft! So viele an der
Zahl wie Blütenknospen, die sich nach einem Regen in der Frühlingssonne
dichtgedrängt auf einem Zweig, auf dem zuvor nur eine einzige Blüte war,
öffnen und ihn ganz bedecken, zur Freude dessen, der sie betrachtet.
Ruhe dich nun aus. Der Friede der
göttlichen Liebe sei mit dir.»
233
401. DAS BROT, DAS VOM HIMMEL
KOMMT
Das Ufer von Kapharnaum wimmelt
von Menschen, die aus einer ganzen Flotte von Booten aller Größen steigen. Die
ersten, die aussteigen, gehen gleich unter das Volk, um zu sehen, ob sie den
Meister, einen Apostel oder wenigstens einen Jünger antreffen, und erkundigen
sich...
Endlich antwortet ein Mann:
«Meister? Apostel? Nein. Sie sind sofort nach dem Sabbat weggegangen und nicht
wiedergekommen. Aber sie werden zurückkehren, denn es sind noch Jünger hier,
soeben habe ich mit einem von ihnen gesprochen. Es muß ein bedeutender Jünger
sein, denn er spricht wie Jairus! Nun ist er am Meer entlang zu dem Haus
mitten in den Feldern gegangen.»
Der Mann, der gefragt hat, gibt
das Gehörte weiter, und alle laufen zum bezeichneten Ort. Nach etwa
zweihundert Metern begegnen sie am Ufer einer Gruppe von Jüngern, die lebhaft
gestikulierend in Richtung Kapharnaum gehen. Sie grüßen und fragen: «Wo ist
der Meister?»
Die Jünger antworten: «In der
Nacht nach dem Wunder ist er mit den Seinen in Booten auf die andere Seite des
Sees gefahren. Wir haben die Segel im Mondschein sich in Richtung Dalmanutha
bewegen sehen.»
«Ach, sieh da! Wir haben ihn in
Magdala im Hause der Maria gesucht, und er war nicht dort! Aber... die Fischer
von Magdala hätten es uns auch sagen können!»
«Sie werden es wohl nicht gewußt
haben. Er ist vielleicht auf die Berge von Arbela gegangen, um zu beten, denn
schon einmal war er dort, letztes Jahr vor dem Osterfest. Ich bin ihm damals
durch die höchste Güte des Herrn gegen seinen armen Diener begegnet», sagt
Stephanus.
«Aber kehrt er nicht hierher
zurück?»
«Gewiß wird er hierher
zurückkehren, denn wir müssen uns noch von ihm verabschieden und Anweisungen
erhalten. Aber was wollt ihr denn von ihm?»
«Ihn noch einmal hören. Ihm
nachfolgen. Seine Jünger werden.»
«Jetzt geht er nach Jerusalern.
Dort werdet ihr ihn antreffen können, und dort, im Tempel Gottes, wird der
Herr euch sagen, ob es zu eurem Nutzen ist, ihm nachzufolgen. Denn es ist gut
für euch zu wissen, daß wenn er auch niemanden zurückweist, wir doch
Eigenschaften in uns haben, die das Licht abstoßen. Wenn nun jemand diese in
vermehrtem Maße besitzt, so daß er nicht nur damit gesättigt, sondern so mit
ihnen umhüllt ist wie mit dem Fleisch des eigenen Körpers, dann ist es besser,
wenn er davon absieht, hinzugeben; es sei denn, daß er sich selbst vernichte,
um sich gänzlich zu erneuern. Jedoch wäre es auch nicht schlimm, wenn er
solche Eigenschaften besäße, denn Jesus ist Licht, und wenn sich einer
wirklich festen Willens entschlossen hat, sein eigen zu sein, dann dringt das
Licht durch alle Finsternis und besiegt sie. Überlegt daher, ob
234
ihr in euch die Kraft habt, einen
neuen Geist, eine neue Gesinnung und eine neue Art des Wollens anzunehmen.
Betet, um die Wahrheit über eure Berufung erkennen zu können, und dann kommt,
wenn ihr euch berufen fühlt. Möge der Allerhöchste, der Israel beim
"Vorübergang" geführt hat, euch leiten bei diesem "Pessach" (Vorübergang),
damit ihr im Gefolge des Lammes, fern von der Wüste, zum ewigen Land, zum
Reiche Gottes gelangt», sagt Stephanus, der im Namen all seiner Gefährten
gesprochen hat.
«Nein, nein! Sofort! Sofort!
Keiner wirkt, was er wirkt. Wir wollen ihm folgen», ruft die erregte Menge.
Stephanus lächelt vielsagend. Er
breitet seine Arme aus und sagt: «Wollt ihr kommen, weil er euch gutes und
reichliches Brot gegeben hat? Glaubt ihr, daß er euch in Zukunft nur das geben
wird? Er verspricht seinen Nachfolgern, daß auch sie Anteil haben werden an
Schmerz, Verfolgung und Martyrium. Nicht Rosen, sondern Dornen, nicht
Liebkosungen, sondern Schläge, nicht Brot, sondern Steine haben die "Christen"
zu erwarten; und ich nenne sie so, ohne deshalb ein Lästerer zu sein, denn
seine wahren Getreuen werden mit dem heiligen Öl gesalbt werden, das aus
seiner Gnade und seinen Leiden hervorgehen wird, und "gesalbt" werden wir, um
die Opfer auf dem Altar und die Könige im Himmel zu sein.»
«Bist du vielleicht eifersüchtig?
Gehörst du zu seinem Gefolge? Auch wir wollen dazugehören. Der Meister gehört
allen!»
«Schon gut. Ich habe es euch
gesagt, weil ich euch liebe und will, daß ihr euch bewußt seid, was es heißt,
"Jünger" zu sein, nicht daß ihr dann zu Abtrünnigen werdet. Gehen wir also
alle zusammen, um auf ihn bei seinem Haus zu warten. Es dämmert, und der
Sabbat hat bereits begonnen. Er wird kommen, um den Sabbat vor seiner Abreise
hier zu verbringen.»
Sie gehen, während sie
miteinander reden, zur Stadt. Viele stellen Stephanus und Hermas Fragen, denn
diese beiden genießen, in den Augen der Israeliten ein besonderes Ansehen,
weil sie die Lieblingsschüler des Gamaliel sind. Viele fragen: «Aber was hält
Gamaliel von ihm?» und andere: «Hat er euch selbst geschickt? Leidet er nicht
darunter, euch zu verlieren?» oder: «Was sagt der Meister von dem großen
Rabbi?»
Die beiden antworten geduldig:
«Gamaliel spricht von Jesus von Nazareth als von dem größten Mann Israels.»
«Oh! Größer als Moses ?» sagen
sie fast entrüstet.
«Er sagt, Moses ist einer der
vielen Vorläufer Christi, doch ist er nur ein Diener Christi.»
«Dann ist also für Gamaliel
dieser der Christus? Sagt er das? Wenn Rabbi Gamaliel es sagt, dann ist es
entschieden, dann ist er der Christus!»
235
«Er sagt das nicht. Er wagt zu
seinem Unglück noch nicht, daran zu glauben. Aber er sagt, daß Christus auf
Erden ist, da er mit ihm vor vielen Jahren gesprochen hat, er und der weise
Hillel, und er wartet auf das Zeichen, das Christus ihm versprochen hat, damit
er ihn erkennt», sagt Hermas.
«Aber wie hat er schon glauben
können, daß jener der Christus war? Was hat er getan? Ich bin so alt wie
Gamaliel, aber ich habe nie gehört, daß bei uns Dinge geschahen, wie der
Meister sie tut. Wenn er sich schon nicht von diesen Wundern überzeugen lassen
will, was hatte er denn Wunderbares an jenem Christus gesehen, daß er an ihn
glauben konnte?»
«Er sah ihn mit der Weisheit
Gottes gesalbt. So sagt er», antwortet wiederum Hermas.
«Und was ist er für Gamaliel?»
«Der größte Mann, Meister und
Vorläufer Israels. Wenn er sagen könnte: "Er ist Christus", dann wäre die
weise, gerechte Seele meines ersten Meisters gerettet», sagt Stephanus und
fügt hinzu: «Ich bete darum, daß dies geschehe, um jeden Preis.»
«Doch, wenn er ihn nicht für den
Christus hält, warum hat er euch dann zu ihm gesandt?»
«Wir selbst wollten zu ihm gehen
und er hat uns ziehen lassen und gesagt, daß es gut sei.»
«Vielleicht, um etwas zu erfahren
und es dem Hohen Rat berichten zu können», sagt einer voll Verdacht.
«Mann, wie redest du? Gamaliel
ist ein ehrlicher Mann. Er verrät niemanden, und besonders nicht an die Feinde
eines Unschuldigen!» fährt Stephanus auf und gleicht dabei einem Erzengel, so
entrüstet und fast strahlend scheint er in seinem heiligen Zorn.
«Doch wird es ihm leid getan
haben, euch zu verlieren», sagt ein anderer.
«Ja und nein. Als Mensch, der es
gut mit uns meinte, ja, als wahrhaft aufrichtiger Geist, nein, denn er hat
gesagt: "Er ist mehr als ich und jünger als ich, daher werde ich, was eure
Zukunft anbelangt, in Frieden sterben können, da ich euch beim 'Meister der
Meister' weiß."»
«Was sagt denn Jesus von Nazareth
von dem großen Rabbi?»
«Oh, er hat nur die besten Worte
für ihn!»
«Ist er nicht neidig auf ihn?»
«Gott beneidet niemand», sagt
Hermas streng, hege keine gotteslästerlichen Vermutungen.»
«Dann ist er für euch also Gott?
Seid ihr euch dessen sicher?»
Einstimmig beteuern die beiden:
«So sicher, wie wir wissen, daß wir in diesem Augenblick leben.»
Dann sagt Stephanus abschließend:
«Möget auch ihr es glauben, um das wahre Leben zu besitzen.»
236
Sie sind wieder am Ufer, das sich
hier zu einem Platz verbreitert, und überqueren diesen, um nach Hause zu
gehen.
Jesus steht auf der Schwelle und
liebkost Kinder.
Jünger und Neugierige versammeln
sich um ihn und fragen: «Meister, wann bist du gekommen?»
«Vor wenigen Augenblicken.» Das
Antlitz Jesu strahlt noch die feierliche, etwas ekstatische Majestät aus, die
ich immer dann sehe, wenn er viel gebetet hat.
«Kommst du vom Gebet, Meister?»
fragt Stephanus ehrfürchtig und mit leiser Stimme, nachdem er sich ebenso
ehrfürchtig verbeugt hat.
«Ja. Woran erkennst du das, mein
Sohn?» fragt Jesus und legt seine Hand mit einer zarten Liebkosung auf das
dunkle Haar.
«An deinem engelgleichen Antlitz.
Ich bin ein armer Mensch, doch dein Antlitz ist so klar, daß man von ihm
Regungen und Wirken deines Geistes ablesen kann...»
«Auch das deine ist klar. Du bist
einer von denen, die Kinder bleiben...»
«Und was kannst du aus meinem
Antlitz lesen?»
«Komm etwas beiseite und ich
werde es dir sagen.» Er faßt ihn am Handgelenk und zieht ihn in einen dunklen
Gang. «Liebe, Glaube, Reinheit, Großmut und Weisheit. Gott hat sie dir
gegeben, und du hast sie gehegt und wirst sie noch mehr hegen. Schließlich,
wie schon dein Name besagt, hast du die Krone aus reinem Gold mit einem großen
Edelstein, der auf deiner Stirn leuchtet. Auf dem Gold und auf dem Edelstein
sind zwei Worte eingeprägt: "Vorherbestimmung" und "Erstlingsopfer". Sei
deiner Bestimmung würdig, Stephanus. Gehe hin in Frieden mit meinem Segen.»
Jesus legt ihm aufs neue die Hand auf das Haar, während Stephanus niederkniet,
um sich zu verneigen und ihm die Füße zu küssen. Danach kehren sie zu den
anderen zurück.
«Diese Leute sind gekommen, um
dich zu hören ...» sagt Philippus.
«Hier kann man nicht reden. Laßt
uns in die Synagoge gehen. Jairus wird glücklich darüber sein.»
Jesus geht, gefolgt von den
andern, in die schöne Synagoge von Kapharnaum. Nachdem Jairus ihn begrüßt hat,
tritt er hinein und gebietet, daß alle Türen offen bleiben sollen, damit die,
die in der Synagoge keinen Platz haben, ihn von der Straße oder vom Vorplatz
aus hören können.
Jesus ist an seinem Platz in
dieser ihm lieben Synagoge, in der heute zum Glück keine Pharisäer sind, die
wahrscheinlich schon mit allem Prunk nach Jerusalern abgereist sind. Jesus
beginnt zu sprechen:
«Wahrlich, ich sage euch: Ihr
sucht mich, nicht um mich anzuhören und der Wunder wegen, die ihr gesehen
habt, sondern wegen des Brotes, das ihr von mir reichlich und unentgeltlich
erhalten habt. Drei Viertel von euch haben mich deswegen, und auch aus
Neugierde, gesucht und sind
237
aus allen Teilen des Vaterlandes
hergekommen. Euer Suchen entbehrt jedoch des übernatürlichen Geistes. Der
menschliche Geist bleibt vorherrschend mit seiner ungesunden Neugierde oder
zumindest mit einer kindischen Unvollkommenheit, die nicht etwa kindliche
Einfalt, sondern geistige Beschränktheit, wie bei einem Schwachsinnigen, ist.
Mit der Neugierde sind auch Sinnlichkeit und verdorbenes Empfindungsvermögen
verbunden. Eine Sinnlichkeit, die sich spitzfindig wie ein Dämon, dessen
Tochter sie ist, unter dem Anschein guter Taten verbirgt, und ein
Empfindungsvermögen das, wie alles, was "krankhaft" ist, der Reizmittel bedarf
und sich nicht mit einfachen Speisen, wie gutem Brot, gutem Wasser, reinem Öl
und frischer Milch begnügt, die vollkommen ausreichen, um leben und gut leben
zu können. Das verdorbene Empfindungsvermögen verlangt nach außergewöhnlichen
Dingen, um aufgerüttelt zu werden und die beliebten Schauer zu verspüren, wie
ein Gelähmter, der Reizmittel braucht, um etwas zu empfinden, das ihm seine
Unversehrtheit und seine Männlichkeit vortäuscht; Sinnlichkeit, die ohne Mühe
den Gaumen befriedigen will, in diesem Fall mit dem Brot, das durch die Güte
Gottes ohne die geringste eigene Anstrengung erworben wird.
Die Gaben Gottes sind nichts
Gewöhnliches, sondern etwas Außerordentliches. Man darf sie nicht fordern und
darf auch nicht träge werden, indem man sich einfach sagt: "Gott wird es mir
geben." Es steht geschrieben: "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein
Brot essen", das i
heißt, du sollst dein Brot durch
Arbeit verdienen. Denn wenn der, der die Barmherzigkeit ist, gesagt hat: "Mich
erbarmt des Volkes, das mir seit drei Tagen folgt und nichts mehr zu essen hat
und am Weg der Schwäche erliegen könnte, bevor es Hippos am See, Gamala oder
eine andere Stadt erreicht hat", und wenn er vorgesorgt hat, so heißt das
nicht, daß man ihm deshalb folgen soll. Wegen viel mehr als einem bißchen
Brot, das dazu bestimmt ist, nach der Verdauung zu Kot zu werden, soll man mir
folgen. Nicht um der Speise willen, die den Bauch füllt, sondern um jener
Speise willen, welche die Seele nährt, denn ihr seid nicht einfach tierische
Wesen, die Gras fressen und wiederkäuen oder im Erdreich wühlen und fett
werden, sondern Seelen seid ihr! Das seid ihr! Das Fleisch ist das Gewand, die
Seele das Wesen. Sie ist das Bleibende. Das Fleisch nützt sich ab wie jedes
Gewand, und verdient nicht, daß man es pflegt, wie wenn es etwas Vollkommenes
wäre, dem man alle Pflege angedeihen lassen muß.
Sucht daher zu erlangen, was
wichtig, und nicht, was unwichtig ist für euch. Sucht nicht nach verderblicher
Speise, sondern nach jener, die für das ewige Leben andauert. Diese Speise
wird euch der Menschensohn immer geben, wenn ihr nur wollt, denn der
Menschensohn hat alles, was von Gott kommt, zu seiner Verfügung und kann es
geben; er, der Herr, der hochherzige Herr der Schätze des göttlichen Vaters,
der ihm sein Sieg aufgedrückt hat, auf daß die redlichen Augen nicht verwirrt
werden.
238
Wenn ihr in euch die Speise habt,
die nicht verdirbt, könnt ihr, da ihr mit der Speise Gottes genährt seid, auch
die Werke Gottes vollbringen.»
«Was müssen wir tun, um die Werke
Gottes zu verrichten? Wir beachten das Gesetz und die Propheten, also sind wir
schon von Gott genährt und tun die Werke Gottes.»
«Das ist wahr. Ihr beachtet das
Gesetz. Oder besser: ihr kennt das Gesetz. Aber kennen ist noch nicht
anwenden. Wir kennen zum Beispiel die Gesetze Roms, und doch wird ein treuer
Israelit nur die Bestimmungen beachten, die zu beachten er als Untergebener
verpflichtet ist. Was den Rest betrifft – ich spreche von den treuen
Israeliten – üben wir die heidnischen Bräuche der Römer nicht, obwohl wir sie
kennen. Das Gesetz, das ihr alle kennt, und die Propheten sollten euch
tatsächlich aus Gott nähren und euch die Fähigkeit verleihen, Werke Gottes zu
verrichten. Doch damit dies geschehen kann, müssen sie eins werden mit euch,
so wie sich sowohl die Luft, die ihr atmet, als auch die Speise, die ihr
aufnehmt, in Leben und Blut umwandeln. Hingegen bleiben sie euch fremd, obwohl
sie eurem Hause angehören, so wie es ein Gegenstand im Hause sein kann, der
euch bekannt und nützlich ist, der aber, wenn er fehlen würde, euch nicht
eures Unterhalts berauben würde. Während... Oh! Versucht einmal, für einige
Minuten nicht zu atmen, versucht, tagelang nichts zu essen, und ihr werdet
sehen, daß ihr so nicht leben könnt. Dasselbe müßte euer Ich empfinden, wenn
euch Gesetz und Propheten fehlen, die ihr zwar kennt, aber nicht in euch
aufnehmt, um eins mit ihnen zu werden. Deswegen bin ich gekommen, um euch den
Kern des Gesetzes und der Prophetenworte zu lehren und euren durch Hunger und
Erstickung sterbenden Seelen wieder Blut und Atem zu geben. Ihr gleicht
Kindern, die eine Krankheit unfähig macht zu erkennen, welche Nahrung sich für
sie eignet. Ihr habt Nahrung im Überfluß vor euch, aber ihr wißt nicht, daß
sie verzehrt werden muß, um sich in Leben umzuwandeln, was heißt, daß sie
wirklich in uns aufgenommen werden muß in reiner, großmütiger Treue zum Gesetz
des Herrn, der für euch alle zu Moses und den Propheten gesprochen hat. Es ist
daher eure Pflicht, zu mir zu kommen, um Odem und Speise für das ewige Leben
zu erlangen. Doch diese Pflicht setzt den Glauben bei euch voraus, denn wenn
einer keinen Glauben hat, kann er nicht an meine Worte glauben, und wenn er
nicht glaubt, kommt er nicht zu mir, um zu sagen: "Gib mir das wahre Brot",
und wenn er das wahre Brot nicht hat, kann er die Werke Gottes nicht tun, da
er nicht imstande ist, sie zu tun. Um daher von Gott genährt zu werden und die
Werke Gottes zu verrichten, ist es notwendig, daß ihr den grundlegenden
Schritt tut: daß ihr an den glaubt, den Gott gesandt hat.»
«Aber was für Wunder wirkst du,
damit wir an dich als den Gesandten Gottes glauben und in dir das Zeichen
Gottes sehen können? Was tust du denn, was nicht schon die Propheten in
geringerem Maße getan hätten?
239
Moses hat dich übertroffen, denn
er hat unsere Väter nicht nur einmal sondern vierzig Jahre lang mit
wunderbarem Brot ernährt. Es steht geschrieben, daß unsere Väter vierzig Jahre
lang das Manna in der Wüste gegessen haben, und es steht auch geschrieben, daß
Moses ihnen das vom
Himmel gekommene Brot zu essen
gab, er, der es vermochte.»
«Ihr seid im Irrtum. Nicht Moses,
sondern der Herr vermochte die und im Buch Exodus liest man: "Siehe, ich lasse
Brot vom Himmel regnen. Das Volk soll dann hingehen, aber sich nur den
täglichen Bedarf sammeln; damit will ich es prüfen, ob es nach meinem Gesetz
wandelt oder nicht. Und am sechsten Tage soll es das Doppelte von dem, was sie
sonst täglich sammeln, sein, mit Rücksicht auf den siebten Tag, welche der
Sabbat ist." Und die Hebräer sahen, wie sich die Wüste jeden Morgen mit diesem
kleinen Etwas bedeckte, das wie im Mörser zerstoßen zu sein schien, dem
Koriandersamen ähnlich sah und den Geschmack des Honigkuchens hatte. Also
nicht Moses, sondern Gott hat das Manna gesandt. Gott, der alles vermag.
Alles! Bestrafen und segnen, nehmen und gewähren. Und ich sage euch, er zieht
es immer vor, zu segnen und zu gewähren, statt zu bestrafen und zu nehmen.
Wie im Buch der Weisheit steht,
ernährte Gott sein Volk aus Liebe zu Moses mit der Speise der Engel vom Himmel
her, ohne daß man sich um sie bemühen mußte, und die jeglichen Genuß enthielt
und jeglichem Geschmack entsprach. Moses, der Liebling Gottes und der Menschen
– sein Andenken sei gesegnet. Gott machte ihn den Heiligen der himmlische
Herrlichkeit ähnlich; groß und furchterregend für die Feinde, fähig Wunder zu
wirken und ihnen ein Ende zu setzen. Er verlieh ihm Mach vor dem König und
machte ihn zu seinem Diener im Angesicht des Volkes. Er ließ ihn die
Herrlichkeit Gottes schauen und die Stimme des Alle höchsten hören, und legte
das Gesetz in seine Hand, die Lehre des Leben und der Einsicht. Erinnert euch
gut an das, was im Buch der Weisheit geschrieben steht: da das Brot vom
Himmel, von Gott kam und sein Güte für die Kinder kundgab, hatte es für jeden
den Geschmack, der ihm angenehm war, und wirkte je nach den Bedürfnissen jedes
Einzelnen; so war es für das Kind mit dem noch schwachen Magen, wie für den
Erwachsenen mit seinem Appetit und der guten Verdauung, für das zarte Mädchen
und den hinfälligen Greis geeignet und um auch zu beweisen, daß es nicht
Menschenwerk war, änderte er die Gesetze der Elemente, und das Feuer konnte
diesem geheimnisvollen Brot, das in der aufgehenden Sonn schmolz wie Rauhreif,
nichts anhaben. Oder besser gesagt: das Feuer
das steht geschrieben im Buch der
Weisheit – vergaß seine eigene Natur aus Ehrfurcht vor dem Werk Gottes, seines
Schöpfers, und den Bedürfnissen der Gerechten Gottes, so daß es, anstatt wie
gewöhnlich zu brennen und zu quälen, sich sanft gab, um denen, die dem Herrn
vertrauten, wohl zutun. Deshalb wandelte sich die Natur auch damals in alles
Beliebige
240
und diente dem alles ernährenden
Herrn. Sie gehorchte dem Willen dessen, der zum ewigen Vater betete, damit die
vom Herrn geliebten Söhne lernten, daß es nicht die irdischen Früchte sind,
die den Menschen ernähren, sondern daß das Wort des Herrn jene erhält, die auf
Gott vertrauen. Daher vertilgte das Feuer, wie es gekonnt hätte, das süße
Manna nicht, auch wenn die Flamme hoch war, obwohl schon die schwache
Morgensonne dazu genügte; und das, weil die Menschen sich daran erinnern und
lernen sollten, daß die Gaben Gottes zu Beginn des Tages und des Lebens
gesammelt werden müssen, und daß es, um sie nicht zu verlieren, erforderlich
ist, dem Lichte zuvorzukommen und sich zu erheben, bevor die Sonne aufgeht, um
den Ewigen zu preisen.
Dies lehrte das Manna die
Hebräer. Und ich erinnere euch daran, weil dies auch heute eure Pflicht ist
und es bis zum Ende der Jahrhunderte bleiben wird. Sucht den Herrn und seine
himmlischen Gaben, ohne in eurer Trägheit die letzten Stunden des Tages oder
des Lebens abzuwarten. Erhebt euch, ihn zu preisen, bevor ihn die aufsteigende
Sonne preist, und nährt euch mit seinem Wort, das heiligt, bewahrt und zum
ewigen Leben führt. Nicht Moses hat euch das Brot des Himmels gegeben, sondern
Gott Vater; und auch jetzt ist es in Wahrheit wieder mein Vater, der euch das
wahre, neue und ewige Brot gibt, das vom Himmel her kommt: das Brot der
Barmherzigkeit, das Brot des Lebens, das Brot, das der Welt das Leben gibt,
das Brot, das jeden Hunger stillt und alle Schwächen wegnimmt, das Brot, das
dem, der es ißt, das ewige Leben und die ewige Glückseligkeit schenkt.»
«Gibt uns dieses Brot, Herr, und
wir werden nicht mehr sterben.»
«Ihr werdet sterben, wie jeder
Mensch stirbt. Aber ihr werdet zum ewigen Leben auferstehen, wenn ihr euch
heiligmäßig von diesem Brot ernährt; denn es macht den, der es ißt,
unverweslich. Und dieses Brot wird denen gegeben werden, die es mit reinem
Herzen, reiner Absicht und heiliger Liebe von meinem Vater erbitten. Deswegen
habe ich euch gelehrt zu sagen: "Gib uns das tägliche Brot." Diejenigen
jedoch, welche sich davon auf unwürdige Weise nähren, werden zur Beute
höllischer Würmer, wie die Krüge mit dem Manna, das entgegen der befohlenen
Ordnung aufbewahrt wurde, und jenes Brot des Heiles und des Lebens wird für
sie zum Tode und zur Verdammung werden. Denn die schlimmste Gotteslästerung
wird von denen begangen, die dieses Brot auf eine geistig verdorbene und
stinkende Tafel legen und es dort entweihen, indem sie es in den Pfuhl ihrer
unheilbaren Leidenschaften versenken. Besser wäre es für sie, wenn sie es nie
empfangen hätten!»
«Aber wo ist dieses Brot? Wie
findet man es? Wie heißt es?»
«Ich bin das Brot des Lebens. In
mir findet man es. Sein Name ist Jesus. Wer zu mir kommt, wird nicht mehr
hungern, und wer an mich glaubt, wird nicht mehr dürsten, denn die himmlischen
Fluten werden
241
sich in ihn ergießen und in ihm
jedes irdische Verlangen auslöschen. Ich habe es euch jetzt und für immer
gesagt, und ihr habt mich nun kennengelernt, und dennoch glaubt ihr nicht. Ihr
könnt nicht glauben, daß all dies in mir ist. Und doch ist es so. In mir sind
alle Schätze Gottes, und mir ist alles auf Erden gegeben. Daher sind in mir
die glorreichen Himmel und die streitende Erde vereinigt, und sogar die
leidenden, wartenden Seelen der in der Gnade Gottes Verschiedenen sind in mir,
denn in mir und bei mir ist alle Gewalt. Ich sage es euch: Alles, was mir der
Vater gibt, wird zu mir kommen, und ich verjage den nicht, der zu mir kommt;
denn ich bin vom Himmel herabgestiegen, nicht um meinen Willen zu tun, sondern
den Willen dessen, der mich gesandt hat. Der Wille meines Vaters aber, der
mich gesandt hat, ist dieser: daß ich nicht einen einzigen von denen verliere,
die er mir gegeben hat, sondern sie auferwecke am Jüngsten Tag. Nun will der
Vater, der mich gesandt hat, daß wer immer den Sohn kennt und an ihn glaubt,
das ewige Leben habe und am Jüngsten Tage von mir auferweckt werde, wenn ich
ihn genährt sehe vom Glauben an mich und gezeichnet mit meinem Siegel.»
Ein Murmeln geht durch die Menge
in und außerhalb der Synagoge wegen der neuen und gewagten Worte des Meisters.
Dieser wendet, nachdem er einen Augenblick Atem geschöpft hat, seine vor
Verzückung leuchtenden Augen dorthin, wo das Murmeln am stärksten ist, also zu
den Gruppen, in denen sich die Judäer befinden. Dann fährt er fort zu reden.
«Warum murrt ihr unter euch? Ja,
ich bin der Sohn Marias von Nazareth, der Tochter Joachims aus dem Geschlechte
Davids, der im Tempel geweihten Jungfrau, die sich dann mit Joseph des Jakobus
aus dem Geschlecht Davids vermählte. Viele von euch haben die Gerechten
gekannt, die Joseph, dem königlichen Zimmermann, und Maria, der jungfräulichen
Erbtochter aus königlichem Geschlecht, das Leben schenkten, und dies veranlaßt
euch zu sagen: "Wie kann dieser behaupten, er sei vom Himmel herabgestiegen?"
und Zweifel steigen in euch auf.
Ich erinnere euch an die
Propheten, an ihre Weissagungen über die Menschwerdung des Wortes, und daran,
daß für uns Israeliten mehr als für jedes andere Volk feststeht, daß der, den
wir nicht zu nennen wagen, nicht nach den Gesetzen der Menschheit, und noch
dazu einer gefallenen Menschheit, Fleisch werden konnte. Der Reinste, der
Unerschaffene, der sich aus Liebe zu den Menschen dazu erniedrigt hat,
Menschengestalt anzunehmen, konnte nur den Schoß einer Jungfrau wählen, die
keuscher war als Lilien, um seine Gottheit mit Fleisch zu umhüllen. Das zur
Zeit des Moses vom Himmel herabgekommene Brot wurde aufbewahrt in der goldenen
Bundeslade, bedeckt mit der Versöhnungsplatte und bewacht von Cherubim, hinter
den Vorhängen des Bundeszeltes. Mit dem Brot war auch das Wort Gottes dort. Es
war gerecht, daß es so war, denn höchste Achtung gebührt den Gaben Gottes und
den Tafeln seines heiligsten
242
Wortes. Aber was wird Gott erst
für sein eigenes Wort und das wahre Brot, das vom Himmel gekommen ist,
vorbereitet haben? Eine viel unversehrtere und kostbarere Lade als die goldene
Bundeslade, bedeckt mit dem kostbaren Mantel ihrer keuschen Opferbereitschaft,
behütet von den Cherubim Gottes, umhüllt vom Schleier jungfräulicher Reinheit,
von vollkommener Demut, erhabener Liebe und allen heiligsten Tugenden.
Also? Habt ihr noch nicht
verstanden, daß mein Vater im Himmel ist, und daß ich daher von dort komme?
Ja, ich bin vom Himmel herabgestiegen, um den Beschluß meines Vaters zu
erfüllen, den Beschluß zur Rettung der Menschen, gemäß seinem Versprechen im
Augenblick der Verurteilung, das er den Patriarchen und Propheten wiederholte.
Aber das ist Glaubenssache, und der Glaube wird von Gott nur dem gegeben, der
guten Willens ist. Daher kann niemand zu mir kommen, wenn ihn mein Vater nicht
zu mir führt, da er ihn in der Finsternis sieht, jedoch mit dem sehnlichsten
Verlangen nach Licht. Bei den Propheten heißt es: "Sie werden alle belehrt
werden von Gott." Das ist es! Gott zeigt ihnen, wohin sie gehen sollen, um von
Gott unterrichtet zu werden. Wer immer also in der Tiefe seines Herzens Gottes
Stimme hören konnte, hat vom Vater gelernt, zu mir zu kommen.»
«Und wer hat Gott gehört und sein
Antlitz gesehen?» fragen einige, die bereits Anzeichen von Gereiztheit und
Ärgernis geben, und fügen hinzu: «Entweder bist du in einem Wahn befangen oder
du bist ein Träumer.»
«Niemand hat Gott geschaut, außer
dem, der von Gott kommt: dieser hat den Vater gesehen, und ich bin es! Nun
hört das Glaubensbekenntnis vom künftigen Leben, ohne das niemand selig werden
kann.
Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch, wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben. Wahrlich, wahrlich, ich
sage euch, ich bin das Brot des ewigen Lebens.
Eure Väter verzehrten das Manna
in der Wüste und sind gestorben, denn das Manna war wohl eine heilige, jedoch
zeitliche Speise und gab das Leben, dessen sie bedurften, um in das von Gott
seinem Volke verheißenen Land zu gelangen. Aber das Manna, das ich bin, wird
weder Grenzen der Zeit noch der Macht haben. Nicht nur himmlisch, sondern
göttlich ist es, und bewirkt, was göttlich ist: die Unverweslichkeit, die
Unsterblichkeit dessen, den Gott nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Dieses
göttliche Brot wird nicht nur vierzig Tage, vierzig Monate, vierzig Jahre oder
vierzig Jahrhunderte, sondern so lange dauern, als die Zeiten dauern, und es
wird allen gegeben werden, die heiligen und dem Herrn wohlgefälligen Hunger
haben. Frohlocken wird der Herr darüber, sich grenzenlos den Menschen
hinzugeben, für die er Fleisch geworden ist, auf daß sie das ewige Leben
erlangen, das unsterbliche Leben.
Ich kann mich verschenken, ich
kann mich verwandeln aus Liebe zu den Menschen, damit das Brot Fleisch und das
Fleisch Brot werde für den
243
geistigen Hunger der Menschen,
die ohne diese Nahrung an Hunger und geistigen Krankheiten sterben würden.
Wenn jemand würdig von diesem Brote ißt, wird er ewig leben. Das Brot, das ich
geben werde, ist mein Fleisch, geopfert für das Leben der Welt; es wird meine
Liebe sein, ausgegossen in den Gotteshäusern, auf daß alle, die sich nach
Liebe sehnen oder unglücklich sind, zum Tisch des Herrn kommen und Erquickung
finden in ihrem Verlangen, sich mit Gott zu vereinen, und Trost in ihrem
Leiden.»
«Aber wie kannst du uns dein
Fleisch zu essen geben? Für wen hältst du uns? Für blutdürstige Bestien? Für
Wilde? Für Mörder? Uns widerstreben Blut und Verbrechen.»
«Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: viele Male ist der Mensch schlimmer als das wilde Tier, und die Sünde
läßt ihn mehr als nur wild und tierisch werden. Der Hochmut läßt in ihm ein
mörderisches Verlangen aufkommen, und nicht allen hier Anwesenden widerstrebt
das Blut und das Verbrechen. Auch in Zukunft wird der Mensch so sein, weil
Satan, die Sinnlichkeit und der Hochmut ihn wild und tierisch werden lassen.
Daher muß der Mensch jetzt und in Zukunft mehr denn je sich selbst von
schrecklichen Keimen heilen, durch die Eingebung des Heiligen.
Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch, wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht essen und sein Blut nicht
trinken werdet, werdet ihr das ewige Leben nicht in euch haben. Wer aber
würdig mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich
werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Denn mein Fleisch ist wahrhaft eine
Speise, und mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer mein Fleisch ißt und mein
Blut trinkt, der bleibt in mir, und ich in ihm. Wie der lebendige Vater mich
gesandt hat, und ich durch den Vater lebe, so wird der, der mich ißt, durch
mich leben und hingehen, wohin ich ihn sende; und er wird tun, was ich von ihm
verlange, und als Mensch ein sittenstrenges Leben führen; glühend wie ein
Seraphim und heilig wird er sein, denn um mein Fleisch essen und mein Blut
trinken zu können, wird er die Sünde meiden und sich immer mehr erheben, um
seinen Aufstieg schließlich zu Füßen des Ewigen zu beenden.»
«Aber dieser ist ja wahnsinnig!
Wer kann denn auf solche Weise leben? In unserer Religion ist es nur der
Priester, der rein sein muß, um das Opfer darzubringen. Dieser hier aber will
aus uns lauter Opfer seines Wahnsinns machen. Seine Lehre ist zu mühselig und
diese Sprache zu hart! Wer kann sie anhören und sie verwirklichen?» flüstern
mehrere Anwesende, und viele von diesen gelten bereits als seine Jünger.
Das Volk geht diskutierend weg
und die Anzahl der Jünger scheint sich sehr verringert zu haben, als in der
Synagoge nur noch der Meister und seine Getreuesten zurückbleiben. Ich zähle
sie nicht, aber ich kann sagen, daß es grob geschätzt kaum mehr als hundert
sind. Auch in den Reihen der alten Jünger, die schon im Dienste Gottes
standen, muß der Abfall
244
bedeutend gewesen sein. Unter den
Übriggebliebenen sind die Apostel, der Priester Johannes und der
Schriftgelehrte Johannes, Stephanus, Hermas, Timoneus, Ermastheus, Agapus,
Joseph, Salomon, Abel von Bethlehem in Galiläa und Abel, der frühere
Aussätzige von Chorazim mit seinem Freund Samuel, Elias (jener, der das
Begräbnis seines Vaters der Nachfolge Jesu hintangestellt hatte), Philippus
von Arbela, Aser und Ismael von Nazareth. Ferner sind hier noch andere, deren
Namen ich nicht kenne. Sie alle reden leise miteinander und machen Bemerkungen
über den Abfall der vielen und über die Worte Jesu, der nachdenklich mit
verschränkten Armen dasteht und sich an ein hohes Lesepult lehnt.
«Ihr nehmt Anstoß an dem, was ich
gesagt habe? Und wenn ich euch sagen würde, daß ihr eines Tages den
Menschensohn zum Himmel, wo er zuvor gewesen ist, auffahren und ihn zu Rechten
des Vaters sitzen sehen werdet? Was habt ihr denn bis zu dieser Stunde
verstanden, aufgenommen und geglaubt? Und womit habt ihr gehört und
aufgenommen? Nur mit eurer Menschheit? Der Geist ist es, der lebendig macht
und Wert hat. Das Fleisch nützt zu nichts. Meine Worte sind Geist und Leben
und müssen mit dem Geist angehört und verstanden werden, um durch sie das
Leben zu erlangen. Aber viele sind unter euch, deren Geist abgestorben ist,
weil er ohne Glaube ist. Viele von euch glauben nicht wahrhaft, und so folgen
sie mir vergeblich. Sie werden nicht das ewige Leben, sondern den Tod ernten.
Denn wie ich schon im Anfang gesagt habe, sind sie entweder aus Neugierde, aus
menschlichem Interesse, was noch schlimmer ist, oder aus noch viel
unwürdigeren Absichten hier.
Sie sind nicht vom Vater
hergeführt worden als Belohnung für ihren guten Willen, sondern vom Satan.
Wahrlich, niemand kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht von meinem Vater
gewährt wird. Geht nur, ihr, da es euch schwer fällt, bei mir zu bleiben und
ihr euch nur schämt, mich zu verlassen; die ihr euch aber andererseits noch
mehr schämt, weil ihr im Dienste eines Meisters steht, der euch "verrückt und
hart" vorkommt. Geht! Besser ist es, ihr seid weit weg, als daß ihr hier
bleibt, um zu schaden!»
Viele weitere Jünger ziehen sich
zurück, unter ihnen der Schriftgelehrte Johannes und Markus, der einst
besessene Gerasener, der geheilt wurde, nachdem die Dämonen in Schweine
gefahren waren. Die guten Jünger beraten sich und laufen hinter diesen
Treubrüchigen her, um sie zurückzuhalten. In der Synagoge sind jetzt Jesus,
der Synagogenvorsteher und die Apostel...
Jesus wendet sich an die Zwölf,
die niedergeschlagen in einer Ecke stehen, und fragt ohne Bitterkeit und
Traurigkeit, doch sehr ernst: «Wollt auch ihr gehen?»
Petrus antwortet ihm in einem
schmerzlichen Ausbruch: «Herr, wohin sollen wir gehen? Zu wem? Du bist unser
Leben und unsere Liebe, Nur du
245
hast Worte des ewigen Lebens. Wir
haben erkannt, daß du Christus, der Sohn Gottes, bist. Wenn du willst, jage
uns fort. Aber von uns aus werden wir dich nicht verlassen, selbst... selbst,
wenn du uns nicht mehr lieben würdest...» Und Petrus weint lautlos viele
Tränen... Auch Andreas, Johannes und die beiden Söhne des Alphäus weinen ohne
es zu verbergen, und die anderen, bleich oder rot vor Erregung weinen nicht,
leiden jedoch sichtlich.
«Warum sollte ich euch fortjagen?
Habe ich euch Zwölf nicht selbst erwählt? ...
Jairus hat sich klugerweise
zurückgezogen, um Jesus die Freiheit zu lassen, seine Apostel zu trösten oder
zu tadeln. Jesus, der den schweigenden Rückzug bemerkt hat, sagt, indem er
sich bedrückt niedersetzt, als ob die Offenbarung seine Kräfte übersteigen
würde, müde, angeekelt und schmerzvoll: «Und doch ist einer unter euch ein
Dämon.»
Die Worte erklingen langsam und
furchterregend in der Synagoge, in der nur noch das Licht der vielen Lampen
Helle verbreitet... und keiner wagt etwas zu sagen. Sie schauen sich nur
gegenseitig an mit furchtsamer Scheu und ängstlich forschenden Blicken, und
mit noch größerer Angst prüft ein jeder sich selbst...
Eine Zeitlang rührt sich niemand.
Jesus bleibt allein auf seinem Platz' die Hände auf den Knien gefaltet, mit
niedergeschlagenem Blick. Schließlich erhebt er seine Augen und sagt: «Kommt.
Ich bin doch kein Aussätziger! Oder haltet ihr mich für einen solchen?»
Jetzt eilt Johannes zu ihm, fällt
ihm um den Hals und sagt: «Dann will ich im Aussatz mit dir sein, meine
einzige Liebe. Mit dir in der Verurteilung, mit dir im Tode, wenn du glaubst,
daß dies auf dich wartet ...»
Petrus kriecht zu seinen Füßen
hin, nimmt sie, stellt sie auf seine Schultern und seufzt: «Hier, tritt mich,
zertritt mich! Aber lasse mich nicht denken, daß du deinem Simon mißtraust.»
Als die andern sehen, daß Jesus
die beiden ersten liebkost, gehen sie auf ihn zu und küssen sein Gewand, seine
Hände, sein Haar... Nur Iskariot wagt es, sein Antlitz zu küssen.
Jesus springt auf und schiebt ihn
weg. Diese Gebärde mutet barsch an, weil sie ganz unerwartet geschieht. Er
sagt: «Laßt uns nach Hause gehen, und morgen Abend, wenn es dunkelt, werden
wir mit den Booten nach
Hippos fahren.»
246
402. DER NEUE JÜNGER: NIKOLAUS
VON ANTIOCHIA
Jesus ist ganz allein auf der
Terrasse des Hauses des Thomas von Kapharnaum. Das Dorf ruht in der Stille des
Sabbats. Seine Einwohnerzahl ist sehr zusammengeschmolzen, weil die Eifrigsten
in der Ausübung des Glaubens und auch jene, die sich mit ihren Familien nach
Jerusalern begeben und Kinder haben, die keine meilenweite Märsche ertragen,
bereits abgereist sind. So fehlt dem ohnehin etwas bewölkten Tag die goldene
Note der fröhlichen Kinderschar.
Jesus ist sehr nachdenklich. Er
sitzt in einer Ecke auf einer niedrigen Bank, fast von der Brüstung verborgen
und den Rücken zur Treppe gekehrt. Den einen Ellbogen auf das Knie gestützt,
hält er die Stirn in der Hand, in einer müden, fast leidvollen Haltung. Er
wird in seiner Betrachtung unterbrochen durch die Ankunft eines Knäbleins, das
ihn vor seiner Abreise nach Jerusalern noch grüßen möchte.
«Jesus, Jesus!» ruft es bei jeder
Stufe, da es ihn nicht sehen kann, weil das Mäuerchen ihn denen, die unten
sind, verbirgt. Jesus ist so in sich gekehrt, daß er das schwache Stimmlein
und das täubchenhafte Trippeln nicht wahrnimmt... und immer noch in der
leidvollen Haltung verharrt, als der Kleine auf der Terrasse erscheint.
Das Kind ist darüber erschrocken,
bleibt an der Treppe der Terrasse stehen, steckt einen Finger in den Mund und
denkt nach... Dann entschließt es sich, geht langsam auf ihn zu,... und,
hinter Jesus angekommen, neigt es sich über seine Schulter, um zu sehen, was
er macht, und sagt: «Nein, mein schöner Jesus, weine nicht! Warum denn? Wegen
der bösen Leute von gestern 9 Mein Vater hat zu Jairus gesagt, daß sie deiner
nicht würdig sind. Aber du darfst nicht weinen, ich habe dich lieb, und auch
mein Schwesterchen, Jakobus, Tobiolus, Johanna, Maria, Michäa und alle, alle
Kinder von Kapharnaum haben dich lieb. Weine nicht mehr ...» Das Kind hängt
sich an seinen Hals, liebkost ihn und fügt hinzu: «Sonst fange auch ich an zu
weinen und höre nicht mehr auf... während der ganzen Reise...»
«Nein, David. Ich weine nicht
mehr. Du hast mich getröstet. Bist du allein? Wann werdet ihr abreisen?»
«Nach Sonnenuntergang, mit dem
Boot bis Tiberias. Kommst du mit uns? Mein Vater hat dich gern, weißt du?»
«Ich weiß es, liebes Kind. Aber
ich muß noch zu andern Kindern gehen... Ich danke dir, daß du gekommen bist,
mich zu grüßen, und ich segne dich, kleiner David. Wir geben uns nun den
Abschiedskuß, und dann gehst du zu deiner Mutter zurück. Weiß sie, daß du hier
bist?»
«Nein. Ich bin weggelaufen, weil
ich dich nicht bei den Jüngern gesehen hatte und dachte, daß du weinen
würdest.»
«Ich weine nicht mehr, du siehst
es. Gehe nun zur Mutter, die dich
247
vielleicht schon ängstlich sucht.
Leb wohl! Paß auf die Esel der Karawane auf. Siehst du, die Tiere stehen schon
überall herum.»
«Aber weinst du wirklich nicht
mehr?»
«Nein. Ich habe kein Leid mehr.
Du hast es mir genommen. Danke, mein Kind.»
Das Kind hüpft die Treppe
hinunter, und Jesus beobachtet es. Dann schüttelt er sein Haupt und kehrt an
seinen Platz und zu der leidvollen Betrachtung zurück.
Einige Zeit vergeht. Die Sonne
scheint bei ihrem Untergang durch die Wolken.
Ein schwerfälliger Schritt auf
der Treppe. Jesus erhebt sein Antlitz und sieht Jairus, der auf ihn zukommt.
Er grüßt ihn, und Jairus erwidert ehrfürchtig den Gruß.
«Wie kommt es, daß du hier bist,
Jairus?»
«Herr, ich habe vielleicht einen
Fehler begangen. Aber du, der du in das Herz der Menschen siehst, wirst auch
erkennen, daß in meinem Herzen keine Bosheit wohnt. Heute habe ich dich nicht
in die Synagoge zum Sprechen eingeladen, denn ich habe gestern sehr gelitten
deinetwegen, und habe gesehen, wie sehr du gelitten hast... so daß ich es
nicht gewagt habe. Ich habe die Deinen gefragt und sie haben mir gesagt: "Er
möchte allein sein"... Doch soeben ist Philippus gekommen, der Vater Davids,
und hat mir berichtet, daß sein Kind dich weinen sah. Er hat gesagt, du
hättest ihm dafür gedankt, daß es zu dir gekommen sei. So bin ich nun auch
gekommen, Meister. Alle, die jetzt noch in Kapharnaum sind, versammeln sich
bereits in der Synagoge. Und meine Synagoge gehört dir, Herr.»
«Danke, Jairus! Heute werden dort
andere sprechen, und ich werde als einfacher Gläubiger kommen...»
«Du wärest nicht dazu
verpflichtet. Deine Synagoge ist die Welt.»
«Ich bleibe hier mit meinem Geist
vor dem Vater, der mich versteht und keine Schuld an mir findet.» Tränen
glänzen in den traurigen Augen Jesu.
«Auch ich finde keine Schuld an
dir... Leb wohl, Herr.»
«Leb wohl, Jairus.» Und Jesus
setzt sich wieder, immer noch nachdenklich.
Leicht wie eine Taube schwebt nun
in ihrem weißen Kleide die Tochter des Jairus herauf. Sie schaut zu ihm hin...
und sagt dann leise: «Mein Retter!»
Jesus wendet sein Haupt, sieht
sie, lächelt ihr zu und sagt: «Komm zu mir!»
«Ja, mein Herr. Aber ich möchte
dich zu den anderen bringen. Warum soll die Synagoge heute stumm sein?»
«Dein Vater und viele andere sind
dort, um sie mit Worten zu erfüllen.»
«Aber es sind nur Worte... Deines
ist Das Wort. O mein Herr! Ich war
248
tot und mit deinem Wort hast du
mich meiner Mutter und meinem Vater wiedergeschenkt. Aber schau jene an, die
jetzt in die Synagoge gehen! Viele sind mehr tot als ich es damals war. Komm,
um ihnen das Leben zu schenken.»
«Tochter, du hast es damals
verdient; sie aber... Kein Wort kann dem Leben geben, der für sich selbst den
Tod wünscht.»
«Ja, mein Herr! Aber komme
trotzdem. Es gibt auch solche, die aufleben, wenn sie dich hören... Komm! Leg
deine Hand in die meine und laß uns gehen. Ich bin das Zeugnis deiner Macht
und bin bereit, es auch vor deinen Feinden zu bezeugen; selbst um den Preis,
daß mir dieses zweite Leben genommen wird, das ja auch nicht mehr mir gehört,
denn du hast es mir geschenkt, guter Meister, aus Mitleid mit einer Mutter und
einem Vater. Aber ich..» Das Mädchen, schon eine schöne junge Frau mit
sanften, strahlenden Augen im reinen und klugen Gesicht, unterbricht sich, von
einem Tränenausbruch überwältigt, und ihre Tränen tropfen von den langen
Wimpern über die Wangen.
«Warum weinst du jetzt?» fragt
Jesus und legt seine Hand auf ihr Haar.
«Weil man mir gesagt hat, daß du
sterben wirst...»
«Wir alle werden sterben,
Mädchen.»
«Aber nicht so, wie du sagst!
Ich... oh, nun wäre ich lieber nicht wieder ins Leben zurückgekehrt, um es
nicht mitansehen zu müssen, um nicht dabei zu sein... wenn dieses Schreckliche
geschehen wird...»
«Dann wärst du auch nicht da, um
mir den Trost zu schenken, den du mir jetzt gibst. Weißt du nicht, daß das
Wort, auch ein einziges nur, von einem reinen Menschen, der mich liebt, alle
Pein von mir nimmt?»
«Ja? Oh, dann darfst du nicht
mehr leiden, denn ich liebe dich mehr als den Vater, die Mutter und mein
Leben!»
«So ist es!»
«Dann komme also. Bleibe nicht
allein. Sprich für mich, für Jairus, für die Mutter, für den kleinen David,
kurzum für jene, die dich lieben. Wir sind viele und werden immer mehr werden.
Bleibe nicht allein, denn dann wird man traurig.» Und mit dem mütterlichem
Instinkt, der jeder ehrbaren Frau eigen ist, schließt sie mit den Worten: «In
meiner Nähe wird dir niemand etwas antun, und in jedem Falle werde ich dich
verteidigen.»
Jesus erhebt sich und stellt sie
zufrieden. Hand in Hand gehen sie durch die Straßen und betreten die Synagoge
durch einen Seiteneingang.
Jairus, der gerade mit lauter
Stimme aus einer Schriftrolle vorliest, unterbricht seine Lesung und sagt,
sich tief verneigend: «Meister, ich bitte dich, sprich zu denen, die
aufrichtigen Herzens sind. Bereite uns mit deinem heiligen Wort auf das
Passahfest vor.»
«Du hast gerade aus dem Buch der
Könige vorgelesen, nicht wahr?»
«Ja, Meister. Ich versuchte, die
Anwesenden darüber zum Nachdenken
249
zu bringen, daß der, der sich von
Gott trennt, dem Götzendienst des Goldenen Kalbes verfällt.»
«Gut hast du gesprochen. Hat
niemand etwas zu sagen?»
Es erhebt sich ein Stimmengewirr
in der Menge. Die einen wollen, daß Jesus spricht, andere schreien: «Wir haben
es eilig. Laßt uns die Gebete sprechen und die Versammlung beenden, wir gehen
sowieso nach Jerusalern und werden dort die Rabbis hören.» Die da so schreien
sind die vielen Fahnenflüchtigen von gestern, die der Sabbat in Kapharnaum
aufgehalten hat.
«Jesus schaut sie in großer
Traurigkeit an und sagt: «Ihr habt es eilig. Das ist wahr. Auch Gott hat es
eilig, euch zu richten. Geht nur 1» Dann sagt er zu denen, die jene tadeln:
«Schimpft sie nicht! Jeder Baum trägt seine Frucht.»
«Herr! Wiederhole die Geste des
Nehemias! Erhebe deine Stimme gegen sie, Hoherpriester, der du bist!» ruft
Jairus erzürnt, und die Apostel, die getreuen Jünger und jene von Kapharnaum
pflichten ihm bei.
Jesus breitet seine Arme
kreuzförmig aus. Leichenblaß ist er, ein wahres Bild des Schmerzes, und doch
sanft. Er ruft aus: «Gedenke meiner, o mein Gott, in deiner Huld! Und erinnere
dich auch ihrer zum Guten! Ich verzeihe ihnen!»
Die Synagoge leert sich, und es
bleiben nur die Jesus Treugebliebenen zurück ... und ein Fremdling in einer
Ecke. Ein kräftiger Mann, dem niemand Beachtung schenkt, mit dem niemand
spricht, und auch er spricht mit niemandem. Unentwegt schaut er auf Jesus, so
sehr, daß der Meister den Blick in seine Richtung wendet, ihn sieht und Jairus
fragt, wer er ist.
«Ich weiß es nicht. Sicher ein
Durchreisender.»
Jesus fragt ihn: «Wer bist du?»
«Nikolaus, ein Proselyt von
Antiochia. Ich bin auf dem Weg nach Jerusalem, um dort das Passahfest zu
feiern.»
«Wen suchst du?»
«Dich, Herr, Jesus von Nazareth.
Ich habe den Wunsch, mit dir zu reden.»
«Komm!» Und als er bei ihm
angelangt ist, geht Jesus mit ihm in den Garten hinter der Synagoge, um ihn
anzuhören.
«Ich habe in Antiochia mit einem
deiner Jünger gesprochen, der Felix heißt, und hatte den brennenden Wunsch,
dich kennenzulernen. Er hat mir gesagt daß dein Aufenthaltsort Kapharnaum sei
und daß deine Mutter in Nazareth lebt, und auch, daß du nach Gethsemane oder
nach Bethanien gehen würdest. Der Ewige fügte es, daß ich dir in der Synagoge
begegnet bin. Ich war schon gestern hier... und ich war heute Morgen in deiner
Nähe, als du nahe der Quelle beim Gebet weintest... Ich liebe dich, Herr, denn
du bist heilig und sanft. Ich glaube an dich, an deine Handlungen. Deine Worte
haben mich bereits zum Deinigen gemacht, und die
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Barmherzigkeit, die du soeben den
Schuldigen gezeigt hast, hat mich in meinem Entschluß gefestigt. Herr, nimm
mich an Stelle jener an, die dich verlassen! Ich komme zu dir mit allem, was
ich habe: mit dem Leben und den Gütern.» Er ist bei den letzten Worten
niedergekniet.
Jesus schaut ihn fest an... dann
sagt er: «Komm, von heute an gehörst du dem Meister. Wir wollen zu deinen
Gefährten gehen.»