Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben
Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise
kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht
verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte.
Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es
ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle
stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu
halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte
Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren
Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.
Das Werk kann man hier
in Buchform erwerben:
Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch
Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
BanBand X:
Vorbereitung auf die Passion
595. Die Juden im Haus des Lazarus. S. 9
596. Die Juden bei Martha und Maria. S. 11
597. Martha lässt den Meister benachrichtigen. S. 17
598. Der Tod des Lazarus. S. 22
599. Die Benachrichtigung Jesu. S. 33
600. Beim Begräbnis des Lazarus. S. 39
601. «Lasst uns zu unserem Freund Lazarus gehen, der schläft». S. 48
602. Die Auferweckung des Lazarus. S. 55
603 Gedanken über die Auferweckung des Lazarus. S. 72
604. In der Stadt Jerusalem und im Tempel nach der Auferstehung des Lazarus.
S. 75
605. Jesus in Bethanien. S. 88
606. Auf dem Weg nach Ephraim. S. 101
607. Der erste Tag in Ephraim. S. 110
608. Wenn das Sabbatgebot auch wichtig ist, so ist doch das Gebot der Liebe
das wichtigste. S. 115
609. Am anderen Tag. S. 121
610. In der Nacht desselben Tages. S. 133
611. An einem Sabbat in Ephraim. S. 142
612. Die Verwandten der Kinder und die Leute von Sichem. S. 150
613. Die geheime Unterweisung. S. 156
614. Was in der Dekapolis und in Judäa geschieht. S. 161
615. Was in Judäa und besonders in Jerusalem geschieht. S. 166
616. Der Sopherim Samuel, ehemaliger Jünger des Jonathan ben Uziel und dann
Jünger Jesu. S. 175
617. Was in Galiläa und besonders in Nazareth geschieht. S. 187
618. Was in Samaria und bei den Römerinnen geschieht. S. 190
619. Jesus und der Mann von Jbnia. S. 196
620. Jesus, Samuel, Judas und Johannes. S. 206
621. Die Ankunft der Mutter und der Jüngerinnen in Ephraim. S. 217
622. Judas von Kerioth ist ein Dieb. S. 238
623. Die Reise durch Samaria vor dem Passahfest; Von Ephraim Nach Silo. S. 261
624. In Silo; Die schlecht Beratenen. S. 267
625. In Libona; Die schlecht Beratenen; Noch einmal über den Wert der
Ratschläge. S. 271
626. In Sichem. S. 279
627. Der Wert den der Gerechte den Ratschlägen gibt. S. 282
628. Jesus geht nach Ennon. S. 286
629. In Ennon; Der Jüngling Benjamin. S. 290
630. Jesus wird von den Samaritern abgelehnt. S. 300
631. Die Begegnung mit dem reichen Jüngling. S. 314
632. Dritte Ankündigung des Leidens; Die Mutter der Söhne des Zebedäus. S. 320
633. In Jericho vor dem Besuch in Bethanien. S. 329
634. Jesus spricht zu unbekannten Jüngern. S. 333
635. Die beiden Blinden von Jericho. S. 339
636. Jesus kommt nach Bethanien. S. 346
637. Der Freitag vor dem Einzug in Jerusalem; I. Jesus und Judas von Kerioth.
S. 353
638. Der Freitag vor dem Einzug in Jerusalem; II. Jesus und die Jüngerinnen.
S. 364
639. Der Sabbat vor dem Einzug in Jerusalem; I. Das Wunder an Methusalem oder
Schalem. S. 382
640. Der Sabbat vor dem Einzug in Jerusalem; II. Pilger und Juden in Bethanien.
S. 393
641. Der Sabbat vor dem Einzug in Jerusalem; III. Das Gastmahl in Bethanien.
S. 398
595. DIE JUDEN IM HAUS DES
LAZARUS
Eine zahlreiche Gruppe Juden
zieht auf edlen Pferden mit großem Pomp in Bethanien ein. Es sind
Schriftgelehrte und Pharisäer, sowie einige Sadduzäer und Herodianer, die ich
schon früher einmal gesehen habe, wenn ich nicht irre beim Festmahl im Haus
des Chuza, als sie Jesus versuchen wollten, sich zum König ausrufen zu lassen.
Diener folgen der Gruppe zu Fuß.
Die Reiter durchqueren langsam
das Städtchen, und die auf dem harten Boden klappernden Hufe, das Klirren der
Geschirre und die Stimmen der Männer locken die Bewohner aus ihren Häusern.
Sie blicken sichtlich erstaunt auf die Vorbeireitenden, verneigen sich tief
zum Gruß und richten sich dann wieder auf, um flüsternde Gruppen zu bilden.
«Habt ihr gesehen?»
«Alle Synedristen von Jerusalem!»
«Nein, Joseph vom Ältestenrat,
Nikodemus und andere waren nicht dabei!»
«Und die bekanntesten Pharisäer.»
«Und die Schriftgelehrten.»
«Und wer war jener auf dem
Pferd?»
«Gewiß gehen sie zu Lazarus.»
«Er muß im Sterben liegen.»
«Ich kann nicht verstehen, warum
der Meister nicht hier ist.»
«Was willst du, die von Jerusalem
versuchen ihn doch umzubringen!»
«Du hast recht. Sicher kommen
diese Schlangen, die gerade vorbeigeritten sind, nachsehen, ob der Rabbi dort
ist.»
«Gott sei gepriesen, daß er nicht
da ist!»
«Weißt du, was sie auf dem Markt
von Jerusalem meinem Mann gesagt haben? Wir sollten uns bereithalten, da er
sich bald zum König ausrufen lassen wird und wir ihm dann alle helfen
müssen... Wie haben sie gesagt? Ach! Ein Wort, das soviel bedeutet, als wenn
ich sagen würde, daß ich alle aus dem Haus jage und mich selbst zur Herrin
mache...»
«Ein Komplott... ? Eine
Verschwörung ... ? Ein Aufstand ... ?» fragen und mutmaßen sie.
Ein Mann sagt: «Ja, das haben sie
auch mir gesagt. Aber ich glaube nicht daran.»
«Immerhin, es sind Jünger des
Rabbi, die das sagen... !»
«Hm... Daß der Rabbi Gewalt
anwendet und den Tetrarchen absetzt,
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daß er einen Thron an sich reißt,
der, ob rechtens oder nicht, den Herodianern gehört, das glaube ich nicht. Du
tätest gut daran, Joachim zu sagen, daß er nicht alles glauben soll, was er
hört ...»
«Aber weißt du, daß alle, die ihm
helfen, auf Erden und im Himmel belohnt werden? Ich wäre sehr glücklich, wenn
mein Mann unter ihnen wäre. Ich habe viele Kinder, und das Leben ist schwer.
Wenn er ein Diener des Königs von Israel werden könnte...»
«Höre, Rachel, ich halte es für
besser, mich um meinen Garten und meine Datteln zu kümmern. Wenn er selbst es
mir sagen würde... oh, dann würde ich alles zurücklassen und ihm folgen. Aber
solange es andere sagen...»
«Aber es sind doch seine Jünger.»
«Ich habe sie nie bei ihm
gesehen, und außerdem... Nein. Sie spielen sich als Lämmer auf, haben aber
Spitzbubengesichter, die mich gar nicht überzeugen.»
«Das ist wahr. Seit einiger Zeit
geschehen eigenartige Dinge, und immer heißt es, daß es die Jünger des Rabbi
seien, die da handeln. Am Vortag des vergangenen Sabbat mißhandelten einige
von diesen eine Frau, die Eier auf den Markt brachte, und sagten zu ihr: "Wir
wollen deine Eier im Namen des galiläischen Rabbi!"»
«Und du glaubst, daß er so etwas
verlangen könnte? Er, der nur gibt und nicht nimmt? Er, der unter den Reichen
leben könnte und es vorzieht, bei den Armen zu sein? Er, der seinen Mantel
hergibt, wie es die geheilte Aussätzige allen erzählt hat, der Jakobus
begegnet ist?»
Ein anderer Mann, der sich zu der
Gruppe gesellt und zugehört hat, sagt: «Du hast recht. Und diese andere Sache,
die man auch noch erzählt? Daß der Rabbi großes Unheil über uns bringen wird,
weil die Römer uns alle bestrafen werden wegen des Aufruhrs, den er unter den
Leuten stiftet? Glaubt ihr daran? Ich sage – und ich irre mich sicher nicht,
denn ich bin alt und kenne mich in der Welt aus – ich glaube, daß sowohl die,
die uns armen Leuten weismachen wollen, daß der Rabbi mit Gewalt den Thron an
sich reißen und dann auch die Römer verjagen will – ach, wenn es nur so
wäre... ! wenn es möglich wäre, dies zu tun – als auch die, die in seinem
Namen Gewalt anwenden und uns aufwiegeln durch Versprechen künftigen Gewinns,
ebenso wie die, die uns dazu bringen wollen, den Meister zu hassen als einen
gefährlichen Menschen, der Unglück über uns bringen wird; ich meine, daß sie
alle Feinde des Meisters sind, die ihm schaden wollen, um selbst herrschen zu
können. Glaubt ihnen nicht! Glaubt nicht den falschen Freunden der armen
Leute! Habt ihr gesehen, wie hochmütig sie vorübergeritten sind? Mich hätten
sie beinahe verprügelt, weil ich Mühe hatte, die Schafe, die ihnen den Weg
versperrten, in das Gehege zu treiben... Und diese sollen unsere Freunde sein?
Niemals! Sie saugen uns das Blut aus und – Gott möge es verhüten – auch ihm.»
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«Du wohnst doch bei den Feldern
des Lazarus. Weißt du vielleicht, ob er schon gestorben ist?»
«Nein, er ist noch nicht
gestorben. Er schwebt zwischen Leben und Tod... Ich habe mich bei Sara
erkundigt, die Kräuter für die Waschungen gesammelt hat.»
«Aber weshalb sind sie dann
gekommen?»
«Hm... Sie haben sich das Haus
von allen Seiten angeschaut, von hinten, von der Seite, sind auch um das Haus
des Aussätzigen herumgegangen und dann in Richtung Bethlehem weitergeritten.»
«Ich habe es doch gesagt! Sie
wollten sehen, ob der Rabbi da ist; um ihm Böses anzutun. Weißt du, was es für
sie bedeutet, ihm etwas Böses antun zu können? Und noch dazu im Haus des
Lazarus? Sag, Nathan... Dieser Herodianer, war er nicht früher der Liebhaber
von Maria des Theophilus?»
«Er war es. Vielleicht wollte er
sich auf diese Weise an Maria rächen...»
Ein Knabe kommt gerannt. Er
schreit: «Wie viele Leute im Haus des Lazarus! Ich kam soeben mit Levi, Markus
und Isaias vom Bach, und wir haben sie gesehen. Die Diener haben ihnen das Tor
geöffnet und die Reittiere abgenommen. Und Maximinus ist den Juden
entgegengeeilt, und auch andere sind mit tiefen Verbeugungen herbeigelaufen.
Dann sind Martha und Maria mit ihren Dienerinnen zur Begrüßung aus dem Haus
gekommen. Wir hätten gern noch mehr gesehen, aber da haben sie das Tor
geschlossen, und alle sind ins Haus gegangen...»
Der Junge ist ganz erregt über
die Nachricht, die er bringt, über das, was er gesehen hat...
Die Leute machen ihre
Bemerkungen.
596. DIE JUDEN BEI MARTHA UND
MARIA
Wenngleich durch Schmerz und
Anstrengung erschöpft, ist Martha doch immer die Frau, die es versteht, zu
empfangen, zu bewirten und Ehre zu erweisen mit jener vollkommenen Vornehmheit
einer wahren Dame. So erteilt sie jetzt, nachdem sie die Gesellschaft in einen
der Säle geleitet hat, Anweisungen, damit den Gästen die üblichen
Erfrischungen angeboten und sie mit allem versorgt werden, was ihnen zur
Erquickung dienen kann.
Die Diener gehen umher, schenken
warme Getränke oder vortrefflichen Wein ein und bieten herrliche Früchte an,
gelbe Datteln wie Topase, getrocknete Weinbeeren von wundervollen, makellosen
Trauben, die an unsere Rosinen erinnern, und flüssigen Honig, alles in
Amphoren, Kelchen, Tellern und kostbaren Schüsseln. Und Martha wacht
aufmerksam
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über alles, damit auch niemand
vernachlässigt wird. Vielmehr läßt sie die Diener die Speisen entsprechend dem
Alter und vielleicht auch entsprechend den individuellen Wünschen jedes
Einzelnen, die ihr wohl bekannt sind, anbieten. So hält sie einen Diener
zurück, der sich soeben Elchias mit einem gefüllten Weinkrug und einem Kelch
nähert: «Tobias, keinen Wein, sondern Honigwasser und Dattelsaft.» Und zu
einem anderen sagt sie: «Johannes zieht gewiß den Wein vor. Biete ihm den
weißen von der Spätlese an.» Und ganz persönlich bringt sie dem alten
Schriftgelehrten Chananias heiße Milch, die sie reichlich mit goldgelbem Honig
süßt, während sie sagt: «Dies wird deinen Husten lindern! Du hast dir an
diesem kalten Tag die Mühe gemacht, hierher zu kommen, obwohl du leidend bist.
Ich bin gerührt, euch so eifrig zu sehen.»
«Es ist unsere Pflicht, Martha.
Eucheria stammte aus unserem Geschlecht. Eine echte Jüdin, die uns allen Ehre
machte.»
«Dein Gedenken an meine geliebte
Mutter ehrt und rührt mich zutiefst. Ich werde Lazarus diese Worte
wiederholen.»
«Aber wir wollen ihn selbst
grüßen. Einen so guten Freund!» sagt falsch wie immer Elchias, der
hinzugekommen ist.
«Ihn grüßen? Das ist nicht
möglich. Er ist zu sehr erschöpft.»
«Oh, wir werden ihn nicht stören.
Nicht wahr, ihr alle? Es genügt uns ein Lebewohl von der Schwelle seines
Zimmers aus...» sagt Felix.
«Ich kann nicht, ich kann
wirklich nicht. Nikomedes hat jede Anstrengung und Aufregung verboten.»
«Ein Blick auf den sterbenden
Freund kann ihn nicht töten, Martha», sagt Callascebona. «Zu sehr würde es uns
schmerzen, ihn nicht gegrüßt zu haben.»
Martha ist erregt und zögert. Sie
schaut zur Tür, ob nicht vielleicht Maria ihr zu Hilfe kommt. Aber Maria ist
nicht da.
Die Juden bemerken diese
Erregung, und Sadok, der Schriftgelehrte, sagt zu Martha: «Man könnte meinen,
daß unser Kommen dich beunruhigt hat, Frau...»
«Nein, nein, gewiß nicht. Aber
habt Verständnis für meinen Schmerz. Seit Monaten lebe ich an der Seite eines
Sterbenden und... ich kann nicht... Ich kann mich nicht mehr wie früher bei
den Festen benehmen...»
«Oh, dies ist kein Fest! Wir
wollten nicht einmal, daß du uns mit solchen Ehren empfängst! Aber
vielleicht... vielleicht willst du uns etwas verbergen und läßt uns deshalb
Lazarus nicht sehen, läßt uns nicht in sein Zimmer. Ja, ja, wer weiß! Aber hab
keine Angst! Das Zimmer eines Kranken ist eine heilige Zufluchtsstätte für wen
auch immer, glaube mir ...» sagt Elchias.
«Es gibt im Zimmer meines Bruders
nichts zu verbergen. Nichts ist dort versteckt. Das Zimmer beherbergt nur
einen Sterbenden, dem man aus Mitleid jede quälende Erinnerung ersparen
sollte», sagt mit ihrer
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herrlichen, dem Klang einer Orgel
gleichenden Stimme Maria, die auf der Schwelle erscheint und den Purpurvorhang
mit der Hand beiseite schiebt. «Und du, Elchias, und ihr alle seid quälende
Erinnerungen für Lazarus!»
«Maria!» seufzt Martha bittend,
um sie zum Schweigen zu bringen.
«Nichts, Schwester. Laß mich
reden...» Sie wendet sich den anderen zu: «Und um euch jeden Zweifel zu
nehmen, soll einer von euch – so wird es nur eine schmerzvolle Erinnerung an
die Vergangenheit, die zurückkehrt, sein – mit mir kommen, wenn der Anblick
und der Geruch eines Sterbenden ihn nicht abstößt und der Gestank des
verfallenden Fleisches ihm nicht Übelkeit bereitet.»
«Und du... bist du nicht selbst
eine schmerzliche Erinnerung?» fragt spöttisch der Herodianer, den ich schon
einmal, ich weiß nicht wo, gesehen habe, wobei er aus seiner Ecke kommt und
sich vor Maria stellt.
Martha stöhnt. Maria hat den
Blick eines erregten Adlers. Ihre Augen blitzen. Sie richtet sich stolz auf,
vergißt die Müdigkeit und den Schmerz, die sie gebeugt haben, und sagt mit dem
Ausdruck einer gekränkten Königin: «Ja, auch ich bin eine Erinnerung. Aber
keine schmerzliche, wie du sagst. Ich bin die Erinnerung an Gottes
Barmherzigkeit... Und bei meinem Anblick stirbt Lazarus in Frieden, denn er
weiß, daß er seinen Geist in die Hände der unendlichen Barmherzigkeit
zurückgibt.»
«Ha, ha, ha! So hast du nicht
gesprochen in alten Zeiten! Deine Tugend! Die kannst du nur jemandem vor Augen
stellen, der dich nicht kennt ...»
«Aber nicht dir, nicht wahr?
Gerade dir stelle ich sie vor Augen, um dir zu zeigen, daß man so wird wie
die, mit denen man verkehrt. Früher bin ich zu meinem Unglück mit dir verkehrt
und war so wie du. Nun verkehre ich mit dem Heiligen und werde ehrbar ...»
«Trümmer kann man nicht
wiederherstellen, Maria.»
«In der Tat, die Vergangenheit:
du, ihr alle, ihr könnt sie nicht wiederherstellen. Ihr könnt nicht
wiederherstellen, was ihr zerstört habt. Du nicht, den ich verabscheue. Ihr
nicht, die ihr in der Zeit des Schmerzes meinen Bruder beleidigt habt und euch
jetzt in übler Absicht als seine Freunde ausgebt.»
«Oh, du bist kühn, Frau! Der
Rabbi mag dir viele Teufel ausgetrieben haben, aber sanftmütig hat er dich
nicht gemacht!» sagt ein etwa Vierzigjähriger.
«Nein, Jonathan ben Annas. Er hat
mich nicht schwach gemacht, sondern stärker. Er hat mir die Kühnheit eines
ehrbaren Menschen gegeben, der wieder ehrbar werden wollte und alle Bindungen
an die Vergangenheit gelöst hat, um sich ein neues Leben aufzubauen. Auf! Wer
kommt mit zu Lazarus?» Sie ist gebieterisch wie eine Königin und beherrscht
sie alle mit ihrer Offenheit, die auch kein Selbstmitleid kennt. Martha
hingegen ist verängstigt. Mit Tränen in den Augen blickt sie flehentlich Maria
an, um sie zum Schweigen zu bringen.
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«Ich werde kommen», sagt mit dem
Seufzer eines Opfers Elchias, der immer falsch wie eine Schlange ist.
Sie gehen zusammen hinaus. Die
anderen wenden sich Martha zu: «Deine Schwester... ! Immer derselbe Charakter.
Sie sollte nicht so sein. Für so vieles müßte sie um Verzeihung bitten», sagt
Uriel, der Rabbi, den ich in Gischala gesehen habe und der dort Steine auf
Jesus geworfen hat.
Marthas Kräfte kehren bei dem
Peitschenhieb dieser Worte zurück und sie entgegnet: «Gott hat ihr verziehen,
und jede andere Verzeihung hat nach der seinen keine Bedeutung mehr. Ihr
jetziges Leben ist ein Beispiel für die Welt...» Doch der Mut verläßt Martha
gleich wieder, und sie schluchzt unter Tränen: «Ihr seid grausam! Gegen sie...
und gegen mich... Ihr habt kein Mitleid, weder mit unserem vergangenen noch
mit unserem gegenwärtigen Schmerz. Warum seid ihr gekommen? Um zu beleidigen
und zu verletzen?»
«Nein, Frau. Nein. Einzig und
allein, um den großen Juden zu grüßen, der im Sterben liegt. Aus keinem
anderen Grund. Keinem anderen. Du darfst unsere guten Absichten nicht
mißverstehen. Wir haben durch Joseph und Nikodemus von der Verschlechterung
seines Zustandes erfahren und sind gekommen... wie sie, die beiden guten
Freunde des Rabbi und des Lazarus. Warum wollt ihr uns anders behandeln, uns,
die wir wie sie den Rabbi und Lazarus lieben? Ihr seid ungerecht. Willst du
etwa behaupten, daß sie, und auch Johannes, Eleazar, Philippus, Josua und
Joachim nicht gekommen sind, um sich nach Lazarus zu erkundigen, und daß auch
Manaen nicht gekommen ist... ?»
«Ich behaupte gar nichts. Ich
staune nur, daß ihr alles so genau wißt. Ich dachte nicht, daß ihr auch das
Innere der Häuser überwacht. Ich wußte nicht, daß es außer den
sechshundertdreizehn Vorschriften noch eine neue gibt, die besagt, die
privaten Angelegenheiten der Familien auszuforschen und auszuspionieren... Oh,
verzeiht! Ich beleidige euch. Der Schmerz beraubt mich der Sinne, und ihr
vergrößert ihn noch.»
«Oh, wir verstehen dich, Frau!
Und da wir angenommen haben, daß ihr wie von Sinnen seid, sind wir gekommen,
um euch einen guten Rat zu geben. Laßt den Meister holen. Auch gestern sind
wieder sieben Aussätzige gekommen, um den Herrn zu preisen, da der Rabbi sie
geheilt hat. Ruft ihn doch auch für Lazarus!»
«Mein Bruder ist nicht
aussätzig», schreit Martha außer sich. «Deshalb wolltet ihr ihn sehen? Dazu
seid ihr gekommen? Nein, er ist nicht aussätzig! Seht meine Hände an. Seit
Jahren pflege ich ihn und habe keinen Aussatz an mir. Meine Haut ist gerötet
von den Essenzen, aber ich habe keinen Aussatz. Ich habe nicht ...»
«Friede! Beruhige dich, Frau. Wer
behauptet denn, daß Lazarus aussätzig ist? Und wer verdächtigt euch einer so
schrecklichen Sünde wie der, einen Aussätzigen zu verbergen? Glaubst du denn,
daß wir euch
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ungeachtet eurer Macht nicht
bestraft hätten, wenn ihr gesündigt hättet? Wir achten weder des Vaters noch
der Mutter, weder der Gattin noch der Kinder, wenn es gilt, den Vorschriften
Gehorsam zu verschaffen. Das versichere ich dir. Ich, Jonathan des Uziel.»
«Aber gewiß! So ist es! Und jetzt
sagen wir dir, weil wir es gut mit dir meinen und weil wir deine Mutter
geliebt haben und Lazarus lieben: Laßt den Meister rufen. Du schüttelst den
Kopf? Willst du damit sagen, daß es schon zu spät ist? Wie? Hast du kein
Vertrauen zu ihm, du, Martha, die treue Jüngerin? Das ist schlimm! Beginnst
auch du schon an ihm zu zweifeln?» sagt Archelaos.
«Du lästerst, Schriftgelehrter!
Ich glaube an den Meister als an den wahren Gott!»
«Warum willst du es dann nicht
versuchen? Er hat Tote auferweckt... Man sagt wenigstens so... Vielleicht
weißt du nicht, wo er ist? Wenn du willst, suchen wir ihn für dich, helfen wir
dir...» schlägt Felix vor.
«Aber nein! Im Haus des Lazarus
weiß man gewiß, wo der Rabbi ist. Sage es offen, Frau, und wir brechen sofort
auf, suchen ihn und bringen ihn zu dir. Und dann werden wir alle Zeugen des
Wunders sein und uns mit dir, mit euch allen freuen», sagt der Versucher Sadok.
Martha ist unsicher geworden und
erliegt beinahe der Versuchung nachzugeben. Die anderen drängen, während sie
sagt: «Wo er ist, weiß ich nicht... wirklich nicht... Er ist vor einigen Tagen
aufgebrochen und hat sich verabschiedet wie einer, der für lange Zeit
fortgeht. Es wäre mir ein großer Trost, wenn ich wüßte, wo er ist... Wenn ich
es wenigstens wüßte... Aber ich weiß es wirklich nicht...»
«Arme Frau! Aber wir werden dir
helfen ... Wir werden ihn zu dir bringen», sagt Cornelius.
«Nein, das ist nicht nötig! Der
Meister ... Ihr sprecht doch von ihm, nicht wahr? Der Meister hat gesagt, wir
sollen hoffen wider alle Hoffnung, und auf Gott allein. Und wir tun es ...»
ruft Maria aus, die gerade mit Elchias zurückkehrt. Dieser läßt sie sofort
stehen und unterhält sich gebeugt mit drei Pharisäern.
«Aber er stirbt doch, wie ich
höre!» sagt einer von ihnen, nämlich Doras.
«Und? Soll er sterben! Ich werde
mich dem Beschluß Gottes nicht widersetzen und dem Rabbi gehorsam sein.»
«Worauf willst du nach dem Tod
noch hoffen? Du bist völlig von Sinnen!» spottet der Herodianer.
«Worauf? Auf das Leben!» Die
Stimme ist ein Schrei bedingungslosen Glaubens.
«Auf das Leben? Ha, ha! Sei
ehrlich. Du weißt, daß vor einem echten Toten seine Macht nichtig ist, und in
deiner törichten Liebe zu ihm willst du das verbergen.»
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«Hinaus mit euch allen! Es wäre
Marthas Aufgabe, euch hinauszuwerfen, aber sie fürchtet euch. Ich fürchte nur,
Gott zu beleidigen, der mir verziehen hat. Daher tue ich es an Marthas Stelle.
Geht alle! Es ist kein Platz in diesem Haus für solche, die Jesus Christus
hassen. Hinaus! Kehrt in eure finsteren Höhlen zurück! Alle hinaus! Oder ich
lasse euch durch die Diener hinauswerfen wie einen Haufen schmutziger
Landstreicher.»
Sie ist großartig in ihrem Zorn.
Die Juden machen sich aus dem Staub, und ihre ganze Feigheit zeigt sich hier,
vor dieser Frau. Dieser Frau, die aber auch wirklich einem zürnenden Erzengel
gleicht...
Der Saal leert sich, und der
Blick Marias ist für jeden der an ihr Vorübergehenden ein caudinisches Joch
1), unter das sich der Hochmut der besiegten Juden beugen muß, während einer
nach dem anderen die Schwelle überschreitet. Endlich ist der Saal leer.
Martha sinkt auf den Teppich und
bricht in Tränen aus.
«Warum weinst du, Schwester? Ich
sehe keinen Grund dazu...»
«Oh, du hast sie beleidigt... und
sie haben dich... sie haben uns beleidigt... und jetzt werden sie sich
rächen... und...»
«So schweig doch, du dummes
Frauenzimmer! An wem sollen sie sich denn rächen? An Lazarus? Erst müssen sie
sich beraten, und bevor sie etwas beschlossen haben... Oh! An einem Gulal
rächt man sich nicht! Und an uns? ... Haben wir denn ihr Brot zum Leben nötig?
Unseren Besitz werden sie nicht anrühren. Rom hält seine Hand schützend
darüber. Wie also? Und wenn sie es auch tun könnten, sind wir beide denn nicht
jung und kräftig? Können wir nicht arbeiten? Ist Jesus vielleicht nicht arm?
Ist unser Jesus denn nicht selbst ein Arbeiter gewesen? Würden wir ihm nicht
ähnlicher sein, wenn wir arm wären und arbeiten würden? Freue dich doch, arm
zu werden! Hoffe darauf! Bitte Gott darum!»
«Aber was sie zu dir gesagt haben
...»
«Ha, ha! Was sie zu mir gesagt
haben, ist die reine Wahrheit. Ich selbst sage sie. Ich bin eine Unreine
gewesen. Doch nun bin ich das Lamm des Hirten! Und die Vergangenheit ist tot.
Auf, gehen wir zu Lazarus.»
____________
1) 321 vor Christus besiegten die
Samniten die Römer bei der Stadt Caudium. Die Truppen Roms wurden durch das
Joch, ein aus drei Lanzen gebildetes niedriges Tor, geschickt. Das bedeutete
eine Entehrung.
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597. MARTHA LÄSST DEN MEISTER
BENACHRICHTIGEN
Ich befinde mich noch im Haus des
Lazarus und sehe, daß Martha und Maria einen schon etwas älteren Mann sehr
würdevollen Aussehens in den Garten begleiten, der, ich würde sagen, kein
Hebräer ist, da sein Gesicht glattrasiert ist wie bei den Römern.
In einiger Entfernung vom Haus
fragt ihn Maria: «Nun, Nikomedes? Was sagst du zu unserem Bruder? Wir halten
ihn für sehr... krank... Sprich.»
Der Mann breitet in einer Geste
des Bedauerns die Arme aus, gleichsam als Bestätigung der Hoffnungslosigkeit
des Falles, bleibt stehen und sagt: «Er ist schwer krank. Ich habe euch nie
darüber im unklaren gelassen, seit ich ihn in Behandlung genommen habe. Ich
habe alles versucht, ihr wißt es, aber es hat nichts genützt. Ich habe
gehofft... ja, ich habe gehofft, daß er wenigstens am Leben bleiben und der
Entkräftung durch die Krankheit widerstehen würde durch die gute Ernährung und
die Herzmittel, die ich zubereitet habe. Ich habe es auch mit Giften versucht,
die das Blut vor der Zersetzung bewahren und seine Kräfte erhalten sollten,
entsprechend der alten Schule der großen Meister der Medizin. Aber das Übel
ist stärker als die zu seiner Heilung zur Verfügung stehenden Mittel. Diese
Krankheiten sind eine Art Zersetzung. Und wenn sie äußerlich sichtbar werden,
ist das Knochenmark schon zerstört. Wie der Saft in einem Baum von der Wurzel
bis zum Gipfel steigt, so hat sich hier die Krankheit von den Füßen aus in den
ganzen Körper ausgebreitet.»
«Aber es sind doch nur seine Füße
krank...» jammert Martha.
«Ja, aber das Fieber zerstört
dort, wo ihr glaubt, daß alles gesund sei. Seht dieses vom Baum gefallene
Zweiglein. Es scheint nur an der Bruchstelle wurmstichig zu sein. Aber seht...
(Er zerbröselt es zwischen den Fingern.) Seht ihr? Unter der noch glatten
Rinde ist die Fäulnis bis nach oben gedrungen, wo das Ästchen noch gesund zu
sein scheint, weil Blätter daran sind. Lazarus... liegt nun im Sterben,
bedauernswerte Schwestern! Der Gott eurer Väter und die Halbgötter unserer
Medizin konnten oder wollten nichts tun. Ich spreche von eurem Gott... Und
daher... Ja, ich sehe, daß der Tod sich nähert, da auch das Fieber steigt, ein
Symptom des Verfalls, der das Blut ergriffen hat; ich sehe es an den
unregelmäßigen Herzschlägen und dem Fehlen jeglicher Reaktion des Kranken und
seiner Organe auf irgendwelche Reize. Ihr seht... Er kann nicht mehr essen. Er
kann nicht mehr das Wenige behalten, das er zu sich nimmt, und was in seinem
Magen bleibt, wird nicht verdaut. Es geht dem Ende zu... Und – glaubt einem
Arzt, der euch zu Dank verpflichtet ist im Gedenken an euren Vater – das
Wünschenswerteste wäre nunmehr der Tod... Es handelt sich um eine schreckliche
Krankheit. Seit Tausenden von Jahren zerstört sie den Menschen, und der Mensch
ist nicht imstande, mit ihr
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fertigzuwerden. Nur die Götter
könnten helfen, wenn ...» Er hält inne, sieht die Schwestern an und reibt sich
mit den Fingern das rasierte Kinn. Er denkt nach. Dann sagt er: «Warum ruft
ihr nicht den Galiläer? Er ist euer Freund. Er kann... denn er vermag alles.
Ich habe Leute untersucht, die unheilbar waren und nun gesund sind. Eine
eigenartige Kraft geht von ihm aus. Ein geheimnisvolles Fluidum, das belebt,
die ungeordneten Abläufe im Körper ordnet und sie zwingt, gesunden zu
wollen... Ich verstehe es nicht, aber ich weiß es... denn ich bin ihm gefolgt,
habe mich unter das Volk gemischt und wunderbare Dinge gesehen... Ruft ihn.
Ich bin ein Heide. Aber ich verehre den geheimnisvollen Wundertäter eures
Volkes. Und ich wäre glücklich, wenn er zustande brächte, wozu ich nicht fähig
gewesen bin.»
«Er ist Gott, Nikomedes. Daher
kann er es. Die Kraft, die du Fluidum nennst, ist sein göttlicher Wille», sagt
Maria.
«Ich lache nicht über euren
Glauben. Vielmehr will ich euch ermutigen, ihn ins Unendliche anwachsen zu
lassen. Übrigens... liest man, daß die Götter schon andere Male zur Erde
herabgestiegen sind. Ich... wollte das nie glauben. Aber nach bestem Wissen
und Gewissen als Mensch und Arzt muß ich sagen, daß es so ist, denn der
Galiläer wirkt Heilungen, die nur ein Gott wirken kann.»
«Nicht ein Gott, Nikomedes. Der
wahre Gott», berichtigt Maria.
«Gut, wie du willst. Ich will an
ihn glauben und sein Jünger werden, wenn ich sehe, daß Lazarus aufersteht...
Denn nun muß man mehr von Auferstehung als von Heilung sprechen. Ruft ihn
also, und schnellstens... denn wenn ich mich nicht täusche, wird Lazarus
spätestens am dritten Tag nach dem heutigen sterben. Ich habe gesagt
"spätestens"... Es könnte aber auch früher geschehen, jetzt.»
«Oh, könnten wir doch! Aber wir
wissen nicht, wo er ist...» sagt Martha.
«Ich weiß es. Einer seiner Jünger
hat es mir gesagt. Er war auf dem Weg zu ihm, zusammen mit einigen Kranken,
von denen zwei zu meinen Patienten gehören. Er ist am anderen Ufer des Jordan,
bei der Furt. So hat er gesagt. Ihr kennt den Ort vielleicht besser.»
«Ah, er ist sicher im Haus des
Salomon!» sagt Maria.
«Ist es sehr weit?»
«Nein, Nikomedes.»
«Dann schickt sofort einen Diener
zu ihm und laßt ihm ausrichten, daß er kommen soll. Ich werde später
wiederkommen und hierbleiben, um sein Wunder an Lazarus mitzuerleben. Salve,
domine. Und vergeßt nicht, euch gegenseitig Mut zu machen.» Er verneigt sich
vor ihnen und geht auf den Ausgang zu, wo ihn ein Diener mit seinem Pferd
erwartet und ihm das Tor aufhält.
«Was sollen wir tun, Maria?»
fragt Martha, nachdem sie den Arzt hat fortreiten sehen.
18
«Wir gehorchen dem Meister. Er
hat befohlen, ihn nach dem Tod des Lazarus rufen zu lassen. Und das werden wir
tun...»
«Aber wenn er tot ist... was
nützt dann der Meister noch hier? Für unser Herz wird es ein Trost sein, das
schon. Aber für Lazarus ... ? Ich schicke einen Diener und lasse ihn rufen.»
«Nein, du würdest das Wunder
vereiteln. Er hat gesagt, wir sollen hoffen und glauben, auch wenn die
Situation hoffnungslos erscheint. Und wenn wir dies tun, werden wir das Wunder
erleben, dessen bin ich sicher. Wenn wir aber nicht glauben können, dann wird
Gott uns unserer Anmaßung, es besser machen zu wollen als er, überlassen und
uns nichts gewähren.»
«Aber siehst du denn nicht, wie
sehr Lazarus leidet? Hörst du denn nicht, wie er in den Augenblicken, in denen
er bei Bewußtsein ist, nach dem Meister verlangt? Hast du denn kein Herz, daß
du unserem armen Bruder eine letzte Freude versagen willst? Unser armer
Bruder! Bald werden wir keinen Bruder mehr haben! Keinen Vater, keine Mutter
und keinen Bruder mehr! Das Haus zerstört, und wir beide allein, wie zwei
Palmen in der Wüste.» Martha wird vom Schmerz übermannt und gerät in eine, ich
würde sagen, typisch orientalische Nervenkrise: sie wirft sich hin und her,
schlägt sich ins Gesicht und rauft sich die Haare.
Maria packt sie und befiehlt ihr:
«Schweig! Schweig, sage ich dir! Er kann es hören. Ich liebe ihn mehr als du
und kann mich beherrschen. Du gleichst einer kranken Frau. Schweig, sage ich
dir! Mit solchen Ausbrüchen ändert man das Schicksal nicht und rührt nicht
einmal die Herzen. Und wenn du es tust, um meines umzustimmen, so hast du dich
geirrt. Mir bricht das Herz im Gehorsam, aber ich harre in ihm aus.»
Martha ergibt sich der Kraft der
Schwester und ihren Worten. Sie beruhigt sich einigermaßen und ruft aber in
ihrem Schmerz nun jammernd nach der Mutter: «Mutter, o meine Mutter, tröste du
mich! Kein Friede ist mehr in mir, seit du tot bist. Wenn du doch hier wärest,
Mutter! Wenn die Schmerzen dich nicht getötet hätten! Wenn du hier wärest,
dann würdest du uns sagen, was wir tun sollen, und wir würden dir gehorchen
zum Wohl aller... Oh... !»
Maria wechselt die Gesichtsfarbe,
weint lautlos mit angstvollem Gesicht und ringt schweigend die Hände.
Martha betrachtet sie und sagt:
«Als unsere Mutter im Sterben lag, mußte ich ihr versprechen, daß ich
zeitlebens für Lazarus eine Mutter sein würde. Wenn sie hier wäre...»
«Dann würde sie dem Meister
gehorchen, denn sie war eine gerechte Frau. Umsonst bemühst du dich, mich
umzustimmen. Sage mir nur, daß ich die Mörderin meiner Mutter gewesen bin
durch das Leid, das ich ihr zugefügt habe. Ich werde dir sagen: "Du hast
recht." Aber wenn du mich dazu bringen willst zu sagen, daß du recht tust, den
Meister zu rufen, so
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sage ich dir: "Nein." Und ich
werde immer "Nein" sagen. Ich bin sicher, daß die Mutter mir vom Schoß
Abrahams aus recht gibt und mich segnet. Gehen wir ins Haus.»
«Ich sage nichts mehr! Ich sage
nichts mehr!»
«Alles, alles sollst du sagen! Du
hörst dem Meister zu und scheinst aufmerksam zu sein, während er spricht, aber
dann erinnerst du dich nicht mehr an seine Worte. Hat er denn nicht immer
gesagt, daß Lieben und Gehorchen uns zu Kindern Gottes und Erben seines
Reiches macht? Wie kannst du dann sagen, daß uns nichts mehr bleibt, wenn wir
Gott und sein Reich für unsere Treue besitzen werden? Oh! Wahrlich, man muß
wie ich schrankenlos gewesen sein im Bösen, um es auch im Guten, im Gehorsam,
in der Hoffnung, im Glauben und in der Liebe zu sein, es sein zu können und
sein zu wollen... !»
«Du läßt es zu, daß die Juden den
Meister verspotten und anklagen. Hast du sie vorgestern nicht gehört?»
«Denkst du immer noch an das
Gekrächze dieser Raben, an das Kreischen dieser Geier? Laß sie doch
ausspucken, was in ihnen ist! Was kümmert dich die Welt? Was ist die Welt im
Vergleich zu Gott? Schau: weniger als diese lästige Fliege, die erstarrt oder
vergiftet ist, weil sie Schmutz gefressen hat, und die ich jetzt zertrete.»
Und sie tritt energisch mit dem Absatz auf eine Bremse, die langsam über den
Kies des Weges kriecht. Dann nimmt sie Martha beim Arm und sagt: «Auf. Komm
ins Haus und...»
«Lassen wir es den Meister doch
wenigstens wissen. Schicken wir jemanden zu ihm, der ihm sagt, daß Lazarus im
Sterben liegt, mehr nicht...»
«Als ob er es nötig hätte, das
von uns zu erfahren. Nein, habe ich gesagt. Es ist nutzlos. Er hat gesagt:
"Wenn er tot ist, dann laßt es mich wissen." Das werden wir tun. Vorher
nicht.»
«Niemand, aber auch gar niemand
hat Mitleid mit meinem Schmerz! Du am allerwenigsten...»
«Höre auf, so zu weinen. Ich kann
es nicht ertragen...» In ihrem Schmerz beißt sie sich in die Lippen, um der
Schwester Mut zu machen und nicht selbst zu weinen.
Marcella kommt aus dem Haus
gerannt, gefolgt von Maximinus. «Martha, Maria, lauft! Schnell! Lazarus geht
es schlecht. Er antwortet nicht mehr...»
Die beiden Schwestern eilen ins
Haus... und bald darauf hört man die laute Stimme Marias Anweisungen für die
nötigen Hilfeleistungen geben. Diener laufen mit Herzmitteln und dampfenden
Kesseln mit kochendem Wasser vorbei, man hört sie flüstern und sieht ihre
Gesten des Schmerzes...
Langsam kehrt nach so viel
Aufregung die Ruhe wieder. Man sieht die Diener miteinander reden, nicht mehr
so erregt, aber sichtlich ratlos und betrübt, wie ihren Gesprächen zu
entnehmen ist. Die einen schütteln den
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Kopf. Andere heben den Blick zum
Himmel und breiten die Arme aus, als wollten sie sagen: «So ist es nun
einmal.» Andere weinen, und wieder andere hoffen immer noch auf ein Wunder.
Nun kommt Martha wieder,
leichenblaß. Sie schaut hinter sich, um zu sehen, ob ihr jemand folgt. Sie
blickt auf die Diener, die sie ängstlich umringen. Noch einmal dreht sie sich
um, ob jemand aus dem Haus kommt und ihr folgt. Dann sagt sie zu einem der
Diener: «Du, komm mit mir!»
Der Diener löst sich aus der
Gruppe und folgt ihr in die Jasminlaube. Martha spricht, den Blick immer auf
das Haus gerichtet, das man durch das dichte Geflecht der Zweige sehen kann.
«Höre gut zu. Wenn alle Diener wieder hineingegangen sind und ich ihnen
Anweisungen gegeben habe, damit sie im Haus beschäftigt sind, dann begib dich
in den Stall, nimm eines der schnellsten Pferde und sattle es... Sollte dich
jemand dabei beobachten, dann sage, daß du den Arzt holen mußt... Du lügst
nicht, und ich lehre dich nicht zu lügen, denn ich schicke dich wahrlich zu
dem gesegneten Arzt... Nimm Futter für das Tier und Nahrung für dich selbst
mit. Hier hast du auch eine Börse für alles, was du vielleicht brauchst. Geh
zum kleinen Tor hinaus und reite über die gepflügten Felder, damit man das
Klappern der Hufe nicht hört. Dann schlage den Weg nach Jericho ein und reite
im Galopp, ohne je anzuhalten, nicht einmal in der Nacht! Hast du verstanden?
Ohne auch nur einen einzigen Halt! Der neue Mond wird dir den Weg erhellen,
falls du noch nicht am Ziel bist, wenn es Nacht wird. Bedenke, daß das Leben
deines Herrn in deinen Händen liegt und von deiner Schnelligkeit abhängt. Ich
verlasse mich auf dich.»
«Herrin, ich will dir dienen wie
ein treuer Sklave.»
«Geh zur Furt von Bethabara.
Überquere sie und reite zum Dorf hinter Bethanien jenseits des Jordan. Weißt
du, welches ich meine? Dort, wo Johannes anfangs getauft hat.»
«Ich weiß. Auch ich bin damals
hingegangen, um mich zu reinigen.»
«In diesem Dorf ist der Meister.
Alle werden dir das Haus zeigen können, in dem er sich aufhält. Aber wenn du
statt der Hauptstraße dem Fluß folgst, ist es besser. Du wirst so weniger
gesehen und kannst das Haus allein finden. Es ist das erste an der einzigen
Straße des Ortes, die von den Feldern zum Fluß führt. Du kannst es nicht
verfehlen. Ein niedriges Haus ohne Terrasse oder oberes Zimmer, mit einem
Garten, der vom Fluß aus gesehen vor dem Haus liegt. Es ist ein Garten mit
einem Gartentor aus Holz und einer Weißdornhecke, glaube ich... auf jeden Fall
mit einer Hecke. Hast du verstanden? Dann wiederhole.»
Der Diener wiederholt alles
geduldig.
«So ist es recht. Du bittest, mit
ihm sprechen zu dürfen, mit ihm allein, und sagst ihm, daß deine Herrinnen
dich schicken, daß Lazarus sehr krank ist und im Sterben liegt, daß wir es
nicht länger ertragen und daß
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Lazarus nach ihm verlangt. Er
möge sofort kommen, sofort, um Gotteswillen! Hast du verstanden?»
«Ich habe verstanden, Herrin.»
«Danach kehrst du sogleich
zurück, damit hier niemand deine Abwesenheit bemerkt. Nimm eine Fackel mit für
die dunklen Stunden. Geh, lauf, galoppiere, gib dem Pferd die Sporen, aber
komm bald mit der Antwort des Meisters zurück!»
«Ich werde es tun, Herrin.»
«Geh, geh! Siehst du? Sie sind
schon alle im Haus. Geh sofort. Niemand wird dich bei den Vorbereitungen
sehen. Ich selbst werde dir etwas zu essen bringen. Geh! Ich werde es auf die
Schwelle des kleinen Tores legen. Geh! Und Gott sei mit dir... Geh!»
Sie drängt ihn voller Unruhe und
läuft dann eiligst, aber sehr vorsichtig ins Haus. Bald darauf verläßt sie es
durch eine Hintertür an der Südseite mit einer kleinen Tasche in der Hand,
geht an einer Hecke entlang bis zur ersten Öffnung, biegt dort ab und
verschwindet...
598. DER TOD DES LAZARUS
Alle Türen und Fenster im Zimmer
des Lazarus stehen weit offen, um ihm das Atmen zu erleichtern. Um ihn herum,
der im Koma liegt – einem tiefen Koma, das sich vom Tod nur durch die schwache
Atembewegung unterscheidet – stehen die beiden Schwestern, Maximinus, Marcella
und Noemi, und achten auf jede geringste Bewegung des Sterbenden.
Jedesmal, wenn ein Krampf den
Mund verzieht und es aussieht, als ob er sprechen wolle, oder wenn die Lider
sich einen Spalt öffnen, neigen sich die beiden Schwestern über ihn, um ein
Wort oder einen Blick zu erhaschen... Doch es ist vergebliche Mühe. Es sind
nur unkontrollierte Bewegungen, unabhängig von Willen und Verstand, die beide
nun erstorben sind; Bewegungen, die von den Schmerzen des Fleisches herrühren,
ebenso wie der auf dem Antlitz des Sterbenden glänzende Schweiß und das
Zittern, das von Zeit zu Zeit die abgemagerten Finger befällt und sie zu
Krallen verkrampft. Die beiden Schwestern rufen ihn immer wieder beim Namen
und legen ihre ganze Liebe in ihre Stimme. Aber der Name und die Liebe prallen
ab an seinem Unvermögen, etwas wahrzunehmen, und Grabesstille ist die einzige
Antwort auf ihr Rufen.
Noemi fährt unter Tränen fort, an
die sicherlich eiskalten Füße in Wollstreifen gewickelte angewärmte
Ziegelsteine zu legen. Marcella hält einen Becher in der Hand, dem sie ein
feines Leinenstückchen entnimmt, das Martha benützt, um die trockenen Lippen
des Bruders anzufeuchten. Maria trocknet mit einem anderen Linnen den starken
Schweiß, der in
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Strömen über das abgemagerte
Antlitz und die Hände des Sterbenden rinnt. Maximinus hat sich neben dem Bett
an einen hohen, dunklen Schrank gelehnt und betrachtet, hinter dem Rücken der
über den Bruder gebeugten Maria stehend, den Sterbenden.
Sonst ist niemand anwesend.
Tiefstes Schweigen herrscht, wie in einem leeren Haus oder an einem
verlassenen Ort. Die Dienerinnen, die die heißen Ziegelsteine bringen, gehen
barfuß und erzeugen auf dem Marmorboden keinerlei Geräusch. Sie gleichen
Spukgestalten.
Plötzlich sagt Maria: «Mir
scheint, die Hände werden wieder warm. Schau, Martha, seine Lippen sind nicht
mehr so blutleer.»
«Ja, auch der Atem geht freier.
Ich beobachte ihn schon eine Weile», bemerkt Maximinus.
Martha neigt sich über den Bruder
und ruft leise, aber mit Nachdruck: «Lazarus! Lazarus! Oh! Schau, Maria, er
hat ein wenig gelächelt und die Lider bewegt. Es geht ihm besser, Maria! Es
geht ihm besser! Wie spät ist es?»
«Die Vesper ist schon vorbei.»
«Ah!» Martha richtet sich auf,
faltet die Hände über der Brust und hebt den Blick zum Himmel, eine Geste
stillen, aber vertrauensvollen Gebetes. Ein Lächeln erhellt ihr Gesicht.
Die anderen schauen sie erstaunt
an, und Maria sagt zu ihr: «Ich verstehe nicht, warum du so glücklich bist,
daß die Vesper schon vorbei ist.»Dabei forscht sie argwöhnisch und ängstlich
im Gesicht der Schwester.
Doch Martha antwortet nicht und
nimmt wieder die vorige Stellung ein.
Eine Dienerin tritt ein mit
Ziegelsteinen, die sie Noemi übergibt. Maria befiehlt ihr: «Bring zwei Lampen!
Es wird dunkel, und ich will ihn sehen.» Die Dienerin geht leise hinaus und
kehrt kurz darauf mit zwei brennenden Lampen zurück. Eine von ihnen stellt sie
auf den Schrank, an den sich Maximinus gelehnt hat, und die andere auf ein
Tischchen voller Binden und kleinen Krügen auf der anderen Seite des Bettes.
«Oh, Maria! Maria! Schau, er ist
tatsächlich nicht mehr so bleich.»
«Er sieht auch nicht mehr so
erschöpft aus. Er kommt wieder zu sich!»sagt Marcella.
«Gebt ihm noch ein paar Tropfen
von dem Gewürzwein, den Sara zubereitet hat. Er hat ihm gutgetan», schlägt
Maximinus vor.
Maria nimmt von dem Schrank einen
kleinen Schnabelkrug mit sehr schlankem Hals und träufelt vorsichtig einige
Tropfen Wein zwischen die halbgeöffneten Lippen.
«Langsam, Maria, damit er nicht
erstickt!» rät Noemi.
«Oh, er schluckt! Er verlangt
danach! Schau, Martha! Schau! Er sucht mit der Zunge danach...»
Alle beugen sich über ihn, um
besser sehen zu können, und Noemi ruft
23
ihm zu: «Mein Kleinod! Sieh deine
Amme an, heilige Seele!» und sie tritt näher, um ihn zu küssen.
«Schau! Schau, Noemi, er trinkt
deine Tränen. Sie sind auf seine Lippen gefallen, und er hat sie gespürt und
geschluckt.»
«Oh, du meine Freude! Hätte ich
doch Milch wie einst! Ich würde sie dir Tropfen für Tropfen in den Mund
träufeln, mein Lämmlein, und wenn ich mein Herz ausquetschen und dann sterben
müßte.» Ich nehme an, daß Noemi, die Amme Marias, auch die Nährmutter des
Lazarus gewesen ist.
«Herrinnen, Nikomedes ist
zurückgekehrt», sagt ein auf der Schwelle erscheinender Diener.
«Er soll hereinkommen! Er soll
hereinkommen! Er wird uns helfen, ihm Linderung zu verschaffen.»
«Schaut! Schaut! Er öffnet die
Augen und bewegt die Lippen», sagt Maximinus.
«Er drückt meine Hand mit der
seinen!» schreit Maria und beugt sich nieder und sagt: «Lazarus, hörst du
mich? Wer bin ich?»
Lazarus öffnet tatsächlich die
Augen und schaut. Es ist ein unsicherer, verschleierter Blick, aber immerhin
ein Blick. Er bewegt auch mühsam die Lippen und sagt: «Mama!»
«Ich bin Maria. Maria, deine
Schwester!»
«Mama!»
«Er erkennt dich nicht. Er ruft
seine Mutter. Die Sterbenden tun es immer», sagt Noemi mit tränenüberströmtem
Antlitz.
«Aber er spricht! Nach so langer
Zeit spricht er endlich. Das ist schon viel... Bald wird es ihm besser gehen.
Oh, mein Herr, belohne deine Dienerin!» sagt Martha, wiederum in der Haltung
innigen und vertrauensvollen Gebetes.
«Aber was hast du denn? Hast du
etwa den Meister gesehen? Ist er dir erschienen? Antworte mir, Martha! Nimm
mir die Angst!» sagt Maria.
Das Eintreten des Nikomedes
verhindert die Antwort. Alle wenden sich ihm zu und erzählen ihm, wie sich der
Zustand des Lazarus nach seinem Weggang immer mehr verschlechterte bis zu dem
Punkt, da sie ihn schon tot glaubten, und wie sie ihn dann mit allen möglichen
Mitteln wenigstens wieder zum Atmen brachten. Und wie er seit kurzem, nachdem
eine der Frauen einen Gewürzwein zubereitet hatte, wieder warm geworden sei
und geschluckt und zu trinken versucht habe, wie er sogar die Augen geöffnet
und gesprochen habe...
Alle reden sie gleichzeitig in
ihrer wieder auflebenden Hoffnung auf den Arzt ein, der sie mit skeptischer
Ruhe und ohne ein Wort zu sagen reden läßt.
Endlich sind sie fertig, so daß
er zu Wort kommt: «Nun gut. Laßt mich einmal sehen.» Und er geht um sie herum
zu dem Lager, wobei er anordnet, daß die Lampen nähergebracht und die Fenster
geschlossen werden,
24
da er den Kranken aufdecken will.
Er neigt sich über ihn, ruft ihn, stellt ihm Fragen und bewegt die Lampe hin
und her vor dem Gesicht des Lazarus, der nun mit offenen Augen daliegt und
anscheinend erstaunt um sich blickt; dann nimmt er die Decke weg, prüft den
Atem, den Puls, die Temperatur und die Steifheit seiner Glieder... Alle warten
sehnsüchtig auf ein Wort von ihm. Nikomedes deckt den Kranken wieder zu, sieht
ihn nochmals an und denkt nach. Dann wendet er sich um, schaut die Anwesenden
an und sagt: «Man kann nicht leugnen, daß er wieder etwas zu Kräften gekommen
ist. Momentan geht es ihm besser als bei meinem letzten Besuch. Aber macht
euch keine falschen Hoffnungen. Es ist nur die scheinbare Besserung vor dem
Tod. Ich bin dessen ebenso sicher, wie ich sicher war, daß es dem Ende zugeht.
Denn ihr seht, daß ich sofort wiedergekommen bin, nachdem ich meine anderen
Pflichten erfüllt hatte, um ihm den Tod weniger schmerzlich zu machen, soweit
dies in meiner Macht steht... Oder um das Wunder zu sehen, wenn... Habt ihr
vorgesorgt?»
«Ja, ja, Nikomedes!» unterbricht
ihn Martha. Und um ihn am Weiterreden zu hindern, sagt sie rasch: «Aber hast
du nicht gesagt, daß er innerhalb von drei Tagen... Ich...» Sie weint.
«Ich habe es gesagt. Ich bin
Arzt. Ich lebe zwischen Tod und Tränen. Aber der gewohnte Anblick des
Schmerzes hat mein Herz noch nicht verhärtet. Und heute... habe ich euch
vorbereitet... und euch eine ziemlich lange... und ungewisse Frist genannt.
Aber meine Wissenschaft sagte mir, daß das Ende näher bevorstünde, und mein
Herz ließ mich euch aus Mitleid täuschen... Auf! Seid stark... Geht hinaus...
Man kann nie wissen, wieviel die Sterbenden verstehen...» Der Arzt schickt die
tränenüberströmten Frauen hinaus und wiederholt: «Seid stark! Seid stark!»
Maximinus bleibt bei dem
Sterbenden zurück. Auch der Arzt entfernt sich, um Arzneien zu bereiten, die
den Todeskampf mildern sollen, der nach seinen Worten «sehr schmerzlich sein
wird».
«Erhalte ihn am Leben! Erhalte
ihn am Leben, wenigstens bis morgen! Es ist schon fast Nacht, du siehst es,
Nikomedes. Was ist es schon für deine Wissenschaft, ein Leben um weniger als
einen Tag zu verlängern? Erhalte ihn am Leben!»
«Domina, ich tue, was ich kann.
Aber wenn der Docht zu Ende ist, kann nichts mehr die Flamme erhalten!»
antwortet der Arzt und geht.
Die beiden Schwestern umarmen
sich und weinen untröstlich, und wer nun stärker weint, ist Maria. Die andere
hat ihre Hoffnung im Herzen...
Die Stimme des Lazarus dringt aus
dem Zimmer. Sie ist kräftig, herrisch und erschreckt, denn sie kommt völlig
unerwartet nach so viel Schwäche. Lazarus ruft: «Martha! Maria! Wo seid ihr?
Ich will aufstehen! Mich anziehen! Ich will dem Meister sagen, daß ich gesund
bin! Ich muß zum Meister gehen. Einen Wagen! Rasch! Und ein schnelles Pferd.
Ganz gewiß ist er es, der mich geheilt hat.» Er spricht schnell und
rhythmisch.
25
Fieberglühend sitzt er im Bett
und versucht herauszuspringen. Er wird von Maximinus daran gehindert, der zu
den herbeieilenden Frauen sagt: «Er redet im Delirium.»
«Nein! Laß ihn gehen! Das Wunder!
Das Wunder! Oh, ich bin glücklich, der Anlaß zu sein! Gleich nachdem Jesus es
erfahren hat! Gott der Väter, sei gelobt und gepriesen für deine Macht und
deinen Messias...»Martha ist auf die Knie gesunken und trunken vor Freude...
Lazarus, der immer heftiger
fiebert – was aber Martha nicht als die Ursache der ganzen Szene erkennt –
spricht inzwischen weiter: «Er ist so oft zu mir gekommen, während ich krank
war. Es ist nur recht, daß ich zu ihm gehe und ihm sage: "Ich bin geheilt" Ich
bin geheilt! Ich habe keine Schmerzen mehr! Ich bin stark. Ich will aufstehen
und gehen... Gott wollte meine Ergebung prüfen. Man wird mich den neuen Job
nennen!»Er spricht in feierlichem Ton und unterstreicht seine Worte mit
ausladenden Gesten: «"Gott ließ sich rühren durch die Bußgesinnung des Job...
und gab ihm doppelt so viel von allem, was er besessen hatte. Und der Herr
segnete die letzten Jahre des Job mehr als die ersten... und er lebte bis
zu..." Aber nein, ich bin nicht Job! Ich war in den Flammen, und er hat mich
herausgeholt, ich war im Bauch des Ungeheuers und kehre ans Licht zurück. Also
bin ich Jonas, und die drei Jünglinge des Daniel...»
Der von irgend jemandem gerufene
Arzt erscheint. Er betrachtet ihn und sagt: «Das ist das Delirium. Ich habe es
erwartet. Die Zersetzung des Blutes erhitzt das Gehirn.» Er drückt Lazarus
wieder auf das Bett und ordnet an, daß man ihn festhalte. Dann geht er hinaus
zu seinen Arzneien.
Lazarus ist etwas beunruhigt,
weil man ihn festhält, und weint dann wieder ein bißchen wie ein Kind.
«Er ist wirklich im Delirium»,
jammert Maria.
«Nein. Ihr versteht alle nichts.
Ihr wißt nicht, was glauben heißt! Nun ja, ihr wißt eben nicht... Um diese
Stunde hat der Meister schon erfahren, daß Lazarus im Sterben liegt. Ja,
Maria, ich habe es getan. Ich habe es getan und dir nichts davon gesagt...»
«Oh, du Unselige! Das hast das
Wunder verwirkt!» schreit Maria.
«Aber nein! Du siehst doch, sein
Zustand begann sich in dem Augenblick zu bessern, als Jonas beim Meister
eintraf. Er redet irre... sicher... Er ist schwach, und sein Gehirn ist immer
noch vom Tod, der schon von ihm Besitz ergriffen hatte, umnebelt. Aber er
redet nicht so irre, wie der Arzt meint. Höre nur! Sind dies Worte eines
Deliriums?»
Tatsächlich sagt Lazarus: «Ich
habe mich dem Todesurteil gebeugt und erfahren, wie bitter das Sterben ist.
Und seht. Gott war zufriedengestellt durch meine Ergebung und gibt mich dem
Leben und den Schwestern zurück. Ich werde nun weiterhin dem Herrn dienen und
mich mit Martha und Maria heiligen können... Mit Maria! Was ist Maria? Maria
ist das Geschenk Jesu an den armen Lazarus. Er hatte es mir gesagt... Wie
lange
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ist es schon her. "Eure Vergebung
wird am meisten bewirken. Sie wird mir helfen." Er hatte es mir versprochen:
"Sie wird deine Freude sein." Und an jenem Tag, als ich mich erregte, weil sie
ihre Schande hierher, zum Heiligen, brachte, welche Worte, um sie zur Rückkehr
einzuladen! Die Weisheit und die Liebe hatten sich verbündet, um ihr Herz zu
rühren... Und das andere Mal, als ich beschloß, mich für sie, für ihre Rettung
als Opfer anzubieten? ... Ich will leben, um mich an ihr, der Geretteten, zu
erfreuen! Ich will mit ihr den Herrn preisen!
Ströme von Tränen, Beleidigungen,
Schande, Bitterkeit... Alles habe ich ihretwegen ertragen, und es hat mein
Leben zerstört. Das Feuer, das Feuer des Schmelzofens! Es kehrt zurück mit der
Erinnerung... Maria des Theophilus und der Eucheria, meine Schwester: die
Dirne! Königin hätte sie sein können und ist in den Schmutz hinabgestiegen, in
dem sich die Schweine wälzen. Und meine Mutter ist darüber gestorben... Und
dann, nicht mehr unter die Leute gehen zu können, ohne ihrem Spott ausgesetzt
zu sein. Ihretwegen! Wo bist du, Unselige! Hat dir etwa das Brot gefehlt, daß
du dich verkaufen mußtest, wie du es getan hast? Was hast du aus der Brust der
Amme gesogen? Was hat dich deine Mutter gelehrt? Vielleicht Unzucht die eine
und Sünde die andere? Fort mit dir, du Schande unseres Hauses!»
Die letzten Worte schreit er
hinaus. Er scheint verrückt geworden. Marcella und Noemi beeilen sich, die
Türen fest zu verschließen und die schweren Vorhänge zuzuziehen, um den
Widerhall zu dämpfen, während der Arzt, der ins Zimmer zurückgekehrt ist, sich
vergebens bemüht, das Delirium einzudämmen, das sich immer noch steigert.
Maria liegt völlig vernichtet am
Boden und schluchzt unter den unbarmherzigen Anklagen des Sterbenden, der
fortfährt: «Einen, zwei, zehn Liebhaber... Die Schande Israels wanderte von
Arm zu Arm... Ihre Mutter starb... Sie frönte weiter ihren schmutzigen
Liebschaften. Bestie! Vampir! Du hast das Leben aus deiner Mutter gesogen! Du
hast unsere Freude zerstört. Martha ist dein Opfer geworden. Niemand heiratet
die Schwester einer Dirne. Ich... Ach! Ich... Der angesehene Lazarus, der Sohn
des Theophilus... Mich haben die Straßenjungen von Ophel bespien! "Seht den
Komplizen einer Ehebrecherin und Schamlosen", sagten die Schriftgelehrten und
die Pharisäer und schüttelten ihre Kleider ab, um dadurch zu zeigen, daß sie
nichts zu tun haben wollten mit der Sünde, die mich durch den Kontakt mit dir
befleckte. "Seht den Sünder! Wer die Schuldige nicht bestrafen will, ist
ebenso schuldig wie sie", schrien die Rabbis, wenn ich zum Tempel hinaufging,
und das Funkeln der Augen der Priester trieb mir den Schweiß aus allen
Poren... Das Feuer! Du! Du hast das Feuer ausgespieen, das in dir brannte.
Denn du bist ein Dämon, Maria! Unrat bist du! Ein Fluch! Dein Feuer hat alle
erfaßt, denn dein Feuer bestand aus vielen Feuern für die Unzüchtigen, die
sich wie Fische in
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deinen Netzen verfingen, wenn du
vorbeigingst ... Warum habe ich dich nicht umgebracht? Ich werde in der
Gehenna brennen müssen, weil ich dich am Leben gelassen und so beigetragen
habe, viele Familien zu verderben und Tausenden Ärgernis zu geben! Wer sagt:
"Wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis kommt"? Wer sagt dies? Ach, der
Meister! Ich will den Meister! Ich will ihn, damit er mir verzeiht. Ich will
ihm sagen, daß ich sie nicht töten konnte, weil ich sie liebte... Maria war
die Sonne unseres Hauses... Ich will den Meister! Warum ist er nicht hier? Ich
will nicht leben! Ich will nur seine Verzeihung für das Ärgernis, das ich
gegeben habe, weil ich das Ärgernis habe leben lassen. Ich bin schon in den
Flammen. Es ist das Feuer Marias! Es hat mich erfaßt, alle hat es erfaßt; um
Wollust für sie zu entflammen und Haß auf uns, um mein Fleisch zu verbrennen.
Weg mit diesen Decken! Fort mit allem! Ich bin im Feuer! Mein Fleisch und
meinen Verstand hat es ergriffen. Ich bin ihretwegen verloren. Meister!
Meister! Deine Verzeihung! Er kommt nicht! Er kann nicht in das Haus des
Lazarus kommen. Es ist eine Mistgrube ihretwegen. Dann... will ich vergessen.
Alles. Ich bin nicht mehr Lazarus. Gebt mir Wein! Salomon sagt: "Gebt Wein
denen, deren Herz zerrissen ist, daß sie trinken und ihr Elend vergessen und
ihres Schmerzes nicht mehr gedenken." Ich will nicht mehr daran denken. Alle
sagen: "Lazarus ist reich. Er ist der reichste Mann von Judäa." Das ist nicht
wahr! Alles ist nur Stroh, nicht Gold. Und die Häuser? Sie sind Wolken. Und
die Weinberge, die Oasen, die Gärten, die Olivenhaine? Nichts. Täuschungen.
Ich bin Job. Ich besitze nichts mehr. Ich hatte eine Perle. Sie war schön und
von unschätzbarem Wert. Sie war mein Stolz. Sie hieß Maria. Ich habe sie nicht
mehr. Ich bin arm. Der Ärmste von allen. Der mehr als alle anderen
Getäuschte... Auch Jesus hat mich getäuscht, denn er hatte mir versprochen,
daß er sie mir wiedergeben würde... Doch sie... Wo ist sie? Seht sie dort. Sie
gleicht einer heidnischen Hetäre, die Frau aus Israel, die Tochter einer
Heiligen! Halbnackt, betrunken, von Sinnen... und umgeben von der Meute ihrer
Liebhaber, die den nackten Körper meiner Schwester mit den Augen
verschlingen... Und sie lacht darüber, so bewundert und verehrt zu werden. Ich
will mein Verbrechen sühnen. Ich will durch Israel wandern und sagen: "Geht
nicht zum Haus meiner Schwester. Ihr Haus ist der Weg zur Hölle und führt in
die Abgründe des Todes." Und dann will ich zu ihr gehen und sie zertreten,
denn es steht geschrieben: "Jede unzüchtige Frau soll wie Unrat auf dem Weg
zertreten werden." Oh, hast du den Mut, vor mir zu erscheinen, der ich, durch
dich vernichtet und entehrt, nun sterbe? Vor mir, der ich mein Leben als Opfer
angeboten habe, um deine Seele zu retten, und ohne Erfolg? Wie ich dich
gewollt hätte, fragst du? Wie ich dich gewollt hätte, um nicht so sterben zu
müssen? So hätte ich dich gewünscht: Wie Susanna, die Keusche! Du sagst, sie
hätten dich verführt? Hattest du nicht einen Bruder, um dich zu verteidigen?
Susanna war
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allein, aber sie antwortete: "Es
ist besser für mich, in eure Hände zu fallen, als vor dem Angesicht des Herrn
zu sündigen." Und Gott ließ ihre Reinheit erstrahlen. Ich hätte mit deinen
Verführern gesprochen und dich verteidigt. Aber du! Du bist davongelaufen.
Judith war Witwe. Sie lebte abgeschieden, den Bußgürtel um die Hüften, und
fastete; und sie stand in hohem Ansehen bei allen, denn sie fürchtete den
Herrn. Von ihr wird gesungen: "Du bist der Ruhm Jerusalems, die Freude
Israels, die Ehre unseres Volkes, denn du bist mannhaft und dein Herz ist
stark, du hast die Keuschheit geliebt und nach deiner Ehe keinen anderen Mann
mehr gekannt. Daher hat die Hand des Herrn dich stark gemacht, und du wirst in
Ewigkeit gepriesen werden." Wäre Maria wie Judith gewesen, hätte der Herr mich
geheilt. Aber er konnte es ihretwegen nicht. Deshalb bat ich auch nicht um
Heilung. Wo sie ist, kann kein Wunder stattfinden... Aber der Tod... die
Leiden bedeuten mir nichts. Zehnmal und hundertmal so viel will ich leiden und
nicht nur einmal sterben, wenn sie dadurch gerettet wird. Oh, höchster Herr!
Alle Todesarten! Alle Schmerzen! Aber rette Maria! Nur eine Stunde, nur eine
einzige Stunde möchte ich mich an ihr erfreuen! An ihr, die wieder heilig
geworden ist, rein wie in der Kindheit! Eine Stunde nur diese Freude! Mich
ihrer rühmen zu können, der goldenen Blume meines Hauses, der lieblichen
Gazelle mit den sanften Augen, der Nachtigall am Abend, der liebevollen
Taube... Ich verlange nach dem Meister, um ihm zu sagen, daß ich dies will:
Maria! Maria! Komm, Maria! Wie sehr muß dein Bruder leiden, Maria! Aber wenn
du kommst, wenn du dich bekehrst, dann wird mein Schmerz süß werden. Sucht
Maria! Ich bin am Ende! Ich sterbe! Maria! Macht Licht! Luft... Ich...
ersticke! Oh, was fühle ich... !»
Der Arzt macht eine Handbewegung
und sagt: «Das ist das Ende. Nach dem Delirium folgt die Erschöpfung, und dann
der Tod. Aber das Bewußtsein kann zurückkehren. Kommt näher. Besonders du. Er
wird sich freuen.» Und nachdem er Lazarus, der nach so viel Erregung völlig
erschöpft ist, zurückgebettet hat, geht er zu Maria, die bis jetzt am Boden
geweint und gestöhnt hat: «Bringt ihn zum Schweigen!» Er richtet sie auf und
führt sie an das Bett.
Lazarus hat die Augen
geschlossen. Er scheint furchtbar zu leiden und ist von Zittern und Krämpfen
befallen. Der Arzt versucht, ihm mit Arzneien Erleichterung zu verschaffen...
So vergeht einige Zeit.
Lazarus öffnet die Augen. Er
scheint alles vergessen zu haben, was geschehen ist, doch er ist bei
Bewußtsein. Er lächelt den Schwestern zu und sucht ihre Hände zu fassen und
ihre Küsse zu erwidern. Dann wird er totenbleich. Er klagt: «Ich friere...»
und klappert mit den Zähnen, während er versucht, sich bis zum Mund
zuzudecken. Dann stöhnt er: «Nikomedes, ich kann die Schmerzen nicht länger
ertragen. Die Wölfe zerfleisehen meine Beine und fressen mein Herz. Welch ein
Schmerz! Und wenn
29
der Todeskampf schon so ist, wie
wird dann erst der Tod sein? Wie werde ich ihn ertragen? Oh, wenn der Meister
hier wäre! Warum habt ihr ihn nicht rufen lassen? Ich wäre selig an seiner
Brust gestorben...» Lazarus weint.
Martha sieht Maria streng an.
Maria versteht diesen Blick und, noch erschüttert vom Delirium des Bruders,
wird sie von Gewissensbissen gepackt. Am Bett kniend neigt sie sich, um die
Hand des Bruders zu küssen, und schluchzt: «Ich bin die Schuldige. Martha
wollte es schon vor zwei Tagen tun. Ich habe es nicht gewollt. Denn er hatte
uns gesagt, wir sollten ihn erst nach deinem Tod benachrichtigen. Verzeih mir!
An jedem Schmerz deines Lebens bin ich schuldig... Und doch habe ich dich
geliebt und liebe ich dich, Bruder! Nach dem Meister liebe ich dich am
meisten... Und Gott weiß, daß ich nicht lüge. Sage mir, daß du mir meine
Vergangenheit verzeihst. Gib mir Frieden...»
«Domina!» mahnt der Arzt. «Der
Kranke kann keine Aufregungen brauchen.»
«Das ist wahr... Sag nur, daß du
mir verzeihst, Jesus von dir ferngehalten zu haben...»
«Maria! Deinetwegen ist Jesus
hierhergekommen... und deinetwegen kommt er wieder, denn du verstehst zu
lieben... mehr als alle anderen. Mich hast du vor allen anderen geliebt... Ein
Leben... der Freude hätte mir nicht... hätte mir nicht... die Freude
gegeben... die ich durch dich gehabt habe. Ich segne dich... Ich sage dir...
daß du recht daran getan hast... Jesus zu gehorchen... Ich habe es nicht
gewußt ... Nun weiß ich... Ich sage ... es ist gut so ... Helft mir sterben!
... Noemi ... dir gelang es früher ... mich in den Schlaf zu wiegen...
Gesegnete Martha ... mein Friede... Maximinus... mit Jesus. Auch für mich...
Meinen Anteil... den Armen... Jesus... für die Armen... Und verzeiht...
allen... Ach, welche Beklemmung... ! Luft... ! Licht! Alles zittert... Ihr
seid von einem Schein umgeben, der mich blendet... wenn ich euch ansehe...
Sprecht... laut ...» Er hat seine Linke auf das Haupt Marias gelegt und seine
Rechte den Händen Marthas überlassen. Er keucht...
Sie richten ihn vorsichtig auf
und schieben ihm noch einige Kissen unter, während Nikomedes ihm erneut ein
paar Tropfen seiner Medizin einflößt. Das arme Haupt schwankt und sinkt zurück
in einer tödlichen Ohnmacht. Das ganze Leben konzentriert sich auf den Atem.
Doch er öffnet wiederum die Augen und blickt Maria an, die seinen Kopf stützt.
Er lächelt ihr zu und sagt: «Die Mama! Sie ist zurückgekehrt... Mama! Sprich!
Deine Stimme... Du kennst... das Geheimnis... Gottes... Habe ich... dem Herrn
gedient?»
Maria flüstert mit vor Schmerz
brüchiger Stimme: «Der Herr sagt dir: "Komm mit mir, du guter und getreuer
Knecht, denn du hast jedes meiner Worte befolgt und das Wort geliebt, das ich
gesandt habe!"»
30
«Ich verstehe nicht... Lauter...
!»
Maria wiederholt lauter...
«Es ist wirklich die Mama!» sagt
Lazarus glücklich und läßt sein Haupt an die Schulter der Schwester sinken...
Dann sagt er nichts mehr. Nur
noch Stöhnen und krampfhaftes Zittern, Schweiß und Röcheln... Er empfindet nun
die Welt nicht mehr, die Gefühle, und versinkt in der immer vollkommeneren
Finsternis des Todes. Die Lider sinken über die glasigen Augen, in denen eine
letzte Träne glänzt.
«Nikomedes! Er wird schwerer! Er
wird kälter... !» sagt Maria.
«Domina, der Tod ist eine
Erlösung für ihn!»
«Erhalte ihn am Leben! Morgen
wird Jesus hier sein. Er wird sofort aufgebrochen sein. Vielleicht hat er das
Pferd des Dieners oder ein anderes Reittier genommen», sagt Martha. Und zur
Schwester gewandt: «Oh, hättest du mir erlaubt, ihn eher zu schicken!» Dann
wieder verzweifelt zum Arzt: «Erhalte ihn am Leben!»
Der Arzt breitet die Arme aus. Er
versucht es mit Herzmitteln. Doch Lazarus kann nicht mehr schlucken...»
Das Röcheln nimmt zu... Es ist
herzzerreißend.
«Oh, man kann es nicht mehr
mitanhören!» stöhnt Noemi.
«Ja, er hat einen langen
Todeskampf ...» bestätigt der Arzt.
Aber er hat noch nicht
ausgeredet, als Lazarus nach einem letzten Sich-aufbäumen seines ganzes
Körpers zurücksinkt und sein Leben aushaucht.
Die Schwestern schreien auf, als
sie diese letzte Todeszuckung sehen, und noch einmal beim Zurücksinken des
Sterbenden. Maria ruft den Bruder und küßt ihn. Martha klammert sich an den
Arzt, der sich über den Toten beugt, und sagt: «Er ist verschieden. Nun ist es
zu spät, auf ein Wunder zu warten. Es gibt kein Warten mehr. Es ist zu spät...
! Ich ziehe mich zurück, domine. Ich habe keinen Anlaß mehr, zu bleiben.
Beeilt euch mit der Beisetzung, denn er geht schon in Verwesung über.» Der
Arzt schließt dem Toten die Augen und sagt noch einmal: «Es tut mir leid, er
war ein tugendhafter und kluger Mann. Er hätte nicht sterben dürfen!» Dann
wendet er sich den Schwestern zu, verneigt sich, grüßt sie: «Domine! Salve!»
und geht.
Die Klagen erfüllen den Raum.
Maria verlassen nun die Kräfte. Sie wirft sich über den Leib des Bruders, ruft
ihm ihre Reue zu und bettelt um seine Vergebung. Martha weint in den Armen
Noemis.
Dann ruft Maria aus: «Du hast
keinen Glauben gehabt. Du bist nicht gehorsam gewesen. Ich habe ihn zuerst
getötet, du jetzt! Ich mit meiner Sündhaftigkeit, du mit deinem Ungehorsam.»
Sie ist wie von Sinnen. Martha hebt sie auf, umarmt sie, entschuldigt sich...
Maximinus, Noemi und Marcella bemühen sich, beide zur Vernunft und Ergebung zu
bringen.
31
Und es gelingt ihnen, indem sie
an Jesus erinnern... Die Schwestern fassen sich und werden hinausgeführt, um
anderswo ihren Schmerz auszuweinen, während der Raum sich mit klagenden
Dienern füllt und bald auch die eintreten, die den Leichnam für die Bestattung
herrichten sollen.
Maximinus, der die Schwestern
hinausführt, sagt: «Er ist am Ende der zweiten Nachtwache verschieden.»
Und Noemi sagt: «Und morgen muß
er beigesetzt werden, und schnell, vor Sonnenuntergang, denn dann beginnt der
Sabbat. Ihr habt gesagt, daß der Meister große Feierlichkeiten will ...»
«Ja, Maximinus. Kümmere du dich
um alles. Ich bin ungeschickt», sagt Martha.
«Ich werde Diener zu allen nahen
und fernen Freunden schicken und alles andere anordnen», sagt Maximinus und
zieht sich zurück.
Die beiden Schwestern halten sich
weinend in den Armen. Sie werfen sich gegenseitig nichts mehr vor. Sie weinen
nur noch und versuchen, einander zu trösten.
Die Zeit vergeht. Der Tote wird
in seinem Zimmer vorbereitet. Eine lange, in Binden gewickelte Gestalt unter
dem Schweißtuch.
«Warum ist er denn schon so
eingewickelt?» ruft Martha tadelnd aus.
«Herrin, er roch schon stark aus
der Nase, und bei jeder Bewegung floß verdorbenes Blut aus seinem Mund»,
entschuldigt sich ein alter Diener.
Die Schwestern weinen laut.
Lazarus ist unter diesen Binden schon weit fort... Ein Schritt mehr in die
Ferne des Todes. Sie wachen und weinen bei ihm bis zum Morgengrauen, bis zur
Rückkehr des Dieners von der anderen Seite des Jordan. Der Diener ist
bestürzt, doch er berichtet von seinem eiligen Ritt, um die Antwort Jesu zu
überbringen.
«Hat er gesagt, daß er kommen
wird? Hat er mich nicht getadelt?» fragt Martha.
«Nein, Herrin. Er hat gesagt:
"Ich werde kommen. Sage ihnen, daß ich kommen werde und daß sie Glauben haben
sollen." Und zuvor hatte er gesagt: "Sage ihnen, sie sollen beruhigt sein.
Dies ist keine Krankheit, die zum Tod führt. Es handelt sich um die Ehre
Gottes, und seine Macht soll in seinem Sohn verherrlicht werden."»
«Hat er das gesagt? Bist du
dessen sicher?» fragt Maria.
«Herrin, auf dem ganzen Weg habe
ich mir diese Worte wiederholt.»
«Geh, geh. Du bist müde. Du hast
alles gut gemacht. Aber nun ist es zu spät... !» seufzt Martha. Und sie bricht
in lautes Wehklagen aus, sobald sie wieder mit der Schwester allein ist.
«Martha, warum?»
«Oh! Nach dem Tod nun auch die
Enttäuschung! Maria! Maria! Merkst du nicht, daß sich der Meister diesmal
geirrt hat? Schau dir Lazarus an. Er ist tot! Wir haben gegen alle Vernunft
bis zuletzt gehofft, und es hat nichts genützt. Als ich nach ihm geschickt
habe – ich werde damit
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wohl gefehlt haben – war er schon
mehr tot als lebendig. Und unser Glaube war umsonst und ist nicht belohnt
worden. Nun läßt uns der Meister sagen, daß es keine Krankheit sei, die zum
Tod führt. Ist der Meister also nicht mehr die Wahrheit? Er ist sie nicht
mehr... Oh! Alles, alles! Alles ist nun zu Ende!»
Maria ringt die Hände. Sie weiß
nicht, was sie sagen soll. Die Wirklichkeit ist die Wirklichkeit... Aber sie
sagt nichts. Sie sagt kein Wort gegen ihren Jesus. Sie weint. Sie ist wirklich
am Ende ihrer Kräfte.
Martha macht sich fortwährend den
Vorwurf, zu lange gewartet zu haben. «Durch deine Schuld», klagt sie an. «Er
wollte unseren Glauben prüfen. Gehorchen sollten wir, ja. Aber auch im Glauben
ungehorsam sein, um unsere Überzeugung zu beweisen, daß nur er das Wunder
wirken kann und muß. Mein armer Bruder! Er hat so sehr nach ihm verlangt. Wenn
er ihn wenigstens gesehen hätte! Unser armer Lazarus! Der Arme! Der Arme!» Und
das Weinen verwandelt sich in lautes Klagen, in das nach orientalischem Brauch
auch die Mägde und Diener hinter der Tür einstimmen.
599. DIE BENACHRICHTIGUNG JESU
Es wird schon dunkel, als der von
Martha gesandte Diener die bewaldete Böschung des Flusses heraufkommt und
seinem vor Schweiß triefenden Pferd die Sporen gibt, um den Höhenunterschied
zwischen dem Fluß und der Dorfstraße zu überwinden. Die Flanken des armen
Tieres zittern nach dem langen, schnellen Ritt. Die dunkle Decke ist ganz von
Schweiß durchtränkt, und der Schaum der Nüstern bedeckt seine Brust. Das Tier
schnaubt, krümmt den Hals und schüttelt den Kopf.
Nun sind sie schon auf der
Straße. Das Haus ist bald erreicht. Der Diener springt herunter, bindet das
Pferd an die Hecke und ruft.
Petrus streckt seinen Kopf aus
dem Haus und fragt mit seiner etwas rauhen Stimme: «Wer ruft da? Der Meister
ist müde. Seit vielen Stunden läßt man ihn nicht in Ruhe. Es ist beinahe
Nacht. Kommt morgen wieder.»
«Ich selbst will nichts vom
Meister. Ich bin gesund und muß ihm nur eine Nachricht überbringen.»
Petrus kommt näher und fragt:
«Und von wem, wenn ich fragen darf? Ohne ein sicheres Erkennungszeichen lasse
ich niemanden herein, besonders, wenn er nach Jerusalem stinkt wie du.» Er hat
sich langsam genähert, und mehr als der Mann erweckt die Schönheit des reich
aufgezäumten Rappen sein Mißtrauen. Doch als sie sich gegenüberstehen, fragt
er überrascht: «Du? ... Bist du denn nicht ein Diener des Lazarus?»
33
Der Diener weiß nicht, was er
sagen soll. Die Herrin hat ihm aufgetragen, nur mit dem Meister zu reden. Aber
der Apostel scheint fest entschlossen, ihn nicht weiterzulassen. Lazarus, das
weiß er, ist bei den Aposteln hoch angesehen. So entschließt er sich zu sagen:
«Ja, ich bin Jonas, der Diener des Lazarus. Ich muß mit dem Meister sprechen.»
«Geht es Lazarus schlecht? Hat er
dich gesandt?»
«Es geht ihm schlecht, ja. Aber
laß mich keine Zeit verlieren. Ich muß so rasch als möglich zurückkehren.» Und
um den letzten Widerstand des Petrus zu überwinden, sagt er: «Die Synedristen
sind in Bethanien gewesen ...»
«Die Synedristen! Komm herein!
Komm herein!» Und Petrus öffnet das Tor mit den Worten: «Bring das Pferd
herein. Wenn du willst, werden wir ihm Wasser und Heu geben.»
«Ich habe Futter. Aber ein wenig
Heu wird ihm guttun. Das Wasser dann später; jetzt würde es ihm schaden.»
Sie gehen in den Raum, in dem die
Lager stehen, und binden das Tier in einer Ecke an, um es vor Zugluft zu
schützen. Der Diener bedeckt es mit einer Decke, die an den Sattel gebunden
war, und gibt ihm Hafer und das Heu, das Petrus irgendwo hergeholt hat. Dann
gehen sie wieder hinaus, und Petrus führt den Diener in die Küche und gibt ihm
eine Schale heiße Milch aus einem Topf, der auf dem offenen Feuer steht,
anstelle des Wassers, um das der Diener gebeten hatte. Während der Diener
trinkt und sich am Feuer erholt, sagt Petrus, der sich in heroischer Weise
beherrscht und keine neugierigen Fragen stellt: «Die Milch ist besser als das
Wasser, das du wolltest. Und wenn wir sie nun schon einmal haben! Bist du ohne
Unterbrechung bis hierher geritten?»
«Ohne Unterbrechung. Und so werde
ich es auch auf dem Rückweg machen.»
«Du wirst müde sein. Wird das
Pferd es schaffen?»
«Ich hoffe. Und dann werde ich
auf dem Rückweg nicht so galoppieren wie diesmal.»
«Aber bald bricht die Nacht
herein. Der Mond geht schon auf... Wie wirst du es am Fluß machen?»
«Ich hoffe, noch vor dem
Untergang des Mondes dort zu sein. Sonst muß ich bis zum Morgengrauen im Wald
warten... Doch ich werde vorher ankommen!»
«Und dann? Der Weg vom Fluß nach
Bethanien ist lang. Und der Mond geht früh unter. Er steht im ersten Viertel.»
«Ich habe eine gute Lampe. Ich
werde sie anzünden und langsam reiten. Auch wenn ich nur langsam vorankomme,
nähere ich mich dem Haus.»
«Willst du Brot und Käse? Wir
haben etwas da. Und auch Fisch. Ich habe ihn gefangen, denn heute bin ich
dageblieben, Thomas und ich. Aber nun ist Thomas Brot holen gegangen bei einer
Frau, die uns hilft.»
34
«Nein, ich möchte euch nichts
wegnehmen. Ich habe unterwegs gegessen und hatte nur Durst und etwas Warmes
nötig. Nun fühle ich mich besser. Aber willst du nicht zum Meister gehen? Ist
er zu Hause?»
«Ja, ja! Wenn er nicht hier wäre,
hätte ich es dir gleich gesagt. Er ist im anderen Zimmer und ruht sich aus,
denn es kommen viele Menschen hierher... Ich habe schon Angst, daß man zu viel
darüber redet und die Pharisäer kommen und uns stören. Nimm doch noch etwas
Milch. Du mußt sowieso das Pferd fressen lassen... und auch ausruhen. Seine
Flanken haben wie ein schlecht gespanntes Segel geflattert...»
«Nein, die Milch habt ihr selber
nötig. Ihr seid viele.»
«Ja. Aber mit Ausnahme des
Meisters, der so viel redet, daß er davon todmüde und geschwächt ist, und der
Älteren, essen wir, die Kräftigen, alle Dinge die den Zähnen etwas zu tun
geben. Nimm. Es ist Milch von den Schafen, die der Alte hinterlassen hat. Wenn
wir hier sind, bringt die Frau sie uns. Und wenn sie nicht reicht, dann geben
uns auch alle anderen Milch. Sie haben uns gern hier und helfen uns. Und...
sag einmal: waren es viele Synedristen?»
«Oh, beinahe alle, und mit ihnen
kamen noch andere: Sadduzäer, Schriftgelehrte, Pharisäer, Juden höheren
Ranges, einige Herodianer...»
«Und was haben diese Leute in
Bethanien zu suchen gehabt? War Joseph auch dabei? Und Nikodemus, war er da?»
«Nein, die sind einige Tage
früher gekommen. Auch Manaen war schon da. Die letzteren gehörten nicht zu
denen, die den Herrn lieben.»
«Ja, das glaube ich! Es gibt so
wenige im Synedrium, die ihn lieben. Aber was haben sie eigentlich gewollt?»
«Lazarus grüßen... So sagten sie
wenigstens beim Hineingehen...»
«Hm, was für eine eigenartige
Liebe! Sie haben ihn immer gemieden, aus vielerlei Gründen... ! Gut... ! Wir
wollen ihnen glauben... Sind sie lange geblieben?»
«Einige Zeit. Und sie sind
aufgeregt weggegangen. Ich bin kein Hausdiener und habe daher nicht bei Tisch
bedient. Aber die anderen, die drinnen bedient haben, sagen, daß sie mit den
Herrinnen gesprochen haben und Lazarus sehen wollten. Dann ist Elchias zu
Lazarus gegangen und ...»
«Guter Gott... !» murmelt Petrus
in seinen Bart.
«Was hast du gesagt?»
«Nichts, nichts! Erzähle weiter.
Und hat er mit Lazarus gesprochen?»
«Ich glaube schon. Er ist mit
Maria zu ihm gegangen. Aber dann... ich weiß nicht warum, ist Maria ungeduldig
geworden, und die Diener, die in den angrenzenden Zimmern dienstbereit waren,
sagen, daß sie die Besucher wie Hunde fortgejagt hat...»
«Hoch soll sie leben! So ist es
richtig! Und sie haben dich geschickt, um dies zu berichten?»
«Laß mich nicht noch mehr Zeit
verlieren, Simon des Jonas.»
35
«Du hast recht. So komm.»
Petrus führt ihn an eine Tür. Er
klopft an und sagt: «Meister, ein Diener des Lazarus ist hier. Er will mit dir
sprechen.»
«Er soll hereinkommen», sagt
Jesus.
Petrus öffnet die Tür, läßt den
Diener eintreten, macht sie wieder zu und zieht sich dann zurück ans Feuer, um
Verdienste zu erwerben und seine Neugier abzutöten.
Jesus sitzt auf dem Rand seines
Lagers in dem kleinen Raum, in dem gerade Platz für das Bett und den Bewohner
ist. Gewiß war es zuvor eine Vorratskammer, denn an den Wänden sind noch Haken
und Bretter auf Holzpflöcken. Jesus sieht den Diener, der niedergekniet ist,
lächelnd an und grüßt ihn: «Der Friede sei mit dir.» Dann fügt er hinzu: «Was
bringst du mir für Neuigkeiten? Steh auf und sprich.»
«Meine Herrinnen schicken mich,
um dir zu sagen, daß du sofort zu ihnen kommen sollst, denn Lazarus ist sehr
krank, und der Arzt meint, daß er im Sterben liegt. Martha und Maria flehen
dich an und lassen dir durch mich ausrichten: "Komm, denn du allein kannst ihn
gesund machen."»
«Sage ihnen, sie sollen beruhigt
sein. Das ist keine Krankheit, die zum Tod führt, sondern sie gereicht Gott
zur Ehre, auf daß seine Macht in seinem Sohn verherrlicht werde.»
«Aber Lazarus ist schwer krank,
Meister. Sein Fleisch wird brandig, und er kann nichts mehr essen. Ich habe
dem Pferd die Sporen gegeben, um rascher hier zu sein ...»
«Das war nicht nötig. Es ist so,
wie ich sage.»
«Aber wirst du kommen?»
«Ich werde kommen. Sage ihnen,
daß ich kommen werde und daß sie Glauben haben sollen. Daß sie Glauben haben
sollen. Einen bedingungslosen Glauben! Hast du verstanden? Geh. Der Friede sei
mit dir und mit denen, die dich gesandt haben. Ich wiederhole dir: Sie sollen
einen bedingungslosen Glauben haben. Geh!»
Der Diener grüßt und zieht sich
zurück. Petrus eilt ihm entgegen: «Du hast einen kurzen Bericht erstattet. Ich
habe mit einer längeren Unterredung gerechnet...» Er schaut ihn an, lange...
Der brennende Wunsch, etwas zu erfahren, steht ihm im Gesicht geschrieben.
Aber er beherrscht sich...
«Ich gehe. Willst du mir Wasser
für das Pferd geben? Dann breche ich auf.»
«Komm, hier ist Wasser! Wir
können dir einen ganzen Fluß geben, außer unserem Brunnen», und Petrus geht
mit einer Lampe voran und holt das erbetene Wasser.
Sie lassen das Pferd trinken. Der
Diener nimmt die Decke ab und untersucht die Hufeisen, den Gurt, die Zügel und
die Steigbügel. Er erklärt: «Ich bin so schnell geritten. Aber es ist alles in
Ordnung. Leb wohl, Simon Petrus, und bete für uns.»
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Der Diener hält das Pferd am
Zügel und führt es hinaus auf die Straße. Dann setzt er einen Fuß in den
Steigbügel, um sich in den Sattel zu schwingen. Petrus hält ihn zurück, indem
er ihm eine Hand auf den Arm legt und sagt: «Ich will nur eines wissen: Ist es
gefährlich für den Meister, hier zu bleiben? Haben sie gedroht? Wollten sie
von den Schwestern erfahren, wo wir uns aufhalten? Sag es in Gottes Namen!»
«Nein, Simon. Davon war nicht die
Rede. Sie sind wegen Lazarus gekommen... Unter uns haben wir den Verdacht, daß
sie sehen wollten, ob der Meister bei uns ist und ob Lazarus an Aussatz
leidet, denn Martha hat laut geschrien, daß er nicht aussätzig ist, und dann
geweint... Leb wohl, Simon. Der Friede sei mit dir!»
«Und mit dir und deinen
Herrinnen. Gott möge dich auf dem Heimweg begleiten...» Petrus sieht dem
Reiter nach, der bald am Ende des Weges verschwindet, da er es wohl vorzieht,
die vom Mondlicht erhellte Hauptstraße zu nehmen, statt des dunklen Waldwegs
längs des Flusses. Dann schließt er nachdenklich das Tor und kehrt ins Haus
zurück. Er geht zu Jesus, der immer noch auf seinem Bettrand sitzt, die Hände
aufgestützt und in Gedanken versunken. Doch als er Petrus bemerkt, der ihn
fragend anblickt, kehrt er aus seiner Versenkung zurück und lächelt ihm zu.
«Du lächelst, Meister?»
«Ich lächle dir zu, Simon des
Jonas. Setz dich hier an meine Seite. Sind die anderen schon zurück?»
«Nein, Meister. Nicht einmal
Thomas. Er wird jemanden zum Plaudern gefunden haben.»
«Das ist gut.»
«Es ist gut, daß er plaudert und
daß die anderen sich verspäten? Er redet immer zu viel. Er ist immer frohen
Mutes! Und die anderen? Ich bin immer unruhig, bis sie wieder zurück sind. Ich
habe immer Angst.»
«Wovor denn, mein Simon? Vorerst
wird uns nichts Böses zustoßen, glaube mir. Beruhige dich und mache es wie
Thomas, der immer heiter ist. Du dagegen bist seit einiger Zeit sehr traurig.»
«Ich mißtraue jedem, der sagt,
daß er dich liebt. Ich bin schon alt und denke mehr nach als die Jungen. Auch
sie lieben dich, aber sie sind jung und denken nicht so viel nach... Wenn du
mich lieber heiter siehst, dann werde ich es sein... Ich werde mich bemühen,
es zu sein. Aber gib mir wenigstens einen Anlaß, froh zu sein. Sag mir die
Wahrheit, mein Herr, ich bitte dich auf den Knien (und Petrus rutscht
tatsächlich auf die Knie): Was hat dir der Diener des Lazarus erzählt? Suchen
sie dich? Wollen sie dir schaden? Wollen ... ?»
Jesus legt seine Hand auf das
Haupt des Petrus: «Aber nein, Simon! Nichts dergleichen. Er ist gekommen, um
mir zu sagen, daß der Zustand des Lazarus sich sehr verschlechtert hat, und
wir haben nur über Lazarus gesprochen.»
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«Nur? Wirklich nur?»
«Wirklich nur, Simon. Und ich
habe geantwortet, daß sie Glauben haben sollen.»
«Aber die vom Synedrium sind doch
in Bethanien gewesen! Weißt du das?»
«Das ist ganz natürlich. Das Haus
des Lazarus ist ein großes Haus. Und unsere Sitte verlangt diese Ehrung eines
Mächtigen, der im Sterben liegt. Rege dich nicht auf, Simon!»
«Aber glaubst du wirklich, daß
sie dies nicht als Vorwand gebraucht haben, um...»
«Um nachzusehen, ob ich dort bin?
Nun gut, sie haben mich nicht gefunden. Auf, sei nicht so erschrocken, als ob
sie mich schon gefangengenommen hätten. Komm wieder an meine Seite, armer
Simon, der sich absolut nicht davon überzeugen lassen will, daß mir nichts
Böses zustoßen kann bis zu dem von Gott bestimmten Augenblick, und daß mich
dann... nichts mehr vor dem Bösen wird bewahren können...»
Petrus fällt Jesus um den Hals,
verschließt ihm den Mund mit einem Kuß und sagt: «Schweig, schweig! Sag mir
nicht solche Dinge! Ich will sie nicht hören!»
Jesus gelingt es, sich so weit zu
befreien, daß er wenigstens sprechen kann, und er flüstert: «Du willst sie
nicht hören! Das ist der Fehler! Aber ich habe Mitleid mit dir... Höre, Simon.
Da nur du hier gewesen bist, dürfen nur ich und du allein wissen, was
vorgefallen ist. 'Verstehst du mich?»
«Ja, Meister. Ich werde mit
keinem der Gefährten darüber reden!»
«Wie viele Opfer, nicht wahr,
Simon?»
«Opfer? Welche? Hier geht es uns
gut. Wir haben, was wir brauchen.»
«Die Opfer, keine Fragen zu
stellen, nicht zu reden, Judas zu ertragen, weit weg von deinem See zu sein...
Aber alles wird Gott dir vergelten.»
«Oh, wenn du das meinst... !
Anstelle des Sees habe ich den Fluß, und der genügt mir. Für Judas...
entschädigst du mich in vollem Maß... Und was die anderen Dinge betrifft...
Nichtigkeiten, die mir noch dazu helfen, etwas weniger grob und dir ähnlicher
zu werden. Wie glücklich bin ich, hier bei dir sein zu dürfen. In deinen
Armen! Der Palast des Caesar käme mir nicht schöner vor als dieses Haus, wenn
ich immer so in deinen Armen liegen könnte!»
«Was weißt du denn vom Palast des
Caesar? Hast du ihn je gesehen?»
«Nein, und ich werde ihn niemals
sehen. Aber ich lege auch keinen Wert darauf. Ich stelle mir vor, daß er groß,
schön und voll schöner Dinge ist... und voller Unrat. Wie ganz Rom, denke ich.
Ich würde dort nicht hingehen, und selbst wenn man mich mit Gold überhäufen
wollte!»
«Wohin? In den Palast des Caesar
oder nach Rom?»
«An beide Orte! Verflucht seien
sie!»
«Aber gerade weil sie so sind,
müssen sie die Frohe Botschaft hören.»
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«Was willst du in Rom tun?! Es
ist ein großes Bordell! Da ist nichts zu machen, sofern du nicht selbst
hingehst. Dann ja... !»
«Ich werde hingehen. Rom ist das
Haupt der Welt. Wenn Rom erobert ist, ist die ganze Welt erobert.»
«Gehen wir nach Rom? Du läßt dich
zum König ausrufen, dort? Barmherzigkeit und Macht Gottes! Das ist ein
Wunder!»
Petrus ist aufgestanden und steht
mit erhobenen Armen vor Jesus, der lächelt und antwortet: «Ich werde in meinen
Aposteln dorthin gehen. Ihr werdet es für mich erobern. Und ich werde mit euch
sein. Aber drüben ist jemand. Laß uns gehen, Petrus.»
600. BEIM BEGRÄBNIS DES LAZARUS
Die Nachricht vom Tod des Lazarus
muß gewirkt haben wie ein Stöckchen, mit dem man in einem Bienenstock
herumstochert. Ganz Jerusalem spricht davon. Die Vornehmen, die Händler, das
einfache Volk, die Armen, die Bewohner der Stadt und der nahen Ländereien,
Fremde, die auf der Durchreise, aber nicht ortsfremd sind, und solche, die zum
ersten Mal da sind und sich erkundigen, wer der ist, dessen Tod so große
Erregung verursacht; Römer, Legionäre, Verwaltungsangestellte, Leviten und
Priester, alle versammeln und zerstreuen sich fortwährend und rennen da- und
dorthin... Grüppchen von Leuten, die mit den unterschiedlichsten Worten und
Mienen über die Tatsache sprechen. Die einen loben, die anderen weinen, die
einen fühlen sich nun noch ärmer, weil der Wohltäter tot ist, die anderen
jammern: «Nie, niemals mehr werde ich einen so guten Herrn haben.» Einige
zählen seine Verdienste auf, sprechen von seiner Abstammung, seiner
Verwandtschaft, den Pflichten und Würden des Vaters, der Schönheit und dem
Reichtum der Mutter und ihrer Geburt als «Königin», und andere spielen leider
auch auf Familienangelegenheiten an, über die man lieber den Schleier des
Schweigens breiten sollte, besonders, da es sich um einen Toten handelt, der
darunter gelitten hat...
Die verschiedensten Nachrichten
über die Ursache des Todes, den Ort des Begräbnisses und die Abwesenheit des
Messias vom Haus seines guten Freundes und Beschützers gerade in seiner
schwersten Stunde liefern den Grüppchen Redestoff. Und die vorherrschenden
Meinungen sind zwei: Die einen behaupten, dies alles sei so gekommen durch die
feindselige Haltung der Juden, der Synedristen, der Pharisäer und
ihresgleichen gegenüber dem Meister. Die anderen sagen, daß der Meister sich
angesichts dieser wirklich tödlichen Krankheit davongemacht habe, da er hier
mit seinen Betrügereien ganz sicher keinen Erfolg gehabt hätte. Auch ohne
besonderen Scharfsinn ist nicht schwer zu erraten, aus welcher Quelle
39
diese Behauptung kommt, die viele
ärgert und heftig erwidern läßt: «Bist auch du ein Pharisäer? Wenn du einer
bist, dann gib acht, denn in unserer Anwesenheit lästert man den Heiligen
nicht! Verfluchte Vipern, hervorgegangen aus der Verbindung von Hyänen mit dem
Leviathan! Wer zahlt euch dafür, daß ihr den Messias lästert?» Streitereien,
Beleidigungen, auch einige Püffe und gesalzene Schmähungen gegen die
verkommenen Pharisäer und Schriftgelehrten, die stolz wie Götter
vorbeischreiten, ohne das Volk eines Blickes zu würdigen, das für und gegen
sie redet, für und gegen den Meister, so daß es in den Straßen widerhallt. Und
Anschuldigungen! Wie viele Anschuldigungen!
«Der dort sagt, der Meister sei
ein Betrüger. Sicherlich hat er sich einen solchen Bauch zugelegt mit dem Geld
dieser Schlangen, die gerade vorbeigekommen sind.»
«Mit ihrem Geld? Mit unserem
Geld, mußt du sagen! Sie quetschen uns für diese schönen Zwecke aus! Aber wo
ist er denn? Ich möchte sehen, ob er einer von denen ist, die gestern zu mir
gesagt haben...»
«Er ist davongelaufen. Aber,
großer Gott! Wir müssen uns zusammenschließen und handeln. Sie sind zu
schamlos!»
Eine andere Unterhaltung: «Ich
habe dich gehört und ich kenne dich. Ich werde den Zuständigen sagen, wie du
über das Höchste Gericht redest.»
«Ich gehöre Christus, und der
Geifer der Dämonen schadet mir nicht. Du kannst es auch Annas und Kaiphas
sagen, wenn du willst, und möge es dazu dienen, sie gerechter zu machen!»
Und weiter vorn: «Mich klagst du
an, ein Meineidiger und Gotteslästerer zu sein, weil ich dem lebendigen Gott
folge? Du bist der Meineidige und Lästerer, weil du ihn beleidigst und
verfolgst. Ich kenne dich, weißt du! Ich habe dich gesehen und gehört. Spion!
Verkaufter! Lauft und ergreift ihn...» und er fängt an, ihm derartige
Ohrfeigen zu verabreichen, daß das knöcherne, grünliche Gesicht des Juden ganz
rot wird.
«Cornelius, Simeon, schaut, sie
mißhandeln mich ...» sagt ein anderer weiter drüben zu einer Gruppe von
Synedristen.
«Ertrage es für den Glauben und
beschmutze nicht deine Lippen und deine Hände am Vortag eines Sabbat»,
antwortet einer der Angesprochenen, ohne sich auch nur umzudrehen und den
Elenden anzusehen, mit dem das Volk kurzen Prozeß macht...
Die Frauen kreischen und bitten
ihre Ehemänner, zurückzukommen und sich nicht zu kompromittieren.
Die Legionäre patrouillieren die
Straßen, schaffen sich mit ihren Speerschäften Platz und drohen mit Strafen
und Arrest.
Der Tod des Lazarus, das
Hauptereignis, ist die Gelegenheit, sich noch über andere Dinge auszulassen
und die schon lange bestehende innere Spannung abzureagieren.
Die Synedristen, die Ältesten,
die Schriftgelehrten, die Sadduzäer, die
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mächtigen Juden, sie alle gehen
gleichgültig und duckmäuserisch vorüber, als ob alle diese kleinen Ausbrüche
von Haß, von persönlicher Rachsucht und Nervosität nicht auf sie
zurückzuführen wären. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr geraten sie in Wallung
und erhitzen sich die Gemüter.
«Diese hier behaupten, hört nur,
daß Christus die Kranken nicht heilen kann. Ich war aussätzig, und nun bin ich
gesund. Kennt ihr die dort? Ich bin nicht aus Jerusalem, aber ich habe sie in
den letzten zwei Jahren nie bei den Jüngern des Christus gesehen.»
«Die dort? Laß sehen, der in der
Mitte! Dieser elende Schurke! Es ist der, der im vergangenen Monat zu mir
gekommen ist und mir im Namen des Messias Geld angeboten hat. Er sagte, daß
Jesus Männer anwerbe, um sich Palästinas zu bemächtigen. Und nun sagt er...
Aber warum hast du ihn entkommen lassen?»
«Ich habe verstanden! Was für
Gauner! Und beinahe wäre ich auf sie hereingefallen. Mein Schwiegervater hatte
recht. Da kommt Joseph, der Älteste, mit Johannes und Josua. Wir wollen zu
ihnen gehen und sie fragen, ob es wahr ist, daß der Meister ein Heer
aufstellen will. Sie sind gerecht und müssen es wissen!» Eine große Menge
läuft zu den drei Synedristen und stellt ihnen die Frage.
«Geht nach Hause, Männer! Auf der
Straße sündigt man und schadet sich. Fragt nicht so viel. Beunruhigt euch
nicht. Kümmert euch um eure Angelegenheiten und um eure Familien. Hört nicht
auf die, die die Leichtgläubigen aufwiegeln, und laßt euch nicht täuschen. Der
Meister ist ein Lehrer und kein Krieger. Ihr kennt ihn doch. Und was er denkt,
sagt er. Er hätte euch nicht andere Leute geschickt, um euch sagen zu lassen,
daß ihr ihm als Krieger folgen sollt, wenn er dies gewollt hätte. Schadet ihm
und auch euch selbst nicht. Schadet nicht dem Vaterland. Geht nach Hause, ihr
Männer! Nach Hause! Sorgt dafür, daß dem jetzigen Unglück, dem Tod eines
Gerechten, nicht noch mehr Unglück folgt. Geht nach Hause und betet für
Lazarus, der allen nur Gutes getan hat», sagt der von Arimathäa, der vom Volk
offensichtlich sehr geliebt und geachtet wird, da es ihn als Gerechten
erkennt.
Auch Johannes (der ehemals
Eifersüchtige) sagt: «Er ist ein Mann des Friedens, nicht des Krieges. Hört
nicht auf die falschen Jünger. Denkt daran, wie verschieden die anderen waren,
die sich Messias nannten. Erinnert euch, überlegt und vergleicht, und euer
Gerechtigkeitssinn wird euch sagen, daß dieser Aufruf zur Gewalt nicht von ihm
stammen kann. Fort! Nach Hause! Geht zu den Frauen, die weinen, und zu den
Kindern, die sich fürchten. Es steht geschrieben: Wehe den Gewalttätigen und
jenen, die den Streit schüren.»
Eine Gruppe Frauen nähert sich
weinend den drei Synedristen, und eine von ihnen sagt: «Die Schriftgelehrten
haben meinen Mann bedroht. Ich habe Angst. Joseph, sprich du mit ihnen.»
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«Ich werde es tun. Aber dein Mann
muß schweigen können. Glaubt ihr, mit diesem Aufruhr dem Meister zu nützen und
dem Toten Ehre zu erweisen? Ihr irrt euch. Ihr schadet dem einen wie dem
anderen», antwortet Joseph und verläßt sie, um Nikodemus entgegenzugehen, der,
gefolgt von seinen Dienern, aus einer Seitenstraße kommt. «Ich habe nicht
erwartet, dich hier zu sehen, Nikodemus. Ich selbst weiß nicht, wie ich es
geschafft habe. Der Diener des Lazarus kam nach dem Hahnenschrei, um mir von
dem Unglück zu berichten.»
«Zu mir kam er noch später. Ich
bin sofort abgereist. Weißt du, ob der Meister in Bethanien ist?»
«Nein, er ist nicht dort. Mein
Verwalter von Bezetha war um die dritte Stunde dort und sagte mir, er habe ihn
nicht angetroffen.»
«Ich verstehe nicht, weshalb...
Allen hat er ein Wunder geschenkt, und ihm nicht!» ruft Johannes aus.
«Vielleicht, weil er dem Haus
schon mehr geschenkt hat als eine Heilung. Er hat Maria gerettet und dem Haus
Frieden und Ehre wiedergegeben...» sagt Joseph.
«Frieden und Ehre! Das Gute den
Guten... Denn viele haben ihm keine Ehre erwiesen und tun es nicht einmal
jetzt, da Maria... Ihr wißt es nicht... Vor drei Tagen waren Elchias und viele
andere dort... und haben ihm keine Ehre erwiesen. Maria hat sie davongejagt.
Sie erzählten es mir voll Zorn, und ich habe sie reden lassen, um mein Herz
nicht zu entdecken...» sagt Josua.
«Und nun gehen sie zum
Begräbnis?» fragt Nikodemus.
«Sie sind benachrichtigt worden
und haben sich im Tempel zu einer Besprechung eingefunden. Oh, die Diener
haben heute morgen bei Sonnenaufgang viel laufen müssen!»
«Warum haben sie es so eilig mit
dem Begräbnis? Gleich nach der sechsten Stunde!»
«Weil Lazarus schon in Verwesung
übergegangen war, als er starb. Mein Verwalter sagt mir, daß trotz der Harze,
die in den Zimmern verbrannt werden, und trotz der duftenden Essenzen, mit
denen man den Toten besprengt, der Leichengeruch schon an der Tür des Hauses
zu bemerken war. Und außerdem beginnt bei Sonnenuntergang der Sabbat. Es gab
also keine andere Möglichkeit.»
«Du sagst, daß sie sich im Tempel
versammelt haben? Warum?»
«Nun... eigentlich war die
Versammlung schon vorher geplant, um über Lazarus zu sprechen. Sie wollen
behaupten, daß er aussätzig war...»sagt Josua.
«Das niemals. Lazarus hätte sich
als erster in Befolgung des Gesetzes abgesondert», verteidigt Joseph den
Toten. Und er fügt hinzu: «Ich habe mit ihrem Arzt gesprochen. Er hat es
absolut ausgeschlossen. Lazarus litt an faulenden Geschwüren!»
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«Worüber haben sie dann
diskutiert, da Lazarus doch schon gestorben war?» fragt Nikodemus.
«Ob sie zum Begräbnis gehen
sollen oder nicht, nachdem Maria ihnen die Tür gewiesen hat. Die einen
wollten, die anderen nicht. Aber die, die gehen wollten, waren in der
Mehrzahl, und zwar aus drei Gründen. Sie wollten sehen, ob der Meister dort
ist. Dies war der erste Grund, und alle waren damit einverstanden. Sie wollten
auch sehen, ob er ein Wunder wirkt. Das ist der zweite Grund. Und der dritte:
die Erinnerung an die Worte, die der Meister kürzlich am Jordan bei Jericho zu
den Schriftgelehrten sagte», erklärt wiederum Josua.
«Ein Wunder! Welches, wenn er nun
tot ist?» fragt Johannes achselzuckend und schließt mit den Worten: «Immer
dieselben... Sie verlangen das Unmögliche!»
«Der Meister hat schon andere
Tote erweckt», bemerkt Joseph.
«Das ist wahr. Aber wenn er
gewollt hätte, daß er lebt, dann hätte er ihn nicht sterben lassen. Du hast
vorher schon recht gehabt: Sie haben genug erhalten.»
«Ja. Aber Uziel und auch Sadok
haben sich erinnert an eine Herausforderung vor vielen Monaten... Christus
sagte damals, er werde den Beweis erbringen, daß er auch einen schon verwesten
Leib auferstehen lassen könne. Und bei Lazarus ist dies der Fall. Und Sadok,
der Schriftgelehrte, sagt weiter, daß der Rabbi am Jordan von sich aus
behauptet habe, bei Neumond würde sich die Hälfte der Herausforderung
erfüllen. Die von einem Toten, der wieder lebendig wird und weder Krankheit
noch Auflösung mehr kennt. Sie haben gewonnen. Wenn dies geschieht, so sicher
deshalb, weil der Meister da ist. Ferner: wenn dies geschieht, dann gibt es
keinen Zweifel mehr an ihm.»
«Vorausgesetzt, daß es keine
bösen Folgen hat...» murmelt Joseph.
«Böse Folgen? Warum? Die
Schriftgelehrten und Pharisäer werden sich überzeugen ...»
«Oh, Johannes! Bist du denn ein
Fremder, daß du so sprechen kannst? Kennst du deine Mitbürger so schlecht?
Seit wann hat denn die Wahrheit sie zu Heiligen gemacht? Sagt es dir nichts,
daß man in mein Haus keine Einladung zu der Versammlung gebracht hat?»
«Auch in meines nicht. Sie
mißtrauen uns und schließen uns oft aus», sagt Nikodemus. Dann fragt er: «War
Gamaliel dort?»
«Sein Sohn. Er wird auch anstelle
seines Vaters kommen, der etwas krank in Gamala in Judäa ist.»
«Und was hat Simeon gesagt?»
«Nichts. Gar nichts. Er hat nur
zugehört und ist dann fortgegangen. Vor kurzem ist er mit einigen Schülern
seines Vaters auf dem Weg nach Bethanien hier vorbeigekommen.»
Sie sind nun fast am Tor zur
Straße nach Bethanien. Und Johannes ruft
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aus: «Schaut, es ist bewacht!
Warum wohl? Sie halten alle an, die hinausgehen.»
«Es ist Aufruhr in der Stadt...»
«Oh! So groß ist er nicht...»
Sie kommen zum Tor und werden wie
alle anderen angehalten.
«Aus welchem Grund, Soldat? In
der ganzen Antonia kennt man mich. Man kann mir nichts Schlechtes nachsagen.
Ich achte euch und eure Gesetze», sagt Joseph von Arimathäa.
«Befehl des Centurio. Der
Prokurator kommt in die Stadt, und wir wollen wissen, wer zu den Toren
hinausgeht, besonders zu dem, das auf die Straße nach Jericho führt. Wir
kennen dich. Aber wir kennen auch eure Stimmung uns gegenüber. Du und deine
Begleiter, ihr könnt gehen. Und wenn ihr beim Volk etwas zu sagen habt, dann
erklärt ihm, daß es besser ist, sich ruhig zu verhalten. Pontius ändert nicht
gerne seine Gewohnheiten wegen der Unruhe seiner Untergebenen... und er könnte
äußerst streng werden. Dies ist ein guter Rat für dich, der du gut bist.» Sie
gehen weiter...
«Habt ihr gehört? Ich sehe
schwere Tage kommen... Es wird nötiger sein, die anderen zu beraten als das
Volk ...» sagt Joseph.
Die Straße nach Bethanien ist
voller Menschen, die alle ein einziges Ziel haben: Bethanien. Alles Leute, die
zur Beisetzung gehen. Man sieht Synedristen und Pharisäer, Schriftgelehrte und
Sadduzäer, und zwischen diesen Bauern, Diener und Verwalter der verschiedenen
Häuser und Güter, die Lazarus in der Stadt und auf dem Land besitzt. Und je
näher man Bethanien kommt, desto mehr Menschen strömen von allen Seitenwegen
und Sträßchen auf die Hauptstraße.
Da ist nun Bethanien. Bethanien
in Trauer um den vornehmsten seiner Bürger. Alle seine Bewohner haben in ihren
besten Kleidern schon die Häuser verlassen, die nun verschlossen sind, als ob
niemand darin wäre. Aber sie sind noch nicht im Haus des Toten. Die Neugier
hält sie an der Straße vor dem Tor zurück. Sie beobachten, wer von den
Eingeladenen kommt, und tauschen Namen und Eindrücke aus.
«Da ist Nathanael ben Faba. Oh,
der alte Mattathias, der Verwandte des Jakob! Der Sohn des Annas! Schau ihn
dir an dort, zusammen mit Doras, Callascebona und Archelaos. Wie haben die
Galiläer es nur fertiggebracht, rechtzeitig hier zu sein? Alle sind sie da.
Schau: Eli, Jochanan, Ismael, Urias, Joachim, Elias, Joseph... Der alte
Chananias mit Sadok und den Sadduzäern Zacharias und Jochanan. Auch Simeon,
der Sohn des Gamaliel, ist da. Allein. Aber der Rabbi fehlt. Dort sind Elchias
und Nahum, Felix und der Schriftgelehrte Annas, Zacharias und Jonathan des
Uriel! Saul und Eleazar, Tryphon und Joazar. Die sind gut! Auch einer der
Söhne des Annas. Der Jüngste. Er spricht mit Simon Camit. Und dort Philippus
mit Johannes, dem Antipatriden, Alexander, Isaak
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und Jonas des Babaon. Und Sadok.
Judas, der Nachkomme der Asidäer. Und die Verwalter der verschiedenen Paläste.
Ich sehe aber die treuen Freunde nicht. Wie viele Leute!»
Wirklich, viele Leute! Alle in
würdevoller Haltung, teils mit einem den Umständen angepaßten
Gesichtsausdruck, teils mit dem Ausdruck echten Schmerzes in den Zügen. Das
weit offenstehende Tor verschluckt sie alle. Und ich sehe alle wieder, die ich
bei anderen Gelegenheiten wohlwollend oder feindlich gesinnt in der Umgebung
des Meisters gesehen habe. Alle, außer Gamaliel und dem Synedristen Simon.
Aber ich sehe auch andere, die ich noch nie gesehen habe, oder die ich
vielleicht bei Streitgesprächen über Jesus gesehen habe, ohne ihre Namen zu
kennen... Rabbis mit ihren Schülern kommen vorbei und Schriftgelehrte in
geschlossenen Gruppen. Es kommen Juden, deren Reichtümer aufgezählt werden...
Der Garten ist voller Menschen, die, nachdem sie den Schwestern ihre
Anteilnahme ausgesprochen haben (diese sitzen, wohl nach dortigem Brauch,
unter dem Portikus, also außerhalb des Hauses), sich in einem Kaleidoskop von
Farben im Garten ergehen, wo das Begrüßen kein Ende nimmt.
Martha und Maria sind erschöpft.
Sie halten sich an der Hand wie zwei Mädchen, die erschrocken sind über die
Leere, die nun im Haus herrscht, über das Nichts, das ihren Tag füllt, seit
Lazarus nicht mehr ihrer Pflege bedarf. Sie hören die Worte der Besucher an,
weinen mit den wahren Freunden, mit den treuen Untergebenen, verneigen sich
vor den kalten, stolzen, steifen Synedristen, die eher gekommen sind, um sich
in Szene zu setzen, als um den Verstorbenen zu ehren, und antworten allen, die
nach den letzten Augenblicken des Lazarus fragen, mit denselben müden Worten,
die sie nun schon zum hundertsten Mal wiederholen müssen.
Joseph und Nikodemus, die
treuesten Freunde, stellen sich an die Seite der Schwestern, mit wenigen
Worten, aber einer Freundschaft, die mehr zu trösten vermag als Worte es
können.
Elchias kommt wieder mit den
Unversöhnlichsten, mit denen er lange gesprochen hat, und fragt: «Könnten wir
den Toten nicht sehen?»
Martha fährt sich verzweifelt mit
der Hand über die Stirn und fragt: «Seit wann ist so etwas Brauch in Israel?
Er ist schon vorbereitet...» und langsam rinnen Tränen über ihr Gesicht.
«Es ist nicht Sitte, das ist
wahr. Aber wir wünschen es. Die treuesten Freunde haben wohl das Recht, ein
letztes Mal das Antlitz des Freundes zu sehen.»
«Auch wir Schwestern hätten ein
Recht darauf gehabt. Aber es war notwendig, ihn sofort einzubalsamieren... Und
als wir in das Zimmer des Lazarus zurückgekehrt sind, haben wir selbst nur die
eingewickelte Gestalt gesehen.»
«Ihr hättet klare Anweisungen
geben sollen. Könntet ihr nicht das Schweißtuch von seinem Antlitz entfernen?»
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«Oh, er ist schon verwest ... Und
die Stunde des Begräbnisses ist gekommen.»
Joseph vermittelt: «Elchias, mir
scheint, daß wir hier aus einem Übermaß an Liebe Schmerz bereiten. Lassen wir
die Schwestern in Frieden...»
Simeon, der Sohn des Gamaliel,
kommt näher und verhindert so die Antwort des Elchias: «Mein Vater wird
kommen, sobald er kann. Ich vertrete ihn. Er hat Lazarus sehr geschätzt. Und
ich ebenso.»
Martha verneigt sich und
antwortet: «Gott möge dem Rabbi die Ehre vergelten, die er unserem Bruder
erwiesen hat.»
Da der Sohn des Gamaliel gekommen
ist, entfernt sich Elchias ohne weiter zu drängen. Er diskutiert mit den
anderen, die ihn darauf aufmerksam machen: «Riechst du nicht den Gestank? Und
du hast noch Zweifel? Wir werden ja sehen, ob sie das Grab verschließen. Ohne
Luft kann man nicht leben.»
Eine weitere Gruppe von
Pharisäern nähert sich den beiden Schwestern. Sie sind fast alle aus Galiläa.
Martha kann, nachdem sie die Beileidsbezeugungen entgegengenommen hat, nicht
umhin, ihr Erstaunen über ihre Anwesenheit zu bekunden.
«Frau, das Synedrium hat sich zu
einer Versammlung von größter Wichtigkeit zusammengefunden, daher sind wir in
der Stadt», erklärt Simon von Kapharnaum und betrachtet Maria, an deren
Bekehrung er sich zweifellos erinnert. Doch er beschränkt sich darauf, sie
anzustarren.
Nun kommen Jochanan, Doras, der
Sohn des Doras, Ismael, Chananias, Sadok und andere, die ich nicht kenne. Ihre
Wolfsgesichter sagen alles, noch bevor sie den Mund aufmachen. Aber sie
warten, bis Joseph und Nikodemus sich entfernt haben, um mit drei Juden zu
reden, und schlagen dann zu.
Es ist der alte Chananias, der
den Schwestern mit seiner glucksenden Greisenstimme den ersten Dolchstoß
versetzt: «Was sagst du dazu, Maria? Euer Meister ist der einzige von den
vielen Freunden deines Bruders, der nicht hier ist. Seltsame Freundschaft!
Viel Liebe, solange es Lazarus gut ging. Und Gleichgültigkeit, als die Zeit
gekommen war, ihm Liebe zu erweisen! Für alle wirkt er Wunder. Aber hier
geschieht kein Wunder. Was sagst du zu so etwas, Frau? Er hat dich sehr
getäuscht, dieser schöne galiläische Meister. Ha, ha, ha! Hatte er nicht zu
dir gesagt, du solltest hoffen wider alle Hoffnung? Hast du also nicht
gehofft? Oder hat es keinen Sinn, auf ihn zu hoffen? Du hast auf das Leben
gehofft, hast du gesagt. Ja... er nennt sich das "Leben". Ha, ha, ha! Aber da
drinnen ist dein toter Bruder, und der Schlund des Grabes hat sich schon
geöffnet. Und der Rabbi ist nicht da. Ha, ha, ha!»
«Er gibt den Tod, nicht das
Leben», sagt Doras grinsend.
Martha verbirgt das Gesicht in
den Händen und weint. Dies ist wahrhaftig die Wirklichkeit. Ihre Hoffnung ist
enttäuscht worden. Der Rabbi
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ist nicht da. Er ist nicht einmal
gekommen, um sie zu trösten. Und er könnte doch jetzt schon hier sein. Martha
weint. Sie kann nur weinen.
Auch Maria weint. Auch sie hat
die Wirklichkeit vor Augen. Sie hat geglaubt und gehofft über alle Hoffnung
hinaus... Aber nichts hat sich ereignet, und die Diener haben den Stein von
der Öffnung des Grabes entfernt, da die Sonne am Untergehen ist. Die Sonne
geht im Winter schnell unter, und es ist Freitag, und alles muß rechtzeitig
fertig sein, damit die Gäste nicht das Gesetz des Sabbats übertreten müssen,
der bald beginnt. Sie hat so sehr gehofft, beständig gehofft, zu sehr gehofft.
Sie hat ihre Kraft zu hoffen verbraucht, und nun ist sie enttäuscht.
Chananias gibt nicht nach: «Du
antwortest mir nicht? Bist du nun davon überzeugt, daß er ein Schwindler ist,
der euch ausgenützt und verhöhnt hat? Arme Frauen!» Und er schüttelt den Kopf.
Die anderen tun es ihm nach und sagen ebenfalls: «Arme Frauen!»
Maximinus kommt herbei: «Es ist
Zeit. Gebt die Anweisungen. Ihr müßt es tun.»
Martha sinkt zu Boden. Man eilt
ihr zu Hilfe, und viele Arme tragen sie fort unter dem Wehklagen der
Bediensteten, die verstanden haben, daß die Stunde der Beisetzung gekommen ist
und sie die Totenklage anstimmen müssen.
Maria ringt die Hände und
bettelt: «Noch eine kleine Weile! Noch eine kleine Weile! Schickt Diener auf
die Straße nach Ensemes und zum Brunnen, auf alle Wege. Diener zu Pferd. Sie
sollen schauen, ob er kommt...»
«Du Unglückselige, hoffst du denn
immer noch? Was braucht es noch, um dich zu überzeugen, daß er euch verraten
und enttäuscht hat? Gehaßt hat er euch und verspottet...»
Das ist zuviel! Mit tränennassem
Gesicht, gequält und dennoch treu, erklärt Maria im Halbkreis der Gäste, die
sich versammelt haben und auf das Erscheinen des Leichnams warten: «Wenn Jesus
von Nazareth so handelt, dann ist es gut, und seine Liebe zu uns allen in
Bethanien ist groß. Alles zur Ehre Gottes und zu seiner Ehre! Er hat gesagt,
daß dies zur Ehre des Herrn gereichen wird, denn die Macht seines Wortes wird
vollkommen erstrahlen. Tue deine Pflicht, Maximinus. Das Grab ist kein
Hindernis für die Macht Gottes ...»
Sie geht zur Seite, gestützt von
Noemi, die herbeigeeilt ist, und gibt ein Zeichen... Der Leichnam wird in
seinen Binden aus dem Haus getragen, zwischen zwei Reihen von Menschen
hindurch, die laut zu klagen beginnen. Maria möchte ihm folgen, doch sie
wankt. Sie schließt sich an, als schon alle auf dem Weg zum Grab sind. Und sie
kommt gerade rechtzeitig dort an, um die lange, reglose Gestalt im Dunkel des
Grabes verschwinden zu sehen. Die von den Dienern in die Höhe gehaltenen
Fackeln, die die Stufen für die Träger beleuchten, die mit dem Toten
hinuntersteigen, tauchen alles in rötliches Licht. Denn das Grab des Lazarus
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ist unter der Erde, vielleicht,
um die unterirdischen Gänge im Fels auszunützen.
Maria schreit ... Sie ist am
Zusammenbrechen... Sie schreit ... und mit dem Namen des Bruders auch den
Namen Jesu. Es ist, als würde man ihr das Herz aus der Brust reißen. Aber sie
ruft nur diese beiden Namen und wiederholt sie, bis das dumpfe Geräusch des
Steines, mit dem man das Grab verschließt, ihr sagt, daß nun nicht einmal mehr
der Leib des Lazarus auf Erden weilt. Dann erst gibt sie auf und verliert das
Bewußtsein. Sie fällt auf die, die sie stützen, und flüstert noch einmal,
während sie in Bewußtlosigkeit versinkt: «Jesus, Jesus!» Man trägt sie fort.
Maximinus bleibt, um die Gäste zu
verabschieden und ihnen im Namen der ganzen Verwandtschaft zu danken; um sich
ihre Versicherungen anzuhören, daß sie täglich zur Beileidsbezeugung
wiederkommen werden...
Langsam wird der Garten leerer.
Die letzten, die gehen, sind Joseph, Nikodemus, Eleazar, Johannes, Joachim und
Josua. Am Tor treffen sie Sadok und Uriel, die gehässig lachen und sagen:
«Seine Herausforderung! Und wir haben sie gefürchtet!»
«Oh, es besteht kein Zweifel, daß
er tot ist. Wie er gestunken hat, trotz der Essenzen. Es gibt keinen Grund zu
zweifeln. Es war nicht nötig, das Schweißtuch zu entfernen. Ich glaube, er ist
schon voller Würmer.» Sie sind glücklich.
Joseph schaut sie an, mit so
strengem Blick, daß ihre Worte und ihr Gelächter verstummen.
Alle beeilen sich, zurück nach
Hause zu kommen, um vor dem Ende des Sonnenunterganges in der Stadt zu sein.
601. «LASST UNS ZU UNSEREM FREUND
LAZARUS GEHEN, DER SCHLÄFT»
Das Licht im Hausgärtchen des
Salomon ist schon sehr schwach, und die Umrisse der Bäume und der Häuser auf
der gegenüberliegenden Straßenseite und besonders am Ende der Straße, dort, wo
diese an der Flußböschung verschwindet, verwischen sich immer stärker und
verschmelzen mit den mehr oder weniger dunklen Schatten der stetig
voranschreitenden Abenddämmerung. Die Dinge auf Erden sind jetzt mehr Laute
als Farben. Kinderstimmen dringen aus den Häusern, Mütter rufen ihre Kleinen,
Männer treiben ihre Schafe oder Esel an, ein letztes Quietschen des
Brunnenrades, das Rauschen der Blätter im Abendwind und das Knacken der
trockenen Äste im Wald, als ob man Hölzchen zusammenschlagen würde. In der
Höhe flimmern noch unsicher die ersten Sterne, denn ein schwacher Widerschein
des Lichtes ist geblieben,
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und der Mond beginnt schon mit
seinem phosphoreszierenden Schimmer den Himmel zu erhellen.
«Alles übrige könnt ihr morgen
sagen. Nun ist es genug. Es ist Nacht. Geht alle nach Hause. Der Friede sei
mit euch. Der Friede sei mit euch. Ja... ja... Morgen! Wie? Was sagst du? Du
hast Bedenken? Schlafe bis morgen, und wenn sie dich dann immer noch quälen,
kannst du ja wiederkommen. Das wäre noch schöner! Auch noch Bedenken, um ihn
noch mehr zu ermüden! Und diese Geldgierigen da! Und die Schwiegermütter, die
vernünftigere Schwiegertöchter wollen, und die Schwiegertöchter, die weniger
sauertöpfische Schwiegermütter möchten, während sowohl die einen wie auch die
anderen es verdienen würden, daß man ihnen die Zunge ausreißt! Was gibt es
noch? Du? Was hast du gesagt? Oh, das schon, du armer Kerl! Johannes, führe
diesen Knaben zum Meister. Seine Mutter ist krank, und sie schickt ihn, um
Jesus zu bitten, daß er für sie betet. Armes Kind. Es ist immer zurückgedrängt
worden, weil es noch so klein ist. Und es kommt von weit her. Wie wird es nun
nach Hause zurückkommen? Hallo! Ihr alle, anstatt hier herumzustehen und euch
am Meister zu erfreuen, könntet ihr nicht in die Tat umsetzen, was er euch
gesagt hat: daß ihr euch gegenseitig helfen sollt und daß die Stärkeren den
Schwächeren behilflich sein sollen? Auf, wer bringt den Knaben nach Hause? Er
könnte, was Gott verhüten möge, seine Mutter tot vorfinden... Aber er soll sie
wenigstens noch einmal sehen. Esel habt ihr ja... Es ist schon Nacht, sagt
ihr? Was gibt es Schöneres als die Nacht? Ich habe jahrelang beim Schein der
Sterne geschuftet und bin gesund und kräftig. Du willst den Jungen nach Hause
bringen? Gott segne dich, Ruben. Hier ist das Kind. Hat dich der Meister
getröstet? Ja? Dann geh und freue dich. Aber man wird ihm zu essen geben
müssen. Vielleicht hat er seit heute morgen nichts mehr gegessen!»
«Der Meister hat ihm heiße Milch,
Brot und Obst gegeben. Er hat sie unter der Tunika», sagt Johannes.
«Dann geh mit diesem Mann. Er
bringt dich auf seinem Esel nach Hause.»
Endlich sind die Leute alle
weggegangen, und Petrus kann sich mit Jakobus, Judas, dem anderen Jakobus und
Thomas ausruhen, die ihm geholfen haben, die Hartnäckigsten nach Hause zu
schicken.
«Wir wollen zuschließen. Sonst
überlegt es sich einer wieder anders und kommt zurück, wie die beiden dort.
Auweh! Der Tag nach dem Sabbat ist ganz schön anstrengend!» sagt Petrus noch,
während er die Küche betritt und die Türe schließt. «So, nun haben wir Ruhe.»
Er blickt Jesus an, der am Tisch sitzt, einen Ellbogen aufgestützt und das
Haupt in der Hand, nachdenklich, abwesend. Petrus geht zu ihm, legt ihm die
Hand auf die Schulter und sagt: «Du bist müde, nicht? So viele Menschen! Von
überall her kommen sie, trotz der Jahreszeit.»
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«Man könnte meinen, sie hätten
Angst, uns bald zu verlieren», bemerkt Andreas, der gerade dabei ist, Fische
auszunehmen. Die anderen sind damit beschäftigt, das Feuer zu schüren, auf dem
die Fische geröstet werden sollen, oder in einem großen Kessel umzurühren, in
dem Zichorie kocht. Ihre Schatten bewegen sich an der dunklen Wand, die mehr
vom Feuer als von der Lampe erhellt wird.
Petrus sucht nach einer Tasse, um
Jesus, der sehr müde zu sein scheint, Milch zu geben. Aber er findet die Milch
nicht und zieht die anderen zur Rechenschaft.
«Das Kind hat die letzte Milch
getrunken. Das übrige bekamen der alte Bettler und die Frau des kranken
Mannes», erklärt Bartholomäus.
«Und der Meister ist leer
ausgegangen! Ihr hättet nicht alles weggeben dürfen.»
«Er selbst hat es so gewollt ...»
«Oh, er möchte es immer so. Aber
man darf ihn nicht machen lassen. Er gibt die Kleider weg, er gibt seine Milch
her, er gibt sich selber hin und verzehrt sich...» Petrus ist unzufrieden.
«Schon gut, Petrus! Geben ist
seliger als nehmen», sagt Jesus ruhig und kehrt aus seiner Geistesabwesenheit
zurück.
«Ja, und du gibst und gibst und
verbrauchst dich. Und je großzügiger du dich zeigst, desto mehr wirst du von
den Menschen ausgenützt.» Nebenbei fegt Petrus mit dürren Blättern, die einen
Duft von bitteren Mandeln und Chrysanthemen ausströmen, den Tisch, um ihn zu
säubern und dann Brot und Wasser daraufzustellen. Dann stellt er einen Becher
vor Jesus.
Jesus gießt sich sofort zu
trinken ein, als ob er großen Durst hätte. Petrus stellt noch einen Becher auf
die andere Seite des Tisches, neben einen Teller mit Oliven und wildem
Fenchel. Er fügt auch eine Schüssel Salat hinzu, den Philippus schon angemacht
hat, und holt mit den anderen einfache Hocker herbei, zusätzlich zu den vier
Stühlen in der Küche, die zu wenig sind für dreizehn Personen. Andreas, der
auf den über der Glut röstenden Fisch achtgegeben hat, legt diesen nun auf
einen Teller und bringt ihn zusammen mit einigen Broten zum Tisch. Johannes
holt die Lampe von ihrem Platz und stellt sie ebenfalls mitten darauf.
Während alle sich zu Tisch
begeben, um das Abendessen einzunehmen, erhebt sich Jesus, betet mit lauter
Stimme, opfert das Brot und segnet die Mahlzeit. Dann nimmt auch er wie die
übrigen Platz und verteilt Brot und Fisch; d.h., er legt den Fisch auf die
großen, flachen, teils frischen, teils schon altbackenen Brote, die jeder vor
sich liegen hat. Dann nehmen die Apostel Salat und benützen dazu die
Holzgabel, die in der Schüssel steckt. Auch für das Gemüse dient die
Brotscheibe als Teller. Nur Jesus hat einen großen, etwas verbeulten
Metallteller vor sich und zerlegt darauf den Fisch, von dem er bald dem einen,
bald dem anderen einen
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köstlichen Bissen gibt. Er
gleicht einem Vater inmitten seiner Söhne, wenngleich Nathanael, Simon der
Zelote und Philippus seine Väter und Matthäus und Petrus seine älteren Brüder
sein könnten.
Sie essen und reden über die
Vorkommnisse des Tages, und Johannes muß herzlich lachen über die Entrüstung
des Petrus über einen Hirten aus den Bergen von Galaad. Dieser hatte verlangt,
daß Jesus zu seiner Herde hinaufsteigt und sie segnet, damit er viel Geld mit
ihr verdienen und seiner Tochter eine beträchtliche Mitgift geben kann.
«Da gibt es nichts zu lachen.
Solange er noch sagte: "Ich habe kranke Schafe, und wenn sie eingehen, bin ich
ruiniert" ' hat er mir leid getan. Das wäre genauso, wie wenn wir Fischer den
Holzwurm im Boot hätten. Dann könnte man nicht mehr fischen und hätte nichts
zu essen. Und alle haben ein Recht auf Nahrung. Aber als er dann sagte: "Ich
will gesunde Schafe, damit ich reich werde und vor dem ganzen Dorf prahlen
kann mit der Aussteuer, die meine Esther bekommt, und mit dem Haus, das ich
mir bauen werde", da hat mich die Wut gepackt, und ich habe ihm gesagt:
"Deswegen hast du einen so weiten Weg zurückgelegt? Liegt dir nichts anderes
am Herzen als die Mitgift, der Reichtum und die Schafe? Hast du denn keine
Seele?" Darauf hat er geantwortet: "Für die bleibt noch genug Zeit. Jetzt sind
die Schafe und die Hochzeit wichtiger, denn er ist eine gute Partie, und
Esther fängt an, alt zu werden." Wenn ich mir nicht die Lehre Jesu vor Augen
gehalten hätte, daß man mit allen barmherzig sein soll, wäre es dem Mann gewiß
schlecht ergangen! Aber ich habe mit ihm geredet, daß ihm Hören und Sehen
verging...»
«Und es hat ausgesehen, als ob du
nicht mehr aufhören wolltest. Du warst ganz außer Atem und deine Halsadern
waren dick angeschwollen», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Der Schäfer war schon lange
weggegangen, da hast du immer noch gepredigt. Und dann sagst du, du könntest
nicht vor den Leuten reden!»fügt Thomas hinzu. Und er umarmt ihn mit den
Worten: «Armer Simon, wie sehr bist du in Zorn geraten!»
«Hatte ich vielleicht nicht
recht? Was ist der Meister? Der Glücksbringer für alle Dummköpfe Israels? Der
Brautwerber für Heiratslustige?»
«Rege dich nicht auf, Simon. Der
Fisch könnte dir schlecht bekommen, wenn du ihn zusammen mit dem Gift
verschluckst», neckt ihn Matthäus gutmütig.
«Du hast recht. Ich spüre in
allem den Geschmack, den die Gastmähler in den Häusern der Pharisäer haben,
wenn ich Brot mit Angst und Fleisch mit Zorn esse.»
Alle lachen. Jesus lächelt und
schweigt.
Die Mahlzeit ist beendet. Satt
und zufrieden sitzen sie in der wohltuenden Wärme um den Tisch herum und
werden müde. Sie reden immer
51
weniger, und einige dösen vor
sich hin. Thomas vergnügt sich damit, einen Blütenzweig mit dem Messer in die
Tischplatte zu ritzen.
Die Stimme Jesu rüttelt sie auf.
Er erhebt seine bisher verschränkten Arme von der Tischkante, breitet sie aus
wie der Priester beim «Dominus vobiscum», und sagt: «Und doch müssen wir
gehen.»
«Wohin, Meister? Zu dem mit den
Schafen?» fragt Petrus.
«Nein, Simon. Zu Lazarus. Wir
kehren nach Judäa zurück.»
«Meister, vergiß nicht, daß die
Juden dich hassen!» meint Petrus.
«Es ist nicht lange her, daß sie
dich sogar steinigen wollten!» sagt Jakobus des Alphäus.
«Aber Meister, das ist
unvorsichtig!» meint Matthäus.
«Denkst du nicht an uns?» fragt
Iskariot.
«Oh, Meister und mein Bruder, ich
beschwöre dich im Namen deiner Mutter und auch im Namen der Gottheit, die in
dir wohnt: laß nicht zu, daß die Teufel sich deiner bemächtigen und dein Wort
ersticken. Du bist allein, zu sehr allein gegen eine ganze Welt, die dich haßt
und hier auf Erden mächtig ist», sagt Thaddäus.
«Meister, schütze dein Leben! Was
würde aus mir, aus uns allen werden, wenn wir dich nicht mehr hätten?»
Johannes schaut ihn mit den weit aufgerissenen Augen eines erschrockenen und
traurigen Kindes an.
Petrus hat sich nach dem ersten
Ausruf umgedreht und redet aufgeregt mit den Älteren und mit Thomas und
Jakobus des Zebedäus. Alle sind der Meinung, daß Jesus nicht in die Umgebung
Jerusalems zurückkehren darf; wenigstens nicht, bevor die Osterzeit einen
Aufenthalt dort sicherer macht, da die Anwesenheit einer großen Anzahl von
Jüngern, die zum Fest aus allen Teilen Palästinas kommen, einen Schutz für den
Meister darstellt. Keiner von denen, die ihn hassen, wird es wagen, ihn
anzurühren, wenn ein ganzes Volk ihn mit seiner Liebe umgibt... Und sie sagen
es ihm, besorgt und beinahe rechthaberisch... Die Liebe läßt sie so sprechen.
«Ruhe! Friede! Hat denn der Tag
nicht zwölf Stunden? Wenn einer am Tag wandert, strauchelt er nicht, denn er
sieht das Licht dieser Welt. Wandert er aber in der Nacht, dann strauchelt er,
denn er sieht nichts. Ich weiß, was ich tue, denn das Licht ist in mir. Laßt
euch führen von dem, der sieht. Und außerdem müßt ihr wissen, daß, solange die
Stunde der Finsternis nicht gekommen ist, nichts Finsteres geschehen kann.
Wenn dann die Stunde gekommen ist, werden keine Entfernung und keine Macht,
nicht einmal die Heere des Caesar, mich vor den Juden erretten können. Denn
was geschrieben steht, muß sich erfüllen, und die Mächte des Bösen arbeiten
schon im verborgenen, um ihr Werk zu vollbringen. Daher laßt mich wirken...
und Gutes tun, solange ich frei bin, es zu tun. Die Stunde wird kommen, da ich
keinen Finger mehr rühren und kein Wort mehr sprechen kann, um Wunder zu
wirken. Meine Kraft wird die Welt verlassen. Eine schreckliche Stunde der
Strafe für den Menschen wird es sein. Nicht
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für mich. Für den Menschen, der
mich nicht lieben wollte. Eine Stunde, die sich wiederholen wird durch den
Willen des Menschen, der die Gottheit so weit von sich gewiesen hat, daß aus
ihm ein von Gott Verlassener, ein Anhänger Satans und seines verfluchten
Sohnes geworden ist. 1) Eine Stunde, die kommen wird, wenn das Ende der Welt
bevorsteht. Der herrschende Unglaube wird meine Wunderkraft versiegen lassen.
Nicht, weil ich sie verlieren könnte, sondern weil das Wunder dort nicht
gewährt werden kann, wo kein Glaube und kein Wille, es zu erlangen, vorhanden
ist; dort, wo man das Wunder zum Gegenstand des Spottes und zum Werkzeug des
Bösen machen und das erhaltene Gute dazu verwenden würde, noch größeres Unheil
anzurichten. Noch kann ich Wunder wirken, und ich werde sie wirken zur höheren
Ehre Gottes. Gehen wir also zu unserem Freund Lazarus, der schläft. Gehen wir,
ihn aus diesem Schlaf zu erwecken, damit er wieder gesund und imstande sei,
seinem Meister zu dienen.»
«Nun, wenn er schläft, ist es ja
gut. Dann wird er gesund werden. Der Schlaf selbst ist schon ein Heilmittel.
Warum ihn aufwecken?» fragen sie.
«Lazarus ist tot. Ich habe
gewartet, bis er tot ist, um nach Bethanien zu gehen; nicht seiner Schwestern
und seinetwegen, sondern euretwegen, damit ihr glaubt. Damit ihr im Glauben
wachst. Gehen wir zu Lazarus.»
«Nun gut! Gehen wir also! So
werden wir alle sterben, wie er gestorben ist und wie du sterben willst», sagt
Thomas im Ton eines resignierten Fatalisten.
«Thomas, Thomas, und ihr alle,
die ihr in eurem Inneren murrt und kritisiert! Wißt, wer mir nachfolgen will,
darf sich um sein Leben nicht mehr sorgen, als der Vogel sich um die
vorüberziehende Wolke sorgt. Er muß sie vorüberziehen lassen, wie auch immer
der Wind wehen mag. Der Wind ist der Wille Gottes, der euch das Leben nach
Gefallen geben oder nehmen kann, und ihr sollt euch nicht bekümmern, wie auch
der Vogel sich nicht um die vorüberziehende Wolke kümmert, sondern fortfährt
zu singen in der Gewißheit, daß der Himmel sich wieder aufheitern wird. Denn
die Wolke ist ein Zwischenfall, der Himmel aber ist die Wirklichkeit. Der
Himmel bleibt immer blau, auch wenn ihn die Wolken mit Grau zu überziehen
scheinen. Er ist und bleibt blau über den Wolken. Und so ist es auch mit dem
wahren Leben. Es ist und bleibt bestehen, auch wenn das menschliche Leben
aufhört. Wer mir nachfolgen will, darf keine Angst vor dem Leben und um sein
Leben haben. Ich werde euch zeigen, wie man den Himmel erobert. Aber wie könnt
ihr mich nachahmen, wenn ihr Angst habt, mit nach Judäa zu kommen, ihr, denen
vorerst nichts Böses angetan werden wird? Fürchtet ihr euch, mit mir gesehen
zu werden? Ihr seid frei,
1) Gemeint ist der Sohn des
Verderbens, der Lügenprophet, der Antichrist, der falsche Messias.
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mich zu verlassen. Aber wenn ihr
bleiben wollt, dann müßt ihr lernen, der Welt mit ihrer Kritik, ihrer Bosheit,
ihrem Spott und ihrem Leiden zu trotzen, um mein Reich zu erobern. Wir werden
also gehen und Lazarus, der schon seit zwei Tagen im Grab ruht, dem Tod
entreißen. Denn er ist am gleichen Abend gestorben, an dem der Diener aus
Bethanien hierher kam. Morgen um die sechste Stunde, nachdem wir alle
entlassen haben, die auf das Morgen warten, um von mir Hilfe und Belohnung für
ihren Glauben zu erhalten, werden wir von hier fortgehen, den Fluß überqueren
und im Haus der Nike übernachten. Bei Sonnenaufgang brechen wir dann auf und
gehen auf der Straße über Ensemes nach Bethanien. Vor der sechsten Stunde
werden wir in Bethanien sein. Viel Volk wird dort sein. Und die Herzen werden
erschüttert werden. Ich habe es versprochen und ich halte mein Versprechen...»
«Wem hast du es versprochen,
Herr?» fragt Jakobus des Alphäus beinahe ängstlich.
«Denen, die mich hassen, und
denen, die mich lieben... Beiden auf unwiderrufliche Weise. Erinnert ihr euch
nicht mehr an den Streit mit den Schriftgelehrten in Kedes? Sie nannten mich
noch immer einen Betrüger, weil ich nur ein eben verstorbenes Mädchen und
einen seit einem Tag toten Mann erweckt hatte. Sie sagten: "Bisher hast du
noch keinen in Verwesung übergegangenen Menschen wieder lebendig gemacht."
Tatsächlich kann nur Gott aus Staub einen Menschen bilden und aus der
Verwesung einen gesunden, lebendigen Körper. Nun, ich werde es tun. Im Monat
Kislew, am Ufer des Jordan, habe ich selbst die Schriftgelehrten an diese
Herausforderung erinnert und gesagt: "Beim neuen Mond wird es sich erfüllen."
Dies für jene, die mich hassen. Den Schwestern jedoch, die mich bedingungslos
lieben, habe ich versprochen, ihren Glauben zu belohnen, wenn sie trotz der
scheinbaren Hoffnungslosigkeit weiter hoffen. Ich habe sie schwer geprüft und
sehr betrübt, und ich allein weiß um die Leiden ihrer Herzen in diesen Tagen
und um ihre vollkommene Liebe. Wahrlich, ich sage euch, sie verdienen eine
große Belohnung, denn mehr noch als den Bruder nicht auferweckt zu sehen,
fürchten sie, daß ich verspottet werden könnte. Ich kam euch abwesend, müde
und traurig vor. Ich war bei ihnen im Geist, und ich hörte ihre Klagen und
zählte ihre Tränen. Arme Schwestern! Nun brenne ich darauf, der Welt einen
Gerechten, den Schwestern einen Bruder und den Jüngern einen Jünger
wiederzugeben. Du weinst, Simon? Ja, du und ich, wir sind die besten Freunde
des Lazarus, und deine Tränen drücken den Schmerz Marthas und Marias und den
Todeskampf des Freundes aus, aber auch die Freude, ihn bald unserer Liebe
zurückgegeben zu wissen. Stehen wir auf, packen wir die Reisesäcke und gehen
wir dann zur Ruhe, damit wir morgen bei Sonnenaufgang wach sind und hier alles
aufräumen können... da eine Rückkehr nicht gewiß ist. Wir müssen an die Armen
verteilen, was wir haben, und
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den Eifrigsten sagen, daß sie die
Pilger davon abhalten sollen, mich zu suchen, bevor ich nicht an einem anderen
sicheren Ort bin. Sie sollen auch die Jünger benachrichtigen, daß sie mich bei
Lazarus finden können. So viel ist zu tun. Und all dies muß getan sein, bevor
die Pilger kommen... Auf, löscht das Feuer und zündet die Lampen an. Jeder
soll tun, was er zu tun hat, und dann zur Ruhe gehen. Der Friede sei mit euch
allen.» Jesus erhebt sich, segnet sie und zieht sich in seine Kammer zurück...
«Er ist schon seit mehreren Tagen
tot!» sagt der Zelote.
«Das wird ein Wunder sein!» ruft
Thomas aus.
«Ich möchte sehen, was sie dann
erfinden werden, um an ihm zu zweifeln!» sagt Andreas.
«Aber wann ist denn der Diener
hier gewesen?» will Iskariot wissen.
«Am Vorabend des Freitags»,
antwortet Petrus.
«Ja? Und warum hast du es uns
nicht gesagt?» fragt wiederum Iskariot.
«Weil der Meister mir aufgetragen
hatte zu schweigen», entgegnet Petrus.
«Also... wenn wir dort
ankommen... wird er schon vier Tage im Grab liegen.»
«Sicher! Freitagabend ein Tag,
Sabbatabend zwei Tage, heute abend drei Tage, morgen vier Tage... Viereinhalb
Tage also... Allmächtiger! Er muß sich ja schon aufgelöst haben!» sagt
Matthäus.
«Er muß sich schon aufgelöst
haben... Ich will auch dies sehen und dann...»
«Was dann, Simon Petrus?» fragt
Jakobus des Alphäus.
«Wenn Israel sich dann nicht
bekehrt, kann es nicht einmal Jahwe mit seinen Blitzen bekehren.»
Und während sie so reden, gehen
sie auseinander.
602. DIE AUFERWECKUNG DES LAZARUS
Jesus kommt von Ensemes nach
Bethanien. Sie müssen einen äußerst anstrengenden Weg zurückgelegt haben über
die halsbrecherischen Pfade der Adummimberge. Die atemlosen Apostel haben
Mühe, Jesus zu folgen, der so rasch dahinschreitet, als ob die Liebe ihn auf
ihren feurigen Schwingen tragen würde. Ein strahlendes Lächeln liegt auf
seinem Antlitz, während er allen mit erhobenem Haupt unter den Strahlen der
warmen Mittagssonne vorangeht.
Noch bevor sie die ersten Häuser
von Bethanien erreicht haben, sieht ihn ein barfüßiger Junge, der mit einer
leeren Kupferkanne zum Brunnen geht. Er schreit auf, stellt die Kanne auf den
Boden und rennt davon, so schnell ihn die Beine tragen, hinein ins Dorf.
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«Gewiß wird er ankündigen, daß du
kommst», bemerkt Judas Thaddäus, nachdem er wie die anderen über den
energischen Entschluß des Jungen gelächelt hat, der sogar seinen Krug
zurückläßt als Beute für den Nächstbesten, der vorbeikommt.
Vom Brunnen aus, der etwas erhöht
liegt, sieht die Ortschaft ruhig und wie verlassen aus. Nur der graue Rauch,
der aus den Kaminen aufsteigt, zeigt an, daß in den Häusern die Frauen damit
beschäftigt sind, das Mittagsmahl zuzubereiten, und einige laute
Männerstimmen, die aus den weiten, stillen Olivenhainen und Obstgärten
dringen, lassen erkennen, daß die Männer bei der Arbeit sind. Dennoch zieht
Jesus es vor, einen schmalen Weg einzuschlagen, der hinter dem Ort
vorbeiführt, um das Haus des Lazarus zu erreichen, ohne die Aufmerksamkeit der
Bewohner zu erregen.
Sie sind ungefähr auf halbem Weg,
als sie hinter sich den Jungen von zuvor hören, der sie eilig überholt und
sich dann in die Mitte der Straße stellt und Jesus nachdenklich ansieht.
«Der Friede sei mit dir, kleiner
Markus. Hast du Angst vor mir gehabt, daß du geflüchtet bist?» fragt Jesus und
streichelt ihn.
«Ich? Nein, Herr, ich habe keine
Angst gehabt. Aber da Martha und Maria seit mehreren Tagen Diener auf die
Straßen schicken, die Ausschau nach dir halten sollen, bin ich losgerannt,
sowie ich dich gesehen habe, um ihnen zu sagen, daß du kommst ...»
«Das hast du gut gemacht. Die
Schwestern werden ihre Herzen auf meine Ankunft vorbereiten.»
«Nein, Herr. Die Schwestern
werden sich nicht vorbereiten, denn sie wissen von nichts. Man hat mir nicht
erlaubt, es ihnen zu sagen. Man hat mich beim Betreten des Gartens gepackt,
als ich sagte: "Der Rabbi ist da." Und man hat mich hinausgejagt mit den
Worten: "Du bist ein Lügner oder ein Dummkopf. Er kommt nicht mehr, denn jetzt
ist es gewiß, daß er kein Wunder mehr wirken kann." Und weil ich gesagt habe,
daß du es wirklich bist, haben sie mir zwei Ohrfeigen gegeben, wie ich noch
nie welche bekommen habe... Sieh nur meine roten Backen. Sie brennen! Und sie
haben mich hinausgeschoben und gesagt: "Dies ist zu deiner Reinigung, weil du
einen Teufel gesehen hast." Und ich habe dich jetzt genau angeschaut, um zu
sehen, ob du ein Teufel geworden bist. Aber ich merke nichts davon... Du bist
immer noch mein Jesus und schön wie die Engel, von denen Mama mir erzählt.»
Jesus beugt sich nieder, um die
geschlagenen Wangen zu küssen, und sagt: «So vergeht das Brennen. Es tut mir
leid, daß du meinetwegen leiden mußtest.»
«Es macht nichts, Herr, denn die
Ohrfeigen haben mir zwei Küsse von dir eingebracht.» Und der Junge hängt sich
an Jesus in der Hoffnung auf weitere Liebkosungen.
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«Sag einmal, Markus! Wer ist es,
der dich fortgejagt hat? Die Leute des Lazarus?» fragt Thaddäus.
«Nein, die Juden. Sie kommen alle
Tage, um ihr Beileid zu bezeigen. Es sind so viele! Sie sind im Haus und im
Garten, kommen früh und gehen spät und tun so, als ob sie die Herren des
Hauses wären. Sie mißhandeln alle. Siehst du, niemand traut sich mehr auf die
Straße. Die ersten Tage kamen die Leute und schauten... aber dann... Nun gehen
nur noch wir Kinder hinaus, um... Oh, mein Krug! Die Mama wartet auf das
Wasser... Nun wird auch sie mich schlagen... !»
Alle lächeln über seine Sorge
wegen der voraussichtlichen weiteren Ohrfeigen, und Jesus sagt: «Also, dann
geh schnell ...»
«Aber... ich wollte mit dir
hineingehen und dich das Wunder wirken sehen ...» Und er fügt hinzu: «Ich
wollte ihre Gesichter sehen... um mich für die Ohrfeigen zu rächen...»
«Das nicht. Du darfst nicht
rachsüchtig sein. Du mußt brav sein und verzeihen können... Aber die Mama
wartet auf das Wasser ...»
«Ich werde an seiner Stelle
gehen, Meister. Ich weiß, wo Markus wohnt, und ich werde der Mutter alles
erklären und dann zurückkommen ...» sagt Jakobus des Zebedäus und läuft fort.
Sie setzen langsam ihren Weg
fort, und Jesus hält den jubelnden Knaben an der Hand...
Nun sind sie am Gitter des
Gartens und gehen daran entlang. Viele Reittiere sind dort angebunden und
werden von den Dienern der jeweiligen Eigentümer bewacht. Das Flüstern, das
bei ihrer Ankunft einsetzt, zieht die Aufmerksamkeit einiger Juden auf sich.
Und sie wenden sich genau in dem Augenblick dem geöffneten Tor zu, als Jesus
den Garten betritt.
«Der Meister!» sagen die ersten,
die ihn sehen, und das Wort eilt wie das Rauschen des Windes von Gruppe zu
Gruppe und breitet sich aus wie eine Woge, die von weither kommt und am Ufer
zerschellt, bis zu den Mauern des Hauses und dringt ins Innere. Gewiß
überbringt es einer der vielen anwesenden Juden oder auch einer der da und
dort herumstehenden Pharisäer, Rabbis, Schriftgelehrten und Sadduzäer.
Jesus geht sehr langsam weiter,
während alle anderen, die von überall herbeieilen, den Weg säumen, auf dem er
dahinschreitet. Und da ihn niemand grüßt, grüßt auch er niemanden, so als ob
er nicht viele der dort Versammelten kennen würde. Diese betrachten ihn mit
zorn- und haßerfüllten Blicken, mit Ausnahme der Wenigen, die heimliche Jünger
oder wenigstens rechtschaffenen Herzens sind, auch wenn sie ihn nicht als
Messias lieben, und ihn als einen Gerechten achten. Diese sind Joseph,
Nikodemus, Johannes, Eleazar, der andere Johannes, der Schriftgelehrte, den
ich bei der Brotvermehrung gesehen habe, und ein dritter Johannes, der die
Leute nach der Bergpredigt mit Nahrung versorgt hat; außerdem Gamaliel mit
seinem Sohn, Josua, Joachim, Manaen, der Schriftgelehrte
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Joel des Abija, dem ich bei der
Episode mit Sabäa am Jordan begegnet bin, Joseph Barnabas, der Schüler des
Gamaliel, und Chuza, der Jesus von weitem betrachtet, etwas schüchtern, da er
ihn nun nach dem begangenen Fehler wiedersieht; oder vielleicht verbietet ihm
auch die Achtung vor den anderen, sich Jesus als Freund zu nähern. Tatsache
ist, daß weder die Freunde und wohlgesinnten Beobachter, noch die Feinde ihn
grüßen. Und auch Jesus grüßt niemanden. Er hat sich darauf beschränkt, beim
Betreten des Gartenweges eine allgemeine Verneigung zu machen. Dann ist er
weitergegangen, als ob er der ganzen Menge, die ihn umgibt, fremd wäre. Der
kleine Junge läuft in seinem bäuerlichen Gewand und mit den nackten Füßen
eines armen Kindes neben ihm her. Doch sein Gesicht strahlt wie an einem
Festtag und seine lebhaften, schwarzen Augen sehen alles... und blicken alle
herausfordernd an.
Martha kommt aus dem Haus
inmitten einer Gruppe jüdischer Besucher, darunter Elchias und Sadok. Sie
beschattet mit der Hand ihre vom Weinen müden Augen, die das Licht schmerzt,
und blickt sich nach Jesus um. Nun sieht sie ihn, verläßt ihre Begleiter und
eilt auf den Meister zu, der sich bis auf einige Schritte dem Wasserbecken
genähert hat, das im Sonnenlicht glitzert. Sie wirft sich nach einer ersten
Verbeugung Jesus zu Füßen, küßt diese und sagt, während sie in Tränen
ausbricht: «Der Friede sei mit dir, Meister.»
Auch Jesus sagt, sobald er sie
erblickt hat: «Der Friede sei mit dir!»und erhebt die Hand, um sie zu segnen,
wobei er die des Kindes losläßt. Bartholomäus nimmt nun das Kind bei der Hand
und zieht es etwas nach hinten.
Martha fährt fort: «Für deine
Dienerin gibt es keinen Frieden mehr!»Noch kniend erhebt sie das Antlitz zu
Jesus und mit einem Schmerzensschrei, den man in dem entstandenen Schweigen
sehr laut hört, ruft sie aus: «Lazarus ist tot! Wärest du hier gewesen, wäre
er nicht gestorben. Warum bist du nicht früher gekommen, Meister?» In dieser
Frage liegt ein ungewollter Vorwurf. Dann spricht sie weiter mit der matten
Stimme eines Menschen, der keine Kraft mehr hat, Vorwürfe zu machen, und
seinen einzigen Trost darin findet, sich an die letzten Augenblicke und
Wünsche eines Angehörigen zu erinnern, dem man alle Wünsche zu erfüllen
versucht hat, weshalb man sich auch keine Vorwürfe zu machen braucht: «Er hat
so sehr nach dir verlangt, unser Bruder... ! Sieh! Nun leide ich, und Maria
weint und kann keinen Frieden finden. Er ist nicht mehr unter uns. Und du
weißt, wie sehr wir ihn geliebt haben! Wir hatten unsere ganze Hoffnung in
dich gesetzt... !»
Ein Flüstern des Mitleids für die
Frau und des Vorwurfs für Jesus, und Zustimmung zu dem unausgesprochenen
Gedanken: «Du hättest uns erhören können, denn wir haben es verdient durch
unsere Liebe zu dir, doch du hast uns enttäuscht!» läuft von einer Gruppe zur
anderen, begleitet
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von Kopfschütteln und hämischen
Blicken. Nur die wenigen geheimen Jünger in der Menge werfen Jesus, der bleich
und traurig der schmerzerfüllten Frau zuhört, mitleidvolle Blicke zu. Gamaliel
steht ein wenig abseits inmitten einer Gruppe von Jünglingen, unter denen sich
auch sein Sohn und Joseph Barnabas befinden. Die Arme über der Brust gekreuzt,
in seinem weiten, reichen Gewand aus feinster Wolle mit -blauen Fransen,
schaut er Jesus fest an, ohne Haß und ohne Liebe.
Martha fährt fort, nachdem sie
sich die Tränen abgetrocknet hat: «Aber auch jetzt hoffe ich noch, denn ich
weiß, daß dir alles, was du vom Vater erbittest, gewährt wird.» Ein
schmerzliches, heroisches Glaubensbekenntnis, das sie mit tränenerstickter
Stimme ausspricht, während Angst in ihrem Blick zittert und die letzte
Hoffnung ihr Herz erfüllt.
«Dein Bruder wird auferstehen.
Erhebe dich, Martha!»
Martha steht auf, bleibt jedoch
in verehrungsvoller, gebeugter Haltung vor Jesus stehen, dem sie antwortet:
«Ich weiß, Meister. Er wird auferstehen am Jüngsten Tag.»
«Ich bin die Auferstehung und das
Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er tot ist. Und wer glaubt
und in mir lebt, wird in Ewigkeit nicht sterben! Glaubst du dies alles?»
Jesus, der zuerst leise und nur zu Martha gesprochen hat, erhebt nun seine
Stimme, um diese Worte zu sagen, mit denen er seine göttliche Macht bekundet,
und der Wohlklang seiner Stimme hallt im weiten Garten wie der Schlag einer
goldenen Glocke nach. Ein fast ängstlicher Schauder erfaßt die Umstehenden;
dann aber fangen einige an, höhnisch zu lachen und die Köpfe zu schütteln.
Martha, der Jesus immer stärkere
Hoffnung einflößen zu wollen scheint, indem er ihr eine Hand auf die Schulter
legt, erhebt ihr Antlitz, das zu Boden geneigt war. Sie schaut zu Jesus auf,
heftet ihren schmerzerfüllten Blick auf seine strahlenden Augen, preßt die
Hände auf die Brust und antwortet nun in erneuter, aber anders gearteter
Erregung: «Ja, Herr, ich glaube es. Ich glaube, daß du Christus, der Sohn des
lebendigen Gottes bist, der in die Welt gekommen ist, und daß du alles kannst,
was du willst. Ich glaube. Nun will ich Maria verständigen.» Und sie entfernt
sich rasch und verschwindet im Haus.
Jesus bleibt, wo er ist. Das
heißt, er macht ein paar Schritte vorwärts und bleibt bei dem Beet stehen, das
das Becken umgibt. Der Sprühregen des Wasserstrahles, den ein leichter Wind
auf diese Seite neigt und der einem silbernen Federbusch gleicht, bedeckt
Blätter und Blüten mit kleinen, funkelnden Tröpfchen. Es hat den Anschein, daß
Jesus sich in die Betrachtung der unter dem Schleier dieses klaren Wassers
schnellenden Fische verliert, die mit ihren Spielen dem von der Sonne bewegten
wäßrigen Kristall silberne Punkte und goldene Reflexe aufsetzen.
Die Juden beobachten ihn. Sie
haben sich unbewußt in zwei sehr verschiedene Gruppen geteilt. Auf einer
Seite, Jesus gegenüber, stehen alle,
59
die ihm feindlich gesinnt sind.
Für gewöhnlich gespalten in ihrer sektiererischen Gesinnung, sind sie nun
vereint, um Jesus zu bekämpfen. Auf seiner Seite, hinter den Aposteln, zu
denen sich wieder Jakobus des Zebedäus gesellt hat, stehen Joseph, Nikodemus
und die anderen ihm Wohlgesinnten. Etwas weiter entfernt, immer am gleichen
Platz und in derselben Haltung, sehe ich Gamaliel. Allein. Denn sein Sohn und
seine Schüler haben ihn alleingelassen und sich auf die beiden großen Gruppen
aufgeteilt, um näher bei Jesus zu sein.
Mit ihrem üblichen Ruf: «Rabbuni!»
und ausgestreckten Armen eilt Maria aus dem Haus auf Jesus zu und wirft sich
ihm zu Füßen. Sie küßt sie laut schluchzend, und einige Juden, die bei ihr im
Haus waren und ihr gefolgt sind, vereinen ihre Klagen von zweifelhafter
Aufrichtigkeit mit den ihren. Auch Maximinus, Marcella, Sara, Noemi und alle
Diener sind Maria gefolgt, und ein lautes, schrilles Klagen erfüllt nun den
Garten. Mir scheint, daß niemand mehr im Haus geblieben ist. Martha, die Maria
so heftig weinen sieht, weint nun ebenso.
«Der Friede sei mit dir, Maria!
Steh auf! Sieh mich an! Warum dieses trostlose Weinen, wie jemand, der keine
Hoffnung hat?» Jesus beugt sich über sie, um leise diese Worte zu sagen,
während er Maria in die Augen blickt. Sie hat sich, vor ihm kniend, auf die
Fersen gesetzt, streckt ihm flehend die Hände entgegen und kann vor Schluchzen
nicht sprechen. «Habe ich dir nicht gesagt, daß du hoffen sollst wider alle
Hoffnung, um die Herrlichkeit Gottes zu sehen? Hat sich denn dein Meister
geändert, daß du Grund zu solcher Verzweiflung hast?»
Aber Maria begreift die Worte
nicht, die sie schon auf die große, zu große Freude vorbereiten wollen nach so
viel Leid, und sie ruft, endlich wieder ihrer Stimme mächtig: «Oh, Herr! Warum
bist du nicht früher gekommen? Warum bist du so weit fortgegangen? Du hast
doch gewußt, daß Lazarus krank ist! Wenn du hier gewesen wärest, wäre mein
Bruder nicht gestorben! Warum bist du nicht gekommen? Ich mußte ihm doch noch
zeigen, daß ich ihn liebe. Und er hätte leben müssen. Ich mußte ihm doch noch
beweisen, daß ich im Guten ausharre. Ich habe meinen Bruder so sehr gequält!
Und nun? Nun, da ich ihn hätte glücklich machen können, ist er mir entrissen
worden. Du hättest ihn mir lassen können. Du hättest der armen Maria die
Freude machen können, ihn trösten zu dürfen, nachdem sie ihm so viel Schmerz
bereitet hat. Oh, Jesus! Jesus! Mein Meister! Mein Erlöser! Meine Hoffnung!»
Und sie läßt sich wieder zu Boden fallen, die Stirn auf den Füßen Jesu, die
Marias Tränen noch einmal waschen, und klagt: «Warum hast du das getan, o
Herr? Hast du nicht an jene gedacht, die dich hassen und sich nun über das
Geschehene freuen... Warum hast du das getan, Jestis?» Aber es liegt kein
Vorwurf in der Stimme Marias, wie es bei Martha der Fall war, nur der Schmerz
der Schwester, die zudem noch die Not der
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Jüngerin erleidet, das Ansehen
Jesu in den Herzen so vieler geschmälert zu sehen.
Jesus, der sich tief
hinuntergebeugt hat, um diese Worte zu hören, die mit dem Gesicht zum Boden
geflüstert worden sind, richtet sich nun auf und sagt laut: «Maria, weine
nicht! Auch dein Meister ist betrübt, weil sein treuer Freund gestorben ist...
weil er ihn sterben lassen mußte...»
Oh, welch ein Grinsen und welch
gehässige Schadenfreude auf den Gesichtern der Feinde Jesu. Sie glauben ihn
besiegt und freuen sich, während die Freunde immer trauriger werden.
Jesus sagt noch lauter: «Ich aber
sage dir: Weine nicht! Steh auf! Sieh mich an! Glaubst du, daß ich, der ich
dich so sehr geliebt habe, dies ohne guten Grund getan habe? Kannst du
glauben, daß ich dir diesen Schmerz unnötig zugefügt habe? Komm, wir wollen zu
Lazarus gehen. Wo habt ihr ihn hingelegt?»
Jesus fragt weniger Maria und
Martha, die, von immer stärkerem Schluchzen überwältigt, nicht sprechen
können, als alle anderen, besonders jene, die mit Maria aus dem Haus gekommen
sind und am allertraurigsten zu sein scheinen. Vielleicht sind es ältere
Verwandte, ich weiß es nicht. Sie antworten Jesus, der sichtlich betrübt ist:
«Komm und sieh!»und gehen in Richtung des Grabes, das am Ende des Obstgartens
liegt, dort, wo der Erdboden uneben wird und die Kalkfelsen hervortreten.
Martha geht an der Seite Jesu,
der Maria zum Aufstehen gezwungen hat und sie nun führt, da das viele Weinen
ihre Augen trübt. Sie weist Jesus mit der Hand die Stelle, an der Lazarus
liegt. Und als sie angekommen sind, sagt sie noch: «Hier ist es, Meister, hier
haben wir deinen Freund beigesetzt», und zeigt auf einen Stein, der schräg vor
dem Eingang der Gruft liegt.
Jesus ist auf dem Weg dorthin,
von allen gefolgt, an Gamaliel vorübergegangen. Doch weder er noch Gamaliel
hat gegrüßt. Gamaliel hat sich dann zu den anderen gesellt und ist wie alle
strengen Pharisäer einige Meter vom Grab entfernt stehengeblieben, während
Jesus mit den Schwestern, Maximinus und denen, die anscheinend Verwandte sind,
ganz nahe herangegangen ist. Jesus betrachtet den schweren Stein, der als Türe
dient und ein ebenso schweres Hindernis bildet zwischen ihm und dem toten
Freund. Er weint. Das Weinen der Schwestern und auch das der Nahestehenden und
Angehörigen wird stärker.
«Entfernt diesen Stein!» ruft
Jesus plötzlich, nachdem er seine Tränen getrocknet hat.
Eine Bewegung des Erstaunens und
ein Flüstern geht durch die Menge, die sich noch um einige Bewohner Bethaniens
vergrößert hat, die in den Garten zu den übrigen Besuchern gekommen sind. Ich
sehe einige Pharisäer, die sich an die Stirn greifen und den Kopf schütteln,
als ob sie sagen wollten: «Er ist verrückt!»
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Niemand befolgt den Befehl. Auch
die Getreuesten schrecken zurück und zögern.
Jesus wiederholt seinen Befehl
noch lauter und versetzt die Anwesenden in noch größere Bestürzung. Sie
schwanken zwischen einander entgegengesetzten Gefühlen, einerseits dem Wunsch
zu fliehen, und andererseits dem Wunsch, sich noch mehr zu nähern, um zu
sehen, ungeachtet des Geruches, der aus dem Grab dringen wird, das Jesus zu
öffnen gebietet.
«Meister, es ist nicht möglich»,
sagt Martha, die sich bemüht, die Tränen zurückzuhalten, um sprechen zu
können. «Seit vier Tagen ist er schon unter der Erde, und du weißt, an welcher
Krankheit er gestorben ist! Nur unsere Liebe konnte ihn pflegen... Nun riecht
er gewiß schon viel stärker, trotz aller Salben... Was willst du sehen? Seinen
verwesten Leib? ... Es geht nicht... auch wegen der Verunreinigung durch die
Zersetzung und...»
«Habe ich dir nicht gesagt, daß
du die Herrlichkeit Gottes sehen wirst, wenn du glaubst? Entfernt diesen
Stein. Ich will es!»
Es ist eine laute Kundgebung
göttlichen Willens... Und ein unterdrücktes «Oh!» kommt aus den Mündern aller.
Die Gesichter erbleichen. Einige zittern, als ob eisige Todeskälte sie umweht
hätte.
Martha gibt Maximinus ein
Zeichen, und dieser gebietet den Dienern, Werkzeuge zu holen, mit denen man
den Stein entfernen kann.
Die Diener eilen fort und kommen
mit Pickeln und starken Brecheisen zurück. Sie schlagen die glänzenden Spitzen
der Pickel zwischen den Fels und die Grabplatte, nehmen dann statt der Pickel
die Brecheisen, heben bedächtig den Stein, schieben ihn zur Seite und lehnen
ihn vorsichtig an den Fels. Ein pestartiger Gestank dringt aus der dunklen
Höhle und läßt alle zurückweichen.
Martha fragt leise: «Meister,
willst du hinuntersteigen? Wenn ja, dann lasse ich Fackeln holen ...» Aber sie
erbebt bei dem Gedanken, dies tun zu müssen.
Jesus antwortet ihr nicht. Er
erhebt die Augen zum Himmel, breitet die Arme in Kreuzform aus und betet mit
lauter Stimme, jedes Wort betonend: «Vater, ich danke dir, daß du mich erhört
hast! Ich wußte ja, daß du mich immer erhörst. Aber wegen der hier Anwesenden,
wegen des ringsum stehenden Volkes habe ich es gesagt, damit sie glauben an
dich, an mich und daran, daß du mich gesandt hast!»
Jesus verweilt noch einige Zeit
in derselben Haltung. Er scheint in Ekstase zu sein, so verklärt ist er,
während er lautlos noch andere geheime Worte des Gebetes oder der Verehrung
spricht, ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, daß Jesus so übermenschlich
erscheint, daß einem das Herz in der Brust erzittert, wenn man ihn ansieht. Es
sieht aus, als ob sein Körper sich in Licht verwandeln, vergeistigen, größer
werden und über der Erde
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schweben würde. Obwohl die Farben
der Haare, der Augen, der Haut und der Kleider sich nicht verändern wie bei
der Verklärung auf dem Tabor, als alles zu blendendem Licht und Glanz wurde,
scheint Jesus Licht auszustrahlen und selbst Licht zu werden. Das Licht
scheint ihn ganz einzuhüllen, besonders das zum Himmel erhobene, gewiß durch
die Schauung des Vaters verzückte Antlitz.
Jesus steht eine Weile so da,
dann kommt er wieder zu sich: der Mensch, aber nun angetan mit Macht und
Majestät. Er begibt sich zur Schwelle des Grabes und streckt die Arme, die er
bisher in Kreuzform und mit zum Himmel gekehrten Handflächen gehalten hat,
nach vorne. Die Hände sind jetzt schon in der Höhle des Grabes und heben sich
hell von deren Dunkel ab. Aus den Augen Jesu sprüht bläuliches Feuer, dessen
wundertätiger Schein heute, in dieser stummen Schwärze, unerträglich ist, und
mit mächtiger Stimme, mit einem noch lauteren Ruf als dem, mit welchem er auf
dem See dem Sturm befahl, mit einer Stimme, wie ich sie bei keinem anderen
Wunder gehört habe, ruft er: «Lazarus! Komm heraus!» Die Stimme hallt als Echo
aus der Grabeshöhle wider und verbreitet sich dann durch den ganzen Garten,
schallt von den Hügeln Bethaniens zurück, und ich meine, sie erreicht sogar
die Hänge jenseits der Felder und kehrt von dort vielstimmig und nur etwas
gedämpft wieder, wie ein unwiderruflicher Befehl. Von vielen Seiten hört man
das Echo: «Heraus! Heraus! Heraus!»
Alle erschauern zutiefst, und
wenn auch die Neugierde sie an ihre Plätze bannt, so sind doch die Gesichter
bleich, die Augen weit offen, und die Münder öffnen sich unbewußt, während aus
den Kehlen Rufe des Staunens dringen.
Martha, die etwas weiter hinten
seitlich steht, schaut Jesus verzückt an. Maria fällt auf die Knie, sie, die
nie von der Seite ihres Meisters gewichen ist, fällt am Eingang des Grabes auf
die Knie. Eine Hand preßt sie aufs Herz, um sein heftiges Schlagen zu
beruhigen, mit der anderen hält sie unbewußt und krampfhaft einen Zipfel des
Mantels Jesu, und man merkt, daß sie zittert, denn eine leichte Erschütterung
überträgt sich von der Hand auf den Mantel.
Etwas Weißes scheint aus der
dunklen Tiefe der Höhle zu kommen. Erst ist es nur eine schmale geschweifte
Linie, dann wird es ein Oval, und schließlich fügen sich dem Oval breitere und
längere, immer länger werdende Linien an. Und der Tote in seinen Binden kommt
langsam vorwärts, immer besser erkennbar, geisterhaft, beeindruckend.
Jesus weicht zurück, weiter
zurück, fast unmerklich, doch fortwährend, je weiter Lazarus herauskommt, und
so bleibt die Entfernung zwischen beiden immer dieselbe.
Maria ist gezwungen, den Zipfel
des Mantels loszulassen, aber sie rührt sich nicht von der Stelle. Die Freude,
die Erregung, alles zusammen hält sie an ihrem Platz fest.
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Ein immer deutlicheres «Oh!»
dringt aus den zuvor in gespannter Erwartung wie zugeschnürten Kehlen, und aus
dem kaum hörbaren Flüstern werden laute Stimmen, aus den Stimmen mächtige
Schreie.
Lazarus hat nun die Schwelle
erreicht und bleibt dort stehen, steif und stumm wie eine Gipsstatue, die eben
aus der Form kommt... Ein unförmiges, langes Etwas, am Kopf und an den Beinen
dünn, am Rumpf etwas breiter, grausig wie der Tod selbst, geisterhaft in den
weißen Tüchern vor dem dunklen Hintergrund des Grabes. Im Licht der Sonne
scheinen die Bandagen da und dort schon von Fäulnis durchtränkt.
Jesus ruft laut:«Befreit ihn von
den Binden und laßt ihn gehen. Gebt ihm Kleider und zu essen!»
«Meister... !» sagt Martha, und
sie würde vielleicht mehr sagen, aber Jesus sieht sie fest an, unterwirft sie
mit seinem flammenden Blick und spricht: «Hier! Sofort! Bringt ein Gewand!
Kleidet ihn in Gegenwart aller an und gebt ihm dann zu essen!» Jesus befiehlt
und beachtet die neben und hinter ihm Stehenden nicht. Er blickt nur auf
Lazarus, auf Maria, die neben dem Auferstandenen steht und sich nicht um den
Ekel kümmert, den die fleckigen Binden bei allen hervorrufen, und auf Martha,
die keucht, als ob ihr das Herz zerspringen wollte, und nicht weiß, ob sie vor
Freude schreien oder weinen soll...
Die Diener beeilen sich, die
Befehle Jesu auszuführen. Noemi eilt als erste fort und kommt auch als erste
zurück mit den über den Arm geworfenen Gewändern. Einige lösen die Enden der
Bandagen, nachdem sie sich die Ärmel aufgekrempelt und die Gewänder geschürzt
haben, damit sie nicht mit der durchsickernden Fäulnis in Berührung kommen.
Marcella und Sara kommen mit Gefäßen voll wohlriechender Salben. Diener folgen
ihnen mit dampfend heißem Wasser in Becken und Krügen, Bechern mit Milch und
Wein, mit Obst und Honigkuchen.
Die schmalen, sehr langen Binden,
mir scheint aus Linnen, mit Borten an beiden Seiten und sicher eigens für
diesen Gebrauch gewoben, werden wie Bänder von einer großen Spule abgerollt
und fallen schwer zu Boden, da sie von Essenzen und Fäulnis durchtränkt sind.
Die Diener schieben sie mit Stöcken beiseite. Sie haben am Kopf begonnen, und
auch dort ist Fäulnis, die wohl aus Nase, Ohren und Mund kommt. Das über das
Gesicht gebreitete Schweißtuch ist naß von diesem Ausfluß, und das Antlitz des
Lazarus, mit der Salbe auf den geschlossenen Augen, mit den verklebten Haaren
und dem spärlichen Bärtchen am Kinn ist ganz und gar nicht schön. Langsam
fällt das Leichentuch, das Grabtuch, das um den Körper gewickelt war, so wie
auch die Binden immer weiter fallen, allmählich den seit Tagen eng umwundenen
Rumpf freigeben und dem, was bisher einer großen Larve ähnlich war, wieder
menschliche Gestalt verleihen. Die knochigen Schultern, die zum Skelett
abgemagerten Arme, die kaum von Haut bedeckten Hüften und der eingefallene
Leib kommen nach und nach
64
zum Vorschein. Und so wie die
Binden fallen, bemühen sich die Schwestern, Maximinus und die Diener, die
dicke Schicht von Fäulnis und Salben zu entfernen. Und sie tun es so lange,
mit immer wieder erneuertem Wasser, dessen reinigende Wirkung man durch
hinzugefügte Essenzen verstärkt hat, bis die Haut vollkommen sauber ist.
Kaum ist sein Gesicht
ausgewickelt und gereinigt, so daß er sehen kann, und noch bevor er die
Schwestern ansieht, richtet Lazarus mit einem Lächeln der Liebe auf den
blassen Lippen und einem feuchten Schimmer in den tiefliegenden Augen seinen
Blick auf Jesus. Alles andere, was um ihn herum vorgeht, übersieht er und
beachtet es nicht. Auch Jesus lächelt ihm zu, und Tränen glänzen in seinen
Augen. Dann weist er wortlos zum Himmel, und Lazarus begreift und bewegt die
Lippen in lautlosem Gebet.
Martha glaubt, daß Lazarus etwas
sagen will, aber noch nicht dazu fähig ist, und fragt: «Was willst du mir
sagen, mein Lazarus ?»
«Nichts, Martha. Ich habe dem
Allerhöchsten gedankt.» Seine Stimme ist klar und kräftig.
Das Volk stößt wieder ein
erstauntes «Oh!» aus.
Nun haben sie Lazarus bis zu den
Hüften ausgewickelt und gereinigt. Sie können ihm eine kurze Tunika
überwerfen, eine Art Hemd, das über die Leisten hinabreicht und die Schenkel
noch teilweise bedeckt.
Sie fordern ihn auf, sich zu
setzen, um ihm die Beine auswickeln und waschen zu können. Als diese sichtbar
werden, schreien Martha und Maria gleichzeitig auf und zeigen auf die Beine
und die Binden. Auf den um die Beine gewickelten Binden und dem Linnen
darunter sind die Absonderungen der Fäulnis so reichlich, daß sie kleine
Rinnsale auf dem Stoff bilden, während die Beine vollkommen vernarbt zu sein
scheinen. Nur die blaßroten Narben erinnern noch an die Geschwüre.
Alle Anwesenden schreien nun noch
lauter vor Staunen. Jesus lächelt, und auch Lazarus, der einen Augenblick
seine geheilten Beine betrachtet und sich dann wieder abwendet und Jesus
ansieht, lächelt. Es scheint, als könne Lazarus sich nicht sattsehen an ihm.
Die Juden, Pharisäer, Sadduzäer, Schriftgelehrten und Rabbis treten vor, aber
sehr vorsichtig, um ihre Gewänder nicht zu verunreinigen. Sie betrachten
Lazarus und auch Jesus aus allernächster Nähe. Doch weder Lazarus noch Jesus
kümmern sich um sie. Sie blicken einander an, und alles andere ist
bedeutungslos.
Nun legt man Lazarus die Sandalen
an. Er steht gewandt und sicher auf, nimmt das Gewand, das Martha ihm reicht,
wirft es sich selbst über, befestigt den Gürtel und ordnet die Falten. Da
steht er, mager und bleich, doch ein Mensch wie alle anderen. Er wäscht sich
nochmals die Hände und die Arme bis zu den Ellenbogen, nachdem er die Ärmel
zurückgeschlagen hat. Dann, mit frischem Wasser, erneut das Gesicht und den
Kopf, bis er sich ganz sauber fühlt. Er trocknet das Haar und das Gesicht,
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gibt dem Diener das Handtuch
zurück und geht geradewegs zu Jesus, um sich vor ihm niederzuwerfen und ihm
die Füße zu küssen.
Jesus neigt sich zu ihm, richtet
ihn auf, drückt ihn an sein Herz und sagt: «Willkommen, mein Freund! Der
Friede und die Freude seien mit dir. Du sollst leben, und dein glückliches Los
soll sich erfüllen. Erhebe dein Antlitz, damit ich dir den Willkommenskuß
geben kann.» Und er küßt Lazarus auf die Wangen und Lazarus küßt ihn.
Erst nachdem Lazarus den Meister
verehrt und geküßt hat, spricht er mit den Schwestern und küßt auch sie. Dann
küßt er Maximinus und Noemi, die vor Freude weinen, und einige von denen, die
ich für Verwandte oder intime Freunde halte. Schließlich küßt er auch Joseph,
Nikodemus, Simon den Zeloten und noch einige mehr.
Jesus geht persönlich zu einem
Diener, der ein Tablett mit Speisen auf den Armen hält, und nimmt einen
Honigkuchen, einen Apfel und einen Becher Wein, die er, nachdem er sie
aufgeopfert und gesegnet hat, Lazarus anbietet, damit er sich stärken kann.
Und Lazarus ißt mit dem gesunden Appetit eines Menschen, der sich wohlfühlt.
Alle stoßen wiederum ein überraschtes «Oh!» aus.
Es scheint, als ob Jesus nur
Lazarus sähe, doch in Wirklichkeit beobachtet er alles und alle. Und als er
sieht, daß Sadok, Elchias, Chananias, Felix, Doras, Cornelius und andere Miene
machen, sich mit zornigen Gebärden zu entfernen, sagt er laut: «Warte einen
Augenblick, Sadok! Ich muß dir etwas sagen. Dir und Deinesgleichen!»
Sie bleiben stehen und machen
Gesichter wie ertappte Verbrecher.
Joseph von Arimathäa ist
sichtlich bestürzt und gibt dem Zeloten ein Zeichen, Jesus zurückzuhalten.
Aber er geht schon auf die haßerfüllte Gruppe zu und sagt ebenso laut: «Genügt
dir, was du gesehen hast, Sadok? Eines Tages hast du mir gesagt, um an mich
glauben zu können, müßtest du – du und Deinesgleichen – sehen, wie ein schon
verwester Toter wieder ganz und gesund wird. Hast du genug Verwesung gesehen?
Bist du imstande zu bekennen, daß Lazarus tot war und nun lebendig ist, so
lebendig und gesund, wie er es seit Jahren nicht mehr gewesen ist? Ich weiß,
ihr seid gekommen, um diese hier zu versuchen und ihnen noch größeren Schmerz
zu bereiten, ihre Zweifel noch zu verstärken. Ihr seid gekommen in der
Hoffnung, mich im Zimmer des Sterbenden versteckt zu finden. Ihr seid
gekommen, nicht aus dem Gefühl der Liebe und dem Wunsch, den Verstorbenen zu
ehren, sondern um euch zu vergewissern, daß Lazarus wirklich tot war. Und ihr
seid immer wieder gekommen und habt immer mehr gejubelt, je mehr Zeit
vergangen ist. Wenn es so gegangen wäre, wie ihr es euch erhofft habt, wie ihr
nun glaubtet, daß es gehen würde, dann hättet ihr allen Grund zum Jubeln
gehabt. Der Freund, der alle heilt, aber seinen Freund nicht heilt. Der
Meister, der jegliches Vertrauen belohnt, aber nicht das seiner Freunde in
Bethanien. Der Meister,
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dessen Ohnmacht sich vor der
Wirklichkeit des Todes offenbart. Das war es, worüber ihr gejubelt habt. Aber
nun hat Gott euch geantwortet. Kein Prophet konnte je auferwecken, was nicht
nur tot, sondern schon verwest war. Gott hat es getan. Hier ist das lebendige
Zeugnis dafür, wer ich bin. Es gab einen Tag, da Gott Lehm nahm, einen Leib
formte und ihm den Lebensodem einhauchte, und der Mensch war erschaffen. Und
ich habe damals gesagt: "Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und
Gleichnis." Denn ich bin das Wort des Vaters. Heute habe ich, das Wort, zu
dem, was noch weniger war als Lehm, was Verwesung war, gesagt: "Lebe!" und die
Verwesung wurde wieder zu Fleisch, zu gesundem Fleisch, das lebt und pulsiert.
Und es sieht euch an. Und dem Fleisch habe ich den Geist zurückgegeben, der
schon seit Tagen in Abrahams Schoß ruhte. Ich habe ihn zurückgerufen durch
meinen Willen. Denn ich vermag alles. Ich, der Lebendige, der König der
Könige, dem alle Geschöpfe und Dinge unterworfen sind. Was habt ihr mir nun zu
sagen?»
Jesus steht vor ihnen,
hochgewachsen, in strahlender Majestät, wahrhaft Richter und Gott. Sie
antworten nicht.
Jesus fährt fort: «Genügt euch
das noch nicht, um zu glauben und das Unleugbare anzunehmen?»
«Du hast nur einen Teil deines
Versprechens gehalten. Dies ist nicht das Zeichen des Jonas...» sagt Sadok
herb.
«Ihr werdet auch dieses bekommen.
Ich habe es versprochen und werde es halten», sagt der Herr. «Und auch ein
anderer, der hier anwesend ist und auf ein Zeichen wartet, wird es erhalten.
Und da er ein Gerechter ist, wird er es anerkennen. Ihr nicht. Ihr werdet
immer bleiben, was ihr seid.»
Jesus dreht sich halb um und
sieht den Synedristen Simon, den Sohn des Heli-Anna an. Er schaut ihm fest,
sehr fest in die Augen, kehrt den vorigen den Rücken, und als sie sich von
Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, sagt er mit leiser, aber schneidender
Stimme: «Dein Glück, daß Lazarus keine Erinnerung an seinen Aufenthalt unter
den Toten hat! Was hast du mit deinem Vater gemacht, du Kain?»
Simon flicht mit einem
Angstschrei, der dann in einem Fluch endet: «Sei verflucht, du Nazarener!»
worauf Jesus antwortet: «Dein Fluch steigt zum Himmel, und vom Himmel des
Allerhöchsten fällt er auf dich zurück. Du bist mit dem Mal gezeichnet,
Unseliger!»
Jesus kehrt zu den verblüfften,
beinahe erschrockenen Gruppen zurück und begegnet Gamaliel, der sich gerade
zur Straße begibt. Er sieht ihn an und Gamaliel ihn. Ohne stehenzubleiben sagt
Jesus: «Halte dich bereit, Rabbi. Das Zeichen wird bald erscheinen. Ich lüge
nie.»
Der Garten leert sich langsam.
Die Juden können es noch immer nicht fassen, doch die meisten glühen vor Zorn.
Wenn ihre Blicke töten könnten, wäre Jesus längst tot. Sie reden und
diskutieren im Fortgehen miteinander und sind so sehr durch die erlittene
Niederlage verwirrt, daß sie
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es nicht mehr fertigbringen, den
Zweck ihrer Anwesenheit hier hinter einer Maske der Freundschaft zu verbergen.
Sie gehen, ohne Lazarus und die Schwestern zu grüßen.
Einige, die der Herr durch sein
Wunder für sich gewonnen hat, bleiben noch da. Unter diesen ist Joseph
Barnabas, der sich vor Jesus niederwirft und ihm huldigt. Dasselbe tut der
Schriftgelehrte Joel, der Sohn des Abija, bevor er seines Weges geht. Und noch
andere, die ich nicht kenne, die aber einflußreiche Persönlichkeiten sein
müssen.
Lazarus hat sich inzwischen, von
seinen intimsten Freunden umringt, ins Haus zurückgezogen. Joseph, Nikodemus
und die anderen Guten verabschieden sich von Jesus und gehen. Mit tiefen
Verbeugungen verabschieden sich die Juden, die Martha und Maria beigestanden
haben. Die Diener schließen das Tor. Im Haus herrscht wieder Friede.
Jesus schaut um sich. Er sieht
Feuerschein und Rauch am Rand des Gartens, dort, wo das Grab liegt. Allein auf
einem Weg zurückgeblieben, sagt er: «Die Fäulnis, die vom Feuer vernichtet
wird... die Fäulnis des Todes... Aber jene der Herzen... dieser Herzen, kann
kein Feuer vernichten... Nicht einmal das Feuer der Hölle. Sie wird ewig
währen... Welch ein Greuel... ! Schlimmer als der Tod... Schlimmer als die
Verwesung... Und... Aber wer wird dich retten, o Menschheit, wenn du es so
sehr liebst, verdorben zu sein? Du willst verdorben sein. Und ich... Ich habe
mit einem Wort einen Menschen dem Grab entrissen... Und mit unzähligen
Worten... mit einem Meer von Schmerzen kann ich den Menschen, die Menschen,
Millionen Menschen, nicht der Sünde entreißen.» Jesus setzt sich und bedeckt
sein Gesicht mit den Händen; er ist zutiefst betrübt...
Ein vorübergehender Diener sieht
ihn. Er eilt ins Haus, und kurz darauf kommt Maria heraus. Sie geht zu Jesus
mit lautlosen Schritten, als ob sie den Erdboden nicht berühre, nähert sich
ihm und sagt leise: «Rabbuni, du bist müde... Komm, mein Herr! Deine müden
Apostel sind in das andere Haus gegangen, mit Ausnahme von Simon dem Zeloten.
Du weinst, Meister? Warum... ?»
Sie kniet zu Füßen Jesu nieder...
und beobachtet ihn... Jesus schaut sie an. Er antwortet nicht, steht auf und
geht, von Maria gefolgt, ins Haus.
Sie betreten einen Saal. Weder
Lazarus noch der Zelote sind da. Doch Martha ist da, glücklich und vor Freude
strahlend. Sie wendet sich Jesus zu und erklärt: «Lazarus nimmt ein Bad, um
sich nochmals zu reinigen. Oh, Meister! Meister! Was soll ich sagen!» Sie
betet ihn an mit ihrem ganzen Wesen. Dann bemerkt sie die Traurigkeit Jesu und
sagt: «Du bist traurig, Herr? Bist du nicht glücklich, daß Lazarus ...» Dann
kommt ihr der Gedanke: «Oh, du bist meinetwegen so ernst! Ich habe gesündigt.
Es ist wahr.»
«Wir haben gesündigt, Schwester»,
sagt Maria.
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«Nein, du nicht! Oh, Meister...
Maria hat nicht gesündigt. Maria hat zu gehorchen verstanden. Ich allein bin
ungehorsam gewesen. Ich habe den Knecht gesandt, um dich rufen zu lassen,
denn... denn ich konnte es nicht mehr mitanhören, wie sie behaupteten, daß du
nicht der Messias seiest, der Herr... Und ich konnte dieses Leid nicht länger
mitansehen ... Lazarus hat so sehr nach dir verlangt. Er hat so oft nach dir
gerufen ... Verzeih mir, Herr.»
«Und du, Maria, sagst nichts?»
fragt Jesus.
«Meister... ich ... Ich habe nur
als Frau gelitten. Ich habe gelitten, weil... Martha schwöre, schwöre hier vor
dem Meister, daß du nie, niemals mit Lazarus über sein Delirium sprechen
wirst... Mein Meister... In den letzten Stunden des Lazarus habe ich dich in
deiner ganzen Größe erkannt, o göttliche Barmherzigkeit. Oh, mein Gott! Wie
sehr hast du mich geliebt, du, der du mir vergeben hast, du, Gott, du, der
Reine, du... wenn mein Bruder, der mich doch auch liebt, der aber ein Mensch,
nur ein Mensch ist, mir im Grund seines Herzens nicht alles verziehen hat?!
Nein, ich drücke mich schlecht aus. Meine Vergangenheit hat er nicht
vergessen... Und als die Schwäche des Todes seine Güte, die ich für das
Vergessen der Vergangenheit hielt, überwältigt hatte, schrie er seinen Schmerz
und seine Verachtung für mich hinaus... Oh! ...» Maria weint.
«Weine nicht, Maria. Gott hat dir
verziehen und hat vergessen. Die Seele des Lazarus hat auch verziehen und
vergessen, wollte vergessen. Der Mensch konnte nicht alles vergessen. Und als
das Fleisch in seinem letzten Aufbäumen den geschwächten Willen überwältigte,
hat der Mensch gesprochen.»
«Ich bin ihm deshalb nicht böse,
Herr. Es hat mir geholfen, dich noch mehr zu lieben und auch Lazarus noch mehr
zu lieben. Von diesem Augenblick an aber habe auch ich nach dir verlangt...
denn die Angst, Lazarus würde meinetwegen nicht in Frieden sterben, war zu
groß... Und danach, danach, als ich sah, daß die Juden über dich spotteten...
als ich sah, daß du nicht einmal nach seinem Tod kamst, nicht einmal nachdem
ich dir gehorcht und gehofft hatte über alle Hoffnung hinaus, nachdem ich
gehofft hatte, bis das Grab geöffnet wurde, um ihn aufzunehmen, da hat auch
mein Geist gelitten. Herr, wenn ich zu sühnen hatte, und gewiß hatte ich dies,
so habe ich gesühnt, Herr...»
«Arme Maria. Ich kenne dein Herz.
Du hast das Wunder verdient, und dies möge dich im Glauben und in der Hoffnung
festigen.»
«Mein Meister, ich werde nun
immer glauben und hoffen. Ich werde nie mehr zweifeln, nie mehr, Herr. Ich
werde im Glauben leben. Du hast mir die Fähigkeit gegeben, das Unglaubliche zu
glauben.»
«Und du, Martha? Hast auch du es
gelernt ... ? Nein, noch nicht. Du bist meine Martha, aber noch nicht meine
vollkommene Anbeterin. Warum handelst du nur und betrachtest nicht? Das
Betrachten ist heiliger.
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Siehst du? Deine Kraft, die sich
zu sehr den irdischen Dingen zuwendet, hat dich im Stich gelassen angesichts
der irdischen Tatsachen, für die es manchmal keine Hilfe zu geben scheint. Für
die irdischen Probleme gibt es tatsächlich keine Hilfe, wenn Gott nicht
eingreift. Das Geschöpf muß deshalb zu glauben und zu betrachten wissen. Es
muß bis zum äußersten mit allen seinen menschlichen Kräften, mit den Gedanken,
der Seele, dem Fleisch und dem Blut, zu lieben wissen. Ich wiederhole, mit
allen Kräften, deren der Mensch fähig ist. Ich will dich stark, Martha. Ich
will dich vollkommen. Du konntest nicht gehorchen, weil du es nicht verstanden
hast, vollkommen zu glauben und zu hoffen; und du konntest nicht glauben und
hoffen, weil du nicht vollkommen lieben konntest. Aber ich verzeihe dir. Ich
spreche dich los, Martha. Ich habe heute Lazarus auferweckt. Nun gebe ich dir
ein stärkeres Herz. Ihm habe ich das Leben wiedergegeben. Dir flöße ich die
Kraft ein, in vollkommener Weise zu lieben, zu glauben und zu hoffen. Seid nun
glücklich und im Frieden. Verzeiht allen, die euch in diesen Tagen gekränkt
haben...
«Ja, Herr, hierin habe ich
gefehlt. Vor kurzem sagte ich zu dem alten Chananias, der dich in den letzten
Tagen verspottet hatte: "Wer hat nun gesiegt? Du oder Gott? Dein Spott oder
mein Glaube? Christus ist der Lebendige und die Wahrheit. Ich wußte, daß seine
Herrlichkeit noch wunderbarer erstrahlen würde. Und du, Alter, bessere und
erneuere deine Seele, wenn du nicht den Tod kennenlernen willst."»
«Das hast du gut gesagt. Aber laß
dich nicht mit den Bösewichtern ein, Maria. Verzeih, wenn du mich nachahmen
willst... Da kommt Lazarus. Ich höre seine Stimme.»
In der Tat kommt Lazarus herein,
in neuen Kleidern und die Wangen glatt rasiert, die Haare geordnet und
duftend. Bei ihm sind Maximinus und der Zelote. «Meister!» Lazarus kniet
wiederum in anbetender Haltung nieder.
Jesus legt ihm die Hand aufs
Haupt und sagt lächelnd: «Die Prüfung ist bestanden, mein Freund. Für dich und
die Schwestern. Seid nun glücklich und stark im Dienst des Herrn. An was
erinnerst du dich von der Vergangenheit, mein Freund? Ich meine deine letzten
Stunden...»
«Ich hatte großes Verlangen, dich
zu sehen, und fand großen Frieden in der Liebe der Schwestern.»
«Und was hast du am meisten
bedauert, auf Erden zurücklassen zu müssen?»
«Dich, Herr, und die Schwestern.
Dich, weil ich dir nicht mehr dienen konnte, und sie, weil sie mir alles Glück
geschenkt haben.»
«Oh, ich, Bruder!» seufzt Maria.
«Du mehr als Martha. Du hast mir
Jesus geschenkt und den Maßstab für das, was Jesus ist. Und Jesus hat mir dich
gegeben. Du bist ein Geschenk Gottes, Maria.»
70
«Das hast du auch im Sterben
gesagt...» sagt Maria und betrachtet prüfend das Gesicht des Bruders.
«Es ist mein steter Gedanke!»
«Aber ich habe dir so viel
Schmerz bereitet...»
«Auch die Krankheit hat Schmerzen
bereitet. Doch dadurch hoffe ich, die Sünden des alten Lazarus gesühnt zu
haben und zu einem neuen Leben, gereinigt und Gottes würdig, erstanden zu
sein. Du und ich: die beiden, die auferstanden sind, um dem Herrn zu dienen...
Und zwischen uns Martha, sie, die immer der Friede des Hauses gewesen ist.»
«Hörst du, Maria? Lazarus spricht
Worte der Weisheit und der Wahrheit. Nun will ich mich zurückziehen und euch
eurer Freude überlassen...»
«Nein, Herr" du bleibst bei uns.
Hier. Bleibe in Bethanien und in meinem Haus. Es wird schön sein ...»
«Ich werde bleiben. Ich will dich
für alles entschädigen, was du gelitten hast. Martha, sei nicht traurig.
Martha glaubt, sie hätte mich betrübt. Aber ich leide nicht euretwegen,
sondern vielmehr deretwegen, die sich nicht bekehren wollen. Sie hassen immer
mehr. Sie haben Gift im Herzen... Nun... wir wollen ihnen verzeihen.»
«Wir wollen ihnen verzeihen,
Herr», sagt Lazarus mit seinem sanften Lächeln... und mit diesen Worten ist
alles zu Ende.
Jesus sagt: «Im
Johannesevangelium, so wie man es jetzt seit Jahrhunderten liest, steht:
"Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen" (Joh 11,30). Um möglichen
Einwänden zuvorzukommen, möchte ich bemerken, daß zwischen diesem Satz und dem
des vorliegenden Werkes, in dem es heißt, daß ich Martha wenige Schritte vorn
Wasserbecken im Garten des Lazarus entfernt traf, kein wirklicher Widerspruch
besteht, sondern lediglich Übersetzung und Beschreibung unterschiedlich sind.
Bethanien gehörte zu drei
Vierteln Lazarus, ebenso wie ein großer Teil Jerusalems ihm gehörte. Aber
sprechen wir von Bethanien. Da es ihm zu drei Vierteln gehörte, konnte man
sagen: Bethanien des Lazarus. Daher wäre der Text auch nicht falsch, selbst
wenn ich Martha im Ort oder am Brunnen getroffen hätte, wie einige sagen
wollen. Aber ich hatte tatsächlich das Dorf nicht betreten, um zu vermeiden,
daß die Bewohner herbeieilen, die dem Synedrium alle feindlich gesinnt waren.
Ich war hinten um das Dorf herumgegangen zum Haus des Lazarus, das genau am
entgegengesetzten Ende liegt, wenn man von Ensemes nach Bethanien kommt.
Und deshalb sagt Johannes, daß
Jesus den Ort noch nicht betreten hatte. Ebenso richtig sagt der kleine
Johannes, daß ich am Wasserbecken stehengeblieben war (dem Brunnen für die
Hebräer), das schon im Garten des Lazarus liegt, aber noch sehr weit entfernt
vom Haus.
Ferner ist zu bedenken, daß die
Schwestern während der Zeit der Trauer und der Unreinheit (der siebte Tag nach
dem Tod war noch nicht gekommen) das Haus nicht verließen. Daher fand die
Begegnung im Bereich ihres Besitzes statt.
Beachtet auch, daß der kleine
Johannes berichtet, die Bewohner von Bethanien seien erst in den Garten
gekommen, als ich schon anordnete, den Stein zu entfernen. Zuvor wußte man
also in Bethanien nicht, daß ich dort war, und erst als die Nachricht sich
verbreitete, kamen sie zu Lazarus.»
71
603. GEDANKEN ÜBER DIE
AUFERWECKUNG DES LAZARUS
Jesus sagt:
«Ich hätte rechtzeitig eingreifen
können, um den Tod des Lazarus zu verhindern. Aber ich wollte es nicht. Ich
wußte, daß diese Auferweckung ein zweischneidiges Schwert sein würde; daß die
rechtschaffenen Juden sich bekehren und die Böswilligen noch verstockter
werden würden; daß letztere mich wegen dieses endgültigen Beweises meiner
Macht zum Tod verurteilen würden. Aber dazu war ich gekommen, und die Zeit war
reif, daß sich alles erfüllte. Ich hätte auch sofort nach dem Tod kommen
können. Doch ich wollte mit der Auferweckung eines schon weitgehend verwesten
Leichnams auch die hartnäckigsten Ungläubigen überzeugen. Schließlich
brauchten auch meine Apostel, die dazu bestimmt waren, meinen Glauben in die
Welt zu tragen, einen Glauben, der durch Wunder dieser Größenordnung gefestigt
war.
In den Aposteln war so viel
Menschliches, wie ich schon gesagt habe. Es war dies kein unüberwindliches
Hindernis, sondern eine logische Folge ihrer Berufung im reifen Mannesalter.
Man kann einen Charakter, eine Mentalität nicht von heute auf morgen ändern.
Andererseits wollte ich in meiner Weisheit nicht Kinder erwählen und erziehen
und sie in meinem Geist aufwachsen lassen, um dann aus ihnen meine Apostel zu
machen. Ich hätte es tun können. Ich wollte es nicht tun, denn dann hätte man
mir vorgeworfen, jene zu verachten, die nicht unschuldig sind, und hätte als
Vorwand und Entschuldigung gebraucht, daß ich selbst durch meine Wahl zu
erkennen gegeben habe, daß ein Erwachsener nicht mehr zu ändern ist.
Nein, alles kann man ändern, wenn
man nur will. Und ich habe in der Tat aus Kleinmütigen, Zornmütigen,
Wucherern, Lasterhaften und Ungläubigen Märtyrer und Heilige, Verkünder des
Evangeliums, gemacht. Nur wer nicht will, ändert sich nicht. Ich habe geliebt
und liebe immer noch die Kleinen und die Schwachen – du bist ein Beispiel
dafür – vorausgesetzt, daß sie den Willen haben, mich zu lieben und mir zu
folgen. Aus diesen "Nichts" mache ich meine Bevorzugten, meine Freunde und
meine Vertreter. Immer noch bediene ich mich ihrer, und es ist ein
fortwährendes Wunder, das ich wirke, um dadurch die anderen dazu zu bringen,
an mich zu glauben und die Möglichkeit des Wunders nicht auszuschließen. Wie
wird doch heute diese Möglichkeit so wenig in Betracht gezogen! Gleich der
Lampe, der es an Öl fehlt, wird sie schwach und erlischt, da der Glaube an den
Gott des Wunders schwach oder gar nicht vorhanden ist.
Es gibt zwei Arten, ein Wunder zu
verlangen. In einem Fall gewährt es Gott mit Liebe, im anderen kehrt er
unwillig den Rücken. Im ersten Fall bittet man, wie ich zu bitten gelehrt
habe, unermüdlich und vertrauensvoll.
72
Man wird nie zugeben, daß Gott
einen nicht erhören könnte, da Gott gut ist und die Guten erhört, denn Gott
ist mächtig und vermag alles. Dies ist Liebe, und Gott gewährt dem alles, der
liebt. Der andere Fall ist die Anmaßung der Rebellen, die fordern, daß Gott
ihnen dient, sich zu ihren Bosheiten herabläßt und ihnen gibt, was sie selbst
ihm verweigern: Liebe und Gehorsam. Diese Art ist eine Beleidigung, die Gott
mit dem Entzug seiner Gnade bestraft.
Ihr beklagt euch, daß ich keine
Massenwunder mehr wirke. Wie könnte ich sie wirken? Wo sind die Massen, die an
mich glauben? Wo die wahren Gläubigen? Wie viele wahre Gläubige gibt es in
einer Menschenmenge? Wie einige überlebende Blumen in einem vom Feuer
zerstörten Wald, sehe ich ab und zu eine gläubige Seele. Alle anderen hat
Satan mit seinen Lehren verbrannt. Und immer mehr wird er verbrennen.
Ich bitte euch, als
übernatürlichen Leitsatz meine Antwort an Thomas zu betrachten. Man kann nicht
mein wahrer Jünger sein, wenn man dem menschlichen Leben nicht den Wert
beimißt, den es verdient; es ist kein Endzweck in sich selbst, sondern ein
Mittel, um das wahre Leben zu erwerben. Wer sein Leben in dieser Welt retten
will, wird das ewige Leben verlieren. Ich habe dies bereits gesagt, und ich
wiederhole es. Was sind Prüfungen? Wolken, die vorüberziehen. Der Himmel
bleibt und erwartet euch nach der Prüfung.
Ich habe durch meinen Heroismus
für euch den Himmel erobert. Ihr müßt mich nachahmen. Der Heroismus ist nicht
nur jenen vorbehalten, die ein Martyrium erleiden müssen. Das christliche
Leben ist fortwährender Heroismus, denn es ist ein ständiger Kampf gegen die
Welt, den Dämon und das Fleisch. Ich zwinge euch nicht, mir zu folgen. Ich
lasse euch die Freiheit. Aber Scheinheilige will ich nicht. Entweder mit mir
und wie ich oder gegen mich. Ihr könnt mich nicht betrügen. Ja, mich könnt ihr
nicht betrügen. Und ich beteilige mich nicht an den Bündnissen mit dem Feind.
Wenn ihr ihn mir vorzieht, dann dürft ihr nicht glauben, daß ihr mich
gleichzeitig zum Freund habt. Entweder er oder ich. Wählt.
Der Schmerz Marthas ist anders
als der Marias, wegen der unterschiedlichen Psyche und dem dadurch
unterschiedlichen Verhalten der beiden. Glücklich jene, die so leben, daß sie
nie bereuen müssen, jemanden betrübt zu haben, der nun tot ist und den man
nicht mehr trösten kann in seinem Schmerz. Aber noch glücklicher jene, die
sich nicht anklagen müssen, ihren Gott, mich, Jesus, betrübt zu haben, und
sich vor der Begegnung mit mir nicht fürchten, sondern danach verlangen als
nach einer das ganze Leben ungeduldig erwarteten und endlich erreichten
Freude.
Ich bin euer Vater, Bruder und
Freund. Warum verletzt ihr mich so oft? Wißt ihr denn, wieviel Zeit zu leben
euch noch bleibt? Zu leben, um wiedergutzumachen? Ihr wißt es nicht. Daher
handelt recht, Stunde um Stunde, Tag für Tag, immer. So macht ihr mich immer
glücklich. Und
73
wenn euch Leid trifft – denn der
Schmerz ist Heiligung, ist die Myrrhe, die vor der Verwesung der
Fleischlichkeit bewahrt – werdet ihr immer die Gewißheit haben, daß ich euch
liebe, daß ich euch auch in dieser leidvollen Stunde liebe, und ihr werdet
auch den Frieden haben, der aus meiner Liebe kommt. Du, kleiner Johannes,
weißt, daß ich auch im größten Leid tröste.
In meinem Gebet zum Vater habe
ich wiederholt, was ich am Anfang gesagt habe: Es war nötig, durch ein großes
Wunder die Gleichgültigkeit der Juden und der ganzen Welt zu erschüttern. Und
die Auferweckung eines seit vier Tagen begrabenen Menschen, der nach einer
langen, chronischen, abstoßenden und bekannten Krankheit ins Grab gelegt
worden war, konnte niemanden gleichgültig lassen und mußte alle Zweifel
beseitigen. Hätte ich ihn geheilt, solange er noch lebte, oder ihm den Geist
sofort nach seinem Tod zurückgegeben, hätte die Voreingenommenheit der Feinde
Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Wunders aufkommen lassen können. Aber der
Gestank der Leiche, die durch die Verbände gesickerte Fäulnis und das lange
Verweilen im Grab ließen keine Zweifel zu. Zudem wollte ich – ein Wunder
innerhalb des Wunders – daß Lazarus in Gegenwart aller von den Binden befreit
und gesäubert würde, damit alle sehen, daß nicht nur das Leben, sondern auch
die Gesundheit in die zuvor von Geschwüren bedeckten Glieder zurückgekehrt
war, die das Blut mit Keimen des Todes verseucht hatten. Wenn ich Gnade
schenke, schenke ich immer mehr, als ihr erbeten habt.
Ich habe am Grab des Lazarus
geweint. Und diesen Tränen hat man viele Namen gegeben. Ihr müßt wissen, daß
man Gnaden erhält, wenn man sein Leid mit einem festen Glauben an den Ewigen
verbindet. Ich habe nicht so sehr über den Verlust des Freundes oder über den
Schmerz der Schwestern geweint, als vielmehr, weil sich mir in jener Stunde
lebhafter denn je drei Gedanken aufdrängten – wie ein aufgewirbelter Bodensatz
der Seele – die schon immer wie drei Nägel ihre Spitzen in mein Herz gebohrt
hatten.
Die Erkenntnis, welches Verderben
Satan über den Menschen gebracht hat durch die Verführung zum Bösen. Ein
Verderben, dessen irdische Strafe der Schmerz und der Tod ist. Der leibliche
Tod, Sinnbild und Metapher des geistigen Todes, in den die Schuld die Seele
führt; des geistigen Todes, der sie, die Königin, deren Bestimmung es ist, im
Reich des Lichtes zu leben, in die Finsternis der Hölle stürzt.
Ferner die Gewißheit, daß nicht
einmal dieses Wunder, sozusagen die Krönung der drei Jahre öffentlichen
Wirkens, die jüdische Welt von der Wahrheit, deren Überbringer ich war,
überzeugen würde. Und daß es kein Wunder gab, das die kommende Welt sicher zu
Christus bekehren würde. Oh, welch ein Schmerz, so bald sterben zu müssen für
so wenige!
Endlich die innere Schau meines
bevorstehenden Todes. Ich war Gott.
74
Aber ich war auch Mensch. Und um
Erlöser zu werden, mußte ich die Last der Sühne fühlen. Daher auch den
Schrecken des Todes, eines solchen Todes. Ich war lebendig und gesund und
sagte mir: "Bald werde ich tot sein und wie Lazarus in einem Grab liegen. Bald
wird der furchtbarste Todeskampf mein Gefährte sein. Ich muß sterben." Die
Güte Gottes erspart euch das Wissen um die Zukunft. Doch mir ist es nicht
erspart geblieben.
Oh, glaubt es, ihr, die ihr euch
über euer Schicksal beklagt. Kein Los war trauriger als das meine, denn ich
wußte immer im voraus, was mir geschehen würde, und mußte dies ertragen
zusammen mit der Armut, den Entbehrungen und der Bitterkeit, die mich von der
Geburt bis zum Tod begleiteten. Beklagt euch also nicht. Vertraut auf mich.
Ich gebe euch meinen Frieden.»
604. IN DER STADT JERUSALEM UND
IM TEMPEL NACH DER AUFERSTEHUNG DES LAZARUS
Hatte die Nachricht vom Tod des
Lazarus Jerusalem und einen großen Teil Judäas bewegt und erschüttert, so hat
nun die Kunde von seiner Auferstehung auch alle jene erschüttert und
beeindruckt, die die Nachricht von seinem Tod gleichgültig aufgenommen haben.
Vielleicht haben die wenigen
Pharisäer und Schriftgelehrten, d.h. die Synedristen, die bei der Auferstehung
anwesend waren, dem Volk nichts erzählt. Ganz gewiß aber haben die Juden
darüber gesprochen, und die Nachricht hat sich blitzartig verbreitet. Von Haus
zu Haus, von Terrasse zu Terrasse haben es die Frauen einander mitgeteilt,
während die Armen unten es unter großem Jubel über den Sieg des Christus und
über Lazarus verkünden. Die Straßen sind wieder von Menschen bevölkert, die
da- und dorthin eilen im Glauben, als erste die Nachricht zu überbringen, und
dann enttäuscht sind, weil man sowohl in Ophel wie in Bezetha, auf dem Sion
wie am Xystos schon davon erfahren hat. Man weiß es in den Synagogen und in
den Geschäften, im Tempel und im Palast des Herodes. Man weiß es auch in der
Burg Antonia, und von der Antonia, oder umgekehrt, gelangt die Nachricht zu
den Wachtposten an den Toren. Sie erfüllt die Paläste wie die elenden Hütten:
«Der Rabbi von Nazareth hat Lazarus von Bethanien auferweckt, der am Vorabend
des Freitags gestorben und vor dem Beginn des Sabbats ins Grab gelegt worden
war. Heute, um die sechste Stunde, ist er wieder auferstanden.»
Die hebräischen
Beifallskundgebungen für Christus und den Allerhöchsten mischen sich unter die
verschiedenen: «Beim Jupiter! Beim Pollux! Bei Libitina!» usw. usw. der Römer.
Die einzigen, die ich nicht in
der in den Straßen schwatzenden Menge
75
sehe, sind die Synedristen. Nicht
einen einzigen sehe ich, während ich Manaen und Chuza aus einem vornehmen
Palast kommen sehe und Chuza sagen höre: «Großartig! Großartig! Ich habe die
Nachricht sofort Johanna überbringen lassen. Er ist wahrhaftig Gott!» Und
Manaen antwortet ihm: «Herodes, der von Jericho gekommen ist, um den
Statthalter Pontius Pilatus zu beehren, scheint in seiner Residenz verrückt
geworden zu sein. Herodias ihrerseits ist außer sich und drängt ihn, den
Befehl zur Festnahme des Christus zu geben. Sie zittert wegen seiner Macht. Er
aus Schuldbewußtsein. Er klappert mit den Zähnen und bittet seine
Vertrautesten, ihn zu verteidigen gegen die... Geister. Er hat sich betrunken,
um sich Mut zu machen, und der Wein verwirrt ihm den Kopf und läßt ihn
Gespenster sehen. Er schreit, daß Christus auch den Täufer auferweckt habe,
der nun ständig in seiner Nähe sei und ihm den Fluch Gottes verkünde. Ich bin
aus dieser Hölle geflohen. Ich habe mich darauf beschränkt, ihm zu sagen:
"Lazarus ist auferstanden durch Jesus den Nazarener. Hüte dich, ihn
anzurühren, denn er ist Gott." Er soll nur recht viel Angst haben, damit er
nicht ihren mörderischen Gelüsten nachgibt.»
«Ich hingegen werde zu ihm gehen
müssen. Ich muß zu ihm gehen. Doch zuerst wollte ich noch bei Eliel und Elkana
vorbeischauen. Sie leben zwar zurückgezogen, doch ihr Wort hat immer noch
Geltung in Israel. Johanna sieht es gern, wenn ich sie ehre. Und ich...»
«Sie sind ein guter Schutz für
dich, das ist wahr. Doch kannst du ihn nicht mit der Liebe des Meisters
vergleichen. Sie ist der einzige wirklich wirksame Schutz...»
Chuza widerspricht ihm nicht. Er
denkt nach... Ich verliere sie aus den Augen.
Von Bezetha kommt nun Joseph von
Arimathäa. Er hat es sichtlich eilig, doch eine Gruppe von Bürgern, die noch
unsicher ist, ob man der Nachricht Glauben schenken kann, hält ihn an und
fragt ihn.
«Es ist wahr. Es ist wahr.
Lazarus ist auferstanden und auch geheilt. Ich habe es mit eigenen Augen
gesehen.»
«Dann... ist er also wirklich der
Messias!»
«Seine Werke sprechen dafür. Sein
Leben ist vollkommen. Die Zeit ist reif. Satan bekämpft ihn. Jeder möge in
seinem Herzen erwägen, wer der Nazarener ist», sagt Joseph, vorsichtig und
gleichzeitig gerecht. Dann grüßt er und geht.
Sie überlegen und kommen zu dem
Schluß: «Er ist wirklich der Messias.»
Eine Gruppe von Legionären
unterhält sich: «Wenn möglich, gehe ich morgen nach Bethanien. Bei Venus und
Mars, meinen Lieblingsgöttern! Ich kann die Erde von den glühenden Wüsten bis
zu den eisigen germanischen Ländern bereisen, aber einem, der seit Tagen tot
war und dann auferstanden ist, werde ich nicht mehr begegnen. Ich will sehen,
wie einer
76
aussieht, der von den Toten
kommt. Der muß doch ganz schwarz sein von den Wellen der Flüsse des
Jenseits...»
«Wenn er tugendhaft war, wird er
bläulich sein, da er von den blauen Wellen der Elysischen Gefilde getrunken
hat. Es gibt dort nicht nur den Styx ...»
«Dann wird er uns sagen können,
wie die Asphodelenwiesen des Hades sind... Ich werde mit dir gehen...»
«Wenn Pontius nichts dagegen
hat...»
«Oh, der hat nichts dagegen. Er
hat sofort einen Boten zu Claudia gesandt, damit sie kommt. Claudia liebt
diese Dinge. Ich habe sie schon mehr als einmal mit ihren Freundinnen und
ihrer griechischen Freigelassenen über die Seele und die Unsterblichkeit
diskutieren gehört.»
«Claudia glaubt an den Nazarener.
Für sie ist er größer als jeder andere Mensch.»
«Ja. Aber für Valeria ist er mehr
als ein Mensch. Für sie ist er Gott. Eine Art Jupiter und Apollo soll er sein
in seiner Macht und Schönheit, und weiser als Minerva. Habt ihr ihn schon
gesehen? Ich bin zum erstenmal mit Pontius hierher gekommen und weiß nicht...»
«Ich glaube, du bist zur rechten
Zeit gekommen, um viele Dinge zu sehen. Vor einer Weile hat Pontius mit
Stentorstimme geschrien: "Hier muß alles anders werden. Sie müssen endlich
begreifen, daß Rom befiehlt und sie alle nur Sklaven sind. Und je höher sie
stehen, desto mehr müssen sie gehorchen, weil sie gefährlicher sind." Mir
scheint, daß es wegen des Schreibtäfelchens war, das ihm der Diener des Annas
gebracht hatte ...»
«Ja, er will nicht auf sie
hören... Und er wechselt uns regelmäßig aus, denn er will keine Freundschaften
zwischen uns und ihnen.»
«Zwischen uns und ihnen? Ha, ha,
ha! Mit diesen Höckernasen? Pontius bekommt wohl das viele Schweinefleisch
nicht, das er ißt. Wenn überhaupt, dann die Freundschaft mit einer Dame, die
den Kuß rasierter Gesichter nicht verachtet...» lacht einer spitzbübisch.
«Tatsache ist, daß er nach den
Unruhen beim Laubhüttenfest den Austausch aller Soldaten verlangt und
genehmigt erhalten hat und daß wir nun dran sind und gehen müssen...»
«Das ist wahr. Von Caesarea wurde
schon die Ankunft der Galeere gemeldet, die Longinus und seine Centurie
bringt. Neue Offiziere, neue Soldaten... und alles wegen dieser Reptilien im
Tempel. Mir hat es hier gut gefallen.»
«Mir ist es in Brundisium besser
gegangen... aber ich werde mich daran gewöhnen», sagt einer, der erst vor
kurzem in Palästina angekommen ist.
Sie entfernen sich.
Tempelwächter kommen nun vorbei
mit Wachstäfelchen, und die Leute beobachten sie und sagen: «Das Synedrium hat
eine dringende Versammlung einberufen. Was haben sie im Sinn?»
77
Einer antwortet: «Laßt uns zum
Tempel hinaufgehen und sehen...» Sie schlagen den Weg ein, der zum Berg Moriah
führt.
Die Sonne versinkt hinter den
Häusern des Sion und den westlichen Bergen. Der Abend bricht herein, und bald
sind die Straßen von Neugierigen leer. Die, die zum Tempel hinaufgegangen
sind, kommen unruhig zurück, denn man hat sie sogar von den Toren verjagt, wo
sie sich aufgestellt hatten, um die Synedristen vorbeigehen zu sehen.
Das Innere des Tempels ist
menschenleer und verlassen. Im Mondlicht erscheint alles riesengroß. Die
Synedristen versammeln sich allmählich im Saal des Hohen Rats. Alle sind sie
da, wie bei der Verurteilung Jesu; es fehlen nur die, die damals als Schreiber
tätig waren. Ich sehe nur Synedristen, teils an ihren üblichen Plätzen, teils
in Gruppen an den Türen.
Kaiphas kommt herein, von Gesicht
und Gestalt einer aufgeblasenen giftigen Kröte ähnlich, und begibt sich an
seinen Platz.
Sie beginnen sofort über die
Vorkommnisse zu diskutieren, und das Ganze erregt sie derart, daß die Sitzung
bald sehr bewegt ist. Schließlich verlassen sie ihre Sitze und gehen
gestikulierend und laut redend auf den freien Platz im Raum hinunter. Einige
fordern zu Ruhe und Überlegung auf, bevor sie eine Entscheidung treffen.
Andere widersprechen: «Aber habt
ihr nicht jene gehört, die nach der neunten Stunde gekommen sind? Wenn wir die
einflußreichsten Juden verlieren, was nützt es uns dann, Anschuldigungen zu
sammeln? Je länger er am Leben bleibt, desto weniger wird man unseren
Beschuldigungen glauben.»
«Aber diese Tatsache können wir
nicht leugnen. Wir können nicht zu der Volksmenge, die dort gewesen ist,
sagen: "Ihr habt nicht recht gesehen. Es war alles Einbildung. Ihr wart
betrunken." Der Tote war wirklich tot, verwest, aufgelöst. Er lag in einem
verschlossenen Grab, und das Grab war gut zugemauert. Der Tote lag seit
einigen Tagen unter Binden und Balsam. Er war eingewickelt, gebunden. Und doch
hat er seinen Platz verlassen und ist allein, ohne gehen zu können, an die
Öffnung des Grabes gekommen. Und als er befreit wurde, da war sein Körper
nicht mehr tot. Er konnte atmen und die Fäulnis war verschwunden, während er
als Lebender voller Geschwüre und als Toter schon ganz verwest war.»
«Habt ihr die einflußreichsten
Juden gehört, die wir gedrängt hatten hinzugeben, um sie ganz für uns zu
gewinnen? Sie sind gekommen, um uns zu sagen: "Für uns ist er der Messias."
Fast alle sind sie gekommen! Und das Volk erst... !»
«Und diese verfluchten,
abergläubischen Römer! Was sollen wir mit ihnen anfangen? Für sie ist er
Jupiter Maximus. Und wenn sie bei dieser Ansicht bleiben! Sie haben ihre
Geschichten unter uns bekannt gemacht, und diese sind uns zum Fluch geworden.
Fluch über jene, die den Hellenismus bei uns einführen wollen und uns aus
Schmeichelei durch Bräuche
78
entweiht haben, die nicht die
unseren sind! Aber dies dient auch dazu, uns die Augen zu öffnen. Wir wissen
nun, daß der Römer schnell niederreißt, aber auch rasch wieder aufbaut durch
Verschwörungen und Staatsstreiche. Wenn nun einer von diesen Verrückten hier
sich für den Nazarener begeistert und ihn zum Caesar ausruft... und damit zum
Gott macht, wer kann ihn dann noch anrühren?»
«Aber nein! Wer sollte dies denn
tun? Sie lachen über ihn und uns. Wie unglaublich seine Werke auch sein mögen,
für sie ist er immer ein "Hebräer". Also ein Minderwertiger. Die Angst läßt
dich töricht werden, o Sohn des Annas!»
«Die Angst! Hast du gehört, wie
Pontius auf die Einladung meines Vaters geantwortet hat? Er ist erschüttert,
sage ich dir. Er ist beeindruckt von diesem letzten Ereignis und fürchtet den
Nazarener. Wir sind zu bedauern! Dieser Mensch ist zu unserem Verderben
gekommen!»
«Wären wir wenigstens nicht
dorthin gegangen und hätten wir nur nicht den einflußreichsten Juden fast
befohlen, auch hinzugeben! Wenn Lazarus wenigstens ohne Zeugen auferstanden
wäre.»
«Nun und? Was hätte dies
geändert? Wir hätten ihn doch nicht verschwinden lassen können, um glauben zu
machen, daß er nach wie vor tot ist.»
«Das nicht. Aber wir hätten sagen
können, daß es sich um einen Scheintod gehandelt hat. Bezahlte Zeugen für
falsche Aussagen findet man immer.»
«Warum so viel Aufregung? Ich
sehe keinen Grund dazu! Hat er etwa gegen das Synedrium und den Hohenpriester
aufgewiegelt? Nein. Er hat sich darauf beschränkt, ein Wunder zu wirken.»
«Er hat sich darauf beschränkt?!
Bist du denn töricht oder hast du dich ihm verkauft, Eleazar? Hat er nicht
gegen das Synedrium und den Hohenpriester gehetzt? Auf was wartest du noch?
Die Leute ...»
«Die Leute können sagen, was sie
wollen, aber die Dinge stehen so, wie Eleazar gesagt hat. Der Nazarener hat
nur ein Wunder gewirkt.»
«Noch einer, der ihn verteidigt!
Du bist kein Gerechter mehr, Nikodemus! Dies ist ein Schlag gegen uns. Gegen
uns, verstehst du? Nichts mehr wird das Volk überzeugen können. Oh, wir
Unglücklichen! Ich bin heute von einigen Juden verspottet worden. Ich und
verspottet! Ich!»
«Schweige, Doras! Du bist nur ein
Mensch. Aber die Idee, unsere innersten Überzeugungen sind getroffen worden.
Unsere Gesetze! Unsere Vorrechte!»
«Du hast recht, Simon. Wir müssen
sie verteidigen.»
«Aber wie?»
«Indem wir seine Ideen bekämpfen
und zunichte machen!»
«Das ist leicht gesagt, Sadok.
Aber wie willst du sie vernichten, wenn du nicht einmal fähig bist, eine tote
Fliege wieder lebendig zu machen?
79
Hier braucht es ein größeres
Wunder als das seine. Aber keiner von uns kann es wirken, weil...» Der, der
gerade spricht, weiß nicht warum.
Joseph von Arimathäa beendet
seinen Satz: «Weil wir Menschen sind, nur Menschen.»
Alle stürzen sich auf ihn und
fragen: «Und er, wer ist er denn?»
Joseph antwortet bestimmt: «Er
ist Gott. Wenn ich noch Zweifel gehabt hätte...»
«Aber du hast keine Zweifel
gehabt. Wir wissen es, Joseph. Wir wissen es. Sage uns nur ganz offen, daß du
ihn liebst!»
«Es ist nichts Schlimmes, wenn
Joseph ihn liebt. Ich selbst anerkenne ihn als den größten Rabbi Israels.»
«Du? Du, Gamaliel, sagst das?»
«Ich sage es. Und es ehrt mich,
von ihm... entthront worden zu sein. Denn bis jetzt habe ich die Tradition der
großen Rabbis aufrechterhalten, deren letzter Hillel gewesen ist. Doch wußte
ich nicht, wer nach mir die Weisheit der Jahrhunderte hätte fortsetzen können.
Nun kann ich beruhigt gehen, denn ich weiß, daß die Weisheit nicht sterben
wird; daß sie vielmehr zunehmen wird, vermehrt durch die seine, in der
zweifellos der Geist Gottes gegenwärtig ist.»
«Was sagst du da, Gamaliel?»
«Die Wahrheit. Selbst wenn wir
die Augen verschließen, können wir nicht verkennen, was wir in Wirklichkeit
sind. Wir sind nicht mehr weise, denn der Anfang aller Weisheit ist die Furcht
des Herrn. Und wir sind Sünder ohne Gottesfurcht. Wenn wir diese Furcht
hätten, würden wir nicht den Gerechten unterdrücken und mit törichter Gier
nach den Reichtümern der Welt verlangen. Gott gibt, und Gott nimmt, je nach
den Verdiensten und den bösen Werken. Und wenn Gott uns jetzt nimmt, was er
uns gegeben hatte, um es anderen zu geben, dann sei er gepriesen. Denn heilig
ist der Herr, und heilig sind alle seine Werke.»
«Aber wir haben doch von den
Wundern gesprochen und wollten sagen, daß keiner von uns sie wirken kann, weil
Satan nicht mit uns ist.»
«Nein, weil Gott nicht mit uns
ist. Moses teilte die Wasser und ließ eine Quelle aus dem Fels entspringen.
Josua ließ die Sonne stillstehen. Elias erweckte den Knaben und ließ Regen
fallen. Aber mit ihnen war Gott. Ich möchte euch daran erinnern, daß es sechs
Dinge gibt, die Gott verhaßt sind, und das siebte ist seinem Herzen ein
Abscheu: stolze Augen, falsche Zunge, Hände, die unschuldiges Blut vergießen,
ein Herz, das Böses sinnt, Füße, die zum Bösen eilen, der falsche Zeuge und
jener, der unter den Brüdern Unfrieden stiftet. Wir tun alle diese Dinge. Wir,
sage ich. Aber nur ihr allein tut sie. Denn ich enthalte mich, "Hosanna" oder
"Anathema" zu rufen. Ich warte ab.»
«Das Zeichen! Ja, du wartest auf
das Zeichen! Aber welches Zeichen
80
erwartest du von einem armen
Irren, wenn wir ihm wirklich alles verzeihen wollen?»
Gamaliel erhebt die Hände, und
mit vor sich ausgestreckten Armen, geschlossenen Augen, leicht geneigtem Haupt
und ehrfurchtgebietend wie nie zuvor spricht er langsam mit einer Stimme, die
von sehr weit herzukommen scheint: «Ich habe den Herrn inständig gebeten, mir
die Wahrheit kundzutun, und er hat mir die Worte Jesu, des Sohnes des Sirach,
erklärt: "Der Schöpfer aller Dinge sprach zu mir und gab mir seinen Befehl,
und der mich schuf, ruhte in meinem Zelt und sagte zu mir: 'In Jakob sollst du
wohnen. In Israel soll sein dein Erbbesitz. Fasse Wurzel unter meinen
Auserwählten .... .. Und ferner hat er mir diese Worte erklärt, und ich habe
sie verstanden: "Kommt her zu mir, die ihr mein begehrt, und an meinen
Früchten sättigt euch, denn mein Geist ist süßer als Honig und mein Erbe süßer
als Honigseim. Mein Andenken wird von Geschlecht zu Geschlecht durch die
Jahrhunderte währen. Wer mich verkostet, der wird nach mir hungern, und wer
mich trinkt, der wird nach mir dürsten. Wer auf mich hört, wird nicht
zuschanden werden, und wer sich um mich bemüht, der sündigt nicht. Wer von mir
spricht, wird das ewige Leben haben." Und Licht Gottes erleuchtete meinen
Geist, während meine Augen diese Worte lasen: "Dies alles enthält das Buch des
Lebens, das Testament des Allerhöchsten, die Lehre der Wahrheit... Gott
versprach David, aus seinem Geschlecht den mächtigen König hervorgehen zu
lassen, der auf ewig auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen wird. Er wird von
Weisheit überfließen, wie der Pischon 1) und der Tigris in den Tagen der
Erstlinge, wie der Euphrat strömt er von Bildung über und schwillt an wie der
Jordan zur Zeit der Ernte. Er wird die Weisheit wie Licht ausstrahlen... Er
hat sie als erster vollkommen erkannt." Das hat mich Gott begreifen lassen!
Doch wehe, was sage ich! Die Weisheit, die unter uns weilt, ist zu groß, als
daß man sie verstehen könnte, als daß man ihre Gedanken fassen könnte, die
gewaltiger sind als die Meere, und ihren Rat, der tiefer ist als der große
Abgrund. Und wir hören ihn rufen: "Ich bin wie ein wasserreicher Kanal aus dem
Paradies geflutet und habe gesagt: 'Ich will meinen Garten bewässern.' Da ward
der Graben mir zum Fluß und der Fluß zum Meer. So will ich weiter meine Lehre
leuchten lassen gleich dem Frühlicht, und will sie strahlen lassen bis in die
Fernen. In die tiefsten Tiefen werde ich eindringen, meinen Blick auf die
Schlafenden richten und jene, die auf den Herrn hoffen, erleuchten. Noch
weiter will ich Belehrung wie Prophetenbotschaft ausschütten und sie denen
hinterlassen, die die Weisheit suchen. Und ich werde nicht aufhören, sie zu
verkünden bis zum heiligen Jahrhundert. So habe ich nicht für mich allein mich
gemüht, sondern für alle, die die Wahrheit
1) Einer der vier Flüsse, die aus
dem Paradies strömen.
81
suchen." Dies hat mich Jahwe, der
Allerhöchste, lesen lassen.» Gamaliel läßt die Arme sinken und erhebt das
Haupt.
«Dann ist er also für dich der
Messias?! Sage es!»
«Es ist nicht der Messias.»
«Er ist es nicht? Was ist er dann
für dich? Ein Dämon ist er nicht... ein Engel auch nicht ... der Messias auch
nicht ...»
«Er ist der, der ist.»
«Du phantasierst! Gott ist er?
Gott ist dieser Verrückte für dich?»
«Er ist der, der ist. Gott weiß,
wer er ist. Wir sehen seine Werke. Gott sieht auch seine Gedanken. Aber er ist
nicht der Messias, denn für uns bedeutet Messias König. Er ist nicht und wird
auch nicht König sein. Aber er ist heilig. Und seine Werke sind heilig. Und
wir können nicht unsere Hand gegen den Unschuldigen erheben, ohne eine Sünde
zu begehen. Ich werde der Sünde nicht zustimmen.»
«Aber mit deinen Worten hast du
doch fast gesagt, daß er der Erwartete ist.»
«Ich habe es gesagt. Solange das
Licht des Allerhöchsten leuchtete, sah ich ihn als den Erwarteten. Dann... als
mich die Hand des Herrn nicht mehr hoch oben in seinem Licht hielt, wurde ich
wieder Mensch, der Mensch Israels, und die Worte waren nur noch Worte, denen
der Mensch Israels, ich, ihr, die vor uns und – Gott möge es verhüten – die
nach uns, ihren eigenen, unseren Sinn geben, und nicht den Sinn, den sie im
ewigen Gedanken haben, der sie seinem Diener diktiert hat.»
«Wir reden, weichen vom Thema ab
und verlieren Zeit. Und das Volk empört sich unterdessen», krächzt Chananias.
«Du hast ganz recht! Wir müssen
etwas beschließen und handeln, um uns zu retten und zu siegen.»
«Ihr habt gesagt, daß Pilatus uns
nicht anhören wollte, als wir ihn um seine Hilfe gegen den Nazarener gebeten
haben. Aber wenn wir ihn wissen ließen... Ihr habt gerade gesagt, wenn sich
die Soldaten für ihn begeistern, könnten sie ihn zum Caesar ausrufen... Hm,
eine gute Idee. Laßt uns gehen und dem Prokonsul diese Gefahr vortragen. Wir
werden dann als treue Diener Roms ausgezeichnet werden, und... wenn er gegen
ihn einschreitet, sind wir den Rabbi los. Gehen wir! Gehen wir! Du, Eleazar
des Annas, der du mehr als alle anderen mit ihm befreundet bist, führe uns
an», lacht Elchias falsch wie eine Schlange.
Zuerst zögern sie etwas, doch
dann geht die Gruppe der Fanatischsten hinaus, um sich zur Burg Antonia zu
begeben. Kaiphas bleibt bei den übrigen zurück.
«Um diese Zeit! Man wird sie
nicht empfangen», bemerkt jemand.
«Im Gegenteil! Das ist die beste
Zeit. Pontius ist immer guter Laune, wenn er gegessen und getrunken hat, wie
nur ein Heide essen und trinken kann...»
82
Ich lasse sie bei ihren
Diskussionen zurück und sehe die Szene in der Antonia.
Die kurze Strecke ist rasch und
ohne Schwierigkeiten zurückgelegt, denn das Mondlicht wetteifert mit dem roten
Licht der Lampen am Eingang zum Palast des Prätoriums.
Eleazar gelingt es, sich bei
Pilatus anmelden zu lassen, und sie werden in einen großen, leeren, vollkommen
leeren Saal geführt. Nur ein schwerer Sessel mit niedriger Lehne steht darin,
der mit einem purpurroten Tuch bedeckt ist, das sich lebhaft von dem
strahlenden Weiß des Saales abhebt. Die Synedristen stehen in einer Gruppe
etwas ängstlich und fröstelnd auf dem herrlichen Marmorboden. Niemand kommt.
Absolute Stille, die nur ab und zu von ferner Musik unterbrochen wird,
herrscht im Saal.
«Pilatus ist bei Tisch. Gewiß mit
Freunden. Diese Musik wird im Triclinium gespielt. Es wird Tänze zu Ehren der
Gäste geben ...» sagt Eleazar des Annas.
«Verkommenes Volk! Morgen werde
ich mich reinigen. Die Unzucht dringt durch diese Wände...» sagt Elchias mit
Abscheu.
«Warum bist du dann gekommen? Du
hast doch diesen Vorschlag gemacht!» entgegnet Eleazar.
«Zur Ehre Gottes und für das Wohl
des Vaterlandes bin ich zu jedem Opfer bereit. Und dieses ist groß! Ich hatte
mich eben gereinigt, weil ich mich Lazarus genähert hatte... und nun... Ein
schrecklicher Tag heute...!»
Pilatus kommt nicht. Die Zeit
vergeht. Eleazar, der sich auskennt, geht zu den Türen. Sie sind alle
verschlossen. Die Angst übermannt die Anwesenden. Schreckliche Geschichten
tauchen in ihrer Erinnerung auf, und alle bedauern es, gekommen zu sein. Sie
fühlen sich schon verloren.
Endlich! An der ihnen
gegenüberliegenden Seite – denn sie sind nahe der Tür stehengeblieben, durch
die sie hereingekommen sind – also dort, wo der einzige Sessel steht, öffnet
sich eine Tür und Pilatus kommt herein in einem Gewand, das weiß ist wie der
Saal. Dabei unterhält er sich mit den Gästen und lacht. Dann wendet er sich an
den Sklaven, der den Vorhang an der Tür hält, und befiehlt ihm, Essenzen in
ein Kohlebecken zu schütten und dann parfümiertes Wasser zum Händewaschen zu
bringen. Auch ein Sklave mit Spiegel und Kämmen soll kommen. Um die Hebräer
kümmert er sich nicht, so als ob sie nicht existierten. Diese ärgern sich,
wagen jedoch nicht, sich bemerkbar zu machen.
Drüben bringt man inzwischen
Kohlebecken, streut Harze auf die Glut und gießt duftendes Wasser über die
Hände der Römer. Ein Sklave ordnet mit erfahrenen Händen die Haare,
entsprechend der Mode der reichen Römer. Und die Hebräer ärgern sich...
Die Römer lachen, machen Scherze
und sehen hin und wieder zu der kleinen Gruppe hinüber, die dort im
Hintergrund wartet. Einer spricht mit Pilatus, der sie noch nicht einmal
angesehen hat. Doch Pilatus zuckt
83
nur die Achseln, macht eine
gelangweilte Geste und klatscht in die Hände, um einen Sklaven herbeizurufen,
dem er mit lauter Stimme befiehlt, Süßigkeiten zu bringen und die Tänzerinnen
hereinzuschicken. Die Hebräer beben vor Zorn und Empörung. Man stelle sich
vor, ein Elchias ist gezwungen, Tänzerinnen zu sehen! Sein Gesicht ist ein
Gedicht von Leiden und Haß.
Nun kommen die Sklaven mit
Süßigkeiten in kostbaren Schalen, und hinter ihnen die blumenbekränzten
Tänzerinnen, die kaum von den hauchfeinen schleierartigen Stoffen bedeckt
sind. Die weißen Körper schimmern durch die feinen rosa und hellblauen
Gewänder, wenn sie an den Kohlebecken und den vielen weiter hinten
aufgestellten Lampen vorüberkommen. Die Römer bewundern die Anmut der Körper
und der Bewegungen, und Pilatus verlangt die Wiederholung eines Tanzes, der
ihm besonders gefallen hat. Elchias und sein Anhang wenden sich voll
Verachtung zur Wand, um nicht sehen zu müssen, wie die Tänzerinnen gleich
Schmetterlingen in ihren wehenden, in Unordnung geratenen Gewändern
vorbeihuschen.
Nach dem kurzen Tanz entläßt
Pilatus die Tänzerinnen, wobei er jeder die mit Süßigkeiten gefüllte Schale
reicht, in die er noch achtlos ein Armband wirft. Endlich läßt er sich dazu
herab, sich den Hebräern zuzuwenden, sie zu betrachten, und sagt zu seinen
Freunden: «Und nun muß ich vom Traum zur Wirklichkeit zurückkehren... Von der
Poesie zur... Hypokrisie... Von den anmutigen zu den belastenden Dingen des
Lebens. Es ist ein Elend, Prokonsul zu sein... ! Salve, meine Freunde. Habt
Mitleid mit mir.»
Pilatus ist allein geblieben und
nähert sich nun ganz langsam den Hebräern. Er setzt sich, betrachtet seine
wohlgepflegten Hände und entdeckt etwas, was nicht in Ordnung ist unter einem
Fingernagel. Er ist ganz damit beschäftigt, kümmert sich sofort darum und
zieht ein dünnes goldenes Stäbchen aus dem Gewand, mit dem er das große
Unglück eines unvollkommenen Fingernagels beseitigt...
Dann wendet er in seiner Güte
langsam das Haupt. Er grinst, als er die Hebräer noch immer in ihrer gebeugten
servilen Haltung sieht, und sagt: «Ihr da! Kommt her! Faßt euch kurz! Ich kann
meine Zeit nicht mit unnützen Dingen vergeuden.»
Die Hebräer nähern sich, noch
immer in serviler Haltung, bis ein: «Halt, kommt mir nicht zu nahe!» sie am
Boden festnagelt. «Sprecht! Und steht gerade, denn nur Tiere stehen auf allen
Vieren», und er lacht.
Die Hebräer richten sich bei
diesem Spott auf und stehen kerzengerade.
«Nun? Sprecht! Ihr wolltet
unbedingt kommen. Jetzt, da ihr hier seid, redet.»
«Wir wollten dir sagen... Wir
haben erfahren... Wir sind treue Diener Roms...»
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«Ha, ha, ha! Treue Diener Roms!
Ich werde es den göttlichen Caesar wissen lassen, und er wird glücklich
darüber sein! Wie glücklich er sein wird! Redet, ihr Narren. Aber rasch!»
Die Synedristen zittern vor Zorn,
erwidern aber nichts. Elchias ergreift nun im Namen aller das Wort: «Du mußt
wissen, o Pontius, daß heute in Bethanien ein Mensch vom Tod erweckt worden
ist...»
«Ich weiß es! Seid ihr gekommen,
um mir dies zu sagen? Ich weiß es schon seit vielen Stunden. Glücklich jener,
der schon weiß, was der Tod ist und wie die andere Welt aussieht! Und was kann
ich daran ändern, daß Lazarus des Theophilus vom Tod auferstanden ist? Hat er
mir vielleicht eine Botschaft aus dem Hades mitgebracht?» spottet Pilatus.
«Nein. Aber seine Auferstehung
ist eine Gefahr...»
«Für ihn? Gewiß! Er befindet sich
nun in der Gefahr, noch einmal sterben zu müssen. Eine nicht gerade angenehme
Beschäftigung. Nun, was kann ich da machen? Bin ich denn Jupiter?»
«Keine Gefahr für Lazarus...
sondern für den Caesar.»
«Für? ... Domine! Vielleicht habe
ich getrunken! Habt ihr gesagt: für den Caesar? Wie könnte Lazarus dem Caesar
schaden? Vielleicht fürchtet ihr, daß der Gestank des Grabes die Luft
verpesten könnte, die der Kaiser atmet? Beruhigt euch. Er ist zu weit weg!»
«Das nicht. Aber durch seine
Auferstehung kann Lazarus den Kaiser entthronen.»
«Entthronen? Ha, ha, ha! Das ist
das Tollste, was ich je gehört habe! Dann bin also nicht ich betrunken,
sondern ihr seid es. Vielleicht hat der Schrecken euch um den Verstand
gebracht. Jemanden auferstehen zu sehen... Ich glaube schon, daß so etwas
verwirren kann. Geht, geht zu Bett. Angenehme Ruhe. Nehmt ein heißes Bad. Sehr
heiß! Das ist gut gegen Fieberwahn.»
«Wir sprechen nicht im Wahn,
Pontius. Wir möchten dir nur sagen, daß du schlimmen Zeiten entgegengehst,
wenn du nicht vorsorgst. Ganz gewiß wirst du bestraft, wenn dich der Usurpator
nicht gar noch tötet. In Kürze wird der Nazarener zum König ausgerufen werden,
zum König der Welt! Verstehst du? Deine eigenen Legionäre werden es tun. Sie
sind vom Nazarener verführt, und das heutige Ereignis hat sie begeistert. Was
bist du für ein Diener Roms, wenn du dich nicht um den Frieden Roms kümmerst?
Willst du erleben, wie das Imperium durch deine Untätigkeit erschüttert und
geteilt wird? Willst du erleben, wie Rom besiegt, seine Insignien in den
Schmutz getreten, der Kaiser getötet und alles zerstört wird?»
«Schluß! Jetzt rede ich. Und ich
sage euch, ihr seid Idioten! Noch schlimmer, ihr seid Lügner. Bösewichter seid
ihr! Ihr würdet den Tod verdienen. Hinaus mit euch, ihr infamen Diener eurer
eigenen Interessen, eures Hasses, eurer Niederträchtigkeit! Knechte seid ihr.
Ich nicht. Ich
85
bin römischer Bürger, und
römische Bürger sind niemandes Knechte. Ich bin kaiserlicher Beamter und ich
arbeite für das Wohl des Vaterlandes. Ihr... ihr seid die Untertanen. Ihr...
ihr seid die Unterworfenen. Ihr seid Galeerensträflinge, die an ihre Bänke
gekettet sind, und euer Ärger ist nutzlos... Die Peitsche des Aufsehers droht
euch. Der Nazarener! ... Ihr hättet gerne, daß ich den Nazarener töte? Ihr
möchtet, daß ich ihn ins Gefängnis werfe? Beim Jupiter! Wenn ich zum Wohl Roms
und des göttlichen Kaisers alle gefährlichen Subjekte einsperren oder töten
müßte, hier, wo ich Statthalter bin, dann dürfte ich nur den Nazarener und
seine Gefährten, und nur diese, frei und am Leben lassen. Geht. Verschwindet
und kommt mir nicht mehr unter die Augen. Ihr Aufrührer! Ihr Aufwiegler! Ihr
Diebe und Hehler! Keine einzige eurer Machenschaften ist mir verborgen. Das
sollt ihr wissen. Und ihr sollt auch wissen, daß frische Waffen und neue
Legionäre schon hinter eure Schliche gekommen sind und eure Werkzeuge kennen.
Ihr schreit wegen der römischen Steuer? Aber wie teuer sind euch Melchias von
Galaad, Jonas von Scythopolis, Philippus von Socho, Johannes von Bethaven,
Joseph von Ramot und all die anderen, die wir bald erwischen werden, zu stehen
gekommen? Geht nur nicht zu den Höhlen im Tal, denn dort sind mehr Soldaten
als Steine, und das Gesetz und die Galeeren sind für alle gleich. Für alle!
Versteht ihr? Für alle. Ich hoffe, den Tag zu erleben, da ihr alle in Ketten
liegen werdet, Sklaven unter Sklaven, unter dem Stiefel Roms. Hinaus! Geht und
berichtet euren Gesinnungsgenossen. Auch du, Eleazar des Annas, den ich nicht
mehr in meinem Haus zu sehen wünsche. Berichtet, daß die Zeit der Nachsicht zu
Ende ist und daß ich der Prokonsul bin und ihr die Untertanen seid. Die
Untertanen! Und ich befehle im Namen Roms. Hinaus! Ihr nächtlichen Schlangen!
Vampire! Und der Nazarener will euch erlösen? Wenn er Gott wäre, müßte er euch
mit einem Blitz erschlagen! Dann wäre die Welt vom größten Schandfleck
befreit. Hinaus! Und wagt es nicht, Verschwörungen anzuzetteln, sonst lernt
ihr Schwert und Geißel kennen.»
Pilatus steht auf, geht weg und
schlägt die Tür vor den erschrockenen Synedristen zu. Sie haben nicht einmal
die Zeit, zu sich zu kommen, denn ein bewaffneter Trupp kommt herein und jagt
sie wie Hunde aus dem Saal und aus dem Palast.
Sie kehren in den Saal des
Synedriums zurück und berichten. Die Erregung ist auf dem Höhepunkt. Die
Nachricht von der Gefangennahme vieler Räuber und dem Gefecht in den Höhlen
beunruhigt die Zurückgebliebenen aufs äußerste. Denn viele sind, des Wartens
müde, schon nach Hause gegangen.
«Und doch können wir ihn nicht am
Leben lassen!» schreien einige Priester.
«Wir können ihn nicht
weitermachen lassen. Er handelt, und wir tun
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nichts und verlieren täglich mehr
an Einfluß. Wenn wir ihn weiter in Freiheit lassen, wird er fortfahren, Wunder
zu wirken, und alle werden an ihn glauben. Die Römer werden am Ende noch gegen
uns einschreiten und uns ganz vernichten. Pontius sagt es... Aber wenn die
Volksmassen ihn zum König ausrufen würden, oh, dann hätte Pontius die Pflicht,
uns alle zu bestrafen. Wir dürfen das nicht zulassen», schreit Sadok.
«Nun gut, aber wie? Der römische
Rechtsweg hat nicht zum Ziel geführt. Pontius ist des Nazareners sicher. Unser
Rechtsweg... ist unmöglich gemacht. Jesus sündigt nicht...» bemerkt einer.
«Man erfindet eine Schuld, wenn
keine Schuld vorliegt», rät Kaiphas.
«Aber das wäre Sünde! Meineid!
Einen Unschuldigen verurteilen lassen! Das geht zu weit!» sagen die meisten
mit Abscheu. «Es ist ein Verbrechen, denn es wäre sein Tod!»
«Nun und? Erschreckt euch dies?
Ihr seid töricht und versteht nichts. Nach dem, was vorgefallen ist, muß Jesus
sterben. Begreift ihr denn nicht, daß es besser für uns ist, wenn ein Mensch
stirbt, bevor viele Menschen sterben. Daher muß er sterben, damit sein Volk
gerettet wird und nicht unsere ganze Nation zugrundegeht. Übrigens... sagt er
ja selbst, daß er der Erlöser ist. Also soll er sich opfern, um alle anderen
zu retten», sagt Kaiphas, abstoßend in seinem kalten, verschlagenen Haß.
«Aber Kaiphas! Überlege! Er ...»
«Ich habe gesprochen. Der Geist
des Herrn ruht auf mir, dem Hohenpriester! Wehe denen, die den Hohenpriester
Israels nicht achten! Die Blitze Gottes sollen sie treffen! Genug des Wartens!
Genug der Ängste! Ich befehle und ordne an, daß jeder, der erfährt, wo sich
der Nazarener aufhält, es uns sofort mitteilt. Verflucht sei, wer meinem Wort
nicht gehorcht.»
«Aber Annas...» entgegnen einige.
«Annas hat zu mir gesagt: "Alles,
was du tust, wird heilig sein." Wir wollen die Sitzung aufheben. Am Freitag
zwischen der dritten und der sechsten Stunde treffen wir uns alle hier zur
Beratung. Alle, habe ich gesagt! Laßt es die Abwesenden wissen. Ruft auch alle
Oberhäupter der Familien und der Stände, alle Vornehmen Israels. Das Synedrium
hat gesprochen. Geht.»
Und er zieht sich als erster
dorthin zurück, von wo er gekommen ist, während die anderen nach allen Seiten
auseinandergehen. Leise redend verlassen sie den Tempel und gehen nach Hause.
87
605. JESUS IN BETHANIEN
Schön ist es, sich auszuruhen,
umgeben von der Liebe der Freunde und in der Nähe des Meisters, an diesen
sonnigen Tagen, die schon das erste Lächeln des Vorfrühlings ankündigen. Schön
ist es, die Felder zu betrachten, aus deren Schollen das erste unschuldige
Grün des Getreides sprießt; nach den Wiesen zu sehen, die das eintönige Grün
des Winters mit den ersten vielfarbigen Blümchen besticken; die Hecken zu
bewundern, die an sonnigen Stellen schon mit den ersten aufgebrochenen Knospen
lächeln, und Mandelbäume zu entdecken, die am Gipfel eine Schaumkrone zarter
Blüten tragen.
Jesus freut sich darüber, die
Apostel genießen es, und ebenso die drei Freunde von Bethanien. Das Leid, der
Schmerz, die Traurigkeit, die Krankheit, der Tod, der Haß, der Neid, kurz
alles, was schmerzt, quält und auf der Welt Sorge bereitet, scheint so fern zu
sein.
Die Apostel sind ohne Ausnahme
überglücklich und sagen es auch. Oh, mit welch großer Gewißheit und
Siegessicherheit bringen sie ihre Überzeugung zum Ausdruck, daß Jesus nun über
alle Feinde triumphiert hat, daß er seine Aufgabe ungehindert erfüllen wird,
und daß auch die hartnäckigsten Leugner ihn jetzt als Messias anerkennen
werden. Sie reden, sind begeistert und wie verjüngt vor Glück, und sie machen
Pläne für die Zukunft und träumen... träumen so viel... und allzu menschlich.
Der Übermütigste aufgrund seiner
Veranlagung, die ihn immer zum Extremen treibt, ist Judas von Kerioth. Er
beglückwünscht sich selbst, weil er es verstanden hat, abzuwarten und das
Richtige zu tun, er beglückwünscht sich zu seinem standhaften Glauben an den
Triumph des Meisters und weil er den Drohungen des Synedriums widerstanden
hat... Er ist so begeistert, daß er am Ende sogar noch das sagt, was er bisher
immer verborgen hat, sehr zur Verwunderung der Gefährten: «Ja, sie wollten
mich bestechen. Sie wollten mich verführen mit Schmeicheleien, und als sie
sahen, daß das nicht half, auch mit Drohungen. Wenn ihr wüßtet! Aber ich... !
Ich habe es ihnen mit gleicher Münze heimgezahlt. Ich habe ihnen Freundschaft
vorgeschwindelt, so wie sie mir. Ich habe sie betrogen, wie sie mich betrogen
haben, und ich habe sie verraten, wie sie mich verraten wollten... Denn das
wollten sie. Sie wollten mich glauben machen, daß sie den Meister in guter
Absicht auf die Probe stellen, um ihn dann feierlich als den Heiligen Gottes
auszurufen. Aber ich kenne sie! Ich kenne sie. Und alles, was sie vorhatten,
habe ich so gelenkt, daß die Heiligkeit Jesu strahlender als die Mittagssonne
am wolkenlosen Himmel leuchtete... Es war ein gefährliches Spiel! Wenn sie es
erkannt hätten! Doch ich war zu allem bereit, sogar zu sterben, um Gott in
meinem Meister zu dienen. Und so habe ich alles erfahren... Nun, manchmal muß
ich euch verrückt, böse lind widerspenstig vorgekommen sein. Wenn ihr
88
gewußt hättet! Ich allein weiß,
wie viele Nächte, wieviel Mühe es mich gekostet hat, Gutes zu tun, ohne dabei
aufzufallen! Alle habt ihr mir ein wenig mißtraut. Ich weiß es. Aber ich bin
euch deswegen nicht böse. Meine Art, mich zu benehmen... ja... sie konnte
Mißtrauen erwecken. Doch der Zweck war gut, und ich dachte nur an diesen.
Jesus weiß nichts davon. Das heißt, ich glaube, daß auch er mir mißtraut. Aber
ich kann schweigen und erwarte kein Lob von ihm. Schweigt auch ihr. Einmal, in
der ersten Zeit bei ihm – du, Simon Zelot, und du, Johannes des Zebedäus, ihr
wart dabei – tadelte er mich, weil ich mich gerühmt hatte, einen praktischen
Sinn zu besitzen. Seitdem... habe ich diese Eigenschaft nie mehr
herausgekehrt, sondern sie nur zu seinem Besten eingesetzt. Ich habe es
gemacht wie eine Mutter mit ihrem unerfahrenen Kind. Sie räumt ihm alle
Hindernisse aus dem Weg, biegt ihm den Zweig ohne Dornen zur Seite und nimmt
den weg, der es verletzen könnte. Mit Umsicht veranlaßt sie es zu tun, was es
tun muß, und das Schädliche zu meiden, ohne daß sich das Kind dessen bewußt
wird. Und das Kind glaubt, alles allein erreicht zu haben, allein gehen zu
können ohne zu stolpern, um die schöne Blume für die Mutter zu pflücken und
spontan dies und das zu tun. Ich habe es beim Meister genauso gemacht. Denn
die Heiligkeit genügt nicht in einer Welt der Menschen und des Satans. Wir
müssen mit gleichen Waffen kämpfen, wenigstens als Menschen... und manchmal...
ist es auch nicht schlecht, eine Prise höllischer Schlauheit neben den anderen
Waffen einzusetzen. Das ist meine Meinung. Aber Jesus will davon nichts
hören... Er ist zu gut... Nun, ich verstehe alles und alle und entschuldige
alle, die eine schlechte Meinung von mir gehabt haben könnten. Nun wißt ihr
es. Und nun wollen wir uns als gute Kameraden lieben, alles für seine Liebe
und zu seiner Ehre!» Und Judas deutet auf Jesus, der weit weg auf einem
sonnenbeschienenen Weg spazierengeht und mit Lazarus redet, der ihm mit einem
verklärten Lächeln auf dem Gesicht zuhört.
Die Apostel entfernen sich in
Richtung des Hauses des Simon. Jesus hingegen nähert sich mit dem Freund. Ich
höre ihnen zu. Lazarus sagt. «Ja, ich hatte verstanden, daß es einem wichtigen
Zweck diente, und gewiß einem guten, mich sterben zu lassen. Ich dachte, es
sollte mir erspart bleiben mitanzusehen, wie man dich verfolgt. Und – du
weißt, daß ich die Wahrheit sage – ich war glücklich, zu sterben, um dies
nicht erleben zu müssen. Es verbittert und beunruhigt mich. Siehst du,
Meister, ich habe denen, die die Führer unseres Volkes sind, so vieles
verziehen... Bis zum letzten Tag mußte ich verzeihen... Elchias... Aber der
Tod und die Auferweckung haben ausgelöscht, was vorher war. Wozu mich an ihre
letzten Taten erinnern, mit denen sie mir Leid antun wollten? Ich habe Maria
alles verziehen. Sie scheint daran zu zweifeln. Ich weiß nicht warum, aber
seit ich auferstanden bin, zeigt sie mir gegenüber ein Verhalten... ich weiß
nicht, wie ich es nennen soll. Sie ist von einer Sanftmut und
89
Unterwürfigkeit... die so fremd
bei meiner Maria sind. Nicht einmal in der ersten Zeit, als sie, durch dich
erlöst, hierher zurückkehrte, war sie so... Vielleicht weißt du etwas und
kannst es mir erklären, denn Maria erzählt dir alles... Vielleicht haben jene,
die hier gewesen sind, sie zu sehr beleidigt. Ich habe immer die Erinnerung an
ihre Vergangenheit zu mildern versucht, wenn ich sah, wie sie darüber
nachdachte und darunter litt. Sie kann keine Ruhe finden. Sie scheint so...
über dem, was Demütigung ist, zu stehen. Und einige könnten sogar glauben, daß
sie wenig bereut... Doch ich verstehe.... Ich weiß. Alles tut sie, um zu
sühnen... Sie tut große Buße aller Art. Es würde mich nicht wundern, wenn sie
unter dem Gewand einen Bußgürtel tragen und ihr Fleisch geißeln würde... Aber
meine Bruderliebe, mit der ich ihr zu helfen versuche und den Schleier des
Vergessens über die Vergangenheit breite, haben die anderen nicht... Weißt du,
ob sie vielleicht von jemandem gekränkt worden ist, der nicht verzeihen
kann... wo sie doch so sehr der Vergebung bedarf?»
«Ich weiß es nicht. Lazarus.
Maria hat nicht davon gesprochen. Sie hat nur gesagt, daß sie sehr gelitten
hat wegen der Behauptung der Pharisäer, ich sei nicht der Messias, weil ich
dich nicht geheilt und nicht auferweckt habe.»
«Und hat sie dir nichts über mich
gesagt? Weißt du... ich habe so gelitten... Ich erinnere mich, daß meine
Mutter in ihren letzten Stunden Dinge geoffenbart hat, die weder ich noch
Martha ahnten. Und bei den letzten Regungen ihres Herzens vor dem Tod war es,
als ob der Grund ihrer Seele und ihrer Vergangenheit wieder an die Oberfläche
käme. Ich möchte nicht... Mein Herz hat so viel um Maria gelitten... Und ich
habe mich so bemüht, sie nie merken zu lassen, was ich für sie gelitten
habe... Ich möchte nicht, daß ich sie jetzt verletzt habe, wo sie gut ist,
während ich sie früher, erst aus Bruderliebe und dann aus Liebe zu dir, nie
gekränkt habe in der schlimmen Zeit, da sie unsere Schande war. Was hat sie
dir von mir gesagt, Meister?»
«Sie sprach von ihrem Schmerz, zu
wenig Zeit gehabt zu haben, um dir ihre heilige Liebe als Schwester und
Jüngerin zu schenken. Als sie dich verlor, erkannte sie in ihrem ganzen Ausmaß
die Schätze der Liebe, die sie einst mit Füßen getreten hatte... Und nun ist
sie glücklich, dir alle Liebe schenken zu können, die sie dir geben will, um
dir zu zeigen, daß du für sie der heilige, geliebte Bruder bist.»
«So ist es also! Ich habe es
geahnt! Und ich freue mich darüber. Ich fürchtete, sie beleidigt zu haben...
Seit gestern denke ich nach, immer wieder... und bemühe mich, mich zu
erinnern... Doch es will mir nicht gelingen ...»
«Aber warum willst du dich
erinnern? Du hast die Zukunft vor dir. Die Vergangenheit ist im Grab
zurückgeblieben. Nein, nicht einmal dort ist sie geblieben. Sie ist verbrannt
worden mit den Leichenbinden. Aber wenn es
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dich beruhigt, wiederhole ich dir
die letzten Worte, die du zu deinen Schwestern gesagt hast. Zu Maria
insbesondere. Du hast gesagt, ich sei wegen Maria hierhergekommen und käme
wieder, weil Maria mehr als alle anderen zu lieben versteht. Das ist wahr. Du
hast gesagt, daß sie dich mehr als alle anderen geliebt hat. Auch das ist
wahr, denn sie hat dich geliebt und sich aus Liebe zu Gott und zu dir
geändert. Du hast richtig zu ihr gesagt, daß ein Leben voller Glück und Wonne
dir nicht die Freude geschenkt hätte, die sie dir geschenkt hat. Und du hast
sie gesegnet, wie ein Patriarch seine geliebten Kinder segnet. Du hast Martha
ebenso gesegnet, die du deinen Frieden nanntest, wie Maria, die du deine
Freude nanntest. Bist du nun beruhigt?»
«Jetzt schon, Meister. Jetzt bin
ich beruhigt.»
«Und da der Friede barmherzig
macht, verzeihe auch den Führern des Volkes, die mich verfolgen. Denn dies
wolltest du sagen: daß du alles verzeihen kannst, nur nicht das Böse, das mir
zugefügt wird.»
«So ist es, Meister.»
«Nein, Lazarus. Ich verzeihe
ihnen. Und auch du mußt ihnen verzeihen, wenn du mir ähnlich sein willst.»
«Oh! Dir ähnlich sein! Das kann
ich nicht. Ich bin ein einfacher Mensch.»
«Der Mensch ist dort unten
geblieben. Der Mensch! Dein Geist... Du weißt, was beim Tod eines Menschen
geschieht...»
«Nein, Herr. Ich kann mich an gar
nichts erinnern, was mir geschehen ist», unterbricht ihn Lazarus entschieden.
Jesus lächelt und fährt fort:
«Ich meine nicht dein persönliches Wissen, deine persönliche Erfahrung. Ich
spreche von dem, was jeder Gläubige weiß... von dem, was geschieht, wenn man
stirbt.»
«Ach so, das besondere Gericht.
Ich weiß und ich glaube es. Die Seele erscheint vor Gott, und Gott richtet
sie.»
«So ist es. Und das Urteil Gottes
ist gerecht und unumstößlich. Und hat einen unendlichen Wert. Wenn auf der
gerichteten Seele eine Todsünde lastet, wird sie verdammt. Wenn sie nur eine
leichte Schuld befleckt, kommt sie ins Fegefeuer. Und wenn sie gerecht ist,
kommt sie in den Frieden des Limbus und wartet darauf, daß ich die Pforten des
Himmels öffne. Ich habe also deinen Geist zurückgerufen, nachdem er schon von
Gott gerichtet war. Wärest du verdammt gewesen, hätte ich dich nicht ins Leben
zurückrufen können, denn ich hätte dadurch das Urteil meines Vaters
aufgehoben. Für die Verdammten gibt es keine Veränderung mehr. Sie sind auf
ewig verurteilt. Also warst du bei denen, die nicht verdammt sind. Somit
entweder bei der Gruppe der Seligen oder bei der Gruppe derer, die nach der
Reinigung selig werden. Nun denke nach, mein Freund. Wenn der aufrichtige
Wille zu bereuen, den der Mensch haben kann, solange er noch Mensch ist, also
Leib und Seele, Reinigungswert
91
hat; wenn der symbolische Ritus
der Taufe im Wasser, vom Geist der Buße gewollt wegen der Verunreinigungen
durch die Welt und das Fleisch, für uns Hebräer den Wert einer Reinigung hat;
welchen Wert wird dann erst die Reue, die wahre und vollkommene, viel
vollkommenere Reue einer vom Leib getrennten Seele haben, die sich dessen
bewußt ist, was Gott ist, die erleuchtet ist über die Schwere ihrer Fehler und
die die Größe der Freude erkennt, derer sie sich für Stunden, Jahre oder
Jahrhunderte beraubt hat: der Freude im Frieden des Limbus, die bald die
Freude des Besitzes Gottes sein wird. Sie wird die doppelte und dreifache
Reinigung der vollkommenen Reue sein, der vollkommenen Liebe, des Bades in der
Glut der von der Liebe Gottes und der Liebe der Seele entzündeten Flamme, in
der und durch die die Seelen von jeder Unreinheit befreit werden und aus der
sie schön wie Seraphim hervorgehen, gekrönt mit dem, was nicht einmal die
Seraphim krönt: ihr diesseitiges und jenseitiges Martyrium gegen die
Leidenschaften und aus Liebe. Was wird also diese Reue sein? Sag es, mein
Freund!»
«Ich... ich weiß nicht... Eine
Vervollkommnung. Besser... eine Wiedergeburt.»
«Das ist es. Du hast das richtige
Wort gesagt. Die Seele ist wie neugeboren. Die Seele wird der eines kleinen
Kindes ähnlich. Sie ist neu. Die ganze Vergangenheit existiert nicht mehr. Die
Vergangenheit als Mensch. Und wenn die Schuld der Erbsünde getilgt ist, wird
die von jedem Makel, jedem Schatten eines Makels befreite Seele erneuert und
des Paradieses würdig. Ich habe deine Seele zurückgerufen, die sich schon
erneuert hatte durch den Willen zum Guten, durch die Sühne der Leiden und des
Todes, durch die vollkommene Reue und vollkommene Liebe, die du jenseits des
Todes erlangt hast. Dir hast somit die ganz unschuldige Seele eines
neugeborenen, wenige Stunden alten Kindes. Und wenn du ein neugeborenes Kind
bist, warum willst du dann diese geistige Kindheit mit den rauhen, schweren
Gewändern des erwachsenen Menschen bekleiden? Die Kinder haben Flügel und
keine Ketten an ihrer heiteren Seele. Sie ahmen mich mit Leichtigkeit nach,
denn sie haben noch keinerlei Persönlichkeit entwickelt. Sie sind so, wie ich
bin, denn in ihre noch nicht geprägten Seelen können sich meine Gestalt und
meine Lehre klar und deutlich einprägen. Ihre Seelen sind unberührt von
menschlichen Erinnerungen, Enttäuschungen und Vorurteilen. Nichts ist in
ihnen. Und so kann ich dort sein, vollkommen und unbeschränkt, wie im Himmel.
Du bist wie wiedergeboren, ein neu Geborener, denn in deinem alten Fleisch ist
eine neue Antriebskraft ohne Vergangenheit, rein und ohne Spuren dessen, was
war. Du bist zurückgekehrt, um mir zu dienen. Nur dazu. Daher mußt du sein,
wie ich bin, mehr als alle anderen. Sieh mich an. Sieh mich gut an. Spiegle
dich in mir und widerspiegle mich in dir. Zwei Spiegel, die einander
betrachten und einer im anderen die Gestalt dessen widerspiegeln, den sie
lieben.
92
Du bist Mann und bist Kind. Du
bist Mann durch das Alter und Kind durch die Reinheit des Herzens. Du hast vor
den Kindern den Vorteil, das Gute und das Böse schon zu kennen. Ja, du wußtest
schon vor der Taufe in den Flammen der Liebe das Gute zu wählen. Nun, ich sage
dir, dir, dem Menschen mit der reinen Seele, dessen Reinigung schon vollzogen
ist: "Sei vollkommen wie unser Vater im Himmel, und wie ich es bin. Sei
vollkommen, also mir ähnlich, der ich dich so sehr geliebt habe, daß ich
entgegen allen Gesetzen des Lebens und des Todes, des Himmels und der Erde
gehandelt habe, um auf Erden wieder einen Diener Gottes und wahren Freund und
im Himmel einen Seligen, einen großen Seligen zu haben." Ich sage allen: "Seid
vollkommen." Und sie, die meisten, haben nicht ein Herz wie deines, das eines
Wunders würdig ist; und würdig auch, als Werkzeug zur Verherrlichung Gottes in
seinem Sohn gebraucht zu werden. Und sie schulden Gott nicht so viel Liebe wie
du... Ich kann es sagen. Ich kann es von dir fordern. Und als erstes verlange
ich, daß du keine Rachegefühle hegst gegen die, die dich beleidigt haben und
mich beleidigen. Verzeihe, verzeihe, Lazarus. Du warst eingetaucht in die von
der Liebe entfachten Flammen. Du mußt "Liebe" sein und darfst nichts anderes
mehr kennen als die Umarmung Gottes.»
«Wenn ich das tue, werde ich dann
die Mission erfüllen, für die du mich auferweckt hast?»
«Ja, dann wirst du sie erfüllen.»
«Das genügt mir, Herr. Mehr
brauche ich nicht zu fragen und zu wissen. Dir dienen zu dürfen, danach habe
ich mich immer gesehnt. Wenn ich dir auch mit dem Nichts gedient habe, das ein
Kranker und ein Toter geben kann, und wenn ich dir werde dienen können mit dem
vielen, das ein Geheilter tun kann, so ist mein Wunsch erfüllt und ich
verlange nichts mehr. Sei gepriesen, Jesus, mein Herr und Meister! Und mit dir
der, der dich gesandt hat.»
«Gepriesen sei in alle Ewigkeit
der Herr, der allmächtige Gott.»
Sie gehen nun auf das Haus zu,
bleiben dabei ab und zu stehen und betrachten das Wiedererwachen der Bäume,
und Jesus, der groß ist, streckt einen Arm aus und pflückt einen blühenden
Mandelzweig, der sich an der Südseite des Hauses in der Sonne wärmt.
Maria kommt aus dem Haus, sieht
die beiden und nähert sich ihnen, um zu hören, was Jesus sagt: «Siehst du,
Lazarus ? Auch zu ihnen hat der Herr gesagt: "Kommt heraus." Und sie haben
gehorcht, um dem Herrn zu dienen.»
«Welch ein Geheimnis ist doch das
Keimen! Es scheint unmöglich, daß aus dem harten Stamm oder aus harten Samen
so zarte Blüten und zerbrechliche Stengel hervorkommen und zu Früchten oder
Bäumen werden. Ist es falsch zu sagen, Meister, daß der Saft oder der Keim die
Seele der Pflanze oder des Samens ist?»
93
«Es ist nicht falsch, denn es ist
der lebendige Teil. Bei ihnen zwar nicht ewig, doch geschaffen für jede Art am
ersten Tag, da Bäume und Pflanzen waren. Beim Menschen ewig, seinem Schöpfer
ähnlich, geschaffen von Mal zu Mal für jeden neuen Menschen, der empfangen
wird. Erst durch die Seele lebt die Materie. Und daher sage ich, daß der
Mensch nur für die Seele lebt. Nicht nur hier lebt er, auch im Jenseits. Um
seiner Seele willen lebt er. Wir Hebräer schmücken unsere Gräber nicht mit
Bildern, wie es die Heiden tun. Aber wenn wir etwas abbilden wollten, dann
dürfte es keine erloschene Fackel, keine leere Sanduhr oder sonst ein Symbol
für das Ende sein, sondern ein in die Furche gestreuter Same, der sich zur
Ähre entwickelt hat. Denn der Tod des Fleisches ist es, der die Seele von der
Schale befreit und sie Frucht tragen läßt in den Gärten Gottes. Der Same, der
lebendige Funke, den Gott in unseren Staub gelegt hat und der zur Ähre wird,
wenn wir es verstehen, durch den Willen und auch den Schmerz die Scholle
fruchtbar zu machen, die ihn umgibt. Der Same, das Symbol des Lebens, das sich
fortpflanzt... Aber Maximinus ruft dich...»
«Ich gehe, Meister. Es werden
Verwalter gekommen sein. In den letzten Monaten ist vieles unerledigt
geblieben, und nun beeilen sie sich, mir Rechenschaft abzulegen.»
«Und du heißt ihr Tun schon im
voraus gut, weil du ein guter Herr bist.»
«Und weil sie gute Diener sind.»
«Ein guter Herr macht auch die
Diener gut.»
«Dann werde ich gewiß ein guter
Diener, denn ich habe in dir einen vollkommenen Herrn.» Und Lazarus entfernt
sich lächelnd und leichtfüßig, ganz anders als der arme Lazarus, der er viele
Jahre lang gewesen ist.
Maria bleibt bei Jesus.
«Und du, Maria, wirst du eine
gute Dienerin deines Herrn werden?»
«Das kannst nur du wissen,
Rabbuni. Ich... ich weiß nur, daß ich eine große Sünderin gewesen bin.»
Jesus lächelt: «Hast du Lazarus
gesehen? Auch er war schwer krank, und meinst du nicht, daß er nun ganz gesund
ist?»
«So ist es, Rabbuni. Du hast ihn
geheilt. Und was du tust, tust du immer ganz. Lazarus ist nie zuvor so kräftig
und so heiter gewesen wie jetzt, da er aus dem Grab gestiegen ist.»
«Du hast recht, Maria. Was ich
tue, tue ich immer ganz. Daher bist auch du gänzlich vom Bösen befreit, denn
ich habe diese Befreiung bewirkt.»
«Das ist wahr, mein geliebter
Erretter, Erlöser, König und Gott. Das ist wahr. Und wenn du es willst, werde
auch ich eine gute Dienerin meines Herrn sein. Ich meinerseits will es, Herr.
Ich weiß jedoch nicht, ob auch du es willst.»
94
«Ich will es, Maria. Sei meine
gute Dienerin. Heute mehr als gestern. Morgen mehr als heute. Bis ich zu dir
sagen werde: "Genug, Maria. Nun ist die Stunde deiner Ruhe gekommen."»
«So sei es, Herr. Und ich möchte,
daß du mich dann rufst. So wie du meinen Bruder aus dem Grab gerufen hast. Oh,
rufe mich dann aus dem Leben!»
«Nein, nicht aus dem Leben. Ich
werde dich zum Leben, zum wahren Leben rufen. Ich werde dich aus dem Grab des
Fleisches und der Erde rufen. Ich werde dich zur Hochzeit deiner Seele mit
deinem Herrn rufen.»
«Meine Hochzeit! Du liebst die
Jungfrauen, Herr...»
«Ich liebe jene, die mich lieben,
Maria.»
«Du bist göttlich gut, Rabbuni!
Deshalb konnte ich keinen Frieden finden, als ich hören mußte, wie man dich
böse nannte, weil du nicht gekommen warst. Es war, als ob alles
zusammenbrechen würde. Welche Mühe, mir selbst zu sagen: "Nein, nein, du
darfst dieses Offensichtliche nicht akzeptieren. Was dir offensichtlich
erscheint, ist ein Traum. Die Wirklichkeit ist die Macht, die Güte, die
Gottheit deines Herrn." Ach, was habe ich gelitten! Welcher Schmerz über den
Tod des Lazarus und über seine Worte... Hat er dir nichts gesagt? Erinnert er
sich nicht mehr? Sage mir die Wahrheit...»
«Ich lüge nie, Maria. Er
fürchtet, gesprochen und gesagt zu haben, was der Schmerz seines Lebens
gewesen ist. Aber ich habe ihn beruhigt, ohne zu lügen, und er ist nun ruhig.»
«Danke, Herr. Jene Worte... haben
mir gut getan. Ja, so wie die Behandlung eines Arztes guttut, bei der die
Wurzel des Übels freigelegt und ausgebrannt wird. Sie haben die alte Maria
vollends vernichtet. Ich hatte immer noch eine zu gute Meinung von mir. Nun...
ermesse ich den Abgrund meiner Verworfenheit und weiß, daß ich noch einen
weiten Weg zurückzulegen habe, um wieder herauszukommen. Aber ich werde es
schaffen, wenn du mir hilfst.»
«Ich werde dir helfen, Maria.
Auch wenn ich nicht mehr unter den Menschen weile, werde ich dir helfen.»
«Wie, mein Herr?»
«Indem ich deine Liebe ins
Unendliche vermehre. Für dich gibt es keinen anderen Weg als diesen.»
«Das wäre zu schön für mich, die
noch so viel zu sühnen hat! Alle retten sich durch die Liebe. Alle erlangen
damit den Himmel. Aber was für die Reinen, die Gerechten genügt, genügt nicht
für die große Sünderin.»
«Es gibt keinen anderen Weg für
dich, Maria. Welchen Weg du auch nehmen wirst, er wird immer Liebe sein.
Liebe, wenn du in meinem Namen Gutes tust. Liebe, wenn du die Frohe Botschaft
verkündest. Liebe, wenn du dich absonderst. Liebe, wenn du dich kasteist.
Liebe, wenn du dich martern läßt. Du kannst nichts als lieben, Maria. Das ist
deine Natur.
95
Flammen können nur brennen. Sei
es, daß sie am Boden kriechen und die Streu verbrennen, sei es, daß sie in
leuchtender Umarmung emporstreben an einem Baum, einem Haus oder von einem
Altar, um den Himmel zu erstürmen. Jeder entsprechend seiner Natur. Die
Weisheit der Geisteslehrer besteht darin, auf den Neigungen des Menschen
aufzubauen und ihn auf den Weg zu führen, auf dem er sich zum Guten entwickeln
kann. Auch bei den Pflanzen und den Tieren gilt dieses Gesetz, und es wäre
töricht zu verlangen, daß ein Obstbaum nur blüht oder Früchte trägt, die nicht
seiner Art entsprechen; oder daß ein Tier eine Aufgabe erfüllt, für die ein
anderes bestimmt ist. Könntest du von der Biene dort, deren Bestimmung es ist,
Honig zu sammeln, verlangen, daß sie wie ein Vogel im Dickicht der Hecke
singt? Oder könntest du verlangen, daß dieser blühende Mandelbaumzweig, den
ich in der Hand halte, und der ganze Mandelbaum, von dem ich ihn gepflückt
habe, dem Menschen anstelle der Mandeln duftendes Harz spendet? Die Biene
arbeitet, der Vogel singt, der Mandelbaum trägt Früchte, ein anderer Baum
spendet Wohlgeruch. Und alle erfüllen so ihre Aufgabe. Ebenso ist es bei den
Seelen. Und deine Aufgabe ist es, zu lieben.»
«Dann entzünde mich, Herr. Ich
bitte dich um diese Gnade.»
«Genügt dir nicht die Kraft der
Liebe, die du schon besitzest?»
«Sie ist zu gering, Herr. Sie mag
ausreichen, um die Menschen zu lieben, aber nicht für dich, der du der
unendliche Herr bist.»
«Gerade weil ich es bin, wäre
eine unendliche Liebe nötig ...»
«Ja, mein Herr, diese will ich.
Schenke mir eine unendliche Liebe.»
«Maria, der Allerhöchste, der
weiß, was Liebe ist, hat dem Menschen gesagt: "Du sollst mich lieben mit allen
deinen Kräften." Mehr verlangt er nicht. Denn er weiß, daß es schon ein
Martyrium ist, mit allen seinen Kräften zu lieben.»
«Das macht nichts, mein Herr. Gib
mir eine unendliche Liebe, damit ich dich lieben kann, wie man dich lieben muß
und wie ich noch niemanden geliebt habe.»
«Du bittest mich um ein Leiden,
das dem des Scheiterhaufens gleicht, der brennt und verzehrt. Auf dem man
verbrennt und langsam von den Flammen verzehrt wird... Überlege es dir gut.»
«Schon lange denke ich daran,
mein Herr. Aber ich habe nie gewagt, dich darum zu bitten. Nun weiß ich, wie
sehr du mich liebst. Erst jetzt kenne ich das ganze Ausmaß deiner Liebe und
wage es, dich zu bitten. Gib mir diese unendliche Liebe, Herr!»
Jesus sieht sie an. Sie steht vor
ihm, noch mager von den Nachtwachen und dem Schmerz, mit ihrem einfachen,
bescheidenen Gewand und der schlichten Frisur, wie ein braves Mädchen. Mit
ihrem blassen Antlitz, das sich vor Sehnsucht rötet, und ihren bittenden
Augen, die vor Liebe leuchten, ist sie schon mehr ein Seraph als eine Frau.
Sie ist wahrlich
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die Beschauliche, die das
Martyrium der absoluten Kontemplation erfleht...
Jesus sagt ein einziges Wort,
nachdem er sie lange angesehen hat, als wolle er ihren Willen abwägen: «Ja.»
«Ach, mein Herr! Welche Gnade,
aus Liebe zu dir zu sterben!» Sie fällt auf die Knie und küßt die Füße Jesu.
«Steh auf, Maria. Nimm diese
Blüten. Es sollen die Blumen deiner geistigen Vermählung sein. Sei sanft wie
die Frucht des Mandelbaumes, rein wie seine Blüte, leuchtend wie das aus
seiner Frucht gepreßte Öl, wenn es entzündet ist, und duftend wie dieses Öl,
wenn es mit Essenzen gesättigt bei den Gastmählern versprüht oder auf die
Häupter der Könige gegossen wird, duftend nach deinen Tugenden. Dann wirst du
wahrlich über deinen Herrn den Balsam ausgießen, den er so unendlich liebt.»
Maria nimmt die Blumen, aber sie
erhebt sich nicht, sondern schenkt schon im voraus den Balsam der Liebe mit
ihren Küssen und den Tränen, die sie auf die Füße des Herrn vergießt.
Lazarus kommt ihnen entgegen:
«Meister, eine Knabe ist da, der dich sprechen will. Er ist in das Haus des
Simon gegangen, um dich dort zu suchen, und hat nur Johannes gefunden, der ihn
hierher geführt hat. Aber er will nur mit dir reden.»
«Gut, bring ihn her. Ich werde in
die Jasminlaube gehen.»
Maria kehrt mit Lazarus ins Haus
zurück, und Jesus begibt sich zur Laube. Kurz darauf kommt Lazarus mit einem
Knaben an der Hand, den ich im Haus des Joseph von Sephoris gesehen habe.
Jesus erkennt ihn sofort wieder und grüßt ihn: «Du, Martial? Der Friede sei
mit dir. Warum bist du hier?»
«Sie haben mich geschickt, damit
ich dir etwas sage ...» Er schaut Lazarus an, der versteht und sich entfernen
will.
«Bleibe, Lazarus. Dies ist mein
Freund Lazarus. Du kannst vor ihm sprechen, Kind, denn ich habe keinen
treueren Freund als ihn.»
Der Junge beruhigt sich und sagt:
«Joseph der Älteste schickt mich, denn nun bin ich bei ihm. Ich soll dir
sagen, daß du gleich nach Bethphage zum Haus des Kleon kommen sollst. Er muß
sofort mir dir sprechen. Wirklich sofort. Und er hat gesagt, du sollst allein
kommen, denn er muß mit dir ganz im geheimen reden.»
«Meister, was geht hier vor?»
fragt Lazarus erregt.
«Ich weiß es nicht, Lazarus. Es
bleibt mir nichts anderes übrig, als zu gehen. Komm mit mir.»
«Sofort, Herr. Wir können mit dem
Jungen gehen.»
«Nein, Herr. Ich gehe allein
fort. Joseph hat es mir aufgetragen. Er hat gesagt: "Wenn du es allein und gut
machst, werde ich dich wie ein Vater lieben." Und ich will von Joseph wie ein
Sohn geliebt werden. Ich gehe sofort und laufe. Du kommst in einer Weile.
Salve, Herr. Salve, Mann.»
97
«Der Friede sei mit dir,
Martial.»
Das Kind schwirrt davon wie eine
Schwalbe.
«Gehen wir, Lazarus. Bring mir
den Mantel. Ich gehe voraus, denn wie du siehst, gelingt es dem Jungen nicht,
das Tor zu öffnen, und er wird niemanden rufen wollen.»
Jesus geht rasch zum Tor, und
Lazarus rasch ins Haus. Jesus öffnet die eisernen Schlösser, und der Knabe
eilt fort. Lazarus bringt Jesus den Mantel und geht an seiner Seite den Weg
nach Bethphage.
«Was Joseph nur will? Daß er dir
so heimlich ein Kind schickt ...»
«Ein Kind kann den Blicken der
Spione entgehen», antwortet Jesus.
«Du glaubst, daß... Du hast einen
Verdacht, daß... Du fühlst dich in Gefahr, Herr?»
«Ich bin es ganz gewiß, Freund.»
«Wie, auch jetzt? Aber einen
stärkeren Beweis hättest du doch nicht erbringen können?»
«Der Haß wächst unter dem Stachel
der Wirklichkeit.»
«Oh, meinetwegen also! Ich habe
dir geschadet ... ! Mein Schmerz ist ohnegleichen», sagt Lazarus zutiefst
betrübt.
«Nicht deinetwegen. Quäle dich
nicht grundlos. Du warst das Mittel; der Grund aber war die Notwendigkeit,
verstehst du, die Notwendigkeit, der Welt den Beweis meiner göttlichen Natur
zu erbringen. Wenn du es nicht gewesen wärest, dann wäre es ein anderer
gewesen; denn ich mußte der Welt beweisen, daß ich als Gott, der ich bin,
alles kann, was ich will. Und einen seit Tagen Toten, der schon verwest ist,
zum Leben zu erwecken, kann nur das Werk Gottes sein.»
«Ach, du willst mich nur trösten.
Aber meine Freude, meine ganze Freude ist dahin... Ich leide, Herr.»
Jesus macht eine Bewegung, als
wollte er sagen: «Was kann ich da tun?», dann schweigen beide.
Sie gehen schnell, und da die
Entfernung von Bethanien nach Bethphage nicht groß ist, sind sie bald am Ziel.
Joseph geht am Eingang des Dorfes
auf und ab. Er kehrt Jesus und Lazarus den Rücken, als die beiden auf einem
hinter einer Hecke verborgenen Weg ankommen. Lazarus ruft ihn.
«Oh! Der Friede sei mit euch.
Komm Meister. Ich habe dich hier erwartet, um dich gleich zu sehen; aber gehen
wir in den Olivenhain. Ich will nicht, daß man uns sieht ...»
Er führt sie hinter den Häusern
in einen Ölgarten, der mit seinem dichten Laub den Abhang bedeckt und ein
guter Unterschlupf ist, in dem man sich unbemerkt unterhalten kann.
«Meister, ich habe das Kind
geschickt, das flink und gehorsam ist und mich sehr liebt, da ich mit dir
sprechen muß und wir nicht zusammen gesehen werden dürfen. Ich habe den Kedron
überquert, um hierher zu
98
kommen... Meister, du mußt diese
Gegend sofort verlassen. Das Synedrium hat deine Gefangennahme beschlossen,
und morgen wird dieser Beschluß in den Synagogen verkündet. Jeder, der weiß,
wo du dich aufhältst, hat die Pflicht, dich anzuzeigen. Es erübrigt sich zu
sagen, o Lazarus, daß dein Haus das erste sein wird, das man überwacht. Ich
bin um die sechste Stunde aus dem Tempel gegangen und habe sofort gehandelt;
denn während sie redeten, war mein Plan schon fertig. Ich ging nach Hause und
holte das Kind. Dann ritt ich durch das Herodestor, so als würde ich die Stadt
verlassen. Ich überquerte den Kedron und ritt an ihm entlang, ließ dann den
Esel in Gethsemane zurück und schickte den Jungen eilends zu dir. Er kannte
den Weg, denn er war schon einmal mit mir in Bethanien. Geh augenblicklich
fort, Meister. Begib dich an einen sicheren Ort. Weißt du, wohin du gehen
kannst? Wo man dich aufnimmt?»
«Würde es nicht genügen, wenn er
von hier fortginge? Oder wenn er Judäa verließe?»
«Das genügt nicht, Lazarus. Sie
sind wütend. Er muß an einen Ort gehen, an den sie nicht kommen ...»
«Aber sie kommen überallhin. Du
willst doch nicht sagen, daß der Meister Palästina verlassen muß!» sagt
Lazarus aufgeregt.
«Nun, was soll ich dir sagen...
Das Synedrium will es...»
«Meinetwegen, nicht wahr? Sag es
nur!»
«Nun ja, deinetwegen... d.h.,
weil alle sich zu ihm bekehren... und sie... wollen das nicht.»
«Aber das ist ein Verbrechen! Das
ist Gotteslästerung... Das ist...»
Jesus, bleich aber ruhig, erhebt
die Hand, gebietet Schweigen und sagt: «Schweig, Lazarus. Jeder tut, was er
muß. Alles steht geschrieben. Ich danke dir, Joseph, und versichere dir, daß
ich aufbrechen werde. Geh, geh, Joseph, damit sie deine Abwesenheit nicht
bemerken... Gott segne dich. Durch Lazarus werde ich dich wissen lassen, wo
ich mich aufhalte. Geh. Ich segne dich, Nikodemus und alle, die ein gerechtes
Herz haben.»Er küßt ihn, und sie trennen sich. Jesus kehrt mir Lazarus durch
den Ölgarten nach Bethanien zurück, während Joseph zur Stadt geht.
«Was wirst du tun, Meister?»
fragt Lazarus besorgt.
«Ich weiß es nicht. In einigen
Tagen kommen die Jüngerinnen mit meiner Mutter. Ich hätte gerne auf sie
gewartet.»
«Wenn es nur das ist... Ich
könnte sie in deinem Namen aufnehmen und zu dir führen. Aber du, wohin gehst
du inzwischen? Das Haus des Salomon scheint mir nicht geeignet... Und auch die
Häuser der bekannten Jünger nicht. Morgen... ! Du mußt sofort weggehen!»
«Ich wüßte einen Platz. Aber ich
würde gerne auf meine Mutter warten. Ihre Angst würde zu früh beginnen, wenn
sie mich nicht hier antrifft...»
«Wohin willst du gehen, Meister?»
99
«Nach Ephraim.»
«Nach Samaria? »
«Nach Samaria. Die Samariter sind
weniger Samariter als viele andere, und sie lieben mich. Ephraim liegt an der
Grenze.»
«Oh, und um die Juden zu ärgern,
werden sie dich ehren und verteidigen! Aber... warte! Deine Mutter kann nur
auf der Straße von Samaria oder den Jordan entlang kommen. Ich werde mit
Dienern zur einen und Maximinus mit anderen Dienern zur anderen Straße gehen,
und so wird der eine oder der andere ihr begegnen. Wir werden nur mit ihr
zurückkehren. Du weißt, daß niemand aus dem Haus des Lazarus dich verraten
würde. Du gehst indessen nach Ephraim. Sofort. Ach, es war Schicksal, daß ich
mich deiner nicht erfreuen durfte! Aber ich werde kommen. Über die Berge von
Adummim. Nun bin ich ja gesund und kann tun, was ich will. Und... Ja, ich
werde den Anschein erwecken, daß ich mich über Samaria nach Ptolemais begebe,
um dort ein Schiff nach Antiochia zu nehmen. Alle wissen, daß ich dort
Ländereien habe... Die Schwestern bleiben in Bethanien... Du... Ja, nun lasse
ich zwei Wagen anspannen, und ihr fahrt damit nach Jericho. Von dort aus könnt
ihr morgen bei Sonnenaufgang zu Fuß weitergehen. Oh, Meister! Mein Meister!
Rette dich! Rette dich!» Nach der ersten Aufregung wird Lazarus traurig und
weint. Jesus seufzt, sagt aber nichts. Was sollte er auch sagen ... ?
Nun sind sie beim Haus des Simon
angelangt und trennen sich. Jesus geht ins Haus. Die Apostel, die sich schon
gewundert haben, daß der Meister fortgegangen ist, ohne ein Wort zu sagen,
umringen ihn und Jesus sagt: «Nehmt eure Kleider und packt eure Reisesäcke.
Wir müssen sofort aufbrechen von hier. Beeilt euch und kommt dann ins Haus des
Lazarus.»
«Auch die nassen Gewänder? Können
wir die nicht auf dem Rückweg mitnehmen?» fragt Thomas.
«Wir kehren nicht zurück. Nehmt
alles mit.»
Die Apostel entfernen sich und
tauschen vielsagende Blicke aus. Jesus geht, um seine Sachen im Haus des
Lazarus zu holen, und verabschiedet sich von den bestürzten Schwestern.
Die Wagen stehen bald bereit. Es
sind schwere, bedeckte und von kräftigen Pferden gezogene Wagen. Jesus
verabschiedet sich von Lazarus, Maximinus und den herbeigeeilten Dienern.
Sie besteigen die Wagen, die an
einem Hinterausgang warten. Die Lenker treiben die Tiere an, und die Reise
beginnt... auf dem gleichen Weg, auf dem Jesus vor wenigen Tagen gekommen ist,
um Lazarus zu erwecken.
100
606. AUF DEM WEG NACH EPHRAIM
In dieser frischen, klaren
Morgenstunde sind die Felder rings um das Haus der Nike ein einziges Grünen
jungen, erst einige Zentimeter hohen Getreides, dessen zarte Tönung an einen
sehr hellen Smaragd erinnert. Der kahle Obstgarten in der Nähe des Hauses
erscheint noch dunkler und massiver im Gegensatz zu der Zartheit der Halme und
dem durchsichtigen Himmel in seiner paradiesischen Heiterkeit. Taubenflug
krönt das weiße Haus in der ersten Morgensonne.
Nike ist bereits aufgestanden und
eifrig damit beschäftigt, alles vorzubereiten, um es den Abreisenden unterwegs
an nichts fehlen zu lassen. Sie entläßt zuerst die beiden Diener des Lazarus,
die in ihrem Haus übernachtet haben. Nachdem sie sich gestärkt haben, fahren
sie im Trab davon. Nike kehrt in die Küche zurück, wo Dienerinnen auf großen
Feuern Milch und Speisen kochen. Sie gießt aus einem großen Gefäß Öl in zwei
kleinere Krüge und füllt Wein in Lederbeutel. Sie treibt eine Dienerin an, die
flache, fladenartige Brote formt, diese sofort in den schon vorgeheizten
Backofen zu schieben. Sie wählt unter den auf großen Brettern in der Wärme der
Küche trocknenden Käsen die schönsten aus und füllt Honig in kleine Flaschen
mit sicherem Verschluß. Dann packt sie alle diese Lebensmittel ein. Eines der
Pakete enthält ein ganzes Böcklein oder Lamm, das eine Dienerin von dem Spieß
nimmt, an dem sie es geröstet hat. Ein anderes enthält korallenrote Äpfel,
wieder ein anderes schon gebrauchsfertige Oliven, und ein drittes getrocknete
Weintrauben. Auch ein Säckchen mit gereinigter Gerste ist dabei. Nike ist noch
damit beschäftigt, dieses zu verschließen, als Jesus die Küche betritt und
alle Anwesenden grüßt.
«Meister, der Friede sei mit dir.
Du bist schon aufgestanden?»
«Ich hätte es schon früher tun
sollen. Aber meine Jünger waren so müde, daß ich sie noch etwas schlafen
lassen wollte. Was tust du da, Nike?»
«Ich bereite alles vor... Sie
werden nicht zu schwer sein; siehst du, zwölf Pakete... und ich habe die Kraft
derer, die sie tragen müssen, berücksichtigt.»
«Und ich?»
«Oh, Meister, du hast schon deine
Last ...» und in Nikes Augen glänzen Tränen.
«Komm mit hinaus, Nike. Wir
wollen ruhig miteinander sprechen.»
Sie gehen hinaus und entfernen
sich vom Haus.
«Mein Herz weint, Meister ...»
«Ich weiß es. Aber man muß stark
sein. Stark sein und daran denken, daß man mir keinen Schmerz zugefügt hat.»
«Oh, das möge niemals geschehen!
Aber ich hatte geglaubt, ich könnte
101
in deiner Nähe bleiben... deshalb
bin ich nach Jerusalem gekommen. Sonst wäre ich hiergeblieben, wo ich meine
Ländereien habe...»
«Auch Lazarus, Maria und Martha
haben gehofft, mit mir zusammensein zu können. Und du siehst!»
«Ich sehe. Ja, ich sehe. Nach
Jerusalem gehe ich nun nicht mehr, da du nicht dort bist. Ich werde näher bei
dir sein, wenn ich hier bleibe, und ich kann dir helfen.»
«Du hast schon viel gegeben...»
«Nichts habe ich gegeben. Ich
wollte, ich könnte dir überall, wohin du gehst, mein Haus nachtragen. Aber ich
werde kommen, ganz gewiß werde ich kommen, um nachzusehen, was du brauchst.
Nun werde ich erst einmal tun, was du mir aufgetragen hast. Ich werde
hierbleiben, bis sie sich überzeugt haben, daß du nicht bei mir bist. Aber
dann ...»
«Es ist ein langer und mühseliger
Weg für eine Frau, und ein sehr unsicherer.»
«Oh, ich habe keine Angst. Ich
bin zu alt, um als Frau noch zu gefallen, und ich habe keine Schätze bei mir,
die mich als Beute begehrenswert machen könnten. Die Räuber sind besser als
viele von denen, die sich für Heilige halten, während sie selbst Räuber sind,
die dir den Frieden und die Freiheit rauben wollen...»
«Du darfst sie nicht hassen,
Nike.»
«Das fällt mir schwerer als alles
andere. Aber ich will mich bemühen, aus Liebe zu dir nicht zu hassen... Ich
habe die ganze Nacht geweint, Herr!»
«Ich habe dich unermüdlich wie
eine Biene kommen und gehen gehört. Und du schienst mir wie eine Mutter, die
in Sorge um den verfolgten Sohn ist... Weine nicht. Weinen sollten die
Schuldigen, nicht du. Gott ist gut mit seinem Messias. In den traurigsten
Stunden läßt er mich immer den Trost eines mütterlichen Herzens finden ...»
«Und wie wirst du es mit deiner
Mutter machen? Du hast mir gesagt, daß sie bald gekommen wäre ...»
«Sie wird nach Ephraim kommen...
Lazarus sorgt dafür, daß sie benachrichtigt wird. Da sind Simon des Jonas und
meine Brüder...»
«Wissen sie Bescheid?»
«Noch nicht, Nike. Ich werde es
ihnen sagen, wenn wir weit weg sind.»
«Und ich werde dir, wenn ich
komme, berichten, was hier und in Jerusalem geschieht...»
Sie gehen zu den Aposteln, die
einer nach dem anderen aus dem Haus kommen, um Jesus zu suchen.
«Kommt, Brüder. Eßt noch etwas
vor der Abreise. Es ist alles bereit.»
«Nike hat unseretwegen die ganze
Nacht nicht geschlafen. Dankt der guten Jüngerin», sagt Jesus beim Betreten
der geräumigen Küche, in der auf einem Tisch, der so groß ist wie der Tisch
eines Refektoriums, Schalen
102
Mit dampfender Milch stehen, und
von dem der Duft der soeben aus dem Ofen gekommenen Brotfladen aufsteigt. Nike
bestreicht sie großzügig mit Butter und Honig und erklärt, daß dies eine
kräftigende Nahrung sei für alle, die in diesen noch frischen Morgenstunden
einen weiten Weg zurücklegen müssen.
Die Mahlzeit ist bald beendet.
Nike hat inzwischen die letzten Pakete gemacht mit dem knusprigen, frischen
Brot, und jeder Apostel nimmt sein Bündel, das so gut zusammengeschnürt ist,
daß man es bequem tragen kann.
Nun ist es Zeit zu gehen. Jesus
grüßt und segnet. Die Apostel grüßen. Aber Nike will sie noch bis an die
Grenze ihrer Felder begleiten; dann kehrt sie langsam zurück und weint in
ihren Schleier, während Jesus sich mit den Seinen auf einer Nebenstraße
entfernt, die Nike ihm gezeigt hat.
Die Gefilde sind noch verlassen.
Der Weg führt über Felder mit jungem Getreide und durch kahle Weinberge. Daher
fehlen auch die Hirten, denn sie führen ihre Herden nicht auf bearbeitetes
Land. Die Sonne erwärmt ein wenig die Morgenluft. Die ersten Blümchen am Boden
glitzern wie Juwelen unter dem Schleier des Taues, den die Sonne entzündet.
Die Vögel zwitschern ihre ersten Liebeslieder. Die schöne Jahreszeit bricht
an. Alles wird schöner und erneuert sich, alles ist Liebe... Und Jesus begibt
sich in das Exil, das dem vom Haß gewollten Tod vorangeht.
Die Apostel reden nicht. Sie
denken nach. Die rasche Abreise hat sie verwirrt. Sie waren so sicher, daß nun
alles in Ordnung ist. Sie gehen gebeugter, als es unter dem relativ geringen
Gewicht ihrer Reisesäcke und der Vorräte Nikes nötig wäre. Die Enttäuschung,
die Erkenntnis dessen, was die Welt und die Menschen sind, drückt sie nieder.
Jesus hingegen lächelt zwar
nicht, ist aber weder traurig noch niedergeschlagen. Er geht mit erhobenem
Haupt allen voran, nicht gerade energisch, aber auch nicht ängstlich. Er geht
wie einer, der weiß, wohin er gehen und was er tun muß. Er geht als der
Starke, der Held, den nichts erschüttern und erschrecken kann.
Die Nebenstraße endet an der
Hauptstraße. Jesus geht auf ihr in nördlicher Richtung weiter. Und die Apostel
folgen ihm schweigend. Da es die Straße ist, die von Galiläa durch die
Dekapolis und Samaria nach Judäa führt, sind schon Reisende unterwegs. Vor
allem Karawanen von Kaufleuten.
Die Zeit vergeht, und die Sonne
wärmt immer stärker. Da verläßt Jesus die Hauptstraße und schlägt wieder einen
schmalen Weg ein, der durch Getreidefelder zu den ersten Hügeln führt.
Die Apostel sehen sich
gegenseitig an. Vielleicht wird ihnen jetzt bewußt, daß sie nicht durch das
Jordantal nach Galiläa gehen, sondern in Richtung Samaria. Aber sie sagen noch
nichts.
Als sie bei den ersten Wäldern
der Hügel angelangt sind, sagt Jesus:
103
«Wir wollen anhalten, rasten und
etwas essen. Die Sonne zeigt den Mittag an.»
Sie sind nun an einem Bach, der
wenig Wasser führt, da es schon seit geraumer Zeit nicht mehr geregnet hat.
Aber das spärliche Wasser fließt klar über den kiesbedeckten Boden, und am
Ufer liegen große Steine, die als Tische und Sitze dienen können. Sie setzen
sich, nachdem Jesus das Mahl gesegnet und geopfert hat, und essen nachdenklich
und schweigend.
Jesus rüttelt sie auf und sagt:
«Fragt ihr mich nicht, wohin wir gehen? Hat die Sorge um den morgigen Tag eure
Zungen gelähmt, oder habt ihr das Gefühl, daß ich nicht mehr euer Meister
bin?»
Die Zwölf heben das Haupt. Zwölf
betrübte oder zumindest verwirrte Gesichter wenden sich dem ruhigen Antlitz
Jesu zu, und ein einziges «Oh!» kommt aus den zwölf Mündern. Diesem
allgemeinen Ausruf folgt die Antwort des Petrus, der für alle spricht:
«Meister, du weißt, daß du es immer für uns bist. Doch seit gestern ist es,
als hätten wir einen schweren Schlag auf den Kopf erhalten. Und es scheint uns
alles nur ein Traum zu sein. Und du... Wir sehen und wir wissen, daß du es
bist... doch du scheinst uns schon... irgendwie fern zu sein. Dieses Gefühl
haben wir schon, seit du mit deinem Vater gesprochen hast, vor der
Auferweckung des Lazarus; und seit du ihn da herausgeholt hast, so in seine
Binden gewickelt, und nur durch deinen Willen, und ihn lebendig gemacht hast,
nur durch die Stärke deiner Macht. Das macht uns fast Angst. Ich spreche für
mich ... aber ich glaube, daß alle dasselbe empfunden haben ... Und nun ...
Wir ... diese Abreise... so rasch und so geheimnisvoll!»
«Habt ihr jetzt doppelt Angst?
Spürt ihr die Gefahr näherrücken? Habt ihr oder fühlt ihr nicht die Kraft in
euch, euch den letzten Prüfungen zu stellen und sie zu bestehen? Sagt es mir
frei heraus. Wir sind noch in Judäa, und es ist nicht weit zu den ebenen
Straßen nach Galiläa. Jeder kann gehen, wenn er will, und rechtzeitig gehen,
um nicht den Haß des Synedriums zu erfahren...»
Die Apostel werden sehr erregt
bei diesen Worten. Wer sich in das von der Sonne erwärmte Gras gelegt hat,
setzt sich auf, und wer gesessen ist, springt auf die Füße.
Jesus fährt fort: «Denn ab heute
bin ich der vom Gesetz Verfolgte. Das sollt ihr wissen. Zu dieser Stunde wird
in den fünfhundert und mehr Synagogen Jerusalems und der anderen Städte, die
den gestern um die sechste Stunde ausgesprochenen Bann erhalten haben,
verkündet, daß ich der große Sünder bin. Und jeder, der weiß, wo ich mich
aufhalte, ist verpflichtet, mich beim Synedrium anzuzeigen, damit ich
gefangengenommen werden kann.»
Die Apostel schreien auf, als ob
sie ihn schon in Ketten sähen. Johannes wirft sich an Jesu Hals und klagt:
«Ach, ich habe es schon immer vorausgesehen!» Und er schluchzt laut. Die einen
beschimpfen das Synedrium,
104
die anderen rufen die göttliche
Gerechtigkeit an, einige weinen nur, und andere erstarren zur Statue.
«Schweigt und hört zu! Ich habe
euch nie betrogen. Ich habe euch immer die Wahrheit gesagt. Wenn es mir
möglich war, habe ich euch verteidigt und beschützt. Eure Nähe war mir lieb
wie die von Söhnen. Ich habe euch auch meine letzte Stunde nicht verborgen...
die Gefahren für mich... meine Leiden. Doch es waren meine Angelegenheiten,
ausschließlich meine. Nun seid auch ihr in Gefahr, eure Sicherheit, eure
Familien, und ihr müßt es euch überlegen. Ich bitte euch, es zu tun. Mit
voller Freiheit. Seht dabei ab von eurer Liebe zu mir und von eurer Berufung
durch mich. Ich entbinde euch jeglicher Verpflichtung gegen Gott und seinen
Christus. Nehmt an, daß ihr mir hier und jetzt zum erstenmal begegnet seid
und, nachdem ihr mich angehört habt, entscheiden müßt, ob es angebracht ist
oder nicht, dem Unbekannten zu folgen, dessen Worte euch erschüttert haben.
Nehmt an, ihr würdet mich zum erstenmal sehen und hören und ich würde euch
sagen: "Nehmt euch in acht, denn ich werde verfolgt und gehaßt, und wer mich
liebt und mir nachfolgt, wird verfolgt und gehaßt werden wie ich. Und er
selbst, sein Besitz und seine Verwandten werden in Gefahr sein. Gebt acht,
denn die Verfolgung kann auch zum Tod und zur Beschlagnahme des
Familienbesitzes führen." Überlegt und entscheidet. Und ich werde euch noch
ebenso lieben, auch wenn ihr mir sagen solltet: "Meister, ich kann nicht mehr
mit dir gehen." Seid ihr nun traurig? Nein, das dürft ihr nicht sein. Wir sind
gute Freunde, die in Frieden und Liebe überlegen, was zu tun ist, und
Verständnis füreinander haben. Ich kann euch nicht der Zukunft entgegengehen
lassen, ohne euch Gelegenheit zum Nachdenken zu geben. Ich schätze euch nicht
gering. Ich liebe euch alle. Aber ich bin der Meister. Und der Meister kennt
natürlich seine Jünger. Ich bin der Hirte, und der Hirte kennt seine Schafe
genau. Ich weiß, daß meine Jünger, wenn sie ohne genügende Vorbereitung vor
eine Prüfung gestellt werden, versagen oder zumindest nicht siegreich aus ihr
hervorgehen könnten, wie ein Athlet im Stadion. Und zu eurer Vorbereitung ist
nicht nur die Weisheit nötig, die vom Meister kommt und daher gut und
vollkommen ist, sondern auch die Überlegung, die von eurer Seite kommen muß.
Sich prüfen und abwägen ist eine weise Regel, immer. In kleinen und großen
Dingen. Ich, der Hirte, muß zu meinen Schafen sagen: "Seht, ich gehe nun in
das Gebiet der Wölfe und Mörder... Habt ihr die Kraft, mir dorthin zu folgen?"
Ich könnte euch auch schon sagen, wer nicht die Kraft haben wird,
standzuhalten in der Prüfung, und euch diesbezüglich beruhigen und versichern,
daß keiner von euch durch die Hand der Mörder fallen wird, die das Lamm Gottes
schlachten werden. Meine Gefangennahme ist für sie von solchem Wert, daß sie
sich damit begnügen werden... Und doch sage ich euch: "Überlegt." Einmal sagte
ich euch: "Fürchtet euch nicht vor denen, die töten." Ich sagte euch: "Wer
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die Hand an den Pflug gelegt hat
und sich umwendet, um die Vergangenheit zu betrachten oder das, was er
verlieren oder gewinnen könnte, ist für meine Mission nicht geeignet." Aber es
waren Normen, um euch einen Maßstab zu geben für das, was ein Jünger ist.
Normen für die kommenden Zeiten, wenn nicht mehr ich, sondern meine Getreuen
Meister sein werden. Sie wurden gegeben, um eure Seelen stark zu machen. Aber
auch die Stärke, die ihr unleugbar erlangt habt gegenüber dem Nichts, das ihr
wart – ich spreche von eurem Geist – reicht nicht aus für die Schwere der
Prüfung. Oh, denkt nicht in euren Herzen: "Der Meister nimmt Anstoß an uns."
Ich nehme keinen Anstoß. Ja, ich sage euch vielmehr: Nicht einmal ihr dürft,
jetzt und in der Zukunft, Anstoß nehmen an eurer Schwäche. In allen kommenden
Zeiten wird es unter den Gliedern meiner Kirche, seien sie Schafe oder Hirten,
Menschen geben, die der Größe ihrer Aufgabe nicht entsprechen. Es werden
Zeiten kommen, da es mehr falsche als echte Gläubige und mehr falsche als
echte Hirten geben wird. Zeiten der Finsternis für den Geist des Glaubens in
der Welt. Aber eine Finsternis ist nicht der Tod eines Gestirnes. Sie ist nur
eine zeitweilige, mehr oder weniger teilweise Verdunkelung. Und danach
erstrahlt seine Schönheit nur noch leuchtender. So wird es auch bei meiner
Herde sein. Ich sage euch: "Überlegt." Und ich sage euch dies als Meister,
Hirte und Freund. Ich lasse euch volle Freiheit, miteinander darüber zu
sprechen. Ich gehe in den Wald dort und bete. Einer nach dem anderen könnt ihr
dann zu mir kommen und mir eure Gedanken mitteilen. Und ich werde eure
Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit segnen, zu welchem Schluß auch immer sie euch
führen mag. Und ich werde euch lieben für alles, was ihr mir bisher schon
gegeben habt. Lebt wohl.» Jesus erhebt sich und geht.
Die Apostel sind erschüttert,
verwirrt, gerührt. Zuerst bringt keiner ein Wort heraus. Dann sagt Petrus als
erster: «Die Hölle soll mich verschlingen, wenn ich ihn verlasse! Ich bin
meiner sicher. Selbst wenn alle Dämonen der Gehenna mir mit dem Leviathan an
der Spitze entgegenkämen, würde ich mich nicht aus Angst von ihm trennen!»
«Ich auch nicht! Sollte ich
meinen Töchtern nachstehen?» sagt Philippus.
«Ich weiß genau, daß sie ihm
nichts antun werden. Das Synedrium droht; aber es handelt nur deshalb so, weil
es sich überzeugen will, daß es noch existiert. Sie wissen ganz genau, daß sie
nichts tun können, wenn Rom nicht will. Ihre Verurteilung! Nur Rom kann
verurteilen!» sagt Iskariot selbstsicher.
«Aber für religiöse
Angelegenheiten ist immer noch das Synedrium zuständig», bemerkt Andreas.
«Hast du etwa Angst, Bruder?
Vergiß nicht, daß es in unserer Familie noch nie Feiglinge gegeben hat»,
ermahnt Petrus drohend. In seinem Herzen beginnt sich ein kriegerischer Geist
zu rühren.
106
«Ich habe keine Angst und hoffe
es beweisen zu können. Ich möchte nur Judas meine Meinung sagen.»
«Du hast recht. Doch der Fehler
des Synedriums liegt darin, daß es die Waffe der Politik gebrauchen will, da
es nicht zugeben und auch nicht hören will, die Hand gegen den Christus
erhoben zu haben. Ich weiß es gewiß. Sie möchten, oder vielmehr, sie hätten
gerne den Christus zur Sünde verleitet, um ihn zum Gegenstand der Verachtung
des Volkes zu machen. Aber ihn töten! Sie! O nein! Sie haben Angst! Eine
menschlich nicht zu ermessende Angst, denn es ist eine Angst der Seele. Sie
wissen ganz genau, daß er der Messias ist. Sie wissen es. Sie wissen es so
gut, daß sie spüren, daß sie am Ende sind und eine neue Zeit anbricht. Und
deshalb wollen sie ihn vernichten. Aber sie ihn vernichten?! Nein. Daher
suchen sie einen politischen Grund, damit der Statthalter, damit Rom ihn
vernichtet. Aber der Christus schadet Rom nicht, und Rom wird ihm nicht
schaden. Und das Synedrium geifert vergebens.»
«Dann bleibst du also bei ihm?»
«Aber sicher. Sicherer als alle
anderen!»
«Ich habe nichts zu gewinnen oder
zu verlieren, ob ich nun bleibe oder gehe. Ich habe nur die Pflicht, ihn zu
lieben. Und ich werde es tun», sagt der Zelote.
«Ich erkenne ihn als den Messias
an, und deshalb folge ich ihm», sagt Nathanael.
«Auch ich. Ich habe an ihn
geglaubt von dem Augenblick an, da Johannes der Täufer ihn mir als den Messias
bezeichnet hat», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Wir sind seine Brüder. Zum
Glauben fügen wir unsere Liebe als Verwandte hinzu. Nicht wahr, Jakobus?» sagt
Thaddäus.
«Er ist seit Jahren meine Sonne.
Ich folge ihrem Lauf. Wenn er in den von den Feinden gegrabenen Abgrund
stürzt, dann werde ich ihm folgen», antwortet Jakobus des Alphäus.
«Und ich? Könnte ich vergessen,
daß er mich erlöst hat?» fragt Matthäus.
«Mein Vater würde mich siebenmal
siebenmal verfluchen, wenn ich den Meister verlassen würde. Und im übrigen,
selbst wenn es nur aus Liebe zu Maria wäre, ich würde mich nie von Jesus
trennen», sagt Thomas.
Johannes sagt nichts. Er steht
traurig und mit geneigtem Haupt da. Die anderen fassen sein Verhalten als
Schwäche auf, und mehrere fragen ihn: «Und du? Du allein willst ihn
verlassen?»
Johannes erhebt sein in Ausdruck
und Blick so reines Antlitz. Er sieht die Fragenden mit seinen klaren, blauen
Augen an und sagt: «Ich habe für uns alle gebetet. Denn wir wollen handeln und
entscheiden und verlassen uns auf uns selbst, und wir merken nicht, daß wir
dadurch an den Worten des Meisters zweifeln. Wenn er uns unvorbereitet nennt,
dann
107
beweist dies, daß wir es sind.
Wenn es uns in drei Jahren nicht gelungen ist uns vorzubereiten, werden wir es
in wenigen Monaten erst recht nicht schaffen...»
«Was sagst du? In wenigen
Monaten? Was weißt du denn? Bist du etwa ein Prophet?» Sie bestürmen ihn
beinahe in tadelndem Ton.
«Ich bin nichts.»
«Was weißt du dann? Hat er dir
vielleicht etwas gesagt? Du kennst ja immer seine Geheimnisse ...» sagt Judas
von Kerioth eifersüchtig.
«Hasse mich nicht, Freund, weil
ich begreife, daß die glückliche Zeit vorüber ist. Wann es sein wird? Ich weiß
es nicht. Ich weiß, daß es sein wird. Er selbst sagt es. Wie oft hat er es
schon gesagt! Wir wollten es nur nicht glauben. Doch der Haß der anderen
bestätigt seine Worte... Und daher bete ich. Denn man kann nichts anderes tun.
Ich bitte Gott, daß er uns stärke. Hast du vergessen, Judas, daß er zum Vater
betete, um Kraft in den Versuchungen zu erlangen? Alle Kraft kommt von Gott.
Ich ahme meinen Meister nach, wie es sich gebührt...»
«Also, du bleibst?» fragt Petrus.
«Wo soll ich denn hingehen, wenn
ich nicht bei ihm bleibe, der mein Leben und mein höchstes Gut ist? Aber da
ich nur ein armer Junge bin, der geringste von allen, erbitte ich alles von
Gott, dem Vater Jesu und unserem Vater.»
«Abgemacht, so bleiben wir also
alle. Gehen wir zu ihm. Ganz gewiß ist er traurig. Unsere Treue wird ihn
trösten», sagt Petrus.
Jesus hat sich zum Gebet
niedergeworfen. Das Gesicht im Gras, fleht er gewiß den Vater an. Doch beim
Geräusch der sich nähernden Schritte steht er auf und blickt seine Zwölf an.
Er betrachtet sie mit etwas traurigem Ernst.
«Freue dich, Meister. Keiner von
uns wird dich verlassen», sagt Petrus.
«Ihr habt euch zu rasch
entschieden, und...»
«Stunden und Jahrhunderte werden
unseren Beschluß nicht ändern», sagt Petrus.
«Noch Drohungen unsere Liebe zu
dir», erklärt Iskariot.
Jesus betrachtet sie nun nicht
mehr alle zusammen, sondern blickt einen nach dem anderen fest an. Lange
Blicke, die alle ohne Furcht ertragen. Sein Blick verweilt besonders auf
Iskariot, der ihn sicherer als alle anderen ansieht. Schließlich breitet er in
einer ergebenen Geste die Arme aus und sagt: «Gehen wir. Ihr alle habt euer
Schicksal besiegelt.» Er kehrt an seinen vorigen Platz zurück, nimmt seine
Tasche und ordnet an: «Wir nehmen die Straße nach Ephraim, die, die man uns
bezeichnet hat.»
«Nach Samaria?!» Das Staunen ist
groß.
«Nach Samaria. An die Grenze
wenigstens. Auch Johannes ging an diese Orte und lebte dort bis zu der Stunde,
da er Christus predigen sollte.»
108
«Aber er wurde trotzdem nicht
gerettet!» entgegnet Jakobus des Zebedäus.
«Ich versuche nicht, mich zu
retten, ich will retten. Und ich werde zur festgesetzten Stunde retten. Zu den
unglücklichsten Schafen geht der verfolgte Hirte, damit sie, die Verlassenen,
ihren Anteil an der Weisheit erhalten und auf die neue Zeit vorbereitet sind.»
Jesus schreitet nun schnell
voran. Die Rast hat dazu gedient, Kräfte zu sammeln und das Sabbatgebot zu
achten. Und er will am Ziel sein, bevor die Nacht das Weitergehen unmöglich
macht.
Als sie den Bach erreichen, der
von Ephraim kommt und zum Jordan fließt, ruft Jesus Petrus und Nathanael zu
sich, gibt ihnen eine Börse und sagt: «Geht voraus und sucht Maria des Jakob
auf. Ich erinnere mich, daß Malachias sie als die Ärmste des Ortes bezeichnet
hat, trotz ihres großen Hauses, nun, da ihre Söhne und Töchter nicht mehr bei
ihr sind. Wir werden bei ihr wohnen. Gebt ihr eine beträchtliche Summe, damit
sie uns gleich aufnimmt, ohne mit tausend Leuten darüber zu reden. Ihr kennt
das Haus. Das große, von vier Granatapfelbäumen beschattete, gleich bei der
Brücke am Bergbach.»
«Wir kennen es, Meister. Wir
werden tun, was du sagst.» Und sie entfernen sich eilends, während Jesus ihnen
mit den anderen langsam folgt.
In der Mulde, die der Bach in
zwei Halbkreise teilt, sieht man das weiße Dorf im letzten Tageslicht und im
ersten Mondschein schimmern. Keine Seele ist mehr unterwegs, als sie zu dem
schon ganz im Mondlicht getauchten Haus kommen. Nur das Rauschen des Baches
ist in der abendlichen Stille zu hören. Dreht man sich um und betrachtet den
Horizont, sieht man einen breiten Streifen sternenbesäten Himmels sich über
einer Landschaft wölben, die sich der verlassenen Ebene in Richtung dem Jordan
zu senkt. Tiefer Friede liegt über dem Land.
Sie klopfen an die Tür. Petrus
öffnet: «Alles erledigt, Herr. Die Alte hat geweint, als sie sah, daß ich ihr
Geld gab. Sie hatte keinen Heller mehr. Ich sagte ihr: "Weine nicht, Frau. Wo
Jesus von Nazareth ist, da gibt es kein Leid mehr." Sie hat geantwortet: "Ich
weiß es. Ich habe mein ganzes Leben gelitten, und nun hatte ich wahrhaft die
Grenze des Erträglichen erreicht. Aber der Himmel hat sich über meinem Abend
geöffnet und bringt mir den Stern Jakobs, um mir Frieden zu schenken." Nun ist
sie dort drüben und richtet die seit langem verschlossenen Zimmer her. Obwohl
es da wenig zu richten gibt... Aber die Frau scheint sehr gut zu sein. Da ist
sie. Frau! Der Rabbi ist da!»
Eine dürre Greisin mit sanften,
traurigen Augen nähert sich. Sie bleibt verwirrt und schüchtern einige
Schritte vor Jesus stehen.
«Der Friede sei mit dir, Frau.
Wir werden dich nicht viel stören.»
«Ich... wollte, ich wollte, du
würdest über mein Herz schreiten, um dir
109
den Eintritt in mein armes Haus
angenehmer zu machen. Tritt ein, Herr, und Gott möge mit dir einkehren.» Unter
dem leuchtenden Blick Jesu sind wieder Leben und Kraft in die arme Alte
zurückgekehrt.
Sie gehen alle ins Haus und
schließen die Tür. Das Haus ist geräumig wie eine Herberge und leer wie ein
verlassenes Gebäude. Nur die Küche wirkt freundlich durch das Feuer, das auf
dem Herd in der Mitte des Raumes brennt. Bartholomäus, der das Feuer schürt,
wendet sich lächelnd um und sagt: «Meister, tröste die Frau. Sie ist traurig,
weil sie dir nicht mehr Ehre erweisen kann.»
«Mir genügt dein Herz, Frau.
Sorge dich um nichts. Morgen werden wir vorsehen. Auch ich bin arm. Bringt die
Vorräte. Unter Armen teilt man Brot und Salz, ohne sich zu schämen und mit
brüderlicher Liebe. Für dich ist es die Liebe eines Sohnes, Frau, denn du
könntest mir Mutter sein, und ich will dich als Mutter ehren...»
Die betrübte alte Frau weint
lautlose Tränen, trocknet die Augen mit dem Schleier und flüstert: «Ich habe
drei Knaben und sieben Mädchen gehabt. Einen Knaben hat mir der Gießbach
geraubt und einen das Fieber. Der dritte hat mich verlassen. Fünf Mädchen
haben die Krankheit des Vaters geerbt und sind gestorben. Das sechste ist bei
einer Geburt gestorben. Und das siebte... Ach, was mir der Tod nicht genommen
hat, das hat die Sünde mir genommen. In meinem Alter ehren mich meine Kinder
nicht, und das macht mich so... Im Dorf sind sie gut zu mir... aber gut zu der
armen Frau. Du bist gut zu der Mutter...»
«Auch ich habe eine Mutter. Und
in jeder Frau und Mutter ehre ich meine Mutter. Doch weine nicht. Gott ist
gut. Habe Vertrauen. Die Kinder, die dir geblieben sind, können noch zu dir
zurückkehren. Und die anderen sind im Frieden ...»
«Ich halte es aber für eine
Strafe, weil ich von hier bin ...»
«Habe Vertrauen. Gott ist
gerechter als die Menschen ...»
Die Apostel, die mit Petrus in
die Zimmer gegangen sind, kommen nun zurück. Sie bringen die Vorräte, wärmen
das geröstete Lamm Nikes über dem Feuer und bringen es dann zum Tisch. Jesus
opfert und segnet und fordert die Alte auf, mit ihnen zu essen, anstatt in
ihrem Winkel die mageren Wurzeln ihres Abendbrotes zu verzehren.
Das Exil an der Grenze Judäas hat
begonnen.
607. DER ERSTE TAG IN EPHRAIM
«Der Friede sei mit dir,
Meister», sagen Petrus und Jakobus des Zebedäus, die mit vollen Wasserkrügen
ins Haus zurückkehren.
«Der Friede sei mit euch. Woher
kommt ihr?»
110
«Vom Bach. Wir haben Wasser
geholt, und wir werden noch mehr holen, um uns zu waschen, da wir hier
haltgemacht haben... Es ist nicht recht, daß sich die Alte unseretwegen
abmüht. Sie macht drüben schon ein Riesenfeuer, um das Wasser zu wärmen. Mein
Bruder ist in den Wald gegangen und holt Holz. Da es schon lange nicht mehr
geregnet hat, brennt das Holz wie Stroh», erklärt Jakobus des Zebedäus.
«Ja, und man hat uns am Bach und
im Wald schon gesehen, obwohl es eben erst Tag geworden ist. Wenn man bedenkt,
daß ich extra zum Bach und nicht zum Brunnen gegangen bin...» sagt Petrus.
«Und warum, Simon des Jonas?»
«Weil am Brunnen immer Leute
sind, die uns erkennen und vielleicht sofort hierher kommen...»
Während sie so reden, haben die
beiden Söhne des Alphäus, Judas von Kerioth und Thomas den langen Korridor
betreten, der das Haus in zwei Teile teilt, so daß sie die letzten Worte des
Petrus und die Antwort Jesu hören: «Nun, was nicht heute in den ersten Stunden
des Tages geschieht, geschieht gewiß später. Spätestens morgen, denn wir
bleiben hier ...»
«Hier ... ? Aber... Ich habe
geglaubt, daß wir nur kurz bleiben...» sagen mehrere.
«Es ist kein Aufenthalt, um uns
nur auszuruhen. Wir bleiben... und gehen hier erst wieder fort, wenn wir zum
Osterfest nach Jerusalem zurückkehren.»
«Oh, ich dachte, als du von der
Gegend der Wölfe und Räuber sprachst, daß du diese Gegend meintest und sie
durchqueren wolltest, wie du es schon öfters getan hast, um anderswohin zu
gelangen, ohne auf den von Juden und Pharisäern benutzten Straßen zu wandern»,
sagt Philippus, der dazugekommen ist, und andere sagen: «Auch ich habe das
geglaubt.»
«Dann habt ihr mich falsch
verstanden. Dies hier ist nicht die Gegend der Wölfe und Räuber, obwohl es in
den Bergen echte Wölfe gibt. Aber ich spreche nicht von den Tieren ...»
«Oh, das ist doch klar», ruft
Judas von Kerioth etwas ironisch aus. «Für dich, der du dich das "Lamm"
nennst, sind selbstverständlich die Menschen die Wölfe. Wir sind nicht ganz
dumm.»
«Nein, das seid ihr nicht. Ihr
seid nur in dem dumm, was ihr nicht begreifen wollt; also wenn es um mein
wahres Wesen geht, um meine Aufgabe und den Schmerz, den ihr mir zufügt, weil
ihr euch nicht eifrig bemüht, euch auf die Zukunft vorzubereiten. Zu eurem
Wohl spreche ich zu euch und belehre euch durch Wort und Beispiel. Aber ihr
lehnt ab, was den schwachen Menschen in euch beunruhigt, nämlich die
Ankündigung von Schmerz und die Forderung, gegen euer Ich anzukämpfen. Hört
mich an, bevor die Fremden kommen. Ich teile euch nun in zwei Gruppen von
fünf, und ihr geht unter der Leitung des Führers jeder Gruppe in die Umgebung,
111
wie in der ersten Zeit, als ich
euch aussandte. Denkt an alles, was ich euch damals gesagt habe, und wendet es
an. Der einzige Unterschied wird sein, daß ihr nun den Tag des Herrn als
unmittelbar bevorstehend verkündet, auch den Samaritern, so daß auch sie
bereit sind und ihr sie leichter zum einzigen Gott bekehren könnt. Seid
liebevoll und klug, ohne Vorurteile. Ihr werdet sehen und immer besser sehen,
daß uns hier vieles gewährt wird, was man uns anderenorts verweigert. Daher
seid gut zu diesen, die unschuldig für die Sünden ihrer Väter büßen. Petrus
wird das Haupt der Gruppe sein, zu der Judas des Alphäus, Thomas, Philippus
und Matthäus gehören. Jakobus des Alphäus wird Andreas, Bartholomäus, Simon
den Zeloten und Jakobus des Zebedäus anführen. Judas von Kerioth und Johannes
bleiben bei mir. Morgen beginnt ihr. Heute wollen wir uns ausruhen und tun,
was uns auf die Zukunft vorbereitet. Den Sabbat werden wir gemeinsam
verbringen. Sorgt also dafür, daß ihr vor dem Sabbat zurück seid und danach
wieder abreisen könnt. Der Sabbat soll der Tag unserer gegenseitigen Liebe
sein, nachdem wir den Nächsten in der Herde geliebt haben, die den väterlichen
Schafstall verlassen hat. Geht nun alle an eure Arbeit.»
Jesus bleibt allein und zieht
sich in einen Raum am Ende des Ganges zurück.
Das Haus hallt wider von
Schritten und Stimmen, obgleich alle in ihren Zimmern sind und man niemand
außer der alten Frau sieht, die mehrmals den Gang überquert bei ihrer Arbeit.
Eine davon ist bestimmt das Brotbacken, denn ihre Haare sind mit Mehl bestäubt
und ihre Hände voller Teig.
Nach einer Weile kommt Jesus aus
seinem Zimmer und begibt sich auf die Terrasse des Hauses. Er geht
nachdenklich dort oben auf und ab und schaut sich hin und wieder um.
Nun gesellen sich Petrus und
Judas von Kerioth zu ihm, die nicht gerade glücklich aussehen. Vielleicht tut
es Petrus leid, sich von Jesus trennen zu müssen. Judas Iskariot tut es wohl
leid, dies nicht zu können, da er nicht weggehen und sich in der Stadt
wichtigmachen kann. Auf jeden Fall sind beide sehr ernst, als sie zur Terrasse
hinaufsteigen.
«Kommt her. Seht, was für eine
schöne Aussicht.» Und Jesus weist auf den so abwechslungsreichen Horizont, der
im Nordwesten hohe, waldige Berge aufweist, ein Kamm, der sich von Norden nach
Süden zieht. Ein Berg direkt hinter Ephraim ist wahrhaft ein grüner Riese, der
alle anderen überragt. Im Nordosten und Südosten wellen sich sanfte Hügel. Das
Dorf liegt in einer grünen, sich bis in weite Fernen erstreckenden Mulde
zwischen den beiden Bergketten, der höheren und der niedrigeren, die wiederum
von hier bis zur Jordanebene verlaufen. Durch einen Einschnitt in den
niedrigeren Bergen kann man diese grüne Ebene und jenseits davon auch den
blauen Jordan sehen. Mitten im Frühling muß es hier sehr schön
112
sein, alles grün und fruchtbar.
Doch jetzt unterbricht das dunkle Braun der Weinberge und Obstgärten noch das
Grün der Getreidefelder, aus deren Schollen zarte Halme sprießen, und der
fetten Weiden auf dem fruchtbaren Boden.
Wenn Johannes das, was hinter
Ephraim liegt, Wüste nennt, so heißt das, daß die Wüste Judäas doch sehr
angenehm war, zumindest in dieser Gegend; oder vielleicht wird sie nur deshalb
so genannt, weil dort keine Dörfer, sondern nur Wälder und Weiden zwischen
heiteren Bächlein zu finden sind. Ganz anders als im Gebiet um das Tote Meer,
das man zu recht Wüste nennt, da es trocken ist und keinerlei Vegetation
aufweist, wenn man von den niedrigen, dornigen, verkrüppelten und
salzbedeckten Sträuchern absieht, und den wenigen Wüstenbäumen, die zwischen
den Felsen und dem salzigen Strand wachsen. Diese sanfte Wüste jenseits von
Ephraim hingegen zieren über weite Strecken Weinberge, Olivenhaine und
Obstbäume, und um diese Zeit lächeln die Mandelbäume mit ihren rosa
Blütenbüscheln der Sonne zu, während die Rebstöcke schon bald die Hügel mit
den Girlanden ihres frischen Grüns schmücken werden.
«Es ist beinahe wie in meiner
Stadt», sagt Judas.
«Auch Jutta gleicht diesem Ort.
Nur ist dort der Bach unten und die Stadt auf einer Anhöhe. Hier scheint es,
als liege die Ortschaft in einer weiten Muschel, und der Fluß fließt in der
Mitte. Wie viele Weinberge! Es muß sehr schön und nutzbringend für den
Eigentümer sein, hier Land zu besitzen», bemerkt Petrus.
«Es steht geschrieben: "Vom Herrn
gesegnet sei sein Land mit dem Köstlichsten vom Himmel droben und den Quellen
aus dem Abgrund, mit dem Köstlichsten, was die Sonne hervorbringt, und dem
Köstlichsten, was die Monde sprießen lassen, mit dem Besten der uralten Berge
und dem Köstlichsten der ewigen Hügel, dem Köstlichsten der Erde und ihrer
Fülle." Und auf diese Worte des Pentateuch gründen sie ihren
unerschütterlichen Stolz und ihren Glauben, den anderen überlegen zu sein. So
ist es. Auch das Wort Gottes und seine Gaben werden zur Ursache des
Verderbens, wenn sie hochmütigen Herzen zuteil werden. Sie selbst sind nicht
schlecht, doch der Stolz verdirbt ihre guten Eigenschaften», sagt Jesus.
«Eben. Die Nachkommen des
gerechten Joseph haben nur die Wut des Stieres und die Hartnäckigkeit des
Nashorns geerbt. Ich mag nicht hier sein. Warum läßt du mich nicht mit den
anderen gehen?» fragt Iskariot.
«Gefällt es dir nicht, bei mir zu
sein?» fragt Jesus und betrachtet nun nicht mehr die Landschaft, sondern dreht
sich um und sieht Judas an.
«Bei dir schon, aber nicht bei
den Leuten von Ephraim.»
«Eine schöne Antwort! Und wir,
die wir nach Samaria oder in die Dekapolis gehen wollen, da wir in der Zeit
zwischen dem einen und dem anderen Sabbat nicht weiter kommen, werden wir es
etwa mit Heiligen zu tun haben?» sagt Petrus vorwurfsvoll zu Judas, der nicht
antwortet.
113
«Was kümmert es dich, wer in
deiner Nähe ist, wenn du durch mich alles zu lieben verstehst? Liebe mich in
deinem Nächsten, dann wird jeder Ort gleich sein», sagt Jesus ruhig.
Judas antwortet auch ihm nicht.
«Wenn ich bedenke, daß ich gehen
muß ... Und ich würde so gerne hierbleiben. So gerne... Ich bin doch so
unfähig! Meister, ernenne wenigstens Philippus oder deinen Bruder zum Führer
meiner Gruppe. Ich kann zwar sagen: "Tun wir dies oder jenes, laßt uns da-
oder dorthin gehen", aber wenn ich zum Volk sprechen soll... ! Ich werde alles
verderben ...»
«Der Gehorsam wird dir helfen,
alles gut zu machen. Und ich werde Wohlgefallen haben an dem, was du tust.»
«Nun, wenn es dir gefällt,
gefällt es auch mir. Mir genügt es, dich glücklich zu machen. Aber schau! Ich
habe es doch gesagt! Da kommt schon die halbe Stadt... Sieh nur! Der
Synagogenvorsteher... die Vornehmen... ihre Frauen... die Kinder und das ganze
Volk... !»
«Gehen wir ihnen entgegen»,
gebietet Jesus und geht eilends die Treppe hinunter. Er ruft auch die anderen
Apostel, damit sie ihn vor das Haus begleiten.
Die Bewohner Ephraims nähern sich
mit größter Ehrerbietung. Nach der rituellen Begrüßung spricht einer,
anscheinend der Synagogenvorsteher, für alle: «Gepriesen sei der Allerhöchste
für diesen Tag. Und gepriesen sei sein Prophet, der zu uns gekommen ist, weil
er alle Menschen im Namen des höchsten Gottes liebt. Gepriesen seist du,
Meister und Herr, der du unser Herz und unsere Worte nicht vergessen hast und
gekommen bist, um unter uns zu weilen. Wir öffnen dir unsere Herzen und unsere
Häuser und bitten um dein Wort zu unserem Heil. Gepriesen sei dieser Tag, denn
seinetwegen wird die Wüste blühen sehen, wer ihn im rechten Geist aufzunehmen
weiß.»
«Das hast du gut gesagt,
Malachias. Wer den im rechten Geist aufzunehmen weiß, der im Namen Gottes
gekommen ist, wird seine Wüste fruchtbar werden und die kräftigen, aber wilden
Pflanzen sich veredeln sehen. Ich werde bei euch bleiben und ihr werdet zu mir
kommen als gute Freunde. Und diese werden all jenen mein Wort bringen, die es
aufzunehmen wissen...»
«Wirst du uns nicht selbst
belehren, Meister?» fragt Malachias etwas enttäuscht.
«Ich bin hierher gekommen, um
mich zu sammeln und zu beten. Um mich auf große, künftige Dinge vorzubereiten.
Mißfällt es euch, daß ich eure Gegend für meine Ruhe gewählt habe?»
«O nein. Schon allein, dich beten
zu sehen, wird uns weiser machen. Ich danke dir, daß du uns gewählt hast. Wir
werden dich bei deinen Gebeten nicht stören und nicht zulassen, daß deine
Feinde dich stören. Denn es ist uns schon bekannt, was in Judäa geschehen ist
und geschieht. Wir
114
werden wachen und uns mit einem
Wort von dir begnügen, wenn du Zeit hast. Nimm nun die Gaben unserer
Gastfreundschaft entgegen.»
«Ich bin Jesus und weise
niemanden ab. Und ich nehme an, was ihr mir schenkt, um euch zu zeigen, daß
ich euch nicht zurückweise. Aber wenn ihr mich lieben wollt, so gebt von nun
an das, was ihr mir geben würdet, den Armen im Dorf oder denen, die
vorüberkommen. Ich brauche nur Frieden und Liebe.»
«Wir wissen es. Wir wissen alles.
Und wir sind zuversichtlich, daß wir dir geben können, was du brauchst, damit
du ausrufst: "Das Land, das für mich Ägypten, also Schmerz sein sollte, wurde
für mich, wie einst für Joseph des Jakob, zum Land des Friedens und des
Ruhmes."»
«Wenn ihr mich liebt und mein
Wort annehmt, werde ich dies sagen.»
Die Leute reichen den Aposteln
ihre Gaben und ziehen sich zurück, mit Ausnahme von Malachias und zwei
anderen, die noch leise mit Jesus reden. Und auch die Kinder bleiben, wie
immer, angezogen von dem Zauber, den Jesus auf die Kinder ausübt. Sie bleiben
da und überhören die Stimmen der Mütter, die sie rufen; und sie gehen erst,
als Jesus sie liebkost und gesegnet hat. Dann erst schwirren sie zwitschernd
wie Schwalben davon. Die drei Männer folgen ihnen.
608. WENN DAS SABBATGEBOT AUCH
WICHTIG IST, SO IST DOCH DAS GEBOT DER LIEBE DAS WICHTIGSTE
Die zehn Apostel kommen müde und
verstaubt nach Hause. Als erstes fragen sie die Frau, die ihnen die Tür
öffnet: «Wo ist der Meister?»
«Ich glaube, im Wald. Er wird wie
immer beten. Heute morgen ist er schon sehr früh weggegangen und nicht
zurückgekehrt.»
«Und niemand ist ihn suchen
gegangen? Was treiben denn die beiden?!» schreit Petrus ganz aufgeregt.
«Mache dir keine Sorgen, Mann.
Bei uns ist er sicher wie im Haus seiner Mutter.»
«Sicher! Sicher! Erinnert ihr
euch an den Täufer? War er etwa sicher?»
«Er war es nicht, weil er nicht
in den Herzen jener zu lesen wußte, die mit ihm sprachen. Aber wenn der
Allerhöchste dies auch beim Täufer zugelassen hat, so wird er es doch gewiß
bei seinem Messias nicht erlauben. Du mußt dies glauben, mehr noch als ich,
die ich Frau und Samariterin bin...»
«Maria hat recht. Aber wo genau
ist er hingegangen?»
«Ich weiß es nicht. Einmal geht
er dahin, ein andermal dorthin. Manchmal allein, manchmal mit den Kindern, die
ihn so gern haben. Er lehrt sie beten und in allen Dingen Gott sehen. Aber
wahrscheinlich ist er
115
heute allein, da er nicht um die
sechste Stunde heimgekommen ist. Wenn er die Kinder mitnimmt, kommt er, denn
Kinder sind wie Vöglein, die zur rechten Zeit gefüttert werden wollen...» sagt
die Alte lächelnd. Vielleicht denkt sie an ihre eigenen zehn Kinder, denn sie
seufzt... Und es gibt ja in allen Erinnerungen des Lebens Freude und Leid.
«Und wo sind Judas und Johannes?»
«Judas ist beim Brunnen, und
Johannes spaltet Holz. Beides ist mir ausgegangen, denn ich habe alle eure
Kleider gewaschen, um sie euch bei eurer Abreise sauber übergeben zu können.»
«Gott möge es dir vergelten,
Mutter. Du hast viel Arbeit unseretwegen ...» sagt Thomas und legt eine Hand
auf die magere, gebeugte Schulter, als wolle er sie liebkosen.
«Oh, das ist keine Mühe. Mir
kommt es vor, als hätte ich meine Kinder wieder ...» lächelt die Greisin, und
ein feuchter Glanz stiehlt sich in ihre tiefliegenden Augen.
Johannes kommt mit einem großen
Holzbündel herein, und es scheint, als würde der ziemlich dunkle Gang heller
bei seinem Eintreten. Ich habe immer dieses Hellerwerden bemerkt an Orten, an
denen Johannes erscheint. Sein so sanftes und offenes Kinderlächeln, sein
klares und lachendes Auge, das an einen schönen Aprilhimmel erinnert, seine
fröhliche Stimme, wenn er liebevoll die Gefährten grüßt, alles an ihm ist wie
ein Sonnenstrahl oder wie ein Regenbogen des Friedens. Alle lieben ihn, mit
Ausnahme des Judas von Kerioth, von dem ich nicht weiß, ob er ihn liebt oder
haßt; sicher ist, daß er ihn beneidet, sich öfters über ihn lustig macht und
ihn auch manchmal beleidigt. Aber Judas ist jetzt nicht da.
Die Apostel helfen Johannes,
seine Last abzulegen, und fragen ihn, wo Jesus sein könnte. Auch Johannes
macht sich wegen der Verspätung Sorgen. Da er aber mehr Gottvertrauen hat als
die anderen, sagt er: «Sein Vater wird ihn vor dem Bösen bewahren. Wir müssen
dem Herrn vertrauen.» Und er fügt hinzu: «Doch kommt. Ihr seid müde und
staubig. Wir haben euch ein Mahl und warmes Wasser bereitet. Kommt, kommt ...»
Nun kommt auch Judas mit seinen
tropfenden Krügen. «Der Friede sei mit euch. Habt ihr eine gute Reise gehabt?»
fragt er. Aber in seiner Stimme ist keine Güte. Sie klingt spöttisch und
unzufrieden.
«Ja. Wir haben in der Dekapolis
angefangen.»
«Aus Angst, gefangengenommen und
gesteinigt zu werden oder euch zu verunreinigen?» fragt Iskariot ironisch.
«Weder das eine noch das andere.
Nur aus Vorsicht, weil wir noch Anfänger sind. Und ich habe es vorgeschlagen,
weil ich – und das soll kein Vorwurf für dich sein – über den Pergamenten
ergraut bin ...» sagt Bartholomäus.
Judas entgegnet nichts. Er geht
aus der Küche, in der sich die Angekommenen an den bereitgestellten Speisen
stärken.
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Petrus blickt dem sich
entfernenden Judas nach und schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. Thaddäus
hingegen faßt Johannes am Ärmel und fragt ihn: «Wie hat er sich in diesen
Tagen benommen? Ist er immer noch so unruhig? Sei aufrichtig...»
«Ich bin immer aufrichtig,
Thaddäus. Aber ich kann dir versichern, daß er niemandem wehgetan hat. Der
Meister ist fast immer allein. Ich bleibe bei der alten Mutter, die so gut
ist, und höre denen zu, die kommen, um mit dem Meister zu sprechen; dann
berichte ich ihm. Judas dagegen geht immer ins Dorf. Er hat dort
Freundschaften geschlossen... Da kann man nichts machen. Er ist eben so... Er
kann nicht ruhig bleiben, wie wir...»
«Meinetwegen soll er machen, was
er will. Hauptsache, er stellt nichts an.»
«Nein, das nicht. Sicher
langweilt er sich. Aber... Da kommt der Meister! Ich höre seine Stimme. Er
spricht mit jemandem...»
Sie gehen rasch hinaus und sehen
Jesus in der fallenden Dämmerung kommen. Er trägt zwei Kinder auf den Armen,
und ein drittes hängt an seinem Gewand. Er tröstet sie, denn alle drei weinen.
«Gott segne dich, Meister! Woher
kommst du denn so spät?»
Jesus betritt das Haus und
antwortet: «Ich komme von den Räubern. Und auch ich habe Beute gemacht. Ich
bin nach Sonnenuntergang noch unterwegs gewesen, doch der Vater wird mir
verzeihen, denn ich habe ein Werk der Barmherzigkeit vollbracht... Nimm,
Johannes, und du, Simon... Mir tun die Arme weh, und ich bin wirklich müde...»
Jesus setzt sich neben dem Kamin auf einen Hocker. Er lächelt, müde aber
glücklich.
«Von den Räubern? Aber wo bist du
denn gewesen? Wem gehören diese Kinder? Hast du schon etwas gegessen? Wo warst
du? Es ist unvorsichtig, im Dunkeln draußen zu bleiben, und so weit weg. Wir
sind in Sorge gewesen. Warst du nicht im Wald?» Alle reden durcheinander.
«Ich war nicht im Wald. Ich bin
in Richtung Jericho gegangen ...»
«Wie unvorsichtig! Auf diesen
Wegen könntest du denen begegnen, die dich hassen!» tadelt ihn Thaddäus.
«Ich habe den Pfad genommen, den
man uns gezeigt hat. Seit einigen Tagen schon wollte ich hingehen... Es sind
Unglückliche dort, die ich retten mußte. Sie konnten mir nichts Böses antun.
Und ich bin für diese Kinder gerade noch rechtzeitig gekommen. Gebt ihnen zu
essen. Sie müssen hungrig sein, denn sie hatten Angst vor den Räubern. Und ich
hatte nichts zu essen bei mir. Hätte ich wenigstens einen Hirten gefunden ...
! Doch da der Sabbat naht, waren alle Weiden schon verlassen...»
«Ja, nur wir beachten das
Sabbatgebot seit einiger Zeit nicht mehr», bemerkt Judas von Kerioth bissig.
«Wie redest du denn? Was willst
du damit sagen?» fragen ihn die anderen.
117
«Ich will damit sagen, daß wir
schon zweimal am Sabbat bis nach Sonnenuntergang gearbeitet haben.»
«Judas, du weißt, weshalb wir am
letzten Sabbat wandern mußten. Die Sünde liegt nicht immer bei dem, der sie
begeht, sondern auch bei dem, der dazu zwingt, sie zu begehen. Und heute...
Ich weiß, du willst sagen, daß ich auch heute das Sabbatgebot übertreten habe.
Ich antworte dir: Wenn das Gebot der Sabbatruhe auch wichtig ist, so ist doch
das Gebot der Liebe das Allerwichtigste. Ich bin nicht verpflichtet, mich vor
dir zu rechtfertigen. Aber ich will es tun, um dich die Sanftmut, die Demut
und die große Wahrheit zu lehren, daß man angesichts einer heiligen
Notwendigkeit bei der Anwendung des Gesetzes geistig beweglich sein muß. In
unserer Geschichte haben wir mehrere Beispiele dafür. Ich bin bei
Sonnenaufgang zu den Adummim-Bergen gegangen, denn ich weiß, daß dort
Unglückliche leben, denen das Verbrechen wie Aussatz auf der Seele liegt. Ich
hoffte, ihnen zu begegnen, mit ihnen sprechen zu können und vor Einbruch der
Dunkelheit zurückzukehren. Ich habe sie gefunden. Aber ich konnte nicht zu
ihnen sprechen, wie es meine Absicht war, da es andere Dinge zu besprechen
gab... Sie hatten diese drei kleinen Kinder weinend an der Schwelle eines
armseligen Stalles in der Ebene gefunden, als sie in der Nacht vom Gebirge
heruntergekommen waren, um die Lämmer zu stehlen und auch zu morden, wenn der
Hirte sich zur Wehr setzen würde. Der Hunger ist grausam im Winter dort auf
den Bergen... Und wenn grausame Herzen Hunger leiden, können Menschen wilder
als Wölfe werden. Diese Kinder waren also dort, zusammen mit einem
Hirtenknaben, der nur wenig größer und ebenso verschreckt war wie sie. Der
Vater der Kinder war in der Nacht gestorben, ich weiß nicht, woran...
Vielleicht hatte ihn ein Tier gebissen, oder sein Herz hatte versagt... Es war
kalt auf dem Stroh bei den Schafen. Der größere Junge, der neben seinem Vater
geschlafen hatte, bemerkte es zuerst. Anstatt ein Blutbad anzurichten, fanden
die Räuber also einen Toten und vier weinende Kinder. Sie ließen den Toten
liegen und trieben die Schafe mit dem Hirtenjungen vor sich her. Und da selbst
in den schlimmsten Menschen immer noch ein Rest Mitleid sein kann, nahmen sie
auch die Kinder mit. Ich habe sie getroffen, als sie gerade überlegten, was
sie mit ihnen anfangen sollten. Die Grausamsten wollten den zehnjährigen
Hirtenjungen töten, da er ein gefährlicher Zeuge ihres Raubes ist und ihre
Zufluchtsstätte kennt. Die weniger Hartherzigen wollten ihn unter Drohungen
zurückschicken und die Herde behalten. Alle wollten sie aber auch die kleinen
Kinder bei sich behalten.»
«Was wollten sie mit ihnen
anfangen? Haben sie denn keine Familie?»
«Die Mutter der Kinder ist tot.
Daher hatte der Vater sie auf die winterlichen Weiden mitgenommen, und er
wollte gerade wieder über dieses Gebirge in sein verlassenes Haus gehen...
Hätte ich die Kinder bei den
118
Räubern lassen sollen, damit sie
werden wie sie? Ich habe mit ihnen gesprochen... Wahrlich, ich sage euch, sie
haben mich besser verstanden als viele andere. Sie haben mich so gut
verstanden, daß sie mir die Kinder überlassen haben und morgen den
Hirtenknaben auf den Weg nach Sichern begleiten werden. Denn in dieser Gegend
leben die Brüder seiner Mutter. Die kleinen Kinder habe ich inzwischen zu mir
genommen, und wir werden sie hierbehalten, bis die Verwandten kommen.»
«Und du glaubst wirklich, daß die
Räuber...» sagt Judas Iskariot und lacht...
«Ich bin gewiß, daß sie dem
kleinen Hirten kein Haar krümmen werden. Es sind Unglückliche. Und wir sollen
nicht urteilen, warum sie so sind. Wir müssen vielmehr versuchen, sie zu
retten. Ein gutes Werk an ihnen kann der Anfang ihrer Rettung sein...» Jesus
neigt sein Haupt, in wer weiß welche Gedanken versunken.
Die Apostel und das alte
Mütterchen reden miteinander. Sie haben Mitleid mit den verängstigten Kindern
und geben sich alle Mühe, sie zu trösten und aufzumuntern...
Jesus hebt das Haupt, als er den
Kleinsten, ein dunkelhaariges, etwa drei Jahre altes Kind, weinen hört. Er
sagt zu Jakobus, der sich erfolglos bemüht, dem Kind Milch zu geben: «Gib mir
das Kind und geh meine Tasche holen.» Und Jesus lächelt, denn das Kind
beruhigt sich auf seinen Knien und trinkt nun seine Milch so gierig, wie es
sie zuvor zurückgewiesen hat. Die etwas größeren Kinder essen die Suppe, die
man ihnen hingestellt hat, obwohl ihnen die Tränen die Wangen herunterrollen.
«Ach, wieviel Elend! Seht nur!
Daß wir leiden ist gerecht. Aber die Unschuldigen... !» sagt Petrus, der es
nicht sehen kann, wenn Kinder leiden müssen.
«Du bist ein Sünder, Simon. Du
machst Gott Vorwürfe», bemerkt Judas Iskariot.
«Ich werde wohl ein Sünder sein.
Aber ich mache Gott keine Vorwürfe. Ich sage nur... Meister, warum müssen
Kinder leiden? Sie haben doch keine Sünden.»
«Alle haben Sünden, zumindest die
Erbsünde», sagt Judas.
Petrus antwortet ihm nicht. Er
wartet auf die Antwort Jesu. Und Jesus, der das nun satte und schläfrige Kind
wiegt, antwortet: «Simon, der Schmerz ist die Folge der Sünde.»
«Nun gut. Dann... Wenn du also
die Schuld von uns genommen hast, werden die Kinder nicht mehr leiden müssen.»
«Sie werden immer noch leiden.
Nimm keinen Anstoß daran, Simon. Schmerz und Tod wird es immer auf Erden
geben. Auch die Reinsten leiden und werden leiden. Gerade sie werden es sein,
die für alle anderen leiden. Die Sühneseelen des Herrn.»
«Aber warum? Ich verstehe das
nicht...»
119
«Es gibt viele Dinge, die man auf
Erden nicht begreift. Glaubt wenigstens, daß es Dinge sind, die von der
vollkommenen Liebe gewollt sind. Und wenn die den Menschen wiedergeschenkte
Gnade die Heiligsten unter ihnen zu kennen der verborgenen Wahrheiten gemacht
hat, dann wird sich zeigen, daß gerade die Heiligsten Opfer sein wollen, da
sie die Macht des Leidens verstanden haben... Das Kind ist nun eingeschlafen.
Maria, willst du es zu dir nehmen?»
«Gewiß, Meister. Ein erschrecktes
Kind, das nicht geschlafen und viel geweint hat, gleicht einem Vogel, der aus
dem Nest gefallen ist, und braucht die Flügel der Mutter, sagt man bei uns.
Mein Bett ist groß, da ich jetzt allein darin schlafe. Ich werde die Kinder zu
mir nehmen und auf sie achtgeben. Im Schlaf werden auch sie ihren Schmerz
vergessen. Kommt, wir wollen sie zu Bett bringen.»
Sie nimmt den Kleinsten vom Schoß
Jesu und entfernt sich, gefolgt von Petrus und Philippus, während Jakobus des
Zebedäus mit der Tasche Jesu kommt.
Jesus öffnet sie und sucht etwas,
entnimmt ihr ein schweres Gewand, faltet es auseinander und prüft die Weite.
Er ist nicht zufrieden und sucht den dunklen Mantel, der zum Gewand gehört.
Dann legt er beides beiseite, macht die Tasche zu und gibt sie Jakobus zurück.
Petrus und Philippus kommen
wieder. Die Greisin ist bei den drei Kindern geblieben, und Petrus sieht
sofort die ausgebreiteten Kleidungsstücke liegen. Er sagt: «Meister, willst du
dein Gewand wechseln? Müde wie du bist, würde dir ein warmes Bad guttun. Hier
ist Wasser, und wir werden dir auch dein Gewand anwärmen. Dann wollen wir
essen und zur Ruhe gehen. Diese Geschichte mit den armen Kindern hat mich sehr
angegriffen...»
Jesus lächelt, entgegnet aber
nichts. Er sagt nur: «Preisen wir den Herrn, der mich rechtzeitig dorthin
geführt hat, um die Unschuldigen zu retten.» Dann schweigt er. Er ist müde...
Die Alte kommt mit den Kleidchen
der Kinder herein. «Sie müßten gewechselt werden... Sie sind zerrissen und
schmutzig... Aber ich habe die Kleider meiner Kinder nicht mehr und kann sie
nicht ersetzen. Morgen werde ich sie waschen...»
«Nein, Mutter. Wenn der Sabbat
vorüber ist, dann nähst du aus diesen meinen Gewändern drei kleine Kleider...»
«Aber Herr, weißt du, daß du
jetzt nur noch drei Gewänder hast? Wenn du eines weggibst, was bleibt dir
dann? Hier ist kein Lazarus, wie damals, als du der Aussätzigen den Mantel
gegeben hast», sagt Petrus.
«Laß es gut sein. Zwei genügen
und sind schon zu viel für den Menschensohn. Nimm, Maria. Morgen abend
beginnst du mit deiner Arbeit, und der Verfolgte wird sich freuen, den Armen
helfen zu können, denn er kennt ihre Nöte.»
120
609. AM ANDEREN TAG
«Steht auf und laßt uns zum Bach
gehen. Wie die Hebräer, die außerhalb ihres Vaterlandes und an Orten, an denen
es keine Synagogen gibt, leben, werden auch wir den Sabbat unter uns feiern.
Kommt, Kinder...» sagt Jesus zu den Aposteln, die müßig im Hausgarten
umhersitzen, und streckt seine Hände den drei armen Kindern entgegen, die in
einer Ecke stehen.
Mit schüchterner Freude auf den
vorzeitig nachdenklichen Gesichtchen kommen die Kinder, die schon so viel
Schweres mitgemacht haben, näher, und die beiden größeren geben Jesus ihre
Händchen. Doch der Kleinste will von Jesus getragen werden. Jesus stellt ihn
zufrieden und sagt zu dem Größten: «Du bleibst trotzdem an meiner Seite und
hältst dich an meinem Gewand fest, so wie gestern. Isaak ist zu müde und zu
klein, um allein gehen zu können...» Der Größere ist ganz glücklich über das
Lächeln Jesu und bereit, wie ein kleiner Mann neben ihm herzugehen.
«Gib mir das Kind, Meister. Du
mußt noch müde sein von gestern, und Ruben ist betrübt, weil er deine Hand
nicht halten kann ...» sagt Bartholomäus und will ihm das Kind abnehmen, das
sich an den Hals Jesu klammert.
«Es ist starrköpfig wie die ganze
Rasse!» ruft Iskariot aus.
«Nein, es ist verängstigt. Du
verstehst nichts von Kindern. Die Kleinen sind so. Wenn sie betrübt oder
erschreckt sind, dann suchen sie Schutz beim ersten, der ihnen ein Lächeln und
Trost geschenkt hat», entgegnet Bartholomäus; und da er den Kleinen nicht auf
den Arm nehmen kann, gibt er dem Größeren die Hand, nachdem er ihm den Kopf
gestreichelt und ihm väterlich zugelächelt hat.
Sie verlassen das Haus, in dem
nur die Frau zurückbleibt, und gehen am Bach jenseits des Dorfes entlang.
Schön sind seine Ufer mit dem jungen Gras und den bunten Wiesenblumen. Das
Wasser ist klar, wenn auch spärlich, und plätschert mit Harfenklang über die
größeren Steine auf dem Kiesgrund; oder aber es rauscht durch das Gestrüpp
einiger winziger, mit Schilfrohr bewachsener Inseln. Aus dem Röhricht am Ufer
fliegen Vögel mit freudigem Trillern auf. Andere ruhen sich in der Sonne auf
einem Ast aus und singen ihre ersten Frühlingslieder oder hüpfen anmutig und
lebhaft umher, um Insekten und Würmer vom Boden aufzupicken und am Ufer Wasser
zu nippen. Zwei wilde Turteltauben nehmen in einer Biegung ein Bad und
schnäbeln gurrend miteinander. Dann fliegen sie auf und davon mit einem
Wollbäuschchen im Schnabel, das irgendein Schaf an der Weißdornhecke
hinterlassen hat, die oben gerade zu blühen beginnt.
«Sie tun das, um ein Nest zu
bauen...» sagt der größere Knabe. «Sie haben bestimmt Junge...» Das Kind neigt
das Köpfchen tief und tiefer,
121
und während es sich bei den
ersten Worten noch bemüht hat zu lächeln, weint es jetzt lautlos und wischt
sich mit der Hand die Tränen ab.
Bartholomäus nimmt es auf den
Arm, denn er versteht, welche Wunde die beiden Tauben wieder aufgerissen
haben. Und Bartholomäus, der das gute Herz eines guten Familienvaters hat,
seufzt. Das Kind weint an seiner Schulter, das andere, das zweite, das diese
Tränen sieht, fängt ebenfalls zu weinen an, gefolgt vom dritten, das eben erst
sprechen gelernt hat und mit seinem zarten Stimmchen nach dem Vater ruft.
«Heute wird dies unsere
Sabbat-Andacht sein! Wir hätten sie zu Hause lassen sollen! Eine Frau ist in
solchen Fällen geeigneter als wir und...»bemerkt Iskariot.
«Aber wenn doch auch sie nichts
anderes tut, als dauernd weinen? Im übrigen hätte auch ich große Lust dazu...
denn es gibt Dinge... die zum Weinen sind», entgegnet Petrus und nimmt das
zweite Kind auf den Arm.
«Ja, es gibt Dinge, die zum
Weinen sind. Das ist wahr. Und Maria des Jakob, die arme, traurige Alte, ist
nicht fähig zu trösten...» bestätigt der Zelote.
«Es scheint, daß wir auch nicht
viel Erfolg haben. Der einzige, der trösten könnte, ist der Meister. Und er
hat es nicht getan.»
«Er hat es nicht getan? Was hätte
er mehr tun sollen? Er hat die Räuber überredet, ist meilenweit mit den
Kindern auf dem Arm gewandert und hat dafür gesorgt, daß die Verwandten
benachrichtigt werden.»
«Alles nebensächliche Dinge. Er,
der auch dem Tod gebietet, hätte zum Schafstall hinuntergehen können, vielmehr
müssen, und den Hirten auferwecken. Er hat es bei Lazarus getan, der doch
niemandem nützlich ist. Hier aber sind es ein Vater, der zudem noch Witwer
war, und seine Kinder, die nun allein zurückbleiben... Er hätte ihn unbedingt
auferwecken müssen. Ich kann dich nicht verstehen, Meister...»
«Und wir verstehen nicht, wie du
so respektlos sein kannst...»
«Friede! Friede! Judas versteht
nicht. Er ist aber nicht der einzige, der die Absichten Gottes und die Folgen
der Sünde nicht versteht. Auch du, Simon des Jonas, kannst nicht begreifen,
weshalb die Unschuldigen leiden müssen. Daher sollt ihr Judas des Simon nicht
verurteilen, der nicht versteht, warum ich den Mann nicht auferweckt habe.
Wenn Judas nachdenkt, wird er, der mich immer tadelt, weil ich allein und weit
weggehe, verstehen, daß ich mich nicht lang so weit entfernen konnte... Denn
der Schafstall liegt in der Ebene von Jericho, aber auf der anderen Seite der
Stadt, bei der Furt. Was hättet ihr gesagt, wenn ich drei Tage lang so weit
weggewesen wäre?»
«Dein Geist hätte dem Toten
befehlen können, daß er aufersteht.»
«Bist du denn schlimmer als die
Pharisäer und Schriftgelehrten, die die Auferstehung eines schon verwesten
Toten verlangt haben, um glauben zu können, daß ich wirklich Tote zum Leben
erwecken kann?»
122
«Sie wollten es, weil sie dich
hassen. Ich möchte es, weil ich dich liebe und sehen will, daß du alle deine
Feinde vernichtest.»
«Dein altes Ansinnen und deine
ungeordnete Liebe. Du hast es noch nicht fertiggebracht, die alten Pflanzen
aus deinem Herzen auszureißen und durch neue zu ersetzen; ja, die alten haben
sich von dem Licht genährt, dem du dich genähert hast, und sind noch kräftiger
geworden. Du machst den gleichen Fehler wie so viele in der Gegenwart und
Zukunft. Trotz der Hilfe Gottes ändern sie sich nicht, weil sie nicht mit
heroischem Willen auf die Hilfe Gottes antworten.»
«Haben vielleicht diese, die wie
ich deine Jünger sind, die alten Pflanzen ausgerissen?»
«Sie haben sie wenigstens
beschnitten und veredelt. Du hast es nicht getan. Du hast dich nicht einmal
aufmerksam geprüft, ob sie beschnitten, veredelt oder ausgerissen werden
müssen. Du bist ein nachlässiger Gärtner, Judas.»
«Aber nur, was meine Seele
betrifft. Sonst verstehe ich es recht gut, im Garten zu arbeiten.»
«Du verstehst es. Du verstehst
mit allen irdischen Dingen umzugehen. Ich möchte aber, daß du in den Dingen
des Himmels ebensolche Fähigkeiten entwickelst.»
«Dein Licht müßte doch von sich
aus alle Wunder in uns wirken! Ist es denn kein gutes Licht? Wenn es das
Schlechte in uns fördert und stärkt, dann ist es nicht gut, und es liegt an
ihm, wenn wir nicht gut werden.»
«Rede für dich allein, Freund.
Ich finde nicht, daß der Meister meine bösen Neigungen gestärkt hat», sagt
Thomas.
«Ich auch nicht.» «Und ich auch
nicht», sagen Andreas und Jakobus des Zebedäus.
«Mich hat erst seine Macht von
dem Übel befreit und erneuert. Warum sprichst du so? Überlegst du dir denn
nicht, was du sagst?» fragt Matthäus.
Petrus will etwas sagen. Doch
dann zieht er es vor, schnell wegzugehen; das Kind am Hals, beginnt er das Auf
und Ab eines Bootes nachzumachen, um es zum Lachen zu bringen. Und im
Vorbeigehen packt er Thaddäus am Arm und ruft: «Auf, gehen wir auf die Insel
dort! Sie gleicht einem Korb voller Blumen. Kommt auch ihr, Nathanael,
Philippus, Simon, Johannes... Ein Sprung, und man ist drüben. Der geteilte
Bach besteht nur noch aus zwei kleinen Bächlein rechts und links der Insel...»
Petrus springt als erster auf die sandige Anschwemmung, die nur einige Meter
breit ist. Sie ist wie eine Wiese mit Gras bewachsen und wie ein Teppich mit
den ersten Frühlingsblumen übersät, und in ihrer Mitte steht eine einzige
hohe, schlanke Pappel, die ihren Wipfel im leichten Wind wiegt. Die Gerufenen
kommen langsam nach, und auch die übrigen, die näher bei Jesus waren, der
zurückgeblieben ist und mit Iskariot spricht, folgen bald.
123
«Ist der denn immer noch nicht
fertig?», fragt Petrus seinen Bruder. «Der Meister bearbeitet sein Herz»,
antwortet Andreas.
«Eher werden Feigen aus diesem
Gewächs sprießen, als daß Judas im Herzen gerecht wird.»
«Und in seinem Verstand erst»,
fügt Andreas hinzu.
«Er ist nur töricht, weil er es
sein will, und in den Dingen, in denen er es sein will», sagt Thaddäus.
«Er leidet, weil er nicht
ausgewählt wurde, das Evangelium zu verkünden. Ich weiß es», erklärt Johannes.
«Oh, von mir aus... Wenn er an
meiner Stelle gehen will... Ich lege absolut keinen Wert darauf
herumzulaufen!» ruft Petrus aus.
«Keiner von uns legt Wert darauf.
Nur er. Doch mein Bruder will ihn nicht gehen lassen. Heute morgen habe ich
mit ihm darüber gesprochen, denn ich habe die Stimmung des Judas und die
Gründe dafür verstanden. Doch Jesus hat gesagt: "Gerade, weil er ein so
krankes Herz hat, behalte ich ihn bei mir. Die Kranken und die Schwachen
bedürfen des Arztes und der Stütze."»
«So ist es... ! Genau so... !
Kommt, Kinder. Jetzt nehmen wir diese schönen Schilfrohre und machen
Schiffchen daraus. Seht nur, wie schön! Und als Fischer setzen wir diese
Blümchen hinein. Schaut, gleichen sie nicht Köpfchen mit einer weiß-roten
Kopfbedeckung... ? Hier machen wir den Hafen und hierher setzen wir die
Fischerhäuschen. Nun binden wir die Boote an diese feinen Gräser, und dann
laßt ihr sie ins Wasser gleiten... Und nach dem Fischfang zieht ihr sie wieder
ans Ufer ... Ihr könnt auch uni die Insel herumfahren... aber gebt acht auf
die Felsen ... !» Petrus ist bewundernswert in seiner Geduld. Er hat mit dem
Messer aus Rohrstückchen kleine Boote gemacht, indem er sie von einem Knoten
zum anderen auf einer Seite aufgeschnitten hat. Als Fischer hat er noch nicht
ganz aufgeblühte Gänseblümchen hineingesetzt, in den Sand hat er einen winzig
kleinen Hafen gegraben und aus feuchtem Sand kleine Häuser geformt. Und als er
seinen Zweck erreicht hat, die Kinder durch ein Spiel abzulenken, setzt er
sich zufrieden nieder und murmelt: «Arme Geschöpfe... !»
Jesus betritt die Insel, als die
Kinder gerade mit ihrem Spiel beginnen. Er liebkost sie und stellt den
Kleinsten auf den Boden, der sich gleich am Spiel der beiden Brüderchen
beteiligt.
«Nun habt ihr mich für euch, und
wir können von Gott sprechen; denn von Gott sprechen und mit Gott sprechen
heißt, sich auf die Mission vorbereiten. Nachdem wir gebetet haben, also mit
Gott gesprochen haben, werden wir von Gott sprechen, der in allen Dingen
gegenwärtig ist, um zum Guten anzuleiten. Auf, erhebt euch und laßt uns
beten.» Jestis stimmt Psalmen in hebräischer Sprache an, und die Apostel
stimmen mit ein.
124
Die Kinder, die sich mit ihren
Schiffchen entfernt haben, hören auf zu zwitschern und zu spielen und kommen
näher, als sie die Männer singen hören. Sie lauschen aufmerksam, die Augen auf
Jesus gerichtet, der für sie alles ist, und nehmen dann mit dem Kindern
eigenen Nachahmungstrieb dieselbe Stellung wie die Betenden ein. Sie versuchen
auch mitzusingen, die Töne wenigstens, da sie die Worte der Psalmen nicht
kennen. Jesus senkt seinen Blick und schaut sie mit einem Lächeln an, das die
unschuldigen Stimmchen noch eifriger singen läßt. Sie fühlen sich gelobt und
ermutigt ...
Der Psalmengesang ist beendet.
Jesus setzt sich ins Gras und beginnt zu sprechen: «Als die Könige Israels,
der von Joram und der von Juda, sich zusammenschlossen, um den König von Moab
zu bekämpfen, baten sie den Propheten Elisäus um Rat. Dieser antwortete dem
Gesandten der Könige: "Würde ich nicht Josaphat, den König von Juda, achten,
dann hätte ich dich nicht einmal angesehen. Aber nun bringt mir einen
Harfenspieler." Und während der Mann die Harfe spielte, sprach Gott zu seinem
Propheten und befahl ihm, Graben an Graben in dem ausgetrockneten Flußbett
ausheben zu lassen, damit sie sich mit Wasser füllten für Menschen und Tiere.
Und zur Stunde des morgendlichen Opfers füllte sich der Fluß, ohne daß es Wind
oder Regen gegeben hätte, wie der Herr es gesagt hatte. Welche Lehre ist eurer
Meinung nach aus dieser Episode zu ziehen? Redet!»
Die Apostel beraten sich
untereinander. Die einen sagen: «Wenn Unruhe im Herzen herrscht, spricht Gott
nicht zu ihm. Elisäus wollte den Unwillen besänftigen, der in ihm aufgestiegen
war, als er den König Israels vor sich sah, um Gott hören zu können.» Die
anderen sagen: «Es ist eine Lehre der Gerechtigkeit. Um den schuldlosen König
von Juda nicht zu bestrafen, rettet Elisäus auch den Schuldigen.» Wieder
andere sind der Meinung: «Es ist eine Lehre des Gehorsams und des Glaubens.
Sie machten Gräben, gehorchten damit dem anscheinend törichten Befehl und
warteten vertrauensvoll auf das Wasser, obgleich es windstill und der Himmel
heiter war.»
«Ihr habt gut geantwortet, aber
eure Antworten sind nicht vollständig. Wenn im Herzen Unruhe herrscht, spricht
Gott nicht zu ihm, das ist wahr. Aber Harfenklänge sind nicht erforderlich, um
das Herz zu beruhigen. Es genügt, Liebe zu haben; Liebe, die geistige Harfe,
die paradiesische Klänge erzeugt. Wenn eine Seele in der Liebe lebt, hat sie
ein ruhiges Herz und kann die Stimme Gottes hören und verstehen.»
«Dann hatte Elisäus also keine
Liebe, da er unruhig war.»
«Elisäus gehört der Zeit der
Gerechtigkeit an. Man muß die damaligen Ereignisse in die Zeit der Liebe
übertragen. Nicht im Licht der Blitze, sondern in dem der Sterne muß man sie
sehen. Ihr gehört der neuen Zeit an. Warum also seid ihr oft zorniger und
verwirrter als jene der alten Zeiten?
125
Löst euch von der Vergangenheit.
Ich wiederhole dies, auch wenn Judas es nicht gerne hört. Reißt aus,
beschneidet, veredelt und pflanzt neu. Erneuert euch, grabt die Gräben der
Demut, des Gehorsams und des Glaubens. Jene Könige verstanden es zu tun, und
sie waren, zwei gegen einen, nicht von Juda und konnten Gott nicht hören,
sondern nur den Propheten Gottes, der den Willen des Allerhöchsten kundtat.
Sie wären verdurstet in der Dürre, wenn sie nicht gehorcht hätten. Sie
gehorchten, und das Wasser füllte die Gräben. Und sie wurden nicht nur vor dem
Verdursten bewahrt, sondern besiegten auch die Feinde. Ich bin das Wasser des
Lebens. Grabt Gräben in eure Herzen, um mich empfangen zu können. Und nun
hört. Ich halte keine langen Reden. Ich gebe euch Richtlinien, damit ihr sie
betrachtet. Ihr werdet immer wie diese Kinder sein, oder vielmehr weniger als
sie, denn sie sind unschuldig, und ihr seid es nicht. Daher leuchtet das
geistige Licht in euch nur schwach, wenn ihr euch nicht daran gewöhnt zu
betrachten. Ihr hört immer zu, bewahrt aber nichts, denn euer Verstand
schläft, anstatt zu arbeiten. Hört also. Als der Sohn der Sunamitin gestorben
war, wollte sie den Propheten aufsuchen, obgleich ihr Ehemann zu ihr sagte,
daß nicht der Erste des Monats und nicht Sabbat sei; aber sie wußte, daß sie
gehen mußte, denn gewisse Dinge lassen keinen Aufschub zu. Und da sie den
Geist der Dinge verstand, wurde ihr Sohn wiedererweckt. Was sagt ihr dazu?»
«Daß dies ein Tadel für mich ist,
wegen des Sabbats», sagt Iskariot.
«Du siehst, Judas, wenn du
willst, dann verstehst du auch! Öffne also deinen Geist der Gerechtigkeit.»
«Ja... aber du hast den Sabbat
nicht geschändet, um den Mann aufzuerwecken.»
«Ich habe mehr getan. Ich habe
das Verderben, den Tod dieser Kinder, ihren wahren Tod verhindert. Und ich
habe die Räuber daran erinnert, daß...»
«Oh, warte ab, bevor du dich
damit tröstest, etwas erreicht zu haben! Ich glaube nicht, daß sie dir
gehorcht haben...»
«Wenn der Meister es sagt ...»
«Auch Elisäus sagt im Bericht
über die Sunamitin: "Der Herr hat es mir verborgen." Also weiß man nicht immer
alles, nicht einmal die Propheten», erwidert Iskariot.
«Unser Bruder ist mehr als ein
Prophet», bemerkt Thaddäus.
«Ich weiß es. Er ist der Sohn
Gottes. Aber er ist auch Mensch. Als solchem kann es ihm geschehen,
zweitrangige Dinge, wie eine Bekehrung oder eine Rückkehr, nicht zu wissen...
Meister, weißt du wirklich immer, immer alles? Ich frage mich das so oft...»
fährt Judas Iskariot hartnäckig fort.
«Und in welchem Geist? Um dir
Ruhe, Rat oder Beunruhigung zu verschaffen?» fragt Jesus.
126
«Aber... ich wüßte nicht. Ich
frage es mich nur und...»
«Und du scheinst auch beim Fragen
beunruhigt zu sein!» sagt Thomas.
«Ich? Natürlich beunruhigt die
Ungewißheit immer.»
«Wieviel Spitzfindigkeit! Ich
gebe mich damit nicht ab. Ich glaube und frage nicht und bin weder im
Ungewissen noch beunruhigt. Aber lassen wir den Meister sprechen. Mir gefällt
diese Belehrung nicht. Erzähle uns ein schönes Gleichnis, Meister. Das wird
auch den Kindern gefallen», sagt Petrus.
«Ich muß euch noch etwas fragen:
Was bedeutet für euch das Mehl, das der Suppe der Söhne der Propheten ihre
Bitterkeit nimmt?»
Ein tiefes Schweigen ist die
Antwort auf diese Frage.
«Nun, könnt ihr mir nicht
antworten?»
«Vielleicht sollte das Mehl die
Bitterkeit aufsaugen...» sagt Matthäus unsicher.
«Alles wäre bitter geworden, auch
das Mehl.»
«Ein Wunder des Propheten, der
den Diener nicht beschämen wollte», schlägt Philippus vor.
«Auch. Aber nicht nur.»
«Der Herr wollte zeigen, daß sich
die Macht des Propheten auch auf die gewöhnliche Materie erstreckte», sagt der
Zelote.
«Ja, aber dies ist noch nicht die
richtige Auslegung. Das Leben der Propheten nimmt schon vorweg, was dann in
der Fülle der Zeit sein wird, meiner Zeit. In Symbolen und Bildern spiegeln
sie meine irdischen Tage wider. Also...»
Alle schweigen und schauen sich
an. Dann neigt Johannes das Haupt, wird rot und lächelt.
«Warum sagst du nicht, was du
denkst, Johannes?» fragt ihn Jesus. «Es ist nicht Mangel an Liebe, wenn du
sprichst, denn du tust es nicht, um jemanden zu beschämen.»
«Ich denke, es will dies besagen:
In der Zeit des Hungers nach Wahrheit und des Mangels an Weisheit, in der
Zeit, in der du gekommen bist, ist jeder Baum verwildert und trägt nur
bittere, für die Menschenkinder ungenießbare und giftige Früchte, so daß sie
sie vergeblich sammeln und zubereiten, um sich von ihnen zu ernähren. Doch die
Güte des Ewigen sendet dich, das Mehl des auserlesenen Weizens, und du nimmst
durch deine Vollkommenheit das Gift aus jeder Speise und heilst wieder die in
Jahrhunderten entarteten Bäume der Schriften und den Geschmack der durch die
Lasterhaftigkeit verdorbenen Menschen. In diesem Fall ist es dein Vater, der
befiehlt, das Mehl zu bringen und es in den bitteren Kessel zu schütten, und
du bist das Mehl, das sich opfert, um sich zur Speise für alle Menschen zu
machen. Und nach deinem Opfer wird nichts Bitteres mehr auf der Welt sein,
denn du hast die Freundschaft mit Gott wiederhergestellt. Ich kann mich auch
irren.»
127
«Du irrst nicht. Dies ist der
Sinn...»
«Oh, wie bist du darauf
gekommen?», fragt Petrus erstaunt.
Jesus antwortet ihm: «Ich werde
es dir mit deinen eigenen Worten von kurz zuvor sagen. Ein Sprung, und man ist
auf der friedlichen, blumigen Insel des Geisteslebens. Aber man muß den Mut
haben, den Sprung zu wagen und das Ufer, die Welt, zu verlassen; zu springen,
ohne darauf zu achten, ob jemand über unseren ungeschickten Sprung lachen
könnte oder uns auslacht wegen unserer Einfalt, weil wir eine kleine, einsame
Insel der Welt vorziehen. Man muß springen, ohne Furcht sich zu verletzen, naß
zu werden oder eine Enttäuschung zu erleben. Man muß alles zurücklassen und
bei Gott Zuflucht suchen, sich auf die von der Welt isolierte Insel begeben
und diese nur verlassen, um an die am Ufer Gebliebenen das reine Wasser und
die Blumen zu verteilen, die man auf der Insel des Geistes gesammelt hat, auf
der es nur einen einzigen Baum gibt, den Baum der Weisheit. In seiner Nähe,
fern vom Lärm der Welt, begreift man jedes Wort und wird zum Lehrer, obwohl
man weiß, daß man Schüler ist. Auch dies ist ein Symbol. Aber nun will ich ein
schönes Gleichnis für die Kinder erzählen. Kommt und setzt euch nahe zu mir.»
Die drei Kinder kommen so nahe
heran, daß sie sich gleich auf seine Beine setzen. Jesus umarmt sie und
beginnt zu erzählen: «Eines Tages sagte der Herrgott: "Ich werde den Menschen
erschaffen, und der Mensch wird im irdischen Paradies leben, durch das der
große Fluß fließt, der sich dann in vier Hauptarme teilt, welche sind: der
Pischon, der Gichon, der Euphrat und der Tigris, die über die Erde fließen.
Und der Mensch wird glücklich sein, da er alle diese Schönheiten und
Reichtümer der Schöpfung und meine Liebe zur Freude seines Geistes haben
wird." Und so geschah es. Es war, als ob der Mensch auf einer großen Insel
lebte, noch reicher an Blumen als diese hier und an Pflanzen und Tieren jeder
Art, und als ob über ihm die Liebe Gottes stünde als Sonne der Seele. Und die
Stimme Gottes war in den Winden, wohlklingender als der Gesang der Vögel.
Aber eines Tages schlich sich auf
dieser schönen, blumigen Insel eine Schlange unter die Tiere und die Pflanzen.
Sie war anders als die von Gott geschaffenen Schlangen, die gut waren, kein
Gift in den Zähnen hatten und keine Wildheit in den Windungen ihres
elastischen Körpers. Auch diese Schlange kleidete sich in eine Haut in den
Farben der Edelsteine wie die anderen; sie machte sich sogar noch schöner, so
daß sie dem prachtvollen Geschmeide eines Königs glich, das zwischen den
herrlichen Bäumen des Gartens hindurchschlüpfte. Sie wand sich um einen
schönen freistehenden Baum mitten im Garten, der viel höher war als dieser
hier und wunderbare Blätter und Früchte trug.
Und die Schlange sah aus wie ein
um den Baum gewundenes Schmuckstück und glitzerte in der Sonne, und alle Tiere
schauten sie an, denn
128
keines konnte sich an ihre
Erschaffung erinnern oder hatte sie je zuvor gesehen. Aber keines näherte sich
ihr, sondern alle zogen sich von dem Baum zurück, nun da sich die Schlange um
seinen Stamm gewunden hatte.
Nur der Mann und die Frau
näherten sich ihm. Die Frau vor dem Mann, denn ihr gefiel dieses glänzende
Ding, das in der Sonne leuchtete und den Kopf bewegte wie eine halbgeöffnete
Blume. Und sie hörte auf das, was die Schlange sagte, wurde Gott ungehorsam
und veranlaßte auch Adam zum Ungehorsam. Erst nachdem sie ungehorsam geworden
waren, erkannten sie die Schlange als das, was sie war, und wurden sich ihrer
Sünde bewußt, denn sie hatten nun die Unschuld des Herzens verloren. Sie
versteckten sich vor Gott, der sie suchte, und belogen ihn dann, als er sie
fragte.
Daraufhin stellte Gott Engel an
die Grenzen des Gartens und verjagte die Menschen daraus. Es war, als würden
die Menschen vom sicheren Ufer des Paradieses in die im Frühling Hochwasser
führenden Flüsse der Erde geworfen. Doch Gott ließ im Herzen der Vertriebenen
die Erinnerung an ihre ewige Bestimmung, also an den Übergang aus dem schönen
Garten, in dem sie die Stimme Gottes vernahmen und seine Liebe fühlten, an den
Himmel, in dem sie Gott vollkommen besessen hätten. Und mit der Erinnerung
blieb in ihnen auch der heilige Wunsch, durch ein Leben der Gerechtigkeit
wieder an den verlorenen Ort zurückzugelangen.
Aber, meine Kinder, ihr habt
soeben gesehen: solange das Boot mit der Strömung flußabwärts treibt, geht
alles leicht. Schwimmt es aber gegen den Strom, hat es Mühe, sich über Wasser
zu halten, in den Wellen nicht zu kentern, und nicht auf dem Gras, dem Sand
und den Steinen des Flusses Schiffbruch zu erleiden. Hätte Simon Petrus eure
Schiffchen nicht an feine Binsen vom Ufer gebunden, hättet ihr sie alle
verloren, so wie es Isaak gegangen ist, der seine Binse losgelassen hat.
Ebenso ergeht es den Menschen,
die in die Ströme der Erde geworfen wurden. Sie müssen immer in der Hand
Gottes bleiben und ihren Willen, der euren Binsen gleicht, den Händen des
guten Vaters im Himmel anvertrauen. Denn er ist der Vater aller, besonders der
Unschuldigen. Und sie müssen ein wachsames Auge haben auf Gräser und Binsen,
Steine, Wirbel und Schlamm, die das Boot ihrer Seele aufhalten, zerschmettern
oder verschlingen und den Faden abreißen könnten, der sie mit Gott verbindet.
Denn die Schlange ist nun nicht mehr im Garten, sondern auf der Erde, und
versucht, die Seelen zu verderben und sie nicht gegen die Strömung des
Euphrat, des Tigris, des Gichon und des Pischon zum großen Fluß gelangen zu
lassen. Er fließt durch das ewige Paradies und nährt die Bäume des Lebens und
des Heiles, die immerwährende Früchte tragen und die all jene genießen werden,
denen es gelingt, gegen den Strom zu schwimmen und sich mit Gott und seinen
Engeln zu vereinigen und nie mehr leiden zu müssen.»
129
«So hat es auch die Mama
erzählt», sagt das größere der Kinder.
«Ja, sie hat es gesagt»,
zwitschert der Kleinste.
«Du kannst es nicht wissen. Ich
schon, denn ich bin groß. Aber wenn du Dinge sagst, die nicht wahr sind, dann
kommst du nicht ins Paradies.»
«Der Vater hat aber gesagt, dies
sei alles nicht wahr», bemerkt der Mittlere.
«Weil er nicht an den Herrn der
Mama glaubte.»
«War denn dein Vater kein
Samariter?» fragt Jakobus des Alphäus.
«Nein, er war aus einer anderen
Gegend. Aber die Mama war es, und wir sind es ebenfalls, denn sie wollte, daß
wir so werden wie sie. Sie hat uns vom Paradies erzählt und vom Garten, aber
nicht so schön wie du. Ich hatte Angst vor der Schlange und vor dem Tod, weil
die Mama immer sagte, daß sie der Teufel sei, und der Vater sagte, daß mit dem
Tod alles zu Ende sei. Daher war ich so unglücklich, allein zu sein. Ich sagte
mir auch, daß es nun nutzlos sei, gut zu sein; denn solange Vater und Mutter
noch lebten, freuten sie sich darüber, während danach niemand mehr da war, der
sich gefreut hätte, wenn wir brav sind. Doch nun weiß ich... und werde gut
sein. Ich werde niemals meinen Faden aus der Hand Gottes reißen, damit ich
nicht von den Gewässern der Erde fortgeschwemmt werde.»
«Aber ist die Mama hinauf- oder
hinuntergeschwommen?» fragt der Zweite nachdenklich.
«Was meint du damit, Kind?»,
fragt Matthäus.
«Ich meine: wo ist sie jetzt? Ist
sie zum Fluß des ewigen Paradieses gelangt?»
«Wir wollen es hoffen, Kind. Wenn
sie gut war...»
«Sie war eine Samariterin...»
sagt Iskariot verächtlich.
«Dann gibt es also kein Paradies
für uns, weil wir Samariter sind? Werden wir Gott nicht besitzen? Aber er hat
ihn doch den Vater aller genannt. Und da ich Waise bin, habe ich mich gefreut,
doch noch einen Vater zu haben... Aber wenn er es für uns nicht ist...» Das
Kind senkt traurig das Köpfchen.
«Gott ist der Vater aller
Menschen, mein Kind. Habe ich dich etwa weniger geliebt, weil du ein Samariter
bist? Ich habe dich vor den Räubern bewahrt, und ich werde dich dem Teufel
streitig machen, genauso wie ich den kleinen Sohn des Hohenpriesters im Tempel
von Jerusalem bewahren würde, wenn dieser es nicht für eine Schmach halten
würde, daß der Erlöser sein kleines Geschöpf rettet. Ja, ich werde dich noch
mehr beschützen, weil du allein und unglücklich bist. Es gibt für mich keinen
Unterschied zwischen der Seele eines Juden und der Seele eines Samariters. Und
bald wird es keine Trennung mehr geben zwischen Samaria und Judäa, denn der
Messias wird ein einziges Volk haben, das seinen Namen trägt und dem alle
angehören, die ihn lieben.»
130
«Ich habe dich lieb, Herr. Aber
bringst du mich zu meiner Mama?»fragt das größere der drei Kinder.
«Du weißt nicht, wo sie ist. Der
Mann dort hat gesagt, daß wir nur hoffen können ...» sagt der Zweitgeborene.
«Ich weiß es nicht, aber der Herr
weiß es. Er hat auch gewußt, wo wir waren, während wir doch selbst nicht
einmal wußten, wo wir waren.»
«Bei den Räubern... Sie wollten
uns erschlagen ...» Schrecken zeichnet sich wieder auf dem Gesichtchen des
Zweitgeborenen ab.
«Die Räuber waren wie Teufel.
Aber er hat uns gerettet, weil unsere Engel ihn gerufen haben.»
«Auch die Mama haben die Engel
gerettet. Ich weiß es, denn ich träume immer von ihr.»
«Du lügst, Isaak. Du kannst nicht
von ihr träumen, denn du kannst dich nicht mehr an sie erinnern.»
Der Kleinste weint und sagt:
«Nein, nein. Ich träume von ihr. Ich träume von ihr ...»
«Du darfst deinen Bruder nicht
Lügner nennen, Ruben. Seine Seele kann die Mama schon sehen, denn der gute
Vater im Himmel kann dem Waisenkind gewähren, daß es von ihr träumt und sie
teilweise kennt, so wie er auch gewährt, daß man ihn selbst erkennt. Denn aus
dieser begrenzten Erkenntnis entspringt der gute Wille zur vollkommenen
Erkenntnis. Diese erlangt man dann, wenn man immer gut ist. Nun wollen wir
gehen. Wir haben von Gott gesprochen und den Sabbat geheiligt.»Jesus steht auf
und stimmt weitere Psalmen an.
Leute von Ephraim, die den Chor
gehört haben, kommen herbei und warten ehrfurchtsvoll das Ende des Psalms ab,
um Jesus zu grüßen. Dann fragen sie ihn: «Hast du es vorgezogen, hierher zu
kommen, anstatt zu uns? Du liebst uns also nicht?»
«Keiner von euch hat mich
eingeladen. Daher bin ich mit meinen Aposteln und den Kindern hierher
gekommen.»
«Das ist wahr. Aber wir nahmen
an, dein Jünger würde dir unseren Wunsch ausrichten.»
Jesus sieht Johannes und Judas
an, und Judas antwortet: «Gestern habe ich vergessen, es dir zu sagen; und
heute war ich wegen dieser Kinder zu zerstreut.»
Jesus verläßt die kleine Insel,
springt über den schmalen Wasserarm und kommt zu den Leuten aus Ephraim. Die
Apostel folgen ihm, während die Kinder etwas zurückbleiben und die beiden
übriggebliebenen Schilfboote losbinden. Dem Petrus, der sie antreibt, erklären
sie: «Wir wollen sie behalten, um uns an die Lehre zu erinnern.»
«Und ich? Ich, ich habe meines
verloren! Ich werde mich nicht daran erinnern. Und nicht ins Paradies kommen»,
sagt der Kleinste weinend.
«Warte, weine nicht! Ich mache
dir sofort ein kleines Boot. Sicher.
131
Auch du mußt dir die Lehre
merken. Ja, allen müßte man ein kleines Boot mit einem Binsenfaden am Bug
machen, damit sie sich erinnern. Mehr noch uns Männern als euch Kindern. Bah!»
Und Petrus schneidet und formt das Boot, versieht es mit seinem Binsenfaden,
nimmt dann alle drei Kinder zusammen auf den Arm, macht einen Sprung über den
Bach und geht zu Jesus.
«Sind es diese?» fragt Malachias
von Ephraim.
«Sie sind es.»
«Sie sind von Sichern?»
«Der Hirtenknabe hat gesagt, daß
die Verwandten vom Land dort wohnen.»
«Arme Kinder! Aber wenn die
Verwandten nicht kommen sollten, was würdest du dann tun?»
«Ich würde sie bei mir behalten.
Aber sie werden kommen.»
«Diese Räuber... Werden nicht
auch sie kommen?»
«Sie werden nicht kommen. Aber
fürchtet euch nicht ihretwegen. Auch wenn sie kämen... Sie würden meine Beute
sein, und nicht ihr die ihre. Ich habe ihnen schon vierfache Beute abgenommen
und hoffe, auch einen Teil ihrer Seele der Sünde entrissen zu haben,
wenigstens bei dem einen oder anderen ...»
«Wir werden dir mit diesen
Kindern helfen. Das wirst du uns erlauben.»
«Ja. Nicht, weil sie aus eurer
Gegend stammen, sondern weil sie unschuldig sind, und die Liebe zu den
Unschuldigen ist der schnellste Weg zu Gott.»
«Aber nur du machst keinen
Unterschied zwischen Unschuldigen von hier und dort. Kein Jude hätte diese
kleinen Samariter aufgenommen, und nicht einmal ein Galiläer. Man liebt uns
nicht. Und die Abneigung gegen uns übertragen sie auch auf diese hier, die
noch nicht einmal wissen, was es heißt, Samariter oder Jude zu sein. Und das
ist grausam.»
«Ja, aber das wird sich ändern,
wenn man mein Gesetz befolgt. Siehst du, Malachias? Sie sind in den Armen des
Petrus, meines Bruders, und Simons des Zeloten. Keiner von ihnen ist Samariter
oder Vater. Und dennoch drückst nicht einmal du mit solcher Liebe deine Kinder
ans Herz, wie es meine Jünger mit den Waisen von Samaria tun. Das ist der
messianische Gedanke: alle in Liebe zu vereinigen. Das ist die Wahrheit des
messianischen Gedankens. Ein einziges Volk auf Erden unter dem Szepter des
Messias. Ein einziges Volk im Himmel unter dem Blick des einen Gottes.»
Sie entfernen sich, während sie
miteinander reden, in Richtung des Hauses der Maria des Jakob.
132
610. IN DER NACHT DESSELBEN TAGES
Jesus ist allein in einem kleinen
Zimmer. Er sitzt auf seinem Lager und denkt nach oder betet. Das gelbliche
Flämmchen einer Öllampe zuckt auf einem Regal. Es muß Nacht sein, denn weder
im Haus noch auf der Straße ist ein Geräusch zu vernehmen. Nur der Bach vor
dem Haus scheint in der Stille der Nacht lauter als sonst zu rauschen.
Jesus hebt das Haupt und sieht
zur Tür. Er horcht. Dann steht er auf und öffnet. Petrus steht vor der Tür.
«Du? Komm herein. Was willst du, Simon? Bist du noch auf, nachdem du so viel
gelaufen bist?» Er hat ihn an der Hand genommen und ins Zimmer gezogen und
dann wieder lautlos die Tür geschlossen. Er läßt ihn neben sich auf dem Lager
Platz nehmen.
«Ich wollte dir sagen, Meister...
Ja, ich wollte dir sagen, du hast es auch heute wieder gesehen, was ich wert
bin. Ich bin nur imstande, arme Kinder zu zerstreuen, eine alte Frau zu
trösten und Frieden zwischen zwei Hirten zu stiften, die sich wegen eines
Schafes streiten, das ein trockenes Euter hat. Ich bin ein armer Mensch. So
arm, daß ich nicht einmal begreife, was du mir erklärst. Doch das ist etwas
anderes. Ich wollte dir jetzt sagen, gerade deshalb, daß du mich hier bei dir
behalten sollst. Ich lege keinen Wert darauf herumzuwandern, wenn du nicht
dabei bist. Ich bringe nichts zuwege... Tu mir den Gefallen, Herr.» Petrus
spricht mit Wärme, doch er heftet den Blick dabei immer auf die rauhen, etwas
zerbröckelten Ziegel des Bodens.
«Schau mich an, Simon!» gebietet
Jesus. Und da Petrus gehorcht, sieht ihn Jesus fest an und fragt: «Und das ist
alles? Der einzige Grund deines Wachens? Der einzige Grund, weshalb ich dich
hierbehalten soll? Sei ehrlich, Simon. Du sprichst nicht schlecht über andere,
wenn du deinem Meister den anderen Teil deiner Gedanken sagst. Man muß zu
unterscheiden wissen zwischen müßigen und nützlichen Worten. Es sind müßige
Worte, und für gewöhnlich gedeiht im Müßiggang die Sünde, wenn man von den
Fehlern anderer spricht mit Menschen, die daran nichts ändern können. Dann ist
es einfach Mangel an Nächstenliebe, selbst wenn das Gesagte wahr ist. Ebenso
fehlt man gegen die Nächstenliebe, wenn man mehr oder weniger hart tadelt,
ohne mit dem Tadel einen guten Rat zu verbinden. Und ich spreche von
gerechtfertigtem Tadel. Aller andere Tadel ist ungerecht und eine Sünde gegen
den Nächsten. Aber wenn einer seinen Nächsten sündigen sieht und darunter
leidet, weil der Sünder Gott beleidigt und seiner eigenen Seele schadet, und
wenn er feststellt, daß er weder imstande ist, das ganze Ausmaß der Sünde des
anderen zu beurteilen, noch die Weisheit besitzt, die richtigen Worte zur
Bekehrung des Sünders zu finden, und sich deshalb an einen Gerechten und
Weisen wendet, um ihm seine Not anzuvertrauen, dann begeht er keine Sünde;
denn er will
133
mit seinen vertraulichen
Mitteilungen nur Ärgernis verhindern und eine Seele retten. Er gleicht einem
Mann, der einen Verwandten mit einer beschämenden Krankheit hat. Es ist
natürlich, daß er den Menschen die Krankheit verschweigt, heimlich jedoch zum
Arzt sagt: "Mein Verwandter hat meines Wissens diese und diese Krankheit, und
ich kann ihm nicht raten oder helfen. Komm du oder sage mir wenigstens, was
ich tun muß." Fehlt dieser etwa gegen die Liebe zu seinem Verwandten? Nein. Im
Gegenteil! Er würde fehlen, wenn er aus einem falschen Gefühl der Vorsicht und
Liebe vorgeben würde, von der Krankheit nichts zu wissen, und diese
fortschreiten und vielleicht zum Tod führen würde. Eines Tages, es wird nicht
mehr Jahre dauern, werdet ihr, du und deine Gefährten, die Bekenntnisse der
Seelen anhören müssen. Nicht, wie ihr sie jetzt als Menschen anhört, sondern
als Priester, als Ärzte, als Lehrer und Hirten der Seelen, so wie ich Arzt,
Lehrer und Hirte bin. Ihr werdet sie anhören, entscheiden und Ratschläge geben
müssen. Und euer Urteil wird denselben Wert haben, wie wenn Gott selbst
gesprochen hätte ...»
Petrus macht sich von Jesus los,
der ihn eng an seiner Seite gehalten hat, steht auf und sagt: «Das ist nicht
möglich, Herr. Das darfst du uns niemals auferlegen. Wie sollen wir wie Gott
richten können, wenn wir nicht einmal imstande sind, es als Menschen zu tun?»
«Ihr werdet es können, denn der
Geist Gottes wird euch frei machen und euch mit seinem Licht erfüllen. Ihr
werdet zu urteilen verstehen, wenn ihr die sieben Umstände der Tatsachen
prüft, die euch vorgetragen werden, um Rat oder Vergebung zu erhalten. Höre
gut zu und versuche, dich zu erinnern. Zu gegebener Zeit wird der Geist des
Herrn dir meine Worte wiederholen. Aber versuche trotzdem, dich zu erinnern
mit deinem Verstand, den Gott dir gegeben hat, damit du ihn gebrauchst.
Gebrauche ihn ohne geistige Trägheit oder Anmaßung, die nur dazu verleiten,
alles von Gott zu erwarten und zu verlangen. Wenn du an meiner Stelle Lehrer,
Arzt und Hirte bist und ein Gläubiger kommt, um zu deinen Füßen die Verwirrung
zu beweinen, die seine eigenen Taten oder die anderer Menschen in ihm erzeugt
haben, dann mußt du immer an diese sieben Fragen denken.
Wer: Wer hat gesündigt?
Was: Worin besteht die Sünde?
Wo: An welchem Ort?
Wie: Unter welchen Umständen?
Womit oder mit wem: Welcher
Gegenstand oder welche Person war das Mittel zur Sünde?
Warum: Welche Anreize haben die
die Sünde begünstigenden Bedingungen geschaffen?
Wann: In welcher Verfassung
befand sich der Mensch und wie hat er reagiert? War es unvorhergesehen oder
ungesunde Gewohnheit?
134
Denn siehst du, Simon, die
gleiche Sünde kann unendlich viele Schattierungen und Grade haben, je nach den
Umständen, die dazu geführt haben, und den Personen, die sie begangen haben.
Nehmen wir z.B. die beiden Sünden, die am weitesten verbreitet sind: die
Begierlichkeit des Fleisches und die Gier nach Reichtum.
Ein Mensch hat durch Unkeuschheit
gesündigt, oder er glaubt, durch Unkeuschheit gesündigt zu haben; denn
manchmal verwechselt der Mensch die Sünde mit der Versuchung, oder er hält die
künstlich durch einen ungesunden Appetit geschaffene Lust für gleichwertig mit
den Gedanken, die durch ein Leiden oder eine Krankheit entstehen, oder als
Folge einer gänzlich unerwarteten Regung von Fleisch und Blut, gegen die sich
der Geist nicht rechtzeitig zur Wehr setzen kann, um sie zu unterdrücken. Der
Mensch kommt zu dir und bekennt: "Ich bin unkeusch gewesen." Ein
unvollkommener Priester würde sagen: "Verflucht sollst du sein!" Du aber, mein
Petrus, darfst nicht so sprechen. Denn du bist Petrus des Jesus, du bist der
Nachfolger der Barmherzigkeit. Und daher mußt du, bevor du verurteilst, alle
Umstände erwägen und sanft und klug das Herz, das vor dir weint, prüfen, um
alle Aspekte der Sünde oder der anscheinenden Sünde, der Skrupel, zu kennen.
Ich habe gesagt: sanft und klug. Du darfst nie vergessen, daß du außer Lehrer
und Hirte auch Arzt bist. Und der Arzt vergiftet die Wunden nicht. Er ist
bereit, zu schneiden, wenn sich Wundbrand gebildet hat, aber er versteht es
auch, freizulegen und mit leichter Hand zu behandeln, wenn es nur eine Wunde
ist, bei der gesunde Teile verletzt sind, die wieder zusammengefügt werden
können und nicht entfernt werden müssen. Und denke daran, daß du außer Arzt
und Hirte auch Lehrer bist. Ein Lehrer paßt seine Worte dem Alter der Schüler
an. Ein Ärgernis wäre der Erzieher, der Kindern animalische Vorgänge enthüllt,
die dem Unschuldigen unbekannt sind, und der sie somit durch vorzeitige
Erkenntnisse zum Bösen verführt. Auch im Umgang mit den Seelen braucht es
Klugheit beim Befragen. Selbstrespekt und Respekt vor ihnen. Es wird dir
leichtfallen, wenn du in jeder Seele einen Sohn siehst. Der Vater ist der
natürliche Lehrer, Arzt und Führer seiner Kinder. Daher sollst du jeden
Menschen, wer er auch immer sei, der mit irgendeiner Schuld beladen oder mit
der Furcht, gesündigt zu haben, zu dir kommt, wie ein Vater lieben. So wirst
du urteilen, ohne zu verletzen oder Ärgernis zu geben. Kannst du mir folgen?»
«Ja, Meister. Ich verstehe sehr
gut. Ich muß vorsichtig und geduldig sein und den Menschen veranlassen, seine
Sünden aufzudecken, aber mich hüten, die Augen anderer darauf zu lenken, und
nur wenn ich sehe, daß tatsächlich eine Wunde vorhanden ist, muß ich sagen:
"Siehst du? Hier hast du dir aus diesem oder jenem Grund geschadet." Aber wenn
ich sehe, daß der Mensch sich nur einbildet und fürchtet, verletzt zu sein,
dann... blase ich die Nebel weg, ohne aus unnötigem Eifer Kenntnisse zu
135
vermitteln, die zur Ursache
wirklicher Sünden werden könnten. Ist das richtig?»
«Ganz richtig. Wenn also jemand
zu dir sagt: "Ich bin unkeusch gewesen", dann erwäge erst einmal, wen du vor
dir hast. Gewiß, die Sünde ist in jedem Alter möglich. Aber es wird leichter
sein, ihr bei einem Erwachsenen zu begegnen als bei einem Kind, und die Fragen
und die Antworten müssen daher verschieden sein, je nachdem, ob es sich um
einen Mann oder um ein Kind handelt. Nach der ersten kommt also die zweite
Frage nach der Art der Sünde, dann die dritte nach dem Ort der Sünde, die
vierte nach den Umständen der Sünde, die fünfte nach den Mitschuldigen, die
sechste nach dem Warum und die siebte nach dem Wann und wie oft.
Du wirst feststellen, daß sich
gewöhnlich bei einem Erwachsenen, einem in der Welt lebenden Erwachsenen, bei
jeder Frage ein wirklich schuldhafter Umstand ergibt, während du bei einem
kindlichen Geschöpf, kindlich dem Alter oder dem Geist nach, oft sagen mußt:
"Hier ist nur ein Nebel, aber keine wahrhafte Sünde." Ja, du wirst manchmal
anstelle von Schmutz eine Lilie vorfinden, die zittert, sich mit Schmutz
befleckt zu haben, und den Tautropfen, der in ihren Kelch gefallen ist, mit
einem Schlammspritzer verwechselt. Es sind dies Seelen, die sich so sehr nach
dem Himmel sehnen, daß sie selbst den Schatten einer Wolke, der auf sie fällt,
wie einen Makel fürchten, obwohl diese sich nur für einen Augenblick zwischen
die Seele und die Sonne schiebt und dann weiterzieht und keinerlei Spur auf
dem reinen Blütenkelch hinterläßt. Seelen, die ganz unschuldig sind und es
auch bleiben wollen und die Satan durch geistige Versuchungen oder den Stachel
des Fleisches oder das Fleisch selbst erschreckt, indem er sich echter
körperlicher Krankheiten bedient. Diese Seelen müssen getröstet und
aufgerichtet werden, denn sie sind keine Sünder mehr, sondern Märtyrer. Denke
immer daran.
Und vergiß auch nicht,
diejenigen, die durch die Gier nach dem Reichtum oder dem Eigentum anderer
gesündigt haben, auf dieselbe Art zu beurteilen. Denn wenn es auch eine
schwere Schuld darstellt, ohne Not und Mitleid habgierig zu sein, die Armen zu
berauben und entgegen aller Gerechtigkeit die Bürger und die Knechte und die
Völker zu quälen, so ist doch die Schuld geringer, sehr viel geringer, wenn
einer, dem von seinem Nächsten ein Brot verweigert wurde, dieses dann stiehlt,
um seinen eigenen und den Hunger seiner Kinder zu stillen. Erinnere dich,
sowohl beim Dieb als auch beim Unkeuschen sollen für dein Urteil Zahl,
Umstände und Schwere der Schuld maßgebend sein. Ferner sollst du bei deinem
Urteil in Betracht ziehen, ob der Sünder in dem Augenblick, als er die Sünde
beging, sich der Sündhaftigkeit seines Tuns bewußt war. Denn wer in voller
Kenntnis handelt, sündigt schwerer als der, der in Unkenntnis handelt. Und wer
aus freiem Willen sündigt, sündigt schwerer als einer, der zur Sünde gezwungen
wird. Wahrlich, ich sage dir, es gibt manchmal
136
Dinge, die Sünde zu sein scheinen
und in Wirklichkeit ein Martyrium sind und das Verdienst eines erlittenen
Martyriums haben. Und vergiß vor allem nie, daß du in allen Fällen, bevor du
verurteilst, bedenken mußt, daß auch du ein Mensch bist und daß dein Meister,
dem niemand eine Sünde nachsagen kann, niemals jemanden verurteilt hat, der
bereute, gesündigt zu haben.
Verzeihe siebzigmal siebenmal und
auch siebzigmal siebzigmal die Sünden deiner Brüder und deiner Kinder. Denn
einem Kranken die Tür des Heils zu verschließen, nur weil er wieder in die
Krankheit zurückgefallen ist, bedeutet, ihn zum Tod verurteilen. Hast du
verstanden?»
«Ich habe verstanden. Dies habe
ich wirklich verstanden...»
«So lege mir nun alle deine
Gedanken dar.»
«Nun gut, ja! Ich will dir alles
sagen, weil ich sehe, daß du wirklich alles weißt, und verstehe, daß ich nicht
schlecht über ihn rede, wenn ich dich bitte, Judas an meiner Stelle
auszusenden, da er leidet, wenn er nicht gehen darf. Ich will dir damit nicht
sagen, daß er eifersüchtig ist und daß ich an ihm Ärgernis nehme, ich will ihn
nur zufriedenstellen... damit auch du Frieden hast. Denn es muß sehr
anstrengend für dich sein, immer diesen Gewittersturm in deiner Nähe zu
haben...»
«Hat sich Judas wieder beklagt?»
«O ja! Er hat gesagt, daß jedes
deiner Worte ihm eine Wunde schlägt. Auch das, was du zu den Kindern gesagt
hast. Er meint, du habest nur seinetwegen gesagt, daß Eva zu dem Baum ging,
weil ihr dieses Ding gefiel, das wie ein königliches Geschmeide glitzerte. Ich
habe darin wahrlich keinen Vergleich gesehen. Doch ich bin unwissend ...
Bartholomäus und der Zelote haben gesagt, daß Judas am empfindlichsten Punkt
getroffen wurde, da er wie verhext ist von allem, was glänzt und der Eitelkeit
schmeichelt. Sie haben sicher recht, denn sie sind weise. Sei gut zu deinen
armen Aposteln, Meister. Stelle Judas zufrieden, und mich mit ihm. Du siehst
es ja selbst! Ich verstehe nur, die Kinder zum Lachen zu bringen... und selbst
ein Kind in deinen Armen zu sein», und er umarmt seinen Jesus, den er wahrhaft
mit allen seinen Kräften liebt.
«Nein. Ich kann dich nicht
zufriedenstellen. Dränge nicht. Du – eben weil du bist, wie du bist – gehst
die Frohe Botschaft verkünden. Er -eben weil er ist, wie er ist – bleibt hier.
Auch mein Bruder hat schon mit mir gesprochen, und so sehr ich ihn auch liebe,
ich mußte ihm mit einem "Nein" antworten. Selbst wenn meine Mutter mich bitten
würde, könnte ich nicht nachgeben. Es ist keine Strafe, sondern eine Medizin.
Und Judas muß sie einnehmen. Und wenn sie seinem Geist auch nicht nützt, so
wird sie doch mir nützen; denn ich werde mir nicht vorwerfen müssen, etwas
unterlassen zu haben, um ihn zu heiligen.» Jesus ist streng und gebieterisch
bei diesen Worten.
Petrus läßt die Arme sinken und
neigt seufzend das Haupt.
137
«Sei nicht traurig darüber,
Simon. Wir werden eine ganze Ewigkeit haben, um vereint zu sein und uns zu
lieben. Aber du wolltest mir noch etwas anderes sagen ...»
«Es ist spät, Meister, und du
mußt schlafen.»
«Du mehr als ich, Simon, denn bei
Sonnenaufgang mußt du dich wieder auf den Weg machen...»
«Oh, was mich betrifft, so ruhe
ich mich hier bei dir mehr aus als auf dem Lager.»
«Dann sprich. Du weißt, daß ich
wenig schlafe...»
«Also, ich bin ein Dummkopf. Ich
weiß es und sage es ohne Scham. Und wenn es nur mich anginge, so würde es mir
gar nichts ausmachen, unwissend zu sein, denn ich meine, die größte Weisheit
besteht darin, dich zu lieben, dir zu folgen und dir mit ganzem Herzen zu
dienen. Doch du schickst mich da- und dorthin. Und die Leute fragen mich, und
ich muß ihnen antworten. Ich meine, wonach ich dich frage, können die anderen
mich fragen. Denn die Menschen haben dieselben Gedanken. Du hast gestern
gesagt, daß die Unschuldigen und die Heiligen immer werden leiden müssen; mehr
noch, daß gerade sie für alle leiden werden. Das fällt mir schwer zu
verstehen, auch wenn du sagst, daß sie selbst es wünschen werden. Und ich
glaube, wenn es mir schwerfällt, wird es anderen ebenso ergehen. Und wenn sie
mich fragen, was soll ich ihnen antworten? Auf dieser ersten Reise hat eine
Mutter zu mir gesagt: "Es war nicht recht, daß mein kleines Mädchen unter so
großen Schmerzen sterben mußte, denn es war gut und unschuldig." Und da ich
nicht wußte, was ich antworten sollte, habe ich die Worte des Job wiederholt:
"Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen. Der Name des Herrn sei
gepriesen." Aber ich war selbst nicht davon überzeugt. Und ich konnte auch sie
nicht überzeugen. Nun möchte ich wissen, was ich das nächste Mal sagen soll.»
«Die Frage ist gerechtfertigt.
Höre zu. Es scheint eine Ungerechtigkeit zu sein, und doch ist es durchaus
gerecht, daß die Besten für alle leiden. Aber sage mir einmal, Simon, was ist
die Erde? Die ganze Erde.»
«Die Erde? Ein großer, ein sehr
großer Raum, der aus Staub, Wasser, Felsen, Pflanzen, Tieren und menschlichen
Geschöpfen besteht.»
«Und was sonst noch?»
«Sonst gar nichts... Es sei denn,
du willst, daß ich sage, daß sie der Ort der Strafe für den Menschen und ein
Exil ist.»
«Die Welt ist ein Altar, Simon.
Ein riesiger Altar. Sie sollte ein Altar des unaufhörlichen Lobes für ihren
Schöpfer sein. Aber die Welt ist voller Sünde. Daher muß sie ein Altar der
unablässigen Sühne sein, eine Opferstätte, auf der die Opfergaben brennen. Die
Erde müßte, wie die anderen Welten im All, Gott, der sie erschaffen hat,
Psalmen singen. Schau!»Jesus öffnet die Holzläden, und durch das offene
Fenster dringen die Kühle der Nacht, das Rauschen des Baches und das Licht des
Mondes
138
herein und sieht man den
gestirnten Himmel. «Siehst du diese Sterne? Sie singen mit ihrer Stimme aus
Licht und Bewegung in den unendlichen Räumen des Firmaments das Lob Gottes.
Tausende von Jahren währt schon ihr Gesang, der von den blauen Gefilden des
Himmels zum Himmel Gottes aufsteigt. Wir können uns Gestirne und Planeten,
Sterne und Kometen als siderische Geschöpfe vorstellen, die als siderische
Priester, Leviten, Jungfrauen und Gläubige in einem grenzenlosen Tempel das
Lob des Schöpfers singen. Lausche, Simon. Hörst du das Säuseln des Windes im
Laub und das Rauschen des Wassers in der Nacht? Auch die Erde singt – wie der
Himmel – mit den Winden und den Wassern, mit den Stimmen der Vögel und der
übrigen Tiere. Aber wenn für das Firmament das leuchtende Lob der Sterne, die
es bevölkern, genügt, so ist der Gesang des Windes, des Wassers und der Tiere
für den Tempel, der die Erde ist, nicht ausreichend. Denn auf ihr gibt es
nicht nur Luft, Wasser und Tiere, die unbewußten Sänger des Lobes Gottes,
sondern auf ihr gibt es auch den Menschen: das vollkommene Geschöpf, das über
allem steht, was lebt in der Zeit und in der Welt, und das aus Materie wie die
Tiere, die Mineralien und die Pflanzen gemacht ist, und aus Geist wie die
Engel des Himmels. Wie letztere ist auch er dazu bestimmt, wenn er seine
Prüfung besteht, Gott zu erkennen und zu besitzen, durch die Gnade zuerst, im
Paradies später. Der Mensch, eine Synthese aller Seinsstufen, hat eine
Aufgabe, die die anderen Geschöpfe nicht haben; und sie müßte für ihn, mehr
als eine Pflicht, eine Freude sein: Gott zu lieben. Bewußt und freiwillig
müßte er Gott liebend verehren und ihm die Liebe vergelten, die er dem
Menschen erzeigte, als er ihm das Leben und über das Leben hinaus den Himmel
schenkte.
Bewußt verehren und lieben.
Überlege, Simon. Welchen Vorteil hat Gott durch die Schöpfung? Welchen Nutzen?
Keinen. Die Schöpfung macht Gott nicht größer, heiliger oder reicher. Denn er
ist unendlich. Er wäre es, auch wenn es nie eine Schöpfung gegeben hätte. Aber
Gott, die Liebe, verlangte nach Liebe. Und er hat erschaffen, um Liebe zu
finden. Liebe allein kann die Schöpfung Gott geben, und diese Liebe, die sich
nur bei den Engeln und den Menschen bewußt und frei äußert, ist die Ehre
Gottes, die Freude der Engel und die Religion der Menschen. Wenn eines Tages
der große Altar der Erde seine Lobgesänge und sein Liebesflehen einstellen
sollte, würde die Erde aufhören zu existieren. Denn wenn die Liebe erlischt,
endet auch die Sühne, und der Zorn Gottes würde die zur Hölle gewordene Welt
vernichten. Die Erde muß also lieben, um fortbestehen zu können. Und weiter:
Die Erde muß der Tempel sein, der liebt und betet durch die Intelligenz der
Menschen. Aber welche Opfer werden in einem Tempel, in jedem Tempel,
dargebracht? Reine Opfer, ohne Fehl und Makel. Nur diese sind dem Herrn
wohlgefällig. Sie und die Erstlinge. Denn dem Familienvater muß man das Beste
geben, und Gott, dem Vater
139
der Menschheitsfamilie, müssen
die Erstlinge aller Dinge, die erlesensten Dinge gegeben werden.
Aber ich habe gesagt, daß die
Erde die Pflicht des zweifachen Opfers hat: die des Lob- und die des
Sühnopfers; denn die Menschheit, die schon in den ersten Menschen gesündigt
hat, sündigt fortwährend weiter und fügt der Sünde der Gleichgültigkeit
gegenüber Gott tausend andere Sünden der Anhänglichkeit an die Stimmen der
Welt, des Fleisches und Satans hinzu. Schuldbeladene, schuldbeladene
Menschheit, die trotz ihrer Ähnlichkeit mit Gott, trotz des eigenen Verstandes
und der göttlichen Hilfe immer sündigt und immer mehr sündigt. Die Sterne
gehorchen, die Pflanzen gehorchen, die Elemente gehorchen, die Tiere
gehorchen, und sie alle preisen auf ihre Art den Herrn. Die Menschen gehorchen
dem Herrn nicht und preisen ihn nicht genug. Daraus ergibt sich die
Notwendigkeit der Opferseelen, die für alle lieben und sühnen. Es sind die
Kinder, die unschuldig und unwissend die bittere Strafe des Schmerzes ertragen
müssen für jene, die nichts anderes zu tun wissen als zu sündigen. Es sind die
Heiligen, die sich freiwillig für alle opfern.
In Kürze – ein Jahr oder ein
Jahrhundert ist immer "wenig" im Vergleich zur Ewigkeit – werden keine anderen
Opfergaben mehr auf dem Altar des großen Tempels der Welt dargebracht werden
als diese Opferseelen, die sich in beständiger Selbstaufopferung verzehren:
Hostien, vereint mit der vollkommenen Hostie. Keine Angst, Petrus. Ich sage
nicht, daß ich einen Kult ähnlich dem des Moloch, des Baal oder der Astarte
errichten werde. Die Menschen selbst werden uns opfern. Verstehst du? Sie
werden uns opfern, und wir werden freudig in den Tod gehen, um für alle zu
sühnen und zu lieben. Dann werden Zeiten kommen, in denen die Menschen nicht
mehr Menschen opfern. Doch immer wird es die reinen Opferseelen geben, die die
Liebe zusammen mit dem großen Opferlamm im fortwährenden Opfer verzehrt. Ich
spreche von der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott. Wahrlich, sie werden die
Hostien der Zukunft und des zukünftigen Tempels sein. Nicht Lämmer und Böcke,
Kälber und Tauben, sondern Opfer des Herzens sind Gott wohlgefällig. David hat
es vorausgesagt. Und in der neuen Zeit, der Zeit des Geistes und der Liebe,
wird Gott nur dieses Opfer angenehm sein.
Überlege, Simon. Wenn ein Gott
Mensch werden mußte, um der göttlichen Gerechtigkeit Genüge zu tun für die
große Sünde, für die vielen Sünden der Menschen, dann können in der Zeit der
Wahrheit nur die Opfer der Menschenseelen den Herrn besänftigen. Du denkst:
"Aber warum hat dann er, der Allerhöchste, angeordnet, ihm die Jungen der
Tiere und die Früchte der Pflanzen zu opfern?" Ich will es dir sagen. Vor
meiner Ankunft war der Mensch eine befleckte Opfergabe, und die Liebe war
nicht bekannt. Nun wird sie bekannt werden. Und der Mensch, der die Liebe
kennenlernt – denn ich werde ihm die Gnade wiedergeben,
140
durch die er die Liebe erkennt –
wird aus seiner Lethargie erwachen, sich erinnern, verstehen, leben und selbst
an die Stelle der Böcklein und der Lämmer treten. Hostie der Liebe und der
Sühne, in Nachahmung des Gotteslammes, seines Meisters und Erlösers, wird er
sein. Der Schmerz, bisher eine Strafe, wird sich in vollkommene Liebe
verwandeln, und selig jene, die ihn aus vollkommener Liebe auf sich nehmen.»
«Aber die Kinder ...»
«Du meinst die, die sich noch
nicht aufzuopfern wissen... Weißt du denn, wann Gott in ihnen spricht? Die
Sprache Gottes ist eine geistige Sprache. Die Seele versteht sie und die Seele
hat kein Alter. Vielmehr sage ich dir, daß die Kinderseele, weil ohne Bosheit,
in ihrer Fähigkeit, Gott zu verstehen, erwachsener ist als die Seele eines
greisen Sünders. Ich sage dir, Simon: du wirst lange genug leben, um zu sehen,
wie viele Kinder die Erwachsenen und auch dich selbst die Weisheit der
heroischen Liebe lehren werden. In jenen Kindern aber, die aus natürlichen
Gründen sterben, wirkt Gott direkt aus Gründen einer so hohen Liebe, daß ich
sie dir nicht erklären kann. Sie gehören zu der Weisheit, die in den Büchern
des Lebens geschrieben steht, die nur von den Seligen im Himmel gelesen
werden. Gelesen, habe ich gesagt; aber in Wahrheit wird es genügen, Gott
anzuschauen, um nicht allein Gott zu erkennen, sondern auch seine unendliche
Weisheit... Nun haben wir den Mond untergehen lassen, Simon... Bald bricht der
Tag an, und du hast nicht geschlafen...»
«Das macht nichts, Meister. Ich
habe wenige Stunden Schlaf verloren und so viel Wissen erworben. Und ich war
mit dir zusammen. Aber wenn du es erlaubst, gehe ich jetzt. Nicht um zu
schlafen, sondern um über deine Worte nachzudenken.»
Petrus ist schon auf der Schwelle
und will hinausgehen, als er nachdenklich stehenbleibt und sagt: «Noch etwas,
Meister. Ist es richtig, wenn ich jemandem, der leidet, sage, daß der Schmerz
keine Strafe, sondern eine... Gnade, etwas wie... wie unsere Berufung ist,
etwas Schönes, wenn auch Mühevolles, etwas Schönes, wenngleich es denen, die
nicht darum wissen, hart und traurig erscheint?»
«Du kannst es sagen, Simon. Es
ist die Wahrheit. Der Schmerz ist keine Strafe, wenn man ihn im rechten Geist
annimmt und nutzt. Der Schmerz ist wie ein Priestertum, Simon. Ein allen
zugängliches Priestertum. Ein Priestertum, das große Macht über das Herz
Gottes verleiht. Er ist ein großes Verdienst. Mit der Sünde geboren,
besänftigt er die Gerechtigkeit. Denn Gott kann auch zum Guten gebrauchen, was
der Haß geschaffen hat, um Schmerz zu bereiten. Ich habe kein anderes Mittel
gewollt, um die Schuld zu tilgen, denn es gibt kein mächtigeres Mittel als
dieses.»
141
611. AN EINEM SABBAT IN EPHRAIM
Es muß wieder Sabbat sein, denn
die Apostel sind erneut im Haus der Maria des Jakob versammelt. Die Kinder
sind noch bei ihnen, nahe bei Jesus, an der Feuerstelle. Und das veranlaßt
Judas Iskariot zu sagen: «Nun ist schon eine Woche vergangen, und die
Verwandten sind nicht gekommen», und er lacht dabei und schüttelt den Kopf.
Jesus antwortet ihm nicht. Er
liebkost den Zweitgeborenen. Judas fragt Petrus und Jakobus des Alphäus: «Und
ihr sagt, daß ihr beide Wege gegangen seid, die nach Sichern führen?»
«Ja. Aber es war nutzlos, und wir
hätten es uns denken können. Natürlich benützen die Räuber diese belebten
Straßen nicht, besonders jetzt, da Trupps von römischen Soldaten dort ständig
patrouillieren», antwortet Jakobus des Alphäus.
«Und warum habt ihr es dann
getan?» setzt ihm Judas zu.
«Nun ja... Es kommt für uns auf
das gleiche heraus, ob wir dahin oder dorthin gehen. Also sind wir diese Wege
gegangen.»
«Und niemand konnte euch etwas
sagen?»
«Wir haben niemanden gefragt.»
«Und wie wollt ihr dann wissen,
ob sie vorbeigekommen sind oder nicht? Tragen sie vielleicht Schilder mit sich
herum, oder hinterlassen Menschen, die auf einer Straße gehen, Spuren? Ich
glaube nicht. Denn sonst hätten uns wenigstens schon die Freunde gefunden.
Doch kein einziger ist gekommen, seit wir hier sind.» Judas lacht sarkastisch.
«Wir wissen nicht, warum niemand
hierher gekommen ist. Der Meister weiß es. Wir wissen es nicht. Wenn man keine
Spuren hinterläßt und sich wie wir an einen den Leuten unbekannten Ort
zurückzieht, können sie nicht kommen, wenn man ihnen unseren Zufluchtsort
nicht bekanntgibt. Und wir wissen nicht, ob unser Bruder ihn den Freunden
genannt hat», sagt Jakobus des Alphäus geduldig.
«Oh, du willst mir doch nicht
weismachen, daß er ihn nicht wenigstens Lazarus oder Nike mitgeteilt hat?»
Jesus sagt nichts. Er nimmt ein
Kind bei der Hand und geht hinaus.
«Ich will dir gar nichts
weismachen. Aber selbst wenn es so ist, wie du sagst, kannst du nicht, kann
keiner von uns die Gründe für die Abwesenheit der Freunde beurteilen.»
«Sie sind leicht zu verstehen,
diese Gründe! Keiner will Unannehmlichkeiten mit dem Synedrium bekommen, um so
weniger einer, der reich und mächtig ist. Das ist alles! Nur wir verstehen es
bestens, uns Gefahren auszusetzen.»
«Sei gerecht, Judas! Der Meister
hat keinen von uns gezwungen, bei ihm zu bleiben. Warum bist du geblieben,
wenn du das Synedrium fürchtest?» bemerkt Jakobus des Alphäus.
142
«Du kannst immer noch jederzeit
gehen, wenn du willst. Du bist nicht angekettet...» unterbricht der andere
Jakobus, der Sohn des Zebedäus.
«Nein, das nicht! Das kommt nicht
in Frage! Hier sind wir und hier bleiben wir. Alle. Wer gehen wollte, hätte es
früher tun sollen. Jetzt nicht mehr. Ich werde mich widersetzen, wenn der
Meister sich nicht widersetzt», sagt Petrus langsam aber bestimmt und schlägt
mit der Faust auf den Tisch.
«Und weshalb? Wer bist du denn,
daß du an Stelle des Meisters Befehle erteilst?» fragt Iskariot heftig.
«Ich bin ein Mensch, der nicht
wie Gott, wie er, denkt, sondern wie ein Mensch.»
«Du mißtraust mir? Du hältst mich
für einen Verräter?» sagt Judas erregt.
«Du hast es gesagt. Nicht, daß
ich dich dafür halten will... Aber du bist so gedankenlos und so wankelmütig,
Judas! Und du hast zu viele Freunde. Und du tust zu gerne groß, in allem. Du,
oh! Du könntest nicht schweigen! Um einem niederträchtigen Menschen zu
antworten oder um zu zeigen, daß du ein Apostel bist, würdest du plaudern.
Daher bist und bleibst du hier. So kannst du nicht schaden und brauchst dir
keine Vorwürfe zu machen.»
«Gott läßt dem Menschen die
Freiheit, und du willst sie mir nehmen?»
«Ich will es. Aber sage mir doch:
Regnet es dir etwa auf den Kopf? Fehlt es dir an Brot? Schadet dir die Luft?
Beleidigen dich die Leute? Nichts von alledem. Das Haus ist solide, wenn auch
nicht reich. Die Luft ist gut, an Essen hat es dir niemals gefehlt, und die
Bevölkerung achtet dich. Warum bist du also so unruhig, wie wenn du auf einer
Galeere wärest?»
«"Zwei Völkerschaften verabscheut
meine Seele, und die dritte mir verhaßte ist kein Volk: die Bewohner von Seit,
die Philister und das törichte Volk, das in Sichern wohnt." Ich antworte dir
mit den Worten des Weisen. Und ich habe allen Grund, so zu denken. Sage mir
selbst, ob diese Völker uns lieben!»
«Mhm... Eigentlich scheint mir,
daß auch die anderen, dein Volk und mein Volk, nicht viel besser sind. Man hat
in Judäa und in Galiläa mit Steinen nach uns geworfen, und in Judäa noch mehr
als in Galiläa, im Tempel von Judäa mehr als an allen anderen Orten. Ich finde
nicht, daß wir im Land der Philister, oder hier oder anderswo mißhandelt
worden sind ...»
«Wo anderswo? Wir sind
glücklicherweise sonst nirgends hingegangen. Aber selbst wenn wir anderswohin
gegangen wären, wäre ich nicht mitgekommen, und auch in Zukunft werde ich
nicht mitkommen. Ich will mich nicht noch mehr beflecken.»
«Dich beflecken? Das ist es
nicht, was dich stört, Judas des Simon. Du willst dich nicht mit denen vom
Tempel verfeinden. Das ist deine große
143
Sorge», sagt mit ruhiger Stimme
Simon der Zelote, der mit Petrus, Jakobus des Alphäus und Philippus in der
Küche geblieben ist. Die anderen sind hinausgegangen, einer nach dem anderen,
um sich mit den beiden Kindern zum Meister zu gesellen. Eine verdienstvolle
Flucht, denn sie ist erfolgt, um nicht gegen das Gebot der Liebe zu verstoßen.
«Nein, das stimmt nicht. Es paßt
mir einfach nicht, meine Zeit zu vergeuden und Dummköpfe mit Weisheit zu
füttern. Schau! Was hat es genützt, Ermastheus zu uns zu nehmen? Er ist
fortgegangen und nicht wiedergekommen. Joseph sagte, daß er sich von ihm
getrennt habe und zum Laubhüttenfest zurückkommen wollte. Hast du ihn etwa
gesehen? Ein Abtrünniger...»
«Ich weiß nicht, warum er nicht
zurückgekehrt ist, und urteile nicht. Doch möchte ich dich fragen: Ist er etwa
der einzige, der den Meister verlassen hat und vielleicht sogar sein Feind
geworden ist? Gibt es unter uns Juden und Galiläern denn keine Abtrünnigen?
Kannst du das behaupten?»
«Nein, das ist wahr. Aber ich
fühle mich eben nicht wohl hier. Wenn man erfahren würde, daß wir hier sind!
Wenn man wüßte, daß wir uns mit Samaritern abgeben und am Sabbat sogar in ihre
Synagogen gehen! Er will es tun... Wehe, wenn man es erführe! Die Anklage wäre
dann gerechtfertigt ...»
«Und der Meister würde verurteilt
werden, willst du sagen. Er ist es ja schon. Er ist es schon, noch bevor man
es erfährt. Er ist verurteilt worden, nachdem er einen Juden in Judäa
auferweckt hat. Er wird gehaßt, und man klagt ihn an, ein Samariter und ein
Freund von Zöllnern und Dirnen zu sein. Er ist es ... von jeher. Und du weißt
besser als wir alle, daß er es nicht ist!»
«Was willst du damit sagen,
Nathanael? Was meinst du damit? Was habe ich damit zu tun? Was kann ich besser
wissen als ihr?» Judas ist äußerst erregt.
«Du kommst mir vor wie eine von
Feinden umringte Maus, mein Junge. Aber du bist keine Maus, und wir sind nicht
mit Stöcken bewaffnet, um dich zu fangen und zu töten. Warum gerätst du so in
Erregung? Wenn dein Gewissen in Ordnung ist, warum versetzen dich dann
unschuldige Worte in solche Unruhe? Was hat Bartholomäus gesagt, daß du so
außer dir bist? Ist es vielleicht nicht wahr, daß niemand besser als wir,
seine Apostel, die wir mit ihm wohnen und neben ihm schlafen, wissen und
bezeugen können, daß er nicht den Samariter, den Zöllner, den Sünder oder die
Dirne als solche liebt, sondern ihre Seelen? Nur um diese ist er besorgt, und
nur um ihrer Seelen willen gibt er sich mit Samaritern, Zöllnern und Dirnen
ab. Und nur der Allerhöchste weiß, wie schwer es dem Reinsten fällt, sich dem
zu nähern, was wir Menschen und Sünder "Schmutz" nennen. Du verstehst und
kennst Jesus noch nicht, mein Junge! Du kennst und verstehst ihn weniger als
selbst die Samariter, die Philister,
144
die Phönizier und viele andere
mehr», sagt Petrus, und eine gewisse Traurigkeit klingt in den letzten Worten
mit.
Judas sagt nichts mehr, und auch
die anderen schweigen.
Die alte Frau kommt herein und
sagt: «Die Leute aus der Stadt sind auf dem Weg. Sie sagen, es sei die Stunde
des Sabbatgebets und der Meister habe versprochen, zu reden...»
«Ich will gehen und es ihm sagen,
Frau. Und du, sage den Leuten von Ephraim, daß wir gleich kommen», antwortet
Petrus und geht in den Garten hinaus, um Jesus zu benachrichtigen.
«Und du, was machst du? Kommst
du? Wenn du nicht kommen willst, dann geh, geh hinaus, bevor ihn deine
Ablehnung kränkt», sagt der Zelote zu Judas.
«Ich komme mit euch. Mit euch
kann man nicht reden! Man könnte meinen, ich sei der größte Sünder. Jedes
meiner Worte wird falsch verstanden.»
Jesus, der nun die Küche wieder
betritt, verhindert weitere Worte.
Sie gehen auf die Straße zu den
Leuten aus Ephraim, betreten mit ihnen die Stadt und bleiben erst vor der
Synagoge stehen, an deren Portal Malachias sie begrüßt und sie einlädt
hereinzukommen.
Ich bemerke keinerlei Unterschied
zwischen den Gebetsstätten der Samariter und denen, die ich anderenorts
gesehen habe. Immer dieselben Lampen, dieselben Pulte, dieselben Regale mit
den Schriftrollen und der Platz des Synagogenvorstehers oder seines
Stellvertreters. Nur gibt es hier viel weniger Schriftrollen als in den
anderen Synagogen.'
«Wir haben unsere Gebete schon
verrichtet, während wir auf dich gewartet haben. Wenn du sprechen willst...
Welche Rolle wünschest du, Meister?»
«Ich brauche keine. Und außerdem
hättest du die nicht, aus der ich etwas auslegen will», antwortet Jesus,
wendet sich dem Volk zu und beginnt seine Rede:
«Als die Hebräer von Cyrus, dem
Perserkönig, in die Heimat zurückgeschickt wurden, um den fünfzig Jahre zuvor
zerstörten Tempel Salomons wieder aufzubauen, wurde der Altar auf seinem alten
Fundament neu errichtet und darauf morgens und abends das tägliche Brandopfer
dargebracht. Auch das außergewöhnliche Opfer an jedem Monatsersten und an den
sonstigen, dem Herrn geweihten Feiertagen sowie die individuellen Opfergaben
wurden darauf verbrannt. Nachdem die ersten unentbehrlichen und wesentlichen
Kulthandlungen gesichert waren, begannen sie im zweiten Jahr nach der Rückkehr
mit dem, was man den Rahmen
' Die Samariter anerkennen als
Heilige Schriften nur die fünf Bücher Moses, den Pentateuch: Genesis, Exodus,
Leviticus, Numeri, Deuteronomium.
145
des Kultes nennen könnte, das
Äußerliche. Zwar kein schuldhaftes Unternehmen, denn es geschah, um den Ewigen
zu ehren, aber auch kein unbedingt notwendiges. Denn der Gottesdienst ist
Liebe zu Gott, und die Liebe fühlt und übt man im Herzen, nicht vermittels
behauener Steine und mit kostbarem Holz, Gold und Weihrauch. Alle diese Dinge
sind Äußerlichkeiten und dienen mehr dazu, dem eigenen nationalen oder
bürgerlichen Stolz genugzutun, als den Herrn zu ehren.
Gott verlangt einen Tempel des
Geistes. Er begnügt sich nicht mit einem gemauerten, marmornen Tempel, in dem
der Geist der Liebe fehlt. Wahrlich, ich sage euch, der Tempel des reinen und
liebenden Herzens ist der einzige Tempel, den Gott liebt und in dem er Wohnung
nimmt mit seinem Licht. Und töricht ist der Wettstreit, den Gebiete und Städte
hinsichtlich der Schönheit der einzelnen Gebetsstätten miteinander austragen.
Warum denn wetteifern mit Reichtum und Ausstattung der Häuser, in denen man
Gott anruft? Könnte denn das Endliche je dem Unendlichen gerecht werden,
selbst wenn das Endliche zehnmal schöner als der Tempel Salomons und alle
Königspaläste zusammen wäre? Gott, der Unendliche, der von keinem Raum
umschlossen und durch keine materielle Zier geehrt werden kann, findet den
einzigen Ort, der seiner würdig ist, und er kann, vielmehr will sich im Herzen
des Menschen niederlassen; denn der Geist des Gerechten ist ein Tempel, über
dem der Geist Gottes im Duft der Liebe schwebt, und bald wird er ein Tempel
sein, in dem der Herr, als der Eine und Dreieine wie im Himmel, seine
wirkliche Wohnung aufschlägt.
Und es steht geschrieben, daß,
nachdem die Maurer das Fundament des Tempels gelegt hatten, die Priester in
ihrem Schmuck und mit ihren Trompeten und die Leviten mit ihren Zimbeln gemäß
der Vorschrift Davids hingingen. Und sie sangen: "Gott sei gepriesen, denn er
ist gut, und ewig währt seine Barmherzigkeit."
Und das Volk jubelte. Doch viele
Priester, Vorsteher, Leviten und Ältesten weinten bitterlich, als sie an den
Tempel dachten, wie er zuvor gewesen war; aber in dem Durcheinander konnte man
den freudigen Jubel von den Klagen nicht unterscheiden. Und man liest weiter,
daß die Nachbarvölker die Erbauer des Tempels störten, denn sie wollten sich
rächen, weil man sie abgewiesen hatte, als sie sich erboten, beim Bau zu
helfen; denn auch sie suchten den Gott Israels, den einen und wahren Gott. Und
diese Störungen unterbrachen den Gang der Arbeiten so lange, bis es Gott
gefiel, sie fortsetzen zu lassen. So steht es im Buch Esdras geschrieben.
Wie viele und welche Lehren
enthält dieser Abschnitt?
Die bereits genannte, daß der
wahre Gottesdienst in den Herzen stattfinden muß und ihm nicht durch Steine
und Hölzer oder Gewänder, Zimbeln und Gesänge, denen der Geist fehlt, Ausdruck
verliehen werden kann. Daß der Mangel an gegenseitiger Liebe immer Anlaß zu
Verzögerungen und
146
Störungen ist, auch wenn man
einen an und für sich guten Zweck vor Augen hat. Gott kann nicht dort sein, wo
die Liebe fehlt. Nutzlos ist es, Gott zu suchen, wenn man vorher nicht die
notwendigen Voraussetzungen schafft, um ihn finden zu können. Gott findet man
in der Liebe. Derjenige oder diejenigen, die sich in der Liebe festigen,
finden Gott, ohne ihn lange und mühsam suchen zu müssen. Und wer Gott an
seiner Seite hat, dem gelingt alles, was er unternimmt.
In dem dem Herzen eines Weisen
entsprungenen Psalm, nach der Betrachtung der schmerzlichen Ereignisse beim
Wiederaufbau des Tempels und der Mauern, heißt es: "Wenn der Herr das Haus
nicht baut, mühen die Bauleute sich umsonst. Wenn der Herr die Stadt nicht
bewacht, späht der Wächter umsonst."
Aber wie kann Gott das Haus
bauen, wenn er weiß, daß seine Bewohner ihn nicht im Herzen haben, da sie ihre
Nachbarn nicht lieben? Und wie kann er die Städte beschützen und ihren
Verteidigern Kraft verleihen, wenn er nicht in ihnen wohnen kann, da ihr Haß
gegen die Nachbarvölker sie gottlos macht? Hat es euch einen Vorteil gebracht,
ihr Völker, durch die Schranken des Hasses getrennt zu sein? Hat euch dieser
Haß mächtiger, reicher und glücklicher gemacht? Niemals kann Haß oder
Rachsucht nützen, niemals kann stark sein, wer allein ist, niemals wird
geliebt, wer selbst nicht liebt. Und vergeblich ist es, sich vor Tagesgrauen
zu erheben, wie der Psalm sagt, um mächtig, reich und glücklich zu werden. Ein
jeder möge sich die nötige Ruhe gönnen als Trost für die Trübsal des Lebens;
denn der Schlaf ist eine Gabe Gottes, wie das Licht und alles andere, an dem
sich der Mensch erfreut. Ein jeder möge sich seine Ruhe gönnen; doch soll er
im Schlaf und im Wachen die Liebe als Genossin haben, und seine Werke werden
gedeihen und seine Familie und seine Geschäfte werden blühen. Und vor allem
wird sein Geist erblühen und die königliche Krone der Kinder des Allerhöchsten
und Erben seines Reiches erwerben.
Ja, es steht geschrieben, daß
während das Volk jubelte, einige bitterlich weinten, da sie an die
Vergangenheit dachten und um sie trauerten. Aber man konnte die verschiedenen
Stimmen nicht unterscheiden im allgemeinen Lärm.
Söhne von Samaria! Und ihr, meine
Apostel, Söhne von Judäa und Galiläa! Auch heute gibt es solche, die jubeln,
und solche, die weinen, während der neue Tempel des Herrn auf ewigen
Fundamenten ersteht. Auch heute gibt es solche, die die Arbeit verzögern und
Gott dort suchen, wo er nicht ist. Auch heute gibt es solche, die gemäß dem
Befehl des Cyrus und nicht gemäß dem Befehl des Herrn aufbauen wollen; die
also auf den Befehl der Welt und nicht auf die Stimme des Geistes hören. Auch
heute noch gibt es solche, die töricht und menschlich einer schlechteren
Vergangenheit nachtrauern, einer Vergangenheit, die weder gut noch weise war
147
und den Zorn Gottes erregte. Auch
heute noch gibt es alle diese Dinge, als ob wir noch immer im Nebel der
vergangenen Zeiten und nicht im Licht der Zeit des Lichtes lebten.
Öffnet eure Herzen dem Licht.
Füllt sie mit Licht, damit wenigstens ihr, zu denen ich, das Licht, spreche,
seht. Die neue Zeit hat begonnen. Alles wird in ihr erneuert. Und wehe denen,
die sich dagegen sträuben und jene behindern, die den Tempel des neuen
Glaubens errichten, dessen Eckstein ich bin. Mich selbst werde ich hingeben
für diesen Tempel, um seine Steine zusammenzuhalten, damit das Gebäude heilig
und stark gedeihe, bewundernswert über die Jahrhunderte und groß wie die Welt,
die es mit seinem Licht erleuchten wird. Ich sage Licht und nicht Schatten,
denn mein Tempel wird aus Geist und nicht aus lichtlosen Steinen bestehen.
Stein dieses Tempels werde ich mit meinem ewigen Geist sein, und Steine werden
alle jene sein, die meine Worte und die neue Lehre befolgen. Schwerelose
Steine, flammende Steine, heilige Steine. Und das Licht wird sich über die
Erde verbreiten, das Licht des neuen Tempels, und Weisheit und Heiligkeit über
sie ausgießen. Draußen bleiben werden nur jene, die mit unreinen Tränen der
Vergangenheit nachtrauern und sie beweinen, da sie für sie die Quelle des
Nutzens und rein irdischer Ehren war.
Öffnet euch der neuen Zeit und
dem neuen Tempel, ihr Menschen von Samaria! In ihnen ist alles neu, und die
alten materiellen, gedanklichen und geistigen Trennungen und Grenzen
existieren nicht mehr. Frohlockt, denn das Exil außerhalb der Stadt Gottes
nähert sich seinem Ende. Oder freut es euch etwa, für die anderen in Israel
Ausgestoßene oder Aussätzige zu sein? Leidet ihr nicht darunter, euch wie aus
dem Schoß Gottes Vertriebene zu fühlen? Denn dies ist es, was ihr fühlt; eure
Seelen fühlen es, eure armen, in diesen euren Körpern gefangenen Seelen. Und
ihr unterdrückt sie mit euren hochmütigen Gedanken, die anderen Menschen
gegenüber nicht zugeben wollen: "Wir haben gefehlt. Doch wie verlorene Schafe
kehren wir nun in den Schafstall zurück." Daß ihr es den anderen nicht
gestehen wollt, ist schlimm. Aber sagt es wenigstens Gott. Auch wenn ihr den
Schrei eurer Seele unterdrückt, hört Gott den Seufzer eurer Seele, die betrübt
darüber ist, vom Haus des allerheiligsten Vaters aller Menschen ausgeschlossen
zu sein.
Hört die Worte des Graduale. 1)
Auch ihr seid Pilger, die seit Jahrhunderten auf dem Weg zur Oberen Stadt, zum
wahren himmlischen Jerusalern sind. Von dort, vom Himmel sind eure Seelen
herabgekommen, um ein Fleisch zu beleben, und nun sehnen sie sich danach,
dorthin zurückzukehren. Warum wollt ihr eure Seelen opfern, ihnen den Eintritt
in das
___________
1) Bezieht sich auf Psalm 121 aus
den Wallfahrtspsalmen, die die Pilger sangen, während sie zum Tempel in
Jerusalem hinaufstiegen.
148
Reich Gottes verwehren? Welche
Schuld haben sie, in ein in Samaria gezeugtes Fleisch herabgekommen zu sein?
Sie kommen alle von einem einzigen Vater. Sie haben alle denselben Schöpfer
wie die Seelen von Judäa und Galiläa, von Phönizien und der Dekapolis. Gott
ist das Ziel jeder Seele. Jede Seele strebt nach diesem Gott, auch wenn
Götzendienst aller Art oder verhängnisvolle Häresien, Schismen oder Unglaube
sie in Unkenntnis des wahren Gottes halten, die absolut wäre, wenn die Seele
nicht den Keim einer unauslöschlichen Erinnerung an die Wahrheit und eine
Sehnsucht nach ihr in sich trüge. Oh, laßt diese Erinnerung und diese
Sehnsucht in euch wachsen. Öffnet die Tore eurer Seele! Laßt das Licht hinein!
Laßt das Leben hinein! Laßt die Wahrheit hinein! Öffnet den Weg! Laßt alles
gleich einem leuchtenden, lebendigen Strom hereinfluten, wie die
Sonnenstrahlen, die Wellen und die Winde der Tag-und-NachtGleiche, damit der
Keim zum Baum werde, der zu den Höhen strebt, um seinem Herrn immer
näherzukommen.
Verlaßt das Exil! Singt mit mir:
"Wenn der Herr die Seele aus der Knechtschaft befreit, dann glaubt sie vor
Freude, es geschehe im Traum. Da ward von Lachen erfüllt unser Mund und unsere
Zunge von Jubel. Nun wird man sagen: 'Der Herr hat Großes an uns getan.'" Ja,
der Herr hat Großes an euch getan, und ihr werdet von Freude erfüllt sein.
Oh! Mein Vater! Für sie bitte ich
dich, wie für alle. Gib, daß diese unsere Gefangenen zurückkehren, o Herr,
diese Gefangenen, die in deinen und meinen Augen in den Ketten des verstockten
Irrtums liegen. Führe sie zurück, o Vater, wie der Bach sich in den großen
Fluß ergießt, in das große Meer deiner Barmherzigkeit und deines Friedens. Ich
und meine Diener säen unter Tränen deine Wahrheit in sie! Vater, gib daß zur
Zeit der großen Ernte wir, alle deine Diener, die Verkünder deiner Wahrheit,
auf diesen Schollen, die jetzt nur wenige Dornen und giftige Kräuter zu tragen
scheinen, freudig den edlen Weizen für deine Scheunen mähen können. Vater!
Vater! Um unserer Mühen und Tränen und Schmerzen willen, um des Schweißes und
des Todes willen, die unsere ständigen Begleiter bei der Aussaat waren und
sein werden, gewähre uns, vor dich zu treten und dir die Schar der Erstlinge
dieses Volkes darzubringen, die zu deiner Ehre zur Gerechtigkeit und Wahrheit
wiedergeborenen Seelen. Amen.»
In dem sehr eindrucksvollen, da
absoluten Schweigen dieser so großen Menge, die die Synagoge und den Platz
davor füllt, entsteht nun ein Flüstern. Es nimmt zu, aus dem Flüstern wird
leises Reden, aus dem Reden lautes Stimmengewirr, und aus dem Stimmengewirr
ein allgemeines Hosanna. Die Leute gestikulieren, kommentieren und jubeln
Jesus zu...
Welch ein Unterschied zu dem
Nachspiel der Predigten im Tempel! Malachias sagt im Namen aller: «Nur du
weißt so die Wahrheit zu sagen, ohne zu beleidigen oder zu beschämen! Du bist
wahrhaft der Heilige Gottes! Bete für unseren Frieden. Wir sind seit
Jahrhunderten verhärtet in
149
unseren Ansichten und durch
jahrhundertelange Beleidigungen. Und wir müssen diese harte Schale zerbrechen.
Habe Mitleid mit uns.»
«Mehr noch, ich liebe euch. Seid
guten Willens, und die Schale wird von selbst zerbrechen. Das Licht möge euch
erleuchten.»
Jesus bahnt sich einen Weg durch
die Menge und geht hinaus; die Apostel folgen ihm.
612. DIE VERWANDTEN DER KINDER
UND DIE LEUTE VON SICHEM
Jesus befindet sich allein auf
der kleinen Insel im Bach. Die Kinder spielen am Ufer und sprechen ganz leise,
als ob sie Jesus in seiner Betrachtung nicht stören wollten. Ab und zu stößt
der Kleinste einen Freudenschrei aus, wenn er ein Steinchen von schöner Farbe
oder ein neues Blümchen entdeckt. Die anderen zischeln sofort: «Sei still!
Jesus betet...» Und das Flüstern beginnt wieder, während die braunen Händchen
aus Sand Blöcke und Kegel formen, die in der kindlichen Vorstellung Häuser und
Berge sein sollen.
Oben strahlt die Sonne, die
Knospen der Bäume schwellen, und auf der Wiese öffnen die Blumen ihre Kelche.
Die graugrünen Blättchen der Pappel zittern, und die Vöglein in ihrem Wipfel
tragen ihre Liebeshändel und Rivalitäten aus, die einmal in freudigem Singen,
das andere Mal in einem Schmerzensruf enden.
Jesus betet. Er sitzt in
Betrachtung versunken im Gras, und ein Büschel Schilf verbirgt ihn vor den
Blicken vom Ufer. Ab und zu erhebt er die Augen, um nach den auf der Wiese
spielenden Kindern zu sehen; dann senkt er sie wieder und vertieft sich erneut
in seine Gedanken.
Eilige Schritte im Ufergrün und
das Erscheinen des Johannes auf dem Inselchen schlagen die Vögel in die
Flucht, die aus dem Wipfel der Pappel davonschwirren, und ihr Treiben dort mit
ängstlichen Schreien beenden.
Johannes sieht Jesus, der hinter
den Binsen verborgen ist, nicht sofort und ruft deshalb etwas erschrocken: «Wo
bist du, Meister?»
Jesus steht auf, während die
Kinder von der anderen Seite her rufen: «Dort ist er! Hinter dem hohen Gras.»
Doch Johannes hat Jesus schon
gesehen. Er geht zu ihm und sagt: «Meister, die Verwandten sind gekommen. Die
Verwandten der Kinder. Und viele Leute von Sichern mit ihnen. Sie sind zu
Malachias gegangen, und Malachias hat sie zu unserem Haus gebracht. Ich bin
gekommen, um dich zu holen.»
«Und wo ist Judas?»
«Ich weiß es nicht, Meister.
Gleich nachdem du hierher gekommen
150
bist, ist er fortgegangen und
bisher nicht zurückgekehrt. Er wird in der Stadt sein. Willst du, daß ich ihn
suche?»
«Nein, das ist nicht nötig. Bleib
hier bei den Kindern. Ich will zuerst mit den Verwandten sprechen.»
«Wie du willst, Meister.»
Jesus geht, und Johannes begibt
sich zu den Kindern, um ihnen bei einem großen Unternehmen zu helfen: dem Bau
einer Brücke über einen gedachten Bach, der aus langen Schilfblättern besteht,
die auf dem Boden liegen und das Wasser darstellen...
Jesus betritt das Haus der Maria
des Jakob, die ihn schon an der Tür erwartet hat und ihm sagt: «Sie sind nach
oben gegangen, auf die Terrasse. Ich habe sie hinaufgeführt, damit sie sich
ausruhen. Doch da kommt Judas aus dem Dorf zurück. Ich werde auf ihn warten
und dann eine Erfrischung für die Besucher bereiten. Sie sind sehr müde.»
Auch Jesus wartet auf Judas in
dem im Vergleich zur Helligkeit draußen etwas dunklen Hausgang. Und Judas, der
Jesus beim Betreten des Hauses nicht sofort sieht, sagt in anmaßendem Ton zu
der Greisin: «Wo sind die Leute aus Sichern? Etwa schon wieder fortgegangen?
Und der Meister? Hat ihn niemand gerufen? Johannes...» Da bemerkt er Jesus und
ändert seinen Ton: «Meister! Ich bin gelaufen, als ich zufällig erfuhr...
Warst du denn im Haus?»
«Johannes war da. Und er hat mich
geholt.»
«Ich... auch ich wäre hier
gewesen. Doch am Brunnen haben mich einige Leute gebeten, ihnen etwas zu
erklären ...»
Jesus entgegnet nichts. Er öffnet
erst wieder den Mund, um die Wartenden zu begrüßen, die teils auf der Brüstung
der Terrasse sitzen, teils in dem Zimmer, das sich zur Terrasse hin öffnet,
und die sich alle ehrerbietig erheben, als sie Jesus erblicken.
Jesus wendet sich nach einem
allgemeinen Gruß an Einzelne und nennt ihre Namen, und diese fragen mit
freudigem Staunen: «Du erinnerst dich noch an unsere Namen?» Es müssen
Bewohner von Sichem sein.
Jesus antwortet: «Ich erinnere
mich an eure Namen, eure Gesichter und eure Seelen. Habt ihr die Verwandten
der Kinder hierher begleitet? Sind es diese?»
«Diese sind es. Sie sind
gekommen, um die Kinder abzuholen, und wir sind mit ihnen gegangen, um dir für
die Barmherzigkeit zu danken, die du den Kindern einer Frau von Samaria
erwiesen hast. Du allein tust solche Dinge... ! Du bist stets der Heilige, der
nur heilige Dinge tut. Auch wir haben immer an dich gedacht. Und da wir
erfahren haben, daß du hier bist, sind wir gekommen, um dich zu sehen und dir
dafür zu danken, daß du unser Land als deinen Zufluchtsort erwählt hast und
uns in den Kindern unseres Blutes liebst. Doch nun höre die Verwandten an.»
151
Jesus, gefolgt von Judas, begibt
sich zu diesen, grüßt sie noch einmal und fordert sie auf zu sprechen.
«Wir sind, ich weiß nicht, ob es
dir bekannt ist, die Brüder der Mutter der Kinder. Wir waren sehr zornig auf
sie, weil sie dumm und gegen unseren Willen auf dieser Heirat bestanden hatte.
Unser Vater war schwach gegenüber der einzigen Tochter in seiner großen
Kinderschar, so daß wir auch mit ihm in Streit gerieten und viele Jahre nicht
mehr miteinander sprachen und uns nicht mehr sahen. Als wir dann hörten, daß
die Hand Gottes schwer auf der Frau lastete und Not in ihrem Haus herrschte
-denn eine unreine Verbindung schützt der Segen Gottes nicht – nahmen wir den
alten Vater wieder zu uns ins Haus, damit er wenigstens nur unter dem Unglück
seiner Tochter zu leiden habe. Schließlich ist sie gestorben, und wir haben es
erfahren. Du warst kurz zuvor bei uns, und wir sprachen von dir... So geschah
es, daß wir unseren Unwillen unterdrückten und dem Mann durch diesen und
diesen hier (zwei Männer aus Sichern) anboten, die Kinder aufzunehmen. Sie
sind ja zur Hälfte von unserem Blut. Er ließ uns antworten, daß sie lieber
alle eines elenden Todes sterben sollten, als von unserem Brot zu leben. Weder
die Kinder noch den Leichnam unserer Schwester sollten wir bekommen; nicht
einmal diesen, um ihm ein Grab entsprechend unserem Brauch zu geben. Daraufhin
schworen wir ihm und seinen Kindern Haß, und unser Haß traf ihn wie ein Fluch,
so daß er vom freien Mann zum Knecht wurde, um dann wie ein Schakal in einer
stinkenden Höhle zu sterben. Wir hätten nie davon erfahren, denn wir hatten
schon lange jede Verbindung zu ihm abgebrochen. Und wir fürchteten uns nicht
wenig, dies wohl, als wir vor nun acht Nächten die Räuber auf unserem Hof
erscheinen sahen. Als wir erfuhren, warum sie gekommen waren, nagte die
Entrüstung, nicht der Schmerz, wie Gift an uns, und wir hatten es eilig, die
Räuber fortzuschicken und boten ihnen eine gute Belohnung an, um sie zu
Freunden zu haben. Wie staunten wir, als sie sagten, sie hätten ihre Belohnung
schon erhalten und wollten nichts weiter.»
Judas unterbricht das aufmerksame
Schweigen aller mit ironischem Lachen und schreit: «Ihre Bekehrung! Ihre
vollkommene Bekehrung! Wahrlich!»
Jesus schaut ihn streng an, die
anderen schauen ihn erstaunt an, und der Sprecher fährt fort: «Was hätte man
mehr von ihnen erwarten können? Ist es nicht schon bemerkenswert, daß sie den
Hirtenjungen zu uns begleitet haben, ohne der Gefahren zu achten, und daß sie
keinen Lohn angenommen haben? Ein unglückliches Leben zieht unglückliche
Sitten nach sich. Gewiß haben sie bei dem umherirrenden und nun toten Dummkopf
keine große Beute gemacht. Nur geringe Beute und sicher kaum ausreichend für
Leute, die mindestens zehn Tage lang ihre Raubzüge unterbrechen müssen. Und
ihre Ehrlichkeit verwunderte uns so sehr, daß wir sie fragten, welche Stimme
sie zu dieser frommen Tat bewogen habe. So
152
erfuhren wir, daß ein Rabbi zu
ihnen gesprochen hatte... Ein Rabbi! Du allein konntest es gewesen sein. Denn
kein anderer Rabbi Israels könnte tun, was du tust. Und nachdem sie
weggegangen waren, befragten wir den erschreckten Hirtenknaben und erfuhren so
Genaueres. Als erstes erfuhren wir nur, daß der Mann unserer Schwester tot war
und daß die Kinder in Ephraim bei einem Gerechten waren, und daß dieser
Gerechte ein Rabbi war und mit ihnen gesprochen hatte. Wir dachten gleich, daß
du es sein mußtest. Und als wir am nächsten Morgen nach Sichern kamen,
sprachen wir mit den Leuten dort, denn wir waren noch nicht sicher, ob wir die
Kinder aufnehmen sollten. Doch sie sagten uns: "Wie? Wollt ihr, daß der
Meister von Nazareth sich vergebens liebevoll der Kinder angenommen hat? Denn
er ist es ganz gewiß, zweifelt nicht. Gehen wir vielmehr alle zu ihm, denn
seine Güte mit den Söhnen von Samaria ist groß." Und so sind wir aufgebrochen,
nachdem wir unsere Angelegenheiten geregelt hatten. Wo sind die Kinder jetzt?»
«Am Bach. Judas, geh und sage
ihnen, daß sie kommen sollen.»
Judas entfernt sich.
«Meister, es ist eine schwere
Begegnung für uns. Sie werden uns an all unseren Ärger erinnern, und wir
wissen noch nicht, ob wir sie aufnehmen sollen. Sie sind die Söhne des
schlimmsten Feindes, den wir je gehabt haben ...»
«Sie sind Kinder Gottes.
Unschuldige sind sie. Der Tod löscht das Vergangene, und durch Sühne erlangt
man Verzeihung, auch die Verzeihung Gottes. Wollt ihr strenger sein als Gott?
Und grausamer als die Räuber? Und verstockter als sie? Die Räuber wollten
vorsichtshalber den Hirtenknaben töten und die Kinder aus menschlichem Mitleid
mit den Hilflosen behalten. Der Rabbi hat gesprochen, und sie haben nicht
getötet und sind sogar bereit gewesen, den kleinen Hirten bis zu euch zu
begleiten. Sollte ich in gerechten Seelen auf Widerstand stoßen, nachdem ich
das Verbrechen besiegt habe ... ?»
«Weißt du... Wir sind vier Brüder
und haben schon siebenunddreißig Kinder in unserem Haus ...»
«Wo schon siebenunddreißig
Spatzen Nahrung finden, weil der Vater im Himmel sie Körnlein finden läßt,
können da nicht auch vierzig satt werden? Kann die Macht des Vaters nicht noch
Nahrung für weitere drei, oder auch vier seiner Kinder verschaffen? Hat denn
die göttliche Vorsehung Grenzen? Wird der Unendliche sich weigern, die
Fruchtbarkeit eurer Saat, eurer Pflanzen und eurer Schafe zu mehren, damit
immer genügend Brot, Öl, Wein, Wolle und Fleisch für eure Kinder und weitere
vier arme Kinder, die allein geblieben sind, vorhanden ist?»
«Es sind drei, Meister!»
«Es sind vier. Auch der
Hirtenknabe ist eine Waise. Könntet ihr, wenn Gott hier vor euch erscheinen
würde, behaupten, daß euer Brot so knapp
153
bemessen ist, daß ihr kein
Waisenkind mehr ernähren könnt? Der Pentateuch gebietet Barmherzigkeit mit den
Waisen...»
«Nein, wir könnten es nicht,
Herr, das ist wahr. Wir wollen nicht schlechter sein als die Räuber. Wir
werden auch dem Hirtenknaben Brot, Kleidung und Obdach gewähren. Aus Liebe zu
dir.»
«Aus Liebe. Aus alles umfassender
Liebe, zu Gott, seinem Messias, eurer Schwester und eurem Nächsten. Dies ist
die Ehrung und die Vergebung, die ihr eurem Blut schuldig seid. Nicht ein
kaltes Grab für ihre Asche. Verzeihung ist Friede. Friede für die Seele des
Menschen, der gesündigt hat. Doch wäre es nur eine geheuchelte Verzeihung, nur
Äußerlichkeit, und kein Friede für die Seele der Toten, die eure Schwester und
die Mutter der Kinder war, wenn zu der gerechten, von Gott auferlegten Sühne
noch die schmerzliche Qual des Bewußtseins käme, daß die Kinder, die ja
unschuldig sind, für ihre Sünde büßen müssen. Die Barmherzigkeit Gottes ist
unendlich. Aber fügt ihr die eure hinzu, um der Toten zum Frieden zu
verhelfen.»
«Oh, wir werden es tun! Wir
werden es tun! Niemandem hätte sich unser Herz gebeugt; nur dir, o Rabbi, der
du eines Tages unter uns geweilt und einen Samen gesät hast, der nicht
gestorben ist und nicht sterben wird.»
«Amen! Hier sind die Kinder...»
Jesus deutet auf sie, die gerade vom Ufer des Baches kommen, und ruft sie.
Und die Kinder lassen die Hände
der Apostel los, laufen herbei und rufen: «Jesus! Jesus!» Sie kommen ins Haus,
steigen die Treppe hinauf, sind nun auf der Terrasse und bleiben furchtsam vor
den vielen Fremden stehen, die sie betrachten.
«Komm, Ruben, und auch du,
Elisäus, und du, Isaak. Dies hier sind die Brüder eurer Mutter. Sie sind
gekommen, um euch mitzunehmen und euch zu ihren eigenen Kindern zu führen.
Seht ihr, wie gut der Herr ist? Genau wie die Taube der Maria des Jakob, der
wir vorgestern zugeschaut haben, als sie auch das Junge der anderen, toten
Taube gefüttert hat. Gott hat euch aufgenommen und gibt euch nun diese
Menschen, damit sie für euch sorgen und ihr keine Waisen mehr seid. Auf!
Begrüßt eure Verwandten.»
«Der Herr sei mit euch, ihr
Herren», sagt der größere Knabe schüchtern und sieht dabei zu Boden. Und die
beiden kleineren machen es ihm nach.
«Dieser hier sieht der Mutter
sehr ähnlich, und auch dieser; aber der dort (der größere) ist ganz der
Vater», bemerkt einer der Verwandten.
«Mein Freund, ich hoffe, daß du
nicht so ungerecht bist, Unterschiede zu machen in deiner Zuneigung wegen der
Ähnlichkeit eines Gesichtes», sagt Jesus.
«O nein! Das nicht. Ich habe ihn
nur betrachtet... und gedacht... Hoffentlich hat er nicht auch das Herz des
Vaters.»
154
«Er ist noch ein Kind. Und aus
seinen einfachen Worten kann man entnehmen, daß er seine Mutter mehr als jeden
anderen Menschen geliebt hat.»
«Sie hat besser für sie gesorgt,
als wir dachten. Sie sind ordentlich gekleidet und haben anständige Schuhe.
Vielleicht ist sie zu Geld gekommen.»
«Ich und meine Brüder haben neue
Kleider, weil Jesus sie uns gegeben hat. Wir hatten weder Schuhe noch Mäntel
und glichen in allem dem Hirtenjungen», sagt der Zweitgeborene, der nicht so
schüchtern wie der größere ist.
«Wir werden dir alles vergüten,
Meister», sagt einer der Verwandten und fügt hinzu: «Joachim von Sichern hat
die Spenden der Stadt. Aber wir werden noch Geld dazulegen ...»
«Nein. Ich will kein Geld. Ich
will ein Versprechen. Euer Versprechen, daß ihr diese Kinder, die ich den
Räubern entrissen habe, lieben werdet. Die Spenden... Malachias, nimm sie für
die Armen, die du kennst, und gib einen Teil davon der Maria des Jakob, denn
in ihrem Haus herrscht großes Elend.»
«Wie du willst. Wenn sie brav
sind, werden wir sie lieben.»
«Wir werden brav sein, Herr. Wir
wissen, daß wir brav sein müssen, um unsere Mutter wiederzufinden und
flußaufwärts zu fahren bis zum Schoß Abrahams; und daß wir den Faden unseres
Bootes nicht aus der Hand Gottes reißen dürfen, damit wir nicht vom Strom des
Bösen fortgetragen werden», sagt Ruben in einem Atemzug.
«Aber was redet das Kind denn
da?»
«Es ist ein Gleichnis, das sie
von mir gehört haben. Ich habe es erzählt, um ihr Herz zu trösten und ihrem
Geist eine Führung zu geben. Und die Kinder haben es sich gemerkt und wenden
es bei all ihrem Tun an. Macht euch mit ihnen vertraut, während ich mit den
Leuten von Sichern spreche.»
«Meister, noch ein Wort. Was uns
bei den Räubern ganz besonders überrascht hat, war die Bitte, dem Meister, der
die Kinder bei sich hat, auszurichten, er möge ihnen verzeihen; sie seien erst
jetzt gekommen, da sie nicht alle Straßen benützen könnten und die Anwesenheit
eines Kindes sie gehindert habe, lange Märsche durch wilde Schluchten zu
machen.»
«Hörst du es, Judas?» sagt Jesus
zu Iskariot, der nichts erwidert.
Dann begibt sich Jesus zu den
Leuten von Sichern, die ihm das Versprechen abnehmen, sie vor der Sommerhitze
wenigstens noch kurz zu besuchen. Und sie erzählen ihm Dinge aus der Stadt und
wie die an Seele oder Leib Geheilten immer an ihn denken.
Inzwischen bemühen sich Judas und
Johannes, die Kinder mit ihren Verwandten anzufreunden.
155
613. DIE GEHEIME UNTERWEISUNG
Jesus geht auf einer einsamen
Straße, vor ihm die Verwandten der Kinder und an seiner Seite die Leute von
Sichern. Sie befinden sich in einer verlassenen Gegend. Keine Ortschaft weit
und breit. Die Kinder hat man in die Sättel einiger Esel gesetzt, und einer
der Verwandten hält jeweils den Zügel und gibt acht auf das Kind. Die Leute
von Sichern haben es vorgezogen, zu Fuß zu gehen, um bei Jesus zu sein. So
laufen die übrigen Esel ohne ihre Reiter in einem Grüppchen der Gruppe der
Männer voraus und iahen und hüpfen immer wieder erfreut, daß sie so ohne eine
Last in den Stall zurückkehren können. Es ist ein herrlicher Tag, und frisches
Gras säumt den Weg. Und die Esel stecken ab und zu ihre Nüstern hinein, um ein
Maulvoll zu probieren. Dazwischen traben sie mit lustigen Sprüngen zu ihren
beladenen Artgenossen, was den Kindern sichtlich Spaß macht.
Jesus spricht zu den Leuten von
Sichern oder hört ihnen bei ihren Unterhaltungen zu. Man sieht, daß die
Samariter stolz sind, den Meister bei sich zu haben, und mehr träumen, als
angebracht ist. So sagen sie zu Jesus, wobei sie auf die hohen Berge deuten,
die sich links befinden, wenn man nach Norden geht: «Siehst du? Der Ebal und
der Garizim haben einen schlechten Ruf. Doch sie sind, für dich wenigstens,
viel besser als der Sion. Und sie wären vollkommen gut, wenn du es wolltest,
wenn du sie zu deinem Wohnsitz machen würdest. Sion ist immer noch eine
Jebusiterhöhle. Und die heutigen sind dir noch feindlicher gesinnt als die
früheren David. Dieser hat die Festung mit Gewalt genommen; aber du, der du
keine Gewalt anwendest, wirst dort nicht herrschen. Niemals. Bleibe bei uns,
Herr, und wir werden dich ehren.»
Jesus antwortet: «Sagt mir:
Hättet ihr mich geliebt, wenn ich euch mit Gewalt hätte gewinnen wollen?»
«Ehrlich gesagt... nein. Wir
lieben dich gerade, weil du ganz Liebe bist.»
«Daher also, der Liebe wegen,
herrsche ich in euren Herzen?»
«So ist es, Meister. Aber nur,
weil wir deine Liebe angenommen haben. Jene, die von Jerusalem, lieben dich
nicht.»
«Das ist wahr. Sie lieben mich
nicht. Aber ihr, die ihr in Geschäften so erfahren seid, sagt mir: Wenn ihr
etwas verkaufen, kaufen oder verdienen wollt, verliert ihr da gleich den Mut,
wenn man euch an manchen Orten nicht liebt? Oder geht ihr nicht trotzdem euren
Geschäften nach und seid nur darauf bedacht, vorteilhaft einzukaufen oder zu
verkaufen, ohne euch darum zu kümmern, ob mit dem Geld, das ihr verdient, die
Liebe des Käufers oder Verkäufers verbunden ist?»
«Wir kümmern uns nur um das
Geschäft. Es interessiert uns wenig, ob dem, der mit uns handelt, die Liebe
fehlt. Wenn das Geschäft abgeschlossen ist, dann hört auch jede Verbindung
auf. Der Verdienst bleibt, der Rest ist... belanglos.»
156
«Nun, auch ich bin gekommen, um
die Interessen meines Vaters wahrzunehmen, und ich habe mich nur um sie zu
kümmern. Ob ich dort, wo ich arbeite, auf Liebe, Verachtung oder Ablehnung
stoße, kümmert mich wenig. In einer Handelsstadt macht man nicht mit allen
Geschäfte, und nicht immer Gewinne. Aber wenn man nur einen einzigen findet,
mit dem man ein gutes Geschäft machen kann, so sagt man sich, daß die Reise
nicht umsonst gewesen ist, und man wird immer wieder dorthin zurückkehren.
Denn das, was man beim ersten Mal nur mit einem erreicht hat, gelingt beim
zweiten Mal schon mit dreien, beim vierten Mal mit sieben und danach mit zehn
und nochmals zehn. Ist es nicht so? Auch ich mache es bei meinen Eroberungen
für den Himmel wie ihr bei eurem Handel. Ich lasse nicht ab und bin hartnäckig
und halte auch das zahlenmäßig Kleine für groß; denn selbst eine einzige
gerettete Seele ist etwas Großes, ist ein großer Lohn für meine Mühe.
Jedesmal, wenn ich hingehe und meine eventuellen menschlichen Reaktionen
überwinde, um als König des Geistes auch nur einen einzigen Untertan zu
gewinnen, kann ich mir sagen, daß mein Weg, meine Mühen und Leiden nicht
umsonst gewesen sind. Ja, ich preise die Verachtung, die Beleidigungen, die
Anklagen heilig, liebenswert und wünschenswert. Ich wäre kein guter Eroberer,
wenn ich vor dem Hindernis der granitenen Festungen haltmachen würde.»
«Aber du würdest Jahrhunderte
brauchen, um sie zu besiegen. Du... bist ein Mensch. Und du wirst nicht
Jahrhunderte leben. Warum willst du also deine Zeit dort vergeuden, wo man
dich nicht will?»
«Ich werde viel kürzer leben.
Sehr bald schon werde ich nicht mehr unter euch weilen und nicht mehr die
Sonnenauf- und -untergänge wie Meilensteine der anbrechenden und zu Ende
gehenden Tage sehen; ich werde sie nur als Schönheiten der Schöpfung
betrachten und den Schöpfer, der sie schuf und der mein Vater ist, preisen;
ich werde weder die Blumen blühen und das Getreide reifen sehen, noch die
Früchte der Erde benötigen, um mich am Leben zu erhalten, denn wenn ich einmal
in mein Reich zurückgekehrt bin, wird mich die Liebe sättigen. Und dennoch
werde ich die vielen Festungen, die die Herzen der Menschen sind, besiegen.
Seht den Felsen dort, unterhalb der Quelle, an der Seite des Berges. Der
Wasserstrahl ist sehr fein; ich würde sagen, er fließt nicht einmal, er
tröpfelt nur: Tropfen, die vielleicht seit Jahrhunderten auf den aus der
Flanke des Berges vorspringenden Fels fallen. Und der Fels ist hart. Es ist
nicht brüchiger Kalk oder weicher Alabaster, es ist härtester Basalt. Und
doch, seht, wie sich in der Mitte des Steines, trotz seiner Wölbung, ein
winziger Wasserspiegel gebildet hat, nicht größer als der Kelch einer Seerose,
aber groß genug, um das Blau des Himmels widerzuspiegeln und die Vöglein zu
tränken. Ist diese Höhlung in dem gewölbten Fels etwa das Werk eines Menschen,
der einen blauen Edelstein auf dem dunklen Fels anbringen und eine
erfrischende Schale für die Vögel schaffen wollte? Nein, der
157
Mensch hat damit nichts zu tun.
Vielleicht sind in den vielen Jahrhunderten, seit die Menschen an diesem
Felsen vorübergehen und die Tropfen, wiederum seit Jahrhunderten, in
unermüdlicher und gleichmäßiger Arbeit den Stein aushöhlen, wir die ersten,
die diesen schwarzen Basalt mit seinem flüssigen Türkis in der Mitte
betrachten, seine Schönheit bewundern und den Ewigen preisen, der dies gewollt
hat zur Freude unserer Augen und zur Erfrischung der Vögel, die in der Nähe
nisten. Aber sagt mir: Hat vielleicht schon der erste Tropfen, der unter dem
Basaltvorsprung über dem Fels hervorgequollen und von der Höhe auf den Stein
gefallen ist, diese Schale ausgehöhlt, die den Himmel, die Sonne, die Wolken
und die Sterne spiegelt? Nein. Millionen und Abermillionen von Tropfen, einer
nach dem anderen, sind aufeinander gefolgt. Wie Tränen sind sie dort oben
hervorgequollen und glitzernd heruntergefallen, um mit einem Harfenton auf dem
Felsen aufzuprallen und im Sterben ein unmeßbar winziges Teilchen der harten
Materie auszuwaschen. Und dies über Jahrhunderte, wie der Sand durch eine
Sanduhr rinnt und die Zeit angibt: so viele Tropfen in der Stunde, so viele im
Verlauf einer Nachtwache, so viele zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang
und in der Nacht bis zur Morgenröte, so viele am Tag, so viele von Sabbat zu
Sabbat, so viele von Neumond zu Neumond, von Nisan zu Nisan, und von
Jahrhundert zu Jahrhundert. Der Stein ist widerstandsfähig, die Tropfen
ausdauernd. Der Mensch, der stolz und daher ungeduldig und bequem ist, hätte
Meißel und Hammer schon nach den ersten Schlägen weggeworfen und gesagt: "Den
kann man nicht aushöhlen." Der Tropfen hat ihn ausgehöhlt. Das war es, was er
zu tun hatte, wofür er geschaffen wurde. Und er hat gearbeitet, Tropfen um
Tropfen, jahrhundertelang, um den Fels auszuhöhlen. Er hat nie aufgehört und
gesagt: "Nun überlasse ich es dem Himmel, das Becken, das ich gegraben habe,
mit Regen und Tau, Reif und Schnee zu füllen." Er ist weiterhin
heruntergefallen und füllt die kleine Schale in der Hitze des Sommers und in
der Kälte des Winters ganz allein, während der Regen, ob stark oder schwach,
zwar den Wasserspiegel kräuselt, ihn aber nicht verschönern, verbreitern oder
vertiefen kann, denn er ist schon voll, nützlich und schön. Die Quelle weiß,
daß ihre Töchter, die Tropfen, in das kleine Becken fallen, um dort zu
sterben; aber sie hält sie nicht zurück. Sie drängt sie vielmehr zu ihrem
Opfer, und damit sie nicht allein bleiben und in Traurigkeit verfallen,
schickt sie ihnen immer neue Schwestern nach, so daß sie nicht einsam sterben
müssen und sich in anderen verewigt sehen. Auf dieselbe Weise werde auch ich
als erster hundert- und tausendmal an die harten Festungen der harten Herzen
schlagen und dann mein Werk von meinen Nachfolgern fortsetzen lassen, die ich
bis ans Ende der Zeiten senden werde. Und so werde ich mir Wege bahnen, und
mein Gesetz wird wie eine Sonne überall leuchten, wo es Geschöpfe gibt.
Sollten diese dann das Licht abweisen und die Wege
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sperren, die die unermüdliche
Arbeit bereitet hat, wird mich und meine Nachfolger in den Augen unseres
Vaters keine Schuld treffen. Hätte diese Quelle sich in Anbetracht der Härte
des Felsens einen anderen Weg gesucht und ihr Wasser wäre weiter drüben auf
den grasbedeckten Boden gefallen, sagt mir, hätten wir dann diesen leuchtenden
Edelstein und die Vöglein diese klare Erfrischung?»
«Man würde nichts von der Quelle
sehen, Meister.»
«Höchstens... hätte ein auch im
Hochsommer üppigeres Grasstückchen den Ort angezeigt, an dem das Quellwasser
aus dem Fels sickert.»
«Oder vielleicht hätte es auch
weniger Gras als anderswo gegeben, da die Wurzeln wegen der ständigen
Feuchtigkeit verfault wären.»
«Schlamm wäre das Ergebnis
gewesen. Mehr nicht. Ein überflüssiges Tropfen also.»
«Ihr habt es gesagt. Ein
überflüssiges oder zumindest müßiges Tropfen. Auch ich würde unvollkommene
Arbeit leisten, wenn ich nur die Orte aufsuchte, an denen die Herzen bereit
sind, mich aus Gerechtigkeit oder Sympathie aufzunehmen. Denn dann würde ich
zwar arbeiten, gewiß, aber ohne Mühen, vielmehr mit großer
Selbstzufriedenheit. Ja, es wäre ein angenehmer Kompromiß zwischen Pflicht und
Vergnügen. Es ist nicht schwer, dort zu arbeiten, wo man von Liebe umgeben ist
und die Liebe die zu bearbeitenden Seelen willfährig macht. Aber wo keine Mühe
ist, ist auch kein Verdienst und nicht viel Gewinn; denn man wird nur wenige
Eroberungen machen, wenn man sich auf die beschränkt, die schon in der
Gerechtigkeit leben. Ich wäre nicht ich, wenn ich nicht versuchte, alle
Menschen zuerst zur Wahrheit und dann zur Gnade zu führen.»
«Und glaubst du, daß es dir
gelingen wird? Was könntest du noch tun, was du nicht schon getan hast, um
deine Widersacher von deinem Wort zu überzeugen? Was? Wenn nicht einmal die
Auferweckung des Mannes von Bethanien genügt hat, um die Juden zu überzeugen,
daß du der Messias Gottes bist?»
«Ich habe noch etwas zu tun, das
größer, viel größer ist als alles bisher Getane.»
«Wann, Herr?»
«Wenn der Mond des Nisan voll
sein wird. Dann gebt acht.»
«Wird dann am Himmel ein Zeichen
erscheinen? Man sagt, als du geboren wurdest, hätte der Himmel gesprochen
durch Lichter, Gesänge und seltsame Sterne.»
«Das ist wahr... Um damit zu
zeigen, daß das Licht auf die Erde gekommen war. Im Nisan werden Zeichen am
Himmel und auf Erden erscheinen, und man wird glauben, das Ende der Welt sei
gekommen wegen der Finsternis und der Erschütterungen, des Dröhnens der Blitze
am Firmament und des Bebens in den geöffneten Eingeweiden der Erde. Aber es
wird nicht das Ende sein, sondern vielmehr der Anfang. Zuvor, bei meiner
159
Ankunft, hat der Himmel den
Menschen den Erlöser geboren, und da dies ein Werk Gottes war, wurde das
Ereignis von Frieden begleitet. Im Nisan wird es die Erde sein, die aus
eigenem Willen ihren Erlöser gebiert, und da dies ein Werk der Menschen ist,
wird das Ereignis nicht von Frieden begleitet sein. Eine furchtbare
Erschütterung wird es geben. Und in dieser furchtbaren Stunde des Jahrhunderts
und der Hölle wird die Erde ihren Leib unter den feurigen Blitzen des Zornes
Gottes winden und ihren Willen hinausbrüllen, zu berauscht, um die Bedeutung
des Ereignisses zu verstehen, zu sehr von Satan besessen, um es zu verhindern.
Wie eine irre Gebärende wird sie glauben, die verfluchte Frucht zu vernichten,
und sie wird nicht begreifen, daß sie sie damit zu Orten erhebt, wo kein
Schmerz und keine Arglist sie mehr erreichen kann. Der Baum, der neue Baum,
wird von da an seine Zweige über die ganze Erde ausbreiten, über alle
Jahrhunderte, und der zu euch spricht, wird dann mit Liebe oder mit Haß
erkannt werden als der wahre Sohn Gottes und der Gesalbte des Herrn. Und wehe
denen, die ihn erkennen, ohne ihn zu bekennen und sich zu mir zu bekehren.»
«Wo wird dies geschehen, Herr?»
«In Jerusalern, denn das ist die
Stadt des Herrn.»
«Dann werden wir nicht dort sein,
denn im Nisan hält das Osterfest uns hier zurück. Wir bleiben unserem Tempel
treu.»
«Besser wäre es, ihr würdet dem
lebendigen Tempel treu sein, der weder auf dem Moriah, noch auf dem Garizim,
sondern göttlich, also weltumfassend ist. Doch ich weiß eure Stunde
abzuwarten, die Stunde, in der ihr Gott und seinen Messias im Geist und in der
Wahrheit lieben werdet.»
«Wir glauben, daß du der Christus
bist. Und deshalb lieben wir dich.»
«Lieben heißt, der Vergangenheit
den Rücken kehren, um in meine Gegenwart einzugehen. Ihr liebt mich noch nicht
vollkommen.»
Die Samariter sehen einander
schweigend und heimlich an. Dann sagt einer: «Für dich, um zu dir zu kommen,
werden wir es tun. Aber selbst wenn wir es wollten, könnten wir nicht
hingehen, wo die Juden sind. Du weißt es. Sie würden uns nicht wollen...»
«Auch ihr wollt die Juden nicht.
Doch seid beruhigt. Bald wird es nicht mehr zwei Regionen, zwei Tempel, zwei
gegensätzliche Meinungen geben, sondern ein einziges Volk, einen einzigen
Tempel und einen einzigen Glauben für alle, die nach der Wahrheit verlangen.
Aber jetzt verlasse ich euch. Die Kinder sind nun getröstet und abgelenkt, und
mein Weg zurück nach Ephraim ist lang, wenn ich vor Einbruch der Dunkelheit
dort eintreffen will. Macht nicht viel Aufhebens. Denn das könnte die
Aufmerksamkeit der Kinder auf sich ziehen, und es ist besser, wenn sie mein
Weggehen nicht bemerken. Geht weiter, ich bleibe hier. Der Herr möge euch auf
den Pfaden der Erde und auf seinen Wegen führen. Geht.»
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Jesus stellt sich an den Hang des
Berges und wartet, bis die Leute sich entfernt haben. Das letzte Lebenszeichen
der Karawane, die nach Sichern zurückkehrt, ist das frohe Lachen eines Kindes,
das in der Stille des Gebirges widerhallt.
614. WAS IN DER DEKAPOLIS UND IN
JUDÄA GESCHIEHT
Es muß sich herumgesprochen
haben, daß Jesus sich in Ephraim aufhält. Ob die Bürger sich damit gebrüstet
haben oder ob man es auf anderen Wegen erfahren hat, weiß ich nicht. Auf jeden
Fall suchen viele Menschen Jesus auf, meist Kranke, aber auch solche, die nur
betrübt sind oder ihn einfach sehen wollen. Ich entnehme das den Worten, mit
denen Judas sich an eine Gruppe von Pilgern aus der Dekapolis wendet: «Der
Meister ist nicht da. Aber ich und Johannes sind da, und das ist das gleiche.
Sagt also, was ihr wollt, und wir werden euch zufriedenstellen.»
«Aber ihr könnt doch niemals
lehren, was er lehrt», entgegnet einer.
«Wir sind andere Er, Mann. Merke
dir das ein für allemal. Doch wenn du unbedingt den Meister selbst hören
willst, dann komm vor dem Sabbat und gehe danach wieder fort. Der Meister ist
nun ein wahrer Meister. Er spricht nicht mehr auf allen Wegen, in den Wäldern
oder auf den Felsen wie ein Wanderprediger und zu allen Stunden wie ein
Knecht. Er spricht hier und nur am Sabbat, wie es sich für ihn gehört. Und er
hat recht! Was hat es ihm genützt, sich zu mühen und sich in Liebe
aufzureiben?»
«Aber es ist doch nicht unsere
Schuld, wenn die Juden ...»
«Alle! Alle! Ob Juden oder
Nichtjuden! Alle seid ihr gleich und werdet es auch bleiben. Er tut alles für
euch, und ihr tut nichts für ihn. Er gibt, und ihr gebt nichts, nicht einmal
das Almosen, das man einem Bettler gibt.»
«Aber wir haben eine Gabe
mitgebracht für ihn. Sieh her, wenn du es nicht glaubst.»
Johannes, der bisher geschwiegen
und sichtlich gelitten und dabei immer wieder flehende und tadelnde, oder
vielmehr vorwurfsvolle Blicke auf Judas geworfen hat, kann sich nun nicht mehr
beherrschen. Und während Judas schon die Hand ausstreckt, um die Spende
entgegenzunehmen, legt er eine Hand auf seinen Arm, um ihn zurückzuhalten, und
sagt: «Nein, Judas. Das nicht. Du kennst die Weisung des Meisters.» Dann
wendet er sich an die Pilger und sagt: «Judas hat sich schlecht ausgedrückt,
und ihr habt ihn nicht richtig verstanden. Dies ist es nicht, was mein
Gefährte sagen wollte. Nur das Geschenk des aufrichtigen Glaubens und der
treuen Liebe schulden wir, ich, meine Gefährten, ihr, alle, dem Meister für
das Viele, das er uns gibt. Als wir durch Palästina pilgerten,
161
nahm er eure Gaben an, denn wir
brauchten sie für uns selbst auf unseren Wanderungen und begegneten außerdem
vielen Bettlern auf unserem Weg und erfuhren von viel verborgenem Elend.
Jetzt, hier, brauchen wir nichts – die Vorsehung sei dafür gepriesen – und
Bettler kommen auch keine zu uns. Nehmt, nehmt eure Gabe wieder zurück und
verteilt sie im Namen Jesu an die Unglücklichen. Das ist der Wunsch unseres
Herrn und Meisters und die Anordnung für die unseren, die predigend in die
verschiedenen Städte ziehen. Wenn ihr Kranke bei euch habt oder jemand
dringend mit dem Meister sprechen muß, dann sagt es. Ich werde ihn dann dort
holen, wohin er sich zum Gebet zurückzieht, da sein Geist ein großes Bedürfnis
hat, sich im Herrn zu sammeln.»
Judas murmelt etwas zwischen den
Zähnen, widerspricht aber nicht offen. Er setzt sich neben den warmen Herd und
tut so, als ob ihn die Sache weiter nicht interessiere.
«Wahrlich... es muß nicht
unbedingt sein. Wir hatten erfahren, daß der Meister hier ist, und so haben
wir den Fluß überquert, um ihn zu sehen. Wenn wir jedoch schlecht gehandelt
haben...»
«Nein, Brüder. Es ist nicht
schlecht, ihn zu lieben und zu suchen und sogar Mühen und Unbequemlichkeiten
auf sich zu nehmen. Und euer guter Wille wird belohnt werden. Ich gehe und
teile dem Herrn eure Ankunft mit, und er wird ganz sicher kommen. Sollte er
jedoch nicht kommen, werde ich euch seinen Segen bringen.» Und Johannes geht
in den Garten hinaus, um den Meister zu suchen.
«Laß das, ich werde gehen», sagt
Judas herrisch, steht auf und eilt davon.
Johannes sieht ihm nach und
entgegnet nichts. Er geht wieder in die Küche zu den Pilgern, die dort in
einem Häufchen stehen. Und fast sofort macht er ihnen den Vorschlag: «Wollen
wir dem Meister entgegengehen?»
«Aber wenn es ihm nicht recht
wäre...»
«Oh, nehmt ein Mißverständnis
nicht wichtig, ich bitte euch. Ihr kennt gewiß die Gründe, weswegen wir hier
sind. Es sind die anderen, die den Meister zu dieser Zurückhaltung zwingen. Es
ist nicht der Wille seines Herzens. Er hat immer die gleiche Liebe für euch
alle.»
«Wir wissen es. In den ersten
Tagen nach der Verkündigung des Bannes suchten ihn alle jenseits des Jordan
und an den Orten, an denen man ihn vermuten konnte. In Bethabara wie in
Bethanien, in Pella, in Ramot Galaad und noch weiter weg. Und wir wissen, daß
es auch in Judäa und in Galiläa so war. Die Häuser seiner Freunde wurden genau
überwacht, denn... wenn er auch viele Freunde und Jünger hat, so sind ihm doch
nicht wenige feindlich gesinnt, und sie glauben dem Allerhöchsten einen Dienst
zu erweisen, wenn sie den Meister verfolgen. Dann hat man plötzlich aufgehört
zu suchen, und es hat sich die Nachricht verbreitet, daß er hier ist.»
162
«Aber ihr, von wem habt ihr es
erfahren?»
«Von seinen Jüngern.»
«Von meinen Gefährten? Wo?»
«Nein, es war keiner von diesen.
Es waren andere, wohl neue, denn wir haben sie nie mit dem Meister gesehen und
auch nicht mit den alten Jüngern. Wir waren eigentlich erstaunt, daß er uns
durch Unbekannte sagen ließ, wo er sich aufhält; doch dann dachten wir, er
habe es getan, weil die Neuen den Juden nicht als Jünger bekannt waren.»
«Ich weiß nicht, was euch der
Meister sagen wird. Doch ich würde euch von mir aus raten, daß ihr von nun an
nur noch den bekannten Jüngern Glauben schenkt. Seid vorsichtig. Jeder aus
unserem Volk weiß, wie es dem Täufer ergangen ist...»
«Du glaubst, daß ...»
«Wenn Johannes, den nur eine
einzige gehaßt hat, gefangengenommen und getötet wurde, was wird dann erst mit
Jesus geschehen, der von vielen aus dem Palast und vom Tempel gleicherweise
gehaßt wird, von Pharisäern, Schriftgelehrten, Priestern und Herodianern. Seid
also wachsam, damit ihr dann nichts zu bereuen habt.. Aber da kommt Jesus.
Gehen wir ihm entgegen.»
Es ist tiefe Nacht. Eine
mondlose, aber sternenklare Nacht. Ich weiß nicht, wieviel Uhr es ist, da ich
den Mond und seine Phase nicht sehen kann. Ich sehe nur, daß es eine klare
Nacht ist. Ganz Ephraim ist in den dunklen Mantel der Nacht gehüllt. Vom Bach
ist nur das Rauschen geblieben. Sein Gischt und seine Reflexe verschwinden
ganz unter dem grünen Gewölbe der Ufergewächse, die auch das Licht der Sterne,
das eigentlich kein Licht ist, fernhalten.
Ein Nachtvogel klagt irgendwo.
Dann verstummt er, als ein Rascheln von Zweigen und das Geräusch brechenden
Schilfrohrs von der Bergseite her und am Bach entlang sich dem Haus nähert.
Dann erscheint eine hohe, kräftige Gestalt auf dem Pfad, der vom Ufer zum Haus
hinaufführt. Sie bleibt kurz stehen, wie um sich zu orientieren, und tastet
sich dann mit den Händen an der Mauer entlang weiter. Sie findet die Tür. Dann
biegt sie, weiter tastend, um die Hausecke und gelangt an den Eingang des
Gartens. Sie probiert, öffnet, schiebt das Tor auf und geht hinein. Sie
streift die Hausmauer zum Garten, verweilt unschlüssig an der Küchentür, geht
dann weiter bis zur Außentreppe, steigt wiederum tastend hinauf und setzt sich
auf die oberste Stufe, ein dunkler Schatten in der Dunkelheit.
Aber dort, im Osten, beginnt der
Nachthimmel – ein Zelt, das nur an seiner Sternenstickerei zu erkennen ist –
sich zu verändern bzw. eine Tönung anzunehmen, die das Auge als Farbe
empfindet: ein Schiefergrau, das dichtem, rauchigem Nebel gleicht und nichts
anderes bedeutet als den
163
Beginn des Morgengrauens; das
langsame, täglich neue Wunder des wiederkehrenden Lichtes.
Die Gestalt, die sich auf den
Boden gekauert hat, ein Knäuel in einem dunklen Mantel, bewegt sich nun, reckt
sich, hebt das Haupt und wirft den Mantel etwas zurück. Es ist Manaen. Er
trägt, wie ein gewöhnlicher Mann aus dem Volk, ein schweres, braunes Gewand
und einen eben
solchen Mantel. Ein rauher Stoff,
wie ihn die Arbeiter oder Pilger benützen, ohne Fransen, Schnallen und Gürtel.
Eine wollene gedrehte Kordel hält das Gewand in der Taille. Er steht auf,
streckt sich und schaut auf zum Himmel, der immer heller wird und schon die
Umgebung erkennen läßt. Unten öffnet sich quietschend eine Tür. Manaen beugt
sich lautlos vor, um zu sehen, wer das Haus verläßt. Es ist Jesus, der
vorsichtig die Tür wieder schließt und sich der Treppe nähert. Manaen macht
einen Schritt zurück und räuspert sich, um die Aufmerksamkeit Jesu auf sich zu
lenken. Dieser hebt den Kopf und bleibt auf halber Treppe stehen.
«Ich bin es, Meister. Ich bin
Manaen. Komm schnell, ich muß mit dir sprechen. Ich habe auf dich gewartet
...», flüstert Manaen und verneigt sich grüßend.
Jesus steigt die letzten Stufen
hinauf. «Der Friede sei mit dir. Wann bist du gekommen? Wie? Warum?» fragt er.
«Ich glaube, daß ich gleich nach
dem Hahnenschrei hier angekommen bin. Doch im Gebüsch, dort hinten, war ich
seit gestern, seit der zweiten Wache.»
«Die ganze Nacht im Freien!»
«Es gab keine andere Möglichkeit.
Ich mußte mit dir allein sprechen. Ich mußte den Weg hierher finden, das Haus,
ohne gesehen zu werden. Daher bin ich bei Tag gekommen und habe mich dort
unten verborgen. Ich habe gesehen, wie es still geworden ist im Ort. Ich habe
Judas und Johannes nach Hause zurückkehren sehen. Johannes ging dabei ganz
nahe an mir vorbei mit seinem Holzbündel. Aber er hat mich nicht gesehen, denn
ich war zu gut im dichten Gebüsch verborgen. Ich habe gesehen, solange es hell
genug war um etwas zu sehen, wie eine alte Frau ein- und ausging, wie das
Feuer in der Küche brannte, wie du von der Terrasse herabkamst, als die
Dämmerung schon weit fortgeschritten war, und schließlich das Haus
verschlossen wurde. Dann kam ich im Licht des neuen Mondes heraus und prägte
mir den Weg ein. Ich ging auch in den Garten. Das Gartentor ist so nutzlos,
wie wenn es gar nicht existierte. Ich hörte eure Stimmen, aber ich mußte mit
dir allein sprechen. Also ging ich wieder zurück, um nach der dritten
Nachtwache wiederzukommen und hier zu warten. Ich weiß, daß du dich gewöhnlich
vor Tagesanbruch erhebst, um zu beten. Und ich hoffte, daß du es auch heute
tun würdest. Ich preise den Allerhöchsten, daß es so gewesen ist.»
164
«Aber aus welchem Grund mußt du
so viele Beschwerlichkeiten auf dich nehmen, um mich zu sehen?»
«Meister, Joseph und Nikodemus
wollen mit dir sprechen und haben sich etwas ausgedacht, um alle ihre Bewacher
zu überlisten. Sie haben es schon mehrfach versucht, doch Beelzebub muß ein
guter Helfer deiner Feinde sein. Sie mußten es immer wieder aufgeben,
herzukommen, denn ihr Haus und auch das der Nike werden ständig überwacht. Die
Frau sollte sogar schon vor mir kommen. Sie ist eine starke Frau und hatte
sich allein auf den Weg nach dem Adummim gemacht. Doch man folgte ihr und
hielt sie bei der "Blutigen Steige" auf. Um deinen Aufenthaltsort nicht zu
verraten und die Nahrungsmittel, die sie am Sattel hatte, zu rechtfertigen,
sagte sie: "Ich gehe zu einem meiner Brüder, der auf den Bergen in einer Höhle
lebt. Wenn ihr kommen wollt, ihr, die ihr das Wort Gottes lehrt, so tut ihr
ein gutes Werk, denn mein Bruder ist krank und braucht Gott." Und mit dieser
Kühnheit hat sie sie überzeugt und sie sind wieder gegangen. Doch wagte sie
dann nicht mehr, hierher zu kommen und ging wirklich zu einem Mann, der in
einer Höhle lebt und den du ihr, wie sie sagt, anvertraut hast.»
«Das ist wahr. Aber wie hat es
Nike dann die anderen wissen lassen?»
«Sie ist nach Bethanien gegangen.
Lazarus war nicht da, aber die Schwestern. Maria war da. Und ist Maria etwa
eine Frau, die sich durch irgend etwas Angst einjagen läßt? Sie hat sich
angezogen, schöner als Judith vielleicht als sie zum König ging. Und sie ist
öffentlich zum Tempel gegangen, zusammen mit Sara und Noemi, und dann zu ihrem
Palast in Sion. Von dort hat sie Noemi zu Joseph gesandt, mit allem, was zu
sagen war. Und während alle Maria als Herrin in ihrem Haus sehen konnten und
die Juden sie scheinheilig besuchten oder nach ihr fragen ließen... um sie zu
ehren, ging die alte Noemi in ihrem bescheidenen Gewand nach Bezetha zu dem
Ältesten. Wir haben dann beschlossen, daß ich, der Nomade, der keinen Verdacht
erregt, wenn man ihn eiligst von der einen zur anderen Residenz des Herodes
reiten sieht, hierher kommen würde, um dir zu sagen, daß in der Nacht von
Freitag auf Samstag Joseph und Nikodemus, der eine von Arimathäa und der
andere von Rama kommend, sich in Gophena treffen und dich dort erwarten
werden. Ich kenne den Ort und den Weg und werde am Abend hier sein, um dich
hinzuführen. Du kannst dich mir anvertrauen. Aber traue nur mir allein,
Meister. Joseph besteht darauf, daß niemand etwas von dieser unserer Begegnung
erfährt, zum Besten aller ...»
«Auch zu deinem, Manaen?»
«Herr... Ich bin ich. Aber ich
habe keine Güter und Familieninteressen zu hüten wie Joseph.»
«Und dies bestätigt meine Worte,
daß materieller Reichtum immer eine Last ist... Aber du kannst Joseph sagen,
daß niemand etwas von unserem Treffen erfahren wird.»
165
«Dann kann ich gehen, Meister.
Die Sonne ist aufgegangen, und deine Jünger könnten aufstehen.»
«Geh nur, und Gott sei mit dir.
Ich werde mit dir kommen und dir die Stelle zeigen, an der wir uns in der
Nacht des Sabbats treffen ...»
Sie gehen geräuschlos hinunter,
verlassen den Garten und gehen sofort weiter zum Ufer des Baches.
615. WAS IN JUDÄA UND BESONDERS
IN JERUSALEM GESCHIEHT
Manaen hat einen beschwerlichen
Weg gewählt, um Jesus an den Ort zu führen, an dem man ihn erwartet. Alles
Gebirgspfade, schmal und steinig, zwischen Lichtungen und Wäldern. Der helle
Schein des Mondes, der im ersten Viertel ist, dringt kaum durch das dichte
Gewirr der Zweige und verschwindet manchmal ganz, so daß Manaen ihn ersetzen
muß durch schon vorbereitete Fackeln, die er mitgebracht und unter dem Mantel
wie eine Waffe umgehängt hat. Er geht voraus und Jesus folgt, schweigend in
der großen Stille der Nacht. Zwei- oder dreimal verursacht irgendein wildes
Tier, das durch das Gebüsch schleicht, ein Geräusch wie von Schritten, und
Manaen bleibt mißtrauisch stehen. Sonst aber gibt es keine Störung auf diesem
schon so mühsamen Weg.
«Schau, Meister. Dort ist
Gophena. Nun biegen wir hier ab. Ich zähle noch dreihundert Schritte, dann
sind wir bei den Höhlen, wo sie seit Einbruch der Dämmerung warten. Ist dir
der Weg lang vorgekommen? Und doch haben wir Abkürzungen genommen und, ich
glaube, die vorgeschriebene Entfernung nicht überschritten.»
Jesus macht eine Geste, als wolle
er sagen: «Es ging nicht anders.»
Manaen schweigt nun, da er mit
dem Zählen der Schritte beschäftigt ist. Sie sind jetzt in einem nackten,
felsigen Gang, einer Art aufwärts führendem Spalt zwischen den Felswänden, die
sich beinahe berühren. Man könnte meinen, der Spalt sei durch eine
Naturkatastrophe entstanden, so seltsam erscheint er. Darüber, ganz oben, über
den senkrechten Wänden, über dem bewegten Laubwerk der am Rand dieses riesigen
Einschnitts gewachsenen Bäume, leuchten die Sterne. Doch das Mondlicht dringt
nicht bis in diesen Abgrund. Das rauchende Licht der Fackeln hat Raubvögel
geweckt, die nun flügelschlagend auf dem Rand ihrer Nester in den Felsspalten
sitzen und kreischen.
Manaen sagt: «Da sind wir», und
stößt vor einem Spalt in der Felswand einen Schrei aus, der dem Klageruf einer
großen Eule gleicht.
Aus der Tiefe nähert sich durch
einen anderen Gang im Fels, der jedoch oben wie ein Hausflur ein Dach hat,
rötliches Licht. Joseph erscheint.
166
«Und der Meister?» fragt er, da
er Jesus nicht sieht, der etwas weiter hinten steht.
«Ich bin hier, Joseph. Der Friede
sei mit dir.»
«Der Friede sei mit dir. Komm!
Kommt. Wir haben Feuer gemacht, um die Schlangen und Skorpione zu sehen und
uns gegen die Kälte zu schützen. Ich werde euch vorangehen.»
Er dreht sich um und führt sie
auf einem unebenen Pfad durch das Innere des Berges zu einer von den Flammen
erleuchteten Stelle. Dort, am Feuer ist Nikodemus und wirft Wacholder und
Zweige hinein.
«Der Friede sei auch mit dir,
Nikodemus. Nun bin ich bei euch. So redet.»
«Meister, hat niemand bemerkt,
daß du hierher gekommen bist?»
«Aber wer denn, Nikodemus?»
«Sind denn deine Jünger nicht bei
dir?»
«Bei mir sind Johannes und Judas
des Simon. Die anderen verkündigen das Evangelium vom Tag nach dem Sabbat bis
zum Sonnenuntergang des Freitags. Doch ich habe das Haus vor der sechsten
Stunde verlassen und gesagt, daß sie mich nicht vor dem Sonnenaufgang des
Tages nach dem Sabbat erwarten sollen. Sie sind so daran gewöhnt, daß ich oft
stundenlang weg bin, daß niemand Verdacht schöpfen wird. Seid also beruhigt.
Wir haben genügend Zeit, um uns zu unterhalten, ohne befürchten zu müssen,
überrascht zu werden. Dies ist ein geeigneter Ort.»
«Ja, Höhlen für Schlangen,
Geier... und Räuber, in der guten Jahreszeit, wenn die Berge voller Herden
sind. Jetzt bevorzugen sie andere Gegenden, wo sie Schafställe und Karawanen
leichter überfallen können. Es tut uns leid, dich hierher geschleppt zu haben.
Aber von hier aus können wir in verschiedene Richtungen aufbrechen, ohne daß
uns jemand sieht. Denn die Aufmerksamkeit des Synedriums richtet sich auf die
Orte, die man der Liebe zu dir verdächtigt.»
«Nun, hierin möchte ich Joseph
widersprechen. Mir scheint, daß wir es sind, die nun Schatten sehen, wo keine
sind. Und mir scheint auch, daß sich die Sache seit einigen Tagen ziemlich
beruhigt hat...» sagt Nikodemus.
«Du irrst, Freund. Ich sage es
dir. Es ist ruhiger geworden, weil nun kein Anlaß mehr vorhanden ist, den
Meister zu suchen; denn sie wissen jetzt, wo er ist. Daher wird er und nicht
wir überwacht. Aus diesem Grund habe ich ihn auch gebeten, niemandem zu sagen,
daß wir uns treffen würden. Es könnte sein, daß irgend jemand zu allem bereit
ist...» sagt Joseph.
«Ich glaube nicht, daß die Leute
von Ephraim ...» bemerkt Manaen.
«Nicht die von Ephraim und auch
sonst niemand von Samaria. Und wenn es nur wäre, um das Gegenteil von dem zu
tun, was wir auf der anderen Seite tun...»
«Nein, Joseph, nicht deshalb.
Sondern weil in ihrem Herzen nicht die giftige Schlange haust, die ihr in euch
habt. Sie fürchten nicht, irgendein
167
Vorrecht zu verlieren. Sie haben
keine sektiererischen und Kasteninteressen zu verteidigen. Nichts haben sie,
außer einem instinktiven Bedürfnis nach der Verzeihung und Liebe dessen, den
ihre Vorfahren beleidigt haben und den auch sie weiterhin beleidigen, da sie
der vollkommenen Religion fernbleiben. Fern, denn sie sind stolz, wie auch ihr
stolz seid, und so können beide Seiten den Groll, der sie trennt, nicht
vergessen und sich nicht im Namen des einen Vaters die Hand reichen. Selbst
wenn der beste Wille bei ihnen vorhanden wäre, ihr würdet ihn abwürgen. Denn
ihr könnt nicht verzeihen. Ihr könnt euch nicht von euren Torheiten abwenden
und sagen: "Die Vergangenheit ist tot, denn der Fürst künftiger Zeiten ist
aufgestanden, der uns alle in seinem Zeichen vereinigt." Ich bin in der Tat
gekommen, und ich vereinige. Aber ihr? Oh, für euch sind viele von denen ein
Fluch, die ich für würdig erachtet habe, aufgenommen zu werden.»
«Du bist sehr streng mit uns,
Meister.»
«Ich bin gerecht. Wollt ihr etwa
behaupten, daß ihr mich in euren Herzen nicht tadelt wegen gewisser Werke?
Könnt ihr sagen, daß ihr meine Barmherzigkeit gutheißt, die ich den Juden und
Galiläern ebenso wie den Samaritern und Heiden zuteil werden lasse? Ja,
letzteren und den großen Sündern sogar noch mehr, da gerade sie sie am
nötigsten brauchen... Könnt ihr sagen, daß ihr von mir nicht Taten
majestätischer Gewalt erwartet, damit ich so meine übernatürliche Herkunft
bestätige und vor allem, gebt wohl acht, und vor allem meine Mission als
Messias nach eurer Vorstellung vom Messias? Sagt die Wahrheit: Ganz abgesehen
von der Freude eures Herzens über die Auferstehung des Freundes, wäre es euch
nicht lieber gewesen, wenn ich stattdessen prächtig und grausam in Bethanien
aufgetreten wäre, wie unsere Vorfahren gegenüber den Leuten von Ai und
Jericho; oder besser noch: wenn meine Stimme die Felsen und Mauern zum
Einsturz über meinen Feinden gebracht hätte, wie die Posaunen des Josua die
Mauern von Jericho; oder wenn ich vom Himmel große Steine auf die Feinde hätte
hageln lassen, wie es an der Steige von Beth Horon noch zu den Zeiten des
Josua geschah? Oder vielleicht hätte ich, wie in späteren Zeiten, himmlische
Reiter rufen sollen, die aus der Luft dahergefahren wären, mit goldenen
Gewändern bekleidet, mit Lanzen bewaffnet wie Kohorten, wie Reitergeschwader
in Schlachtordnung, die von beiden Seiten Angriff und Abwehr üben und Schilde
schwingen; Heere mit Helm und gezogenem Schwert, die Pfeile abschießen, um
meine Feinde zu erschrecken? Ja, das hätte euch besser gefallen; denn obwohl
ihr mich sehr liebt, ist doch eure Liebe noch nicht rein, und ihr nährt sie
mit euren israelitischen Ideen, euren althergebrachten Gedanken, da ihr
unheilige Wünsche hegt. So ist es bei Gamaliel wie beim Geringsten in Israel,
beim Hohenpriester, beim Tetrarchen, beim Bauern, beim Hirten, beim Nomaden
und beim Menschen in der Diaspora. Die fixe Idee vom Messias als Eroberer. Der
Alptraum jener, die fürchten, von ihm vernichtet
168
zu werden. Die Hoffnung derer,
die das Vaterland lieben mit leidenschaftlicher, menschlicher Liebe. Die
Sehnsucht aller, die von anderen Mächten in anderen Ländern unterdrückt
werden. Es ist nicht eure Schuld. Die reine, euch von Gott gegebene
Vorstellung von dem, was ich bin, ist im Laufe der Jahrhunderte unter
sinnveränderndem Beiwerk verschwunden. Und wenige nur verstehen es, unter
Schmerzen die messianische Idee zu ihrer ursprünglichen Reinheit
zurückzuführen. Und nun, da die Zeit nahe ist, daß das Zeichen gegeben wird,
das Gamaliel und mit ihm ganz Israel erwartet, nun, da die Zeit meiner
vollkommenen Offenbarung gekommen ist, arbeitet Satan, um eure Liebe zu
schwächen und eure Gedanken zu verwirren. Seine Stunde kommt. Ich sage es
euch. Und in dieser Stunde der Finsternis werden auch die, die sonst wachsam
oder doch ziemlich sehend sind, vollkommen blind werden. Wenige, sehr wenige
werden in dem geschlagenen Menschen den Messias erkennen. Ganz wenige nur
werden ihn als den wahren Messias erkennen, eben weil er so erniedrigt werden
wird, wie es die Propheten geschaut haben. Ich wünsche zum Wohl meiner
Freunde, daß sie mich, solange es noch Tag ist, sehen und erkennen... damit
sie mich dann auch in der Finsternis der Stunde der Welt und in der
Entstellung sehen und erkennen... Doch nun sagt mir, was ihr mir zu sagen
habt. Die Zeit vergeht rasch, und bald bricht der Tag an. Ich sage das
euretwegen, denn ich fürchte keine gefährlichen Begegnungen.»
«Also, wir wollten dir sagen, daß
irgend jemand deinen Aufenthaltsort verraten haben muß, und daß dieser Jemand
mit Sicherheit weder ich, noch Nikodemus, weder Manaen, noch Lazarus und die
Schwestern, und auch nicht Nike gewesen ist. Mit wem sonst hast du über den
von dir als Zuflucht gewählten Ort gesprochen?»
«Mit niemandem, Joseph.»
«Bist du dessen sicher?»
«Ganz sicher.»
«Und hast du auch deinen Jüngern
geboten, nicht darüber zu sprechen?»
«Vor der Abreise habe ich ihnen
den Ort nicht genannt. Erst bei der Ankunft in Ephraim habe ich ihnen
befohlen, zu predigen und in meinem Namen zu wirken. Und ich bin ihres
Gehorsams sicher.»
«Und bist du in Ephraim allein?»
«Nein, Johannes und Judas des
Simon sind bei mir. Ich habe es schon gesagt. Und er, Judas – denn ich lese
deine Gedanken – kann mir mit seiner Unüberlegtheit nicht geschadet haben, da
er die Stadt nie verlassen hat und zu dieser Zeit auch keine Pilger aus
anderen Gegenden hierher kommen.»
«Also... dann muß es Beelzebub
verraten haben. Denn im Synedrium weiß man, daß du hier bist.»
169
«Und? Wie reagieren sie dort auf
meinen Entschluß?»
«Unterschiedlich, Meister. Sehr
unterschiedlich. Die einen sagen, es sei verständlich. Nachdem sie dich von
den heiligen Stätten verbannt haben, bliebe dir ja nichts anderes übrig, als
nach Samaria zu fliehen. Andere hingegen sagen, das würde zeigen, wer du
wirklich bist: ein Samariter, mehr noch der Seele als der Rasse nach. Und das
würde genügen, um dich zu verurteilen. Alle freuen sich, daß sie dich zum
Schweigen gebracht haben und dich vor den Volksscharen einen engen Freund der
Samariter nennen können. Sie sagen: "Wir haben die Schlacht schon gewonnen.
Der Rest ist ein Kinderspiel." Aber wir bitten dich, sorge dafür, daß das
nicht wahr wird.»
«Es wird nicht wahr werden. Laßt
sie nur reden. Wer mich liebt, wird sich durch den Anschein nicht beirren
lassen. Wartet, bis der Sturm sich legt. Es ist ein Sturm der Erde. Dann wird
der Wind des Himmels kommen und der Vorhang sich öffnen und die Herrlichkeit
Gottes wird erscheinen. Was habt ihr mir sonst noch zu sagen?»
«Nichts, was dich betrifft. Sei
wachsam, sei vorsichtig. Entferne dich nicht von wo du bist. Und wir wollen
dir noch einmal sagen, daß wir dich benachrichtigen werden ...»
«Nein, das ist nicht nötig.
Bleibt, wo ihr seid. Bald werde ich die Jüngerinnen bei mir haben und, ja, das
könnt ihr Nike und Elisa ausrichten, wenn sie wollen, können sie sich den
anderen anschließen. Sagt es auch den beiden Schwestern. Da mein
Aufenthaltsort nun bekannt ist, können die, die das Synedrium nicht fürchten,
kommen und sich gegenseitig Trost spenden.»
«Die beiden Schwestern können
nicht kommen, bevor Lazarus zurückgekehrt ist. Er ist mit großem Pomp
abgereist, und ganz Jerusalem hat erfahren, daß er sich zu seinen entfernten
Besitzungen begeben hat. Wann er aber zurückkommen wird, weiß niemand. Doch
sein Diener ist schon von Nazareth zurückgekehrt und hat gesagt, das sollen
wir dir noch ausrichten, deine Mutter wird mit den anderen zum Ende dieses
Monats hier sein. Es geht ihr gut, und auch Maria des Alphäus geht es gut. Der
Diener hat sie gesehen. Sie verzögern die Abreise noch ein wenig, weil Johanna
mit ihnen kommen will, was ihr aber erst Ende des Monats möglich ist. Und
dann... wenn du erlaubst, möchten wir dir helfen... als getreue Freunde...
auch wenn wir unvollkommen sind, wie du sagst.»
«Nein. Die Jünger, die predigend
umherziehen, bringen an jedem Sabbat-Vorabend alles mit, was sie und wir hier
in Ephraim brauchen. Mehr ist nicht nötig. Der Arbeiter lebt von seinem Lohn.
Das ist auch richtig. Alles andere wäre überflüssig. Gebt es irgendeinem
Unglücklichen. Dasselbe habe ich auch den Leuten von Ephraim und meinen
Aposteln gesagt. Ich verlange von den Aposteln, daß sie bei ihrer Rückkehr
auch nicht den geringsten Vorrat angesammelt und das ganze Almosen verteilt
170
haben, so daß uns gerade so viel
bleibt, wie wir zu unserer äußerst einfachen Verpflegung in der folgenden
Woche brauchen.»
«Aber warum, Meister?»
«Um sie zu lehren, sich von allem
Reichtum zu lösen und den Geist höher zu werten als die Sorgen von morgen. Und
aus diesem und auch aus anderen guten Gründen möchte ich euch als Meister
bitten, nicht weiter darauf zu bestehen.»
«Wie du willst. Aber wir
bedauern, dir nicht dienen zu können.»
«Die Stunde wird kommen, da ihr
es tun könnt... Ist das nicht schon das erste Tageslicht?» sagt Jesus, wendet
sich nach Osten – von der entgegengesetzten Seite ist er vorher gekommen – und
zeigt auf einen fahlen Schein, der in der weit entfernten Öffnung sichtbar
wird.
«Ja, wir müssen uns trennen. Ich
gehe nach Gophena zurück, wo ich das Reittier gelassen habe, und Nikodemus
wird auf dieser Seite nach Beroth hinunter und von dort nach Rama gehen,
sobald der Sabbat zu Ende ist.»
«Und du, Manaen?»
«Oh, ich werde ganz offen nach
Jericho reiten, wo sich Herodes zur Zeit aufhält. Ich habe mein Pferd in einem
Haus armer Leute gelassen, die sich für ein Almosen vor nichts ekeln, nicht
einmal vor dem Samariter, für den sie mich halten. Aber vorerst bleibe ich bei
dir. Ich habe in der Tasche Verpflegung für uns beide.»
«Dann wollen wir uns
verabschieden. An Ostern werden wir uns wiedersehen.»
«Nein, du wirst dich doch nicht
dieser Gefahr aussetzen wollen!» sagen Joseph und Nikodemus. «Tue es nicht,
Meister!»
«Ihr seid wahrlich schlechte
Freunde, denn ihr wollt mich zur Sünde und zur Feigheit verführen. Könntet ihr
mich noch lieben, wenn ich darauf einginge? Sagt es. Seid aufrichtig. Wo
sollte ich denn sonst hingehen, um an Ostern meinen Herrn anzubeten? Etwa auf
den Berg Garizim? Oder sollte ich nicht vielmehr im Tempel von Jerusalem vor
dem Herrn erscheinen, wie es die Pflicht eines jeden männlichen Israeliten ist
an den drei Hauptfesten des Jahres? Habt ihr vergessen, daß man mich schon
beschuldigt, den Sabbat nicht zu heiligen, obgleich ich – und Manaen kann es
bezeugen – um eurem Wunsch zu entsprechen, auch heute abend einen Weg genommen
habe, der sowohl eurem Wunsch als auch den Vorschriften des Sabbats gerecht
wird?»
«Wir haben aus diesem Grund in
Gophena haltgemacht... Und wir werden ein Opfer darbringen, um für die
unfreiwillige Überschreitung aus einem unumgänglichen Grund zu sühnen. Aber
du, Meister... ! Man wird dich sofort sehen ...»
«Selbst wenn sie mich nicht sehen
sollten, werde ich dafür sorgen, daß man mich sieht.»
171
«Willst du dich zugrunderichten!
Das käme einem Selbstmord gleich ...»
«Nein. Euer Verstand ist
verdunkelt. Es wäre nicht Selbstmord, sondern Gehorsam gegenüber der Stimme
meines Vaters, die mir sagt: "Geh, es ist Zeit." Ich habe mich immer bemüht,
das Gesetz mit den Notwendigkeiten des Lebens zu versöhnen, auch an dem Tag,
an dem ich von Bethanien nach Ephraim flüchten mußte; denn die Zeit meiner
Gefangennahme war noch nicht gekommen. Das Lamm des Heiles kann erst am
Passahfest geopfert werden. Und wollt ihr, daß ich meinem Vater den Gehorsam
verweigere, mit dem ich das Gesetz befolgt habe? Geht, geht! Und seid nicht so
betrübt. Wozu bin ich denn auf die Welt gekommen, wenn nicht, um zum König
aller Menschen erklärt zu werden? Denn Messias bedeutet doch gerade dies,
nicht wahr? Ja, so ist es. Und es bedeutet auch soviel wie Erlöser. Nur stimmt
die wahre Bedeutung dieser beiden Worte nicht mit dem überein, was ihr euch
vorstellt. Doch ich segne euch und bitte Gott inständig, ein himmlischer
Strahl möge zusammen mit mein Segen in euer Inneres herabkommen; denn ich
liebe euch und ihr liebt mich; denn ich möchte, daß eure Gerechtigkeit
strahlend sei; denn ihr seid nicht böse, doch noch immer "Altes Israel", und
ihr habt nicht den heroischen Willen, die Vergangenheit hinter euch zu lassen
und euch zu erneuern. Leb wohl, Joseph. Sei gerecht. Gerecht wie jener, der
viele Jahre mein Pflegevater und zu jeglicher Erneuerung fähig war, um dem
Herrn, seinem Gott, zu dienen. Wenn er hier unter uns wäre, oh, dann würde er
euch lehren, Gott vollkommen zu dienen und gerecht, gerecht, gerecht zu sein!
Aber es ist gut, daß er schon in Abrahams Schoß weilt, damit er die
Ungerechtigkeit Israels nicht sehen muß. Der heilige Diener Gottes...! Dieser
neue Abraham hätte mir – mit durchbohrtem Herzen, doch vollkommenem gutem
Willen – nicht zur Feigheit geraten, sondern hätte gesagt, wie er es immer
tat, wenn Schweres auf uns lastete: "Wir wollen unseren Geist erheben. So
werden wir dem Blick Gottes begegnen und vergessen, daß uns die Menschen
kränken. Wir wollen alles, was uns schwerfällt, so tun, als ob Gott es uns
aufgetragen hätte. Auf diese Art heiligen wir auch die kleinsten Dinge, und
Gott wird uns lieben." Ja, so würde er sagen, um mich zu ermutigen, selbst die
größten Schmerzen auf mich zu nehmen. Er würde uns trösten und stärken... Oh!
Meine Mutter... !»
Jesus läßt Joseph los, den er
umarmt hatte, und neigt schweigend das Haupt. Sicher sieht er sein
bevorstehendes Martyrium und das seiner armen Mutter... Dann hebt er das Haupt
und umarmt Nikodemus mit den Worten: «Als du zum erstenmal als geheimer Jünger
zu mir kamst, sagte ich dir, daß ihr, um in das Himmelreich einzugehen und das
Reich Gottes zu besitzen, geistig wiedergeboren werden und das Licht lieben
müßt, mehr als die Welt es liebt. Heute ist es vielleicht das letzte Mal, daß
wir
172
uns im geheimen treffen, und ich
wiederhole dir dieselben Worte. Werde wiedergeboren im Geist, Nikodemus, damit
du das Licht lieben kannst, das Licht, das ich bin, und damit ich in dir lebe
als König und Erlöser. Geht. Gott sei mit euch.»
Die beiden Synedristen entfernen
sich, nicht in die Richtung, aus der Jesus gekommen ist, sondern in die
entgegengesetzte. Als das Geräusch ihrer Schritte verhallt ist, kommt Manaen,
der sie bis zum Ausgang der Höhle begleitet und ihnen nachgesehen hat, zurück
und bemerkt mit vielsagendem Gesicht: «Diesmal sind sie es, die das
Sabbatgebot übertreten. Und sie werden keine Ruhe finden, bis sie ihre Schuld
beim Ewigen durch das Opfer eines Tieres getilgt haben. Wäre es nicht besser
für sie, wenn sie ihre Ruhe opfern und sich offen zu dir bekennen würden? Wäre
dies dem Allerhöchsten nicht wohlgefälliger?»
«Das wäre es gewiß. Aber
verurteile sie nicht. Sie gleichen einem Teig, der langsam aufgeht. Doch im
rechten Augenblick, wenn viele, die sich besser dünken als sie, abfallen,
werden gerade sie sich gegen eine ganze Welt erheben.»
«Sagst du dies meinetwegen, Herr?
Dann nimm mir das Leben, aber lasse nicht zu, daß ich dich verleugne.»
«Du wirst mich nicht verleugnen.
Doch in dir sind schon andere Elemente als in ihnen, die dir helfen werden,
treu zu sein.»
«Ja. Ich bin... der Herodianer.
Das heißt, ich war der Herodianer. Denn so wie ich mich vom Rat getrennt habe,
so habe ich mich auch von der Partei getrennt, als ich gesehen habe, wie
schlecht und ungerecht sie dich behandeln, genau wie die anderen. Ein
Herodianer sein... ! Für die anderen heißt dies beinahe, ein Heide sein. Ich
sage nicht, daß wir Heilige sind. Es ist wahr, aus unlauteren Gründen haben
wir unlauter gehandelt. Ich rede so, als wäre ich noch der Herodianer, der ich
war, bevor ich dein wurde. Wir sind nach menschlichem Urteil doppelt unrein:
einmal, weil wir uns mit den Römern verbündet haben, und weil wir dies zu
unserem Vorteil getan haben. Aber sage mir, Meister, der du immer die Wahrheit
sagst und nicht schweigst aus Furcht, einen Freund zu verlieren: Wer von uns
ist unreiner, wir, die wir uns um vergänglicher persönlicher Triumphe willen
mit Rom verbündet haben, oder die Pharisäer, die Hohenpriester, die
Schriftgelehrten und die Sadduzäer, die sich mit Satan verbündet haben, um
dich zu vernichten? Siehst du? Als ich gesehen habe, daß die Partei der
Herodianer sich gegen dich wandte, habe ich sie verlassen. Ich sage es nicht,
um von dir gelobt zu werden, sondern um dir meine Gedanken darzulegen. Und
sie, ich spreche von den Pharisäern und den Priestern, den Schriftgelehrten
und den Sadduzäern, glauben, sie hätten einen Nutzen von diesem
unvorhergesehenen Bündnis der Herodianer mit ihnen. Die Unglückseligen! Sie
verstehen nicht, daß die Herodianer es nur tun, um sich bei den Römern beliebt
zu machen und dadurch größeren Schutz
173
zu genießen; und danach... sobald
die Sache bereinigt und beendet ist und damit die Beweggründe für das jetzige
Bündnis nicht mehr bestehen, werden sie die, deren sie sich nun als Verbündete
bedienen, niederwerfen. Auf beiden Seiten dasselbe Spiel. Alles ist auf Betrug
aufgebaut. Und dies stößt mich so sehr ab, daß ich mich völlig unabhängig
gemacht habe. Du, du bist ein großes Schreckgespenst. Für alle! Du bist auch
der Vorwand für das verwegene Interessenspiel der verschiedenen Parteien. Ein
religiöser Beweggrund? Der heilige Abscheu vor dem "Gotteslästerer", wie sie
dich nennen? Alles Lügen! Der einzige Grund ist nicht die Verteidigung der
Religion, nicht der heilige Eifer für den Allerhöchsten, sondern ihre gierige,
unersättliche Habsucht. Sie ekeln mich an, wie stinkender Unrat. Ich
wünschte... Ja, ich wünschte, die wenigen, die nicht unrein sind, wären viel
kühner. Ach, mich belastet dieses doppelte Leben, das ich führe! Ich würde
gerne dir allein folgen. Aber ich bin dir so nützlicher, als wenn ich dir
folgen würde. Es bedrückt mich... Aber du sagst, daß es bald sein wird...
Wie... Wirst du denn wirklich wie ein Lamm geopfert werden? Ist dies nicht nur
bildlich gesprochen? Das Leben Israels ist voll von Symbolen und Bildern...»
«Und du wolltest, es wäre auch
für mich so... Aber es ist nicht nur bildlich gemeint bei mir.»
«Wirklich nicht? Bist du dessen
sicher? Ich könnte... Viele von uns wären bereit, große Taten der
Vergangenheit zu wiederholen und dich als Messias salben zu lassen und zu
verteidigen. Ein Wort würde genügen, und zu Tausenden und Abertausenden würden
die Verteidiger des wahren heiligen und weisen Oberhirten sich erheben. Ich
spreche nicht mehr von einem irdischen König, nun, da ich weiß, daß dein Reich
ein rein geistiges Reich ist. Da wir jedoch nach menschlichem Ermessen nie
mehr stark und frei sein werden, so lasse wenigstens zu, daß deine Heiligkeit
das verdorbene Israel regiert und heilt. Niemand, du weißt es selbst, liebt
die gegenwärtige Priesterschaft und die, die sie unterstützen. Willst du,
Herr? Befiehl, und ich werde handeln.»
«Du hast schon große Fortschritte
gemacht, Manaen. Aber du bist noch so weit vom Ziel wie die Erde von der
Sonne. Ich werde Priester sein in Ewigkeit. Unsterblicher Hoherpriester in
einem Organismus, den ich beleben werde bis ans Ende der Zeiten. Doch ich
werde nicht mit dem Öl der Freude gesalbt werden, noch von einer Handvoll
Getreuen ausgerufen und mit Gewalt verteidigt werden, um das Vaterland in ein
noch größeres Schisma zu stürzen und es mehr denn je zum Sklaven zu machen.
Und meinst du, daß Menschenhand den Christus salben könnte? In Wahrheit sage
ich dir, daß dem nicht so ist. Die wahre Autorität, die mich zum Oberhaupt und
Messias salben wird, ist der, der mich gesandt hat. Kein anderer als Gott kann
Gott zum König der Könige und Herrn der Herren für alle Ewigkeit salben.»
174
«Dann ist also nichts, gar nichts
zu machen? Oh, welch ein Schmerz für mich!»
«Alles... Mich lieben! Darin ist
alles enthalten! Nicht das Geschöpf lieben, das den Namen Jesus trägt, sondern
das, was Jesus ist. Mich lieben mit Leib und Seele, so wie ich euch im Geist
und als Mensch liebe, um über das Menschsein hinaus mit mir zu sein. Sieh,
welch ein schöner Sonnenaufgang. Der sanfte Schein der Sterne ist nicht hier
hereingedrungen. Das triumphierende Sonnenlicht schon! So wird es den Herzen
derer ergehen, denen es gelingt, mich mit Gerechtigkeit zu lieben. Komm heraus
in die Stille des Berges, die noch keine bei der Verteidigung irdischer
Belange rauh gewordene, menschliche Stimme stört. Schau, dort, die Adler, wie
sie mit ausgespannten Schwingen auf der Suche nach Beute fortfliegen. Können
wir ihre Beute sehen? Nein. Aber sie sehen sie. Denn das Auge des Adlers ist
schärfer als das unsere. Und von dort oben haben sie einen weiten Ausblick,
und sie wissen zu wählen. Auch ich. Ich kann sehen, was ihr nicht seht, und
von oben, wo mein Geist schwebt, meine süße Beute erwählen. Nicht um sie zu
zerfetzen, wie es die Geier und Adler tun, sondern um sie mit mir zu nehmen.
Wir werden so glücklich sein im Reich meines Vaters, wir, die wir uns geliebt
haben... !»
Und Jesus, der bei diesen Worten
hinausgegangen ist, setzt sich am Eingang der Höhle in die Sonne, umarmt
Manaen, der sich neben ihm niedergelassen hat, schweigt und lächelt über wer
weiß welche Vision...
616. DER SOPHERIM SAMUEL,
EHEMALIGER JÜNGER DES JONATHAN BEN UZIEL UND DANN JÜNGER JESU
Jesus ist allein und wieder in
der Höhle. Ein Feuer brennt und spendet Licht und Wärme, und ein starker Duft
von Harz und Laubwerk verbreitet sich in der Höhle. Das Holz knistert und
sprüht Funken. Jesus hat sich nach hinten zurückgezogen, in eine Vertiefung,
in der trockene Zweige liegen, und denkt nach. Die Flammen flackern ab und zu
auf, werden kleiner und beleben sich dann wieder durch Windstöße, die aus dem
Wald kommen und heulend in die Höhle dringen, wo sie wie Trompetenstöße
widerhallen. Es ist kein beständiger Wind. Einmal fällt er, dann erhebt er
sich wieder, wie die Wogen des Meeres zur Zeit der langen Wellen. Wenn er laut
pfeift, wirbelt er Asche und trockene Blätter in den schmalen Gang im Fels,
durch den Jesus in die größere Höhle gekommen ist, und die Flammen ducken sich
und lecken seitlich am Boden entlang; dann, sobald der Wind sich gelegt hat,
richten sie sich noch flackernd auf und brennen wieder gerade. Jesus kümmert
sich nicht darum. Er denkt nach.
175
Dann mischt sich in das Pfeifen
des Windes das Geräusch des Regens, der zuerst nur leicht, dann aber immer
stärker auf das Laub der Bäume und Sträucher klatscht. Ein wahrer Wolkenbruch
verwandelt in kurzer Zeit die Bergpfade in schäumende Bäche. Nun herrscht die
Stimme des Wassers vor, denn der Wind hat sich langsam gelegt. Das spärliche
Licht der stürmischen Dämmerung und das Feuer, das nur noch glimmt, da die
Zweige verbrannt sind, erhellen die Höhle nur sehr schwach, und in den Winkeln
herrscht schon völlige Dunkelheit. Jesus, der ein dunkles Gewand trägt, ist
nicht mehr zu erkennen. Nur wenn er das Antlitz von den angezogenen Knien
erhebt, sieht man mit Mühe etwas Weißes vor der dunklen Wand.
Draußen vor der Höhle auf dem Weg
hört man plötzlich Schritte und keuchende Worte, wie von jemandem, der müde
und abgehetzt ist. Dann erscheint ein dunkler, von Wasser triefender Schatten
am Eingang. Der Mann – denn es ist ein Mann mit einem dichten, schwarzen Bart
– stößt ein «Oh!» der Erleichterung aus, wirft seine klatschnasse
Kopfbedeckung auf den Boden, schüttelt seinen Mantel aus und sagt vor sich
hin: «Hm! Du kannst ihn lange ausschütteln, Samuel. Er scheint in den Graben
eines Walkmüllers gefallen zu sein. Und die Sandalen? Boote! Boote auf dem
Grund des Flusses! Bis auf die Haut bin ich naß! Und die Bäche aus den Haaren!
Ich komme mir vor wie eine alte Dachtraufe, die Wasser aus hundert Löchern
verliert. Das fängt schon gut an! Ob er Beelzebub auf seiner Seite hat, der
ihm hilft? Hm, der Einsatz ist groß... aber...» Er läßt sich auf einen großen
Stein, nahe bei dem nun fast erloschenen Feuer nieder, dessen glimmende Reste
als letztes Lebenszeichen des verbrannten Holzes in eigenartigen roten Mustern
leuchten. Durch Blasen versucht er, es wieder anzufachen. Dann legt er die
Sandalen ab und versucht, seine schmutzbedeckten Füße mit einem Zipfel des
Mantels abzutrocknen, der nicht ganz so naß ist. Aber er trocknet sich mit
Wasser ab. Das Ergebnis ist, daß der Schlamm von den Füßen nun am Mantel
klebt. Der Mann setzt sein Selbstgespräch fort: «Verflucht sollen sie sein, er
und sie alle! Ich habe auch die Börse verloren. Natürlich! Wenigstens habe ich
nicht auch das Leben verloren... Es ist der sicherste Weg, haben sie gesagt.
Natürlich. Aber sie selbst gehen ihn nie! Wenn ich dieses Feuer nicht gesehen
hätte! Wer hat es wohl angezündet? Irgendein Unglücklicher wie ich. Wo mag er
jetzt wohl sein? Dort ist ein Loch... Vielleicht noch eine Höhle... Es werden
doch keine Räuber sein? Ach, ich Dummkopf! Was sollten sie mir denn nehmen, da
ich keinen Pfennig besitze... ! Aber egal. Dieses Feuer ist mehr wert als ein
Schatz. Hätte ich nur etwas trockenes Holz, um es wieder anzufachen! Dann
würde ich mich ausziehen und meine Kleider trocknen. Aber was rede ich denn!
Ich habe ja nur die, bis ich zurückkehre ...»
«Wenn du Zweige willst, Freund,
hier sind einige», sagt Jesus, ohne sich von seinem Platz zu rühren.
176
Der Mann, der Jesus den Rücken
zukehrt, erschrickt, als er so unerwartet eine Stimme hört, springt auf und
dreht sich um. Er scheint Angst zu haben. «Wer bist du?» fragt er und kneift
die Augen zusammen, um etwas zu sehen.
«Ein Wanderer wie du. Ich habe
das Feuer angezündet, und es freut mich, daß es dir ein Wegweiser gewesen
ist.» Jesus kommt mit einem Reisigbündel auf dem Arm näher, wirft es neben dem
Feuer auf den Boden und fordert den Mann auf: «Fache es wieder an, bevor die
Asche alles erstickt. Ich habe weder Feuerstein noch Zunder, denn der, der sie
mir geliehen hat, ist nach Sonnenuntergang fortgegangen.» Jesus spricht
freundlich, tritt aber nicht so weit vor, daß der Schein des Feuers auf ihn
fällt. Vielmehr kehrt er jetzt in seinen Winkel zurück und hüllt sich noch
fester in seinen Mantel.
Der Mann beugt sich inzwischen
nieder und bläst in die Blätter, die er auf die Glut geworfen hat. Und er
bemüht sich so lange, bis die Flamme wieder aufflackert. Er lacht und wirft
immer größere Äste hinein, die die Flammen noch höher werden lassen.
Jesus hat sich wieder an seinen
Platz gesetzt und beobachtet ihn.
«Nun müßte ich mich ausziehen, um
mein Gewand zu trocknen. Ich bin lieber nackt, als so durchnäßt. Aber nicht
einmal das kann ich tun. Ein Hang ist ins Rutschen geraten und ich wurde mit
Erde und Wasser überschüttet. Da haben wir die Bescherung! Schau, mein Gewand
ist zerrissen. Verfluchte Reise! Hätte ich doch gegen das Sabbatgebot
verstoßen! Aber nein. Bis zur Dämmerung habe ich gewartet. Und dann... Was
mache ich jetzt? Um mich zu retten, habe ich die Reisetasche losgelassen, und
sie wird ins Tal gerollt oder an einem Strauch hängengeblieben sein... wer
weiß, wo ...»
«Hier hast du mein Gewand. Es ist
trocken und warm. Mir genügt der Mantel. Nimm es, ich bin gesund. Fürchte
nichts.»
«Du bist gut. Ein guter Freund.
Wie soll ich dir danken?»
«Indem du mich wie einen Bruder
liebst.»
«Dich wie einen Bruder lieben?
Aber du weißt doch gar nicht, wer ich bin? Und wenn ich ein Übeltäter wäre?
Würdest du auch dann meine Liebe wollen?»
«Ich würde sie wollen, um dich
gut zu machen.»
Der Mann, der noch jung ist und
etwa dasselbe Alter wie Jesus hat, neigt das Haupt und denkt nach. Er hält das
Gewand Jesu in seinen Händen, aber er sieht es nicht. Er denkt nach. Und
mechanisch streift er das Gewand über die bloße Haut, denn er hat sich ganz
entkleidet und selbst das Untergewand abgelegt.
Jesus, der in seinen Winkel
zurückgekehrt ist, fragt nun: «Wann hast du gegessen?»
«Zur sechsten Stunde. Bei der
Ankunft im Tal hätte ich im Dorf etwas
177
gegessen. Doch dann habe ich mich
verirrt und die Tasche und das Geld verloren...»
«Hier, ich habe noch einige Reste
von der Mahlzeit. Ich wollte sie morgen essen. Aber nimm sie nur. Das Fasten
macht mir nichts aus.»
«Aber... wenn du wandern mußt,
wirst du deine Kräfte brauchen...»
«Oh, ich gehe nicht weit. Nur
nach Ephraim...»
«Nach Ephraim? Bist du ein
Samariter?»
«Du verachtest sie? Ich bin kein
Samariter.»
«In der Tat... du hast einen
galiläischen Akzent. Wer bist du? Warum verbirgst du mir dein Gesicht? Mußt du
dich verbergen, weil du eine Schuld auf dich geladen hast? Ich werde dich
nicht anzeigen.»
«Ich bin ein Wanderer, ich habe
es dir schon gesagt. Mein Name würde dir nichts sagen, oder zu viel. Und
überhaupt, was ist der Name? Wenn ich dir ein Gewand reiche für deine
frierenden Glieder, ein Brot gebe für deinen Hunger und vor allem meine Liebe
schenke für dein Herz, mußt du dann, um die Wohltat der trockenen Kleidung,
der Nahrung und der Liebe zu spüren, auch meinen Namen wissen? Aber wenn du
mir einen Namen geben willst, dann nenne mich "Barmherzigkeit". Ich habe
nichts Beschämendes getan, das mich zwingen würde, mich zu verbergen. Aber du
würdest mich trotzdem anzeigen, denn das Denken und Trachten deines Herzens
ist nicht gut. Und böse Gedanken führen zu bösen Taten.»
Der Mann springt auf und nähert
sich Jesus. Aber von Jesus sieht man nur die Augen, und auch diese sind von
den gesenkten Lidern verschleiert.
«Iß nur. Iß, Freund. Anderes ist
nicht zu tun.»
Der Mann kehrt zum Feuer zurück
und ißt nach und nach, ohne ein Wort zu sagen. Er ist nachdenklich geworden.
Jesus hat sich in seinem Winkel ganz zusammengekauert. Der Mann erholt sich
langsam. Die Wärme des Feuers, das Brot und das gebratene Fleisch, das Jesus
ihm gegeben hat, stimmen ihn froh. Er steht auf, reckt sich und spannt die
Kordel, die ihm als Gürtel gedient hat, zwischen einen Felsvorsprung und einen
rostigen Nagel, der von wer weiß wem und wann dort eingeschlagen wurde. Dann
hängt er das Gewand, den Mantel und die Kopfbedeckung zum Trocknen auf. Die
Sandalen stellt er, nachdem er sie ausgeschüttelt hat, direkt ans Feuer und
legt auch reichlich Reisig nach.
Jesus scheint zu schlummern. Der
Mann setzt sich nun ebenfalls und denkt nach. Dann wendet er sich um und
betrachtet den Unbekannten. Er fragt: «Schläfst du?»
Jesus antwortet: «Nein. Ich denke
nach und bete.»
«Für wen?»
«Für alle Unglücklichen aller
Art. Es gibt ihrer so viele!»
«Bist du ein Büßer ?»
«Ich bin ein Büßer. Die Erde
braucht viel Buße, damit die Schwachen Kraft erhalten, Satan zu widerstehen.»
178
«Das hast du gut gesagt. Du
sprichst wie ein Rabbi. Ich verstehe etwas davon, denn ich bin ein Sopherim.
1) Ich bin bei Rabbi Jonathan ben Uziel. Sein liebster Schüler. Und wenn der
Allerhöchste mir beisteht, werde ich ihm bald noch lieber sein. Mein Name wird
in ganz Israel gepriesen werden.»
Jesus entgegnet nichts.
Der andere steht nach einer Weile
auf und setzt sich neben Jesus. Er sagt, wobei er sich durch die Haare fährt,
die fast schon trocken sind, und auch den Bart glättet: «Höre. Du hast gesagt;
daß du nach Ephraim gehst. Gehst du nur zufällig dorthin, oder wohnst du
dort?»
«Ich wohne in Ephraim.»
«Aber du hast doch gesagt, daß du
kein Samariter bist!»
«Ich wiederhole dir, ich bin kein
Samariter.»
«Aber wer kann denn dort wohnen,
wenn nicht... Höre. Man sagt, daß der Rabbi von Nazareth, der mit dem Bann
Belegte, der Verfluchte, sich nach Ephraim zurückgezogen hat. Ist das wahr?»
«Es ist wahr. Jesus, der Gesalbte
des Herrn, ist dort.»
«Er ist nicht der Gesalbte des
Herrn! Er ist ein Betrüger! Er ist ein Gotteslästerer! Er ist ein Dämon! Er
ist die Ursache all unserer Übel. Und kein Rächer steht auf im Volk, um ihn zu
vernichten!» ruft der Mann in seinem fanatischen Haß aus.
«Hat er dir denn Böses getan, daß
du von ihm mit solchem Haß in der Stimme sprichst?»
«Mir nicht. Ich habe ihn nur
einmal kurz beim Laubhüttenfest gesehen, und in einem solchen Tumult, daß es
mir jetzt schwerfallen würde, ihn wiederzuerkennen. Denn... wenn ich auch ein
Schüler des großen Rabbi Jonathan ben Uziel bin, so bin ich doch erst seit
kurzem endgültig vom Tempel. Vorher... war es nicht möglich aus verschiedenen
Gründen, und nur, wenn der Rabbi in seinem Haus war, ließ ich mich zu seinen
Füßen nieder, um Gerechtigkeit und Bildung von ihm zu lernen. Aber du... Du
hast mich gefragt, ob ich ihn hasse, und ich habe einen verborgenen Vorwurf in
deinen Worten gehört. Bist du vielleicht ein Jünger des Nazareners?»
«Das bin ich nicht. Ab jeder, der
gerecht ist, muß den Haß verurteilen.»
«Der Haß ist heilig, wenn er
einem Feind Gottes und des Vaterlandes gilt. Der Rabbi von Nazareth ist
beides. Und heilig ist es, ihn zu bekämpfen und zu hassen.»
«Willst du den Menschen bekämpfen
oder die Idee, die er vertritt, und die Lehre, die er verbreitet?»
«Alles! Alles! Man kann nicht
eines bekämpfen, wenn man das andere
______________
1) Sopherim = Schriftgelehrter,
Gesetzeslehrer
179
verschont. Der Mensch verkörpert
seine Lehre und seine Idee. Entweder man bekämpft alles, oder es ist nutzlos.
Wenn man sich zu einer Idee bekennt, bekennt man sich zu dem Menschen, der sie
verkörpert, und zu seiner Lehre. Ich weiß es, denn ich habe mit meinem Meister
diese Erfahrung gemacht. Seine Ideen sind die meinen, und seine Wünsche sind
mir Gesetz.»
«Ein guter Jünger handelt so.
Doch muß man beurteilen können, ob der Meister gut ist. Und nur dem guten
Meister darf man nachfolgen. Denn es ist nicht erlaubt, aus Liebe zu einem
Menschen seine Seele zu verlieren.»
«Jonathan ben Uziel ist gut.»
«Nein, er ist es nicht.»
«Was sagst du da?! Mir sagst du
das? Während wir hier allein sind, könnte ich dich töten, um meinen Meister zu
rächen! Ich bin stark, weißt du?»
«Ich habe keine Angst. Ich
fürchte keine Gewalt. Ich habe keine Angst und werde mich auch nicht wehren,
wenn du mich schlagen solltest.»
«Ach, jetzt verstehe ich! Du bist
ein Jünger des Meisters, ein "Apostel". So nennt er seine getreuesten Jünger.
Und du bist wohl auf dem Weg zu ihm. Vielleicht war der, der hier bei dir
gewesen ist, auch so einer. Und womöglich erwartest du noch einen von den
Euren?»
«Ich erwarte jemanden, ja.»
«Vielleicht gar den Rabbi?»
«Ich brauche nicht auf ihn zu
warten. Er braucht mein Wort nicht, um von einem Übel geheilt zu werden. Er
hat keine kranke Seele und auch keinen kranken Körper. Ich erwarte eine arme
Seele, die vergiftet und verwirrt ist, um sie zu heilen.»
«Dann bist du ein Apostel! Es ist
bekannt, daß er sie aussendet, damit sie seine Lehre verkünden, da er Angst
hat, selbst zu gehen, seit er vom Synedrium verurteilt wurde. Daher vertrittst
du also seine Lehren! Nicht reagieren, wenn man beleidigt wird, das ist eine
seiner Lehren.»
«Es ist eine seiner Lehren, denn
er lehrt die Liebe, die Verzeihung, die Gerechtigkeit und die Sanftmut. Er
liebt die Feinde wie die Freunde, denn er sieht alles in Gott.»
«Oh! Wenn er mir begegnen würde,
wenn ich ihm, wie ich hoffe, begegnen werde, glaube ich kaum, daß er mich
lieben würde. Er wäre ein Dummkopf! Aber ich kann nicht mit dir, seinem
Apostel, reden. Und ich bedauere, daß ich gesagt habe, was ich gesagt habe. Du
wirst es ihm berichten.»
«Das ist nicht nötig. Doch in
Wahrheit sage ich dir, daß er dich lieben wird, vielmehr, daß er dich liebt,
obwohl du nach Ephraim gehst, um ihn in eine Falle zu locken und dem Synedrium
auszuliefern. Denn wer dies tut, wird eine große Belohnung erhalten.»
180
«Bist du ein Prophet oder ein
Hellseher? Hat er dir seine Macht übertragen? Bist also auch du ein
Verfluchter? Und ich habe dein Brot, dein Gewand und deine Freundschaft
angenommen?! Es steht geschrieben: "Du sollst deine Hand nicht gegen deinen
Wohltäter erheben." Du hast mir Wohltaten erwiesen! Vielleicht, weil du
wußtest, daß ich... Vielleicht, um mich daran zu hindern, zu handeln. Aber
wenn ich auch dich verschone, weil du mir Brot, Salz, Feuer und dein Gewand
gegeben hast, und ich gegen die Gerechtigkeit fehlen würde, wenn ich dir etwas
antäte, so werde ich doch deinen Rabbi nicht verschonen. Denn diesen kenne ich
nicht, und er hat mir nicht Gutes, sondern Böses getan!»
«Oh, Unglücklicher! Merkst du
denn nicht, daß du irre redest? Wie kann dir jemand, den du nicht kennst,
etwas Böses angetan haben? Wie kannst du den Sabbat heiligen, wenn du das
Gebot: "Du sollst nicht töten" nicht befolgst?»
«Ich töte nicht.»
«Nicht direkt. Aber es gibt
keinen Unterschied zwischen dem Mörder und dem, der das Opfer dem Mörder
überliefert. Du achtest das Wort eines Menschen, der sagt, daß du dem nicht
schaden sollst, der dir Gutes getan hat, aber du befolgst nicht das Gebot
Gottes. Und arglistig, für eine Handvoll Geld und für ein wenig Ehre, die
schmutzige Ehre, einen Unschuldigen verraten zu haben, gibst du dich zu einem
Verbrechen her... !»
«Ich tue es nicht allein wegen
des Geldes und der Ehre, sondern um eine Jahwe wohlgefällige und dem Vaterland
heilsame Tat zu vollbringen. Ich tue nur, was Jael und Judith getan haben.» Er
ist fanatischer denn je.
«Sisera und Holophernes waren
Feinde unseres Vaterlandes. Sie waren Invasoren. Aber was ist der Rabbi von
Nazareth? Wen überfällt er? Wen unterdrückt er? Er ist arm und will keine
Reichtümer. Er ist demütig und sucht keine Ehre. Er ist gut, zu allen.
Tausenden hat er Wohltaten erwiesen. Warum haßt ihr ihn? Warum haßt du ihn? Es
ist dir nicht erlaubt, deinem Nächsten zu schaden. Du dienst dem Synedrium.
Aber wird das Synedrium dich im anderen Leben richten, oder Gott? Und wie wird
er dich richten? Ich sage nicht: wie wird er dich als Mörder des Christus
richten, sondern ich sage: wie wird er dich als Mörder eines Unschuldigen
richten? Du glaubst nicht, daß der Rabbi von Nazareth der Christus ist, und
weil du das nicht glaubst, wird er dich dieses Verbrechens nicht beschuldigen.
Gott ist gerecht und bestraft nicht eine Schuld, eine Tat, die nicht ganz
bewußt begangen wurde. Er wird dich daher nicht verurteilen, weil du Christus
getötet hast, denn für dich ist Jesus von Nazareth nicht der Christus. Aber
Gott wird dich anklagen, einen Unschuldigen getötet zu haben. Denn du weißt,
daß er unschuldig ist. Man hat dich vergiftet, trunken gemacht mit Worten des
Hasses. Aber nicht so sehr, daß du nicht mehr begreifen kannst, daß er
unschuldig ist. Seine Werke sprechen für ihn. In eurer Angst – mehr die Angst
der Lehrer als die der
181
Schüler fürchtet und seht ihr,
was nicht ist. Es ist die Angst derer, die fürchten, von ihm verdrängt zu
werden. Fürchtet euch nicht. Er öffnet euch die Arme und sagt: "Brüder!" Er
sendet keine Bewaffneten gegen euch aus. Er verflucht euch nicht. Er möchte
euch nur retten. Euch, die Großen und die Schüler der Großen, so wie er auch
den Geringsten in Israel retten will. Euch mehr als den Geringsten in Israel,
mehr als das Kind, das noch nicht weiß, was Haß und Liebe ist. Denn ihr habt
es nötiger als die Unwissenden und die Kinder, da ihr wißt und wissend
sündigt. Wenn du dein Gewissen als Mensch reinigst von den Ideen, mit denen
sie dich gefüttert haben, wenn du es reinigst von dem Gift, das dich betäubt,
wird es dir dann noch bestätigen, daß er schuldig ist? Sage es mir! Sei
ehrlich. Hast du ihn vielleicht einmal das Gesetz übertreten sehen, oder hast
du gesehen, wie er jemandem angeraten hat, das Gesetz zu übertreten? Hast du
ihn jemals streitsüchtig, habgierig, lasterhaft, verleumderisch, hartherzig
gesehen? Sprich! Hast du ihn vielleicht unehrerbietig gegenüber dem Synedrium
gesehen? Er ist gleich einem Verbannten, um dem Spruch des Synedriums zu
gehorchen. Er könnte einen Aufruf ergehen lassen, und ganz Palästina würde ihm
folgen und gegen die wenigen, die ihn hassen, marschieren. Doch stattdessen
rät er seinen Jüngern zu Frieden und Verzeihung. Er könnte – so wie er den
Toten das Leben, den Blinden das Augenlicht, den Lahmen die Beweglichkeit, den
Tauben das Gehör wiedergibt und die Besessenen von den Dämonen befreit, da
weder Himmel noch Hölle seinem Willen widerstehen – er könnte euch mit dem
göttlichen Blitz erschlagen und sich so von seinen Feinden befreien. Doch
stattdessen betet er für euch und heilt eure Verwandten, heilt eure Herzen,
gibt euch Brot, Kleidung und Feuer. Denn ich bin Jesus von Nazareth, der
Christus, der, den du suchst, um das demjenigen, der ihn dem Synedrium
ausliefert, versprochene Kopfgeld zu erhalten und als Befreier Israels
gefeiert zu werden. Ich bin Jesus von Nazareth, der Christus. Hier bin ich.
Nimm mich also fest. Als Meister und als Sohn Gottes befreie ich dich von der
Verpflichtung, die Hand nicht gegen den zu erheben, der dir Gutes getan hat,
und spreche dich los von der Sünde, es getan zu haben.»
Jesus ist aufgestanden und hat
dabei den Mantel vom Kopf gleiten lassen. Er streckt nun die Arme aus, um sich
festnehmen und fesseln zu lassen. Aber so, hochgewachsen und gerade – und er
scheint noch schlanker, nur in seinem kurzen, eng anliegenden Untergewand und
dem dunklen Mantel, der ihm von den Schultern hängt – die Augen fest auf
seinen Verfolger gerichtet, während die tanzenden Flammen helle Lichter in
seinem wallenden Haar entzünden und seine großen Pupillen im saphirenen Rund
der Iris glänzen lassen; so majestätisch, treu und furchtlos flößt er mehr
Respekt ein, als wenn ein ganzes Heer ihn zu seinem Schutz umgäbe.
182
Der Mann ist fasziniert, gelähmt
vor Staunen. Erst nach einer Weile gelingt es ihm zu flüstern: «Du! Du! Du!»
Er scheint kein anderes Wort herauszubringen.
Jesus besteht darauf: «Nimm mich
also fest. Löse den unnützen Strick den du dort gespannt hast, um ein
zerrissenes, schmutziges Gewand aufzuhängen, und feßle meine Hände. Ich werde
dir folgen, wie ein Lamm seinem Schlächter folgt. Und ich werde dich nicht
hassen, weil du mich zum Tod führst. Ich habe es dir schon gesagt. Der Zweck
rechtfertigt die Tat und ändert ihr Wesen. Für dich bin ich der Ruin Israels,
und du glaubst Israel zu retten, wenn du mich tötest. Für dich bin ich
jeglichen Verbrechens schuldig, und du dienst daher der Gerechtigkeit, wenn du
einen Übeltäter unschädlich machst. Du bist also nicht schuldiger als ein
Henker, der einen erhaltenen Befehl ausführt. Willst du mich gleich hier
opfern? Hier, zu meinen Füßen liegt das Messer, mit dem ich dir das Brot und
das Fleisch geschnitten habe. Nimm es. Die Klinge, die der Nächstenliebe
gedient hat, wird sich in ein Opfermesser verwandeln. Mein Fleisch ist nicht
härter als das Fleisch des gebratenen Lammes, das mein Freund für meinen
Hunger hier gelassen hat und das ich dir, meinem Feind, gegeben habe, damit du
deinen Hunger stillen konntest. Aber du fürchtest die römischen Patrouillen.
Sie nehmen die Mörder Unschuldiger fest. Sie erlauben nicht, daß wir Recht
sprechen. Denn wir sind die Unterworfenen und sie die Beherrscher. Daher wagst
du nicht, mich zu töten und zu denen zu gehen, die dich geschickt haben, das
geschlachtete Lamm auf den Schultern gleich einer Ware, mit der man Geld
verdient. Laß also meinen Leichnam hier und benachrichtige deine Auftraggeber.
Denn du bist kein Schüler, sondern ein Sklave; du hast auf die königliche
Freiheit des Geistes und des Willens verzichtet, die selbst Gott den Menschen
läßt, und dienst, sklavisch dienst du deinen Auftraggebern. Bis zum Verbrechen
dienst du ihnen. Doch du bist nicht schuldig. Du bist "vergiftet". Du bist die
vergiftete Seele, auf die ich gewartet habe. Auf, also! Die Nacht und der Ort
sind für das Verbrechen geeignet. Ich müßte richtig sagen: für die Erlösung
Israels. Oh! Armer Junge! Du sprichst prophetische Worte, ohne es zu wissen!
Wahrlich, mein Tod wird Erlösung sein, und nicht allein für Israel, sondern
für die ganze Menschheit. Ich bin gekommen, um geopfert zu werden. Ich brenne
darauf, geopfert zu werden, um der Erlöser zu sein. Für alle. Du, Sopherim des
gelehrten Jonathan ben Uziel, kennst gewiß Isaias. Sieh, der Mann der
Schmerzen steht vor dir. Und wenn ich ihm nicht gleiche, wenn ich dem nicht
gleiche, den auch David gesehen hat, mit den entblößten und zerschlagenen
Gebeinen, wenn ich nicht der Aussätzige bin, den Isaias gesehen hat, dann nur,
weil ihr mein Herz nicht seht. Ich bin eine einzige Wunde. Eure Lieblosigkeit,
euer Haß, eure Härte und Ungerechtigkeit haben mich verwundet und gemartert.
Habe ich nicht das Antlitz verborgen, als du mich geschmäht hast als den,
183
der ich wahrhaftig bin: das Wort
Gottes, der Christus? Aber ich bin der Mensch, der ans Leiden gewöhnt ist!
Haltet ihr mich denn nicht für einen von Gott Geschlagenen? Opfere ich mich
nicht, weil ich mich opfern will, um durch mein Opfer euch zu heilen? Auf!
Schlag zu! Schau, ich fürchte mich nicht, und auch du sollst dich nicht
fürchten. Denn ich bin der Unschuldige und fürchte das Gericht Gottes nicht;
und wenn ich meinen Hals deinem Messer darbiete, erfülle ich damit den Willen
Gottes und ziehe nur meine Stunde etwas vor, zu eurem Wohl. Auch die Stunde
meiner Geburt habe ich aus Liebe zu euch vorverlegt, um euch früher die Zeit
des Friedens zu schenken. Aber ihr macht aus dieser meiner liebenden Sorge
eine Waffe der Verneinung... Keine Angst! Ich rufe weder die Strafe Kains noch
die Blitze Gottes auf dich herab. Ich bete für dich. Ich liebe dich. Sonst
nichts. Bin ich zu groß für deine Menschenhand? Ja, so ist es! Der Mensch
könnte Gott nicht schlagen, wenn Gott sich nicht freiwillig in die Hände des
Menschen geben würde. So werde ich also vor dir niederknien. Der Menschensohn
kniet zu deinen Füßen. Töte ihn also!»
Jesus ist tatsächlich
niedergekniet und reicht seinem Verfolger das Messer, das er an der Klinge
hält. Doch der Mann weicht zurück und murmelt: «Nein! Nein!»
«Auf! Nur einen Augenblick des
Mutes... und du wirst bekannter sein als Jael und Judith. Sieh, ich bete für
dich. Isaias sagt es: "... und er betete für die Sünder." Du kommst noch
nicht? Warum weichst du zurück? Ah! Vielleicht fürchtest du, nicht zu sehen,
wie ein Gott stirbt. Nun, ich komme zum Feuer. Das Feuer fehlt bei einem Opfer
nie. Es gehört dazu. Nun siehst du mich gut.» Jesus ist beim Feuer
niedergekniet.
«Schau mich nicht an! Schau mich
nicht an! Oh! Wohin soll ich fliehen, um deinen Blick nicht sehen zu müssen?»
schreit der Mann.
«Wen? Wen und was willst du nicht
sehen?»
«Dich... und mein Verbrechen.
Wahrlich, meine Schuld steht mir vor Augen! Wohin, wohin soll ich fliehen?»
Der Mann ist außer sich vor Entsetzen.
«An mein Herz, Sohn! Hier, in
diesen Armen, hören die Schrecken und Ängste auf. Hier ist Frieden. Komm!
Komm! Mache mich glücklich!» Jesus ist aufgestanden und streckt ihm die Arme
entgegen. Zwischen beiden ist das Feuer. Jesus erstrahlt im Widerschein der
Flammen.
Der Mann fällt auf die Knie,
bedeckt sein Antlitz und schreit: «Habe Mitleid mit mir, o Gott! Erbarme dich
meiner! Tilge meine Sünde! Ich wollte deinen Christus töten! Barmherzigkeit!
Ach, es kann keine Barmherzigkeit geben für ein solches Verbrechen! Ich bin
verflucht!» Er weint, das Gesicht am Boden, von Schluchzen geschüttelt, und
stöhnt: «Barmherzigkeit!» und verwünscht: «Verfluchte!»
Jesus geht um das Feuer herum,
neigt sich zu ihm, berührt seinen Kopf und sagt: «Verfluche sie nicht, die
dich auf Abwege geführt haben, denn
184
sie haben dir die größte Wohltat
verschafft: Daß ich zu dir spreche. Siehst du. Daß ich dich nun so in meinen
Armen halte.»
Jesus hat den Mann an den
Schultern gefaßt, ihn aufgerichtet, sich selbst auf den Boden gesetzt und ihn
an sein Herz gezogen. Das Weinen des Mannes ist nun weniger verzweifelt, aber
so reinigend! Jesus streichelt ihm das dunkle Haar und wartet, bis er sich
beruhigt.
Schließlich hebt der Mann den
Kopf und stöhnt: «Verzeihe mir!» Sein Antlitz ist wie verwandelt.
Jesus neigt sich zu ihm und küßt
ihn auf die Stirn. Der Mann wirft ihm die Arme um den Hals, legt seinen Kopf
auf die Schulter Jesu, weint und will erzählen. Er will berichten, wie man ihm
das Verbrechen suggeriert hat. Aber Jesus verbietet es ihm mit den Worten:
«Schweige! Schweige! Ich weiß alles. Als du hereingekommen bist, habe ich dich
als den erkannt, der du bist, und wußte, was du im Begriff warst zu tun. Ich
hätte weggehen und dir entfliehen können. Doch ich bin geblieben, um dich zu
retten. Du bist gerettet. Die Vergangenheit ist tot. Denk nicht mehr daran.»
«Und... du traust mir? Und wenn
ich wieder sündigen würde?»
«Nein, du wirst nicht mehr
sündigen. Ich weiß es. Du bist geheilt.»
«Ja, ich bin es. Doch die anderen
sind so verschlagen. Schicke mich nicht zu ihnen zurück.»
«Wohin willst du gehen, wo sie
nicht sind?»
«Mit dir. Nach Ephraim. Wenn du
in meinem Herzen liest, wirst du sehen, daß es keine Falle ist, die ich dir
stelle, sondern nur die Bitte um Schutz.
«Ich weiß es. Komm. Doch ich
mache dich darauf aufmerksam, daß Judas von Kerioth dort ist, der sich an das
Synedrium verkauft hat und der Verräter des Christus ist.»
«Göttliche Barmherzigkeit! Auch
das weißt du?» Die Überraschung hat ihren Höhepunkt erreicht.
«Ich weiß alles. Er meint, ich
wüßte nichts. Aber ich weiß alles. Und ich weiß auch, daß du ganz bekehrt bist
und nicht mit Judas oder einem anderen wie ihm sprechen wirst. Aber bedenke:
Wenn Judas seinen Meister verraten kann, was wird er dann nicht erst tun, um
dir zu schaden?»
Der Mann denkt lange nach. Dann
sagt er: «Das macht nichts! Wenn du mich nicht fortschickst, bleibe ich bei
dir. Wenigstens einige Zeit. Bis Passah. Bis du dich mit deinen Jüngern
triffst. Dann werde ich mich ihnen anschließen. Oh, wenn es wahr ist, daß du
mir verziehen hast, dann schicke mich nicht fort!»
«Ich schicke dich nicht fort. Nun
wollen wir zu dem Blätterhaufen dort gehen und den Morgen abwarten. Bei
Sonnenaufgang gehen wir nach Ephraim. Wir werden sagen, daß der Zufall uns
zusammengeführt hat und daß du nun zu uns gehörst. Das ist die Wahrheit.»
«Ja, es ist die Wahrheit. Am
Morgen werden meine Kleider trocken sein, und ich werde dir dein Gewand
zurückgeben.»
185
«Nein... Laß die Kleider hier.
Sie sind ein Symbol. Der Mann, der seine Vergangenheit ablegt und das neue
Gewand anlegt. In der alten Zeit sang die Mutter des Samuel in ihrer Freude:
"Der Herr macht tot und lebendig, er führt ins Totenreich hinab und herauf."
Du bist gestorben und zu neuem Leben erstanden. Du kommst vom Reich der Toten
zum wahren Leben. Laß die Kleider, die die Gräber voller Unrat berührt haben.
Und lebe! Lebe für deine wahre Ehre: Gott in Gerechtigkeit zu dienen und ihn
auf ewig zu besitzen.»
Sie setzen sich in die Nische, in
der die Blätter aufgehäuft sind, und bald wird es still. Denn der Mann schläft
ein, den müden Kopf an den Arm Jesu gelehnt; und dieser betet wieder.
... Ein schöner Frühlingstag ist
angebrochen, als sie auf dem Weg entlang dem Bach vor dem Haus der Maria des
Jakob ankommen. Der Bach wird nach dem Wolkenbruch nun wieder klar und das
angestiegene Wasser läßt ihn viel lauter rauschen. Er glitzert in der Sonne
zwischen den noch regennassen Ufern.
Petrus, der an der Tür steht,
schreit auf und läuft ihnen entgegen. Er stürzt sich auf Jesus, der sich ganz
in seinen Mantel gehüllt hat, um ihn zu umarmen, und sagt: «Oh, mein
gesegneter Meister! Welch traurigen Sabbat hast du mich verbringen lassen! Ich
konnte mich nicht entschließen, wieder aufzubrechen, ohne dich vorher gesehen
zu haben. Es wäre mir die ganze Woche nichts Rechtes eingefallen, wenn ich mit
der Ungewißheit im Herzen und ohne deinen Abschiedsgruß hätte gehen müssen.»
Jesus küßt ihn, ohne den Mantel
abzulegen. Petrus ist so in die Betrachtung seines Meisters vertieft, daß er
den Fremden, der ihn begleitet, gar nicht bemerkt. Doch inzwischen sind auch
die anderen herbeigelaufen, und Judas von Kerioth schreit: «Du, Samuel!»
«Ich. Das Reich Gottes steht
allen in Israel offen. Ich habe es betreten», sagt der Mann bestimmt.
Judas lacht, ein sonderbares
Lachen, sagt aber nichts.
Die Aufmerksamkeit aller wendet
sich nun dem Neuankömmling zu, und Petrus will wissen: «Wer ist das?»
«Ein neuer Jünger. Wir sind uns
zufällig begegnet, das heißt, Gott hat uns zusammentreffen lassen, und ich
habe ihn als einen von meinem Vater Gesandten aufgenommen. Und ihr sollt es
ebenso machen. Und da es eine große Freude ist, wenn jemand Anteil am großen
Reich des Himmels erhält, legt Taschen und Mäntel ab, ihr, die ihr zur Abreise
bereit seid. Wir wollen bis morgen beisammen bleiben. Nun laß mich gehen,
Simon; denn ich habe ihm mein Gewand gegeben, und die Morgenluft ist beißend
kalt, wenn ich hier stehenbleibe.»
«Ach, es ist mir gleich so
vorgekommen! Du wirst krank werden, Meister, wenn du solche Sachen machst!»
186
«Ich wollte nicht, aber er
wollte», entschuldigt sich der Mann.
«Ja, er wurde von einem Erdrutsch
erfaßt und konnte sich durch seinen Willen retten. Damit die Erinnerung an den
schrecklichen Augenblick ihn nicht weiter belastet und er ohne Unreinheit zu
uns kommt, habe ich darauf bestanden, daß er seine schmutzigen, zerrissenen
Kleider dort zurückläßt, wo wir uns begegnet sind, und habe ihn mit meinem
Gewand bekleidet», sagt Jesus und schaut Judas Iskariot an, der wieder so
eigenartig lacht wie am Anfang und als Jesus sagte, daß es eine große Freude
sei, wenn jemand Anteil am Himmelreich erhält. Dann geht Jesus rasch ins Haus,
um sich umzukleiden.
Die anderen umringen den
Neuankömmling und heißen ihn mit dem Friedensgruß willkommen.
617. WAS IN GALILÄA UND BESONDERS
IN NAZARETH GESCHIEHT
«Und ich sage euch, ihr seid alle
töricht, solche Dinge zu glauben. Töricht seid ihr und unwissender als die
Eunuchen, die nicht einmal die Regeln des Instinktes kennen, verstümmelt wie
sie sind. Durch die Stadt laufen Männer, die dem Meister fluchen, und andere
bringen Befehle, die unmöglich, weiß Gott, unmöglich von ihm stammen können!
Ihr kennt ihn nicht. Aber ich kenne ihn. Und ich kann nicht glauben, daß er
sich so verändert hat. Sollen sie herumlaufen! Ihr sagt, sie seien seine
Jünger? Wer hat sie denn jemals bei ihm gesehen? Ihr sagt, die Rabbis und die
Pharisäer hätten seine Sünden aufgezählt? Und wer hat sie gesehen, seine
Sünden? Habt ihr ihn je über schmutzige Dinge reden gehört, ihn? Habt ihr ihn
je bei einer Sünde ertappt? Also! Und glaubt ihr, daß Gott ihn so große Werke
vollbringen ließe, wenn er ein Sünder wäre? Dumm, sage ich, dumm seid ihr,
schwer von Begriff und töricht wie Bauern, die zum erstenmal einen Komödianten
auf dem Marktplatz sehen und alles für wahr halten, was er ihnen vorspielt! So
seid ihr. Seht ob die, die weise sind und einen wachen Verstand haben, sich
von den Worten der falschen Jünger verführen lassen, von den wahren Feinden
des Unschuldigen, unseres Jesus, den ihr nicht als Sohn der Stadt verdient!
Seht, ob Johanna des Chuza – he! aber was sage ich! – die Frau des Verwalters
des Herodes, die Prinzessin Johanna, sich von Maria abwendet! Seht, ob... Ist
es überhaupt gut, daß ich es euch sage? Aber ja! Es ist gut, denn ich sage es
nicht, um nur zu reden, sondern um euch alle zu überzeugen. Habt ihr im
vergangenen Monat den prächtigen Wagen gesehen, der ins Dorf gekommen ist und
vor dem Haus Marias gehalten hat? Könnt ihr euch noch daran erinnern? Der
Wagen, der einen Vorhang hatte, so schön wie ein
187
Palast ... Und wißt ihr, wer
darin saß und dann ausgestiegen ist, um sich vor Maria niederzuwerfen?
Lazarus, der Sohn des Theophilus, Lazarus von Bethanien, versteht ihr? Der
Sohn der höchsten Amtsperson von Syrien, des vornehmen Theophilus, der mit
Eucheria vom Stamm Juda aus dem Geschlecht Davids vermählt war! Der gute
Freund Jesu. Lazarus, der reichste und gelehrteste Mann in Israel, sowohl was
unsere Geschichte betrifft, als auch die der ganzen Welt. Der Freund der
Römer. Der Wohltäter aller Armen. Und endlich der Mann, der von den Toten
auferweckt wurde, nachdem er vier Tage im Grab gelegen hatte. Hat Lazarus sich
vielleicht von Jesus abgewandt und dem Synedrium recht gegeben? Ihr sagt, daß
er ihm treu geblieben ist, weil Jesus ihn auferweckt hat. O nein, nicht
deshalb, sondern weil er genau weiß, wer Christus, wer Jesus ist. Und wißt
ihr, was er zu Maria gesagt hat? Daß sie sich bereit halten solle, denn er
würde sie nach Judäa begleiten. Versteht ihr? Er! Lazarus! Als ob er der
Diener Marias wäre! Ich weiß es, denn ich war dort, als er hereinkam und sich
zu ihren Füßen niederwarf, auf die einfachen Ziegelsteine des Kämmerchens. Er,
gekleidet wie Salomon, an Teppiche gewöhnt, dort am Boden, um den Saum des
Kleides unserer Frau zu küssen und ihr zu sagen: "Ich grüße dich, o Maria,
Mutter meines Herrn. Ich, dein Diener, der letzte der Diener deines Sohnes,
komme, um dir von ihm zu erzählen und deinen Befehlen zu gehorchen." Versteht
ihr? Ich... ich war so gerührt... und als er auch mich grüßte und mich "Bruder
im Herrn" nannte, da hat es mir die Sprache verschlagen. Kein Wort habe ich
mehr herausgebracht. Doch Lazarus hat verstanden, denn er ist intelligent. Er
hat im Bett des Joseph geschlafen und die Diener nach Sephoris
vorausgeschickt, damit sie ihn dort erwarten. Denn er war auf dem Weg zu
seinen Besitzungen in Antiochia. Und er forderte die Frauen auf, sich
bereitzuhalten, da er am Ende des Monats wieder vorbeikommen und sie mitnehmen
würde, um ihnen die Mühen der Reise zu ersparen. Und Johanna wird sich mit
ihrem Wagen der Karawane anschließen, um die Jüngerinnen von Kapharnaum und
Bethsaida mitzunehmen. Und all dies sagt euch nichts?»
Endlich holt der gute Alphäus der
Sara wieder Luft. Er steht mitten auf dem Platz und ist von einer Gruppe
umringt. Aser und Ismael, sowie die beiden Vettern Jesu, Simon und Joseph –
Simon offener und Joseph zurückhaltender – helfen ihm und stimmen ihm in allem
zu.
Joseph sagt: «Jesus ist kein
Bastard. Wenn er etwas mitteilen will, so hat er hier genügend Verwandte, die
bereit sind, seine Botschafter zu sein. Er hat getreue und einflußreiche
Jünger wie Lazarus. Lazarus hat nichts von dem gesagt, was die anderen
erzählen.»
«Und er hat auch uns. Zuerst
waren wir Eseltreiber und sogar Esel, wie unsere Vierbeiner. Aber nun sind wir
seine Jünger, und auch wir sind imstande zu sagen: "Tut dies oder jenes"»,
bemerkt Ismael.
188
«Aber die Verurteilung, die dort
an der Türe der Synagoge angeschlagen ist, wurde von einem Boten des
Synedriums gebracht, und sie trägt den Stempel des Tempels», wenden manche
ein.
«Das ist wahr. Aber was macht
das? Wir sind in ganz Israel dafür bekannt, daß wir das Synedrium als das
kennen, was es wirklich ist, und wir werden dafür verachtet, als ob nicht viel
Gutes an uns wäre. Sollen wir ausgerechnet hierin den Tempel für weise halten?
Kennen wir denn die Schriftgelehrten, die Pharisäer und die Oberhäupter der
Priesterschaft nicht mehr?» entgegnet Alphäus.
«Das ist wahr. Alphäus hat recht.
Ich habe beschlossen, nach Jerusalern zu gehen, um von den wahren Freunden zu
erfahren, wie die Dinge stehen. Gleich morgen werde ich aufbrechen», sagt
Joseph des Alphäus.
«Und wirst du dort bleiben?»
«Nein, ich werde zurückkommen,
und dann an Passah wieder hinaufgehen. Ich kann nicht lange von zu Hause
fortbleiben. Es ist eine Mühe, die ich auf mich nehme. Ich bin das Haupt der
Familie, und ich bin auch dafür verantwortlich, daß Jesus in Judäa war. Ich
habe darauf bestanden, daß er hingeht. Der Mensch kann in seinem Urteil irren.
Ich habe geglaubt, es wäre gut für ihn. Stattdessen... Gott möge mir
verzeihen! Aber ich muß wenigstens aus der Nähe die Folgen meines Rates
beobachten, um meinem Bruder zu helfen», sagt in seiner langsamen und
würdevollen Sprechweise Joseph des Alphäus.
«Früher hast du nicht so geredet.
Aber auch dich hat die Freundschaft der Großen verführt. Dein Blick ist
umnebelt», sagt ein Nazarener.
«Nicht die Freundschaft der
Großen verführt mich, Eliachim. Es ist das Verhalten meines Bruders, das mich
überzeugt. Wenn ich gefehlt habe und jetzt mein Unrecht einsehe, so zeige ich
damit, daß ich ein gerechter Mensch bin. Denn irren ist menschlich, aber
Starrsinn ist tierisch.»
«Und du meinst, daß Lazarus
wirklich kommen wird? Oh, wir wollen ihn sehen! Wie ist einer, der von den
Toten zurückkehrt? Er wird verträumt sein, wie erschreckt. Was sagt er von
seinem Aufenthalt bei den Toten?» wird Alphäus der Sara von mehreren Seiten
gefragt.
«Er ist wie ich und ihr! Heiter,
lebhaft, ruhig... Er spricht nicht vom Jenseits. Es ist, als ob er sich nicht
erinnern würde. Aber er erinnert sich an seinen Todeskampf.»
«Warum hast du es uns denn nicht
wissen lassen, daß er im Dorf war?»
«Nun, ihr hättet sicher das Haus
überfallen. Auch ich habe mich zurückgezogen. Etwas Anstand ist immer
angebracht, nicht wahr?»
«Aber wenn er zurückkommt, werden
wir ihn doch sehen können? Sage uns Bescheid. Du wirst ja, wie üblich, der
Hüter des Hauses Marias sein.»
«Gewiß! Ich habe das Glück, in
ihrer Nähe zu sein. Aber ich werde niemandem Bescheid sagen. Kümmert euch
selbst darum. Den Wagen sieht
189
man ja, und Nazareth ist nicht
Antiochia und nicht einmal Jerusalem, daß ein so großes Gefährt unbemerkt
bleiben könnte. Stellt eine Wache auf... helft euch selbst. Aber das ist nicht
wichtig. Sorgt vielmehr dafür, daß wenigstens seine Stadt nicht als töricht
angesehen wird, weil sie den Worten der Feinde unseres Jesus glaubt. Glaubt
ihnen nicht, glaubt nicht! Keinem, der ihn einen Satan nennt, und keinem, der
euch in seinem Namen aufwiegelt. Eines Tages würdet ihr es bereuen. Wenn dann
das übrige Galiläa in die Falle geht und die Unwahrheiten glaubt, dann ist das
seine Sache. Lebt wohl. Ich gehe jetzt, denn es wird Abend...» Und er geht
zufrieden fort, weil er Jesus verteidigt hat.
Die anderen bleiben und
diskutieren weiter. Und obgleich sie in zwei Lager geteilt sind und das
größere leider das der Leichtgläubigen ist, gelingt es den wenigen Freunden
des Christus doch, ihren Vorschlag durchzusetzen: man wird abwarten, nichts
unternehmen, die Verleumdung erst dann glauben und die Aufforderung zur
Rebellion erst dann annehmen, wenn auch die anderen Städte in Galiläa es tun.
«Denn diese, schlauer als Nazareth, lachen dem falschen Boten ins Gesicht»,
sagt der Jünger Aser.
618. WAS IN SAMARIA UND BEI DEN
RÖMERINNEN GESCHIEHT
Das junge Grün der Bäume, die in
doppelter Reihe entlang den Hausmauern die vier Seiten des Hauptplatzes von
Sichern säumen und eine Art Galerie bilden, sorgt für eine frühlingshafte
Note. Die Sonne spielt mit den zarten Blättern der Platanen und zeichnet eine
Stickerei von Licht und Schatten auf den Boden. Der Brunnen in der Mitte des
Platzes gleicht einer Silberplatte im Sonnenschein.
Leute stehen hier und da in
Gruppen herum und besprechen ihre Angelegenheiten. Nun betreten einige Männer,
allem Anschein nach Fremde, den Platz, blicken um sich und gehen dann auf die
am nächsten stehende Gruppe zu. Alle fragen sich, wer diese Männer wohl sind.
Sie grüßen und werden gegrüßt... mit Verwunderung. Doch als sie sagen: «Wir
sind Jünger des Meisters von Nazareth», verfliegt jedes Mißtrauen, und einige
entfernen sich, um den anderen Gruppen Bescheid zu geben, während die
Dagebliebenen fragen: «Ist er es, der euch schickt?»
«Er ist es. Eine sehr geheime
Mission. Der Rabbi ist in großer Gefahr. Niemand liebt ihn mehr in Israel, und
er, der so gut ist, bittet, daß wenigstens ihr ihm treu bleibt.»
«Aber das wollen wir ja! Was
sollen wir tun? Was will er von uns?»
«Oh, er will nur Liebe. Denn er
vertraut zu sehr auf den Schutz Gottes. Und das bei all dem, was man in Israel
sagt! Wißt ihr denn nicht, daß
190
man ihn anklagt, mit dem Teufel
im Bund zu stehen und einen Aufstand vorzubereiten? Wißt ihr, was das
bedeutet? Repressalien der Römer, gegen uns alle. Wir, die wir schon so
unglücklich sind, sollen noch mehr geschlagen werden! Und gleichzeitig werden
wir von den Heiligen unseres Tempels verurteilt! Gewiß werden die Römer...
Auch zu eurem Besten solltet ihr handeln, ihn überzeugen, daß er sich
verteidigen muß; ihr müßt ihn verteidigen und es beinahe, nein, nicht nur
beinahe, unmöglich machen, daß er gefangengenommen wird und uns schadet, ohne
es zu wollen. Ihr müßt ihn überreden, sich auf den Garizim zurückzuziehen.
Dort, wo er sich jetzt befindet, ist er noch zu sehr im Licht der
Öffentlichkeit und kann weder den Zorn des Synedriums noch den Argwohn der
Römer besänftigen. Der Garizim bietet Asyl. Es ist sinnlos, wenn wir es ihm
sagen. Wenn wir es ihm sagen, wird er uns fluchen, weil wir ihm zur Feigheit
raten. Aber es ist nicht so. Es ist nur Liebe und Klugheit. Wir können nicht
sprechen. Aber ihr könnt es! Er liebt euch. Er hat schon eure Gegend allen
anderen vorgezogen. Bereitet euch also darauf vor, ihn aufzunehmen. Dann
werdet ihr wenigstens mit Sicherheit wissen, ob er euch liebt oder nicht.
Sollte er eure Hilfe ablehnen, wäre das ein Zeichen dafür, daß er euch nicht
liebt, und dann wäre es auch besser, wenn er anderswo hinginge; denn, glaubt
uns – wir sagen es mit Schmerzen, da wir ihn lieben: seine Anwesenheit ist
eine Gefahr für jene, die ihm Gastfreundschaft gewähren. Ihr seid die Besten
von allen und achtet der Gefahren nicht. Aber es ist nur gerecht, daß ihr das
Risiko römischer Repressalien erst dann auf euch nehmt, wenn ihr eure Liebe
erwidert seht. Wir geben euch diese Ratschläge zum Wohl aller.»
«Ihr habt recht. Wir werden tun,
was ihr sagt. Wir werden zu ihm gehen ...»
«Oh, seid vorsichtig! Er darf
nicht merken, daß wir euch überredet haben!»
«Keine Sorge! Fürchtet nicht. Wir
wissen schon, wie wir es anstellen werden. Sicher! Wir werden beweisen, daß
die verachteten Samariter hundert, ja tausend Juden und Galiläer aufwiegen,
wenn es darum geht, Christus zu verteidigen. Kommt in unsere Häuser, ihr Boten
des Herrn. Es wird sein, wie wenn er selbst käme! Schon so lange sehnt sich
Samaria danach, von den Dienern Gottes geliebt zu werden!»
Sie entfernen sich. In ihrer
Mitte führen sie wie im Triumph die Männer – ich irre mich sicher nicht, wenn
ich glaube, daß sie vom Synedrium geschickt sind – und sagen: «Wir sehen, daß
er uns liebt, denn es ist in wenigen Tagen schon die zweite Gruppe von
Jüngern, die er uns schickt. Wir haben gut daran getan, zu der ersten
freundlich zu sein. Und es ist auch recht, ihn zu lieben, wegen der kleinen
Kinder der toten Frau! Er kennt uns jetzt...»
Sie gehen glücklich fort.
191
Ganz Ephraim ist auf den Straßen,
um dem ungewöhnlichen Schauspiel einer Kolonne römischer Wagen, die durch das
Land zieht, beizuwohnen. Es sind viele Wagen und von Sklaven begleitete
geschlossene Sänften, denen Legionäre vorausgehen und nachfolgen. Die Leute
verständigen sich durch Zeichen und flüstern miteinander. Der Zug, der nun die
Straße erreicht hat, die nach Bethel und Rama abzweigt, teilt sich in zwei
Teile. Ein Wagen und eine Sänfte bleiben mit einer Eskorte von Bewaffneten
zurück, während die übrigen weiterziehen. Die Vorhänge der Sänfte öffnen sich
einen Augenblick, und eine weiße, juwelengeschmückte Frauenhand gibt dem
Aufseher der Sklaven ein Zeichen heranzukommen. Der Mann gehorcht schweigend
und hört zu. Dann nähert er sich einer Gruppe neugieriger Frauen und fragt:
«Wo ist der Rabbi von Nazareth ?»
«In dem Haus dort. Aber um diese
Zeit ist er gewöhnlich am Bach. Dort bei den Weiden, wo die Pappel steht, ist
eine kleine Insel. Auf dieser verbringt er oft ganze Tage im Gebet...»
Der Mann kommt zurück und
berichtet. Die Sänfte setzt sich wieder in Bewegung. Der Wagen hingegen bleibt
stehen. Die Soldaten folgen der Sänfte bis ans Ufer des Baches und sperren den
Pfad ab. Nur die Sänfte setzt ihren Weg fort am Wasser entlang bis zur Höhe
des Inselchens, das mit fortschreitender Jahreszeit immer dichter bewachsen
ist: ein undurchdringliches grünes Gestrüpp, das von der silbernen Baumkrone
der Pappel überragt wird. Ein Befehl, und die Sänfte bewegt sich über den
kleinen Bach, den die Träger mit hochgehaltenen Kleidern durchwaten. Claudia
Procula steigt mit einer jungen Freigelassenen heraus und gibt einem schwarzen
Sklaven, der die Sänfte begleitet, ein Zeichen, ihr zu folgen. Die anderen
kehren ans Ufer zurück.
Claudia geht nun mit den beiden
über das Inselchen und direkt zu der Pappel, die dort in der Mitte zum Himmel
ragt. Das hohe Gras schluckt das Geräusch der Schritte. So erreicht sie die
Stelle, an der Jesus in Gedanken versunken am Fuß des Baumes sitzt. Nachdem
sie mit einer gebieterischen Geste den beiden Getreuen befohlen hat
stehenzubleiben, ruft sie Jesus und geht allein auf ihn zu.
Jesus hebt den Kopf und steht
sofort auf, als er die Frau sieht. Er grüßt sie, bleibt aber vor dem Stamm der
Pappel stehen, und scheint weder überrascht noch verärgert zu sein über die
Störung.
Nach der Begrüßung beginnt
Claudia ohne Umschweife: «Meister, es sind einige Leute zu mir gekommen...
besser gesagt, zu Pontius. Ich will keine langen Reden halten. Aber da ich
dich bewundere, spreche ich zu dir, wie ich zu Sokrates gesprochen hätte, wenn
ich zu seiner Zeit gelebt hätte, oder zu einem anderen Tugendhaften, der
ungerecht verfolgt wird: "Ich kann nicht viel tun, aber was ich tun kann,
werde ich tun!" Vorläufig werde ich die nötigen Briefe schreiben, um dich zu
schützen und auch, um
192
dich mächtig zu machen. Auf
Thronen und anderen hohen Posten gibt es so viele Unwürdige ...»
«Domina, ich habe dich nicht um
Ehren und Schutz gebeten. Der wahre Gott möge dir deine guten Absichten
vergelten. Aber laß die Ehrungen und deinen Schutz denen zuteil werden, die
sie sehnsüchtig erstreben. Ich habe kein Verlangen danach.»
«Ah! Das ist es, was ich erhofft
habe! Du bist also wahrhaft der Gerechte. Ich habe es geahnt! Und die anderen
sind deine unwürdigen Verleumder! Sie sind zu uns gekommen und...»
«Es ist nicht nötig, daß du
sprichst, Domina. Ich weiß alles.»
«Weißt du auch, daß man sagt, du
hättest deiner Sünden wegen alle Macht verloren und müßtest deshalb wie ein
Ausgestoßener hier leben?»
«Auch das weiß ich. Und ich weiß
auch, daß es dir leichter gefallen ist, letztere Lüge zu glauben. Denn dein
heidnischer Verstand hat die Fähigkeit, die menschliche Macht oder die
menschliche Gemeinheit zu erkennen, aber er kann noch nicht begreifen, was die
Macht des Geistes ist. Du bist... enttäuscht von deinen Göttern, die in euren
Religionen in fortwährendem Streit miteinander liegen und deren so
unbeständige Macht den Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten zwischen ihnen
unterworfen ist. Und du meinst, beim wahren Gott wäre es ebenso. Doch es ist
nicht so. Ich bin immer noch derselbe wie damals, als du mich das erste Mal
einen Aussätzigen heilen sahst. Und ich werde derselbe sein, wenn es den
Anschein hat, daß ich endgültig vernichtet bin. Dieser dort ist dein stummer
Sklave, nicht wahr?»
«Ja, Meister.»
«Laß ihn näherkommen.»
Claudia stößt einen Ruf aus, und
der Mann nähert sich und wirft sich zwischen Jesus und seiner Herrin zu Boden.
Sein armes Herz eines Wilden weiß nicht, wen es mehr verehren soll. Er
fürchtet, daß er bestraft wird, wenn er den Christus mehr als die Herrin
verehrt. Doch ungeachtet dessen wiederholt er die Geste von Caesarea, nachdem
er zuerst Claudia einen bittenden Blick zugeworfen hat: er nimmt den bloßen
Fuß Jesu in seine großen, schwarzen Hände, wirft sich mit dem Gesicht zu
Boden, und stellt ihn auf seinen Kopf.
«Domina, höre. Ist es deiner
Meinung nach leichter, ein Reich zu erobern oder einem Menschen einen
Körperteil, der nicht mehr vorhanden ist, zurückzugeben?»
«Ein Reich zu erobern, Meister.
Das Glück hilft den Kühnen. Aber niemand – außer dir allein – kann einen Toten
wiedererwecken und einem Blinden neue Augen schenken.»
«Und warum?»
«Weil... weil Gott alles vermag.»
«Dann bin ich also Gott für
dich?»
193
«Ja... oder wenigstens... Gott
ist mit dir.»
«Kann Gott mit einem Übeltäter
sein? Ich spreche vom wahren Gott, nicht von euren Götzen, die nur in der
Einbildung dessen existieren, der etwas sucht, dessen Existenz er zwar fühlt,
von dem er aber nicht weiß, was es ist, und der sich deshalb Gespenster
schafft, um seine Seele zu beruhigen ...»
«Nein ... ich würde sagen, nein.
Das ist nicht möglich. Auch unsere Priester verlieren ihre Macht, wenn sie
schuldig werden.»
«Welche Macht?»
«Nun... die Macht, in den Sternen
zu lesen und die Antworten der Opfer, den Flug und den Gesang der Vögel
auszulegen. Du weißt, die Wahrsager, die Haruspizes ...»
«Ich weiß. Ich weiß. Nun also?
Schau her. Und du, Mann, erhebe dein Haupt und öffne den Mund, den eine
grausame menschliche Macht einer Gabe Gottes beraubt hat. Durch den Willen des
wahren und einzigen Gottes, des Schöpfers vollkommener Körper, sollst du
wiederhaben, was der Mensch dir genommen hat.»
Jesus hat seinen weißen Finger in
den Mund des Stummen gelegt. Die neugierig gewordene Freigelassene kann sich
nicht länger zurückhalten und kommt näher und schaut. Claudia neigt sich weit
vor und beobachtet. Jesus nimmt den Finger heraus und ruft: «Sprich, und
benütze die wiedergeborene Zunge, um den wahren Gott zu loben.»
Und plötzlich, wie ein
Trompetenstoß aus einem bis dahin stummen Instrument, antwortet ihm ein
gutturaler, aber deutlicher Schrei: «Jesus!» Und der Mohr fällt zu Boden und
weint vor Freude. Er leckt, ja, er leckt wahrhaftig die bloßen Füße Jesu ab,
wie es ein dankbarer Hund machen würde.
«Habe ich meine Macht verloren,
Domina? Wer das behauptet, dem kannst du diese Antwort geben. Und du, steh auf
und sei gut, und denke immer daran, wie sehr ich dich geliebt habe. Du bist
immer in meinem Herzen gewesen, seit dem Tag in Caesarea. Und mit dir alle
deinesgleichen, die als eine Ware und geringer als wilde Tiere angesehen
werden, obwohl sie Menschen sind und dem Caesar durch ihre Empfängnis
gleich... Und vielleicht sind sie durch den guten Willen ihres Herzens sogar
besser... Du kannst dich zurückziehen, Domina. Es ist nichts weiter zu sagen.»
«Oh, doch! Ich habe noch etwas zu
sagen. Nämlich, daß ich gezweifelt habe... daß ich schmerzerfüllt beinahe an
das geglaubt habe, was man über dich sagte. Und nicht ich allein. Verzeih uns
allen, außer Valeria, die immer der gleichen Überzeugung war und darin
beständige Fortschritte macht. Und dann ist hier noch meine Gabe, die du
annehmen mußt: den Mann, der mir nun nicht mehr dienen kann, da ihm die
Sprache wiedergegeben ist, und mein Geld.»
194
«Nein, weder das eine, noch das
andere.»
«Du verzeihst mir also nicht?»
«Ich verzeihe auch jenen aus
meinem Volk, die doppelt schuldig sind, weil sie mich nicht als den
anerkennen, der ich bin. Und da sollte ich euch nicht verzeihen, die ihr
nichts wißt von einer Gotteserkenntnis? Nun gut. Ich habe gesagt, daß ich
weder den Mann noch das Geld will. Nun nehme ich beides und kaufe mit dem
einen die Freiheit des anderen. Ich gebe dir dein Geld zurück, denn ich kaufe
damit diesen Mann. Und ich kaufe ihn frei, um ihm die Freiheit zu schenken. Er
soll in sein Vaterland zurückkehren und dort verkünden, daß nun der auf Erden
weilt, der alle Menschen liebt, und sie um so mehr liebt, je unglücklicher sie
sind. Hier hast du deine Börse.»
«Nein, Meister, sie gehört dir.
Der Mann ist trotzdem frei. Er gehört mir, und ich habe ihn dir geschenkt. Du
läßt ihn frei. Dazu braucht es kein Geld.»
«Nun gut... Hast du einen Namen?»
fragt Jesus den Mann.
«Sie haben ihn zum Spott Calixtus
1) genannt. Doch als er Sklave wurde...»
«Das ist nicht wichtig. Behalte
den Namen und mache ihn wahr dadurch, daß deine Seele wunderschön wird. Geh
nun und sei glücklich, denn Gott hat dich gerettet.»
Gehen! Der Mohr wird nicht müde,
die Füße Jesu zu küssen und immer wieder zu sagen: «Jesus, Jesus.» Dann stellt
er noch einmal den Fuß Jesu auf seinen Kopf mit den Worten: «Du. Mein einziger
Herr.»
«Ich. Dein wahrer Vater. Domina,
du wirst dafür sorgen, daß er in seine Heimat zurückkehrt. Verwende das Geld
dafür, und den Rest soll er erhalten. Leb wohl, Domina. Und höre nie auf die
Stimmen der Finsternis. Sei gerecht und versuche, mich zu erkennen. Leb wohl,
Calixtus. Leb wohl, Frau.»
Jesus beendet die Unterredung,
indem er mit einem einzigen Sprung über den Bach setzt und auf dem der Sänfte
gegenüberliegenden Ufer zwischen Büschen, Weiden und Schilf verschwindet.
Claudia ruft die Sänftenträger
herbei und besteigt nachdenklich die Sänfte. Und wenn sie auch schweigt, so
reden doch die Freigelassene und der freigekaufte Mohr für zehn, und selbst
die Legionäre vergessen ihre steife Disziplin vor dem Wunder einer
wiedergeborenen Zunge. Claudia ist zu nachdenklich, um Schweigen zu gebieten.
Halb liegend, den Ellbogen in die Kissen und den Kopf in die Hand gestützt,
hört sie nichts. Sie ist in Gedanken versunken und merkt nicht einmal, daß die
Freigelassene nicht bei ihr ist, sondern wie eine Elster mit den
Sänftenträgern schwätzt,
___________
1) Calixtus = griechisch «der
Schönste»
195
während Calixtus mit den
Legionären redet, die zwar in Reihen marschieren, aber das dienstliche
Schweigen nicht einhalten. Zu groß ist die Erregung, um dies fertigzubringen!
Nun haben sie die Abzweigung nach
Bethel und Rama erreicht, und die Sänfte verläßt Ephraim, um sich wieder dem
Wagenzug anzuschließen.
619. JESUS UND DER MANN VON
JABNIA
Es müssen viele Tage vergangen
sein. Ich sage dies, weil das Korn, das bei den letzten Visionen noch kaum
eine Spanne hoch war, nach dem Regen und dem darauffolgenden schönen
Sonnenschein sehr gewachsen ist und bereits Ähren bildet. Ein leichter Wind
läßt die Stiele der noch zarten Halme wogen. Die Brise spielt auch mit dem
neuen Laub der frühen Obstbäume, deren Blüten kaum ganz abgefallen sind und
noch wie Schmetterlinge zu Boden flattern, und die nun ihre zarten,
hellglänzenden smaragdfarbenen Blättchen entfalten. Schön, wie alles, was rein
und neu ist! Etwas zurückhaltender sind die noch nackten, knotigen Weinstöcke.
Aber an den gewundenen, zwischen den Stöcken ineinander verschlungenen Reben,
haben die Knospen schon die sie umgebende dunkle Hülle gesprengt und zeigen,
obgleich noch geschlossen, den silbergrauen Flaum, der das Nestchen der
zukünftigen Blätter und neuen Schößlinge bildet. Die holzigen,
schlangengleichen Girlanden der Weinstöcke scheinen geschmeidiger und von
einer neuen Anmut. Die schon warme Sonne beginnt ihre Arbeit als Färberin und
Herstellerin pflanzlicher Düfte, und während sie alles mit lebhafteren Farben
bemalt, was erst gestern noch bleich war, wärmt sie und entlockt den Schollen,
den blühenden Wiesen, den Getreidefeldern, den Gemüse- und Obstgärten, den
Wäldern, den Mauern und der zum Trocknen aufgehängten Wäsche die
verschiedensten Düfte und vereinigt sie zu einer einzigen Geruchssymphonie.
Diese wird den ganzen Sommer dauern, um dann im gewaltigen Duft des Mostes in
den Fässern zu enden, wenn die gepreßten Trauben sich in Wein verwandeln.
Überall in den Zweigen singen die Vögel, während die Hammel und Widder in den
Herden sehnsüchtig blöken. Und das Singen der Männer an den Hängen. Und
lachende Kinderstimmen. Und das Lächeln der Frauen. Es ist Frühling. Die Natur
liebt. Und der Mensch freut sich über die Liebe in der Natur, die ihn morgen
reicher macht; und er genießt diese Liebe, die in diesem heiteren Erwachen
stärker und stärker wird. Und liebenswerter erscheint ihm seine Frau,
fürsorglicher erscheint der Gattin der Mann, und teurer erscheinen beiden die
Kinder, die ihnen heute Freude und Mühe bedeuten und ihnen morgen, in ihrem
Alter, noch immer Freude sein werden, aber auch Schutz und Hilfe der Betagten,
deren Kräfte nachlassen.
196
Jesus wandert durch die Felder,
die ansteigen oder abfallen, je nach der Beschaffenheit des Geländes. Da er
sein letztes wollenes Gewand Samuel gegeben hat, ist er in Linnen gekleidet.
Doch er hat einen leichten Mantel von lebhafter blauer Farbe über eine
Schulter geworfen, ihn locker um den Körper gewickelt, und hält ihn mit einem
Arm über der Brust zusammen. Der über den Arm gelegte Mantelzipfel flattert
leicht im sanften Wind, der über die Erde streift und in den Haaren seines
unbedeckten Hauptes spielt, die in der Sonne glänzen. Jesus geht weiter, und
wenn er Kindern begegnet, neigt er sich zu ihnen, um ihre unschuldigen
Köpfchen zu streicheln, ihre kleinen Vertraulichkeiten anzuhören und zu
bewundern, was sie ihm zeigen, als ob es ein Schatz wäre.
Ein kleines Mädchen, das beim
Laufen immer wieder strauchelt – so klein ist es noch – und über sein zu
langes Kleidchen stolpert, das es vielleicht von einem vor ihm geborenen
Geschwisterchen geerbt hat, kommt mit einem seligen Lächeln, das die Augen
leuchten macht und die winzigen Zähnchen zwischen den rosa Lippen zeigt. Es
bringt einen Strauß Margeriten, einen großen Strauß, den es mit beiden Händen
hält, so viele Blumen, als so zarte und kleine Händchen nur halten können, und
reicht sie Jesus mit den Worten: «Nimm. Für dich. Für die Mama später. Ein
Kuß, hier!» Und dabei schlägt das Kind mit den Händchen, die nun frei sind, da
Jesus ihm mit Worten der Bewunderung und des Dankes den Strauß abgenommen hat,
auf sein Mündchen und reckt sich, mit zurückgelegtem Kopf, auf seinen nackten
Füßchen, bis es fast das Gleichgewicht verliert, in dem vergeblichen Versuch,
mit seinem winzigen Persönchen so das Antlitz Jesu zu erreichen. Dieser nimmt
es lächelnd auf den Arm und geht mit dem Kind, das wie ein Vöglein auf einem
hohen Baum sitzt, zu einer Gruppe von Frauen, die neue Leinwand ins klare
Wasser eines Baches tauchen, um sie dann zum Bleichen in der Sonne
auszubreiten.
Die über das Wasser gebeugten
Frauen stehen grüßend auf, und eine von ihnen sagt lächelnd: «Tamar hat dich
belästigt... Aber schon den ganzen Morgen pflückt sie Blumen in der geheimen
Hoffnung, dich vorübergehen zu sehen. Keine einzige hat sie mir geschenkt,
weil sie sie zuerst dir geben wollte.»
«Ich liebe diese Blumen mehr als
alle Schätze der Könige; denn sie sind unschuldig wie die Kinder und noch dazu
von einem Kind, das ebenso unschuldig ist wie die Blumen.» Jesus küßt das
Mädchen, stellt es auf den Boden und segnet es: «Die Gnade Gottes komme auf
dich herab.» Er grüßt die Frauen und setzt seinen Weg fort, wobei er die Grüße
der Bauern und Hirten auf den Äckern und Weiden erwidert.
Er scheint in Richtung der Ebene
zu gehen, auf die Seite, die nach Jericho führt. Doch dann dreht er um und
schlägt einen Feldweg ein, der wieder zu den Bergen nördlich von Ephraim
führt. Hier ist der günstig gelegene und vor den Nordwinden geschützte Boden
noch ertragreicher.
197
Der Weg zwischen zwei Äckern ist
auf der einen Seite von Obstbäumen in regelmäßigen Abständen gesäumt, und die
Ansätze der zukünftigen Früchte gleichen Perlen an den Ästen.
Eine von Norden nach Süden
herunterführende Straße kreuzt den Feldweg. Es muß eine ziemlich wichtige
Straße sein, denn an der Kreuzung befindet sich ein Meilenstein, wie die Römer
sie verwenden, mit der Inschrift auf der Nordseite: «Neapolis»; und unter
diesem Namen – der in lapidaren, großen lateinischen Leitern, stark wie die
Römer selbst, eingemeißelt ist – steht sehr viel kleiner und kaum in den
Granit geritzt: «Sichern»; auf der westlichen Seite steht: «Silo – Jerusalem»,
und auf der südlichen: «Jericho». Auf der Ostseite steht kein Name. Aber man
könnte sagen, wenn auch kein Name einer Stadt dort steht, so steht doch ein
Name menschlichen Unglücks dort. Denn am Boden, zwischen dem Meilenstein und
dem Graben, der wie bei allen römischen Straßen neben der Straße verläuft, um
in Regenzeiten das Wasser abzuleiten, liegt ein Mann; ein Häuflein Lumpen und
Knochen, vielleicht tot.
Jesus neigt sich über ihn, als er
ihn in dem durch den Frühjahrsregen hoch aufgeschossenen Gras des Rains
entdeckt, berührt ihn und ruft ihn: «Mann, was hast du?»
Ein Stöhnen ist die Antwort. Doch
das Bündel bewegt sich, dreht sich um, und ein eingefallenes, leichenblasses
Gesicht kommt zum Vorschein. Zwei müde, leidende und sehnsüchtige Augen
schauen erstaunt auf den, der sich über sein Elend geneigt hat. Der Mann
versucht, sich aufzusetzen, indem er seine abgemagerten Hände auf den Erdboden
stemmt; doch er ist so schwach, daß er es ohne die Hilfe Jesu nicht schaffen
würde.
Jesus hilft ihm und lehnt ihn mit
dem Rücken an den Meilenstein. Dann fragt er: «Was hast du? Bist du krank?»
«Ja.» Ein ganz schwaches Ja.
«Aber wie kannst du dich in einem
solchen Zustand allein auf eine Reise begeben? Hast du denn niemanden?»
Der Mann nickt. Aber er ist zu
schwach, um zu antworten.
Jesus blickt umher. Es ist
niemand auf den Feldern. Die Gegend ist ganz verlassen. Im Norden, fast auf
dem Rücken eines Hügels, eine Handvoll Häuser; im Westen, zwischen dem Grün
der Abhänge, das auf anderen Hügeln von Feldern in Wiesen und Wälder übergeht,
einige Hirten mit einer Herde unruhiger Ziegen. Jesus senkt seinen Blick auf
den Mann. Er fragt: «Glaubst du, bis zum Dorf gehen zu können, wenn ich dich
stütze?»
Der Mann schüttelt den Kopf, und
zwei Tränen rollen über seine Wangen, die so eingefallen und faltig sind wie
die eines alten Mannes, während der rabenschwarze Bart erkennen läßt, daß er
noch jung ist. Der Mann nimmt seine letzten Kräfte zusammen und sagt: «Sie
haben mich fortgejagt ... aus Angst vor dem Aussatz... Ich bin aber nicht...
und muß sterben ... vor
198
Hunger.» Er röchelt vor Schwäche.
Dann steckt er einen Finger in den Mund und nimmt einen grünlichen Brei
heraus: «Schau... ich habe Getreide gekaut... Aber es ist noch Gras.»
«Ich werde zu dem Hirten dort
gehen und dir lauwarme Milch bringen. Ich werde mich beeilen.» Und fast im
Laufschritt begibt sich Jesus zu der etwa zweihundert Meter höher gelegenen
Weide.
Er erreicht den Schäfer, spricht
mit ihm und zeigt in die Richtung, wo der Mann sich befindet. Der Hirte dreht
sich um und schaut. Er scheint unentschieden, ob er dem Wunsch Jesu nachkommen
soll. Dann entschließt er sich, nimmt das Holzschälchen, das wie bei allen
Hirten an seinem Gürtel hängt, und geht daran, eine Ziege zu melken.
Schließlich reicht er Jesus die volle Schale, und dieser trägt sie vorsichtig
den Hang hinunter, gefolgt von einem Hirtenbuben.
Nun ist er schon wieder bei dem
Verhungernden. Er kniet neben ihm nieder, legt einen Arm um seine Schultern,
um ihn zu stützen, und hält die Tasse mit der noch schäumenden Milch an seine
Lippen. Er läßt ihn nur kleine Schlücke trinken. Dann stellt er das
Milchnäpfchen auf den Boden und sagt: «Für den Augenblick ist es genug. Alles
auf einmal würde dir schaden. Dein Magen muß sich erst an die Milch gewöhnen,
die ich dir gegeben habe.»
Der Mann widerspricht nicht. Er
schließt die Augen und schweigt. Das Kind schaut ihn verwundert an.
Nach einiger Zeit reicht ihm
Jesus wieder die Schale. Diesmal für einen größeren Schluck. Und so fährt er
fort, mit immer kürzeren Pausen, bis die Milch zu Ende ist. Jesus gibt dem
Kind die Schale zurück und schickt es fort.
Langsam kehrt Leben in den Mann
zurück. Mit noch unsicheren Bewegungen versucht er, sich etwas in Ordnung zu
bringen, während er mit dankbarem Lächeln Jesus anblickt, der sich in seiner
Nähe ins Gras gesetzt hat. Er entschuldigt sich: «Ich stehle dir deine Zeit.»
«Das soll dich nicht beunruhigen.
Den Bruder zu lieben, kann niemals verlorene Zeit sein. Wenn du dich besser
fühlst, wollen wir miteinander sprechen.»
«Es geht mir besser. In meine
Glieder kehrt Wärme zurück, und die Augen... Ich habe schon befürchtet, hier
zu sterben... Meine armen Kinder! Ich hatte alle Hoffnung verloren... Und
dabei hatte ich bis zuletzt so sehr gehofft... ! Wenn du nicht gekommen
wärest, wäre ich gestorben... so... am Wegrand...»
«Das wäre sehr traurig gewesen.
Doch der Allerhöchste hat seinen Sohn gesehen und ist ihm zu Hilfe gekommen.
Ruhe dich nun etwas aus.»
Der Mann gehorcht. Nach einer
Weile öffnet er die Augen wieder und sagt: «Nun fühle ich mich neu belebt. Oh,
könnte ich doch nach Ephraim gehen!»
199
«Warum? Ist dort jemand, der auf
dich wartet? Bist du von dort?»
«Nein. Ich bin aus der Gegend von
Jabnia am Großen Meer. Doch ich bin am Ufer entlang nach Galiläa gegangen, bis
Caesarea. Von dort weiter nach Nazareth. Denn ich bin hier (er deutet auf den
Magen) krank. Es ist eine Krankheit, die niemand heilen kann und die mir die
Kraft nimmt, den Boden zu bearbeiten. Ich bin Witwer und habe fünf Kinder.
Einer aus unserer Gegend – denn ich bin in Gaza geboren als Sohn eines
Philisters und einer Syro-Phönizierin – einer der Unseren also, ein Jünger des
Rabbi von Galiläa, kam mit einem anderen zu uns, um uns von diesem Rabbi zu
erzählen. Auch ich habe ihn gehört. Und als ich so krank wurde, sagte ich mir:
"Ich bin Syrer und Philister. Für Israel Unrat. Doch Ermastheus hat gesagt,
daß der Rabbi von Galiläa ebenso gut wie mächtig ist. Und ich glaube es. Ich
werde zu ihm gehen." Und als die bessere Jahreszeit kam, ließ ich die Kinder
bei der Mutter meiner Frau, nahm meine wenigen Ersparnisse – denn viele waren
schon durch die Krankheit aufgebraucht – und ging den Rabbi suchen. Doch das
Geld schrumpft auf einer Reise schnell zusammen, besonders, wenn man nicht
alles essen kann... und in Herbergen bleiben muß wegen der Schmerzen, die
einen am Weitergehen hindern. In Sephoris habe ich den Esel verkauft, denn ich
hatte kein Geld mehr für mich selbst und um den Rabbi zu bezahlen. Ich dachte,
wenn ich gesund bin, werde ich unterwegs wieder alles essen können und rasch
nach Hause zurückkehren. Dort werde ich mit der Arbeit auf den eigenen und
fremden Feldern Geld verdienen... Aber der Rabbi ist weder in Nazareth noch in
Kapharnaum. Seine Mutter hat es mir gesagt. Sie sagte: "Er ist in Judäa. Suche
ihn bei Joseph von Sephoris in Bezetha oder in Gethsemane. Dort werden sie dir
sagen können, wo er ist." Also bin ich zu Fuß zurückgegangen. Und das Übel
wurde schlimmer... und das Geld immer weniger. In Jerusalem, dort, wo man mich
hingeschickt hatte, habe ich die Männer getroffen, aber nicht den Rabbi. Sie
sagten mir: "Oh, man hat ihn schon lange verjagt. Das Synedrium hat ihn
verflucht. Er ist geflohen, und wir wissen nicht, wohin." Ich fühlte mich
sterbenskrank, so wie heute. Schlimmer noch als heute. Hundertmal habe ich
nach ihm gefragt, in der Stadt und auf dem Land. Niemand wußte etwas. Einige
haben mit mir geweint. Viele haben mich geschlagen. Dann, eines Tages, als ich
gerade vor der Tempelmauer bettelte, hörte ich zwei Pharisäer sagen: "Nun, da
man weiß, daß Jesus von Nazareth in Ephraim ist..." Ich verlor keine Zeit und
kam, so schwach ich auch war, um Brot bettelnd, immer zerlumpter und von immer
elenderem Aussehen, bis hierher. Und da ich hier fremd bin, habe ich zuletzt
noch den Weg verfehlt... Heute bin ich von dort gekommen, von dem Dorf. Seit
zwei Tagen lutsche ich nur an wildem Fenchel, kaue Wurzeln und grünes
Getreide. Sie haben mich meiner Blässe wegen für einen Aussätzigen gehalten
und mit Steinwürfen vertrieben. Ich habe nur um Brot gebeten und daß man mir
den Weg nach
200
Ephraim weist. Und hier bin ich
zusammengebrochen... Aber ich möchte nach Ephraim gehen. Ich bin nun so nahe
am Ziel! Kann es denn möglich sein, daß ich es nicht erreiche? Ich glaube an
den Rabbi. Ich bin kein Israelit; aber auch Ermastheus war es nicht, und der
Rabbi hat ihn trotzdem geliebt. Ist es möglich, daß der Gott Israels mich so
bestraft, um sich für die Sünden derer zu rächen, die mich gezeugt haben?»
«Der wahre Gott ist Vater aller
Menschen. Er ist gerecht, aber gut. Und er belohnt alle, die glauben, und läßt
Unschuldige nicht fremde Schuld bezahlen. Aber warum hast du gesagt, du
hättest dich noch schlechter gefühlt als heute, als du hörtest, daß der
Aufenthalt des Rabbi unbekannt sei?»
«Ja, weil ich mir gesagt habe:
"Ich habe ihn verloren, bevor ich ihn gefunden habe."»
«Ach, deiner Gesundheit wegen.»
«Nein, nicht allein deswegen.
Ermastheus hatte gewisse Dinge von ihm erzählt, und mir schien es, daß ich
kein Unrat mehr gewesen wäre, wenn ich den Rabbi gekannt hätte.»
«Du glaubst also, daß er der
Messias ist?»
«Ich glaube es. Ich weiß nicht
recht, was der Messias ist, aber ich glaube, daß der Rabbi von Nazareth der
Sohn Gottes ist.»
Jesus lächelt verklärt, während
er fragt: «Und du bist sicher, daß er, der Sohn Gottes, dich erhören wird,
obwohl du unbeschnitten bist?»
«Oh, ich bin sicher, denn
Ermastheus hat es gesagt. Er sagte: "Er ist der Erlöser aller. Für ihn gibt es
weder Hebräer noch Götzendiener, sondern nur Geschöpfe, die er erlösen will;
denn dazu hat Gott der Herr ihn gesandt." Viele haben darüber gelacht. Ich
habe geglaubt. Wenn ich nur zu ihm sagen könnte: "Jesus, erbarme dich meiner."
Er würde mich erhören. Oh, wenn du von Ephraim bist, führe mich zu ihm.
Vielleicht bist du einer seiner Jünger ...»
Jesus lächelt immer mehr und gibt
ihm den Rat: «Versuche es, mich zu bitten, daß ich dich heile ...»
«Du bist gut, Mann. In deiner
Nähe empfinde ich einen großen Frieden. Ja, du bist gut wie... wie der Rabbi
selbst, und ganz gewiß hat er dir die Macht verliehen, Wunder zu wirken; denn
um so gut zu sein, wie du es bist, muß man sein Jünger sein. Alle, die mir
sagten, daß sie seine Jünger seien, waren gut zu mir. Aber sei nicht gekränkt,
wenn ich dir sage, daß du vielleicht den Leib heilen kannst, aber nicht die
Seele. Und ich möchte auch an der Seele geheilt werden... so wie Ermastheus.
Ein Gerechter werden. Und dies kann nur der Rabbi bewirken. Ich bin nicht nur
krank, sondern auch ein Sünder. Und ich will nicht am Körper gesund werden, um
dann eines Tages zusammen mit meiner Seele zu sterben. Ich will leben.
Ermastheus hat gesagt, daß der Rabbi das Leben der Seele ist, und daß die
Seele, die an ihn glaubt, auf ewig im Reich Gottes leben wird.
201
Führe mich zum Rabbi. Sei gut!
Warum lächelst du? Vielleicht denkst du, daß es kühn von mir ist, Heilung zu
verlangen, ohne einen Pfennig dafür geben zu können? Aber wenn ich geheilt
bin, kann ich wieder das Land bearbeiten. Ich habe herrliches Obst. Der Rabbi
soll kommen, wenn das Obst reif ist, und ich werde ihn mit meiner
Gastfreundschaft belohnen, so lange er nur will.»
«Wer hat dir denn gesagt, daß der
Rabbi Geld verlangt? Ermastheus?»
«Nein. Er sagte vielmehr, daß der
Rabbi Mitleid mit den Armen hat und ihnen als erster zu Hilfe kommt. Aber es
ist schließlich bei allen Ärzten so Brauch... bei allen...»
«Aber nicht bei ihm. Das
versichere ich dir. Und ich sage dir, wenn es dir gelingt, einen so starken
Glauben zu haben, daß du hier um das Wunder bittest, so wirst du es erlangen.»
«Sagst du die Wahrheit ... ? Bist
du dessen sicher? Nun, da du einer seiner Jünger bist, kannst du nicht lügen
und auch nicht irren. Und obgleich es mir leid tut, den Rabbi nicht
kennenzulernen... will ich dir gehorchen... Vielleicht will er nicht gesehen
werden, da er doch verfolgt wird und niemandem trauen kann. Er hat recht. Aber
nicht wir sind es, die ihm schaden werden. Es sind die wahren Hebräer... Doch
sieh... Ich sage (er gelangt mit Mühe auf die Knie): "Jesus, Sohn Gottes,
erbarme dich meiner!"»
«Es geschehe dir, wie dein Glaube
es verdient», sagt Jesus mit der Geste, mit der er den Krankheiten gebietet.
Dem Mann scheint blitzartig ein
Licht aufzugehen. Er begreift – ich weiß nicht, ob durch Erleuchtung des
Verstandes, durch ein körperliches Gefühl, oder durch beides zusammen – wer
der ist, der vor ihm steht, und er stößt einen so schrillen Schrei aus, daß
der Hirte, der auf die Straße heruntergekommen ist, vielleicht um etwas zu
sehen, seinen Schritt beschleunigt.
Der Mann liegt auf dem Boden, das
Gesicht im Gras. Und der Hirte zeigt mit seinem Stab auf ihn und sagt: «Ist er
tot? Da braucht es schon etwas mehr als Milch, wenn einer am Ende ist», und er
schüttelt den Kopf.
Der Mann hört seine Worte und
springt auf die Füße. Er ist kräftig und gesund und schreit: «Tot? Geheilt bin
ich! Auferstanden bin ich! Er hat es an mir getan! Ich leide nicht mehr unter
dem Hunger oder den Krämpfen der Krankheit. Ich fühle mich wie am Tag meiner
Hochzeit! Oh, gepriesener Jesus! Warum habe ich dich nicht eher erkannt?!
Deine Barmherzigkeit hätte mir deinen Namen nennen müssen! Welchen Frieden
habe ich in deiner Nähe verspürt! Dumm bin ich gewesen. Verzeih deinem armen
Diener!» Und er wirft sich wieder zu Boden, um ihm zu huldigen.
Der Hirte läßt seine Ziegen im
Stich und eilt in großen Sprüngen zum Dorf.
202
Jesus setzt sich zu dem Geheilten
und sagt: «Du hast von Ermastheus wie von einem Toten gesprochen. Du kennst
also sein Ende. Ich will nur eines von dir. Du sollst mit mir nach Ephraim
kommen und denen, die bei mir sind, von seinem Ende berichten. Dann werde ich
dich nach Jericho schicken, zu einer Jüngerin, die dir alles Nötige für die
Rückreise geben wird.»
«Wenn du es willst, werde ich zu
ihr gehen. Aber jetzt, da ich gesund bin, habe ich keine Angst mehr, unterwegs
zu sterben. Auch das Gras kann mich ernähren, und es ist keine Schande, die
Hand bittend auszustrecken, denn nicht für Schwelgereien, sondern für einen
guten Zweck habe ich mein ganzes Geld ausgegeben.»
«Ich will es. Du wirst ihr sagen,
daß du mich gesehen hast und daß ich sie hier erwarte. Daß sie nun kommen kann
und von niemandem belästigt werden wird. Wirst du dies ausrichten können?»
«Ich werde es können. Ach, warum
hassen sie dich, der du so gut bist?»
«Weil viele Menschen von einem
bösen Geist besessen sind. Gehen wir.»
Jesus macht sich auf den Weg nach
Ephraim, und der Mann folgt ihm sicheren Schrittes. Nur die große Magerkeit
ist geblieben und erinnert an die Krankheit und die durchgestandenen
Entbehrungen.
Vom Dorf kommen inzwischen
schreiend und gestikulierend viele Menschen herunter. Sie rufen Jesus und
bitten ihn, stehenzubleiben. Jesus hört nicht auf sie, sondern beschleunigt
vielmehr seine Schritte. Die anderen folgen ihm...
Nun sind sie in der Nähe von
Ephraim. Die Landarbeiter, die sich auf den Heimweg machen, da die Dämmerung
anbricht, grüßen Jesus und betrachten den Mann, der bei ihm ist.
Auf einem Nebenweg erscheint
Judas von Kerioth. Er zuckt überrascht zusammen, als er den Meister sieht.
Doch Jesus zeigt keine Überraschung. Er wendet sich nur dem Mann zu und sagt:
«Dies ist einer meiner Jünger. Erzähle ihm von Ermastheus.»
«Nun, das ist bald gesagt. Er war
unermüdlich im Predigen des Christus, auch nachdem er sich von seinem
Gefährten getrennt hatte, da er bei uns bleiben wollte. Er sagte, wir hätten
es nötiger als alle anderen, dich kennenzulernen, o Rabbi, und er wollte
seinem Vaterland dieses Geschenk zuteil werden lassen. Er sagte auch, er würde
erst zu dir zurückkehren, wenn selbst in den kleinsten Dörfern dein Name
bekannt sei. Er lebte wie ein Büßer. Wenn Mitleidige ihm Brot gaben, segnete
er sie in deinem Namen. Wenn jemand mit Steinen nach ihm warf, segnete er ihn
ebenfalls und ernährte sich von wilden Früchten und Muscheln, die er von den
Felsen löste oder aus dem Sand ausgrub. Viele hielten ihn für einen
Verrückten, aber niemand haßte ihn eigentlich. Allenfalls verjagten sie ihn,
als
203
brächte er Unglück. Eines Tages
fand man ihn dann tot, ganz in der Nähe meines Hauses, auf der Straße, die
nach Judäa führt, beinahe an der Grenze. Niemand hat je erfahren, wie er
gestorben ist. Aber man munkelt, daß er von einem umgebracht wurde, der nicht
wollte, daß er den Messias predigt. Er hatte eine große Wunde am Kopf. Einige
sagen, er sei von einem Pferdehuf getroffen worden. Aber ich glaube es nicht.
Er lächelte noch, als er so im Staub ausgestreckt lag. Ja, es schien wirklich,
als lächle er den letzten Sternen einer ruhigen Nacht des Elul und dem ersten
Sonnenstrahl des Morgens zu. Gärtner haben ihn gefunden, die in den ersten
Morgenstunden mit ihrem Gemüse in die Stadt gingen, und sie sagten es mir, als
sie bei mir vorbeikamen, um meine Gurken abzuholen. Ich bin gelaufen, um
nachzusehen. Er war ganz im Frieden.»
«Hast Du gehört?» fragt Jesus
Judas.
«Ich habe gehört. Aber hattest du
ihm nicht gesagt, daß er dir dienen und ein langes Leben haben würde?»
«Genau so habe ich es nicht
gesagt. Die Zeit, die vergangen ist, hat deine Erinnerung getrübt. Aber hat er
mir denn nicht gedient an den Orten, an denen er gepredigt hat, und hat er nun
nicht ein langes Leben? Gibt es ein längeres Leben als jenes, das einer
erwirbt, der im Dienst Gottes stirbt? Lang und ruhmvoll.»
Judas lacht auf die eigentümliche
Art, die mich so abstößt, und entgegnet nichts.
Inzwischen sind die Leute aus dem
Dorf mit vielen aus Ephraim zusammengetroffen und reden mit ihnen, wobei sie
auf Jesus deuten.
Jesus befiehlt Judas: «Begleite
den Mann ins Haus und sorge dafür, daß er sich vollends erholt. Er wird nach
dem Sabbat, der schon beginnt, abreisen.»
Judas gehorcht, und Jesus bleibt
allein zurück. Er geht langsam weiter, neigt sich immer wieder über die
Getreidehalme, die schon anfangen, Ähren zu bilden, und betrachtet sie.
Männer aus Ephraim bemerken:
«Schön, dieses Getreide, nicht wahr?»
«Schön, aber nicht anders als an
anderen Orten.»
«Gewiß, Meister. Auch dort ist es
nur Getreide und muß demnach gleich sein.»
«Meint ihr? Also ist das Getreide
besser als die Menschen, denn es genügt, daß es richtig gesät wird, damit es
die gleiche Frucht hervorbringt, hier wie in Judäa oder in Galiläa oder, sagen
wir, in den Ebenen längs des Großen Meeres. Die Menschen bringen jedoch nicht
dieselben Früchte. Und auch die Erde ist besser als die Menschen. Denn wenn
der Erde ein Samenkorn anvertraut wird, ist sie gut zu ihm und kümmert sich
nicht darum, ob der Same aus Samaria oder aus Judäa stammt.»
«So ist es. Aber warum sagst du,
daß die Erde und das Getreide besser als die Menschen sind?»
204
«Warum ... ? Vor kurzem bat ein
Mann an den Türen eines Dorfes um das Brot des Mitleids. Und man jagte ihn
fort, weil die Leute des Dorfes ihn für einen Juden hielten. Sie verjagten ihn
mit Steinwürfen und nannten ihn einen Aussätzigen, und er glaubte, dies sei
auf sein elendes Aussehen zurückzuführen. In Wirklichkeit aber war es wegen
seiner Abstammung. Und dieser Mann lag am Weg und war dem Hungertod nahe.
Daher sind die Leute dieses Dorfes – diese dort, die euch geschickt haben, um
mich zu befragen, und die nun gerne mit zu dem Haus kommen würden, in dem ich
wohne, um den Mann zu sehen, an dem das Wunder geschehen ist – daher also sind
sie schlechter als das Korn auf dem Feld. Denn sie haben, obwohl sie mich
schon länger kennen und ich sie bearbeitet habe, nicht dieselbe Frucht
gebracht wie dieser Mann, der weder Jude noch Samariter ist und mich nie zuvor
gesehen oder reden gehört hat. Aber er hat die Worte eines meiner Jünger
vernommen und an mich geglaubt, ohne mich zu kennen. Deshalb sind sie
schlechter als die Erdschollen, denn sie haben den Mann abgewiesen, weil er
anderer Abstammung ist. Nun möchten sie kommen, um den Hunger ihrer Neugier zu
stillen, sie, die nicht imstande waren, den Hunger eines Verhungernden zu
stillen. Sagt diesen Leuten, daß der Meister solch nutzlose Neugier nicht
befriedigen wird. Und lernt alle das große Gebot der Liebe, ohne die ihr
niemals meine Anhänger sein könnt. Es ist nicht die Liebe zu mir, nicht sie
allein, die eure Seelen retten wird, sondern die Liebe zu meiner Lehre. Und
meine Lehre lehrt die Nächstenliebe, ohne Unterscheidung der Rasse oder der
Abstammung. Sie sollen also gehen, diese Hartherzigen, die mein Herz betrübt
haben, und bereuen, wenn sie wollen, daß ich sie liebe. Denn, denkt alle
daran: ich bin zwar gut, aber ich bin auch gerecht; und wenn ich keinen
Unterschied mache und euch liebe wie die anderen in Galiläa und Judäa, dann
dürft ihr nicht in törichtem Stolz glauben, daß ihr die Bevorzugten seid und
die Freiheit habt, Böses zu tun, ohne meine Tadel fürchten zu müssen. Ich lobe
oder tadle, wie es die Gerechtigkeit verlangt, meine Verwandten und die
Apostel genauso wie jedes andere Geschöpf. Und in meinem Tadel ist Liebe; denn
ich will, daß Gerechtigkeit in den Herzen herrscht, um dann eines Tages alle
belohnen zu können, die sie geübt haben. Geht und berichtet. Möge diese
Unterweisung in euch allen Frucht bringen.»
Jesus hüllt sich in seinen
Mantel, geht eilends auf Ephraim zu und läßt die Männer stehen, die sich
ziemlich niedergeschlagen zu den Leuten des Dorfes begeben, die kein Mitleid
hatten, um ihnen die Worte des Meisters zu wiederholen.
205
620. JESUS, SAMUEL, JUDAS UND
JOHANNES
Jesus ist wieder allein und geht
langsam und nachdenklich in den dichten Wald, der im Westen von Ephraim liegt.
Vom Bach dringt das Rauschen des Wassers herauf, und in den Bäumen singen die
Vögel. Das Sonnenlicht des Frühlings dringt lebhaft und zugleich sanft durch
das Gewirr der Zweige, und die Schritte verursachen auf dem üppigen
Rasenteppich kein Geräusch. Die Sonnenstrahlen zeichnen goldene Kreise und
Linien auf das grüne Gras, und einige noch taubedeckte Blumen, die von einem
Strahl getroffen werden, während ringsum Schatten herrscht, glänzen, als ob
ihre Blütenblätter wertvolle Steine wären.
Jesus steigt zu einem Vorsprung
hinauf, der wie ein Balkon ins Leere ragt. Ein Balkon, auf dem ein riesiger
Eichbaum steht und von dem die biegsamen Ranken von wilden Brombeeren oder
Heckenrosen, von Efeu und Waldreben wie eine zerzauste, aufgelöste Mähne
herunterhängen, in der Hoffnung, sich an irgend etwas festklammern zu können;
denn sie finden weder genügend Platz noch einen Halt an ihrem für ihre
überschäumende Vitalität viel zu engen Standort.
Jesus hat den Vorsprung erreicht.
Er geht durch das dichte Gestrüpp auf den äußersten Rand zu. Ein Schwarm Vögel
flüchtet mit großem Geflatter und ängstlichem Gezwitscher. Jesus bleibt stehen
und betrachtet einen Mann, der ihm hier zuvorgekommen ist und mit
aufgestützten Ellbogen, das Gesicht in den Händen, auf dem Bauch im Gras
liegt, fast am Rand der Felsplatte, und hinausschaut in die Weite, in Richtung
Jerusalern. Der Mann ist Samuel, der ehemalige Schüler des Jonathan ben Uziel.
Er ist in Gedanken verloren, seufzt, schüttelt das Haupt...
Jesus bewegt einen Zweig, um die
Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken, und da dieser nicht reagiert,
nimmt er einen Stein aus dem Gras und läßt ihn den Pfad hinunterrollen. Das
Geräusch des aufschlagenden Steines läßt den Jüngling aufhorchen. Er wendet
sich überrascht um und fragt: «Wer ist da?»
«Ich, Samuel. Du bist mir
zuvorgekommen. Dies ist einer der Orte, an denen ich am liebsten bete», sagt
Jesus und tritt hinter dem dicken Stamm der Eiche hervor, die am Ende des
Pfades steht. Und er tut so, als ob er soeben angekommen wäre.
«Oh, Meister! Es tut mir leid...
aber ich überlasse dir sofort den Platz», sagt der Jüngling. Er steht eiligst
auf und nimmt den Mantel, den er ausgezogen hatte und auf dem er gelegen ist.
«Nein. Warum? Es ist Platz für
zwei. Die Stelle ist so schön! So abseits und einsam gelegen, über der Tiefe,
mit so viel Licht und einem so weiten Horizont. Warum willst du gehen?»
«Nun, damit du ungestört bist
beim Beten.»
«Können wir es nicht zusammen
tun, und auch betrachten, indem wir
206
miteinander reden und den Geist
zu Gott erheben... die Menschen und ihre Fehler vergessen und an Gott, unseren
Vater, denken, den guten Vater all jener, die ihn mit gutem Willen suchen und
lieben?»
Samuel scheint überrascht zu
sein, als Jesus sagt: «Die Menschen und ihre Fehler...» doch er sagt nichts
und setzt sich wieder.
Jesus setzt sich neben ihm ins
Gras und sagt: «Setz dich hierher zu mir. Sieh nur, wie klar der Horizont
heute ist. Wenn wir Adleraugen hätten, könnten wir die weißen Dörfer auf den
Bergen, die Jerusalem wie eine Krone umgeben, sehen. Und, wer weiß, vielleicht
könnten wir einen leuchtenden Punkt sehen, gleich einem Edelstein in der
klaren Luft, der unser Herz höher schlagen ließe: die goldenen Kuppeln des
Hauses Gottes... Schau, dort ist Bethel. Man kann die Häuser sehen, und dort,
hinter Bethel liegt Beroth. Wie schlau waren doch die einstigen Bewohner
dieses Ortes und der benachbarten. Doch es ist gut ausgegangen, obwohl Betrug
niemals eine gute Waffe ist. Es ist gut ausgegangen, weil sie schließlich dem
wahren Gott dienten. Es lohnt sich immer, menschliche Ehren zu verlieren, um
die Nähe des Göttlichen zu gewinnen. Auch wenn die menschlichen Ehren
zahlreich und von Wert waren und das Leben in der Nähe Gottes einfach und
unbekannt ist. Nicht wahr?»
«Ja, Meister. Du sagst es gut. So
ist es mir ergangen.»
«Aber du bist traurig, obwohl der
Wechsel dich beglücken sollte. Du bist traurig. Du leidest und sonderst dich
ab. Du hältst Ausschau nach den Orten, die du verlassen hast. Du gleichst
einem gefangenen Vogel, der hinter dem Gitter seines Käfigs sitzt und
sehnsüchtig nach dem Ort seiner Liebe Ausschau hält. Ich sage nicht, daß du
dies nicht tun sollst. Du bist frei, du kannst gehen und ...»
«Herr, hat Judas vielleicht
schlecht über mich gesprochen, daß du das sagst?»
«Nein, Judas hat nichts gesagt.
Zu mir hat er nichts gesagt. Aber zu dir. Und deshalb bist du traurig und
sonderst dich ab und bist beunruhigt.»
«Herr, wenn du diese Dinge weißt,
ohne daß sie dir jemand gesagt hat, dann mußt du auch wissen, daß ich nicht
den Wunsch habe, dich zu verlassen und es nicht bereue, mich bekehrt zu haben.
Ich sehne mich nicht nach der Vergangenheit... und bin nicht traurig aus
Furcht vor den Menschen oder vor der Strafe, mit der man mir droht. Ich habe
geschaut, nach Jerusalem geschaut, das ist wahr. Aber nicht aus Sehnsucht,
dorthin zurückzukehren; zurückzukehren als der, der ich einst war. Dorthin
zurückzukehren als Israelit, der es liebt, ins Haus Gottes einzutreten und den
Allerhöchsten anzubeten; dieses Verlangen ist in mir wie in uns allen, und ich
glaube nicht, daß du mich dafür tadelst.»
«Ich in meiner zweifachen Natur
habe als erster ein Verlangen nach jenem Altar und möchte ihn mit Heiligkeit
umgeben sehen, wie es sich gebührt. Als Sohn Gottes empfinde ich alles, was
ihm zur Ehre dient, als
207
eine Freude, und als
Menschensohn, als Israelit, und daher als Sohn des Gesetzes, sind Tempel und
Altar für mich der heiligste Ort Israels, der Ort, an dem unsere Menschheit
sich dem Göttlichen nähern und sich am Duft, der den Thron Gottes umgibt,
erfreuen kann. Ich hebe das Gesetz nicht auf, Samuel. Es ist mir heilig, denn
mein Vater hat es gegeben. Ich vervollkommne es nur und füge neue Teile hinzu.
Als Sohn Gottes kann ich dies tun. Dazu hat mich der Vater gesandt. Ich bin
gekommen, den geistigen Tempel meiner Kirche zu gründen, den Tempel, den weder
Menschen noch Dämonen überwältigen werden. Doch die Gesetzestafeln werden
einen Ehrenplatz darin haben. Denn sie sind ewig, vollkommen, unantastbar. Das
in den Tafeln enthaltene: "Du sollst diese oder jene Sünde nicht begehen",
beinhaltet in seiner lapidaren Kürze alles Notwendige, um in den Augen Gottes
gerecht zu sein, und wird durch meine Worte nicht aufgehoben. Im Gegenteil.
Auch ich nenne euch diese Zehn Gebote. Nur sage ich dazu, daß ihr sie in
vollkommener Weise befolgen sollt; also nicht aus Furcht vor dem Zorn Gottes
gegenüber denen, die seine Gebote übertreten, sondern aus Liebe zu eurem Gott,
der ein Vater ist. Ich komme, um eure Kinderhand in die Hand eures Vaters zu
legen. Seit wie vielen Jahrhunderten schon sind diese Hände
auseinandergerissen! Die Strafe hat sie auseinandergerissen. Und die Schuld
hat sie auseinandergerissen. Durch die Ankunft des Erlösers wird die Sünde
getilgt, die Schranken fallen, und ihr seid erneut Kinder Gottes.»
«Das ist wahr. Du bist gut und
tröstest immer. Und du weißt alles. Deshalb werde ich nicht über meine Nöte
sprechen. Aber ich frage dich: Warum sind die Menschen so schlecht,
wahnsinnig, töricht? Welche Künste wenden sie an, um uns so diabolisch zum
Bösen zu überreden? Und wir, wie können wir so blind sein, die Wirklichkeit
nicht zu sehen und den Lügen zu glauben? Und wie können wir selbst solche
Dämonen werden und dir in deiner Nähe widerstehen? Ich habe dort
hinübergeschaut und nachgedacht... Ja, ich habe darüber nachgedacht, wie viele
giftige Bäche von dort ausgehen, um die Kinder Israels zu verwirren. Ich habe
darüber nachgedacht, wie sich in die Gelehrtheit der Rabbis so viel Bosheit
mischen kann, daß die Tatsachen verdreht und die Menschen getäuscht werden.
Ich habe dies vor allem gedacht, weil...» Samuel, der mit Eifer gesprochen
hat, unterbricht sich und senkt das Haupt.
Jesus beendet den Satz: «... weil
Judas, mein Apostel, ist wie er ist, und allen Schmerz bereitet; mir und
allen, die zu mir gehören oder zu mir kommen, wie auch du gekommen bist. Ich
weiß es. Judas versucht, dich von hier zu vertreiben. Er macht Anspielungen
und verachtet dich ...»
«Nicht nur mich allein. Ja, er
verdirbt mir die Freude, zur Gerechtigkeit gelangt zu sein. Er versteht es so
gut, sie mir zu verderben, daß ich mir hier wie ein Verräter vorkomme; wie ein
Verräter, der sich selbst und dich verrät. Mich selbst, weil ich mir einbilde,
besser geworden zu sein, während
208
ich die Ursache deines Verderbens
sein könnte. Ich kenne mich noch nicht... und könnte, wenn ich denen vom
Tempel begegnen würde, meinem Vorsatz untreu werden und... Oh, hätte ich es
damals getan, dann hätte ich wenigstens die Entschuldigung gehabt, daß ich
dich nicht als den kannte, der du bist. Denn von dir wußte ich damals nur das,
was man mir gesagt hatte, um aus mir einen Verfluchten zu machen. Aber wenn
ich es jetzt tun würde! Welch ein Fluch würde den Verräter des Sohnes Gottes
treffen! Ich war hier... nachdenklich, ja... Ich überlegte, wohin ich fliehen
könnte, um vor mir selbst und ihnen sicher zu sein. Ich wollte an einen weit
entfernten Ort fliehen, zu den Leuten in der Diaspora... Fort, nur fort, um
den Dämon zu hindern, mich zur Sünde zu verführen... Er hat recht, dein
Apostel, wenn er mir mißtraut. Er kennt mich, denn da er die Führenden kennt,
kennt er uns alle... Er zweifelt mit Recht an mir. Wenn er sagt: "Aber weißt
du nicht, daß er uns sagt, daß wir schwach sein werden? Bedenke: Wir, seine
Apostel, die wir ihn schon so lange kennen! Und du, der du das Gift des alten
Israel in dir hast und erst jetzt gekommen bist, zu einer Zeit, die uns selbst
erzittern läßt, du glaubst, die Kraft zu haben, gerecht zu bleiben?" Er hat ja
so recht ...» Der Mann neigt entmutigt das Haupt.
«Wieviel Kummer bereiten sich
doch die Menschenkinder! Wahrlich, Satan versteht es, ihre Neigungen
auszunützen, um sie zu quälen und sie der Freude zu berauben, die ihnen
entgegengeht, um sie zu erlösen. Denn die Traurigkeit des Geistes, die Angst
vor dem Morgen und alle Sorgen sind immer Waffen, die der Mensch seinem
Widersacher in die Hand gibt. Dieser quält ihn dann mit eben den Gespenstern,
die der Mensch sich schafft. Und es gibt andere Menschen, die sich wahrlich
mit Satan verbünden, um ihm zu helfen, die Brüder zu ängstigen. Aber, mein
Sohn, gibt es denn nicht einen Vater im Himmel? Und dieser Vater, der dem
Grashälmchen hier einen Spalt im Fels gibt – einen Spalt voll Erde, in den die
Feuchtigkeit des Taus über den glatten Stein rinnt und sich in der schmalen
Ritze sammelt, damit das Hähnchen leben und dieses winzige Blümchen
hervorbringen kann, dessen Schönheit nicht weniger bewundernswert ist als die
strahlende Sonne dort oben, denn beide sind ein vollkommenes Werk des
Schöpfers – dieser Vater, der sich um ein Grashälmchen auf einem Felsen
kümmert, sollte er nicht für seinen Sohn sorgen, der den festen Willen hat,
ihm zu dienen? Oh, wahrlich, Gott enttäuscht die "guten" Wünsche des Menschen
nicht. Denn er selbst ist es, der sie in euren Herzen erweckt. Er ist es, der
in seiner vorsorgenden Weisheit die Umstände schafft, die nicht nur den
Wünschen seiner Kinder förderlich sind, sondern die den noch unvollkommenen
Wegen folgenden Wunsch, ihn zu ehren, verbessern und vervollkommnen und ihn
auf vollkommene Wege führen. Dies trifft für dich zu. Du glaubtest,
gedachtest, warst überzeugt, Gott zu ehren, indem du mich verfolgtest. Der
Vater hat gesehen,
209
daß in deinem Herzen nicht Haß
gegen Gott war, sondern das Verlangen, Gott Ehre zu erweisen, indem du den aus
der Welt entfernst, von dem sie dir gesagt hatten, daß er ein Feind Gottes und
ein Verderber der Seelen sei. Und Gott hat die Umstände so gelenkt, daß dein
Wunsch, deinem Herrn Ehre zu erweisen, erfüllt wurde. Nun bist du unter uns.
Und kannst du glauben, daß Gott dich jetzt verlassen will, da er dich hierher
geführt hat? Nur wenn du ihn verläßt, kann die Kraft des Bösen dich
umschlingen.»
«Aber ich will es doch nicht! Das
ist mein aufrichtiger Wille!» erklärt der Mann.
«Worüber machst du dir dann
Sorgen? Über die Worte eines Menschen? Laß ihn reden. Er denkt auf seine Art.
Die Gedanken der Menschen sind immer unvollkommen. Doch ich werde vorsorgen.»
«Ich möchte nicht, daß du ihn
tadelst. Es genügt mir, wenn du mir versicherst, daß ich nicht sündigen
werde.»
«Ich versichere es dir. Es wird
nicht geschehen, denn du willst nicht, daß es geschieht. Denn sieh, mein Sohn,
es würde dir nichts nützen, in die Diaspora oder auch bis an die Grenzen der
Erde zu gehen, um deine Seele vor dem Haß gegen Christus und vor der Strafe
für diesen Haß zu bewahren. Viele in Israel werden sich nicht direkt mit dem
Verbrechen beflecken; doch sie werden nicht weniger schuldig sein als jene,
die mich verurteilen und das Urteil vollstrecken. Mit dir kann ich über diese
Dinge sprechen, denn du weißt, daß alles schon vorbereitet ist. Du kennst die
Namen und die Gedanken meiner ärgsten Widersacher. Du hast es gesagt: "Judas
kennt uns alle, denn er kennt alle Führenden." Aber wenn er euch kennt, auch
euch, die geringeren, die ihr Sternen zweiter Ordnung in der Nähe der großen
Planeten gleicht, so wißt auch ihr, was man arbeitet, wie gearbeitet wird und
wer arbeitet, welche Komplotte geschmiedet werden und welche Mittel man in
Betracht zieht... Deshalb kann ich mit dir sprechen. Ich könnte es nicht mit
den anderen tun... Denn was ich leiden und mitleiden kann, können die anderen
nicht ...»
«Meister, aber wie kannst du, da
du alles weißt, so sein... Wer kommt den Pfad herauf?» Samuel steht auf, um
nachzusehen. Er ruft aus: "Judas! "
«Ja, ich bin es. Sie haben mir
gesagt, der Meister sei hierher gekommen, und statt ihm finde ich nun dich.
Ich gehe wieder und überlasse dich deinen Gedanken.» Und Judas lacht einmal
mehr sein kurzes, unaufrichtiges Lachen, das unheimlicher ist als das Klagen
eines Käuzchens.
«Ich bin auch da. Verlangt man
nach mir im Dorf?» fragt Jesus, der hinter Samuel auftaucht.
«Oh! Du? Dann warst du ja in
guter Gesellschaft, Samuel! Und auch du, Meister...»
«O ja, die Gesellschaft eines
Menschen, der nach Gerechtigkeit strebt, ist immer gut. Du hast mich gesucht,
um bei mir sein zu können. Komm
210
also. Es ist Platz für dich und
auch für Johannes, wenn er bei dir sein sollte.»
«Er ist unten. Er hat mit Pilgern
zu tun.»
«Wenn Pilger gekommen sind, muß
ich gehen.»
«Nein, sie bleiben alle bis
morgen. Johannes bereitet eben unsere Betten für ihren Aufenthalt vor. Er ist
glücklich, es tun zu können. Alles macht ihn halt immer glücklich. Ihr beiden
ähnelt euch wirklich. Ich kann nicht verstehen, wie ihr es fertigbringt, immer
glücklich zu sein, auch über die... schmerzhaftesten Dinge.»
«Die gleiche Frage wollte ich
gerade stellen, als du gekommen bist», ruft Samuel aus.
«Tatsächlich? Dann bist also auch
du nicht glücklich und wunderst dich, wie andere, die sich in noch
schwierigeren Situationen befinden, glücklich sein können.»
«Ich bin nicht unglücklich. Ich
spreche nicht von mir. Ich frage mich, aus welchen Quellen der Friede des
Meisters kommt, der über seine Zukunft nicht im unklaren ist und sich trotzdem
durch nichts erschüttern läßt.»
«Nun, aus den himmlischen
Quellen! Das ist doch klar! Er ist Gott. Zweifelst du vielleicht daran? Kann
ein Gott leiden? Er steht über dem Schmerz. Die Liebe des Vaters ist für ihn
wie... wie berauschender Wein. Und berauschender Wein ist für ihn die
Überzeugung, daß seine Handlungen... das Heil der Welt bedeuten. Und dann...
Kann er dieselben physischen Reaktionen haben wie wir einfachen Menschen? Das
widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Wenn Adam, als er noch unschuldig
war, keinerlei Schmerz kannte und ihn auch nie kennengelernt hätte, wenn er
unschuldig geblieben wäre, wie kann dann Jesus, der... absolut Unschuldige,
das Geschöpf... ich weiß nicht, ob ich ihn ungeschaffen nennen soll, da er
Gott ist, oder geschaffen, da er Eltern hat... Oh, wie viele "Warum", die auch
für die zukünftigen Menschen unbeantwortet bleiben werden, mein Meister! Wenn
also Adam durch die Unschuld frei von Schmerz war, ist es dann denkbar, daß
Jesus leiden muß?»
Jesus hat sich wieder ins Gras
gesetzt und das Haupt gesenkt. Die Haare fallen wie ein Schleier über sein
Gesicht. Daher kann ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen.
Samuel, der Judas gegenübersteht,
entgegnet: «Aber wenn er der Erlöser sein soll, dann muß er wirklich leiden.
Erinnerst du dich nicht an David und Isaias?»
«Ich erinnere mich! Ich erinnere
mich! Doch sie, die die Gestalt des Erlösers sahen, wußten nichts von der
überirdischen Hilfe, die dem Erlöser zuteil werden würde, um... gemartert zu
werden, ohne Schmerzen zu empfinden.»
«Und welche Hilfe? Ein Geschöpf
kann den Schmerz lieben und ihn
211
geduldig ertragen, je nach der
Vollkommenheit seiner Gerechtigkeit. Aber es wird den Schmerz immer empfinden.
Sonst ... wenn es ihn nicht fühlen würde... wäre es ja kein Schmerz.»
«Jesus ist der Sohn Gottes.»
«Aber er ist kein Gespenst! Er
ist aus Fleisch und Blut! Und das Fleisch leidet, wenn es gequält wird. Er ist
ein wahrer Mensch! Und die Seele des Menschen leidet, wenn er beleidigt und
gekränkt wird.»
«Seine Vereinigung mit Gott
schließt bei ihm diese menschlichen Reaktionen aus.»
Jesus hebt das Haupt und sagt:
«Wahrlich, ich sage dir, o Judas, daß ich leide und leiden werde wie jeder
andere Mensch, und mehr als jeder andere Mensch. Aber ich kann trotzdem
glücklich sein in dem heiligen und geistigen Glücksgefühl jener, die sich mit
dem Willen Gottes als ihrer einzigen Braut vermählt haben und dadurch von der
irdischen Traurigkeit befreit sind. Ich kann es, weil ich die menschliche
Auffassung von Glück überwunden habe, die Unruhe des Glücks, so wie es sich
die Menschen vorstellen. Ich verfolge nicht das, was für den Menschen das
Glück bedeutet, sondern finde meine Freude gerade im Gegenteil dessen, was der
Mensch dafür hält. Die Dinge, die der Mensch flieht und verachtet, weil er sie
als Last und Schmerz empfindet, sind für mich die süßesten. Ich betrachte
nicht die Stunde. Ich betrachte die Folgen, die die Stunde für die Ewigkeit
haben kann. Meine Zeit geht zu Ende, doch die Frucht dieser Zeit bleibt. Mein
Schmerz wird ein Ende haben, aber der Wert dieses Schmerzes ist unendlich. Was
nützt mir eine sogenannte "glückliche Stunde" auf dieser Erde, eine Stunde,
die ich nach Jahren und Jahrzehnten, nach langem Sehnen erreicht habe, wenn
ich diese Stunde dann nicht als Freude mit mir in die Ewigkeit nehmen könnte,
wenn ich sie allein genießen müßte, ohne sie mit denen zu teilen, die ich
liebe?»
«Ja, aber wenn du triumphieren
würdest, dann hätten wir, deine Jünger, teil an deiner Freude!» ruft Judas
aus.
«Ihr? Wer seid denn ihr, im
Vergleich zur Vielzahl der gewesenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen
Menschen, für die mein Schmerz Freude bedeuten wird? Ich blicke über das
irdische Glück hinaus. Mein Blick reicht weiter, zum Übernatürlichen. Ich sehe
meinen Schmerz sich in ewige Freude verwandeln für eine Vielzahl von
Geschöpfen. Ich nehme den Schmerz an als die größte Kraft, das vollkommene
Glück zu erreichen, das darin besteht, den Nächsten zu lieben, zu leiden, um
ihm die Freude zu erlangen, und sogar für ihn zu sterben.»
«Ich verstehe dieses Glück
nicht», erklärt Judas.
«Du bist noch nicht weise. Sonst
würdest du es begreifen.»
«Und Johannes ist es? Er ist
unwissender als ich!»
«Menschlich gesehen schon. Aber
er besitzt die Weisheit der Liebe.»
«Nun gut, aber ich glaube nicht,
daß die Liebe die Prügel hindert,
212
Prügel zu sein, und die Steine,
Steine zu sein, und das Fleisch zu verwunden, das sie treffen. Du sagst immer,
daß du den Schmerz liebst, da er für dich Liebe bedeutet. Aber wenn du
wirklich gefangengenommen und gemartert werden solltest... wenn so etwas
möglich ist... dann weiß ich nicht, ob du noch derselben Meinung sein wirst.
Denke daran, solange du noch dem Schmerz entgehen kannst. Er wird schrecklich
sein, weißt du? Wenn es den Menschen gelingt, dich gefangenzunehmen... oh,
dann würden sie keine Rücksicht nehmen!»
Jesus schaut ihn an. Er ist
totenbleich. Seine weitgeöffneten Augen scheinen außer dem Gesicht des Judas
alle Qualen und Martern, die ihn erwarten, zu sehen; doch in ihrer Trauer
bleiben sie sanft und gütig und vor allem ruhig: zwei reine Augen eines
Unschuldigen im Frieden. Er antwortet: «Ich weiß es. Ich weiß auch das, was du
nicht weißt. Aber ich vertraue auf die Barmherzigkeit Gottes. Er, der den
Sündern barmherzig ist, wird auch mir Barmherzigkeit erweisen. Ich bitte ihn
nicht darum, nicht leiden zu müssen, sondern darum, auf die richtige Art zu
leiden. Und nun wollen wir gehen. Samuel, geh etwas voraus und sage Johannes,
daß ich bald im Dorf sein werde.»
Samuel verneigt sich und eilt
davon.
Jesus beginnt ebenfalls
hinabzusteigen. Der Pfad ist so schmal, daß einer hinter dem anderen gehen
muß. Dies hindert jedoch Judas nicht daran zu reden: «Du traust diesem Mann zu
sehr, Meister. Ich habe dir gesagt, wer er ist. Er ist der schwärmerischste
und am leichtesten erregbare Schüler des Jonathan. Nun, jetzt ist es zu spät.
Du hast dich seinen Händen ausgeliefert. Er ist ein Spion an deiner Seite. Und
du hast mehr als einmal gedacht, und häufiger noch die anderen als du, daß ich
es bin. Ich bin kein Spion.»
Jesus bleibt stehen und wendet
sich um. Schmerz und Majestät vereinen sich auf seinem Antlitz und in seinem
Blick, der den Apostel durchbohrt. Er sagt: «Nein, kein Spion. Du bist ein
Dämon! Du hast der Schlange das Vorrecht der Verführung und des Betrugs
geraubt, um von Gott zu trennen. Dein Betragen ist weder ein Stein noch ein
Prügel. Aber es verwundet mich mehr als Steine und Prügel. Oh, in meinem
furchtbaren Leiden wird nichts das Martyrium übertreffen, das mir dein
Betragen bereitet.» Jesus bedeckt sein Antlitz mit den Händen, wie um das
Furchtbare zu verbergen, und geht dann rasch den Pfad hinunter.
Judas schreit hinter ihm her:
«Meister! Meister! Warum betrübst du mich so? Dieser Falsche hat mich
wahrscheinlich verleumdet... Höre mich an, Meister!»
Jesus hört nicht. Er eilt, er
fliegt den Abhang hinab. Vorbei an den Waldarbeitern und den Hirten, die ihn
grüßen. Er läuft vorbei, erwidert die Grüße, bleibt aber nicht stehen. Judas
fügt sich und schweigt...
Sie sind fast unten, als sie
Johannes begegnen, der ihnen mit seinem
213
reinen, von einem sanften Lächeln
erhellten Gesicht entgegenkommt. Er führt einen zwitschernden kleinen Knaben
an der Hand, der an einer Honigwabe saugt.
«Meister, hier bin ich! Es sind
Leute aus Caesarea Philippi. Sie haben erfahren, daß du hier bist und sind
gekommen. Aber es ist eigenartig! Niemand hat etwas gesagt, und doch wissen
alle, wo du bist! Sie ruhen sich nun aus. Sie sind sehr müde. Ich habe gerade
bei Dina Milch und Honig geholt, denn sie haben auch einen Kranken bei sich.
Ich habe ihn auf mein Lager gebettet. Ich habe keine Angst. Und der kleine
Annas wollte mit mir kommen. Faß ihn nicht an, Meister, er ist ganz mit Honig
beschmiert», und der gute Johannes, dessen Gewand schon ganz voller Honig und
klebriger Fingerabdrücke ist, lacht. Er lacht und hält das Kind zurück, das
Jesus seine halb ausgelutschte Honigwabe geben möchte und ruft: «Komm. Es gibt
noch viele für dich.»
«Ja. Sie holen dort bei Dina
gerade die Waben heraus. Ich habe es gewußt. Ihre Bienen haben erst vor kurzem
geschwärmt», erklärt Johannes.
Sie setzen ihren Weg fort und
erreichen das erste Haus, wo immer noch das Tamtam ertönt, das die Imker
machen; wozu, weiß ich nicht genau. Trauben von Bienen – sie gleichen großen
Trauben eines fremdartigen Weinstockes – hängen von einigen Zweigen herunter
und Männer nehmen sie ab, um sie in neuen Bienenstöcken unterzubringen. In
einiger Entfernung summen und arbeiten die unermüdlichen Bienen schon in neuen
Stöcken.
Die Männer grüßen, und eine Frau
kommt mit schönen Waben herbei und bietet sie Jesus an.
«Warum willst du sie hergeben? Du
hast Johannes schon einige gegeben.»
«Oh, meine Bienen haben dieses
Jahr viel Honig gesammelt. Ich kann gut etwas davon abgeben. Aber segne du die
neuen Schwärme. Schau, nun nehmen sie den letzten Schwarm ab. Dieses Jahr
haben sich die Bienenvölker verdoppelt.»
Jesus geht zu den kleinen
Bienenstädten, erhebt die Hand und segnet eine nach der anderen unter dem
Gesumme der Arbeitsbienen, die sich bei ihrer Arbeit nicht stören lassen.
«Alle sind voller Freude und in
Bewegung... Ein neues Heim...» sagt ein Mann.
«Und neue Hochzeiten. Sie
gleichen wahrhaft Frauen, die eine Hochzeit vorbereiten», sagt ein anderer.
«Ja, aber die Frauen schwatzen
mehr als sie arbeiten. Diese hier arbeiten schweigend, und sie arbeiten selbst
an den festlichen Tagen der Hochzeit. Sie arbeiten immer, um sich ihr Reich
und ihre Schätze zu schaffen», antwortet ein Dritter.
«Immer in Tugendhaftigkeit zu
arbeiten ist erlaubt, es ist sogar eine
214
Pflicht. Immer nur für den Gewinn
zu arbeiten jedoch nicht. Das tun nur jene, die nicht wissen, daß sie einen
Gott haben, der an seinem Tag geehrt werden muß. Schweigend zu arbeiten ist
eine Tugend, die alle von den Bienen lernen sollten. Denn im Schweigen macht
man alle Arbeiten heiligmäßig. Eure Gerechtigkeit soll wie eure Bienen sein.
Unermüdlich und schweigsam. Gott sieht. Und Gott belohnt. Der Friede sei mit
euch», sagt Jesus. Und als er mit seinen beiden Aposteln wieder allein ist,
sagt er: «Und besonders den Arbeitern des Herrn gebe ich die Bienen zum
Vorbild. Sie speichern im verborgenen des Bienenstocks den in ihrem Inneren in
unermüdlicher Arbeit an gesunden Blütenkronen entstandenen Honig. Ihre Mühe
scheint keine Mühe zu sein, so groß ist der gute Wille, mit dem sie es tun,
wenn sie wie goldene Punkte von Blume zu Blume fliegen und dann mit Nektar
beladen in ihre Zellen zurückkehren, um in dieser Abgeschiedenheit ihren Honig
zu bereiten. Man müßte es verstehen, sie nachzuahmen. Man müßte gesunde Lehren
und Freundschaften wählen, die den Nektar wahrer Tugend schenken können; und
sich dann absondern, um das eifrig Gesammelte zu Tugend und Gerechtigkeit zu
verarbeiten, die wie der Honig aus vielen guten Elementen zusammengesetzt
sind, nicht zuletzt dem guten Willen, ohne den die da und dort gesammelten
Säfte wertlos wären. Im Innern des Herzens müßte man demütig über das
nachdenken, was man Gutes gesehen und gehört hat, und man dürfte keine
Eifersucht empfinden, weil es neben den Arbeitsbienen auch Königinnen gibt,
weil es also solche gibt, die gerechter als der Nachdenkende sind. Alle Bienen
eines Volkes sind nötig, Arbeitsbienen und Königinnen. Wehe, wenn alle
Königinnen wären; wehe, wenn alle Arbeiterinnen wären. Sowohl die einen als
auch die anderen würden sterben; denn die Königinnen hätten keine Nahrung, um
sich zu vermehren, wenn es keine Arbeitsbienen gäbe, und es würde keine
Arbeitsbienen geben, wenn die Königinnen nicht für Nachkommenschaft sorgten.
Beneidet die Königinnen nicht. Auch sie haben ihre Mühe und ihre Buße. Sie
sehen die Sonne nur ein einziges Mal, bei ihrem einzigen Hochzeitsflug. Zuvor
und danach gibt es für sie nur die immerwährende Klausur innerhalb der
ambrafarbenen Wände des Bienenstockes. Jeder hat seine Aufgabe, jede Aufgabe
ist eine Erwählung, und jede Erwählung ist eine Pflicht und eine Ehre. Und die
Arbeitsbienen verlieren keine Zeit mit unnützen oder gefährlichen Flügen auf
kranke und giftige Blüten. Sie stürzen sich nicht in Abenteuer. Sie werden
ihrer Aufgabe nicht untreu und lehnen sich nicht auf gegen den Zweck, für den
sie erschaffen wurden. Oh, ihr bewundernswerten kleinen Wesen! Wieviel könnt
ihr die Menschen lehren... !»
Jesus schweigt und verliert sich
in eine seiner Betrachtungen. Judas erinnert sich plötzlich, daß er wer weiß
wohin gehen muß, und entfernt sich in größter Eile. So bleiben Jesus und
Johannes allein. Johannes beobachtet Jesus unbemerkt. Ein aufmerksamer Blick
voll liebender Sorge.
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Jesus hebt das Haupt, wendet sich
etwas zur Seite und begegnet dem Blick des Lieblingsjüngers, der ihn studiert.
Das Antlitz Jesu erhellt sich, während er Johannes an sich zieht.
So umarmt gehen sie weiter und
Johannes fragt: «Nicht wahr, Judas hat dich wieder gekränkt? Er muß auch
Samuel beunruhigt haben.»
«Warum? Hat er mit dir darüber
gesprochen?»
«Nein. Aber ich habe verstanden.
Er hat nur gesagt: "Normalerweise wird man gut, wenn man mit einem wahrhaft
Guten zusammenlebt. Aber Judas ist nicht gut, obgleich er schon drei Jahre mit
dem Meister zusammenlebt. Er ist durch und durch verdorben und die Güte des
Christus kann nicht in ihn eindringen, da er voller Bosheit ist." Ich wußte
nicht, was ich sagen sollte... denn es ist wahr... Warum ist Judas nur so? Ist
es denn möglich, daß er sich nie ändert? Und doch... Wir haben alle die
gleichen Unterweisungen erhalten... und als er zu uns kam, war er auch nicht
schlechter als wir.»
«Mein Johannes! Mein guter
Junge!» Jesus küßt ihn auf die so reine, offene Stirn und flüstert in die
weichen blonden Haare: «Es gibt Geschöpfe, die anscheinend nur dazu leben, um
das Gute in sich zu zerstören. Du bist Fischer und weißt, wie ein Segel
reagiert, wenn es von eine
Sturmwind erfaßt wird. Es legt
sich so sehr auf das Wasser, daß das Boot zu kentern droht; es wird zur Gefahr
und man muß es einziehen und au den Flügel, der zum Nest trägt, verzichten.
Denn das vom Sturm erfaßte Segel ist nicht mehr Flügel, sondern Ballast, der
auf den Grund zieht und zum Tod führt, anstatt zur Rettung. Wenn aber der
heftige Atem des Sturmes sich beruhigt, vielleicht nur für wenige Augenblicke,
dann wird das Segel sofort zum Flügel und treibt das Boot eilends dem
rettenden Hafen zu. So ist es bei vielen Seelen. Es genügt, daß der Sturm der
Leidenschaft sich legt, und die gebeugte Seele, die fast überflutet wird
von... dem, was nicht gut ist, richtet sich auf und strebt erneut dem Guten
zu.»
«Ja, Meister... Aber sage mir...
wird Judas je deinen Hafen erreichen?»
«Oh, laß mich nicht in die
Zukunft eines meiner Teuersten schauen. Ich habe die Zukunft von Millionen
Seelen vor Augen, für die meine Leiden umsonst sein werden... ! Ich habe alle
Schlechtigkeiten der Welt vor Augen... Der Ekel würgt mich. Der Ekel, den ich
beim Anblick dieser gärenden Abscheulichkeiten empfinde, die wie ein Sturm die
Erde überschwemmen und sie in verschiedenartiger, aber für die Vollkommenheit
immer auf schreckliche Art überschwemmen werden. Laß mich diese Dinge nicht
schauen! Laß, daß ich mich erquicke und stärke an einer Quelle, die von
Verderbtheit nichts weiß; daß ich die Wurmstichigkeit so vieler vergesse und
nur dich, meinen Frieden, betrachte!» Und Jesus blickt in die klaren Augen
seines jungfräulichen, liebenden Jüngers und küßt ihn noch einmal auf die
Stirn...
Sie gehen ins Haus. In der Küche
ist Samuel und spaltet Holz, um der alten Frau die Mühe des Feuermachens zu
ersparen.
216
Jesus wendet sich der Frau zu:
«Schlafen die Pilger?»
«Ich glaube schon. Man hört
keinen Laut. Nun bringe ich den Reittieren, die unten im Holzschuppen sind,
dieses Wasser...»
«Laß mich es tun, Mutter. Geh
lieber zu Rachel. Sie hat mir frischen Käse versprochen. Sage ihr, daß ich ihn
am Sabbat bezahlen werde», sagt Johannes und nimmt die beiden randvollen
Wassereimer.
Jesus und Samuel bleiben allein
zurück. Jesus geht zu dem Mann, der über die Feuerstelle gebeugt ist und
bläst, um die Flammen zu beleben, und legt ihm eine Hand auf die Schulter mit
den Worten: «Judas hat uns dort oben unterbrochen... Ich möchte dir noch
sagen, daß ich dich am Tag nach dem Sabbat mit meinen Aposteln aussenden
werde. Vielleicht ziehst du das vor...»
«Danke, Meister. Es tut mir leid,
nicht in deiner Nähe bleiben zu können. Doch in deinen Aposteln finde ich dich
wieder. Es ist mir lieber, weit weg von Judas zu sein. Ich hatte nicht den
Mut, dich darum zu bitten ...»
«Gut, es ist also abgemacht. Und
habe Mitleid mit ihm, wie auch ich es habe. Sprich weder mit Petrus noch mit
sonst jemandem darüber ...»
«Ich kann schweigen, Meister.»
«Später werden die Jünger kommen.
Unter ihnen sind Hermas, Stephanus und Isaak, zwei Gelehrte und ein Gerechter,
und viele andere. Du wirst dich wohlfühlen, wie unter wahren Brüdern.»
«Ja, Meister. Du verstehst und
hilfst. Du bist wahrlich der gute Meister», und Samuel neigt sich, um Jesu
Hand zu küssen.
621. DIE ANKUNFT DER MUTTER UND
DER JÜNGERINNEN IN EPHRAIM
Im Haus der Maria des Jakob sind
schon alle auf den Beinen, obwohl es gerade erst Tag wird. Es muß ein Sabbat
sein, denn ich sehe auch die Apostel, die die Woche über auf Mission sind.
Feuer werden angefacht, um Wasser zu wärmen, und Maria läßt sich beim Sieben
des Mehls und beim Kneten des Teigs für das Brot helfen. Das alte Frauchen ist
sehr aufgeregt, aufgeregt wie ein kleines Mädchen, während sie bei ihrer
emsigen Arbeit immer wieder diesen oder jenen fragt: «Wird es gewiß heute
sein? Sind die anderen Räume bereit? Seid ihr sicher, daß es nicht mehr als
sieben sein werden?»
Petrus, der ein Lamm häutet und
es zum Braten vorbereitet, antwortet für alle: «Sie sollten schon vor dem
Sabbat hier sein; aber vielleicht waren die Frauen noch nicht fertig und haben
sich deshalb verspätet. Doch heute werden sie ganz sicher kommen. Oh, wie
glücklich ich bin! Ist der Meister hinausgegangen? Vielleicht geht er ihnen
entgegen...»
217
«Ja, er ist mit Johannes und
Samuel hinaus und in Richtung der Straße gegangen, die in das Innere von
Samaria führt», antwortet Bartholomäus und verläßt dann mit einem Krug
kochenden Wassers die Küche.
«Dann können wir sicher sein, daß
sie kommen. Jesus weiß immer alles», versichert Andreas.
«Ich möchte nur wissen, warum du
so lachst? Was gibt es zu lachen, wenn mein Bruder spricht?» fragt Petrus, der
das spöttische Lachen des müßig in einer Ecke sitzenden Judas bemerkt hat.
«Ich lache nicht über deinen
Bruder. Ihr seid alle so glücklich; also kann doch auch ich es sein und ohne
einen besonderen Grund lachen.»
Petrus betrachtet ihn mit
vielsagender Miene, wendet sich dann aber wieder seiner Arbeit zu.
«Schaut nur! Es ist mir gelungen,
einen blühenden Zweig zu finden. Er ist zwar nicht von einem Mandelbaum, wie
ich es wollte; aber sie hat nach der Mandelblüte auch immer andere Zweige im
Haus und wird mit meinem zufrieden sein», sagt Thaddäus, der gerade
hereinkommt und von Tau tropft, als wäre er im Wald gewesen. Er bringt einen
Bund blühender Zweige, ein Wunder taubedeckter Reinheit, das die Küche zu
erhellen und zu verschönern scheint.
«Oh, wie schön! Wo hast du sie
gefunden?»
«Bei Noemi. Ich wußte, daß ihre
Obstbäume immer später blühen, weil sie den Nordwinden ausgesetzt sind. Also
bin ich dort hinaufgestiegen.»
«Deshalb siehst du auch wie
Gewächs des Waldes aus! Die Tautropfen glänzen in deinen Haaren und haben dein
Gewand ganz naß gemacht.»
«Der Weg war so naß wie nach
einem Regen. Das ist schon der reichliche Tau der schönsten Monate.» Thaddäus
geht mit seinen Blüten, doch schon bald ruft er seinen Bruder, der ihm bei der
Anordnung der Zweige helfen soll.
«Ich komme. Ich verstehe etwas
davon. Frau, hast du nicht eine Amphore mit schlankem Hals, möglichst aus
rotem Ton?» sagt Thomas.
«Ich habe, was du suchst, und
auch noch andere Vasen... Ich habe sie immer an den Festtagen gebraucht... bei
den Hochzeiten meiner Kinder oder anderen wichtigen Anlässen. Wenn du warten
kannst, bis ich diese Fladen in den Ofen geschoben habe... einen Augenblick
nur... dann öffne ich dir die Truhe, in der ich die schöneren Sachen
aufbewahrt habe... Ach! Wenige sind es jetzt, nach so viel Unglück. Aber
einige habe ich behalten... Sie sind ein Andenken... und auch ein Schmerz,
denn wenn sie auch freudige Erinnerungen beinhalten, so machen sie mich nun
traurig, da sie mich an das erinnern, was nicht wiederkehrt.»
«Dann wäre es besser, wenn dich
niemand darum gebeten hätte. Hoffen wir nur, daß es uns nicht so ergeht wie in
Nob. Viel Aufwand für nichts ...» bemerkt Iskariot.
«Wenn ich dir doch sage, daß uns
eine Gruppe von Jüngern
218
benachrichtigt hat?! Glaubst du,
sie haben geträumt? Sie haben mit Lazarus gesprochen und er hat sie
absichtlich vorausgeschickt. Und sie haben uns berichtet, daß die Mutter noch
vor dem Sabbat mit dem Wagen des Lazarus hier sein wird, und daß Lazarus und
die Jüngerinnen ...»
«Sie sind aber nicht gekommen...»
«Ihr, die ihr diesen Mann gesehen
habt, sagt einmal: Macht er nicht Angst?» fragt die Alte und trocknet sich die
Hände an der Schürze ab. Ihre Fladen hat sie Jakobus des Zebedäus und Andreas
anvertraut, die sie zum Backofen bringen.
«Angst? Warum?»
«Nun, er ist doch ein Mensch, der
von den Toten zurückgekehrt ist.»Sie ist zutiefst bewegt.
«Du kannst beruhigt sein, Mutter.
Er ist in allem genau wie wir», versichert ihr Jakobus des Alphäus.
«Paß vielmehr auf und schwätze
nicht zu viel mit den anderen Frauen, sonst haben wir am Ende ganz Ephraim
hier drinnen, um uns zu belästigen», sagt Iskariot gebieterisch.
«Ich habe noch nie unklug
dahergeredet, seit ihr hier seid. Weder zu den Leuten aus der Stadt, noch zu
den Pilgern. Ich wollte lieber für dumm gehalten werden, als mich für gescheit
auszugeben und den Meister zu stören und ihm zu schaden. Und ich werde auch
heute schweigen können. Komm mit, Thomas.» Und sie geht hinaus, um ihre
verborgenen Schätze hervorzuholen.
«Die Frau fürchtet sich bei dem
Gedanken, einen von den Toten Auferstandenen zu sehen», sagt Iskariot und
lacht ironisch.
«Sie ist nicht die einzige. Die
Jünger haben mir erzählt, daß in Nazareth und ebenso in Kana und in Tiberias
große Aufregung herrschte. Einen Menschen, der wieder lebendig wird, nachdem
er schon vier Tage im Grab gelegen hat, findet man nicht so leicht wie eine
Margarite im Frühling. Auch wir waren ziemlich blaß, als er aus dem Grab kam.
Aber könntest du denn nicht etwas arbeiten, anstatt hier unnötig zu schwatzen?
Wir arbeiten alle, und es gibt noch so viel zu tun... Geh auf den Markt und
kaufe, was nötig ist. Heute kannst du es ja tun. Was wir gekauft haben, wird
nicht ausreichen, jetzt, da sie kommen. Und wir konnten nicht mehr in die
Stadt zurückkehren, da uns sonst der Einbruch der Dunkelheit dort überrascht
hätte.»
Judas ruft Matthäus, als dieser
ordentlich gekleidet in die Küche zurückkommt, und die beiden gehen zusammen
weg.
Auch der Zelote kommt wieder in
die Küche, ebenfalls ordentlich gekleidet, und sagt: «Dieser Thomas! Er ist
wahrlich ein Künstler. Mit nichts hat er den Raum wie für ein Hochzeitsmahl
hergerichtet. Geht nur und seht ihn euch an.»
Alle außer Petrus, der noch mit
seinem Lamm beschäftigt ist, gehen
219
um zu schauen. Petrus sagt: «Ich
kann es kaum mehr erwarten. Vielleicht wird auch Margziam dabei sein. In einem
Monat ist Passah. Sicher ist er schon von Kapharnaum oder Bethsaida
aufgebrochen.»
«Es freut mich, daß Maria kommt.
Besonders für den Meister. Sie wird ihn mehr als alle anderen trösten. Und er
hat das sehr nötig», antwortet der Zelote.
«So sehr! Aber hast du bemerkt,
daß auch Johannes traurig ist? Ich habe ihn gefragt. Jedoch ohne Erfolg. In
seiner Sanftmut ist er standhafter als wir alle, und wenn er etwas nicht sagen
will, dann kann ihn nichts zum Reden bringen. Trotzdem bin ich sicher, daß er
etwas weiß. Er ist wie der Schatten des Meisters. Er folgt ihm überallhin und
betrachtet ihn immer. Und wenn er sich unbeobachtet glaubt – denn wenn er es
merkt, begegnet er deinem Blick mit seinem Lächeln, das auch einen Tiger
sanftmütig machen würde – wenn er sich also unbeobachtet glaubt, dann sieht
sein Gesicht sehr traurig aus. Versuche doch du einmal, ihn zu fragen. Er hat
dich sehr lieb und weiß, daß du vorsichtiger bist als ich...»
«Oh, das stimmt nicht. Du bist
für uns alle ein Beispiel der Klugheit geworden. Und man erkennt in dir den
alten Simon nicht wieder. Du bist wirklich der Fels, der mit seiner robusten
und verständigen Festigkeit uns alle stützt.»
«Ach was! Sag doch so etwas
nicht! Ich bin ein armer Mensch. Natürlich... wenn man so viele Jahre mit ihm
zusammen ist, wird man ein wenig wie er. Ein wenig ... sehr wenig, aber doch
ganz anders, als man vorher war. Alle sind wir ... nein, leider nicht alle...
Judas ist immer der gleiche, hier wie beim Trügerischen Gewässer.»
«Gebe Gott, daß er immer der
gleiche bleibt!»
«Was willst du damit sagen?»
«Nichts und alles, Simon des
Jonas. Wenn der Meister mich hören würde, würde er sagen: "Urteile nicht."
Aber dies ist kein Urteil, sondern Furcht. Ich fürchte, Judas ist jetzt noch
schlimmer als beim Trügerischen Gewässer.»
«Gewiß ist er das, auch wenn er
noch so ist wie damals. Er ist es, denn er müßte sich doch sehr geändert
haben, müßte gerechter geworden sein; stattdessen ist er immer der gleiche.
Und so hat er nun die Sünde geistiger Trägheit auf sich geladen, was damals
nicht der Fall war. Denn zu Anfang war er... zwar schon etwas seltsam... aber
noch voll guten Willens. Sag einmal: Gibt es dir nicht zu denken, daß der
Meister beschlossen hat, Samuel mit uns auszusenden und alle Jünger, so viele
als möglich, beim Neumond des Nisan in Jericho zu versammeln? Zuvor hatte er
gesagt, daß der Mann hierbleiben würde... Und er hatte uns zuerst auch
verboten zu sagen, wo er sich aufhält. Ich habe den Verdacht ...»
«Nein, mir kommt alles klar und
logisch vor. Ganz Palästina kennt nun den Aufenthaltsort des Meisters, man
weiß nicht, wie und durch wen. Du
220
siehst, es sind Pilger und Jünger
aus der Gegend von Kedes bis Engedi, von Joppe bis Bozrah gekommen. Also ist
es unnötig, das Geheimnis weiterhin zu bewahren. Zudem nähert sich das
Passahfest, und ganz gewiß möchte der Meister seine Jünger um sich haben bei
der Rückkehr nach Jerusalem. Das Synedrium behauptet, du hast es gehört, er
sei besiegt und habe alle seine Jünger verloren. Und Jesus wird ihnen
antworten, indem er an ihrer Spitze in Jerusalem einzieht...»
«Ich habe Angst, Simon! Große
Angst... Hast du schon gehört? Alle, auch die Herodianer, haben sich gegen ihn
zusammengeschlossen ...»
«Ach ja. Gott helfe uns... !»
«Und warum schickt er Samuel mit
uns?»
«Sicher, um ihn auf seine Aufgabe
vorzubereiten. Ich sehe keinen Grund zur Aufregung... Es klopft! Gewiß sind es
die Jüngerinnen... !»
Petrus wirft seine blutbefleckte
Schürze auf einen Stuhl und läuft hinter dem Zeloten her, der an die Haustür
stürzt. Aus den verschiedenen Türen kommen alle anderen, die sich im Haus
befinden, und rufen: «Sie sind da! Sie sind da!»
Doch als die Türe offen ist,
stehen alle so sichtlich enttäuscht vor Elisa und Nike, daß die beiden
Jüngerinnen fragen: «Ist irgend etwas passiert?»
«Nein, nein. Aber... wir
dachten... es seien die Mutter und die Jüngerinnen aus Galiläa ...» sagt
Petrus.
«Ach so. Und nun seid ihr
betrübt. Wir hingegen freuen uns sehr, euch zu sehen und zu erfahren, daß
Maria bald kommt», sagt Elisa.
«Betrübt nicht... nur etwas
enttäuscht. Doch kommt, kommt herein! Der Friede sei mit den guten
Schwestern», grüßt sie Thaddäus im Namen aller.
«Und auch mit euch. Ist der
Meister nicht da?»
«Er ist mit Johannes Maria
entgegengegangen. Wir wissen, daß sie mit dem Wagen des Lazarus von Sichern
kommt», erklärt der Zelote.
Sie gehen ins Haus, während
Andreas sich um den Esel Elisas kümmert. Nike ist zu Fuß gekommen. Sie reden
über alles, was in Jerusalem geschieht, fragen nach den Freunden und den
Jüngern... nach Annalia, Maria und Martha, nach dem alten Johannes von Nob,
nach Joseph, Nikodemus und vielen anderen. Die Abwesenheit des Judas Iskariot
läßt sie in Ruhe und offen miteinander reden.
Elisa, die alte, erfahrene Frau,
die Judas schon in Nob begegnet ist, ihn nun recht gut kennt und ihn auch nur
"Gott zuliebe" liebt, wie sie ganz offen zugibt, will wissen, ob er im Haus
ist. Sie hat bisher aus irgendeiner Laune heraus an den Gesprächen der anderen
nicht teilgenommen, und erst, als sie erfährt, daß er einkaufen gegangen ist,
sagt sie, was sie weiß: «In Jerusalem scheint sich alles beruhigt zu haben,
und nicht einmal die bekannten Jünger werden mehr verhört. Man munkelt, dies
sei so, weil
221
Pilatus die Herren vom Synedrium
ordentlich abgekanzelt und darauf aufmerksam gemacht hat, daß er allein in
Palästina Recht spricht und sie deshalb Ruhe geben sollten.»
«Man sagt aber auch», bemerkt
Nike, «- und es ist gerade Manaen, der dies sagt, und auch andere, denn
Valeria sagt es ebenfalls – daß Pilatus wirklich genug habe von diesem
Aufruhr, der das ganze Land in Unruhe versetzt und ihm Unannehmlichkeiten
bereiten könnte. Pilatus sei auch beeindruckt von der Hartnäckigkeit, mit der
die Juden ihm einreden wollen, daß Jesus danach trachtet, sich als König
ausrufen zu lassen; und wenn nicht die gleichlautend positiven Berichte der
Centurionen wären, und vor allem der Einfluß seiner Gattin, könnte es dazu
kommen, daß er Jesus bestraft, vielleicht mit dem Exil.»
«Das hätte uns gerade noch
gefehlt! Pilatus wäre imstande, es zu tun! Durchaus imstande! Es ist die
leichteste römische Strafe und die am meisten angewandte nach der Geißelung.
Stellt euch vor: Jesus allein, wer weiß wo, und wir da- und dorthin zerstreut
...» sagt der Zelote.
«Ja, zerstreut! Das sagst du...
Mich wird niemand zerstreuen. Ich laufe dem Meister nach...» sagt Petrus.
«Oh, Simon, bildest du dir ein,
daß sie dir das erlauben würden? Sie fesseln dich wie einen Galeerensträfling
und bringen dich, wohin es ihnen gefällt, vielleicht auf die Galeeren oder in
eines ihrer Gefängnisse; dann kannst du deinem Meister nicht mehr nachlaufen»,
sagt Bartholomäus zu Petrus. Dieser zerzaust sich ratlos und mutlos das Haar.
«Wir werden es Lazarus sagen.
Lazarus wird offen zu Pilatus gehen. Und dieser wird ihn sicher gerne
empfangen, denn die Heiden lieben es, außergewöhnliche Wesen zu sehen...» sagt
der Zelote.
«Lazarus wird vor seiner Abreise
schon dort gewesen sein, und Pilatus wird ihn nicht noch einmal sehen wollen!»
sagt Petrus bedrückt.
«Dann wird er als Sohn des
Theophilus zu ihm gehen. Oder er wird seine Schwester Maria zu den Damen
begleiten. Sie waren ja sehr befreundet, als... nun ja, als Maria noch eine
Sünderin war...»
«Wißt ihr schon, daß Valeria,
nachdem ihr Mann sich von ihr hat scheiden lassen, Proselytin geworden ist?
Sie macht Ernst mit ihren Vorsätzen. Sie führt das Leben einer Gerechten und
ist für viele von uns ein Beispiel. Sie hat ihre Sklaven freigelassen und
unterrichtet nun alle im wahren Glauben. Sie hatte sich ein Haus auf dem Sion
gemietet. Aber nun, da Claudia gekommen ist, ist sie zu ihr zurückgekehrt ...»
«Also... !»
«Nein. Sie hat zu mir gesagt:
"Sobald Johanna kommt, gehe ich zu ihr. Aber vorläufig will ich Claudia
überzeugen." Es scheint, daß es Claudia nicht gelingt, in ihrem begrenzten
Glauben an Christus Fortschritte zu machen. Für sie ist er ein Weiser... nicht
mehr. Es scheint sogar, daß sie sich vor ihrer Rückkehr in die Stadt durch das
Gerede hat beeinflussen lassen
222
und sich skeptisch geäußert hat:
"Nun ja, er ist ein Mann wie unsere Philosophen, und nicht gerade einer der
Besten; denn seine Worte stimmen nicht mit seinem Leben überein." Und sie
soll... nun ja, sie soll sich Dinge erlaubt haben, die sie seit einiger Zeit
aufgegeben hatte», sagt Nike.
Was nicht anders zu erwarten war.
Heidnische Seelen! Eine gute mag darunter sein... aber die anderen! Nichts als
Unrat! Unrat!» urteilt Bartholomäus.
«Und Joseph?» fragt Thaddäus.
«Welcher Joseph? Der von
Sephoris? Der hat eine Angst... ! Ah! Euer Bruder Joseph ist dagewesen. Er ist
gekommen und sofort wieder abgereist, aber über Bethanien, um den Schwestern
zu sagen, daß sie den Meister unter allen Umständen daran hindern sollen, in
die Stadt zu gehen und sich dort aufzuhalten. Ich bin dabeigewesen und habe es
gehört. So habe ich auch erfahren, daß Joseph von Sephoris sehr belästigt
wurde und nun große Angst hat. Euer Bruder hat ihn beauftragt, ihn auf dem
laufenden zu halten über das, was man im Tempel ausheckt. Der von Sephoris
kann es erfahren durch den Verwandten, der mit seiner Schwester oder der
Tochter der Schwester seiner Frau verheiratet ist, ich weiß es nicht genau,
und der ein Amt im Tempel innehat», sagt Elisa.
«Wieviel Angst! Wenn wir jetzt
nach Jerusalem gehen, will ich meinen Bruder zu Annas schicken. Ich könnte
selbst hingehen, denn auch ich kenne diesen alten Fuchs sehr gut. Doch
Johannes ist besser geeignet. Und Annas mochte ihn sehr gern, damals, als wir
noch den Worten dieses alten Wolfs lauschten und glaubten, daß er ein Lamm
sei. Ich werde Johannes schicken, denn er bringt es fertig, Schmähungen ohne
Widerrede über sich ergehen zu lassen. Ich hingegen... wenn er vor mir Flüche
gegen den Meister ausstoßen würde, oder auch nur gegen mich, weil ich ihm
folge, ich würde ihn am Kragen packen, würde ihn vermöbeln und zerquetschen,
diesen alten Wanst, wie man ein Netz auswindet. Ich würde ihm seine
niederträchtige Seele aus dem Leib prügeln, und selbst wenn er alle Soldaten
des Tempels und alle Priester um sich hätte!»
«Wenn der Meister dich so reden
hören würde!» sagt Andreas entsetzt.
«Gerade weil er nicht da ist,
sage ich es!»
«Du hast recht! Du bist nicht der
einzige, der solche Gelüste hat. Auch ich habe sie!» sagt Petrus.
«Ich auch, und nicht nur Annas
betreffend!» sagt Thaddäus.
«Oh, was das angeht... auch ich
möchte einige bedienen. Ich habe eine lange Liste. Diese drei Gerippe von
Kapharnaum – ich schließe den Pharisäer Simon aus, denn er scheint mir noch
einigermaßen gut zu sein -die beiden Wölfe von Esdrelon und das alte
Knochengerüst von Chananias. Und dann... ein Massaker, ich sage es euch, ein
Massaker in Jerusalern, und allen voran Elchias. Ich halte es einfach nicht
mehr länger aus mit all diesen hinterhältigen Schlangen!» tobt Petrus.
223
Thaddäus sagt ganz ruhig – und
diese eisige Ruhe macht mehr Eindruck als das Toben des Petrus: «Und ich würde
dir dabei helfen. Aber vielleicht würde ich damit anfangen, die Schlangen in
unserer Nähe auszuheben.»
«Wen meinst du? Samuel?»
«Nein, nein. Wir haben nicht nur
Samuel in unserer Nähe. Es gibt so viele, die ein bestimmtes Gesicht zeigen,
deren Seele aber ganz anders ist als ihr Gesicht. Ich lasse sie nicht aus den
Augen. Niemals. Ich will ganz sicher sein, bevor ich etwas unternehme. Aber
sobald ich sicher bin! Das Blut Davids ist heiß! Und heiß ist auch das Blut
der Galiläer. Ich habe beides in mir, von väterlicher und mütterlicher Seite.»
«Sage mir, wenn es soweit ist.
Ich werde dir helfen ...» sagt Petrus.
«Nein. Blutrache ist eine Pflicht
der Familie. Das ist meine Angelegenheit.»
«Aber Kinder, Kinder! Sprecht
doch nicht so. Ist es das, was der Meister lehrt? Ihr gleicht zornigen jungen
Löwen, anstatt Lämmern des Lammes. Legt eure Rachsucht ab. Die Zeiten Davids
sind schon lange vorüber. Das Gesetz des Blutes und der Vergeltung ist durch
Christus aufgehoben. Er läßt die Zehn Gebote unverändert; aber die anderen
harten mosaischen Gesetze hebt er auf. Von Moses bleiben die Gebote der
Barmherzigkeit, der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, die unser Jesus
zusammenfaßt und vervollkommnet in seinem größten Gebot: "Du sollst Gott
lieben mit deinem ganzen Gemüte; du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst, denen verzeihen, die dich beleidigen, und lieben, die dich hassen."
Oh, verzeiht mir, wenn ich als Frau mir erlaubt habe, meine Brüder zu
belehren. Es ist so viel größer als ich. Doch ich bin eine alte Mutter. Und
eine Mutter darf immer sprechen. Wenn ihr selbst Satan zu euch ruft durch
euren Haß gegen die Feinde und den Wunsch nach Rache, dann wird er kommen und
euch verderben. Satan ist nicht Stärke. Glaubt mir. Gott ist Stärke, Satan
aber Schwäche, Bürde und Abstumpfung. Ihr könntet, wenn Haß und Rache euch
erst einmal in Ketten gelegt hätten, keinen Finger mehr rühren; gegen eure
Feinde nicht, und nicht einmal, um unseren betrübten Jesus zu liebkosen. Auf,
meine Kinder! Alle seid ihr Kinder! Auch ihr, die ihr in meinem Alter oder
vielleicht noch älter seid. Alle seid ihr Kinder für eine Frau, die euch
liebt; für eine Mutter, die die Freude wiedergefunden hat, Mutter zu sein,
indem sie euch alle wie Söhne liebt. Erfüllt mich nicht mit der Angst, noch
einmal meine teuren Kinder verloren zu haben, und diesmal für immer. Denn wenn
ihr in eurem Haß oder bei einem Verbrechen sterbt, dann seid ihr auf ewig tot,
und wir könnten uns nicht mehr dort oben im Jubel um unsere gemeinsame Liebe
versammeln: um Jesus. Versprecht mir hier und sofort, mir, die ich euch
anflehe, versprecht einer armen Frau, einer armen Mutter, daß ihr nie wieder
solche Gedanken hegen werdet. Oh, sie entstellen sogar euer Antlitz. Ich
224
erkenne euch nicht wieder, so
verändert seid ihr. Wie häßlich macht euch die Rachsucht! Und ihr wart doch so
sanft. Was ist denn mit euch los? Hört mir zu! Maria würde euch das gleiche
sagen, nur mit etwas mehr Macht, denn sie ist Maria; aber es ist besser, wenn
sie nicht den ganzen Schmerz kennt... Oh, arme Mutter! Was geschieht nur? Ich
muß wahrhaftig annehmen, daß die Stunde der Finsternis angebrochen ist. Die
Stunde, die alle verschlingen wird. Die Stunde, in der Satan in allen König
sein wird, nur nicht in dem Heiligen, und alle versuchen wird, auch die
Heiligen, auch euch. Die Stunde, da er euch feige, meineidig und grausam
macht, wie er selbst es ist! Oh, bis jetzt habe ich immer Hoffnung gehabt und
gesagt: "Die Menschen werden Christus nichts anhaben können." Aber nun? Nun
habe ich Angst und zittere zum ersten Mal! An diesem klaren Himmel des Adar
sehe ich die große Finsternis sich ausbreiten und überhandnehmen; die
Finsternis, die den Namen Luzifer trägt und euch alle verdunkeln wird; die
Finsternis, die Gifte auf euch regnen lassen und euch krank machen wird. Oh,
ich habe Angst!» Elisa, die schon eine Weile lautlos geweint hat, läßt nun das
Haupt auf den Tisch sinken, an dem sie sitzt, und schluchzt verzweifelt.
Die Apostel sehen einander an.
Sie sind traurig geworden und versuchen, Elisa zu trösten; aber sie weist den
Trost zurück und sagt: «Eines, eines nur will ich von euch: euer Versprechen.
Zu eurem Besten. Damit Jesus in seinem Schmerz nicht auch noch den größten
Schmerz erleiden muß: euch verdammt zu sehen, euch, seine Auserwählten!»
«Aber ja, Elisa. Wenn es das ist,
was du willst! Weine nicht, Frau! Wir versprechen es. Höre. Wir werden gegen
niemanden auch nur einen Finger erheben. Wir werden nicht einmal schauen, um
nicht zu sehen. Weine nicht! Weine nicht! Wir werden denen verzeihen, die uns
beleidigen! Wir werden lieben, die uns hassen! Auf, weine nicht mehr.»
Elisa hebt das faltige,
tränennasse Gesicht und sagt: «Denkt daran. Ihr habt es mir versprochen!
Wiederholt es noch einmal!»
«Wir versprechen es dir, Frau.»
«Meine lieben Söhne, nun gefällt
ihr mir wieder. So erkenne ich euch wieder als meine guten Söhne. Und nun, da
sich meine Angst gelegt hat und ihr wieder rein seid von der bitteren Hefe,
wollen wir alles für die Ankunft Marias vorbereiten. Was ist noch zu tun?»
sagt Elisa und wischt sich die letzten Tränen aus den Augen.
«Eigentlich... haben wir schon
alles vorbereitet. Wir Männer. Aber Maria des Jakob hat uns dabei geholfen.
Sie ist eine Samariterin, aber eine herzensgute Seele. Du wirst sie gleich
sehen. Sie ist beim Backofen, um auf das Brot achtzugeben. Sie ist allein,
denn ihre Kinder sind tot oder haben sie vergessen, und der Reichtum ist
dahin... doch sie kennt keinen Groll...»
«Ach, seht ihr? Seht ihr, daß es
jemanden gibt, der verzeihen kann,
225
auch bei den Heiden, den
Samaritern. Und es muß schrecklich sein, wißt ihr, einem Sohn verzeihen zu
müssen... ! Besser tot als ein Sünder! Sagt, seid ihr sicher, daß Judas nicht
da ist?»
«Wenn er nicht ein Vogel geworden
ist, kann er nicht da sein, da zwar die Fenster offen, aber alle Türen, mit
Ausnahme von dieser hier, verschlossen sind.»
«Also... Maria des Simon ist mit
ihrem Verwandten in Jerusalem gewesen. Sie ist zum Tempel gegangen, um dort
Opfer darzubringen, und hat uns dann besucht. Sie gleicht einer Märtyrerin, so
betrübt ist sie! Sie hat mich gefragt, alle hat sie gefragt, ob wir nicht
etwas von ihrem Sohn wüßten. Ob er beim Meister sei... ob er immer bei ihm
gewesen sei...»
«Was hat denn diese Frau?» fragt
Andreas erstaunt.
«Sie hat ihren Sohn. Meinst du
nicht, daß das genügt?» fragt Thaddäus.
«Ich habe sie getröstet. Sie
wollte noch einmal mit uns in den Tempel. Wir gingen alle zusammen und haben
gebetet. Dann ist sie abgereist, immer mit ihrer Angst. Ich sagte ihr: "Wenn
du hierbleibst, kannst du bald mit uns zum Meister gehen. Dort wirst du deinen
Sohn finden." Sie wußte schon, daß Jesus hier ist. Man wußte es schon bis an
die Grenzen Palästinas. Doch sie wollte nicht: "Nein, nein. Der Meister hat
mir gesagt, ich solle im Frühjahr nicht in Jerusalem sein. Und ich gehorche.
Doch da ich Gott sehr nötig habe, wollte ich, bevor er zurückkommt, zum Tempel
hinaufgehen." Und dann hat sie noch etwas Eigenartiges gesagt: "Ich bin
unschuldig. Aber die Hölle ist in mir, und ich bin in ihr, so sehr werde ich
gepeinigt." Wir haben ihr viele Fragen gestellt, aber sie wollte nichts weiter
sagen; weder über ihre Qualen, noch über die Gründe für das Verbot Jesu. Sie
hat uns nur gebeten, Jesus und Judas nichts zu sagen.»
«Arme Frau! So wird sie also an
Passah nicht in Jerusalem sein?» fragt Thomas.
«Sie wird nicht dort sein.»
«Nun, wenn Jesus ihr das geboten
hat, wird er wohl einen Grund haben. Habt ihr gehört? Überall weiß man, daß
Jesus hier ist!» sagt Petrus.
«Ja. Und die, die es verkündet
haben, haben auch in seinem Namen aufgerufen, sich zu sammeln zum Aufstand
"gegen die Tyrannen", haben einige behauptet. Und andere, er würde sich hier
aufhalten, weil man ihn entlarvt hat...»
«Immer die gleichen Gründe! Die
müssen wahrhaft das ganze Gold des Tempels ausgegeben haben, um diese... ihre
Knechte in alle Himmelsrichtungen zu schicken!» bemerkt Andreas.
Es klopft an der Haustür.
«Sie sind da!» Alle eilen hinaus,
um zu öffnen.
Es ist jedoch nur Judas mit
seinen Einkäufen. Matthäus folgt ihm. Judas sieht Elisa und Nike, grüßt sie
und fragt: «Seid ihr allein?»
226
«ja. Maria ist noch nicht da.»
«Maria kommt nicht aus südlicher
Richtung, daher kann sie nicht bei euch sein. Ich meinte, ob Anastasica nicht
da ist?»
«Nein, sie ist in Bethsur
geblieben.»
«Warum? Auch sie ist eine
Jüngerin. Weißt du denn nicht, daß wir von hier aus zum Passahfest nach
Jerusalem aufbrechen werden? Sie hätte kommen sollen. Wenn nicht einmal die
Jüngerinnen und die Getreuen vollkommen sind, wer soll es dann sein? Wer wird
dann im Gefolge Jesu sein, um das Geschwätz Lügen zu strafen, daß alle ihn
verlassen haben?»
«Oh, wenn es nur das ist! Eine
arme Frau wird die Lücken nicht füllen. Die Rosen wachsen zwischen Dornen und
in verschlossenen Gärten. Ich vertrete Mutterstelle an ihr und habe es so
angeordnet.»
«Dann wird sie also an Passah
nicht dort sein?»
«Sie wird nicht dort sein.»
«Und so sind es schon zwei!» ruft
Petrus aus.
«Was sagst du? Wer: zwei?» fragt
der stets mißtrauische Judas.
«Nichts, nichts! Es war nur eine
Rechnung von mir. Man kann viele Dinge zählen, oder nicht? Auch die... Fliegen
zum Beispiel, die sich auf meinem gehäuteten Lamm dort niederlassen.»
Maria des Jakob kommt herein.
Samuel und Johannes folgen ihr und bringen die frischgebackenen Brote. Elisa
und Nike grüßen die Frau. Und Elisa fügt mit sanfter Stimme hinzu, um ihr
Vertrauen einzuflößen: «Du bist in deinem Schmerz unter Schwestern, Maria. Ich
bin allein, denn ich habe Mann und Söhne verloren, und diese dort ist eine
Witwe. Daher werden wir uns lieben, denn nur wer Tränen vergossen hat, kann
verstehen ...»
Unterdessen sagt Petrus zu
Johannes: «Warum bist du hier? Wo ist der Meister?»
«Auf dem Wagen. Mit seiner
Mutter.»
«Und du sagst nichts?!»
«Du hast mir keine Zeit dazu
gelassen. Es sind alle gekommen. Aber ihr werdet sehen, wie schlecht Maria von
Nazareth aussieht. Sie scheint um Jahre gealtert zu sein. Lazarus sagt, sie
habe sich sehr geängstigt, als er ihr mitteilte, daß Jesus hierher geflüchtet
sei.»
«Warum hat ihr dieser Dummkopf
das denn gesagt? Bevor er gestorben ist, war er doch so intelligent. Aber
vielleicht ist sein Gehirn im Grab weich geworden und hat sich nicht mehr
erholt. Man stirbt nicht ungestraft ...» sagt Judas ironisch und verächtlich.
«Nichts dergleichen! Warte ab,
bevor du redest. Lazarus von Bethanien hat es Maria erst unterwegs gesagt, als
sie sich über den Weg wunderte, den Lazarus einschlug», sagt Samuel streng.
«Ja, bei seiner ersten Durchreise
durch Nazareth sagte er nur: "In einem Monat werde ich dich zu deinem Sohn
bringen." Und er sagte nicht
227
einmal: "Wir fahren nach
Ephraim", als sie schon im Aufbruch begriffen waren, sondern...» sagt
Johannes.
«Alle wissen, daß Jesus hier ist.
Nur sie soll es nicht gewußt haben?» fragt Judas grob und unterbricht damit
Johannes.
«Maria wußte es, sie hatte es
gehört. Da jedoch eine Flut von schmutzigen Lügen Palästina überschwemmt,
wollte sie keiner dieser Nachrichten Glauben schenken. Sie hat schweigend
gelitten und gebetet. Doch als sie unterwegs waren und Lazarus den Weg längs
des Flusses einschlug, um die Nazarener und alle aus Kana, Sephoris und
Bethlehem in Galiläa irrezuführen ...»
«Ah, kommt auch Noemi mit Myrtha
und Aurea?» fragt Thomas.
«Nein. Jesus hat es ihnen
verboten. Isaak hat ihnen das Verbot überbracht, als er nach Galiläa
zurückgekehrt ist.»
«Dann... werden also auch diese
Frauen nicht bei uns sein, wie letztes Jahr.»
«Sie werden nicht bei uns sein.»
«Wieder drei!»
«Auch unsere Frauen und Töchter
werden nicht kommen. Der Meister selbst hat es ihnen geboten, bevor er Galiläa
verlassen hat. Das heißt, er hat es wiederholt; denn meine Tochter Marianna
sagte, Jesus habe es schon letztes Jahr an Passah so angeordnet.»
«Also... sehr gut! Kommen
wenigstens Johanna, Salome und Maria des Alphäus?»
«Ja. Auch Susanna.»
«Ganz gewiß auch Margziam... Doch
was ist das für ein Lärm?»
«Die Wagen! Die Wagen! Und alle
Nazarener, die sich nicht geschlagen gegeben haben und Lazarus gefolgt sind.
Auch die von Kana ...» antwortet Johannes und eilt mit den anderen davon.
Durch die offene Tür sieht man
ein wildes Durcheinander. Außer Maria, die mit Jesus und den Jüngerinnen in
einem Wagen sitzt, und Lazarus und Johanna, die zusammen mit Maria, Matthias,
Esther, weiteren Dienerinnen und dem getreuen Jonathan in einem zweiten Wagen
gefahren sind, ist eine große Volksmenge da. Bekannte Gesichter und unbekannte
Gesichter aus Nazareth, Kana, Tiberias, Naim und Endor. Und Samariter aus
allen Dörfern, durch die sie auf der Fahrt gekommen sind, und aus den
Nachbardörfern. Sie drängen sich um die Wagen, versperren den Weg und hindern
alle daran, auszusteigen oder einzusteigen.
«Was wollen die denn? Warum sind
sie gekommen? Wie haben sie es erfahren?»
«Nun, die Nazarener haben sich
auf die Lauer gelegt. Und als Lazarus am Abend ankam, um am nächsten Morgen
gleich wieder abzureisen, sind sie in die nahen Ortschaften geeilt. Und ebenso
die von Kana, denn Lazarus ist dort durchgefahren, um Susanna abzuholen und
sich mit Johanna
228
zu treffen. Dann sind sie ihm
gefolgt oder vorausgeeilt, um Jesus zu sehen und Lazarus zu sehen. Die Leute
in Samaria haben davon erfahren und sich ihnen angeschlossen. Und da sind sie
nun alle...» erklärt Johannes.
«Du, du hattest Angst, daß der
Meister kein Gefolge haben würde, sag, scheint dir das nun genug?» fragt
Philippus Iskariot.
«Nun, die sind wegen Lazarus
gekommen...»
«Nachdem sie ihn gesehen hatten,
hätten sie doch wieder gehen können. Aber sie sind bis hierher gefolgt. Ein
Zeichen, daß es auch solche gibt, die wegen des Meisters gekommen sind.»
«Gut. Wir wollen keine unnützen
Worte verlieren. Schaffen wir zunächst Platz, damit sie hereinkommen können.
Los, ihr Jungen! Damit wir in Übung bleiben. Wir haben schon lange nicht mehr
unsere Ellbogen gebraucht, um Jesus einen Weg zu bahnen!» Und Petrus arbeitet
sich als erster wie ein Keil durch die hosannarufende, neugierige,
ehrerbietige und geschwätzige Menge. Und als es ihm mit Hilfe anderer und
vieler Jünger in der Menge gelungen ist, etwas Platz zu schaffen, können sich
die Frauen endlich ins Haus flüchten, und ebenso Jesus und Lazarus. Petrus
zieht sich als letzter zurück, verrammelt die Tür mit Schlössern und Riegeln
und schickt andere zum Gartentor, um auch dieses zu verschließen. «Oh,
endlich! Der Friede sei mit dir, Maria, du Gesegnete! Endlich sehe ich dich
wieder! Nun ist alles schön, weil du bei uns bist!» grüßt Petrus und verneigt
sich bis zum Boden vor Maria. Eine Maria mit so traurigem, bleichem und müdem
Gesicht, daß es schon dem Gesicht der Schmerzensmutter gleicht.
«Ja, nun ist alles weniger
schmerzlich, da ich hier in seiner Nähe bin.»
«Ich habe dir doch versichert,
daß es die Wahrheit ist», sagt Lazarus.
«Du hast recht... Doch als ich
erfuhr, daß mein Sohn hier ist, hat sich für mich die Sonne verdunkelt und
jeder Friede war dahin... Ich habe verstanden... Oh!» Immer neue Tränen rinnen
über die bleichen Wangen.
«Weine nicht, meine Mutter! Weine
nicht! Ich war hier bei diesen guten Menschen, bei einer anderen Maria, die
ebenfalls Mutter ist...» Jesus begleitet Maria in einen Raum, der zum ruhigen
Garten hin gelegen ist. Alle folgen ihm.
Lazarus entschuldigt sich: «Ich
mußte es ihr sagen, denn sie kannte die Straße und konnte nicht verstehen,
warum ich diese nahm. Sie glaubte dich bei mir in Bethanien... Doch als dann
in Sichern ein Mann rief: "Auch wir gehen zum Meister nach Ephraim", konnte
ich es nicht mehr verheimlichen... Ich hoffte auch, diesen Leuten dadurch zu
entgehen, daß ich bei Nacht aufbrach und wenig benützte Straßen nahm. Aber es
war nichts zu machen! In jeder Ortschaft hatten sie Wachen aufgestellt, und
während uns eine Schar folgte, gingen andere bereits voraus, um uns
anzukündigen.»
Maria des Jakob bringt Milch,
Honig, Butter und frisches Brot und
229
bietet alles zuerst Maria an.
Dabei schaut sie Lazarus von unten bis oben an, halb neugierig und halb
ängstlich, und ihre Hand zittert, als sie Lazarus Milch gibt und dabei seine
Hand streift. Als sie sieht, daß er wie alle anderen von ihren Fladen ißt,
kann sie ein «Oh!» nicht zurückhalten.
Lazarus lacht als erster und sagt
liebenswürdig, vornehm und sicher, wie alle Menschen edler Herkunft: «Ja,
Frau. Ich esse genau wie du, und dein Brot und deine Milch schmecken mir sehr
gut. Gewiß wird mir auch dein Bett gefallen, denn ich spüre die Müdigkeit
ebenso wie den Hunger.»Dann wendet er sich den anderen zu und sagt: «Viele
fassen mich unter irgendeinem Vorwand an, um zu sehen, ob ich wirklich aus
Fleisch und Bein bin, ob ich warm bin und atme. Es ist etwas anstrengend.
Sobald meine Mission beendet ist, werde ich mich nach Bethanien zurückziehen.
In deiner Nähe, Meister, lenke ich die Leute zu sehr ab. Bis Syrien habe ich
geleuchtet, habe ich Zeugnis von deiner Macht abgelegt. Nun verdunkle ich
mich. Du allein sollst am Himmel des Wunders leuchten, am Himmel Gottes und
vor den Menschen.»
Maria sagt indessen zu der
Greisin: «Mein Sohn hat mir gesagt, wie gut du zu ihm gewesen bist. Laß mich
dich küssen, um dir damit zu sagen, daß ich dankbar bin. Ich habe nichts,
womit ich dich belohnen könnte, außer meiner Liebe. Auch ich bin arm... und
auch ich kann sagen, daß ich keinen Sohn mehr habe, denn er gehört Gott und
seiner Mission... Und so soll es immer sein, denn heilig und gerecht ist
alles, was Gott will.»
Maria ist sanft, doch wie
gebrochen vor Kummer... Alle Apostel betrachten sie mit so viel Mitleid, daß
sie darüber den Tumult draußen vergessen; und sie vergessen sogar, nach den
fernen Angehörigen zu fragen.
Doch Jesus sagt: «Ich gehe auf
die Terrasse, um die Leute zu segnen und zu entlassen.» Das rüttelt Petrus auf
und er sagt: «Aber wo bleibt denn Margziam? Ich habe alle Jünger gesehen, nur
ihn nicht.»
«Margziam ist nicht da»,
antwortet Salome, die Mutter des Jakobus und des Johannes.
«Was, Margziam ist nicht da?
Warum nicht? Ist er krank?»
«Nein, es geht ihm gut. Auch
deiner Frau geht es gut. Aber Margziam ist nicht da, weil Porphyria ihn nicht
gehen lassen wollte.»
«Dummes Frauenzimmer! In einem
Monat ist Passah, und da muß er doch sowieso kommen! Also hätte sie ihn gleich
mit euch schicken können, um dem Sohn und mir eine Freude zu machen. Aber sie
ist langsamer und schwerer von Begriff als ein Schaf ...»
«Johannes und Simon des Jonas,
Lazarus, und du, Simon Zelot, kommt mit mir. Die anderen bleiben, wo sie sind,
bis ich die Leute entlassen und die Jünger ausgesondert habe», befiehlt Jesus,
geht mit den vier Männern hinaus und schließt die Tür.
Er geht durch den Hausgang in die
Küche und dann in den Garten, gefolgt von Petrus, der etwas in seinen Bart
brummt, und den anderen.
230
Doch bevor Jesus die Terrasse
betritt, bleibt er auf der Treppe stehen, dreht sich um und legt eine Hand auf
die Schulter des Petrus, der ihn unzufrieden anschaut. «Höre mir gut zu, Simon
Petrus, und höre auf, Porphyria zu beschuldigen und zu schelten. Sie ist
unschuldig. Sie gehorcht nur meinem Befehl. Ich bin es, der ihr vor dem
Laubhüttenfest geboten hat, Margziam nicht nach Judäa kommen zu lassen ...»
«Aber das Passahfest, Herr!»
«Ich bin der Herr, du sagst es.
Und als Herr kann ich alles befehlen, denn meine Befehle sind immer gerecht.
Quäle dich daher nicht mit unnötigen Skrupeln. Erinnerst du dich, was in
Numeri geschrieben steht? "Wenn jemand von euch an einer Leiche unrein
geworden ist oder sich auf einer weiten Reise befindet, so soll er das Passah
des Herrn am 14. Tage des zweiten Monats gegen Abend halten."»
«Aber Margziam ist doch nicht
unrein. Ich hoffe wenigstens, daß Porphyria nicht gerade jetzt die Absicht hat
zu sterben. Und er ist auch nicht auf Reisen...» entgegnet Petrus.
«Das macht nichts. Ich will es
so. Es gibt Dinge, die noch unreiner machen können als ein Toter. Ich möchte
nicht, daß Margziam Schaden leidet. Laß mich nur gewähren, Petrus. Ich weiß,
was ich tue. Versuche zu gehorchen, wie deine Frau und auch Margziam es tun.
Wir werden mit ihm das zweite Passahfest feiern, am 14. Tag des zweiten
Monats. Und wir werden dann sehr glücklich sein. Ich verspreche es dir.»
Petrus macht eine Miene, als
wollte er sagen: «Finden wir uns eben damit ab», doch er widerspricht nicht.
Der Zelote bemerkt: «Es ist schon
eine Weile, daß du nicht mehr ausrechnest, wie viele an Ostern nicht in der
Stadt sein werden ...»
«Ich habe keine Lust mehr, sie zu
zählen. All dies erfüllt mich mit einem seltsamen Gefühl... Ein Schauder...
Dürfen es die anderen wissen?»
«Nein. Ich habe euch eigens
beiseite genommen.»
«Dann habe auch ich Lazarus etwas
Vertrauliches zu sagen.»
«Sprich nur. Wenn ich kann, will
ich gerne antworten», sagt Lazarus.
«Oh, auch wenn du mir nicht
antwortest, macht es nichts. Es genügt mir, wenn du zu Pilatus gehst – die
Idee stammt von deinem Freund Simon – und im Gespräch mit ihm so nebenbei
herausbekommst, was er mit Jesus im Sinn hat, im Guten oder Bösen... Weißt
du... mit Geschick... Denn es wird so viel geredet... !»
«Ich werde es tun, gleich nach
meiner Ankunft in Jerusalem. Ich werde über Bethel und Rama anstatt über
Jericho nach Bethanien fahren, eine Zeitlang im Palast von Sion verweilen und
dann zu Pilatus gehen. Du kannst dich darauf verlassen, Petrus. Ich werde klug
und aufrichtig sein.»
«Du wirst nur deine Zeit
vergeuden, Freund. Denn Pilatus – du weißt es als Mensch, ich weiß es als Gott
– ist nur ein Schilfrohr, das sich je nach dem Wind in die eine oder andere
Richtung neigt und auszuweichen
231
versucht. Er ist niemals
unaufrichtig; denn er ist immer davon überzeugt, daß er tun wird, und er tut
in diesem Augenblick auch, was er sagt. Aber einen Augenblick später, wenn der
Wind von einer anderen Seite heult, vergißt er – oh! nicht daß er sein
Versprechen nicht halten oder sein Wille schwanken würde – einfach alles, was
er vorher wollte. Er vergißt, weil das Heulen eines Willens, der stärker ist
als der seine, ihm das Gedächtnis nimmt, alle Gedanken fortbläst, die ein
anderer Sturm ihm eingegeben hatte, und ihm neue in den Kopf weht. Und die
tausend Stimmen des Sturms übertönt die Stimme seiner Frau, die ihm mit
Scheidung droht, wenn er nicht tut, was sie will... Und von ihr getrennt, wäre
es aus mit seiner Macht, würde er die Gunst des "göttlichen" Caesar verlieren,
wie sie sagen, obwohl sie davon überzeugt sind, daß dieser Caesar
verwerflicher ist als sie selbst... Denn sie sehen in der Person die Idee; die
Idee läßt sogar den Menschen, der sie repräsentiert, unbedeutend werden. Und
man kann nicht sagen, daß diese Idee ungebührlich wäre. Denn jeder
Staatsbürger liebt sein Vaterland, und es ist auch richtig, daß er es liebt,
daß er seinen Triumph wünscht... Der Caesar ist das Vaterland... und so... ist
er, selbst wenn er ein Elender ist, groß um dessentwillen, was er
repräsentiert. Aber ich wollte nicht vom Caesar sprechen, sondern von Pilatus.
Ich sagte also, daß stärker als alle Stimmen, als die seiner Frau und die der
Menge, die Stimme – und was für eine Stimme! – des eigenen Ich sich Gehör
verschafft. Das kleine Ich des kleinen Mannes, das gierige Ich des gierigen
Mannes, das stolze Ich des stolzen Mannes. Diese Kleinheit, dieser Stolz und
diese Gier wollen herrschen, um mächtig zu sein, wollen herrschen, um viel
Geld und einen Haufen kriechende Untergebene zu haben. Der Haß brütet im
Verborgenen, aber der kleine Caesar, Pilatus genannt, unser kleiner Caesar,
sieht ihn nicht... Er sieht nur die gebeugten Rücken, die Verehrung und Furcht
vortäuschen oder sie manchmal auch wirklich ausdrücken. Und für diese
stürmische Stimme des eigenen Ich ist er zu allem bereit. Ich sage: zu allem.
Hauptsache, er kann weiterhin Pontius Pilatus, der Prokonsul, der Diener des
Caesar, der Beherrscher einer der vielen Regionen des Imperiums bleiben. Und
deshalb wird er – auch wenn er mich heute verteidigt – morgen mein Richter
sein, mein erbarmungsloser Richter. Die Gedanken der Menschen sind immer
unstet, und ganz besonders, wenn der Mensch Pontius Pilatus heißt. Aber du
kannst Petrus zufriedenstellen, Lazarus... Wenn ihm das ein Trost ist...»
«Ein Trost nicht... aber eine
Beruhigung...»
«Dann stelle unseren guten Petrus
zufrieden und geh zu Pilatus.»
«Ich werde es tun, Meister. Aber
du hast den Prokonsul dargestellt, wie es kein Geschichtsschreiber oder
Philosoph hätte tun können. Ausgezeichnet!»
«Genauso könnte ich den wahren
Charakter eines jeden Menschen darstellen. Aber gehen wir nun zu den Leuten,
die draußen lärmen.»
232
Jesus steigt die letzten Stufen
hinauf und zeigt sich der Menge. Er hebt die Arme und sagt mit lauter Stimme:
«Leute von Galiläa und Samaria, Jünger und Nachfolger. Eure Liebe, der Wunsch,
mir Ehre zu erweisen und meine Mutter und meinen Freund zu ehren, hat euch dem
Wagen folgen lassen und mir gezeigt, wie ihr über mich denkt. Ich kann euch
für diese Gesinnung nur segnen. Doch nun kehrt nach Hause und zu euren
Geschäften zurück. Ihr von Galiläa, geht und sagt den Daheimgebliebeneu, daß
Jesus von Nazareth sie segnet. Männer von Galiläa, wir werden uns an Passah in
Jerusalem wiedersehen, wo ich am Tag nach dem Sabbat vor dem Passahfest
eintreffen werde. Männer von Samaria, geht auch ihr. Und beschränkt eure Liebe
zu mir nicht darauf, mich nur auf den irdischen Wegen zu suchen, sondern auch
auf denen des Geistes. Geht und laßt das Licht in euch leuchten. Jünger des
Meisters, trennt euch von den anderen Getreuen und bleibt in Ephraim, damit
ich euch meine Unterweisungen geben kann. Geht und gehorcht.»
«Er hat recht! Wir stören ihn. Er
will mit seiner Mutter allein sein!» schreien die Jünger und die Nazarener.
«Wir gehen. Doch zuvor wollen wir
ein Versprechen: daß er vor dem Passahfest nach Sichern kommt. Nach Sichern!
Nach Sichern!»
«Ich werde kommen. Geht nun. Ich
werde kommen, bevor ich zum Passahfest nach Jerusalem gehe.»
«Geh nicht nach Jerusalem! Geh
nicht! Bleibe bei uns! Bei uns! Wir werden dich verteidigen. Wir werden dich
zu unserem König und Herrscher erheben! Sie hassen dich! Wir lieben dich!
Nieder mit den Juden! Es lebe Jesus!»
«Ruhe! Macht keinen Lärm! Meine
Mutter leidet unter diesen Rufen, die mir mehr schaden können als ein Wort des
Fluches. Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Geht also. Ich werde durch
Sichern kommen. Doch entfernt aus euren Herzen den Gedanken, daß ich aus
niedriger menschlicher Feigheit und in sakrilegischer Auflehnung gegen den
Willen meines Vaters meine Pflicht als Israelit vernachlässigen könnte, den
wahren Gott in dem einzigen Tempel, in dem er angebetet werden darf,
anzubeten. Ich werde nur in Jerusalem die Krone als Messias erhalten und zum
König der ganzen Welt gesalbt werden, entsprechend den Worten und der von den
großen Propheten geschauten Wahrheit.»
«Höre auf damit! Es gibt keine
anderen Propheten nach Moses! Du machst dir falsche Hoffnungen.»
«Ihr auch. Seid ihr vielleicht
frei? Nein. Wie heißt Sichern jetzt? Was ist der neue Name? Und was für
Sichern gilt, gilt auch für viele andere Städte von Samaria, Judäa und
Galiläa; denn der römische Schmelztiegel macht uns alle gleich. Heißt eure
Stadt vielleicht Sichern? Nein, Neapolis heißt sie. So wie Bethsean
Scythopolis heißt und viele andere Städte, die, sei es auf Befehl der Römer,
sei es aus kriegerischer Untertänigkeit, den
233
von den Herren oder von der
Schmeichelei auferlegten Namen angenommen haben. Und ihr allein wollt stärker
sein als eine ganze Stadt, als eure Bezwinger, als Gott? Nein, nichts kann das
Schicksal dessen ändern, der zur Rettung aller bestimmt ist. Ich folge dem
geraden Weg. Folgt mir nach, wenn ihr mit mir in das ewige Reich eingehen
wollt.»
Jesus will sich zurückziehen.
Aber das Volk aus Samaria lärmt so sehr, daß die Galiläer reagieren.
Gleichzeitig eilen alle im Haus durch den Garten und die Treppe zur Terrasse
hinauf. Als erstes erscheint das bleiche, traurige und verängstigte Gesicht
Marias hinter Jesus. Die Mutter umarmt ihren Sohn und drückt ihn an sich, als
wolle sie ihn vor den Schmähungen schützen, die von unten heraufgeschrien
werden: «Du hast uns verraten! Du bist zu uns geflüchtet und hast uns glauben
gemacht, daß du uns liebst, während du uns doch nur verachtest! Nun wird man
uns durch deine Schuld noch mehr verachten!» und so weiter.
Auch die Jüngerinnen, die Apostel
und als letzte die erschrockene Maria des Jakob drängen sich nun um Jesus. Das
Geschrei von unten läßt die Ursache des Aufruhrs klar erkennen: «Warum hast du
dann deine Jünger gesandt, um uns zu sagen, daß man dich verfolgt?»
«Ich habe niemanden gesandt. Seht
dort die Leute von Sichern. Tretet vor. Was habe ich eines Tages auf dem Berg
zu euch gesagt?»
«Es ist wahr. Er hat uns gesagt,
daß er Gott nur im Tempel anbeten kann, solange nicht der neue Tempel für alle
errichtet ist. Meister, es ist nicht unsere Schuld, glaube uns! Diese sind von
falschen Boten betrogen und getäuscht worden», sagen die Sichemiten, die vor
einiger Zeit die drei Kinder abgeholt haben, die Jesus den Räubern abgenommen
hat.
«Ich weiß es. Doch nun geht. Ich
werde trotzdem nach Sichern kommen. Ich fürchte niemanden. Aber geht jetzt, um
nicht euch selbst und denen eures Blutes zu schaden. Seht ihr dort auf der
Straße die Harnische der Legionäre glänzen? Sie sind euch gewiß in einiger
Entfernung gefolgt, da sie so viel Volk gesehen haben, und sind dann abwartend
im Wald geblieben. Nun sind sie durch euren Lärm angelockt worden. Geht. Ich
sage es zu eurem Wohl.»
Tatsächlich sieht man in der
Ferne auf der Hauptstraße, die ins Gebirge führt, wo Jesus den Verhungernden
gefunden hat, ein vielfaches Aufblitzen, das sich vorwärtsbewegt. Die Leute
gehen langsam auseinander. Nur die von Ephraim, die Galiläer und die Jünger
bleiben.
«Geht auch ihr in eure Häuser,
ihr Leute von Ephraim. Und ihr von Galiläa, macht euch auf den Heimweg.
Gehorcht dem, der euch liebt!»
Auch diese gehen. Es bleiben nur
die Jünger, und Jesus gebietet, sie ins Haus und in den Garten zu lassen.
Petrus geht mit anderen hinunter, um das Tor zu öffnen.
Judas von Kerioth geht nicht
hinunter. Er lacht! Er lacht und sagt: «Nun wirst du sehen, wie die "guten
Samariter" dich hassen! Du zerstreust
234
die Steine zum Bau deines
Reiches. Und die zerstreuten Steine eines Baus werden zur Waffe, mit der man
zuschlägt. Du hast sie verachtet. Sie werden das nicht vergessen.»
«Sollen sie mich hassen. Ich
werde nicht meine Pflicht vergessen aus Furcht vor ihrem Haß. Komm, Mutter.
Wir wollen gehen und den Jüngern sagen, was sie zu tun haben, bevor wir sie
entlassen.» Jesus geht zwischen Maria und Lazarus die Treppe hinunter und ins
Haus, in dem sich bereits die nach Ephraim gekommenen Jünger drängen. Er gibt
ihnen die Anweisung, überall hinzugehen und den Gefährten auszurichten, daß
sie am Neumond des Nisan in Jericho sein und ihn dort erwarten sollen. Den
Bewohnern der Orte, durch die sie kommen, sollen sie sagen, daß er Ephraim
verläßt und sie ihn am Passahfest in Jerusalem finden werden.
Dann teilt Jesus die Jünger in
Dreiergruppen auf und vertraut Isaak, Hermas und Stephanus den neuen Jünger
Samuel an, den Stephanus so begrüßt: «Die Freude, dich im Licht zu sehen,
lindert meinen Schmerz darüber, daß sich alles zum Schlechten für den Meister
wendet.»
Hermas grüßt ihn so: «Du hast
einen Menschen für einen Gott verlassen. Und Gott ist nun wahrlich mit dir.»
Der scheue und demütige Isaak
sagt nur: «Der Friede sei mit dir, Bruder.»
Nachdem die Leute aus Ephraim, um
ihren guten Willen zu zeigen, Brot und Milch angeboten haben, gehen auch die
Jünger fort, und endlich kehrt Ruhe ein... Doch während das Lamm zubereitet
wird, hat Jesus noch zu tun. Er nähert sich Lazarus und sagt zu ihm: «Komm mit
mir zum Bach.»
Lazarus gehorcht wie üblich
sofort. Sie entfernen sich ungefähr zweihundert Meter vom Haus. Lazarus
schweigt und wartet, daß Jesus spricht. Und Jesus sagt: «Ich wollte dir sagen:
Meine Mutter ist sehr niedergeschlagen. Du hast es gesehen. Schicke deine
Schwestern hierher. Ich werde mich wirklich mit allen Aposteln und den
Jüngerinnen nach Sichem begeben. Doch dann will ich sie nach Bethanien
vorausschicken, während ich noch eine Weile in Jericho bleibe. Hier in Samaria
kann ich es noch wagen, Frauen bei mir zu haben. Anderswo geht es nicht mehr
...»
«Meister, fürchtest du
wirklich... Oh, wenn es so ist, warum hast du mich ins Leben zurückgerufen?»
«Damit ich einen Freund habe.»
«Oh, wenn es deshalb geschehen
ist... Hier bin ich. Wenn ich dich mit meiner Freundschaft trösten kann, dann
bedeutet mir kein Schmerz mehr etwas.»
«Das weiß ich. Deswegen brauche
ich dich und werde ich dich noch brauchen als meinen besten Freund.»
«Soll ich denn wirklich zu
Pilatus gehen?»
«Wenn du meinst. Aber nur wegen
Petrus, nicht meinetwegen.»
235
«Meister, ich werde dich
benachrichtigen lassen... Wann wirst du diesen Ort verlassen?»
«In acht Tagen. Die Zeit reicht
gerade noch, um hinzugehen, wo ich hingehen möchte, und dann vor dem
Passahfest bei dir zu sein. Ich werde mich in Bethanien, der Oase des
Friedens, ausruhen, bevor ich mich in den Tumult von Jerusalem stürze.»
«Meister, weißt du, daß das
Synedrium beschlossen hat, Anklagen zu erfinden, da es keine echten gibt, um
dich zu zwingen, für immer das Land zu verlassen? Ich weiß es vom Synedristen
Johannes, den ich zufällig in Ptolemais getroffen habe und der sehr glücklich
ist über das Kind, dessen Geburt bevorsteht. Er hat zu mir gesagt: "Es
schmerzt mich sehr, daß das Synedrium dies beschlossen hat. Ich hätte gerne
den Meister bei der Beschneidung meines Kindes, das hoffentlich ein Junge
wird, dabei gehabt. Es müßte in den ersten Tagen des Tammus zur Welt kommen.
Aber wird der Meister um diese Zeit noch bei uns sein? Ich würde mich freuen,
wenn er den kleinen Emmanuel – und dieser Name wird dir zeigen, wie ich denke
– bei seinem ersten Auftreten in der Welt segnen könnte. Denn mein Sohn, der
glückliche, wird nicht kämpfen müssen, um glauben zu können, so wie wir es
mußten. Er wird in der messianischen Zeit aufwachsen, und es wird ihm
leichtfallen, den Gedanken zu akzeptieren." Johannes ist nun überzeugt, daß du
der Verheißene bist.»
«Und dieser eine entschädigt mich
für das, was viele andere nicht tun. Lazarus, wir wollen uns hier in Ruhe
verabschieden. Ich danke dir für alles, mein Freund. Du bist ein wahrer
Freund. Mit zehn deinesgleichen wäre es noch schön gewesen, inmitten all
dieses Hasses zu leben...»
«Nun hast du deine Mutter, mein
Herr. Sie ist zehn und hundert Lazarusse wert. Doch vergiß nicht, was immer du
brauchst, werde ich dir beschaffen, wenn es in meiner Macht liegt. Befiehl,
und ich werde dein Diener sein, in allem. Ich bin vielleicht nicht weise und
heilig wie andere, die dich lieben; aber einen, der treuer ist als ich, wirst
du – Johannes ausgenommen – nicht finden. Ich glaube nicht, hochmütig zu sein,
wenn ich das sage. Und nun, da wir von dir gesprochen haben, möchte ich dir
noch von Syntyche berichten. Ich habe sie gesehen. Sie ist aktiv und klug, wie
nur eine Griechin es sein kann, die deine Jüngerin werden durfte. Sie leidet
darunter, fern von dir zu sein. Aber sie sagt, daß sie sich freut, deinen Weg
bereiten zu dürfen. Sie hofft, dich noch vor ihrem Tod zu sehen.»
«Sie wird mich gewiß sehen. Ich
enttäusche nicht die Hoffnung der Gerechten.»
«Sie hat eine kleine Schule, die
von Mädchen aus allen umliegenden Orten besucht wird. Und am Abend holt sie
einige arme Mädchen gemischter Abstammung, die deshalb keine Religion haben,
zu sich und unterrichtet sie in deiner Lehre. Ich habe ihr gesagt: "Warum
wirst du nicht Proselytin? Es würde dir viel helfen!' Und sie hat mir zur
Antwort
236
gegeben: "Ich will mich nicht
Israel widmen, sondern den leeren Altären, die auf einen Gott warten. Ich
bereite sie vor, meinen Gott zu empfangen. Danach, wenn sein Reich errichtet
ist, werde ich in meine Heimat zurückkehren und dort unter dem Himmel von
Hellas den Rest meines Lebens damit verbringen, die Herzen für den Meister
vorzubereiten. Das ist mein Traum. Doch sollte ich vorher durch Krankheit oder
Verfolgung umkommen, so werde ich trotzdem glücklich scheiden; denn es wird
ein Zeichen dafür sein, daß ich meine Arbeit getan habe und er seine Dienerin
zu sich ruft. Er, den ich von der ersten Begegnung an geliebt habe!'»
«Das ist wahr. Syntyche hat mich
wirklich von der ersten Begegnung an geliebt.»
«Ich wollte ihr verschweigen, daß
du verfolgt wirst. Doch in Antiochia hallen wie in einer Muschel alle Stimmen
des großen römischen Imperiums wider, und daher auch das, was hier geschieht.
Und Syntyche kennt deine Leiden. Aber mehr noch schmerzt es sie, so weit
entfernt von dir zu sein. Sie wollte mir Geld geben, aber ich habe es
abgelehnt und gesagt, sie solle es für ihre Mädchen verwenden. Und ich habe
nur eine Kopfbedeckung aus zwei verschiedenen Arten Byssus angenommen, die sie
selbst gewebt hat. Deine Mutter hat sie. Syntyche wollte mit dem Faden deine,
ihre und die Geschichte des Johannes von Endor aufzeichnen. Und weißt du wie?
Sie hat um das Quadrat herum eine Bordüre gewoben, die ein Lamm darstellt, das
zwei Tauben gegen eine Meute Hyänen verteidigt. Eine Taube hat gebrochene
Flügel, und die andere hat die Kette zerbrochen, mit der sie gefesselt war.
Und die Geschichte geht weiter, bis die Taube mit den gebrochenen Flügeln
ihren Höhenflug antritt und die andere sich freiwillig in Gefangenschaft zu
Füßen des Lammes begibt. Es scheint eine jener Geschichten zu sein, die die
Griechen in die Marmorgirlanden ihrer Tempel und in die Grabsäulen ihrer Toten
meißeln und ihre Maler auf die Krüge malen. Sie wollte sie dir durch meine
Diener schicken. Ich habe sie selbst mitgenommen.»
«Ich werde die Kopfbedeckung
tragen, denn sie kommt von einer guten Jüngerin. Gehen wir zum Haus. Wann
gedenkst du abzureisen?»
«Morgen bei Sonnenaufgang. Die
Pferde brauchen Ruhe. Dann werde ich bis Jerusalem nicht mehr anhalten und
gleich zu Pilatus gehen. Wenn ich ihn sprechen kann, werde ich dich durch
Maria seine Antwort wissen lassen.»
Sie gehen langsam ins Haus und
unterhalten sich dabei über Kleinigkeiten.
237
622. JUDAS VON KERIOTH IST EIN
DIEB
Jesus befindet sich mit den
Jüngerinnen und den beiden Aposteln auf einer der ersten Erhebungen des Berges
hinter Ephraim. Johanna hat weder die Kinder noch Esther bei sich. Ich denke,
daß sie sie bereits mit Jonathan nach Jerusalem geschickt hat. Es sind also
außer der Mutter Jesu nur Maria des Kleophas, Maria Salome, Johanna, Elisa,
Nike und Susanna anwesend. Die beiden Schwestern des Lazarus sind noch nicht
da.
Elisa und Nike falten Kleider
zusammen, die sie offenbar an dem Flüßchen, das man unten schimmern sieht,
gewaschen oder vom Bach hierher gebracht und dann an diesem sonnigen Plätzchen
zum Trocknen aufgehängt haben. Und nachdem Nike eines dieser Kleider
betrachtet hat, gibt sie es Maria Kleophä und sagt: «Auch an diesem hier hat
dein Sohn den Saum heruntergerissen.»
Maria des Alphäus nimmt das
Gewand und legt es zu den anderen, die neben ihr im Gras liegen.
Alle Jüngerinnen sind dabei, zu
nähen und die Schäden auszubessern, die in den vielen Monaten entstanden sind,
die die Apostel auf sich selbst angewiesen waren.
Elisa kommt mit anderen
getrockneten Kleidern an und sagt: «Man sieht, daß ihr drei Monate lang keine
erfahrene Frau bei euch gehabt habt. Kein einziges Gewand ist in Ordnung,
ausgenommen das des Meisters, der noch dazu nur zwei besitzt. Das, das er
trägt, und das andere, das heute gewaschen worden ist.»
«Er hat sie alle weggegeben. Es
sah so aus, als hätte ihn der Wahn gepackt, nichts mehr besitzen zu wollen.
Seit vielen Tagen schon trägt er nur das Leinenkleid», sagt Judas.
«Zum Glück hat deine Mutter daran
gedacht, dir neue mitzubringen. Diese Purpurfarbe ist wirklich sehr schön. Du
hattest es nötig, Jesus, obwohl dir das Linnengewand auch gut steht. Du
gleichst darin einer Lilie», sagt Maria des Alphäus.
«Einer sehr großen Lilie, Maria!»
spottet Judas.
«Aber einer reinen, was du ganz
gewiß nicht bist; und nicht einmal Johannes ist so rein. Du bist zwar auch in
Leinwand gekleidet, aber glaube mir, einer Lilie gleichst du wirklich nicht»,
erwidert Maria des Alphäus offen.
«Ich habe dunkle Haare und eine
dunkle Hautfarbe, deshalb bin ich anders.»
«Nein, das hat nichts damit zu
tun. Vielmehr bist du zwar äußerlich rein, Jesus aber ist es innerlich; und
seine Reinheit strahlt aus seinem Blick, aus seinem Lächeln und aus seinen
Worten. Das ist es. Ach, wie gut geht es uns hier bei meinem Jesus...» und die
gute Maria legt eine ihrer
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mageren, abgearbeiteten und
greisen Hände auf das Knie Jesu, der diese ehrbare Hand streichelt.
Marie Salome, die gerade ein
Gewand prüft, ruft entsetzt aus: «Aber das ist ja schlimmer als ein Lumpen!
Oh, mein Sohn! Wer hat dir denn das Loch so geflickt?» und empört zeigt sie
den Gefährtinnen eine Art... gekräuselten Nabel, einen erhöhten Kreis auf dem
Stoff; ein Loch, das mit einigen Riesenstichen zusammengezogen ist, die eine
Frau erschaudern lassen. Diese sonderbare Flickarbeit ist der Ausgangspunkt
zahlreicher Falten, die sich sternförmig über den Rücken des Gewandes
verbreiten. Alle lachen. Johannes, der Urheber dieser Stopfstelle, am meisten.
Er erklärt: «Da ich mit dem Loch nicht herumlaufen konnte... habe ich es eben
zugemacht.»
«Ich sehe es! Ach du meine Güte!
Ich sehe es! Aber hättest du es dir nicht von Maria des Jakob flicken lassen
können?»
«Sie ist beinahe blind, die arme
Frau! Und dann... das Schlimme ist, daß es nicht nur ein Riß, sondern ein
richtiges Loch war. Das Kleid hat sich in einem Holzbündel verhängt, das ich
auf dem Rücken trug, und als ich das Bündel absetzte, ging auch ein Stück
Stoff mit. Da habe ich es eben so repariert.»
«Da hast du es eben so ruiniert,
mein Sohn. Nun müßte ich ...» Sie betrachtet das Kleid, schüttelt den Kopf und
sagt: «Ich habe gehofft, den Saum verwenden zu können. Aber der ist schon weg
...»
«Den habe ich in Nob entfernt,
weil er zerrissen war. Aber ich habe das abgetrennte Stück deinem Sohn gegeben
...» erklärt Elisa.
«Ja... und ich habe daraus Bänder
für meine Tasche gemacht...»
«Arme Kinder! Wie nötig habt ihr
es, daß wir in eurer Nähe sind!»sagt die heiligste Mutter Maria, die gerade
ein Kleid von ich weiß nicht wem flickt.
«Hier ist Stoff nötig. Schaut
her. Die Stiche haben um das Loch herum das Gewebe vollends zerstört, und aus
einem schon großen Schaden ist ein nicht wiedergutzumachender Schaden
geworden. Außer... ich finde etwas, um den fehlenden Stoff zu ersetzen. Dann
würde man es zwar noch sehen... aber es wäre wenigstens anständig.»
«Du hast mir den Anstoß zu einem
Gleichnis gegeben...» sagt Jesus, und Judas sagt gleichzeitig: «Ich meine, daß
ich in meiner Tasche ein Stück Stoff von dieser Farbe habe. Es ist der Rest
eines Gewandes, das ich einem Männchen geschenkt habe, weil es schon zu
ausgebleicht war und man es nicht mehr tragen konnte. Der Mann war so viel
kleiner als ich, daß wir es fast um zwei Handbreiten kürzen mußten. Ich werde
dir den Stoff holen, wenn du etwas warten kannst; denn zuerst möchte ich das
Gleichnis hören.»
«Gott segne dich. Höre nur zu.
Ich wechsle unterdessen die Schnüre am Gewand des Jakobus aus. Sie sind alle
so abgenützt.»
239
«Sprich, Meister. Nachher werde
ich Maria Salome zufriedenstellen.»«Also rede ich. Ich vergleiche die Seele
mit einem Stoff. Wenn die Seele eingehaucht wird, ist sie neu und ohne Risse.
Die Erbsünde ist zwar vorhanden, aber sonst ist ihr Gewebe ohne Schäden,
Flecken oder abgenützte Stellen. Mit der Zeit und durch das Laster verschleißt
sie dann aber manchmal so sehr, daß sie brüchig wird, durch Unachtsamkeiten
bekommt sie Flecken und durch die Unordnung Risse. Wenn sie nun zerrissen ist,
darf man keine schlechte Flickarbeit machen, die dann wieder zu unzähligen
neuen Rissen führt, sondern muß eine geduldige, sorgfältige Arbeit leisten, um
den Schaden, so gut man kann, zu beheben. Und wenn der Stoff zu zerrissen ist,
wenn vielleicht gar ein Stück herausgerissen ist, dann darf man nicht stolz
sein und glauben, den Schaden selbst beheben zu können, sondern muß zu dem
gehen, von dem man weiß, daß er die Seele wiederherstellen kann, da ihm nichts
unmöglich ist und er alles kann. Ich spreche von Gott, meinem Vater, und dem
Erlöser, der ich bin. Doch der Mensch ist so stolz, daß er, je größer der
Schaden an seiner Seele ist, um so mehr versucht, ihn mit mangelhaftem
Flickwerk auszubessern, das das Übel nur noch vergrößert. Ihr könntet mir
entgegnen, daß man einen Riß immer erkennt. Auch Salome hat es gesagt. Ja, man
wird immer die Wunden sehen, die eine Seele erlitten hat. Doch die Seele
kämpft ihren Kampf, und demzufolge wird sie verwundet. Sie ist von so vielen
Feinden umgeben. Aber niemand wird beim Anblick eines von Narben bedeckten
Mannes – der Beweis für ebenso viele ruhmreiche Wunden im Kampf um den Sieg –
sagen: "Dieser Mann ist unrein." Im Gegenteil, man wird sagen: "Er ist ein
Held! Seht nur die purpurroten Narben seiner mutigen Kämpfe." Niemals wird man
sehen, daß ein Soldat sich weigert, sich behandeln zu lassen, da er sich einer
ruhmvollen Verwundung schämt. Er wird vielmehr zum Arzt gehen und mit heiligem
Stolz sagen: "Ich habe gekämpft und gesiegt. Ich habe mich nicht geschont. Du
siehst es. Nun flicke mich wieder zusammen, damit ich zu neuen Schlachten und
Siegen bereit bin." Jener hingegen, der die Wunden unreiner Krankheiten mit
sich herumträgt, die unwürdige Laster hervorgerufen haben, schämt sich seiner
Wunden vor den Angehörigen und den Freunden und auch vor den Ärzten, und oft
ist er so töricht, daß er sie verbirgt, bis ihr Gestank ihn verrät. Dann ist
es jedoch für eine Heilung zu spät. Die Demütigen sind immer aufrichtig. Sie
sind auch immer tapfer und brauchen sich der Wunden, die sie im Kampf
davongetragen haben, nicht zu schämen. Die Hochmütigen sind immer verlogen und
feige, und durch ihren Stolz geraten sie in Todesgefahr; denn sie wollen nicht
zu dem gehen, der sie heilen könnte, und ihm sagen: "Vater, ich habe
gesündigt, aber wenn du willst, kannst du mich heilen." Es gibt viele Seelen,
die aus Stolz, um eine erste Sünde nicht bekennen zu müssen, den Tod finden.
Und dann ist es auch für sie zu spät. Sie denken nicht daran, daß die
göttliche Barmherzigkeit
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mächtiger und größer ist als
jeder Wundbrand, so stark und ausgedehnt er auch sein mag, und daß sie alles
zu heilen vermag. Aber sie, die Seelen der Stolzen, wenn sie erkennen, daß sie
jegliches Heil verschmäht haben, fallen der Verzweiflung anheim, denn sie sind
ohne Gott. Sie sagen dann: "Es ist zu spät", und geben sich den letzten Tod:
die Verdammung. Nun kannst du gehen, Judas, und deinen Stoff holen ...»
«Ich gehe. Aber dieses Gleichnis
gefällt mir nicht. Ich habe es nicht verstanden.»
«Aber es ist doch so klar! Ich
habe es verstanden, und ich bin nur eine einfache Frau», sagt Maria Salome.
«Ich nicht. Früher hast du uns
schönere Gleichnisse erzählt. Nun... die Bienen ... die Stoffe... die Städte,
die ihren Namen ändern... die Seelen-Boote ... Das ist alles so armselig und
so verwirrend, daß ich nichts damit anfangen kann und es mir auch nicht
gefällt. Doch jetzt will ich gehen und den Stoff holen. Man kann ihn ja
verwenden, aber das Gewand wird trotzdem immer schadhaft sein.» Judas steht
auf und entfernt sich.
Maria hat den Kopf immer tiefer
auf ihre Arbeit sinken lassen, während Judas gesprochen hat. Johanna hingegen
hat ihn erhoben und den Törichten mit herrischer Entrüstung angeblickt. Auch
Elisa hat anfangs aufgeschaut, es dann aber wie Maria gemacht, und Nike
ebenso. Susanna hat verwundert ihre großen Augen aufgerissen und statt des
Apostels Jesus angesehen, so als frage sie sich, warum er nicht reagiert. Aber
niemand hat etwas gesagt oder irgendeine Gebärde gemacht. Nur Maria Salome und
Maria des Alphäus, die etwas volksnäher sind, haben sich angesehen und den
Kopf geschüttelt, und kaum ist Judas weggegangen, sagt Salome: «Er ist es,
dessen Kopf schadhaft ist.»
«Ja, und deshalb versteht er
nichts, und ich weiß wirklich nicht, ob du ihn wieder in Ordnung bringen
kannst. Wenn er mein Sohn wäre, würde ich ihm den Kopf einschlagen. Jawohl, so
wie ich ihn ihm gemacht habe, damit es der Kopf eines Gerechten sei, ebenso
würde ich ihn ihm einschlagen. Es ist immer noch besser, mit einem
verunstalteten Kopf herumzulaufen als mit einem verunstalteten Herzen», sagt
Maria des Alphäus.
«Sei nachsichtig, Maria. Du
kannst ihn doch nicht mit deinen Söhnen vergleichen, die in einer ehrbaren
Familie aufgewachsen sind und in einer Stadt wie Nazareth», sagt Jesus.
«Seine Mutter ist gut. Und sein
Vater war nicht böse, hat man mir gesagt», entgegnet Maria des Alphäus.
«Ja, aber sein Herz war nicht
frei von Stolz. Deshalb hat er den Sohn zu früh seiner Mutter weggenommen und
dazu beigetragen, das moralische Erbe, das er ihm mitgegeben hatte, zu
fördern, als er ihn nach Jerusalem schickte. Es ist sehr schmerzlich, dies
sagen zu müssen, aber der Tempel ist wirklich nicht der richtige Platz, um
ererbten Hochmut zu mäßigen...» sagt Jesus.
241
«Kein Platz in Jerusalem, der
einen Ehrenplatz darstellt, ist geeignet, den Stolz oder andere Fehler zu
mäßigen», seufzt Johanna, und sie fügt hinzu: «Überhaupt kein Ehrenplatz ist
dazu geeignet, sei er in Jericho, in Caesarea Philippi, in Tiberias oder im
anderen Caesarea ...» Sie näht eilig weiter und hält den Kopf tiefer als nötig
über die Arbeit gebeugt.
«Maria des Lazarus ist
gebieterisch, aber nicht stolz», bemerkt Nike.
«Jetzt. Aber früher war sie sehr
hochmütig, im Gegensatz zu ihren Eltern, die es niemals gewesen sind»,
antwortet Johanna.
«Wann werden sie kommen?»
«Bald, wenn wir in drei Tagen
abreisen sollen.»
«Wir müssen schneller arbeiten.
Wir werden kaum mit allem fertig werden», treibt Maria des Alphäus die anderen
an.
«Wir sind wegen Lazarus später
gekommen. Aber es war gut so, denn so ist Maria eine große Mühe erspart
geblieben», sagt Susanna.
«Aber wirst du denn einen so
weiten Weg zurücklegen können? Du bist so bleich und müde, Maria!» fragt Maria
des Alphäus, legt eine Hand auf den Schoß Marias und schaut sie dabei besorgt
an.
«Ich bin nicht krank, Maria, und
werde gewiß gehen können.»
«Krank nicht, aber sehr betrübt,
Mutter. Ich würde zehn und mehr Jahre meines Lebens geben und alle nur
erdenklichen Schmerzen auf mich nehmen, wenn ich dich wieder so sehen könnte,
wie du warst, als ich dich zum erstenmal sah», sagt Johannes, der sie
mitleidig betrachtet.
«Deine Liebe ist schon Arznei,
Johannes. Mein Herz beruhigt sich, wenn ich sehe, wie ihr meinen Sohn liebt.
Denn er ist die alleinige Ursache meiner Schmerzen. Ich leide nur, wenn ich
ihn nicht geliebt sehe. Hier in seiner Nähe und unter euch, die ihr ihm so
treu seid, blühe ich wieder auf. Aber natürlich... diese Monate... allein in
Nazareth, nachdem ich ihn schon so bedrückt habe fortgehen sehen, so
verfolgt... Und alle diese Stimmen, die ich hören mußte. Oh, welch ein
Schmerz! Wenn ich ihn in meiner Nähe habe, ihn sehe, sage ich mir: "Mein Jesus
hat wenigstens seine Mutter, die ihn tröstet, die ihm Worte sagt, die andere
Worte vergessen lassen", und ich sehe auch, daß nicht alle Liebe in Israel
erstorben ist. So finde ich Frieden. Ein wenig Frieden. Nicht viel... denn...»
Maria spricht nicht weiter. Sie neigt ihr Antlitz, das sie beim Sprechen zu
Johannes erhoben hatte, und man sieht nur noch den oberen Teil der Stirn, die
eine stumme Gemütsbewegung erröten läßt... Und dann glänzen zwei Tränen auf
dem dunklen Gewand, das sie gerade flickt.
Jesus seufzt, erhebt sich von
seinem Platz und geht, um sich vor ihr zu ihren Füßen niederzusetzen. Er läßt
sein Haupt auf ihre Knie sinken, küßt die Hand, die den Stoff hält, und
verweilt dann in dieser Haltung wie ein Kind, das sich ausruht. Maria nimmt
die Nadel aus dem Stoff, um den Sohn nicht zu verletzen, legt dann die Rechte
auf den auf ihren Knien ruhenden Kopf, erhebt den Blick zum Himmel und betet
gewiß, obgleich
242
sie die Lippen nicht bewegt; doch
ihr ganzer Ausdruck zeigt, daß sie betet. Dann neigt sie sich über ihren Sohn
und küßt ihn bei der Schläfe aufs Haar.
Die anderen reden nicht, bis
Salome sagt: «Wie lange braucht denn Judas noch? Die Sonne geht bald unter,
und dann werde ich nichts mehr sehen.»
«Vielleicht ist er durch jemanden
aufgehalten worden», antwortet Johannes und fragt dann seine Mutter: «Willst
du, daß ich nach ihm sehe?»
«Das wäre gut. Falls er den Stoff
nicht gefunden hat, werde ich die Ärmel kürzen. Es ist ja bald Sommer, und für
den Herbst mache ich dir ein neues Gewand, denn dieses hier wird nicht mehr
taugen. Vorläufig bessere ich es mit einem Stück vom Ärmel aus, und es ist
dann immer noch gut genug, um damit zum Fischfang zu gehen. Denn nach
Pfingsten werdet ihr doch wohl nach Galiläa zurückkehren...»
«Also, ich gehe», sagt Johannes,
und in seiner immer freundlichen Art fragt er die anderen Frauen: «Habt ihr
schon Kleider fertig, die ich mit in unsere Häuser nehmen kann? Wenn ja, gebt
sie mir. Ihr habt dann auf dem Heimweg nicht so viel zu tragen.»
Die Frauen legen alles, was sie
schon geflickt haben, zusammen und geben es Johannes, der sich umdreht und
gehen will; aber er bleibt stehen, als er sieht, daß Maria des Jakob eiligen
Schrittes auf sie zukommt.
Die gute Alte läuft, so schnell
sie in ihrem hohen Alter noch laufen kann, und ruft Johannes zu: «Ist der
Meister da?»
«Ja, Mutter. Was willst du?»
Die Frau antwortet im Laufen:
«Ada geht es sehr schlecht... Und der Mann möchte sie trösten und Jesus zu ihr
rufen... Aber nachdem die Samariter dort so böse waren, getraut er sich
nicht... Ich habe gesagt: "Du kennst ihn noch nicht. Ich werde gehen, und er
wird mir nicht "nein" sagen...» Die Alte keucht vom Laufen und wegen der
Steigung.
«Lauf nicht weiter. Ich komme mit
dir. Vielmehr, ich werde dir vorausgehen, und du kannst langsam nachkommen. Du
bist schon zu alt, Mutter, um so zu laufen», sagt Jesus. Und zur Mutter und
den Jüngerinnen gewandt: «Ich werde im Dorf bleiben. Der Friede sei mit euch.»
Jesus ergreift Johannes am Arm
und geht mit ihm rasch hinunter. Die Alte, die wieder zu Atem gekommen ist,
möchte ihm gleich folgen, nachdem sie die Fragen der Frauen beantwortet hat:
«Ach, nur der Rabbi kann sie retten. Sonst wird sie wie Rachel sterben. Sie
erkaltet schon und wird immer schwächer. Sie windet sich unter den Schmerzen.»
Doch die Frauen halten sie zurück
mit den Worten: «Habt ihr nicht versucht, ihr warme Ziegel auf die Nieren zu
legen?»
«Nein, es ist besser, sie in mit
Würzwein getränkte Wolltücher zu wickeln. So heiß es nur geht.»
243
«Mir haben die Einreibungen mit
Öl und die heißen Ziegelsteine, die mir Jakob auflegte, sehr geholfen.»
«Gebt ihr viel zu trinken.»
«Wenn sie aufstehen und einige
Schritte gehen könnte und ihr jemand gleichzeitig das Kreuz massieren würde!»
Die Frauen, die Mütter sind, also
alle außer Nike und Susanna, sowie Maria, die die Schmerzen der Frauen bei der
Geburt ihres Sohnes nicht erleiden mußte, raten dieses und jenes.
«Alles, alles hat man versucht.
Aber ihr Schoß ist zu erschöpft. Es ist das elfte Kind! Ich gehe jetzt, ich
habe mich erholt. Betet für die Mutter! Möge der Allerhöchste sie so lange am
Leben erhalten, bis der Rabbi bei ihr eintrifft.» Und die arme, gute, einsame
Alte trottet davon.
Jesus geht indessen rasch in die
von der Sonne erwärmte Stadt hinab. Er betritt die Stadt von der ihrem Haus
entgegengesetzten Seite, also im Nordwesten von Ephraim, während das Haus der
Maria des Jakob im Südosten liegt. Er geht schnell, läßt sich auch nicht
aufhalten von den Leuten, die mit ihm reden wollen, sondern grüßt und geht
weiter.
Ein Mann bemerkt: «Er ist böse
auf uns. Die Bewohner anderer Orte haben ihn gekränkt. Er hat recht.»
«Nein. Er geht zu Janoe, dessen
Frau im Sterben liegt. Es ist die elfte Geburt.»
«Arme Kinder! Und der Rabbi geht
zu ihr? Er ist dreifach gut. Er vergilt Beleidigungen mit Wohltaten.»
«Janoe hat ihn nicht beleidigt.
Keiner von uns hat ihn beleidigt!»
«Aber Männer von Samaria haben es
getan.»
«Der Rabbi ist gerecht und kann
unterscheiden. Laßt uns gehen und das Wunder sehen.»
«Sie werden uns nicht
hineinlassen. Es ist eine Frau bei der Geburt.»
«Aber wir werden wenigstens das
Neugeborene hören, wenn es weint, und das wird uns das Wunder anzeigen.»
Sie laufen los, um Jesus
einzuholen. Auch andere schließen sich ihnen an, um zu sehen.
Jesus kommt zu dem Haus, in dem
große Trübsal herrscht wegen des bevorstehenden Unglücks. Die zehn Kinder –
das größte ist ein in Tränen aufgelöstes Mädchen, das von den kleineren
weinenden Geschwisterchen umringt wird – haben sich in einem Winkel des
Hauseingangs zusammengedrängt, nahe bei der weit geöffneten Tür. Frauen kommen
und gehen. Stimmen, die flüstern, und bloße Füße, die eilig über den
Ziegelboden huschen.
Eine Frau sieht Jesus und schreit
auf: «Janoe! Habe Hoffnung! Er ist gekommen!» Und sie entfernt sich eiligst
mit einem dampfenden Krug.
Ein Mann kommt herbei und wirft
sich zu Boden. Er macht nur eine
244
Geste und sagt: «Ich glaube.
Erbarmen. Ihretwegen», und er zeigt dabei auf die Kinder.
«Steh auf und habe Mut. Der
Allerhöchste hilft denen, die glauben, und erbarmt sich seiner betrübten
Kinder.»
«Oh, komm, Meister! Komm! Sie ist
schon ganz schwarz. Sie erstickt an ihren Krämpfen. Sie atmet kaum mehr.
Komm!» Der Mann hat den Kopf verloren und verliert ihn vollends ganz, als eine
Verwandte ruft: «Janoe, komm schnell! Ada stirbt!» Er schiebt und zieht Jesus,
damit dieser nur ja schnell, ganz schnell ins Zimmer der Sterbenden geht, und
ist taub gegenüber den Worten Jesu, der sagt: «Geh und habe Vertrauen!»
Vertrauen hat der Mann schon,
doch was ihm fehlt ist die Fähigkeit, den Sinn dieser Worte zu verstehen, den
verborgenen Sinn, der schon die Gewißheit des Wunders beinhaltet. Und Jesus,
geschoben und gezogen, steigt die Treppe hinauf, um in den oberen Raum zu
gelangen, in dem die Frau liegt. Doch er bleibt auf dem Treppenabsatz stehen,
ungefähr drei Meter vor der geöffneten Tür, von wo man ein blutleeres, fast
bläuliches und in der Agonie verzerrtes Gesicht sehen kann. Die Frauen wagen
es nicht mehr, noch etwas zu tun. Sie haben die Leidende bis ans Kinn
zugedeckt und schauen nur. Sie sind wie versteinert in Erwartung des
Verscheidens.
Jesus breitet die Arme aus und
ruft: «Ich will!» Dann wendet er sich um und will gehen.
Der Ehemann, die Frauen und die
Neugierigen, die ihn umringt haben, sind enttäuscht; sie haben wohl gehofft,
Jesus würde etwas viel Außergewöhnlicheres tun und das Kind käme sofort auf
die Welt. Aber Jesus bahnt sich einen Weg, schaut ihnen ins Gesicht, während
er an ihnen vorbeigeht, und sagt: «Zweifelt nicht. Noch etwas Vertrauen. Einen
Augenblick. Die Frau muß den bitteren Preis des Gebärens bezahlen, aber sie
ist gerettet.» Er geht die Treppe hinunter und läßt die Leute sprachlos
stehen. Doch als er beim Verlassen des Hauses zu den zehn verängstigten
Kindern sagt: «Habt keine Angst, die Mama ist gerettet», und dabei mit der
Hand die erschrockenen Gesichtlein streichelt, ertönt im Haus ein lauter
Schrei, den man auch auf der Straße noch hört. Und Maria des Jakob, die gerade
ankommt, ruft aus: «Barmherzigkeit!» in der Meinung, daß der Schrei den Tod
anzeigt.
«Keine Angst, Maria! Geh rasch,
dann wirst du den Kleinen zur Welt kommen sehen. Die Kräfte und die Wehen sind
wiedergekehrt. Doch bald wird Freude herrschen.»
Jesus geht mit Johannes fort.
Niemand folgt ihnen, denn alle wollen sehen, ob das Wunder geschieht; und
sogar noch andere eilen zu dem Haus, denn es hat sich herumgesprochen, daß der
Rabbi zu Ada gegangen ist, um sie zu retten. So kann Jesus ohne Hindernisse
durch eine
245
Seitenstraße zu einem Haus gehen.
Er betritt es und ruft: «Judas, Judas!» Niemand antwortet.
«Er ist dort hinaufgegangen,
Meister. Nun können auch wir heimgehen. Die Kleider von Judas, Simon und
deinem Bruder Jakobus lege ich hierher, und die anderen von Simon Petrus,
Andreas, Thomas und Philippus werde ich im Haus der Anna lassen.»
So geschieht es, und ich
verstehe, daß sich die Apostel, um für die Jüngerinnen Platz zu machen, auf
andere Häuser verteilt haben; wenn nicht alle, so doch ein Teil von ihnen.
Da sie die Kleider nun los sind,
gehen sie, während sie sich miteinander unterhalten, zum Haus der Maria des
Jakob und betreten es durch die nur angelehnte Gartentür. Das Haus ist still
und leer. Johannes sieht einen mit Wasser gefüllten Krug auf dem Boden stehen,
und da er vielleicht glaubt, die Alte habe ihn dort gelassen, als sie gerufen
wurde um der Frau zu helfen, nimmt er ihn und begibt sich zu einem
geschlossenen Zimmer. Jesus bleibt noch im Hausflur, um seinen Mantel
abzulegen und wie immer sorgfältig zu falten, bevor er ihn auf der Truhe läßt.
Johannes öffnet die Zimmertür und stößt ein «Ach!» des Schreckens aus. Er läßt
den Krug fallen, bedeckt seine Augen mit beiden Händen und duckt sich, als
wolle er sich ganz klein machen, verschwinden, nichts sehen. Aus dem Zimmer
dringt das Geräusch von auf den Boden fallenden Münzen.
Jesus ist schon an der Tür. Ich
habe mehr Zeit gebraucht, um dies zu sagen, als er, um heranzukommen. Er
schiebt den stöhnenden Johannes beiseite: «Fort! Geh fort!» Dann öffnet er
weit die nur halb offene Tür und geht hinein. Es ist der Raum, in dem sie die
Mahlzeiten einnehmen, seit die Frauen da sind. Zwei alte, eisenbeschlagene
Truhen stehen darin, und vor einer von ihnen, genau gegenüber der Tür, steht
Judas. Er ist totenblaß, in seinen Augen mischen sich Zorn und Schrecken, und
in den Händen hält er einen Beutel Geld... Die Truhe ist aufgebrochen... Auf
dem Boden liegen Münzen, und weitere fallen hinunter, gleiten aus dem Beutel,
der offen vom Rand der Truhe hängt. Alles läßt ohne jede Möglichkeit eines
Zweifels erkennen, was hier geschieht. Judas ist ins Haus gegangen, hat die
Truhe aufgebrochen und ist im Begriff zu stehlen.
Keiner spricht. Keiner rührt
sich. Aber das ist schlimmer, als wenn alle schreien und aufeinander losgehen
würden. Drei Statuen: Judas, der Teufel; Jesus, der Richter; Johannes,
erschüttert über die Niedertracht des Gefährten.
Die Hand des Judas, die seine
Börse hält, zittert, und die Münzen darin klingeln leise.
Johannes zittert am ganzen Leib,
und obgleich er die Hände vor den Mund hält, klappert er mit den Zähnen,
während die erschrockenen Augen mehr auf Jesus als auf Judas schauen.
Jesus zeigt keinerlei
Erschütterung. Gerade und eisig, ausgesprochen
246
eisig und starr steht er da.
Endlich macht er einen Schritt, eine Geste und sagt ein Wort. Einen Schritt
auf Judas zu, eine Geste: das Zeichen für Johannes, sich zurückzuziehen, ein
Wort: «Geh!»
Aber Johannes hat Angst und
stöhnt: «Nein! Nein! Schick mich nicht fort. Laß mich hierbleiben. Ich werde
nichts sagen ... Aber laß mich hierbleiben, bei dir.»
«Geh fort! Fürchte nicht!
Schließe alle Türen ... und wenn jemand kommt... wer auch immer... selbst wenn
es meine Mutter sein sollte... laß ihn nicht hierher kommen. Geh und
gehorche!»
«Herr... !» Es sieht beinahe aus,
als ob Johannes der Schuldige wäre, so sehr fleht er und so zerknirscht ist
er.
«Geh, sage ich dir. Es wird
nichts passieren. Geh!» Jesus mildert die Strenge des Befehls, indem er seine
Hand zärtlich auf den Kopf des Lieblingsjüngers legt. Ich sehe, daß diese Hand
nun zittert. Johannes spürt das Zittern, nimmt die Hand und küßt sie mit einem
Schluchzen, das so vieles sagt. Dann geht er hinaus. Jesus schließt die Tür
und legt den Riegel vor. Nun dreht er sich um und schaut Judas an, der
ziemlich am Boden zerstört sein muß, da er, der doch sonst so frech ist, kein
Wort und keine Geste wagt.
Jesus geht um den Tisch in der
Mitte des Zimmers herum und bleibt direkt vor ihm stehen. Ich kann nicht
sagen, ob er rasch oder langsam gegangen ist. Ich bin zu erschrocken über
seinen Gesichtsausdruck, um ein Zeitgefühl zu haben. Ich sehe seine Augen und
habe Angst, wie Johannes. Sogar Judas hat Angst. Er weicht zurück zwischen die
Truhe und ein offenes Fenster, durch das der rote Schein des Sonnenunterganges
sich über Jesus ergießt.
Was hat Jesus für Augen! Er sagt
kein Wort. Doch als er sieht, daß hinter dem Gürtel am Gewand des Judas eine
Art Dietrich hervorschaut, braust er in furchterregender Weise auf, erhebt
einen Arm mit geballter Faust, als wolle er auf den Dieb einschlagen, und sein
Mund beginnt das Wort: «Verfluchter!» oder «Verflucht seist du!» Aber er
beherrscht sich, hält den Arm zurück, der schon im Fallen war, und bricht das
Wort nach den ersten drei Buchstaben ab. Er beschränkt sich darauf, mit einem
Aufwand an Beherrschung, der ihn erzittern läßt, die geschlossene Faust zu
öffnen und den Arm bis zur Höhe der Börse zu senken, die Judas noch in der
Hand hält. Er entreißt sie ihm, schleudert sie auf den Boden und sagt mit
erstickter Stimme: «Weg damit! Unrat des Satans! Verfluchtes Gold! Auswurf der
Hölle! Schlangengift! Weg damit!» Und dabei zertritt er die Börse und
zerstreut die Münzen in schrecklichem, aber beherrschtem Zorn.
Judas, der einen unterdrückten
Schrei ausstößt, als er sieht, daß Jesus nahe daran ist, ihn zu verfluchen,
reagiert nicht mehr. Aber hinter der verschlossenen Tür ertönt ein zweiter
Schrei, als Jesus die Börse auf den Boden wirft. Und dieser Aufschrei des
Johannes läßt den Dieb außer sich
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geraten. Er gibt ihm seine
dämonische Kühnheit wieder und läßt ihn rasend werden. Beinahe stürzt er sich
auf Jesus und schreit: «Du hast mich ausspionieren lassen, um mich zu
entehren. Ausspionieren von einem törichten Jungen, der nicht einmal schweigen
kann und der mich vor allen beschämen wird! Aber das wolltest du ja. Und im
übrigen... Ja, auch ich wollte es! Ich will es! Ich will dich dazu bringen,
mich fortzujagen! Dich dazu bringen, mich zu verfluchen! Zu verfluchen! Zu
verfluchen! Alles habe ich versucht, damit ich fortgejagt werde.» Er ist
heiser vor Zorn und häßlich wie ein Dämon. Er keucht, als ob ihn etwas würgen
würde.
Jesus wiederholt mit gedämpfter,
aber zugleich schrecklicher Stimme: «Dieb! Dieb! Dieb!» und endet mit den
Worten: «Heute Dieb. Morgen Mörder. Wie Barabbas. Schlimmer als er.» Bei jedem
Satz des Judas sagt er ihm leise diese Worte ins Gesicht, denn nun stehen sie
ganz nahe beieinander.
Judas, der wieder Atem geholt
hat, entgegnet ihm: «Ja, Dieb. Und durch deine Schuld. An allem Bösen, das ich
tue, bist du schuld, und du wirst es nicht müde, mich zu verderben. Du rettest
alle und schenkst allen Liebe und Ehren. Du nimmst die Sünder auf, und die
Dirnen ekeln dich nicht an. Die Diebe, die Wucherer und die Kuppler wie
Zachäus behandelst du wie Freunde und den Spion des Tempels empfängst du, als
ob er der Messias sei. Wie töricht bist du doch! Du machst einen Ignoranten zu
unserem Oberhaupt, einen Zöllner zu unserem Schatzmeister und einen Dummkopf
zu deinem Vertrauten. Und mir zählst du die kleinsten Münzen ab, läßt mir kein
Geld, kettest mich an dich, wie man einen Galeerensträfling an die Ruderbank
kettet, und willst auch nicht, daß wir – ich sage wir, aber ich bin es, ich
allein, der kein Almosen von den Pilgern annehmen darf. Und nur damit ich kein
Geld mehr in den Händen habe, hast du angeordnet, daß wir von niemandem mehr
Geld annehmen dürfen. Denn du haßt mich. Nun gut, auch ich hasse dich! Gerade
eben bist du nicht einmal fähig gewesen, mich zu schlagen und mich zu
verfluchen. Dein Fluch hätte mich vernichtet. Warum hast du es nicht getan? Es
wäre mir lieber gewesen, als dich so unfähig, so machtlos sehen zu müssen,
einen erledigten Mann, einen besiegten Mann...»
«Schweig!»
«Nein! Hast du Angst, daß
Johannes mich hören könnte? Hast du Angst, daß er endlich begreifen könnte,
wer du bist, und dich dann verläßt? Diese Angst hast du also, du, der du immer
den Helden spielst! Natürlich hast du sie! Und du hast auch Angst vor mir. Du
hast Angst! Deshalb kannst du mich nicht verfluchen. Deshalb schwindelst du
mir Liebe vor, während du mich haßt. Um mir zu schmeicheln. Damit ich
stillhalte. Du weißt, daß ich eine Macht bin! Du weißt, daß ich die Macht bin.
Die Macht, die dich haßt und dich besiegen wird! Ich habe dir versprochen, daß
ich dir bis zum Tod folge und dir alles opfere, und ich habe
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dir alles geopfert, und ich werde
in deiner Nähe bleiben bis zu deiner Stunde und meiner Stunde. Großartiger
König, der du nicht verfluchen und nicht verjagen kannst! Wolkenkönig! König
der Einbildung! König der Dummheit! Lügner! Verräter deines eigenen
Schicksals! Du hast mich immer verachtet, seit unserer ersten Begegnung. Du
hast meine Liebe nie erwidert. Du glaubtest, weise zu sein. Du bist ein
Dummkopf. Ich habe dir den rechten Weg gewiesen. Aber du... Oh! Du bist der
Reine! Du bist das Geschöpf, das Mensch ist, aber auch Gott, und du
verschmähst die Ratschläge des Klugen. Vom ersten Augenblick an hast du dich
geirrt, und du fährst fort, dich zu irren. Du... du bist... Ah!»
Der Wortschwall endet ganz
plötzlich, und es folgt ein unheimliches Schweigen nach so viel Geschrei und
eine seltsame Unbeweglichkeit nach so vielen wilden Gebärden. Denn während ich
geschrieben habe, ohne sagen zu können, was vor sich geht, hat sich Judas
geduckt – wie ein, ja wirklich, wie ein wütender Hund, der die Beute belauert
und zum Sprung ansetzt – und ist Jesus immer näher gekommen, mit einem
Gesicht, das man nicht ansehen konnte, die Hände geballt und die Ellbogen an
den Körper gepreßt, als wolle er Jesus tatsächlich angreifen. Doch dieser
zeigt nicht die geringste Furcht. Er dreht dem Apostel, der ihn anfallen und
ihn am Hals packen könnte, es aber nicht tut, sogar den Rücken zu, um die Tür
zu öffnen und in den Flur zu sehen, ob Johannes auch wirklich fortgegangen
ist. Der Hausflur ist leer und halbdunkel, weil Johannes die Tür zum Garten
geschlossen hat, nachdem er hinausgegangen ist. Jesus schließt und verriegelt
wieder die Tür, lehnt sich an sie und wartet, ohne ein Wort zu sagen oder eine
Bewegung zu machen, daß die Wut sich legt.
Es steht mir nicht zu, zu
urteilen. Aber ich glaube, nicht zu irren, wenn ich sage, daß Satan selbst
durch den Mund des Judas gesprochen hat; daß dies ein Augenblick ist, in dem
der verdorbene Apostel ganz offensichtlich vom Satan besessen ist und bereits
an der Schwelle des Verbrechens steht, schon verdammt aus eigenem Willen. Die
Art, wie der Wortschwall endet und einer scheinbaren Verwirrung des Apostels
Platz macht, erinnert mich an andere Szenen von Besessenheit, die ich in den
drei Jahren des öffentlichen Lebens Jesu gesehen habe.
Jesus, schneeweiß vor dem dunklen
Holz der Tür, an die er sich immer noch lehnt, macht nicht die geringste
Bewegung. Nur seine von Schmerz und Liebe erfüllten Augen schauen den Apostel
an. Wenn man sagen könnte, daß Augen beten, dann würde ich sagen, daß die
Augen Jesu beten, während er den Unglücklichen anblickt. Denn es ist nicht nur
Beherrschung, die aus den so betrübten Augen spricht, sondern auch
inbrünstiges Gebet. Dann, als Judas die letzten Worte sagt, breitet Jesus die
bisher gerade herunterhängenden Arme aus. Aber er öffnet sie nicht, um Judas
zu berühren, eine abwehrende Geste zu machen oder sie zum Himmel zu erheben.
Er breitet sie vielmehr waagrecht aus, nimmt die Haltung des
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Gekreuzigten ein, dort, vor dem
dunklen Holz und der rötlichen Wand. Und im gleichen Augenblick kommen die
letzten Worte nur noch zögernd aus dem Mund des Judas, und er stößt das «Ah!»
aus, das seine Rede beendet.
Jesus verharrt in seiner Haltung
mit ausgebreiteten Armen und schaut den Apostel weiterhin mit dem Blick des
Schmerzes und des Gebetes an. Und wie einer, der aus einem Delirium erwacht,
fährt sich Judas mit der Hand über die Stirn, über das schweißbedeckte
Gesicht... Er denkt nach, erinnert sich an alles und sinkt zu Boden. Ich weiß
nicht, ob er weint oder nicht. Jedenfalls sinkt er zu Boden, als ob ihn die
Kräfte verlassen hätten.
Jesus senkt den Blick und die
Arme und sagt mit leiser, aber klarer Stimme: «Nun? Hasse ich dich? Ich könnte
dich mit Füßen treten, dich zertreten und dich "Wurm" nennen. Ich könnte dich
verfluchen, so wie ich dich von der Macht befreit habe, die dich hat irrereden
lassen. Du nennst meine Unfähigkeit, dich zu verfluchen, Schwäche. Oh, es ist
keine Schwäche! Aber ich bin der Erlöser. Und der Erlöser kann nicht
verfluchen. Er kann nur retten. Er will retten... Du hast gesagt: "Ich bin die
Macht. Die Macht, die dich haßt und dich besiegen wird." Auch ich bin die
Macht, ja, ich bin die einzige Macht. Meine Kraft ist nicht der Haß, sondern
die Liebe. Und die Liebe haßt nicht und verflucht nicht, niemals. Die Macht
könnte auch die einzelnen Schlachten – wie die zwischen mir und dir, zwischen
mir und Satan, der in dir ist – gewinnen und dich deinem Herrn entreißen, für
immer; wie ich es soeben getan habe, als ich mich in das Zeichen, das rettet,
verwandelt habe, in das Tau, das Luzifer nicht sehen kann. Ich könnte diese
einzelnen Schlachten gewinnen, wie ich den bevorstehenden Kampf gegen das
ungläubige und mordgierige Israel gewinnen werde, gegen die Welt und gegen
Satan, der durch die Erlösung besiegt wird. Ich könnte diese einzelnen
Schlachten gewinnen, wie ich die letzte Schlacht gewinnen werde, die fern ist
für jene, die nach Jahrhunderten rechnen, und nahe für jene, die die Zeit mit
dem Maß der Ewigkeit messen. Aber was würde es nützen, die vollkommenen
Gesetze meines Vaters zu übertreten? Wäre es Gerechtigkeit? Wäre es ein
Verdienst? Nein. Es wäre weder Gerechtigkeit noch Verdienst. Es wäre nicht
gerecht gegenüber den anderen schuldigen Menschen, denen die Freiheit zu
sündigen nicht genommen wird, und die mich am Jüngsten Tag fragen und tadeln
könnten wegen des Urteils und der mit dir allein gemachten Ausnahme. Es werden
zehn- und hunderttausende sein, siebzigmal zehn- und hunderttausende, die die
gleichen Sünden begehen wie du und aus eigenem Willen Satan angehören werden;
die Gott beleidigen, Vater und Mutter quälen, morden, stehlen, lügen, die Ehe
brechen, Unzucht treiben, Gott lästern und zuletzt Gottesmörder sein werden,
indem sie Christus an einem nicht mehr fernen Tag wirklich töten und ihn in
künftigen Zeiten in ihren Herzen umbringen. Und sie alle könnten mir Vorwürfe
machen, wenn ich
250
kommen werde, um die Schafe von
den Böcken zu scheiden, um die ersten zu segnen und die zweiten zu verfluchen;
ja, um die zweiten zu verfluchen, zu verfluchen, denn dann wird es keine
Rettung mehr geben, sondern nur Herrlichkeit oder Verdammung; um sie noch
einmal zu verdammen, nachdem ich sie schon einzeln beim ersten Tod und beim
individuellen Gericht verurteilt habe. Denn der Mensch – du weißt es, da du es
mich hast hundert- und tausendmal sagen hören – der Mensch kann sich retten,
solange er lebt, selbst wenn er in den letzten Zügen liegt. Ein Augenblick,
eine Tausendstel Minute genügt, um alles zwischen der Seele und Gott zu
regeln, um Verzeihung zu erbitten und Lossprechung zu erlangen... Alle, habe
ich gesagt, alle könnten mir vorwerfen: "Warum hast du uns nicht an das Gute
gebunden, wie du es mit Judas getan hast?" und sie hätten recht. Denn jeder
Mensch wird mit denselben natürlichen und übernatürlichen Gaben geboren: einem
Körper und einer Seele. Und während der Körper, da er von Menschen gezeugt
ist, bei der Geburt mehr oder weniger kräftig sein kann, ist die Seele, die
von Gott kommt, bei allen mit denselben Eigenschaften und denselben Gaben
Gottes ausgestattet. Zwischen der Seele des Johannes, ich meine den Täufer,
und deiner Seele war kein Unterschied, als sie in die Körper eingehaucht
wurden. Und doch sage ich dir, selbst wenn Johannes nicht durch die Gnade im
voraus geheiligt worden wäre, damit der Herold des Christus ohne Makel sei –
wie es alle sein sollten, die mich verkündigen, wenigstens was die derzeitigen
Sünden betrifft – seine Seele wäre auf jeden Fall anders als die deine gewesen
und geworden. Vielmehr, die deine wäre anders geworden als die seine. Denn der
Täufer hätte seine Seele in der Frische der Unschuld bewahrt, hätte sie mit
immer mehr Gerechtigkeit geschmückt, dem Willen Gottes folgend, der euch
gerecht will, der will, daß ihr die erhaltenen Gaben mit ständig wachsendem
Heroismus entwickelt. Du hingegen... hast deine Seele zerstört und die ihr von
Gott geschenkten Gaben vergeudet. Was hast du aus deiner Entscheidungsfreiheit
gemacht? Was aus deinem Verstand? Hast du deinem Geist die Freiheit bewahrt,
die ihm gehörte? Hast du die Fähigkeiten deines Geistes mit Verstand
gebraucht? Nein. Du, der du mir nicht gehorchen willst – ich meine nicht nur
mir als Mensch, sondern auch als Gott – du hast Satan gehorcht. Du hast deinen
Verstand und die Freiheit deines Geistes dazu verwendet, die Finsternis zu
erfassen. Freiwillig. Das Gute und das Böse wurden dir vor Augen gestellt. Du
hast das Böse gewählt. Vielmehr, nur das Gute hast du vor Augen gehabt: mich.
Der ewige Schöpfer, der die Entwicklung deiner Seele verfolgt, der diese
Entwicklung schon kannte, da dem ewigen Geist nichts unbekannt ist von dem,
was sich in der Zeit bewegt, hat dir das Gute, und nur das Gute gezeigt, denn
er weiß, daß du schwächer bist als eine Alge im Wassergraben. Du hast mir
vorgeworfen, daß ich dich hasse. Nun, da ich eins mit dem Vater und mit der
Liebe bin, eins hier und eins
251
im Himmel, eins mit dem Vater und
dem Heiligen Geist – denn wenn in mir auch die beiden Naturen sind und
Christus wegen seiner menschlichen Natur und bis ihn der Sieg von den
menschlichen Beschränkungen befreit in Ephraim ist und in diesem Augenblick
nicht anderswo ein kann, so bin ich doch als Gott, als das Wort Gottes, sowohl
im Himmel als auch auf Erden, da meine Gottheit allgegenwärtig ist – hast du
mit deiner Anschuldigung Gott, den Einen und Dreieinen getroffen. Gott den
Vater, der dich aus Liebe erschaffen hat, Gott den Sohn, der aus Liebe Mensch
geworden ist, um dich zu erlösen, und Gott den Heiligen Geist, der so oft aus
Liebe zu dir gesprochen hat, um dir gute Wünsche einzugeben. Diesen Einen und
Dreieinen Gott, der dich so sehr geliebt hat, der dich auf meinen Weg geführt,
dich blind für die Welt gemacht hat, um dir Zeit zu geben, mich zu sehen, und
taub für die Stimmen der Welt, um dir die Möglichkeit zu geben, mich zu hören.
Und du... ! Du... ! Nachdem du mich gesehen und gehört hast, nachdem du
freiwillig zum Guten gekommen bist und mit deinem Verstand erfaßt hast, daß
dies der einzige Weg zur wahren Herrlichkeit ist, hast du das Gute
zurückgewiesen und dich freiwillig dem Bösen übergeben. Aber wenn du dies in
freier Willensentscheidung gewollt hast; wenn du meine Hand immer schroffer
zurückgewiesen hast, die sich dir angeboten hatte, um dich dem Abgrund zu
entreißen; wenn du dich immer mehr vom Hafen entfernt hast, um im wilden Meer
der Leidenschaften und des Bösen zu versinken, kannst du dann sagen, mir und
dem, von dem ich komme, der mich als Mensch erschaffen hat, um dein Heil zu
wirken, daß wir dich gehaßt haben? Du hast mir vorgeworfen, daß ich dein
Verderben will... Auch das kranke Kind beklagt sich beim Arzt und bei der
Mutter über die bittere Arznei, die sie ihm zu trinken geben, und wegen der
Dinge, die es haben will und die sie ihm zu seinem Besten verweigern. Satan
hat dich schon so blind und töricht gemacht, daß du nicht mehr die wahre Natur
der Vorsorge erkennst, die ich für dich getroffen habe; daß du so weit
gekommen bist, Böswilligkeit und den Wunsch, dir zu schaden, in dem zu sehen,
was weise Voraussicht deines Meisters, deines Erlösers, deines Freundes ist
und zu deiner Heilung dienen soll. Ich habe dich in meiner Nähe behalten. Ich
habe das Geld aus deinen Händen genommen. Ich habe dich daran gehindert, mit
diesem verfluchten Metall, das dich verrückt macht, in Berührung zu kommen...
Weißt du denn nicht, spürst du denn nicht, daß es einem dieser magischen
Getränke gleicht, die einen unstillbaren Durst verursachen und das Blut
erhitzen, es in eine Wallung bringen, die zum Tod führt? Du, ich lese deine
Gedanken, wirfst mir vor: "Und warum hast du mich dann so lange das Geld
verwalten lassen?" Warum? Nun, wenn ich dir schon früher verboten hätte, mit
Geld umzugehen, hättest du dich schon früher verkauft und wärest schon früher
zum Dieb geworden. Du hast dich trotzdem verkauft, da du nur wenig stehlen
konntest... Aber ich mußte versuchen, es
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zu verhindern, ohne dir deine
Freiheit zu nehmen. Das Gold ist dein Verderben. Des Goldes wegen bist du
lasterhaft und zum Verräter geworden ...»
«Siehst du! Du hast also den
Worten des Samuel geglaubt! Ich bin nicht ...»
Jesus, der immer lebhafter
gesprochen hat, ohne jedoch heftig zu werden oder in strafenden Ton zu
verfallen, stößt einen gebieterischen, ich würde sagen, zornigen Schrei aus.
Seine Blicke durchbohren Judas, der das Gesicht erhoben hat, und sein einziges
Wort: «Schweig!» gleicht einem Blitzstrahl.
Judas wird wieder zahm und sagt
kein Wort mehr.
Es folgt ein Schweigen, in dem
Jesus mit sichtlicher Anstrengung seine menschlichen Gefühle bezwingt: eine
Beherrschung, die so gewaltig ist, daß sie allein schon von der ihm
innewohnenden Göttlichkeit zeugt. Dann fährt er mit seiner üblichen warmen,
bei aller Strenge sanften, überzeugenden und einnehmenden Stimme fort... Nur
Dämonen können einer solchen Stimme widerstehen.
«Ich habe weder Samuel noch sonst
jemanden nötig, um von deinen Taten zu erfahren. O Unglücklicher! Weißt du,
wen du vor dir hast? Es ist wahr. Du verstehst meine Gleichnisse nicht mehr.
Du verstehst meine Worte nicht mehr. Armer Unglücklicher! Du verstehst nicht
einmal mehr dich selbst. Du weißt nicht mehr, was gut und böse ist. Satan, dem
du dich auf vielerlei Art verschrieben hast, Satan, dem du in allen
Versuchungen nachgegeben hast, hat dich töricht gemacht. Und doch hat es eine
Zeit gegeben, da du mich verstanden und geglaubt hast, daß ich der bin, der
ich bin. Und diese Erinnerung ist nicht erloschen. Kannst du denn glauben, der
Sohn Gottes, Gott selbst, hätte die Worte eines Menschen nötig, um die
Gedanken und die Werke eines anderen Menschen zu kennen? Du bist noch nicht so
tief gesunken, daß du nicht mehr glaubst, daß ich Gott bin, und darin liegt
deine größte Schuld. Daß du mich als Gott erkennst, zeigt die große Furcht,
die du vor meinem Zorn hast. Du fühlst, daß du nicht gegen einen Menschen,
sondern gegen Gott selbst kämpfst, und zitterst. Du zitterst, weil du ein Kain
bist und dir Gott nur als Rächer vorstellen kannst, als Rächer in eigener
Sache und der Unschuldigen. Du fürchtest, es könnte dir ergehen wie Korach,
Datan und Abiram und ihren Anhängern. Und obwohl du weißt, wer ich bin,
kämpfst du dennoch gegen mich. Ich müßte dir sagen: "Sei verflucht!" Aber dann
wäre ich nicht mehr der Erlöser... Du möchtest, daß ich dich fortjage. Du
sagst, daß du alles tust, um dies zu erreichen. Das rechtfertigt deine Taten
nicht. Es ist nicht nötig zu sündigen, um sich von mir zu trennen. Du kannst
es tun, sage ich dir. Seit Nob sage ich es dir, als du zu mir zurückkamst an
einem klaren Morgen, beschmutzt von Lügen und Unzucht, als ob du der Hölle
entkommen wärest, um in den Schmutz der Schweine zu fallen oder auf das Lager
der lüsternen Affen, und ich mich beherrschen mußte, um
253
dich nicht mit der Spitze der
Sandale wie ekelerregenden Unrat beiseite zu stoßen und den Abscheu zu
überwinden, der nicht nur meinen Geist, sondern auch meine Eingeweide erfaßt
hatte. Ich habe es dir immer gesagt. Schon bevor ich dich angenommen habe. Und
auch bevor wir hierher gekommen sind. Damals habe ich nur für dich, für dich
allein gesprochen. Aber du wolltest immer bleiben. Zu deinem Verderben. Du!
Mein größter Schmerz! Aber du – Stammvater so vieler Ketzer, die noch kommen
werden – denkst und sagst ja, daß ich über dem Schmerz stehe. Nein. Nur über
der Sünde stehe ich. Nur über der Unwissenheit stehe ich. Über der ersten,
weil ich Gott bin. Über der zweiten, weil in einer Seele, die nicht den Makel
der Erbsünde trägt, keine Unwissenheit sein kann. Aber ich rede zu dir als
Mensch, als der Mensch, als der erlösende Adam, der gekommen ist, um die Sünde
des sündigen Adam wiedergutzumachen und zu zeigen, was der Mensch sein könnte,
wenn er so geblieben wäre, wie er geschaffen wurde: unschuldig. Gehörte zu den
Gaben Gottes für jenen Adam nicht eine ungeschmälerte Intelligenz und eine
übergroße Weisheit, da die Vereinigung mit Gott dem gesegneten Sohn das Licht
des allmächtigen Vaters einflößte? Ich, der neue Adam, stehe über der Sünde,
aus eigenem Willen... Eines Tages, lange ist es her, hast du dich gewundert,
daß ich versucht wurde, und hast mich gefragt, ob ich nie nachgegeben hätte.
Erinnerst du dich? Und ich habe dir geantwortet. Ja. Wie hätte ich dir
antworten sollen... Denn du warst schon damals so... ein verdorbener Mensch,
daß es nutzlos gewesen wäre, deinen Augen die kostbaren Perlen der Tugenden
des Christus zu enthüllen. Du hättest ihren Wert nicht begriffen und hättest
sie... mit Kieselsteinen verwechselt... da sie von so außergewöhnlicher Größe
waren. Auch in der Wüste habe ich dir geantwortet und die Worte wiederholt,
den Sinn der Worte, die ich dir an jenem Abend auf dem Weg nach Gethsemane
gesagt hatte. Wenn Johannes oder auch Simon der Zelote mir diese Frage
gestellt hätte, dann hätte ich auf andere Art geantwortet; denn Johannes ist
rein und hätte nicht mit der Bosheit gefragt, die in deinen Worten steckte, da
du voller Bosheit bist... und Simon ist ein weiser Greis, und obwohl er das
Leben kennt, wie Johannes es nicht kennt, hat er eine Weisheit erlangt, die
ihn alle Ereignisse betrachten läßt, ohne daß er im Inneren davon beunruhigt
wird. Aber diese beiden haben mich nie gefragt, ob ich je den Versuchungen
erlegen bin, den üblichen Versuchungen oder dieser Versuchung. In der
unberührten Reinheit des ersteren ist keine Erinnerung an die Unzucht und in
dem betrachtenden Geist des anderen ist so viel Licht, daß er meine strahlende
Reinheit erkennt.
Du hast gefragt... und ich habe
dir geantwortet, wie ich konnte. Mit jener Klugheit, die niemals zur
Unaufrichtigkeit verführen darf, da Klugheit und Aufrichtigkeit in den Augen
Gottes heilig sind. Jener Klugheit, die gleich dem dreifachen Vorhang zwischen
dem Heiligen und dem Volk
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hängt, um das Geheimnis des
Königs zu verhüllen. Jener Klugheit, die die Wahl der Worte bestimmt, je nach
dem Zuhörer, seiner Verstandeskraft, seiner geistigen Reinheit und seiner
Gerechtigkeit. Denn gewisse Wahrheiten, die man den Unreinen sagt, werden für
diese zum Gegenstand des Gelächters, nicht der Verehrung... Ich weiß nicht, ob
du dich an alle diese Worte erinnerst. Und ich wiederhole sie dir in dieser
Stunde, da wir beide am Rand des Abgrunds stehen. Denn... Aber es ist nicht
nötig, dies zu sagen. Ich habe in der Wüste auf deine Frage geantwortet, da
meine erste Erklärung dich nicht zufriedengestellt hatte: "Der Meister hat
sich niemals dem Menschen überlegen gefühlt, weil er der 'Messias' ist;
vielmehr, da er Mensch ist, wollte er es in allem sein, außer der Sünde. Um
Lehrer sein zu können, muß man erst Schüler gewesen sein. Als Gott wußte ich
alles. Meine göttliche Intelligenz konnte mich durch meine Verstandesmacht
auch die Kämpfe des Menschen begreifen lassen. Aber eines Tages hätte dann
irgendein armer Freund zu mir sagen können: 'Du weißt nicht, was es heißt,
Mensch zu sein und Gefühle und Leidenschaften zu haben.' Das wäre ein
gerechter Vorwurf gewesen. Ich bin hierhergekommen, um mich nicht allein auf
die Mission, sondern auch auf die Versuchung, auf die satanische Versuchung
vorzubereiten; denn der Mensch hätte keine Macht über mich gehabt. Satan ist
gekommen, als in der Einsamkeit meine fühlbare Vereinigung mit Gott aufgehört
hatte und ich fühlte, daß ich ein Mensch mit wahrem Fleisch bin, das den
Schwächen des Fleisches unterworfen ist: dem Hunger, der Müdigkeit, dem Durst
und der Kälte. Ich habe die Materie gespürt mit ihren Forderungen, und die
Gefühle mit ihren Leidenschaften. Und durch meinen Willen habe ich die
schlechten Leidenschaften schon bei ihrem Aufkommen unterdrückt und die
heiligen Leidenschaften gedeihen lassen." Erinnerst du dich dieser Worte? Und
weiter habe ich beim ersten Mal zu dir gesagt, zu dir allein: "Das Leben ist
ein heiliges Geschenk und muß daher heiligmäßig geliebt werden. Das Leben ist
ein Mittel zum Zweck, um das ewige Leben zu erlangen." Ich habe gesagt: "Geben
wir also dem Leben, was es braucht, um zu bestehen und dem Geist zu dienen in
seinem Bestreben: Enthaltsamkeit in den Gelüsten des Fleisches, Enthaltsamkeit
in den Wünschen des Verstandes, Enthaltsamkeit in allen menschlichen
Leidenschaften des Herzens, und unbegrenzte Energie in den Leidenschaften, die
zum Himmel führen: die Liebe zu Gott und dem Nächsten, den Willen, Gott und
dem Nächsten zu dienen, den Gehorsam gegenüber der Stimme Gottes und den
Heroismus im Guten und in der Tugend." Und du hast mir damals gesagt, ich
könnte dies fertigbringen, weil ich heilig bin, während es für dich unmöglich
sei, weil du ein junger Mensch voller Lebenskraft bist. Als ob jung und
kraftvoll zu sein eine Entschuldigung für das Laster wäre und nur die Alten
oder die Kranken, die wegen ihres Alters oder ihrer Schwäche nicht fähig sind
zu dem, woran du in der Glut deiner unzüchtigen Begierden
255
dachtest, frei von Versuchungen
der Sinne wären! Ich hätte dir damals schon vieles entgegnen können. Aber du
warst nicht imstande, es zu verstehen. Nicht einmal jetzt bist du es; doch
jetzt kannst du wenigstens nicht mehr ungläubig lächeln, wenn ich dir sage,
daß der gesunde Mensch keusch sein kann, wenn er nicht von sich aus für die
Verführungen Satans und der Sinne zugänglich ist. Keuschheit ist eine geistige
Neigung, eine Regung, die sich auf das Fleisch überträgt und es durchdringt,
erhebt, mit Duft erfüllt und bewahrt. In dem, der von Keuschheit erfüllt ist,
ist für andere ungute Regungen kein Platz. Das Verderben kann nicht in ihn
eindringen. Es ist kein Platz dafür vorhanden. Und überdies! Das Verderben
dringt nicht von außen ein. Die Regung dringt nicht von außen ins Innere. Es
ist eine Regung, die aus dem Inneren, dem Herzen, den Gedanken kommt und dann
in die Hülle, das Fleisch, vordringt und es durchdringt. Deshalb habe ich
gesagt, daß das Verderben aus dem Herzen kommt. Jeder Ehebruch, jede Unzucht,
jede Sünde der Sinne hat ihren Ursprung nicht in Äußerem, sondern entspringt
den verdorbenen Gedanken, die alles aufreizend erscheinen lassen, was man
sieht. Alle Menschen haben Augen, um zu sehen. Wie kommt es dann, daß eine
Frau, die zehn Männer gleichgültig läßt, weil sie in ihr ein ihnen ähnliches
Geschöpf sehen oder sie als ein schönes Werk der Schöpfung betrachten, das
aber keine obszönen Gefühle und Phantasien in ihnen hervorruft, den elften
betört und zu unwürdigen Begierden verleitet? Es kommt daher, daß dieser elfte
ein verdorbenes Herz und unreine Gedanken hat und dort, wo zehn die Schwester
sehen, das Weib sieht. Dies habe ich dir damals zwar nicht gesagt, aber ich
habe dir gesagt, daß ich eigens für die Menschen und nicht für die Engel
gekommen bin. Ich bin gekommen, um den Menschen die königliche Würde der
Kinder Gottes wiederzugeben, indem ich sie lehre, gottähnlich zu leben. Gott
kennt keine Unzucht, o Judas. Und ich wollte euch zeigen, daß auch der Mensch
rein sein kann. Ich wollte euch zeigen, daß man leben kann, wie ich es lehre.
Um euch dies zu zeigen, mußte ich wahres Fleisch annehmen, um die Versuchungen
der Menschen erleiden und dann den Menschen, nachdem ich sie belehrt habe,
sagen zu können: "Macht es wie ich." Und du hast mich gefragt, ob ich in der
Versuchung gesündigt habe. Erinnerst du dich? Ich habe dir geantwortet, denn
ich sah, daß du nicht begreifen konntest, daß ich versucht werden könnte ohne
zu fallen, da dir die Versuchung des Wortes unwahrscheinlich erschien und du
glaubtest, daß es für den Menschen unmöglich sei, nicht zu sündigen; deshalb
habe ich dir geantwortet, daß alle versucht werden können, doch nur jene
Sünder werden, die es sein wollen. Dein Erstaunen war groß, und ungläubig hast
du weiter gefragt: "Hast du noch nie gesündigt?" Damals konntest du ungläubig
sein. Wir kannten uns erst seit kurzem. Und Palästina ist voll von Rabbis, die
das Gegenteil von dem lehren, was sie leben. Aber nun weißt du, daß ich nicht
gesündigt habe und nicht
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sündige. Du weißt, daß die
Versuchung, auch die heftigste, die den gesunden, mannhaften Menschen
bedrängt, der unter Menschen lebt und von ihnen und von Satan umgarnt wird,
mich nicht so verwirren kann, daß ich sündige. Vielmehr war jede Versuchung,
auch wenn der Widerstand sie nur noch heftiger werden ließ, da der Dämon sie
noch verstärkte, um mich zu unterwerfen, ein immer größerer Sieg. Und nicht
nur über die Unkeuschheit, die mich wie ein Sturmwind umbrauste und die
dennoch meinen Willen nicht erschüttern und nicht beeinträchtigen konnte. Wo
keine Zustimmung in der Versuchung ist, gibt es keine Sünde, Judas. Es ist
schon Sünde, wenn man, auch ohne die Tat auszuführen, der Versuchung soweit
nachgibt, daß man sie betrachtet. Es ist eine läßliche Sünde, aber es ist
schon der Weg zur Todsünde und bereitet sie vor. Denn, die Versuchung wirken
zu lassen und in Gedanken bei ihr zu verweilen, im Geist die Phasen einer
Sünde zu verfolgen, bedeutet, sich selbst zu schwächen. Satan weiß dies, und
daher greift er mit immer neuen Flammen an in der Hoffnung, daß eine von ihnen
eindringt und wirkt. Danach ist es leicht zu erreichen, daß aus dem Versuchten
ein Sünder wird. Du hast mich damals nicht verstanden. Du konntest mich nicht
verstehen. Nun kannst du es. Du verdienst es jetzt viel weniger als damals, zu
verstehen, und doch wiederhole ich die Worte, die ich dir, für dich, gesagt
habe, da du, nicht ich, derjenige bist, in dem die abgewiesene Versuchung
keine Ruhe gibt ... Sie gibt keine Ruhe, weil du sie nicht gänzlich
zurückweist. Du begehst die Tat nicht, aber du denkst ständig an sie. Heute
so, und morgen... morgen begehst du die eigentliche Sünde. Daher habe ich dich
schon damals gelehrt, den Vater um Hilfe zu bitten gegen die Versuchung. Ich
habe dich gelehrt, den Vater zu bitten, dich nicht in Versuchung zu führen.
Ich, der Sohn Gottes, ich, der ich den Satan schon besiegt habe, habe den
Vater um Hilfe gebeten, denn ich bin demütig. Du nicht. Du hast Gott nicht um
Schutz und Rettung gebeten, denn du bist stolz. Und deshalb sinkst du immer
tiefer... Erinnerst du dich jetzt an all das? Dann kannst du nun auch
verstehen, was es für mich bedeutet, der ich wahrer Mensch mit allen
menschlichen Regungen und wahrer Gott mit allen göttlichen Regungen bin, dich
so sehen zu müssen: als Unzüchtigen, Lügner, Dieb, Verräter und Mörder. Weißt
du, welche Anstrengung es für mich bedeutet, dich in meiner Nähe zu ertragen?
Weißt du, welche Mühe es mich kostet, mich zu beherrschen, wie eben jetzt, um
bis zuletzt meine Mission an dir zu erfüllen? Jeder andere Mensch hätte dich
am Kragen gepackt, wenn er dich als Dieb und Einbrecher mit der Absicht, Geld
zu stehlen, ertappt hätte, wenn er wüßte, daß du ein Verräter bist und mehr
noch als ein Verräter... Ich habe zu dir gesprochen. Noch bin ich barmherzig.
Schau. Es ist nicht Sommer und durch das Fenster dringt die kühle Abendluft in
den Raum. Und doch treibt es mir den Schweiß aus allen Poren, als ob ich
härteste Arbeit verrichtet hätte. Merkst du denn nicht, wieviel du mich
kostest?
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Was du bist? Du willst, daß ich
dich fortjage? Nein. Niemals. Wenn einer am Ertrinken ist, dann wird der zum
Mörder, der ihn losläßt. Du stehst zwischen zwei Kräften, die dich anziehen.
Ich und Satan. Aber wenn ich dich gehen lasse, bleibt nur er. Und wie wirst du
dich dann retten? Und doch würdest du mich verlassen... Du hast mich im Geist
schon verlassen... Nun gut: Ich werde trotzdem die Hülle des Judas bei mir
behalten. Deinen Körper, der nicht den Willen hat, mich zu lieben, deinen
Körper, der dem Guten unzugänglich ist. Ich behalte ihn bei mir, bis du dieses
Nichts, deine äußere Hülle, von mir verlangst, um sie mit deinem Geist zu
vereinen und mit deinem ganzen Selbst zu sündigen... Judas... ! Hast du mir
nichts zu sagen? Judas! Hast du kein Wort für deinen Meister? Willst du mich
um nichts bitten? Ich verlange nicht, daß du mir sagst: "Verzeih mir!" Ich
habe dir zu oft umsonst verziehen. Ich weiß, daß dieses Wort nur von deinen
Lippen kommt und von keiner Regung der reuigen Seele begleitet ist. Ich möchte
eine Regung deines Herzens. Bist du denn schon so tot, daß du keinen Wunsch
mehr hast? Sprich! Hast du Angst vor mir? Oh, könntest du mich nur fürchten!
Wenigstens das! Aber du hast keine Furcht vor mir. Wenn du mich fürchten
würdest, würde ich dir die Worte wiederholen, die ich an jenem längst
vergangenen Tag sagte, als wir von der Versuchung und der Sünde sprachen: "Ich
sage dir, auch nach dem größten Verbrechen würde Gott dem Schuldigen
verzeihen, wenn dieser sich mit wahrer Reue zu seinen Füßen niederwerfen,
weinend um Verzeihung bitten und voll Vertrauen und Hoffnung die Sühne auf
sich nehmen würde. Durch die Sühne könnte der Schuldige seine Seele noch
retten." Judas! Aber wenn du mich auch nicht fürchtest, so liebe ich dich doch
noch. Willst du in dieser Stunde meine unendliche Liebe um nichts bitten?»
«Nein. Das heißt, nur um eines
will ich dich bitten: daß du Johannes gebietest zu schweigen. Wie, glaubst du,
soll ich mich bessern, wenn ich der Schandfleck unter euch bin?» Er sagt das
in hochmütigem Ton.
Und Jesus antwortet ihm: «Und das
sagst du in diesem Ton? Johannes wird schweigen. Aber du, und das bitte ich
dich, sorge dafür, daß man deine Verderbtheit nicht bemerkt. Hebe die Münzen
auf und lege sie in die Börse der Johanna zurück. Ich will versuchen, die
Truhe wieder zu verschließen... mit dem Eisen, das du zum Aufbrechen benützt
hast ...»
Und während Judas unwillig die
überall verstreuten Münzen sammelt, lehnt sich Jesus an die offene Truhe, als
ob er müde wäre. Das Licht im Raum hat abgenommen, doch ist es noch hell genug
um zu sehen, wie Jesus lautlos weint, während er seinen Apostel betrachtet,
der gebückt das zerstreute Geld sammelt.
Judas ist fertig und geht zur
Truhe. Er nimmt die große schwere Börse der Johanna, wirft die Münzen hinein,
verschließt sie und sagt: «Hier!»Dann geht er zur Seite.
Jesus nimmt den einfachen
Dietrich, den Judas angefertigt hat. Mit
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zitternden Händen läßt er das
Schloß einschnappen und schließt die Truhe. Dann legt er das Eisen über sein
Knie und verbiegt es, tritt mit dem Fuß darauf, um es vollends unbrauchbar zu
machen, hebt es wieder auf und verbirgt es an der Brust. Während er dies tut,
fallen Tränen auf das Linnen seines Gewandes.
Endlich rührt sich etwas im
Gewissen des Judas. Er bedeckt sein Gesicht mit den Händen, bricht in Tränen
aus und sagt: «Ich Verfluchter! Ich bin der Abschaum der Erde!»
«Du bist der ewig Unglückselige!
Und wenn man bedenkt, daß du noch glücklich sein könntest, wenn du nur
wolltest!»
«Schwöre mir! Schwöre mir, daß
niemand etwas erfährt... ! Dann schwöre ich dir, daß ich mich erlösen werde!»
schreit Judas.
«Sag nicht: "Ich werde mich
erlösen." Nicht du kannst es. Ich allein kann dich erlösen. Der zuvor von
deinen Lippen sprach, nur ich kann ihn besiegen. Sage mir das Wort der Demut:
"Herr, rette mich! " und ich werde dich befreien von dem, der dich beherrscht.
Verstehst du denn nicht, daß ich dieses Wort von dir sehnlicher erwarte als
den Kuß meiner Mutter?»
Judas weint und weint, aber das
Wort sagt er nicht.
«Geh. Verlasse den Raum. Geh auf
die Terrasse. Geh, wohin du willst, aber mache keine lauten Szenen. Geh. Geh.
Keiner wird dich entdecken, denn ich werde achtgeben. Ab morgen wirst du das
Geld verwahren. Es ist nun alles nutzlos.»
Judas geht ohne Widerrede. Jesus
sinkt, nachdem er allein geblieben ist, auf einen Stuhl beim Tisch und weint
bitterlich, das Haupt auf den auf dem Tisch gekreuzten Armen.
Nach einigen Minuten kommt
Johannes leise herein. Er verweilt einen Augenblick totenbleich auf der
Schwelle, dann eilt er zu Jesus und umarmt ihn flehend: «Weine nicht, Meister!
Weine nicht! Ich will dich auch für diesen Unglücklichen lieben...» Er richtet
ihn auf, küßt ihn, trinkt die Tränen seines Gottes und weint mit ihm. Jesus
umarmt ihn, und die beiden blonden Köpfe tauschen Tränen und Küsse aus.
Jesus beherrscht sich bald und
sagt: «Johannes, vergiß das alles aus Liebe zu mir. Ich will es.»
«Ja, mein Herr. Ich will
versuchen, es zu tun. Aber du sollst nicht mehr leiden... Ach, welch ein
Schmerz! Und er hat mich sündigen gemacht, mein Herr. Ich habe gelogen. Ich
mußte lügen, denn die Jüngerinnen sind zurückgekommen. Nein, zuerst die Leute
der Frau. Sie wollten dir danken, denn ein Junge ist glücklich zur Welt
gekommen. Ich habe gesagt, du seist wieder auf den Berg gegangen... Dann sind
die Frauen gekommen, und ich habe wieder gelogen und gesagt, daß du fort bist,
vielleicht dort, wo das Kind geboren wurde... Mir ist nichts anderes
eingefallen. Ich war so bestürzt! Deine Mutter hat bemerkt, daß ich geweint
hatte, und hat
259
mich gefragt: "Was hast du,
Johannes?" Sie war besorgt ... Es schien mir, als ob sie alles wüßte. Ich habe
zum drittenmal gelogen und gesagt: "Ich bin erschüttert wegen dieser Frau." So
weit kann die Berührung mit dem Sünder führen! Zur Lüge... Sprich mich los,
mein Jesus.»
«Sei beruhigt. Lösche jede
Erinnerung an diese Stunde. Nichts, nichts ist vorgefallen ... Es war ein
Traum...»
«Aber dein Schmerz! Oh, wie hast
du dich verändert, Meister! Sage mir, sage mir nur das eine: Hat Judas
wenigstens bereut?»
«Wer kann Judas verstehen, mein
Sohn?»
«Keiner von uns. Aber du schon.»
Jesus antwortet nicht. Nur neue
Tränen rinnen lautlos über das müde Gesicht.
«Ah! Er hat also nicht bereut...
!» Johannes ist entsetzt.
«Wo ist er jetzt? Hast du ihn
gesehen?»
«Ja. Er hat von der Terrasse
heruntergeschaut, um zu sehen, ob jemand da ist, und da er nur mich gesehen
hat, der ich in meiner Angst unter dem Feigenbaum saß, ist er heruntergerannt
und zum Gartentor hinausgegangen. Dann bin ich gekommen...»
«Du hast es gut gemacht. Wir
wollen hier alles in Ordnung bringen, die Stühle wieder an ihren Platz stellen
und den Krug forttragen, damit keine Spuren zurückbleiben...»
«Hat er dich angegriffen?»
«Nein, Johannes. Nein.»
«Du bist zu sehr betrübt,
Meister, um hierbleiben zu können. Deine Mutter würde sofort verstehen... und
darunter leiden.»
«Das ist wahr. Gehen wir
hinaus... Du wirst den Schlüssel zur Nachbarin bringen. Ich gehe dir am Ufer
in Richtung zum Berg voraus.»
Jesus geht hinaus. Johannes
bleibt zurück, um alles in Ordnung zu bringen. Dann geht auch er hinaus. Er
bringt den Schlüssel zu einer Frau, deren Haus sich in der Nähe befindet, und
verschwindet dann schnell im Gebüsch am Ufer, um von niemandem gesehen zu
werden.
Etwa hundert Meter vom Haus
entfernt sitzt Jesus auf einem Stein. Er wendet sich um, als er die Schritte
des Apostels hört. Sein Gesicht leuchtet weiß im Abendlicht. Johannes läßt
sich neben ihm auf den Boden nieder und legt seinen Kopf in den Schoß Jesu,
erhebt sein Antlitz und schaut ihn an. Er sieht, daß immer noch Tränen die
Wangen Jesu benetzen.
«Oh, leide nicht mehr! Leide
nicht mehr, Meister! Ich kann dich nicht leiden sehen!»
«Wie sollte ich nicht leiden!
Dies ist mein größter Schmerz. Erinnere dich, Johannes: Dies wird in Ewigkeit
mein größter Schmerz sein! Du kannst noch nicht alles begreifen... Mein
größter Schmerz...» Jesus ist sehr niedergeschlagen. Johannes hält ihn fest
umarmt. Er ist tieftraurig, da er ihn nicht trösten kann.
260
Jesus erhebt das Haupt, öffnet
die Augen, die er geschlossen hatte, um die Tränen zurückzuhalten, und sagt:
«Denk daran, nur wir drei wissen es: der Schuldige, ich und du. Und sonst darf
es niemand wissen.»
«Niemand wird es aus meinem Mund
erfahren. Aber wie konnte er nur? Solange er nur Geld aus der gemeinsamen
Börse nahm... Aber nun das... ! Ich glaubte, verrückt geworden zu sein, als
ich es sah... Wie schrecklich!»
«Ich habe dir gesagt, du sollst
vergessen ...»
«Ich will mich bemühen, Meister!
Aber es ist zu schrecklich...»
«Es ist schrecklich. Ja. Oh,
Johannes! Johannes!» Und Jesus umarmt den Lieblingsjünger, legt den Kopf auf
seine Schulter und weint seinen ganzen Schmerz aus. Die Schatten, die rasch
auf das Dickicht fallen, hüllen die beiden in Dunkelheit.
623. DIE REISE DURCH SAMARIA VOR
DEM PASSAHFEST; VON EPHRAIM NACH SILO
«Erlaube, daß wir dir folgen,
Meister. Wir werden dir nicht zur Last fallen», betteln viele Bewohner von
Ephraim, die sich vor dem Haus der Maria des Jakob versammelt haben. Diese
lehnt an einem Pfosten der weitgeöffneten Tür und weint herzzerbrechend.
Jesus ist von seinen zwölf
Aposteln umgeben; weiter drüben bilden Johanna, Nike, Susanna, Elisa, Martha,
Maria, Salome und Maria des Alphäus eine Gruppe um seine Mutter. Alle, Männer
wie Frauen, sind reisefertig, die Kleider gegürtet und in der Taille leicht
geschürzt, um die Füße frei zu haben. Sie tragen neue Sandalen, deren
geflochtene Lederriemen nicht nur um die Knöchel, sondern auch um die Waden
geschnürt sind, so wie man es macht, wenn man unwegsame Pfade gehen muß. Die
Männer sind auch mit den Reisesäcken der Jüngerinnen bepackt.
Die Leute erbetteln von Jesus die
Erlaubnis, ihm folgen zu dürfen, während die Kinder mit erhobenen Gesichtlein
und ausgestreckten Ärmchen schreien: «Einen Kuß! Nimm mich auf den Arm! Komm
zurück, Jesus! Komm bald wieder und erzähle uns viele schöne Gleichnisse! Ich
werde dir die Rosen aus meinem Garten aufbewahren! Ich werde kein Obst essen
und es für dich aufheben! Komm zurück, Jesus! Mein Schaf bekommt ein Junges,
und ich möchte dir das Lämmlein schenken; aus seiner Wolle kannst du dir ein
Gewand wie das meine machen... Wenn du bald kommst, schenke ich dir die
Fladen, die mir die Mama aus dem ersten Getreide macht...» Sie piepsen wie
Vöglein um ihren guten Freund, zupfen an seinem Gewand, hängen sich an seinen
Gürtel und versuchen, an seinen Armen hinaufzuklettern, so liebevoll
despotisch, daß es Jesus unmöglich
261
ist, den Erwachsenen zu
antworten, da er immer wieder ein neues Gesichtlein küssen muß.
«Jetzt aber weg mit euch! Genug!
Laßt den Meister in Ruhe! Frauen! Nehmt eure Kinder zu euch!» schreien die
Apostel, die ihre Reise unbedingt in diesen ersten Stunden des Tages beginnen
wollen. Sie verpassen auch einigen allzu aufdringlichen Kindern einen
gutmütigen Klaps.
«Nein, laßt sie nur. Ihre
kindliche Frische ist mir mehr wert als die Morgenkühle. Laßt sie und mich nur
machen. Laßt mich Trost finden in dieser Liebe ohne Berechnung und
Verwirrung», sagt Jesus in Verteidigung seiner kleinen Freunde, und als er die
Arme ausbreitet, bedeckt sein weiter Mantel die Kinder wie schützende blaue
Flügel. Die Kleinen drängen sich in der sanften Wärme im blauen Halbschatten
zusammen und sind ganz still, wie Küchlein unter den Flügeln der Gluckhenne.
Jesus kann endlich zu den
Erwachsenen sprechen: «Kommt also mit, wenn ihr glaubt, es tun zu können.»
«Wer soll uns daran hindern? Es
ist unser Gebiet!»
«Das Korn, die Weinstöcke und die
Obstbäume brauchen eure Arbeit, und die Schafe müssen geschoren werden und
paaren sich, und die, die sich schon in der vorigen Saison gepaart haben,
bekommen bald Junge. Und es ist Zeit für die Heuernte.»
«Das macht nichts, Meister. Für
die Schafschur und die Paarung der Tiere genügen die Alten, und die Kinder und
die Frauen können sich um die Lämmer und das Heu kümmern. Die Obstbäume und
die Äcker können warten. Auch wenn das Korn in der Ähre hart wird, ist es für
die Sichel immer noch früh genug, und die Weinberge, die Olivenhaine und die
Obstgärten brauchen nur die Früchte ihrer vielfachen Hochzeiten in der Sonne
anschwellen zu lassen. Wir können nichts dazu tun bis zur Ernte, so wie auch
die Familienmutter nichts weiter mit dem Brot tun kann, bis die Hefe im Teig
aufgegangen ist. Die Sonne ist die Hefe der Früchte. Sie tut nun ihre Arbeit,
so wie zuvor der Wind die seine getan hat bei der Vermählung der Blüten an den
Zweigen. Und dann... Selbst wenn wir einige Weintrauben oder einige Früchte
weniger ernten und Winden und anderes Unkraut einige Ähren ersticken, so ist
das immer noch ein sehr kleiner Schaden im Vergleich zu dem, was wir verlieren
würden, wenn wir deine Worte nicht hören könnten», sagt ein Greis, dem man im
Ort immer große Hochachtung erweist, wie ich gesehen habe.
«Das hast du gut gesagt. Dann
wollen wir also gehen. Maria des Jakob, in danke dir und segne dich dafür, daß
du mir eine so gute Mutter gewesen bist. Weine nicht! Wer ein gutes Werk getan
hat, braucht nicht zu weinen.»
«Ach, ich werde dich verlieren
und nie mehr wiedersehen!»
«Wir werden uns ganz sicher
wiedersehen.»
«Kommst du hierher zurück, Herr?»
fragt die Frau und lächelt unter Tränen. «Warum?»
262
«Hierher werde ich nicht mehr
kommen, so wie jetzt...»
«Wo werden wir uns dann
wiedersehen, da ich, arm und alt wie ich bin, nicht auf die Straßen der Welt
gehen und dich suchen kann?»
«Im Himmel, Maria. Im Haus
unseres Vaters. Dort, wo ein Platz für Juden und Samariter ist; wo ein Platz
ist für alle, die mich im Geist und in der Wahrheit lieben. Du tust es schon,
denn du glaubst an mich als an den Sohn des wahren Gottes ...»
«Oh! Und ob ich glaube! Aber für
uns gibt es keine Hoffnung, denn nur du liebst uns, ohne einen Unterschied zu
machen.»
«Wenn ich fortgegangen bin, dann
werden diese (er weist auf die Apostel) an meiner Stelle kommen. Und im
Gedenken an mich werden sie nicht fragen, wer jene sind, die in die Herde des
wahren und einzigen Hirten aufgenommen werden wollen.»
«Ich bin alt, Herr. Ich werde
nicht mehr lange genug leben, um dies zu erleben. Du bist jung und kräftig,
und deine Mutter wird dich noch lange haben, und auch die, die dich lieben und
deinem Volk angehören... Warum weinst du, Mutter des Gesegneten?» fragt sie
erstaunt, da sie Tränen in den Augen der Jungfrau-Mutter sieht.
«Nichts habe ich, außer meinem
Schmerz... Leb wohl, Maria. Gott segne dich für alles, was du meinem Sohn
getan hast. Und vergiß nicht: wenn dein Schmerz auch groß ist, einen größeren
als den meinen gibt es nicht und wird es niemals auf Erden geben. Niemals!
Denk an die schmerzenreiche Maria von Nazareth... Leb wohl!» und Maria geht,
nachdem sie das alte Frauchen an der Tür geküßt hat, und macht sich mit den
Frauen und Johannes an ihrer Seite auf den Weg.
Johannes, der in seiner üblichen,
etwas gebeugten Haltung mit nach oben gewendetem Gesicht geht, um die zu
sehen, zu der er spricht, sagt: «Weine nicht so, Maria. Wenn auch viele deinen
Jesus hassen, so gibt es doch auch viele, die ihn lieben. Erhebe deinen Geist,
o Mutter, und sieh auf jene, die jetzt und in künftigen Zeiten deinen Sohn
lieben werden mit ihrem ganzen Sein.» Und er endet leise, beinahe flüsternd,
zu Maria allein, die er am Ellbogen hält und führt und stützt, damit sie nicht
über die Steine des Feldweges stolpert, da die Tränen ihren Blick trüben:
«Nicht alle Mütter können ihre Kinder geliebt sehen... Es wird solche geben,
die entsetzt ausrufen: "Warum habe ich ihn geboren?"»
Jesus holt Maria und Johannes
ein, die allein etwas hinter den Jüngerinnen zurückgeblieben sind. Bei Jesus
ist Jakobus des Alphäus. Die anderen folgen in einer Gruppe, nachdenklich und
traurig, wie auch die Jüngerinnen, die allen vorausgehen. Den Schluß bildet
eine beträchtliche Anzahl Männer aus Ephraim, die miteinander reden.
«Abschied nehmen ist immer
traurig, Mutter. Vor allem, wenn man nicht weiß, daß das Ende der Beginn von
etwas weit Vollkommenerem ist. Der Abschied ist eine traurige Folge der Sünde,
und sie wird auch nach
263
der Vergebung fortbestehen. Doch
die Menschen werden sie mit größerer Bereitschaft ertragen, da sie Gott zum
Freund haben.»
«Du hast recht, Jesus. Aber es
gibt einen Schmerz, den Gott verkosten läßt, obgleich er der väterlichste
Freund ist, den es geben kann. Für mich ist er es. Oh, Gott ist gut! So gut!
Ich möchte nicht, daß Jakobus und Johannes oder sonst jemand Ärgernis an
meinen Tränen nimmt. Gott ist gut. Er ist immer gut zu seiner armen Maria
gewesen. Das habe ich mir jeden Tag gesagt, seit ich denken kann. Und nun ...
nun sage ich es jede Stunde, jeden Augenblick. Immer öfter sage ich es mir, je
mehr mich der Schmerz bedrückt... Gott ist gut. Er hat dich mir gegeben: den
liebenden und heiligen Sohn, der schon als Geschöpf jeglichen Schmerz einer
Frau aufwiegt... Er hat dich mir gegeben, dem armen Mädchen, das er zur Mutter
seines fleischgewordenen Wortes erhoben hat... Und diese Freude, dich "Sohn"
nennen zu können, o mein angebeteter Herr, ist so groß, daß kein Martyrium
meinen Augen eine Träne entlocken dürfte, wenn ich so vollkommen wäre, wie du
uns zu sein lehrst. Doch ich bin eine arme Frau, mein Sohn! Du bist mein
Geschöpf... und welche Mutter würde nicht weinen, wenn ihr Kind gehaßt wird,
und sie wüßte... Mein Sohn, hilf deiner Dienerin! Gewiß war noch Stolz in mir,
als ich glaubte, stark zu sein... Aber damals... war die Zeit noch fern... Nun
ist sie gekommen... Ich fühle es... Hilf mir, Jesus, mein Gott! Wenn Gott mich
so leiden läßt, dann geschieht es sicher aus Güte. Denn wenn er wollte, könnte
er mein Leid auf das beschränken, was geschieht... Er hat dich so in meinem
Schoß gebildet ... Wie ... Man kann es nicht in Worten ausdrücken, wie er dich
geschaffen hat ... Aber Gott will, daß ich leide... und er sei dafür
gepriesen... immer. Aber du, Jesus, hilf mir. Helft mir alle... alle... denn
das Meer, an dem ich meinen Durst lösche, ist so bitter...»
«Wir wollen beten. Wir vier
zusammen. Wir, die wir dich aus ganzem Herzen lieben, Mutter. Ich, dein Sohn,
und Johannes und Jakobus, die dich wie ihre eigene Mutter lieben... Vater
unser, der du bist im Himmel...» Und Jesus spricht zusammen mit der Mutter und
den beiden Aposteln, die leise mitbeten, das ganze Gebet des Herrn, wobei er
einige Sätze wie: «Dein Wille geschehe» oder «und führe uns nicht in
Versuchung» besonders betont. Dann sagt er: «Nun, der Vater wird uns helfen,
seinen Willen zu tun, auch wenn er so ist, daß wir in unserer menschlichen
Schwäche fürchten, ihn nicht erfüllen zu können; und er wird uns nicht in die
Versuchung führen, daß wir ihn für weniger gütig halten, denn während wir den
bitteren Kelch trinken, wird er uns seinen Engel schicken, der die Bitterkeit
mit himmlischem Trost von unseren Lippen nimmt.» Jesus hält die Hand seiner
Mutter, die mutig gegen die Tränen ankämpft und sie auf den Grund ihres
Herzens verbannt hat. Die beiden Apostel an ihrer Seite, Johannes neben Maria
und Jakobus des Alphäus neben Jesus, schauen sie ergriffen an.
264
Die Jüngerinnen drehen sich
mehrmals um, als sie das Schluchzen Marias und das Gebet der Vier hören. Aber
sie halten es für besser, nicht zu ihnen zu kommen. Hinten fragen sich die
Apostel: «Aber warum weint denn Maria so sehr?» Ich habe gesagt, die Apostel,
aber ich will sagen, alle mit Ausnahme des Judas von Kerioth, der sehr
nachdenklich, fast finster, etwas hinter ihnen dreingeht, so daß es Thomas
auffällt und er zu den anderen sagt: «Was hat denn Judas, daß er so ist? Er
gleicht einem, der zum Schafott geht.»
«Hm... Er wird Angst haben, nach
Judäa zurückzukehren», antwortet Matthäus.
«Ich... Was hat dir der Meister
wegen des Geldes gesagt?» fragt der Zelote.
«Nichts Besonderes. Er hat mir
gesagt: "Wir wollen es nun wieder machen wie früher: Judas ist der
Schatzmeister, und ihr verteilt die Almosen. Was unsere eigenen Ausgaben
betrifft, so wollen die Jüngerinnen uns helfen." Ich konnte es kaum glauben,
denn ich habe so viel mit Geld zu tun gehabt, daß ich es nun hasse.»
«Und die Jüngerinnen sorgen gut
für uns. In diesen Sandalen geht man so sicher. Man spürt nicht einmal, daß
wir im Gebirge gehen. Wer weiß, wieviel sie kosten!» sagt Petrus und
betrachtet seine Füße mit den neuen Sandalen, die Ferse und Zehen schützen und
die Knöchel mit feinen Lederriemen stützen.
«Martha hat daran gedacht. Man
erkennt ihre fürsorgliche Hand und ihren Reichtum. Wir haben sie früher auch
so gebunden, aber die Schnüre waren eine Qual. Man hat zwar nicht die Sohlen,
dafür aber die Haut an den Beinen verloren...» sagt Andreas.
«Und man hat sich Zehen und
Fersen verletzt... Deswegen hat der da hinten schon immer solche getragen...»
sagt Petrus und deutet auf Judas von Kerioth.
Die Straße steigt und steigt zum
Gipfel des Berges. Schaut man zurück, sieht man Ephraim ganz weiß in der Sonne
liegen, schon sehr weit unten, von hier aus.
Nun holen die Apostel auf und
helfen den Jüngerinnen, den hier sehr steilen Weg zu bewältigen, und
Bartholomäus, der zurückgeblieben ist, sagt zu den Leuten von Ephraim: «Da
habt ihr aber einen beschwerlichen Weg ausgesucht, Freunde.»
«Ja, aber gleich hinter dem Wald
kommt eine gute Straße, auf der man in kurzer Zeit Silo erreicht. Ihr könnt
dort dann länger ausruhen, als wenn ihr erst bei Dunkelheit auf anderen
Straßen ankommen würdet», antwortet einer.
«Du hast recht, der mühseligste
Weg führt immer am schnellsten zum Ziel.»
«Dein Meister weiß es. Daher
schont er sich nicht. Ach, wir werden ihn
265
niemals vergessen... ! Vor allem,
weil er uns in diesen letzten Tagen so viel Gutes getan hat, obgleich Leute
aus unserer Gegend ihn so ungerecht beschimpft haben. Er allein ist gut, und
daher ist er auch gut zu denen, die ihn hassen.»
«Ihr habt ihn aber nicht gehaßt.»
«Wir nicht. Aber wir hassen auch
so viele andere nicht und werden trotzdem grundlos gehaßt.»
«Ihr müßt es machen wie er, ohne
Furcht, und ihr werdet sehen, daß ...»
«Und ihr, weshalb macht ihr es
nicht so? Dasselbe gilt doch für euch. Wir hier, ihr dort, und in der Mitte
ein Berg: der Berg der gemeinsamen Irrtümer. Droben der gemeinsame Gott. Warum
sind wir dann nicht beide, wir und ihr, darauf bedacht, uns dort oben zu Füßen
Gottes gemeinsam wiederzufinden?»
Bartholomäus versteht den
gerechten Tadel ganz genau, denn er bildet sich trotz seiner unleugbaren
Tugend etwas darauf ein, ein Israelit zu sein, und verhält sich sehr ablehnend
gegen alles, was nicht Israel ist. Daher weicht er aus, antwortet nicht direkt
und sagt: «Es ist nicht nötig hinaufzusteigen. Gott ist zu uns herabgestiegen.
Es genügt, wenn wir ihm folgen.»
«Ihm folgen. Ja, das möchten wir
wohl. Aber wenn wir ihm nach Judäa folgen würden, würden wir ihm dann nicht
schaden? Auch du weißt, wessen man ihn beschuldigt und wessen man uns
beschuldigt: daß wir Samariter sind, was soviel bedeutet wie Dämonen.»
Bartholomäus seufzt. Dann läßt er
ihn plötzlich stehen und sagt: «Man gibt mir ein Zeichen zu kommen ...» und er
beschleunigt seinen Schritt.
Die von Ephraim blicken ihm nach,
und einer meint: «Dieser ist nicht wie er. Was verlieren wir schon, wenn er
weggeht!» Und er macht eine traurige Geste.
«Weißt du, Elias, daß er gestern
abend dem Synagogenvorsteher eine große Summe übergeben hat, damit er sie
Maria des Jakob bringt und sie nicht mehr Hunger leidet!»
«Ich wußte es nicht. Und warum
hat nicht er sie ihr gegeben?»
«Er wollte keinen Dank von der
alten Frau. Sie weiß es noch nicht. Ich weiß es, denn der Synagogenvorsteher
hat es mir gesagt, um zu beraten, ob es besser wäre, die Grundstücke des
Johannes zu kaufen, die sein Bruder verkaufen will, oder ob man ihr das Geld
nach und nach geben soll. Ich habe ihm geraten, das Land des Johannes zu
kaufen. Maria hätte dann genügend Korn, Öl und Wein zum Leben und müßte nicht
mehr hungern. Während das Geld ...»
«Dann ist es also wirklich eine
große Summe!» sagt ein dritter.
«Ja. Unser Synagogenvorsteher hat
viel bekommen, auch für andere Arme in der Stadt und auf dem Land; "damit auch
sie das Passahfest feiern und die neue Zeit begrüßen können", wie der Meister
gesagt hat.»
266
«Er wird gesagt haben, "das neue
Jahr".»
«Nein, er sagte: "die neue Zeit",
so daß der Synagogenvorsteher das Geld nicht vor dem Fest der ungesäuerten
Brote verwenden wird.»
«Oh, was wollte er wohl damit
sagen?» fragen viele.
«Was er damit sagen wollte? Ich
weiß es nicht. Niemand weiß es. Nicht einmal Johannes, sein Lieblingsjünger,
oder Simon des Jonas, der das Oberhaupt der Jünger ist. Ich habe sie gefragt,
und der erste ist blaß geworden, und der zweite hat nachgedacht, wie einer,
der etwas zu erraten sucht.»
«Und Judas von Kerioth? Er
bedeutet doch etwas unter den Jüngern, vielleicht mehr als die beiden anderen.
Er weiß alles, sagt er. Also wird er auch das wissen. Wir wollen gehen und ihn
fragen. Er sagt gerne, was er weiß.»
Die Männer holen Judas ein, der
immer noch getrennt von den anderen geht und jetzt allein auf dem Weg ist,
während die übrigen hinter einer Wegbiegung und im dichten Grün des Hanges
verschwunden sind.
«Judas, hör zu. Der Meister sagt,
er will, daß man ein großes Fest feiert an Passah, um die neue Zeit zu
begrüßen. Was meint er damit?»
«Das weiß ich nicht. Kann ich
etwa die Gedanken des Meisters lesen? Fragt ihn doch selbst, da er euch so
liebt», und er beschleunigt seinen Schritt und läßt sie enttäuscht zurück.
«Auch dieser ist nicht wie der
Meister. Keiner ist so barmherzig wie er...» sagen sie und schütteln den Kopf.
«Nun, folgen wir denn ihnen? Ihm
folgen wir! Und wir tun gut daran. Gehen wir. Wer weiß, ob wir nicht von ihm
selbst erfahren können, was er damit sagen wollte, bevor er nach Judäa geht.»
Sie gehen nun rascher und holen
die anderen ein, die bereits in einem Wald hundertjähriger Eichen sitzen und
ausruhen und von dort einen Ausblick auf eine der schönsten Gegenden
Palästinas haben.
624. IN SILO; DIE SCHLECHT
BERATENEN
Jesus spricht auf einem von
Bäumen beschatteten Platz. Die untergehende Sonne verklärt alles mit einem
gelbgrünen Licht, das durch die jungen Blätter der riesigen Platanen dringt.
Es scheint, als sei über den Platz ein feiner, kostbarer Schleier gespannt,
der das Sonnenlicht filtert, ohne ihm ein Hindernis zu sein.
Jesus sagt: «Hört. Ein großer
König sandte einmal seinen Lieblingssohn in ein Gebiet seines Reiches, dessen
Gerechtigkeit er prüfen wollte, und sagte zu ihm: "Geh, gehe in jeden Ort, tue
in meinem Namen Gutes, unterrichte die Menschen über mich, sorge dafür, daß
ich bekannt und
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geliebt werde. Ich gebe dir alle
Macht, und alles, was du tust, wird wohl getan sein."
Der Sohn des Königs machte sich,
nachdem er den väterlichen Segen erhalten hatte, auf den Weg. Mit einigen
Freunden und Schildknappen durchzog er unermüdlich jenes Gebiet des Reiches
seines Vaters. Nun hatte sich diese Gegend durch eine Reihe unglücklicher
Ereignisse in zwei feindliche Lager gespalten, die, jedes für sich, ein großes
Geschrei erhoben und dem König dringende Bittschriften sandten, sie allein
seien die Besseren, die Treueren, und die Nachbarn die Bösen, die eine Strafe
verdienten. So sah sich der Sohn des Königs Bürgern gegenüber, deren Stimmung
unterschiedlich war, je nach der Stadt, zu der sie gehörten, die aber zwei
Dinge gemeinsam hatten: erstens wollte jede Stadt besser als die andere sein,
und zweitens wollte sie der feindlichen Nachbarstadt schaden und sie in den
Augen des Königs herabsetzen. Gerecht und weise wie er war, versuchte der Sohn
des Königs nun, alle Gegenden dieser Region mit großer Barmherzigkeit über die
Gerechtigkeit zu belehren, damit alle Freunde seines Vaters seien und von ihm
geliebt würden. Und da der Sohn gut war, gelang es ihm, wenn auch nur langsam;
denn wie immer befolgten nur diejenigen aus den verschiedenen Provinzen der
Region seine Ratschläge, die gerechten Herzens waren. Und es war sogar so, daß
er in dem Teil, dem man voll Verachtung weniger Weisheit und guten Willen
nachsagte, mehr Gehör und Verlangen nach Wahrheit fand. Da sagten die von den
benachbarten Provinzen: "Wenn wir nichts unternehmen, wird der König seine
ganze Huld denen, die wir verachten, schenken. Laßt uns also gehen und sie,
die wir hassen, täuschen. Wir wollen so tun, als ob auch wir uns bekehrt
hätten und bereit wären, auf unseren Haß zu verzichten, um den Sohn des Königs
zu ehren."
Und sie gingen. Als Freunde
verkleidet zogen sie durch die Städte der feindlichen Provinzen und rieten mit
geheuchelter Güte, was zu tun sei, um den Sohn des Königs und damit auch
seinen Vater, den König, immer mehr und immer besser zu ehren. Denn die Ehre,
die dem Sohn zuteil wird, der vom Vater gesandt ist, ist auch die Ehre dessen,
der ihn gesandt hat. Doch sie ehrten den Sohn des Königs nicht. Sie haßten ihn
vielmehr so sehr, daß sie ihn bei den Untertanen und selbst beim König verhaßt
machen wollten. So listig waren sie in ihrer Scheinheiligkeit, so gut
verstanden sie es, ihre Ratschläge als die besten darzustellen, daß viele aus
der benachbarten Gegend sie annahmen, als gut ansahen, was schlecht war, und
den rechten Weg verließen, um auf falschen Wegen zu wandeln. Und der Sohn des
Königs mußte feststellen, daß er bei vielen das Ziel seiner Mission nicht
erreicht hatte.
Nun sagt mir: Welche waren die
größeren Sünder in den Augen des Königs? Welches die Sünde derer, die den Rat
gegeben haben, und derer, die den Rat befolgt haben? Und ich frage euch
weiter: Mit welchen ist der
268
gute König wohl strenger ins
Gericht gegangen? Könnt ihr mir nicht antworten? Dann werde ich es euch sagen.
Der größte Sünder in den Augen
des Königs war jener, der den Nächsten zum Bösen aufgestachelt hatte, aus Haß
gegen ihn, um ihn in eine noch tiefere Finsternis der Unwissenheit
zurückzustoßen; aus Haß gegen den Sohn des Königs, dessen Mission er zum
Scheitern bringen und den er in den Augen des Königs und seiner Untertanen als
unfähig erscheinen lassen wollte; und schließlich aus Haß gegen den König
selbst, denn wenn die dem Sohn geschenkte Liebe auch dem Vater geschenkte
Liebe ist, so gilt der dem Sohn entgegengebrachte Haß ebenfalls dem Vater.
Also ist die Sünde derer, die
Schlechtes geraten haben, in vollem Bewußtsein des schlechten Rates, eine
Sünde des Hasses und außerdem der Lüge, eine Sünde vorsätzlichen Hasses; die
Sünde derer aber, die dem Rat gefolgt sind, da sie ihn für gut hielten, ist
nur eine Sünde der Torheit. Aber ihr wißt sehr wohl, daß der Vernunftbegabte
für seine Handlungen verantwortlich ist, während einer, der aus Krankheits-
oder anderen Gründen töricht ist, nicht für sich selbst verantwortlich ist;
vielmehr sind es die Angehörigen für ihn. Daher ist ein Kind vor seiner
Volljährigkeit nicht verantwortlich, sondern der Vater trägt die Verantwortung
für die Taten des Sohnes. Deshalb bestrafte der König, der gut war, die
schlechten intelligenten Ratgeber streng, während er zu den von ihnen
Betrogenen gütig war. Er machte letzteren nur den Vorwurf, diesem oder jenem
Untertanen geglaubt und nicht zuvor den Sohn des Königs selbst befragt zu
haben, um von ihm zu erfahren, was wirklich getan werden sollte. Denn nur der
Sohn kennt wahrhaft den Willen seines Vaters.
Dies ist das Gleichnis, ihr Leute
von Silo; von diesem Silo, das so oft im Laufe der Jahrhunderte durch Gott,
durch die Menschen oder durch Satan Ratschläge verschiedenster Art erhalten
hat, die gute Früchte brachten, wenn sie als gute Ratschläge befolgt wurden,
oder wenn sie als schlechte Ratschläge zurückgewiesen wurden. Und sie
gereichten zum Bösen, wenn gute, heilige Ratschläge nicht angenommen oder
schlechte befolgt wurden.
Denn der Mensch hat diese
herrliche Freiheit des Willens und kann frei zwischen dem Guten und dem Bösen
wählen. Und er hat die andere herrliche Gabe, den Verstand, um das Gute vom
Bösen unterscheiden zu können; und daher bringt eigentlich nicht so sehr der
Rat selbst, sondern die Art, wie dieser aufgenommen wird, Lohn oder Strafe. So
wie niemand den Bösen verbieten kann, den Nächsten zu versuchen, um ihn zu
verderben, so kann niemand die Guten daran hindern, die Versuchung abzuweisen
und dem Guten treu zu bleiben.
Der gleiche Rat kann für zehn
schädlich und für andere zehn nützlich sein. Denn wenn einer, der ihn befolgt,
sich selbst schadet, so hat der, der ihn nicht befolgt, einen Nutzen für seine
Seele. Deshalb soll niemand
269
sagen: "Sie haben uns gesagt, daß
wir dies tun sollen", sondern jeder soll aufrichtig sagen: "Ich wollte es
tun!' So könnt ihr wenigstens auf die Verzeihung hoffen, die den Aufrichtigen
gewährt wird. Und wenn ihr unsicher seid wegen eines Rates, den man euch
gegeben hat, denkt nach, bevor ihr ihn annehmt und befolgt. Denkt nach und
ruft den Allerhöchsten an, der niemals sein Licht den Seelen guten Willens
versagt. Und wenn euer von Gott erleuchtetes Gewissen euch nur das Geringste
erkennen läßt, so klein und unbedeutend es auch sei, das sich nicht mit einem
Werk der Gerechtigkeit vereinbaren läßt, dann sagt: "Ich werde es nicht tun,
denn es wäre nicht vollkommen gerecht."
Oh, wahrlich, ich sage euch, wer
seinen Verstand und seine Entscheidungsfreiheit richtig gebraucht und den
Herrn anruft, um die Wahrheit der Dinge zu erkennen, dem wird die Versuchung
nicht zum Verderben gereichen, denn der Vater im Himmel wird ihm helfen, trotz
aller Arglist der Welt und des Satans, das Gute zu tun.
Denkt an Anna des Elkana und
denkt an die Söhne des Eli. Der leuchtende Engel der ersteren hatte Anna
geraten, ein Gelübde abzulegen, wenn der Herr sie fruchtbar machen würde. Der
Priester Eli gab ' seinen Söhnen den Rat, wieder gerecht zu werden und nicht
weiter gegen den Herrn zu sündigen. Und obwohl es der Schwerfälligkeit des
Menschen leichter fällt, die Stimme eines anderen Menschen zu verstehen, als
die geistige und mit den Sinnen nicht wahrnehmbare Eingebung des Engels des
Herrn, der zur Seele spricht, befolgte Anna des Elkana den Rat, denn sie war
gut und stand gerade vor dem Angesicht Gottes, und sie gebar einen Propheten;
während die Söhne Elis, die böse und fern von Gott waren, den Rat des Vaters
in den Wind schlugen, von Gott gestraft wurden und eines gewaltsamen Todes
starben.
Die Ratschläge haben zweifachen
Wert: den der Quelle, aus der sie kommen, und dieser Wert ist schon sehr groß,
denn er kann unübersehbare Folgen haben, und den des Herzens, dem sie gegeben
werden. Der Wert, den ihnen das Herz verleiht, das sie empfangen hat, ist
nicht nur unvorhersehbar, sondern auch unveränderlich. Denn ist das Herz gut
und befolgt den guten Rat, dann gibt es dem Rat den Wert einer guten Tat;
befolgt es ihn aber nicht, so nimmt es ihm den zweiten Wert, er bleibt nur
Rat, wird also nicht zur Tat und ist folglich nur für den, der ihn gegeben
hat, verdienstvoll. Und wenn der schlechte Rat vom guten Herzen nicht
angenommen wird, das er vergebens durch Schmeicheleien oder Drohungen zum
Handeln gedrängt hat, dann gewinnt er den Wert eines Sieges über das Böse und
des Martyriums aus Treue zum Guten und verschafft so einen großen Schatz im
Himmel.
Wenn also euer Herz von anderen
versucht wird, denkt nach im Licht Gottes, ob es ein gutes Wort sein könnte,
und wenn ihr mit Gottes Hilfe, der zwar Versuchungen zuläßt, aber nicht euer
Verderben will, seht, daß
270
es nicht gut ist, dann sagt euch
selbst und dem, der euch versucht: "Nein. Ich bleibe meinem Herrn treu; und
möge er mich um dieser Treue willen lossprechen von meinen vergangenen Sünden
und mich in sein Reich aufnehmen, damit ich nicht vor den Toren stehen muß;
denn auch für mich hat der Allerhöchste seinen Sohn gesandt, auf daß er mich
zum ewigen Heile führe!'
Geht nun. Und wenn einer von euch
mich braucht, dann wißt ihr, wo ich mich in der Nacht ausruhe. Der Herr möge
euch erleuchten.»
625. IN LIBONA; DIE SCHLECHT
BERATENEN; NOCH EINMAL ÜBER DEN WERT DER RATSCHLÄGE
Sie haben gerade Libona erreicht,
eine Stadt, die mir nicht sehr wichtig oder schön vorkommt, in der es dafür
aber von Volk wimmelt, jetzt, da schon viele Karawanen von Galiläa, Ituräa,
der Gaulanitis, Trachonitis, Auranitis und der Dekapolis nach Jerusalern
hinabziehen. Ich glaube, daß Libona an einer Karawanenstraße liegt, vielleicht
ein Knotenpunkt von Karawanenstraßen ist, die von den genannten Regionen
kommen, vom Mittelmehr bis zu den Bergen im Osten von Palästina und auch vom
Norden, um dann an diesem Ort, an der großen Straße, die nach Jerusalern
führt, zusammenzutreffen. Die Vorliebe der Leute für diese Straße rührt
wahrscheinlich daher, daß sie von den Römern stark bewacht wird und das Volk
sich deshalb sicherer fühlt vor der Gefahr einer unliebsamen Begegnung mit
Räubern. So scheint es mir. Aber vielleicht hat diese Vorliebe auch andere
Gründe. Vielleicht ist sie mit irgendeiner geschichtlichen oder heiligen
Erinnerung verbunden. Ich weiß es nicht.
Zu dieser frühen Stunde – ich
schätze, daß es nach dem Stand der Sonne ungefähr acht Uhr morgens ist –
setzen sich die Karawanen unter lautem Rufen, Kreischen, Eselsgeschrei,
Geklingel und Räderrollen in Bewegung. Frauen rufen nach ihren Kindern, Männer
treiben ihre Tiere an, samaritanische Händler machen Geschäfte mit denen, die
nicht so ganz... sture Hebräer sind, die aus der Dekapolis und anderen
Gebieten stammen, wo man den heidnischen Elementen nähersteht und weniger
unnachsichtig ist. Denn jedesmal, wenn ein unglücklicher Verkäufer aus Samaria
sich einem Musterexemplar des Judentums nähert, um ihm seine Waren anzubieten,
erfolgt eine zutiefst verachtungsvolle Ablehnung, bis hin zur Beschimpfung,
und beginnt der Angesprochene so wild zu schreien und zu fluchen, als wäre er
mit dem Teufel in Berührung gekommen. Das fordert lebhafte Reaktionen der
beleidigten Samariter heraus, und man kann sich vorstellen, was für
Schlägereien es geben würde, wenn die römischen Soldaten nicht Wache hielten.
271
Jesus geht ungeachtet dieses
Durcheinanders weiter. Um ihn herum die Apostel, dahinter die Jüngerinnen und
hinter diesen der ganze Haufen der Ephraimiten, der durch die Leute von Silo
Verstärkung erhalten hat.
Ein leises Flüstern geht dem
Meister voraus. Es breitet sich von denen, die ihn sehen, aus zu denen, die
ihn noch nicht sehen, weil sie zu weit entfernt sind. Ein viel lauteres
Flüstern folgt ihm nach. Viele verschieben ihre Abreise, um zu sehen, was
geschieht.
Sie fragen sich: «Wie? Geht er
denn immer weiter von Judäa weg? Predigt er nun in Samaria?»
Eine singende Stimme aus Galiläa
antwortet: «Da die Heiligen ihn abgelehnt haben, wendet er sich nun den
Unheiligen zu, um sie zu heiligen, zur Schande der Juden.»
Eine weitere beißende Antwort,
ätzender als die giftigste Säure: «Er hat sein Nest wiedergefunden und jene,
die seine dämonischen Worte verstehen.»
Eine andere Stimme: «Schweigt,
ihr Mörder des Gerechten! Dieser Verfolgung wegen werdet ihr in den kommenden
Jahrhunderten den schlimmsten Namen tragen. Ihr seid dreimal verdorbener als
wir aus der Dekapolis!»
Eine alte, schneidende Stimme:
«Er ist so gerecht, daß er den Tempel meidet am Fest der Feste! Hi, hi, hi!»
Einer aus Ephraim schreit, rot
vor Zorn: «Das ist nicht wahr. Du lügst, alte Schlange! Er ist auf dem Weg zu
seinem Passah.»
Ein bärtiger Schriftgelehrter
sagt verächtlich: «Und da geht er in Richtung Garizim?»
«Nein, in Richtung Moriah. Er ist
gekommen, um uns zu segnen, denn er weiß zu lieben. Dann geht er zu eurem Haß
hinauf, ihr Verfluchten!»
«Schweig, Samariter!»
«Schweig du, Dämon!»
«Wer Unruhen verursacht, wird zu
den Galeeren verurteilt! Pontius Pilatus hat es so angeordnet. Denkt daran.
Geht auseinander», befiehlt ein römischer Offizier und läßt durch seine
Soldaten die Leute auseinandertreiben, die schon im Begriff sind, in einer der
vielen regionalen und religiösen Streitigkeiten aneinanderzugeraten, die zur
Zeit Christi in Palästina an der Tagesordnung sind.
Die Leute gehen auseinander. Doch
niemand denkt mehr ans Abreisen. Die Esel werden wieder in die Stallungen
gebracht oder dorthin geführt, wo Jesus sich befindet. Frauen und Kinder
steigen aus den Sätteln und folgen den Vätern und Ehegatten oder bilden
schwätzende Gruppen, wenn die eheherrliche oder väterliche Anordnung
entsprechend lautet: «Damit sie die Worte des Dämons nicht hören.» Die Männer,
ob nun Freunde, Feinde oder einfach Neugierige, laufen eilends an den Ort, an
den Jesus sich begeben hat. Und im Laufen schauen sie einander böse an,
272
ermutigen sich gegenseitig wegen
dieser unverhofften Freude oder stellen Fragen, je nachdem, ob es Freunde und
Feinde, nur Freunde oder Neugierige sind.
Jesus ist auf einem Platz an dem
von einigen Bäumen beschatteten unvermeidlichen Brunnen stehengeblieben. Er
steht da vor der feuchten Wand des Brunnens, der sich hier in einer kleinen,
nur nach einer Seite hin offenen Art Säulenhalle befindet. Vielleicht ist es
eher ein Ziehbrunnen als eine Quelle. Er gleicht dem Brunnen von En Rogel.
Er spricht mit einer Frau, die
ihm ihren kleinen Sohn zeigt, den sie in den Armen hält. Ich sehe, wie Jesus
ihr zustimmt und dann eine Hand auf den Kopf des Kindes legt. Und gleich
danach sehe ich, wie die Mutter das Kind in die Höhe hält und ruft:
«Malachias! Malachias, wo bist du? Unser Junge ist kein Krüppel mehr!» Die
Frau jubelt, und die Leute stimmen in ihr Hosanna ein, während ein Mann sich
einen Weg durch die Menschenmenge bahnt, zu Jesus eilt und sich vor ihm
niederwirft.
Die Leute machen ihre Kommentare.
Die Frauen, meist Mütter, freuen sich mit der Frau, die diese Gnade erhalten
hat. Die weiter entfernt Stehenden recken die Hälse und fragen: «Was ist denn
geschehen?» nachdem sie mit den anderen, die es wissen, schon Hosanna gerufen
haben.
«Ein buckliges Kind, so
verkrüppelt, daß es nur mit Mühe auf den Beinen stehen konnte. Es war nur so
groß, sage ich euch, wirklich nur so, so gebeugt war es. Es sah aus wie ein
dreijähriges Kind, obwohl es schon sieben Jahre alt ist. Nun, seht es euch an!
Es ist so groß wie alle anderen seines Alters und rank und schlank wie eine
Palme. Seht dort, wie es auf das Mäuerchen des Brunnens klettert, um gesehen
zu werden und selbst zu sehen. Und wie glücklich es lacht!»
Ein Galiläer wendet sich an einen
Mann, der wegen der langen Fransen an seinem Gürtel vermutlich ein Rabbi ist,
und fragt ihn: «Was sagst du nun? Ist auch dies ein Werk des Teufels? Wenn der
Teufel wirklich solche Dinge tut, dem Elend Hilfe schafft und die Menschen
glücklich macht, so daß sie Gott preisen, dann müßte man sagen, daß er der
beste Diener Gottes ist!»
«Du Gotteslästerer, schweige!»
«Ich lästere Gott nicht, Rabbi.
Ich spreche über das, was ich gesehen habe. Denn eure Heiligkeit legt nur
Lasten und Unglück auf unsere Schultern und Flüche auf unsere Lippen und läßt
in uns Gedanken des Mißtrauens gegen den Allerhöchsten aufkommen, während die
Werke des Rabbi von Nazareth uns Frieden schenken und die Gewißheit, daß Gott
gut ist.»
Der Rabbi antwortet nicht. Er
geht beiseite und spricht mit einigen Freunden. Und einer von diesen bahnt
sich kurz darauf einen Weg durch die Menge, stellt sich vor Jesus und fragt
ihn, ohne ihn vorher zu grüßen: «Was hast du vor?»
273
«Ich will zu diesen Menschen hier
sprechen, die nach meinen Worten verlangen», antwortet Jesus und schaut ihm
dabei fest in die Augen, ohne Verachtung, aber auch ohne Furcht.
«Das ist dir nicht erlaubt. Das
Synedrium will es nicht.»
«Der Allerhöchste, dessen Diener
das Synedrium sein müßte, will es.»
«Du bist verurteilt worden. Du
weißt es. Schweige, sonst...»
«Mein Name ist Wort. Und das Wort
spricht.»
«Zu den Samaritern. Wenn du
wirklich der wärest, der du zu sein behauptest, dann würdest du nicht zu den
Samaritern sprechen.»
«Ich spreche und werde immer
sprechen, zu Galiläern wie zu Juden und Samaritern; denn in den Augen Jesu
besteht kein Unterschied.»
«Versuche nur, in Judäa zu reden,
wenn du es wagst... !»
«Ich werde sprechen. Wartet auf
mich. Bist du nicht Eleazar ben Parta? Ja? Dann wirst du gewiß noch vor mir
Gamaliel sehen. Richte ihm in meinem Namen aus, daß ich auch ihm nach
einundzwanzig Jahren die Antwort geben werde, auf die er wartet. Hast du
verstanden? Merke dir diese Worte gut: Auch ihm werde ich die Antwort geben,
auf die er seit einundzwanzig Jahren wartet. Leb wohl.»
«Wo? Wo willst du sprechen? Wo
willst du dem großen Gamaliel die Antwort geben? Er hat sicher Gamala in Judäa
schon verlassen, um nach Jerusalern zu gehen. Aber selbst wenn er noch in
Gamala wäre, könntest du nicht mit ihm reden.»
«Wo? Wo versammeln sich die
Schriftgelehrten und Rabbis von Israel?»
«Im Tempel? Du, im Tempel? Du
würdest es wagen? Aber weißt du denn nicht...»
«Daß ihr mich haßt? Ich weiß es.
Mir genügt es, wenn mein Vater mich nicht haßt. Bald wird der Tempel wegen
meines Wortes erzittern.» Und ohne sich weiter um seinen Gesprächspartner zu
kümmern, breitet Jesus die Arme aus, um der Menge, in der sich gegensätzliche
Parteien gebildet haben und die die Störenfriede beschimpft, Schweigen zu
gebieten.
Sofort tritt Ruhe ein, und in die
Stille spricht Jesus: «In Silo habe ich von den bösen Ratgebern gesprochen und
darüber, wie man einen Rat gut oder schlecht anwenden kann. Ich trage nun
euch, die ihr nicht nur aus Libona, sondern aus allen Teilen Palästinas seid,
das folgende Gleichnis vor. Wir wollen es das Gleichnis der schlecht Beratenen
nennen.
Hört. Es war einmal eine
außerordentlich zahlreiche Familie, so zahlreich, daß sie einem Volksstamm
glich. Zahlreiche Kinder hatten geheiratet und neben der ursprünglichen
Familie eigene Familien gebildet, deren zahlreiche Kinder ihrerseits
geheiratet und neue Familien gegründet hatten. So war der alte Vater
gewissermaßen zum Oberhaupt, zum König eines kleinen Reiches geworden. Wie es
immer in den Familien ist, waren die Charaktere der vielen Kinder und
Kindeskinder sehr verschieden. Die einen waren gut und gerecht, die anderen
anmaßend und ungerecht ; die
274
einen waren mit ihrem Los
zufrieden, die anderen eifersüchtig auf einen Bruder oder einen Verwandten,
dem gegenüber sie sich benachteiligt fühlten. Und so gab es neben dem Besten
auch den Schlechtesten von allen. Und dieser Gute wurde, was nur natürlich
ist, vom Vater der großen Familie am meisten geliebt. Und, wie es immer
geschieht, wurden der Schlechteste und die ihm Ähnlichen von Haß gegen den
Guten erfüllt, weil dieser am meisten geliebt wurde, und sie bedachten nicht,
daß auch sie geliebt würden, wenn sie so gut wie jener wären. Den Guten, dem
der Vater seine Gedanken anvertraute, damit er sie allen mitteile, ahmten die
anderen Guten nach. Und so war die große Familie nach vielen Jahren in drei
Parteien geteilt. Die Partei der Guten und die Partei der Bösen. Und zwischen
diesen beiden die dritte Partei, die der Unschlüssigen, die sich zwar zu dem
guten Sohn hingezogen fühlten, die aber auch den bösen Sohn und seine Anhänger
fürchteten. Diese dritte Partei schwankte zwischen den beiden anderen Parteien
hin und her und konnte sich weder für die eine, noch für die andere endgültig
entscheiden. Da sagte der alte Vater, der diese Unentschlossenheit sah, zu
seinem Lieblingssohn: "Bis jetzt hast du dein Wort immer besonders an die
gerichtet, die es lieben, und auch an die, die es nicht lieben. Denn die
ersteren bitten dich darum, damit sie mich immer mehr und immer besser lieben
können, und die anderen sind töricht und müssen zur Gerechtigkeit aufgerufen
werden. Aber du siehst, daß die Törichten nicht nur dein Wort nicht annehmen
und so bleiben, wie sie sind, sondern ihrer ersten Ungerechtigkeit, dir, dem
Überbringer meiner Wünsche, noch die zweite hinzufügen, daß sie mit schlechtem
Rat jene verderben, die noch nicht den festen Willen haben, den besseren Weg
zu wählen. Geh daher zu diesen und sage ihnen, wer ich bin und wer du bist,
und was sie tun müssen, um eins mit dir und mit mir zu sein."
Der immer gehorsame Sohn ging und
tat, wie der Vater ihm befohlen hatte. Und so gelang es ihm, jeden Tag einige
Herzen zu gewinnen. Nun erkannte der Vater klar die wirklich rebellischen
Söhne und betrachtete sie mit strengem Blick, ohne sie jedoch zu tadeln, denn
er war ihr Vater und wollte sie mit Geduld, Liebe und dem Beispiel der Guten
an sich ziehen.
Aber die Bösen sagten, als sie
sich allein sahen: "Nun erkennt man allzuklar, daß wir die Rebellen sind.
Früher konnten wir uns unter denen verbergen, die weder gut noch böse waren.
Jetzt hingegen... Seht nur, wie sie alle dem auserwählten Sohn folgen. Wir
müssen etwas unternehmen, um sein Werk zu zerstören. Wir wollen so tun, als
hätten wir uns gebessert, uns unter die gerade erst Bekehrten mischen und auch
zu den Einfältigeren von den Guten gehen und die Kunde verbreiten, daß der
auserwählte Sohn nur vorgibt, dem Vater zu dienen, in Wirklichkeit aber eine
Gefolgschaft sammelt, um sich eines Tages gegen ihn zu erheben. Wir
275
können auch sagen, daß der Vater
die Absicht hat, seinen Sohn und dessen Anhänger zu vernichten, da sie zu
viele Triumphe feiern und seine Herrlichkeit als Vater und König verdunkeln,
und daß wir deshalb den geliebten und verratenen Sohn bei uns zurückhalten
müssen, fern von seinem Vaterhaus, wo ihn nur Verrat erwartet."
Und sie gingen, und mit so viel
Schlauheit und Arglist streuten sie Gerüchte aus und verbreiteten Ratschläge,
daß viele in die Falle gingen, besonders jene, die noch nicht lange bekehrt
waren und denen die bösen Ratgeber diesen schlechten Rat gaben: "Seht ihr, wie
er euch geliebt hat? Er hat es vorgezogen, zu euch zu kommen, anstatt beim
Vater oder wenigstens bei den guten Brüdern zu bleiben. So viel hat er für
euch getan, daß er euch vor den Augen der Welt aus eurer Erniedrigung
emporgehoben hat, der Erniedrigung von Geschöpfen, die nicht wußten, was sie
wollten, und daher zum Gespött aller wurden. Wegen dieser seiner Vorliebe für
euch habt ihr die Pflicht, ihn zu verteidigen. Ja, ihr müßt ihn zurückhalten,
selbst mit Gewalt, wenn eure Worte nicht genügen, um ihn zu überzeugen, daß er
auf eurem Gebiet bleiben muß. Oder aber erhebt euch, macht ihn zu eurem
Anführer und König und marschiert gegen den bösen Vater und seine ebenso bösen
Söhne." Weiter sagten sie zu den Zögernden, die bemerkten: "Aber er will, er
wollte doch, daß wir mit ihm gehen und den Vater ehren, denn er hat bei ihm
für uns Segen und Verzeihung erlangt", zu diesen also sagten sie: "Glaubt das
nicht. Er hat euch nicht die ganze Wahrheit gesagt, und er hat euch auch nicht
die ganze Wahrheit über den Vater erkennen lassen. Er hat dies getan, weil er
merkt, daß der Vater im Begriff ist, ihn zu verraten, und weil er eure Herzen
prüfen wollte, um zu wissen, wo er Schutz und Zuflucht findet. Aber
vielleicht... Er ist ja so gut! Vielleicht wird er dann bereuen, am Vater
gezweifelt zu haben, und zu ihm zurückkehren wollen. Erlaubt es ihm nicht."
Und viele versprachen: "Wir werden es ihm nicht erlauben." Und sie schmiedeten
Pläne, wie sie den geliebten Sohn zurückhalten könnten, und bemerkten nicht,
daß die Augen der schlechten Ratgeber, die sagten: "Wir werden euch helfen,
den Gesegneten zu retten" ' voller Lüge und Grausamkeit waren und sie sich
jedesmal, wenn jemand ihren arglistigen Worten Gehör schenkte, zuzwinkerten,
die Hände rieben und dabei flüsterten: "Jetzt gehen sie in die Falle! Wir
werden siegen!" Dann gingen die bösen Ratgeber fort. Sie gingen und
verbreiteten an anderen Orten das Gerücht, daß nun bald der Verrat des
Lieblingssohnes offenbar würde; daß er das Land des Vaters nur verlassen habe,
um ein eigenes Reich zu errichten, ein dem Vater feindliches Reich, zusammen
mit all denen, die den Vater haßten oder ihn zumindest nicht wirklich liebten.
Und die vom bösen Rat Beeinflußten schmiedeten inzwischen Pläne, wie sie den
Lieblingssohn zur Sünde der Rebellion verleiten könnten, durch die er zum
Ärgernis der ganzen Welt werden würde.
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Nur die Weisesten unter ihnen, in
die die Worte des Gerechten am tiefsten eingedrungen waren, in denen sie
Wurzel geschlagen hatten, da sie auf gutes, aufnahmebereites Erdreich gefallen
waren, sagten, nachdem sie überlegt hatten: "Nein, es ist nicht gut, dies zu
tun. Wir würden niederträchtig handeln am Vater, am Sohn, und auch an uns
selbst. Wir kennen die Gerechtigkeit und Weisheit des einen und des anderen.
Wir kennen sie, auch wenn wir leider nicht immer danach gehandelt haben. Und
wir dürfen nicht glauben, daß der Rat jener, die immer offen gegen den Vater
und die Gerechtigkeit gewesen sind und auch gegen den geliebten Sohn des
Vaters, gerechter sein kann als die Ratschläge, die uns der gesegnete Sohn
selbst gegeben hat." Und sie folgten ihnen nicht. Voll Liebe und Schmerz
ließen sie vielmehr den Sohn gehen, wohin er gehen mußte, und beschränkten
sich darauf, ihn unter Liebesbezeigungen bis an die Grenze ihrer Felder zu
begleiten und ihm beim Abschied zu versprechen: "Du gehst, und wir bleiben.
Aber deine Worte bleiben in uns, und von nun an werden wir tun, was der Vater
will. Geh beruhigt. Du hast uns für immer über das erhoben, was wir bei deiner
Ankunft waren. Nun, da wir auf dem rechten Weg sind, werden wir auf ihm
fortschreiten, bis wir das Vaterhaus erreicht haben und der Vater uns segnen
kann."
Es gab aber auch solche, die auf
den schlechten Rat hörten und sündigten, indem sie den Lieblingssohn zur Sünde
verführen wollten und ihn als töricht verspotteten, da er darauf bestand,
seine Pflicht zu tun.
Nun frage ich euch: Warum hat ein
und derselbe Rat auf so unterschiedliche Weise gewirkt? Ihr antwortet nicht?
Ich werde es euch sagen, wie ich es schon in Silo gesagt habe: Die Ratschläge
werden wertvoll oder wertlos, je nachdem, ob sie befolgt werden oder nicht. Es
ist nutzlos, einen Menschen mit schlechtem Rat zu versuchen. Wenn er nicht
sündigen will, wird er nicht sündigen. Und er wird nicht dafür bestraft
werden, daß er die Einflüsterungen der Bösen anhören mußte. Er wird nicht
bestraft werden, denn Gott ist gerecht und bestraft nicht für nicht begangene
Sünden. Er wird nur bestraft werden, wenn er dem Bösen, der ihn versuchen
wollte, zugehört hat und es dann unterläßt, seinen Verstand zu gebrauchen, um
die Art und den Ursprung des Rates zu erwägen, und ihn in die Tat umsetzt. Er
wird sich dann nicht entschuldigen und sagen können: "Ich hielt ihn für gut."
Gut ist, was Gott wohlgefällig ist. Und kann Gott den Ungehorsam und das, was
zum Ungehorsam verführt, billigen und Gefallen daran finden? Kann Gott etwas
segnen, das seinen Geboten, also seinem Wort, widerspricht? Wahrlich, ich sage
euch, er kann es nicht. Und wahrlich, ich sage euch noch, daß man bereit sein
sollte, eher zu sterben als das Gesetz Gottes zu übertreten. In Sichern werde
ich noch einmal reden, um euch zu lehren, wie man den erhaltenen Rat in
Gerechtigkeit annimmt oder ablehnt. Nun geht.»
Die Leute gehen und machen ihre
Bemerkungen.
277
«Hast du gehört? Er weiß alles,
was sie zu uns gesagt haben! Und er hat uns an die Gerechtigkeit des Wollens
erinnert», sagt ein Samariter.
«Ja. Und hast du gesehen, wie die
anwesenden Juden und die Schriftgelehrten unruhig geworden sind?»
«Sie haben nicht einmal bis zum
Schluß gewartet und sind schon vorher gegangen.»
«Böse Nattern! Jedoch... er sagt,
was er tun will. Das ist nicht gut. Er könnte dadurch Schwierigkeiten
bekommen. Die vom Ebal und vom Garizim waren ziemlich aufgebracht!»
«Ich... ich habe mich nie
täuschen lassen. Der Rabbi ist der Rabbi. Und das sagt alles. Kann der Rabbi
sündigen, wenn er nicht nach Jerusalem zum Tempel hinaufgeht?»
«Er wird den Tod finden. Du wirst
sehen... ! Und dann ist alles zu Ende... !»
«Für wen? Für ihn? Für uns?
Oder... für die Juden?»
«Für ihn. Wenn er stirbt!»
«Du bist dumm, o Mann. Ich bin
aus Ephraim. Ich kenne ihn gut, denn ich bin mehr als zwei Monate in seiner
Nähe gewesen. Er hat immer mit uns gesprochen. Es wird ein Schmerz sein...
aber kein Ende. Weder für ihn, noch für uns. Er kann nicht sterben und hat
kein Ende, der Heilige der Heiligen. Und auch für uns wird es kein Ende geben.
Ich... ich bin unwissend, aber ich fühle, daß das Reich kommen wird, wenn die
Juden glauben, alles sei zu Ende... Sie sind es, die am Ende sein werden ...»
«Glaubst du, daß die Jünger den
Meister rächen werden? Daß es einen Aufstand, ein Blutbad geben wird? Und die
Römer...»
«Ah, es braucht keine Jünger,
keine menschliche Rache, kein Blutbad. Der Allerhöchste selbst wird sie
besiegen. Wie sehr hat er uns bestraft, jahrhundertelang, und für viel
weniger! Meinst du, daß er sie nicht für ihre Sünde bestrafen wird, da sie den
Christus so quälen?»
«Ach, sie besiegt zu sehen!»
«Du hast ein Herz, das dem
Meister nicht gefallen würde. Er betet für seine Feinde ...»
«Ich werde ihm morgen folgen. Ich
möchte hören, was er in Sichern sagt.»
«Ich auch.»
«Und ich auch.»
Viele aus Libona haben die
gleiche Absicht. Sie schließen mit denen aus Ephraim und Silo Freundschaft und
gehen, um alles für die Abreise am folgenden Tag vorzubereiten.
278
626. IN SICHEM
Da ist das schöne, geschmückte
Sichern. Voller Menschen aus Samaria, die zum Tempel der Samariter gehen.
Voller Pilger aus allen Gegenden auf dem Weg zum Tempel in Jerusalem. Die
Sonne überflutet mit ihrem Licht die am Osthang des Garizim liegende Stadt,
der im Westen hoch über sie emporragt, und läßt den Berg ebenso lebhaft grün
wie die Häuser strahlend weiß leuchten. Im Nordosten scheint der noch wildere
Ebal Schutz vor den Nordwinden zu bieten. Die Fruchtbarkeit des Ortes ist
überwältigend. Reich an Wasser, das von den Bergen kommt und in zwei
fröhlichen Flüßchen, die von hundert Bächlein gespeist werden, zum Jordan
fließt, quillt sie über die Mauern der Hausgärten und über die Hecken der
Obstpflanzungen. Jedes Haus schmückt sich mit grünen Girlanden aus Blumen und
Zweigen mit schwellenden Früchten, und soweit der Blick reicht – und er reicht
weit in dieser Landschaft – sieht man nichts als das Grün der Ölbäume, der
Weinstöcke und der Obstbäume und die schon etwas blonden Getreidefelder. Das
Blaugrün der Halme wandelt sich langsam in das zarte Strohgelb reifer Ähren,
die im Wind wogen und unter den Strahlen der Sonne fast weißem Gold gleichen.
Das Getreide wird wirklich «blond», wie Jesus sagt. Es ist nun blond, nachdem
es beim Keimen weißlich und dann beim Wachsen und beim Ansetzen der Ähren grün
wie ein kostbarer Edelstein war. Nun bereitet die Sonne das Getreide auf das
Sterben vor, nachdem sie es zuvor auf das Leben vorbereitet hatte. Und man
weiß nicht, ob sie mehr Lob verdient, nun da sie es zum Opfer führt, oder
damals, als sie die Scholle mütterlich wärmte, um die Keime ins Leben zu
rufen, und die kaum der Erde entsprossenen blassen Hälmchen mit schönem kraft-
und verheißungsvollem Grün bemalte.
Jesus, der beim Betreten der
Stadt über diese Dinge gesprochen und auf den Ort der Begegnung mit der
Samariterin und auf die weit zurückliegende Unterhaltung mit ihr hingewiesen
hat, sagt nun zu seinen Aposteln, zu allen, mit Ausnahme des Johannes, der
schon seinen Platz als Tröster bei der so sehr betrübten Maria eingenommen
hat: «Geht jetzt nicht in Erfüllung, was ich damals gesagt habe? Wir kamen als
Unbekannte und allein hierher. Wir haben gesät. Nun schaut! Eine große Ernte
hat dieser Samen hervorgebracht. Und sie wird noch größer werden, und ihr
werdet sie einbringen. Und andere werden noch mehr ernten als ihr ...»
«Und du nicht, Herr?» fragt
Philippus.
«Ich habe dort geerntet, wo mein
Vorläufer gesät hat. Dann habe ich gesät, damit ihr ernten könnt und wieder
sät mit dem Samen, den ich euch gegeben habe. Aber so wie Johannes die Frucht
seiner Saat nicht geerntet hat, so werde auch ich diese Ernte nicht
einbringen. Wir sind...»
«Was, Herr? ...» fragt Judas des
Alphäus beunruhigt.
«Die Opfer, mein Bruder. Es
braucht Schweiß, um die Felder fruchtbar
279
zu machen. Aber es braucht Opfer,
um die Herzen fruchtbar zu machen. Wir kommen auf die Welt, arbeiten und
sterben. Andere werden unsere Stelle einnehmen, nach uns kommen, arbeiten und
sterben. Und jemand wird ernten, was durch unseren Tod Frucht brachte.»
«0 nein! Sag das nicht, mein
Herr!» ruft Jakobus des Zebedäus aus.
«Du, der du ein Jünger des
Täufers gewesen bist, bevor du der meine wurdest, sagst dies? Erinnerst du
dich nicht mehr an die Worte deines ersten Meisters: "Er muß wachsen, ich muß
abnehmen"? Er hat die Schönheit und die Notwendigkeit des Sterbens erkannt, um
andere gerecht zu machen. Ich werde ihm nicht nachstehen.»
«Aber du, Meister, bist du: Gott!
Er war nur ein Mensch!»
«Ich bin der Erlöser. Als Gott
muß ich vollkommener sein als der ein Mensch. Wenn Johannes, der ein Mensch
war, es verstanden hat, abzunehmen, auf daß die wahre Sonne aufgehe, dann darf
ich nicht das Licht meiner Sonne durch den Nebel der Feigheit verdunkeln. Ich
muß euch diese leuchtende Erinnerung an mich hinterlassen. Damit ihr
weitermacht; damit die Welt in der christlichen Lehre wächst. Christus wird
fortgehen, dorthin zurückkehren, von wo er gekommen ist, und von dort aus wird
er euch lieben und euch in eurer Arbeit beistehen. Er wird euch den Platz
bereiten, der euer Lohn sein wird. Doch das Christentum wird bleiben. Es wird
wachsen durch meinen Weggang... und durch den Weggang all jener, die nicht an
der Welt und am irdischen Leben hängen und wie Johannes und wie Jesus
fortzugehen und zu sterben verstehen, um Leben zu spenden.»
«Dann findest du es also richtig,
daß du dem Tod überliefert wirst?» fragt beinahe atemlos Iskariot.
«Ich finde es nicht richtig, daß
man mich töten wird. Ich finde es richtig zu sterben, wegen der Frucht, die
mein Opfer bringen wird. Der Mord ist immer ein Mord für den, der ihn begeht,
auch wenn sein Wert und die Gesichtspunkte andere sind für den, der getötet
wird.»
«Was willst du damit sagen?»
«Ich will damit sagen, daß dem,
der auf Befehl und gezwungenermaßen tötet, wie ein Soldat in der Schlacht, ein
Henker, der dem Richter gehorchen muß, oder einer, der sich gegen einen Räuber
wehrt, nicht das Verbrechen des Mordes an seinesgleichen auf der Seele lastet,
während jener, der ohne Befehl und ohne Notwendigkeit einen Unschuldigen tötet
oder an seiner Tötung mitwirkt, vor Gott mit dem entsetzlichen Antlitz des
Kain erscheinen wird.»
«Aber können wir denn nicht von
etwas anderem reden? Der Meister leidet darunter; du hast die Augen eines
Gemarterten, wir glauben zu sterben, und die Mutter weint, wenn sie es hört.
Sie weint schon jetzt hinter ihrem Schleier. Es gibt so viel, über das man
reden kann... ! Oh, da kommen die Vornehmen! Das wird euch zum Schweigen
bringen. Der Friede sei mit euch! Der Friede sei mit euch!» Petrus, der etwas
vorausgegangen
280
war und sich umgewandt hatte, um
zu sprechen, verneigt sich grüßend vor einer Gruppe prunk- und würdevoller
Sichemiten, die Jesus entgegenkommen.
«Der Friede sei mit dir, Meister.
Die Häuser, die dich das letzte Mal beherbergt haben, sind bereit, dich zu
empfangen. Und viele weitere stehen deinen Jüngerinnen und deinen Begleitern
offen. Es werden alle kommen, denen du kürzlich und beim ersten Mal Gutes
getan hast. Eine nur wird fehlen, denn sie hat den Ort verlassen, um ein Leben
der Buße zu führen. So hat sie gesagt, und ich glaube es, denn wenn eine Frau
alles verläßt, was sie geliebt hat, der Sünde entsagt und ihren Besitz den
Armen schenkt, so ist das ein Zeichen dafür, daß sie ein neues Leben beginnen
will. Aber ich kann dir nicht sagen, wo sie ist. Niemand hat sie mehr gesehen,
seit sie Sichern verlassen hat. Einer von uns glaubt, sie in der Kleidung
einer Magd in einem Dorf am Phiala-See gesehen zu haben. Ein anderer schwört,
sie in Beerseba in einer ärmlich gekleideten Frau erkannt zu haben. Aber was
sie sagen, ist nicht sicher. Sie antwortete nicht, als man sie bei ihrem Namen
rief, und sie wurde in dem einen Ort Johanna und im anderen Hagar genannt.»
«Es ist nicht nötig, mehr zu
wissen, als daß sie sich bekehrt hat. Alles andere ist unwichtig, und jedes
Nachforschen ist indiskrete Neugier. Laßt eure Mitbürgerin in ihrem geheimen
Frieden und freut euch, daß sie kein Ärgernis mehr gibt. Die Engel des Herrn
wissen, wo sie ist, und bringen ihr die einzige Hilfe, die sie braucht, die
einzige, die ihrer Seele nicht schaden kann... Seid so gut und führt die
Frauen, die müde sind, in ihre Unterkünfte. Morgen werde ich zu euch sprechen.
Heute will ich euch alle anhören und mich der Kranken annehmen.»
«Wirst du nicht lange bei uns
bleiben? Wirst du den Sabbat nicht hier feiern?»
«Nein, den Sabbat werde ich
anderswo im Gebet verbringen.»
«Wir haben gehofft, dich lange
bei uns zu haben...»
«Ich habe kaum Zeit, zu den
Festen nach Judäa zurückzukehren. Ich werde die Apostel und die Frauen bis zum
Abend des Sabbats bei euch lassen, wenn sie bleiben wollen. Seht mich nicht so
an. Ihr wißt, daß ich mehr als jeder andere den Herrn, unseren Gott, ehren
muß; denn das, was ich bin, entbindet mich nicht von der Pflicht, das Gesetz
des Allerhöchsten zu befolgen.»
Sie begeben sich zu den Häusern,
in denen jeweils zwei Jüngerinnen und ein Apostel Unterkunft finden: Maria des
Alphäus und Susanna mit Jakobus des Alphäus. Martha und Maria mit dem Zeloten,
Elisa und Nike mit Bartholomäus, Salome und Johanna mit Jakobus des Zebedäus.
Dann gehen Thomas, Philippus, Judas von Kerioth und Matthäus zusammen in ein
Haus, und Petrus und Andreas in ein anderes. Jesus begibt sich mit Judas des
Alphäus, Johannes und seiner Mutter Maria in das Haus
281
des Mannes, der im Namen aller
Bürger gesprochen hat. Die Jünger, die Leute von Ephraim, Silo und Libona und
einige Pilger, die auf dem Weg nach Jerusalem waren, sich Jesus angeschlossen
und ihre Reise unterbrochen haben, zerstreuen sich auf der Suche nach einer
Unterkunft.
627. DER WERT, DEN DER GERECHTE
DEN RATSCHLÄGEN GIBT
Auf dem Hauptplatz von Sichern
haben sich unglaublich viele Menschen versammelt. Ich glaube, die ganze Stadt
befindet sich dort, und es müssen auch Leute vom Land und von den umliegenden
Ortschaften gekommen sein. Die Bewohner von Sichern müssen schon am Nachmittag
des Vortages überall hingegangen sein und alle benachrichtigt haben, denn alle
sind herbeigeeilt: Gesunde und Kranke, Sünder und Unschuldige. Der Platz ist
überfüllt, die Terrassen auf den Dächern brechend voll, und einige sind sogar
auf die Bäume gestiegen, die den Platz beschatten.
In der ersten Reihe, bei dem für
Jesus freigehaltenen Platz vor einem höher gelegenen Haus, zu dem vier Stufen
hinaufführen, warten zusammen mit ihren Angehörigen die drei Kinder, die Jesus
den Räubern abgenommen hat. Wie sehnen sich die drei Kleinen danach, ihren
Retter wiederzusehen! Jeder Ruf veranlaßt sie, sich umzuschauen und ihn zu
suchen. Und als sich die Tür des Hauses öffnet und Jesus herauskommt, fliegen
sie ihm mit dem Ruf: «Jesus, Jesus, Jesus!» entgegen und laufen die hohen
Stufen hinauf, ohne abzuwarten, daß Jesus zu ihnen herunterkommt, um sie zu
umarmen. Jesus beugt sich über sie, umarmt sie und hebt sie dann hoch: ein
lebendiger Strauß unschuldiger Blumen. Er küßt ihre Gesichtlein, und sie
erwidern die Küsse.
Die Leute flüstern gerührt, und
jemand sagt: «Nur er kann unsere Unschuldigen so küssen.» Andere sagen: «Seht
ihr, wie er sie liebt? Er hat sie vor den Räubern gerettet, hat ihnen ein Haus
gegeben, nachdem er ihren Hunger gestillt und sie gekleidet hatte, und nun
küßt er sie, als ob sie seine eigenen Kinder wären.»
Jesus, der die Kinder neben sich
auf die oberste Stufe gestellt hat, antwortet allen, indem er auf diese
letzten Worte eines Unbekannten Bezug nimmt: «Wahrlich, mehr als eigene
leibliche Kinder sind sie für mich, denn ich bin der Vater ihrer Seelen, und
sie gehören mir nicht nur für die Zeit, die vergeht, sondern für die Ewigkeit,
die bleibt. Könnte ich dies doch von jedem Menschen sagen, würde doch jeder
aus mir, dem Leben, Leben schöpfen, um seinem Tod zu entgehen! Ich habe euch
dazu eingeladen, als ich zum erstenmal zu euch kam, und ihr glaubtet, daß euch
viel Zeit bliebe, um euch zu entscheiden. Eine allein war darauf bedacht, dem
282
Ruf zu folgen und den Weg des
Lebens einzuschlagen: das sündhafteste Geschöpf unter euch. Vielleicht gerade,
weil sie sich tot fühlte, sich als tot erkannte in der Fäulnis ihrer Sünde,
hatte sie es eilig, dem Tod zu entrinnen. Ihr fühlt und erkennt euch nicht als
Tote und habt es daher nicht so eilig wie sie. Aber wo ist der Kranke, der
wartet, bis er tot ist, um die lebenspendende Arznei zu nehmen? Der Tote
braucht nur noch das Leinentuch, den Balsam und ein Grab, um darin zu ruhen
und zum Staub zurückzukehren, nachdem er verwest ist. Und wenn die Verwesung
des Lazarus, den ihr jetzt mit großen Augen voll Furcht und Staunen
betrachtet, vom Ewigen in seiner Weisheit aus bestimmten Gründen in Gesundheit
verwandelt wurde, so darf euch dies nicht dazu verleiten, den geistigen Tod
abzuwarten und euch zu sagen: "Der Allerhöchste wird mir das Leben der Seele
wiederschenken." Versucht nicht den Herrn, euren Gott. Ihr müßt zum Leben
kommen. Ihr habt nicht mehr Zeit zu warten. Die Traube ist bereit, geerntet
und gepreßt zu werden. Bereitet euren Geist für den Wein der Gnade, der euch
bald gegeben werden wird. Macht ihr es nicht ebenso, wenn ihr an einem großen
Gastmahl teilnehmen sollt? Bereitet ihr euch dann nicht körperlich auf die
Speisen und auserlesenen Weine vor, indem ihr dem Bankett ein kurzes Fasten
vorausgehen laßt, das den Geschmackssinn verfeinert und den Magen stärkt,
damit ihr Speisen und Getränke mit größerem Appetit genießen könnt? Und tut
nicht der Weingärtner dasselbe, wenn er den neuen Wein kosten will? Er
verdirbt nicht seinen Geschmackssinn an dem Tag, an dem er die Weinprobe
machen will. Er tut es nicht, damit er die Vorzüge und Mängel genau
feststellen, erstere verbessern und letztere anpreisen und seine Ware gut
verkaufen kann. Wenn aber der zu einem Gastmahl Geladene dies tut, um Speisen
und Getränke besser genießen zu können, und der Winzer, um seinen Wein besser
verkaufen zu können oder den verkäuflich zu machen, den der Käufer wegen
seiner Mängel ablehnen würde, sollte es dann nicht auch der Mensch tun für
seine Seele, um den Himmel zu genießen, um den Schatz zu gewinnen, der ihm den
Himmel öffnet?
Hört meinen Rat an. Ja, hört auf
ihn. Es ist der gerechte Rat des Gerechten, dem man vergeblich zum Bösen rät
und der euch vor den Folgen des schlechten Rates bewahren will, den man euch
gegeben hat. Seid gerecht, wie ich es bin. Und bewertet den Rat richtig, den
man euch gibt. Wenn ihr es versteht, gerecht zu werden, werdet ihr allem den
richtigen Wert beimessen.
Hört ein Gleichnis. Es beschließt
den Zyklus der Gleichnisse, die ich in Silo und Libona erzählt habe, und sie
alle handeln von gegebenen und erhaltenen Ratschlägen.
Ein König schickte seinen
geliebten Sohn, sein Reich zu besuchen. Das Reich dieses Königs war in viele
Provinzen eingeteilt, denn es war sehr groß. Diese Provinzen hatten
unterschiedliche Kenntnis von ihrem König.
283
Einige kannten ihn so gut, daß
sie sich für seine Bevorzugten hielten und deshalb hochmütig wurden. Sie
glaubten, als einzige vollkommen zu sein und den König und seinen Willen zu
kennen. Andere kannten ihn, aber sie hielten sich trotzdem nicht für weise und
bemühten sich, ihn immer besser kennenzulernen. Wieder andere kannten den
König, doch sie liebten ihn auf ihre Art und hatten eigene Vorschriften, die
nicht mit dem wahren Gesetz des Königs übereinstimmten. Vom wahren Gesetz
hatten sie genommen, was ihnen gefiel und soweit es ihnen gefiel, und hatten
dann auch noch dieses Wenige verfälscht und es mit sonstigen Gesetzen
vermischt, die sie von anderen Reichen übernommen oder sich selbst gegeben
hatten und die nicht gut waren. Nein, nicht gut. Andere wußten noch viel
weniger über ihren König, und einige wußten nur, daß es einen König gab. Nicht
mehr als dies. Doch auch dieses Wenige hielten sie für ein Märchen.
Der Sohn des Königs ging nun und
besuchte das Reich seines Vaters, um allen Gegenden eine genaue Kenntnis des
Königs zu vermitteln, um hier die Stolzen zu bessern und dort die Betrübten
aufzurichten, hier die falschen Vorstellungen zu berichtigen und die Leute zu
bewegen, die unreinen Elemente aus dem reinen Gesetz zu entfernen, und dort
belehrend die Lücken zu füllen, auf daß jeder ein Mindestmaß an Kenntnis und
Glauben an diesen großen König erlange, dessen Untertanen sie alle waren. Der
Sohn des Königs dachte auch, die beste Lehre für alle sei das Beispiel eines
gerechten Lebens im Einklang mit dem Gesetz, sowohl in wichtigen als auch in
weniger wichtigen Dingen. Und deshalb war er vollkommen. So sehr, daß die
Menschen guten Willens sich besserten; denn sie ahmten seine Taten nach und
hörten auf die Worte des Königsohnes, da seine Worte mit seinen Taten eins
waren und es keine Widersprüche zwischen ihnen gab.
Jene aus den Provinzen aber, die
sich für vollkommen hielten, nur weil sie das Gesetz Wort für Wort auswendig
konnten, sahen, daß bei der Betrachtung der Werke des Königssohnes und dessen,
was er zu tun auftrug, allzu deutlich wurde, daß sie zwar dem Buchstaben des
Gesetzes, nicht aber dem Geist des Gesetzes des Königs folgten und ihre
Heuchelei somit entlarvt wurde.
Daher gedachten sie den aus dem
Weg zu räumen, der sie als das erkennen ließ, was sie wirklich waren. Und um
dies zu erreichen, gingen sie auf zweifache Weise vor, gegen den Sohn des
Königs und gegen seine Anhänger. Den ersten berieten sie schlecht und
verfolgten ihn; die anderen berieten sie ebenfalls schlecht und drohten ihnen.
So viele schlechte Ratschläge gibt es. Ein schlechter Rat ist es, zu sagen:
"Tu dies nicht, es könnte dir schaden" und dabei Wohlwollen zu heucheln. Und
es ist auch ein schlechter Rat, jemanden zu verfolgen, um ihn dazu zu bringen,
vom rechten Weg abzuweichen und seine Mission aufzugeben. Es ist ein
schlechter Rat, wenn man seinen Anhängern sagt: "Verteidigt mit allen Mitteln
und
284
um jeden Preis den verfolgten
Gerechten", und ebenso ist es ein schlechter Rat, den Anhängern zu sagen:
"Wenn ihr ihn beschützt, werden wir euch verachten."
Aber ich spreche hier nicht von
den Ratschlägen, die den Anhängern gegeben wurden. Ich spreche von den
Ratschlägen, die man dem Sohn des Königs gab und geben ließ, mit
vorgetäuschtem Wohlwollen, mit unbändigem Haß oder durch den Mund unwissender
Instrumente, die vorgeschoben wurden, um zu schaden, während sie glaubten zu
nützen.
Der Sohn des Königs hörte alle
diese Ratschläge an. Er hatte Ohren, Augen, Verstand und Herz. Er konnte daher
nicht umhin, zu hören, zu sehen, zu verstehen und zu beurteilen. Aber der
Königssohn hatte vor allem den gerechten Geist des wahren Gerechten, und auf
jeden Rat, der ihm bewußt oder unbewußt gegeben wurde, um ihn zur Sünde zu
verleiten und so den Untertanen seines Vaters ein schlechtes Beispiel zu geben
und dem Vater selbst unendlichen Schmerz zu bereiten, antwortete er: "Nein.
Ich tue, was mein Vater will. Ich folge seinen Gesetzen. Daß ich der Sohn des
Königs bin, entbindet mich nicht davon, in der Befolgung des Gesetzes der
getreueste seiner Untertanen zu sein. Ihr, die ihr mich haßt und mir Furcht
einjagen wollt, wißt, daß nichts mich dazu bringen kann, das Gesetz zu
übertreten. Ihr, die ihr mich liebt und mich retten wollt, wißt, daß ich euch
für diese gute Absicht segne; aber wißt auch, daß eure Liebe und meine Liebe
zu euch – denn ihr seid mir treuer als jene, die sich weise nennen – mich
nicht meine Pflicht gegen die größte Liebe vergessen lassen darf, gegen die
Liebe, die ich meinem Vater schulde."
Dies ist das Gleichnis, meine
Kinder. Und es ist so einfach, daß jeder von euch es verstehen kann. Und aus
den ehrlichen Seelen kann nur eine Stimme kommen: "Er ist wahrlich der
Gerechte, denn kein menschlicher Rat kann ihn auf den Weg des Irrtums führen."
Ja, Kinder von Sichern, mich kann
nichts zum Irrtum verleiten. Wehe, wenn ich dem Irrtum verfallen würde! Wehe
mir und wehe euch! Anstatt euer Erlöser zu sein, wäre ich euer Verräter, und
ihr hättet recht, mich zu hassen. Aber ich werde es nicht tun. Ich tadle euch
nicht, weil ihr Ratschläge angenommen und Pläne geschmiedet habt, die gegen
die Gerechtigkeit fehlen. Ihr seid nicht schuldig, da ihr dies im Geist der
Liebe getan habt. Vielmehr sage ich euch, was ich am Anfang und am Ende gesagt
habe: Ich liebe euch mehr, als ich meine leiblichen Kinder lieben würde, denn
ihr seid die Kinder meines Geistes. Ich habe euren Geist zum Leben geführt und
werde es noch mehr tun. Wißt, und dies soll das Andenken an mich sein, wißt,
daß ich euch segne für die Gedanken eures Herzens. Doch wachst in der
Gerechtigkeit, seid nur darauf bedacht zu tun, was dem wahren Gott zur Ehre
gereicht; dem wahren Gott, dem eure ganze Liebe gebührt, viel mehr als jedem
anderen. Kommt zu dieser vollkommenen Gerechtigkeit, für die ich euch ein
Beispiel gewesen bin; der Gerechtigkeit, die den
285
Egoismus des eigenen
Wohlergehens, die Furcht vor dem Feind und dem Tod, die alles überwinden läßt,
um den Willen Gottes zu tun.
Bereitet eure Seele vor. Der
Morgen der Gnade bricht an. Das Festmahl der Gnade steht bevor. Eure Seelen,
die Seelen jener, die zur Wahrheit kommen wollen, stehen am Vorabend ihrer
Hochzeit, ihrer Befreiung, ihrer Erlösung. Bereitet euch in Gerechtigkeit auf
das Fest der Gerechtigkeit vor.»
Jesus gibt den Verwandten der
Kinder, die ganz in seiner Nähe sind, ein Zeichen, mit ihm ins Haus zu kommen,
und zieht sich zurück, nachdem er die drei Kinder in die Arme genommen hat wie
zu Anfang.
Auf dem Platz folgen nun die
Bemerkungen. Sehr unterschiedlich sind sie. Die Besten sagen: «Er hat recht.
Wir wurden von den falschen Boten verraten.»
Die weniger Guten sagen: «Aber
dann hätte er uns nicht schmeicheln dürfen. Nun macht er uns noch mehr
verhaßt. Er hat uns einen schlechten Streich gespielt. Er ist ein echter
Jude.»
«Das könnt ihr nicht sagen.
Unsere Armen haben seine Hilfe erfahren. Unsere Kranken seine Macht. Unsere
Waisen seine Güte. Wir können nicht verlangen, daß er sündigt, um uns
zufriedenzustellen.»
«Er hat schon gesündigt, denn er
hat uns gehaßt, da er den Haß gegen uns geschürt hat.»
«Bei wem?»
«Bei allen. Er hat sich über uns
lustig gemacht. Ja, er hat seinen Spott mit uns getrieben.»
Die verschiedensten Ansichten
sind auf dem Platz zu hören. Doch sie dringen nicht in das Innere des Hauses,
in dem sich Jesus mit den Vornehmen, den Kindern und ihren Angehörigen
aufhält.
Einmal mehr bewahrheitet sich das
prophetische Wort: «Er wird zum Stein des Anstoßes werden.»
628. JESUS GEHT NACH ENNON
Jesus ist allein. Er sitzt
meditierend unter einer riesigen Steineiche auf einem Ausläufer des Berges,
der Sichern überragt. Die unter den ersten Strahlen der Sonne rötlichweiß
schimmernde Stadt liegt unten, auf den niedrigeren Hängen des Berges. Von oben
gesehen gleicht sie einer Handvoll großer, weißer Würfel, die ein großes Kind
auf einer grünen, sanft abfallenden Wiese verstreut hat. Die beiden
Wasserläufe, in deren Nähe sie sich erhebt, bilden einen silberblauen
Halbkreis um die Stadt. Dann fließt einer von ihnen durch den Ort und singt
und glitzert zwischen den weißen Häusern, um ihn dann wieder zu verlassen und
im Grün der Olivenhaine
286
und üppigen Obstgärten da und
dort zu verschwinden und wieder aufzutauchen und dem Jordan zuzustreben. Der
andere ist bescheidener und fließt an der Stadtmauer entlang, leckt fast an
ihr. Er bewässert die fruchtbaren Gärten und tränkt dann die Herden weißer
Schafe, die auf den Wiesen weiden, die die Kleeblüten mit ihren roten Köpfchen
wie mit Blut besprengen. Vor Jesus dehnt sich ein weiter Horizont. Hinter den
immer niedriger werdenden Wellen der Hügel sieht man klein und weit entfernt
das grüne Tal des Jordan, und hinter diesem die Gebirge auf der anderen Seite
des Jordan, die im Nordosten in den charakteristischen Gipfeln des Hauran
enden. Die Sonne, die hinter diesen aufgegangen ist, beleuchtet drei
eigenartige Wolken, die wie drei Bänder aus leichter Gaze vor dem Schleier des
Firmaments schweben; und die leichte Gaze der drei langen, schmalen Wolken hat
eine Farbe zwischen orange und rosa angenommen, ähnlich gewissen kostbaren
Korallen. Der Himmel scheint durch dieses luftige, wunderschöne Tor versperrt
zu sein. Jesus betrachtet es. Das heißt, er schaut gedankenvoll in diese
Richtung. Vielleicht sieht er die Schönheit der Natur nicht. Er hat den
Ellbogen auf das Knie gestützt und das Kinn in die Hand und schaut, denkt
nach, betrachtet. Über ihm lärmen die Vögel und zwitschern und fliegen
fröhlich um die Wette.
Jesus senkt den Blick auf
Sichern, das in der Morgensonne immer mehr erwacht. Nun kommen zu den Hirten
und den Herden, die zuerst allein das Panorama belebten, die Pilgergruppen,
und in das Gebimmel der Herdenglöckchen mischen sich die Klänge der Schellen
der Lasttiere, und Stimmen, das Scharren von Schritten, und Worte. Der Wind
trägt in Wellen die Geräusche der erwachenden Stadt und der Leute, die sich
von ihrer Nachtruhe erheben, zu Jesus.
Jesus steht auf. Mit einem
Seufzer verläßt er den ruhigen Ort und geht rasch auf einer Abkürzung zur
Stadt hinunter. Er betritt sie zwischen Karawanen von Gärtnern und Pilgern,
von denen erstere sich beeilen, ihre Erzeugnisse abzuladen, während letztere
vor der Weiterreise noch rasch etwas einkaufen. In einer Ecke des Marktplatzes
warten schon in einer Gruppe die Apostel und die Jüngerinnen. Sie sind umringt
von den Leuten aus Ephraim, Silo, Libona und von vielen aus Sichern.
Jesus geht zu ihnen und grüßt
sie. Dann sagt er zu denen aus Samaria: «Und nun wollen wir uns trennen. Kehrt
in eure Häuser zurück und denkt an meine Worte. Wachst in der Gerechtigkeit.»
Er wendet sich an Judas von Kerioth: «Hast du an die Armen aller Orte Almosen
verteilt, wie ich es dir gesagt habe?»
«Ja. Nur an die von Ephraim
nicht, denn sie haben schon etwas bekommen.»
«Dann geht also. Sorgt dafür, daß
jeder Arme Hilfe erhält.»
«Wir danken dir in ihrem Namen.»
287
«Dankt den Jüngerinnen, sie haben
mir das Geld gegeben. Geht. Der Friede sei mit euch.»
Die Leute entfernen sich zögernd
und mit Bedauern. Aber sie gehorchen.
Jesus bleibt mit den Aposteln und
Jüngerinnen zurück. Er sagt zu ihnen: «Ich gehe nach Ennon. Ich möchte den Ort
des Täufers grüßen. Dann will ich zur Straße im Tal hinuntergehen. Sie ist für
die Frauen bequemer.»
«Wäre es nicht besser, die Straße
von Samaria zu nehmen?» fragt Iskariot.
«Wir brauchen die Räuber nicht zu
fürchten, auch wenn wir auf dem Weg an ihren Höhlen vorbeikommen. Wer will,
soll mit mir kommen. Wer nicht nach Ennon mitkommen will, soll bis zum Tag
nach dem Sabbat hierbleiben. An diesem Tag werde ich mich nach Thersa begeben,
und wer hiergeblieben ist, kann dort mit mir zusammentreffen.»
«Ich, wirklich... ich würde
lieber hierbleiben. Ich fühle mich nicht ganz gesund... Ich bin müde ...» sagt
Iskariot.
«Man sieht es. Du siehst krank
aus, mit deinem finsteren Blick, deiner schlechten Laune und deiner dunklen
Hautfarbe. Ich beobachte dich schon einige Zeit...» sagt Petrus.
«Aber niemand fragt mich, ob ich
leide ...»
«Wäre dir das recht gewesen? Ich
weiß nie, was du willst. Aber wenn es dich freut, frage ich dich jetzt und bin
auch bereit, bei dir zu bleiben, um dich zu pflegen», antwortet ihm Petrus
geduldig.
«Nein, nein. Es ist nur etwas
Müdigkeit. Geh, geh nur. Ich bleibe hier.»
«Auch ich bleibe. Ich bin alt.
Ich werde mich ausruhen und dir Mutter sein ...» sagt Elisa plötzlich.
«Du willst hierbleiben? Du hast
doch gesagt ...» unterbricht sie Salome.
«Wenn alle gegangen wären, wäre
auch ich mitgekommen, um nicht allein zurückzubleiben. Aber da Judas
hierbleibt ...»
«Dann komme auch ich mit. Ich
will nicht, daß du dich für mich opferst, Frau. Sicher willst du gerne die
Zufluchtsstätte des Täufers sehen ...»
«Ich bin von Bethsur und habe nie
das Bedürfnis gehabt, nach Bethlehem zu gehen und die Höhle zu sehen, in der
der Meister geboren wurde. Das werde ich tun, wenn ich den Meister nicht mehr
habe. Warum sollte ich also darauf brennen, zu sehen, wo Johannes lebte... Ich
ziehe es vor, Liebe zu üben, und bin überzeugt, daß sie mehr wert ist als eine
Pilgerreise.»
«Du tadelst den Meister. Merkst
du das nicht?»
«Ich spreche für mich. Er geht
dorthin und tut das Richtige. Er ist der Meister. Ich bin eine alte Frau, der
der Schmerz jegliche Neugier genommen hat und die aus Liebe zu Christus nur
noch von dem Wunsch beseelt ist, ihm zu dienen.»
«Du dienst ihm also, indem du
mich ausspionierst.»
288
«Tatst du denn tadelnswerte
Dinge? Man überwacht die, die Böses tun. Aber ich habe noch nie jemanden
ausspioniert, Mann. Ich gehöre nicht zur Familie der Schlangen. Und ich übe
keinen Verrat.»
«Ich auch nicht.»
«Gott gebe es, zu deinem Besten.
Aber ich kann nicht verstehen, warum du etwas dagegen hast, daß ich hier bei
dir bleibe und mich ausruhe ...»
Jesus, der bisher schweigend
zugehört hat inmitten der anderen, die erstaunt über diesen Wortwechsel sind,
hebt nun das zuvor etwas gesenkte Haupt und sagt: «Genug. Den Wunsch, den du
hast, kann mit mehr Berechtigung auch eine Frau haben, die noch dazu alt ist.
Ihr bleibt bis zum Morgengrauen nach dem Sabbat hier. Dann trefft ihr wieder
mit mir zusammen. Geh du inzwischen einkaufen, was wir für diese Tage nötig
haben. Geh und sei bald zurück.»
Judas geht widerwillig, um die
Lebensmittel einzukaufen. Andreas will ihm folgen, doch Jesus hält ihn am Arm
und sagt: «Bleibe. Er kann es allein tun.» Jesus ist sehr streng.
Elisa schaut ihn an. Dann kommt
sie zu ihm und sagt: «Verzeih, Meister, wenn ich dir mißfallen habe.»
«Ich habe dir nichts zu
verzeihen, Frau. Verzeih vielmehr du diesem Mann, wie wenn er dein Sohn wäre.»
«In diesem Sinn bleibe ich bei
ihm... auch wenn er das Gegenteil glaubt... Du verstehst mich ...»
«Ja. Und ich segne dich. Du hast
recht, wenn du sagst, daß die Wallfahrten zu meinen Orten erst später
notwendig sein werden, wenn ich nicht mehr bei euch bin. Sie werden nötig
sein, um euren Geist zu trösten. Vorerst sollt ihr nur den Wünschen eures
Jesus entsprechen. Und du hast meinen Wunsch verstanden; denn du opferst dich,
um einen unklugen Geist zu beschützen ...»
Die Apostel sehen sich an... Auch
die Jüngerinnen. Nur Maria steht ganz verschleiert da und hebt nicht einmal
den Kopf, um mit jemandem einen Blick zu tauschen. Maria von Magdala, die
gerade und aufrecht wie eine richtende Königin dasteht, hat Judas, der
zwischen den Händlern umhergeht, nie aus den Augen verloren, und in ihrem
Blick liegt Groll und auf ihren zusammengepreßten Lippen Verachtung. Ihr
Ausdruck sagt mehr, als Worte sagen könnten.
Judas kommt zurück. Er gibt den
Gefährten, was er eingekauft hat. Dann bringt er seinen Mantel in Ordnung, den
er benützt hat, um die Einkäufe darin zu tragen, und will Jesus die Börse
geben.
Jesus weist sie mit der Hand
zurück: «Nicht nötig. Für die Almosen ist noch Maria da. Kümmere dich darum,
hier Gutes zu tun. Es gibt viele Bettler. In diesen Tagen kommen sie hier aus
allen Richtungen auf dem Weg nach Jerusalem vorbei. Gib ohne Ausnahme und mit
Liebe und vergiß nicht, daß wir alle Bettler sind vor Gott, was die
Barmherzigkeit und
289
das Brot betrifft ... Leb wohl.
Leb wohl, Elisa. Der Friede sei mit euch.»Jesus wendet sich rasch um und
entfernt sich sofort auf einer Straße, die dort in der Nähe vorüberführt, ohne
Judas Gelegenheit zu geben, ihn zu grüßen ...
Alle folgen ihm schweigend. Sie
verlassen die Stadt in Richtung Nordosten und durchqueren eine wunderschöne
Gegend...
629. IN ENNON; DER JÜNGLING
BENJAMIN
Ennon, eine Handvoll Häuser,
liegt etwas weiter oben im Norden. Hier ist der Ort, an dem der Täufer sich
aufgehalten hat: eine Höhle, umgeben von üppiger Vegetation und rieselnden
Quellen, die sich zu einem wasserreichen Bach vereinigen und zum Jordan
fließen.
Jesus sitzt vor der Höhle, dort,
wo er einst den Vetter begrüßt hat. Er ist allein. Der Sonnenaufgang bemalt
kaum den Osten mit einem schwachen Rosaton, und der Wald belebt sich mit dem
Gezwitscher der erwachenden Vögel. Aus den Ställen von Ennon ertönt das Blöken
der Schafe, und der Schrei eines Esels dringt durch die stille Luft. Dann das
Trappeln von Schrittchen auf dem Weg. Eine kleine Ziegenherde kommt vorbei mit
einem Hirtenknaben, der einen Augenblick stillsteht, um Jesus anzusehen. Dann
geht er weiter. Doch gleich darauf kommt er zurück, weil eine kleine Ziege es
sich in den Kopf gesetzt hat, stehenzubleiben und den Mann zu betrachten, den
sie noch nie an diesem Ort gesehen hat und der seine schlanke Hand ausstreckt,
ihr einen Stengel Majoran reicht und ihren Kopf mit den klugen Augen krault.
Der Hirtenjunge ist verblüfft. Er weiß nicht, soll er das Tier rufen oder soll
er Jesus es weiterhin streicheln lassen, der sich zu freuen scheint, daß die
Ziege sich so furchtlos zu seinen Füßen niedergelassen und ihren Kopf auf
seine Knie gelegt hat. Auch die anderen Ziegen kommen zurück und fressen das
blumige Gras.
Der Hirtenjunge fragt: «Möchtest
du Milch haben? Ich habe zwei widerspenstige Ziegen noch nicht gemolken, da
sie jeden mit den Hörnern stoßen, der es versucht, solange sie sich nicht
vollgefressen haben. Genau wie ihr Besitzer, der uns schlägt, wenn seine Börse
nicht voll ist.»
«Bist du ein dienender Hirte?»
«Ich bin Waise. Ich bin allein
und bin Knecht. Er ist mein Verwandter, denn er ist der Mann der Schwester der
Mutter meiner Mutter. Solange Rachel lebte... Aber sie ist nun schon seit
vielen Monaten tot... Und ich bin sehr unglücklich... Nimm mich mit! Ich bin
gewohnt, von nichts zu leben... Ich werde dir dienen. Ein wenig Brot genügt
mir als Lohn. Auch hier habe ich nichts... Wenn er mich bezahlen würde, würde
ich fortgehen. Aber er sagt: "Dein Geld? Das behalte ich, denn ich kleide dich
und
290
gebe dir zu essen." Er kleidet
mich... ! Du siehst es. Er gibt mir zu essen... ! Schau mich an... Und das
sind die Schläge... Mein Brot von gestern, dies hier...» Er zeigt die blauen
Flecken auf den mageren Armen und Schultern.
«Was hast du denn getan?»
«Nichts. Deine Gefährten, ich
meine die Jünger, haben vom Himmelreich gesprochen, und ich habe ihnen
zugehört... Es war ja Sabbat. Auch wenn ich nicht gearbeitet habe, weil Sabbat
war, so bin ich doch nicht müßig gewesen. Da hat er mich so geschlagen, daß
ich nicht mehr bei ihm bleiben will. Nimm mich mit, oder ich laufe davon...
Ich bin heute morgen eigens hierher gekommen. Zuerst hatte ich Angst, mit dir
zu reden. Doch du bist gut. Und so habe ich gesprochen.»
«Und die Herde? Du willst doch
nicht mit der Herde davonlaufen...»
«Ich werde sie in den Stall
zurückbringen... Der Mann wird bald in den Wald gehen, um Holz zu sägen... Ich
werde die Herde zurückbringen und dann fliehen. Oh, nimm mich mit!»
«Aber weißt du denn, wer ich
bin?»
«Du bist der Christus, der König
des Himmelreiches. Wer dir nachfolgt, wird im anderen Leben glücklich sein.
Hier habe ich noch nie eine Freude erlebt ... Weise mich nicht ab... damit ich
wenigstens dort glücklich sein kann ...» Der Junge weint, neben der Ziege zu
Füßen Jesu kniend.
«Woher kennst du mich denn so
gut? Hast du mich vielleicht schon reden gehört?»
«Nein... Erst seit gestern weiß
ich, daß du hier bist, wo einst der Täufer gewesen ist. Aber deine Jünger von
Ennon sind manchmal hierhergekommen. Ich habe sie gehört. Sie heißen Matthias,
Johannes und Simeon, und sie waren oft hier, weil der Täufer ihr Meister
gewesen ist, bevor du es geworden bist. Und dann Isaak ... In Isaak habe ich
Vater und Mutter wiedergefunden. Isaak wollte mich von meinem Herrn wegholen
und gab ihm auch Geld. Aber er! Er nahm das Geld, ja, das Geld; aber dann ließ
er mich nicht gehen und verspottete deinen Jünger.»
«Du weißt viel. Aber weißt du
auch, wohin ich gehe?»
«Nach Jerusalem. Aber es steht
nicht auf meiner Stirne geschrieben, daß ich aus Ennon bin.»
«Ich gehe viel weiter fort. Bald
schon gehe ich fort. Ich kann dich nicht mitnehmen.»
«Nimm mich mit, auch wenn es nur
für kurze Zeit ist.»
«Und dann?»
«Und dann... werde ich weinen und
mit denen gehen, die bei Johannes waren; denn diese haben als erste zu mir
armem Knaben gesagt, daß Gott die Freude, die die Menschen auf Erden nicht
geben, denen im Himmel schenkt, die guten Willens gewesen sind. Um sie zu
erlangen, habe ich so
291
viele Schläge und so viel Hunger
ertragen und Gott um diesen Frieden gebeten... Du siehst, ich bin guten
Willens gewesen... Aber wenn du mich jetzt abweist, werde ich alle Hoffnung
verlieren ...» Der Junge weint leise und fleht Jesus mehr mit den Tränen
seiner Augen als mit Worten an.
«Ich habe kein Geld, um dich
loszukaufen. Und ich weiß auch nicht, ob dein Herr damit einverstanden wäre.»
«Aber ich bin schon losgekauft
worden. Dafür gibt es Zeugen. Eli, Levi und Jonas haben es gesehen und den
Mann getadelt. Und sie sind die Angesehensten von Ennon, weißt du!»
«Wenn es so ist, dann wollen wir
gehen. Steh auf und komm.»
«Wohin?»
«Zu deinem Herrn.»
«Ich habe Angst! Geh du allein.
Er ist dort auf dem Berg zwischen den Bäumen und sägt Holz. Ich warte hier.»
«Hab keine Angst. Schau, da
kommen meine Jünger. Wir werden viele gegen einen sein, und er wird dir nichts
antun können. Steh auf. Wir wollen nun nach Ennon gehen, die drei Zeugen
holen, und alle zusammen zu deinem Herrn gehen. Gib mir deine Hand. Später
werde ich dich den Jüngern anvertrauen, die du schon kennst. Wie heißt du
denn?»
«Benjamin.»
«Ich habe schon zwei andere
kleine Freunde, die so heißen. Du wirst der dritte sein.»
«Freund? Das ist zuviel! Dein
Knecht bin ich.»
«Du bist der Knecht des
Allerhöchsten Herrn. Für Jesus von Nazareth bist du ein Freund. Komm. Sammle
deine Herde und laß uns gehen.»
Jesus erhebt sich, und während
der Hirtenknabe die störrischen Ziegen sammelt und auf den Weg treibt, gibt er
den Aposteln, die auf dem Pfad daherkommen und nach ihm Ausschau halten, ein
Zeichen, sich zu beeilen. Sie beschleunigen ihre Schritte. Aber die Herde ist
schon auf dem Weg, und Jesus geht ihnen, den kleinen Hirten an der Hand,
entgegen...
«Herr! Bist du ein Ziegenhirt
geworden? Wahrlich, Samaria kann man eine Ziege nennen, aber du...»
«Ich bin der gute Hirte. Und ich
verwandle auch die Böcklein in Lämmer. Die Kinder sind alle Lämmer, und dieser
Junge ist noch ein halbes Kind.»
«Ist das nicht der Junge, der
gestern von dem wütenden Mann fortgeführt wurde?» fragt Matthäus und
betrachtet den Knaben.
«Ich glaube, daß er es ist. Bist
du es?»
«Ich bin es.»
«Oh, armer Junge! Dein Vater
liebt dich wirklich nicht!» sagt Petrus.
«Er ist mein Herr. Ich habe
keinen anderen Vater als Gott.»
«Ja. Die Jünger des Täufers haben
seine Unwissenheit belehrt und sein Herz getröstet, und zur rechten Zeit hat
der Vater aller uns
292
zusammengeführt. Wir wollen nach
Ennon, drei Zeugen holen und dann zu seinem Herrn gehen...» sagt Jesus.
«Damit er uns den Jungen gibt?
Und wo ist das Geld dafür? Maria hat das letzte Geld, das sie hatte,
weggegeben...» bemerkt Petrus.
«Geld ist nicht erforderlich,
denn er ist kein Sklave. Und zudem hat sein Herr schon Geld erhalten. Isaak
hat es ihm gegeben, da ihm der Junge leid tat.»
«Und warum hat Isaak ihn nicht
bekommen?»
«Weil jene, die Gottes und der
Menschen spotten, zahlreich sind. Aber dort ist meine Mutter mit den Frauen.
Lauft und sagt ihnen, daß sie nicht weitergehen sollen.»
Jakobus des Zebedäus und Andreas
eilen wie zwei Gazellen davon. Jesus geht rasch der Mutter und den Jüngerinnen
entgegen und trifft mit ihnen zusammen, als sie schon alles erfahren haben und
mitleidig den Knaben betrachten.
Zusammen gehen sie eilig nach
Ennon zurück und betreten die Stadt. Von dem Knaben geführt, gelangen sie zum
Haus des Eli, einem im Alter erblindeten Greis, der aber sonst noch recht
rüstig ist. Als junger Mann muß er stark wie die Eichen dieser Gegend gewesen
sein.
«Eli, der Rabbi von Nazareth will
mich mit sich nehmen, wenn...»
«Er nimmt dich mit? Eine größere
Wohltat könnte er dir nicht erweisen. Du würdest ein Bösewicht werden, wenn du
hier bleibst. Das Herz wird hart, wenn die Ungerechtigkeit zu lange dauert.
Und sie ist zu groß. Du hast ihn gefunden? Der Allerhöchste hat also deine
Tränen erhört, obwohl du nur ein kleiner Samariter bist. Glücklich bist du,
denn in deinem Alter bist du durch nichts mehr gebunden und kannst der
Wahrheit folgen, ohne daß dich etwas daran hindert, nicht einmal der Wille
eines Vaters oder einer Mutter. Nun erscheint das als Vorsehung, was so viele
Jahre eine Strafe zu sein schien. Gott ist gut. Aber was willst du von mir?
Weshalb bist du gekommen? Willst du meinen Segen? Den gebe ich dir gern als
Ältester des Ortes.»
«Deinen Segen erbitte ich, denn
du bist gut. Ich möchte dich aber auch bitten, mit Levi und Jonas und mit dem
Rabbi zu meinem Herrn zu gehen, damit er nicht noch einmal Geld verlangt.»
«Aber wo ist denn der Rabbi? Ich
bin alt und sehe nur wenig. Und ich erkenne nur die, die ich sehr gut kenne.
Den Rabbi kenne ich nicht.»
«Hier ist er. Er steht vor dir.»
«Hier?! Ewige Macht!» Der Greis
steht auf, verneigt sich vor Jesus und sagt: «Vergib dem Alten mit den trüben
Augen. Ich grüße dich, denn einer nur ist gerecht in ganz Israel, und du bist
es. Gehen wir. Levi arbeitet in seinem Garten an einem Faß, und Jonas ist mit
seinem Käse beschäftigt.» Der Greis richtet sich wieder auf – er ist so
hochgewachsen wie Jesus, obgleich vom Alter gebeugt – und geht an der Mauer
entlang,
293
wobei er mit Hilfe seines Stockes
den Hindernissen auf dem Weg ausweicht.
Jesus, der ihn mit seinem
Friedensgruß gegrüßt hat, kommt ihm zu Hilfe an einer Stelle, an der drei
primitive Stufen eine Gefahr beim Gehen für einen Halbblinden darstellen
könnten. Bevor sie aufgebrochen sind, hat Jesus den Jüngerinnen aufgetragen,
ihn dort zu erwarten. Benjamin geht indessen zu seinem Schafstall.
Der Alte sagt: «Du bist gut. Aber
Alexander ist ein Raubtier. Ein Wolf ist er. Ich weiß nicht, ob... Aber ich
bin reich genug, um dir Geld für Benjamin geben zu können, falls Alexander
nochmals etwas verlangt. Meine Kinder brauchen mein Geld nicht. Ich bin fast
hundert Jahre alt, und Geld hat im anderen Leben keinen Wert. Eine Tat der
Menschlichkeit, ja, die hat einen Wert ...»
«Warum hast du das nicht schon
eher getan?»
«Tadle mich nicht, Meister. Ich
habe dem Knaben zu essen gegeben und habe ihn getröstet, damit er nicht ein
Übeltäter wird. Alexander ist imstande, eine Turteltaube rasend zu machen.
Aber ich konnte ihm den Jungen nicht wegnehmen. Niemand konnte das. Du...
gehst weit fort von hier. Aber wir... Wir bleiben hier. Und seine Rache wird
allgemein gefürchtet. Eines Tages hatte einer von Ennon es gewagt,
dazwischenzutreten, als er im Rausch den Knaben beinahe zu Tode prügelte, und
Alexander vergiftete ihm, ich weiß nicht, wie er es fertigbrachte, die ganze
Herde.»
«Ist dies nicht nur ein
Verdacht?»
«Nein. Er wartete viele Monate.
Es war im Winter, wenn die Schafe eingesperrt sind. Da vergiftete er das
Wasser in der Tränke. Sie tranken, bekamen aufgeblähte Bäuche und gingen ein.
Alle. Wir sind hier alle Hirten und kennen uns aus. Um sicher zu sein, hat man
einen Hund von dem Schaffleisch fressen lassen, und der Hund ist krepiert.
Außerdem hat jemand Alexander heimlich in den Stall schleichen sehen... Oh, er
ist ein Bösewicht! Wir haben alle Angst vor ihm... Er hatte kein Mitleid mit
seinen Angehörigen. Nun, da sie alle tot sind, quält er den Jungen.»
«Du brauchst nicht mitzukommen,
wenn ...»
«0 nein! Ich komme mit. Die
Wahrheit muß gesagt werden. Da, ich höre den Hammer. Das ist Levi.» Er ruft
mit lauter Stimme an einer Hecke: «Levi! Levi!»
Ein nicht ganz so alter Mann wie
Eli kommt heraus. Sein Gewand ist geschürzt, und in der Hand hält er eine Axt.
Er grüßt Eli und fragt: «Was willst du, Freund?»
«Der Mann neben mir ist der Rabbi
von Galiläa. Er ist gekommen, um Benjamin mitzunehmen. Komm mit in den Wald zu
Alexander. Um zu bezeugen, daß er für den Knaben damals schon Geld von dem
Jünger bekommen hat.»
294
«Ich komme. Man hat mir immer
gesagt, daß der Rabbi gut ist. Nun glaube ich es. Der Friede sei mit dir!»
Levi legt die Axt weg, ruft ich weiß nicht wem zu, auf ihn zu warten, und
folgt dann Eli und Jesus.
Bald sind sie beim Schafstall des
Jonas. Sie rufen ihn, erklären ihm alles.
«Ich komme. Du», gebietet er
einem Jungen, «fahre mit der Arbeit fort.» Jonas trocknet sich die Hände an
einem Lappen ab, den er dann an einen Pfosten hängt, und folgt Jesus, nachdem
er ihn begrüßt hat, zusammen mit Levi und Eli.
Jesus spricht inzwischen mit dem
Alten. Er sagt zu ihm: «Du bist ein Gerechter. Gott wird dir Frieden
schenken.»
«Ich hoffe es. Der Herr ist
gerecht! Es ist nicht meine Schuld, daß ich in Samaria geboren wurde...»
«Es ist nicht deine Schuld. Im
anderen Leben gibt es keine Grenzen für die Gerechten. Nur die Sünde errichtet
Grenzen zwischen dem Himmel und dem Abgrund.»
«Das ist wahr. Wir gerne würde
ich dich doch sehen! Deine Stimme ist sanft, und auch deine Hand ist sanft,
wenn du den blinden Alten führst. Sanft und kräftig zugleich. Sie gleicht der
meines Lieblingssohnes: Eli heißt er, wie ich, und ist der Sohn meines Sohnes
Joseph. Wenn dein Aussehen so ist wie deine Hand, dann selig der, der dich
sieht.»
«Es ist besser, mich zu hören,
als mich zu sehen. Das heiligt die Seele mehr.»
«Das ist wahr. Ich höre denen zu,
die von dir berichten. Doch sie kommen nur selten vorbei... Hört man da nicht
Axtschläge?»
«So ist es.»
«Dann ist Alexander nicht weit...
Rufe ihn.»
«Ja. Ihr bleibt hier. Wenn ich es
allein schaffe, rufe ich euch nicht. Zeigt euch nicht, wenn ich euch nicht
rufe.» Jesus geht weiter und ruft laut.
«Wer ruft mich? Wer bist du?»
sagt ein alter, äußerst kräftiger Mann mit hartem Gesichtsausdruck und dem
Rumpf und den Gliedern eines Ringers. Ein Schlag dieser Hände muß wie ein
Keulenschlag sein: furchtbar.
«Ich bin es. Ein Unbekannter, der
dich kennt. Ich bin gekommen, um zu holen, was mir gehört.»
«Dir? Ha, ha, ha! Was kann dir
denn in meinem Wald gehören?»
«Im Wald nichts. In deinem Haus
gehört mir Benjamin.»
«Du bist wohl verrückt! Benjamin
ist mein Knecht.»
«Er ist mit dir verwandt, und du
bist sein Folterknecht. Und einer meiner Boten hat dir das Geld gegeben, das
du verlangt hast, um den Knaben freizugeben. Du hast das Geld genommen und den
Knaben behalten. Mein Bote, ein Mann des Friedens, hat sich nicht gewehrt. Ich
bin gekommen, um Gerechtigkeit zu fordern.»
295
«Dein Bote wird dein Geld
vertrunken haben. Ich habe nichts bekommen und behalte Benjamin. Ich habe ihn
lieb.»
«Nein, du haßt ihn. Du liebst den
Lohn, den du ihm vorenthältst. Lüge nicht. Gott bestraft die Lügner.»
«Ich habe kein Geld bekommen.
Wenn du mit meinem Knecht gesprochen hast, dann sollst du wissen, daß er ein
ausgekochter Lügner ist. Und ich werde ihn verprügeln, weil er mich
verleumdet. Leb wohl!» Er kehrt ihm den Rücken und will gehen.
«Gib acht, Alexander! Gott ist
gegenwärtig. Fordere ihn in seiner Güte nicht heraus.»
«Gott? Ist er denn der Hüter
meiner Interessen, Gott? Ich allein muß mich um sie kümmern und kümmere mich
um sie.»
«Gib acht!»
«Wer bist du denn, du
erbärmlicher Galiläer? Wie kannst du dir erlauben, mich zu tadeln? Ich kenne
dich nicht.»
«Du kennst mich. Ich bin der
Rabbi von Galiläa und...»
«Ach so! Und du glaubst, du
könntest mir Angst einjagen? Ich fürchte weder Gott noch Beelzebub. Und da
willst du, daß ich dich fürchte? Einen Verrückten? Geh, geh! Störe mich nicht
bei der Arbeit. Geh, sage ich dir. Schau mich nicht so an. Meinst du, deine
Augen könnten mir Angst einjagen? Was willst du denn sehen?»
«Deine Verbrechen nicht, denn die
sind mir alle bekannt. Alle. Auch jene, von denen niemand weiß. Aber ich
möchte sehen, ob du nicht einmal begreifst, daß dies die letzte Stunde ist,
die die göttliche Barmherzigkeit dir schenkt, damit du bereust. Ich möchte
sehen, ob nicht Reue in dir aufkommt und dein steinernes Herz zerbricht,
wenn...»
Der Mann, der noch die Axt in der
Hand hält, wirft diese plötzlich auf Jesus, der sich jedoch rasch bückt. Die
Axt fliegt in hohem Bogen über seinen Kopf und trifft den Stamm einer jungen
Eiche, schlägt ihn glatt durch, und der Baum fällt unter großem
Blättergeraschel und dem Angstgeschrei der erschrockenen Vögel zu Boden.
Die drei, die sich ganz in der
Nähe versteckt haben, springen schreiend hervor, aus Furcht, auch Jesus könne
getroffen sein, und der blinde Alte ruft: «Oh, könnte ich doch sehen! Könnte
ich doch sehen, ob er wirklich nicht verletzt ist! Nur dazu möchte ich das
Augenlicht wiederhaben, o ewiger Gott!» Und taub gegen alle Versicherungen der
anderen, geht er wankend vorwärts, da er den Stock verloren hat, will Jesus
betasten, um zu fühlen, ob er nicht irgendwo am Körper blutet, und stöhnt:
«Nur einen einzigen Strahl hellen Lichtes, dann wieder die Finsternis. Aber
sehen, sehen können, ohne diesen Schleier, der mir kaum erlaubt, die
Hindernisse zu erraten ...»
«Es ist mir nichts passiert,
Vater. Du kannst es fühlen», sagt Jesus, berührt den Greis und läßt sich von
ihm anfassen.
296
Inzwischen werfen die beiden
anderen mit harten Worten dem Gewalttätigen seine Schandtaten und Lügen vor.
Doch dieser zieht ein Messer, da er nun keine Axt mehr hat, und springt auf
sie los. Er lästert dabei Gott, beleidigt den Blinden, droht den anderen und
gleicht wirklich einem rasenden wilden Tier. Doch dann schwankt er plötzlich,
bleibt stehen, läßt den Dolch fallen, reibt sich die Augen, öffnet sie und
schließt sie wieder und stößt einen fürchterlichen Schrei aus: «Ich kann nicht
mehr sehen! Hilfe! Meine Augen... Die Finsternis... Wer hilft mir?»
Auch die anderen schreien. Vor
Staunen. Sie verspotten ihn auch und sagen: «Gott hat dich erhört.»
Eine der Gotteslästerungen war
tatsächlich: «Gott soll mich erblinden lassen, wenn ich lüge und gesündigt
habe. Und ich will lieber blind sein, als einen verrückten Nazarener anbeten!
Aber an euch werde ich mich rächen, und Benjamin werde ich wie diesen Baum
zerbrechen...»
Sie verspotten ihn auch mit den
Worten: «Nun kannst du dich rächen...»
«Seid nicht wie er. Haßt nicht!»
mahnt Jesus und liebkost den Alten, der sich um nichts anderes kümmert, als um
die Unversehrtheit Jesu. Um ihn zu beruhigen, sagt er: «Erhebe dein Antlitz!
Schau!»
Das Wunder geschieht. Wie dort
dem Gewalttätigen die Finsternis, so wird hier dem Gerechten das Licht zuteil.
Und dann ein Schrei; ein anderer, glücklicher, der über die hohen Bäume
aufsteigt: «Ich sehe! Meine Augen! Das Licht! Sei gepriesen!» Der Alte
betrachtet Jesus mit Augen, in denen neues Leben leuchtet, und wirft sich dann
zu Boden, um ihm die Füße zu küssen.
«Gehen wir beide. Ihr anderen,
begleitet diesen Unglücklichen nach Ennon. Habt Mitleid mit ihm, denn Gott hat
ihn schon bestraft. Und Gott genügt. Der Mensch soll zu jedem Elenden gut
sein.»
«Nimm den Knaben, die Schafe, den
Wald, das Haus, das Geld! Aber gib mir das Augenlicht wieder. Ich kann nicht
so bleiben...»
«Ich kann nicht. Ich lasse dir
all das, wofür du zum Sünder geworden bist. Ich nehme nur den Unschuldigen,
denn er hat schon das Martyrium erlitten. Möge sich deine Seele im Dunkeln dem
Licht öffnen.»
Jesus grüßt Levi und Jonas und
geht dann rasch mit dem Greis hinunter, der jünger geworden zu sein scheint
und schon bei den ersten Häusern seine Freude verkündet... Ganz Ennon fühlt
mit ihm...
Jesus bahnt sich einen Weg, geht
zu dem Hirtenknaben, der bei den Aposteln steht, und sagt: «Komm. Wir müssen
gehen, denn in Thersa wartet man auf uns.»
«Frei? Ich bin frei? Ich darf mit
dir gehen? Oh! Das hätte ich nie geglaubt! Ich will mich von Eli
verabschieden. Und die anderen?» Der Junge ist sehr aufgeregt...
Eli küßt und segnet ihn und sagt:
«Und verzeihe dem Unglücklichen!»
«Warum? Ich verzeihe ihm schon.
Aber warum ist er unglücklich?»
297
«Weil er Gott gelästert hat und
nun das Licht seiner Augen erloschen ist. Keiner von uns braucht ihn mehr zu
fürchten. Er ist im Dunkeln und krank. Furchtbare Macht Gottes!» Der Alte
gleicht einem inspirierten Propheten, während er, die Arme und den Blick zum
Himmel erhoben, betrachtet, was er gesehen hat.
Jesus verabschiedet sich von ihm
und bahnt sich wieder einen Weg durch die kleine, aufgeregte Volksmenge. Er
geht, und hinter ihm gehen die Apostel und die Jüngerinnen; auch Benjamin
geht, den die Frauen noch besonders verabschieden, da sie dem Bevorzugten des
Herrn ein Pfand ihrer Liebe geben möchten: eine Frucht, eine Geldbörse, ein
Brot, ein Gewand, eben das, was sie gerade dahaben. Und er, ganz glücklich,
grüßt sie, bedankt sich und sagt: «Ihr seid immer so gut zu mir! Ich werde es
nicht vergessen. Ich werde für euch beten. Schickt eure Kinder zum Herrn. Es
ist schön, bei ihm zu sein. Er ist das Leben. Lebt wohl! Lebt wohl... !»
Sie haben Ennon hinter sich
gelassen und gehen nun zum Jordan hin-. ab, zur Ebene des Jordantales, neuen,
noch unbekannten Ereignissen entgegen...
Der Junge schaut sich nicht mehr
um. Er sagt nichts. Er denkt nichts. Er seufzt nicht. Er lächelt nur. Er
schaut auf Jesus, den guten Hirten, der dort allen vorangeht, gefolgt von
seiner Herde. Dieser Herde, zu der nun auch er gehört, er, der arme Knabe ...
Und auf einmal fängt er an zu singen. Mit lauter Stimme...
Die Apostel lächeln und sagen:
«Der Knabe ist glücklich.»
Die Frauen lächeln und sagen:
«Das gefangene Vögelchen hat seine Freiheit wiedererlangt und auch ein Nest
gefunden.»
Jesus lächelt und wendet sich um.
Er betrachtet den Knaben, und sein Lächeln verklärt wie immer alles. Dann ruft
er ihn zu sich: «Komm her, Lämmlein Gottes. Ich will dich einen schönen Gesang
lehren.» Und Jesus stimmt, gefolgt von den anderen, den Psalm an: «Der Herr
ist mein Hirte, nichts wird mir mangeln. Er weidet mich auf grüner Weide» usw.
Die herrliche Stimme Jesu breitet sich aus über die ganze Landschaft. Sie
übertönt alle anderen, auch die besten Stimmen, so mächtig ist sie in ihrer
Freude.
«Maria, dein Sohn ist glücklich»,
sagt Maria des Alphäus.
«Ja, er ist glücklich. Er hat
noch etwas, worüber er sich freuen kann...»
«Keine Reise ist erfolglos. Er
geht vorüber und teilt Gnaden aus, und immer gibt es einen, der wirklich dem
Erlöser begegnet. Erinnerst du dich an den Abend zu Bethlehem in Galiläa?»
fragt Maria von Magdala.
«Ja. Aber ich möchte nicht an die
Aussätzigen und den Blinden erinnert werden...»
«Du würdest immer verzeihen. Du
bist so gut! Aber auch Gerechtigkeit muß sein», bemerkt Maria Salome.
298
«Sie ist nötig. Aber zu unserem
Glück ist die Barmherzigkeit größer», sagt Maria Magdalena noch.
«Das kannst du wohl sagen. Aber
Maria ...» antwortet Johanna.
«Maria will nur Verzeihung, auch
wenn sie selbst sie nicht nötig hat. Nicht wahr, Maria?» sagt Susanna.
«Ich will nur Verzeihung. Ja, nur
dies. Böse zu sein, muß schon ein schreckliches Leiden sein...» Sie seufzt bei
diesen Worten.
«Würdest du allen verzeihen?
Wirklich allen? Wäre es denn gerecht, dies zu tun? Es gibt doch auch solche,
die hartnäckig im Bösen verharren, die jede Vergebung verachten und als
Schwäche verlachen», sagt Martha.
«Ich würde verzeihen. Was mich
betrifft, würde ich allen verzeihen. Nicht aus Torheit, sondern weil ich jede
Seele als ein mehr oder weniger gutes Kind ansehe. Wie einen Sohn... Eine
Mutter verzeiht immer... auch wenn sie sagt: "Gerechtigkeit verlangt eine
gerechte Strafe." Oh, wenn eine Mutter sterben könnte, um für den bösen Sohn
ein neues, gutes Herz zu gebären, glaubt ihr, sie würde es nicht tun? Aber man
kann es nicht. Und es gibt Seelen, die keine Hilfe annehmen wollen... Ich
denke, auch diesen muß die Barmherzigkeit verzeihen. Denn so groß ist schon
die Last auf ihrer Seele: ihre Schuld, die Strenge Gottes... Oh, verzeihen
wir, verzeihen wir den Schuldigen. Und möge Gott unsere vollständige
Verzeihung annehmen, um ihre Schuld zu verringern...»
«Aber warum weinst du immer,
Maria? Auch jetzt, da doch dein Sohn eine Stunde der Freude erlebt hat!»
beklagt sich Maria des Alphäus.
«Es war keine reine Freude, weil
der Schuldige nicht bereut hat. Jesus hat nur dann eine vollkommene Freude,
wenn er erlösen kann.»
Wer weiß, weshalb Nike, die
bisher geschwiegen hat, unvermittelt sagt: «Bald werden wir wieder mit Judas
von Kerioth zusammen sein.»
Die Frauen sehen sich an, als ob
dieser einfache Satz etwas Außergewöhnliches wäre, als ob sich dahinter weiß
Gott welche wichtige Angelegenheit verbergen würde. Aber niemand sagt ein
Wort.
Jesus hat in einem wunderschönen
Olivenhain haltgemacht. Die anderen folgen seinem Beispiel. Jesus segnet,
zerteilt und verteilt die Speisen.
Benjamin betrachtet und ordnet
seine Geschenke: zu lange oder zu weite Kleider, Sandalen, die für seine Füße
nicht passen, unreife Mandeln, die noch in der samtenen Schale stecken, Nüsse
vom Vorjahr, ein kleiner Käse, einige runzlige Äpfel, ein Messerchen. Er ist
glücklich mit seinen Schätzen. Er bietet die eßbaren Dinge an, faltet dann die
Kleider wieder zusammen und sagt: «Am Passahfest werde ich das schönste
anziehen.»
Maria des Alphäus verspricht: «In
Bethanien werde ich alles in Ordnung bringen. Laß zunächst dieses Gewand
draußen. In Thersa wird es Wasser geben, um es zu waschen, und außerdem Faden,
um es zu kürzen. Was die Sandalen betrifft... so weiß ich wirklich nicht, was
du damit anfangen kannst.»
299
«Wir werden sie dem ersten Armen
geben, dem wir begegnen und der den richtigen Fuß dafür hat. Und in Thersa
kaufen wir dann ein neues Paar für dich», sagt Maria von Magdala ruhig.
«Mit welchem Geld, Schwester?»
fragt Martha.
«Ach, du hast recht! Wir haben
rein nichts mehr... Aber Judas hat Geld... So kann Benjamin keinen weiten Weg
zurücklegen. Und dann, armer Junge! Seine Seele hat die große Freude erlebt,
aber auch als Mensch soll er lächeln... Gewisse Dinge machen doch Freude.»
Die noch junge und fröhliche
Susanna lacht und sagt: «Du redest, als ob du aus Erfahrung wüßtest, daß ein
Paar neue Sandalen eine Freude sind für jemand, der niemals welche besessen
hat!»
«Das ist wahr. Aber ich weiß
wirklich, wie gut ein trockenes Gewand tut, wenn man ganz durchnäßt ist, und
ein sauberes, wenn man nur eines besitzt. Ich erinnere mich ...» Und sie legt
den Kopf auf die Schulter der allerheiligsten Gottesmutter und sagt: «Weißt du
noch, o Mutter?» Dann küßt sie sie zärtlich.
Jesus ordnet den Aufbruch an,
damit sie vor dem Abend noch Thersa erreichen. «Die beiden werden in Sorge
sein, weil sie nicht wissen...»
«Willst du, daß jemand vorausgeht
und ihnen sagt, daß du kommst?» schlägt Jakobus des Alphäus vor.
«Ja. Geht alle, außer Johannes,
Jakobus und meinem Bruder Judas. Thersa ist jetzt nicht mehr weit... Geht
also. Sucht Judas und Elisa und bereitet auch schon die Unterkünfte für uns
vor, denn wir haben uns verspätet, und da die Frauen bei uns sind, ist es
besser, wenn wir die Nacht dort verbringen... Wir kommen euch nach. Erwartet
uns bei den ersten Häusern ...»
Die acht Apostel gehen eilends
fort, und Jesus folgt ihnen etwas langsamer.
630. JESUS WIRD VON DEN
SAMARITERN ABGELEHNT
Thersa verschwindet so völlig
inmitten üppiger Olivenhaine, daß man schon ganz in seine Nähe kommen muß, um
die Stadt zu bemerken. Ein Gürtel von äußerst fruchtbaren Gärten bildet den
letzten Windschutz für die Häuser. In den Gärten gehen die verschiedenen
Grüntöne von Rüben, Salat, Hülsenfrüchten und jungen Kürbispflanzen ineinander
über, und Obstbäume und Weinlauben schlingen ihre fruchtverheißenden Blüten
und die kleinen, schon große Genüsse versprechenden Früchte ineinander. Die
kleinen Blüten der Reben und die frühen Olivenblüten regnen beim leichtesten
Windhauch herab und bedecken den Boden mit einem grünlichweißen Schnee.
300
Hinter einem Gebüsch aus
Schilfrohr und Weiden an einem leeren, aber noch feuchten Mühlgraben tauchen,
als die Schritte der Ankommenden hörbar werden, die acht Apostel auf, die
vorausgeschickt worden waren. Sie sind sichtlich betrübt und unruhig und geben
den anderen ein Zeichen, stehenzubleiben, während sie ihnen entgegeneilen. Als
sie so nahe gekommen sind, daß man sie hören kann, ohne daß sie schreien
müssen, sagen sie: «Fort! Fort! Zurück in die Felder. Ihr könnt nicht in die
Stadt hineingehen. Sie hätten uns fast gesteinigt. Kommt, fort. Dort, in dem
Dickicht werden wir euch alles erklären ...» Sie drängen alle in den trockenen
Mühlgraben und dann zurück, Jesus, die drei Apostel, den Knaben und die
Frauen, in dem Bemühen, fortzukommen ohne gesehen zu werden, und sagen: «Daß
sie uns nur nicht sehen. Gehen wir! Gehen wir!»
Vergeblich versuchen Jesus, Judas
und die beiden Söhne des Zebedäus zu erfahren, was vorgefallen ist. Vergeblich
fragen sie: «Und Judas des Simon? Und Elisa?»
Die acht sind unerbittlich. Sie
gehen durch das Gewirr von langen Stengeln und Wasserpflanzen. Sumpfbinsen
verletzen sie an den Füßen. Weiden und Schilfrohr schlagen ihnen ins Gesicht.
Auf dem Schlamm im Grund gleiten sie aus, halten sich an den Halmen fest,
stützen sich am Rand des Grabens ab, werden gründlich schmutzig und entfernen
sich so, immer gedrängt und gestoßen von den acht Aposteln, die fast ständig
mit nach hinten gedrehten Köpfen gehen, um zu sehen, ob von Thersa jemand
kommt und sie verfolgt. Aber auf dem Weg sieht man nur die untergehende Sonne
und einen mageren streunenden Hund.
Endlich sind sie bei den dichten
Brombeersträuchern angekommen, die einen Besitz umgeben. Hinter dem Gestrüpp
wiegen sich die hohen Stengel eines großen Flachsfeldes im Wind, an denen sich
schon die ersten himmelblauen Blüten öffnen.
«Hierher. Hier herein. Wenn wir
uns setzen, kann uns niemand sehen. Und sobald es Abend wird, gehen wir
weiter...» sagt Petrus und wischt sich den Schweiß von der Stirn...
«Wohin?» fragt Judas des Alphäus.
«Wir haben die Frauen bei uns.»
«Irgendwohin. Übrigens liegt auf
den Feldern viel Heu. Das wäre auch ein Bett. Für die Frauen machen wir Zelte
aus unseren Mänteln, und wir halten Wache.»
«Ja, es genügt, nicht gesehen zu
werden und dann im Morgengrauen zum Jordan hinunterzugehen. Du hast recht
gehabt, Meister, die Straße von Samaria nicht gehen zu wollen. Für uns Arme
sind die Räuber besser als die Samariter!» sagt Bartholomäus noch ganz
atemlos.
«Aber was ist denn eigentlich
passiert? Hat Judas etwas angestellt ... ?»fragt Thaddäus.
Thomas unterbricht ihn: «Judas
hat sicher Prügel bekommen. Es tut mir leid für Elisa ...»
301
«Hast du Judas gesehen?»
«Ich? Nein. Aber es ist leicht,
hier den Propheten zu spielen. Wenn er sich als dein Apostel zu erkennen
gegeben hat, ist er sicher geschlagen worden. Meister, sie wollen dich nicht
haben.»
«Ja, sie sind alle gegen dich
aufgebracht.»
«Sie sind eben wahre Samariter.»
Alle reden gleichzeitig. Jesus
gebietet allen Schweigen und sagt: «Nur einer soll sprechen. Du, Simon Zelot,
denn du bist der Gelassenste.»
«Herr, das ist bald gesagt. Wir
gingen in die Stadt und niemand tat uns etwas zuleide, solange sie nicht
wußten, wer wir waren, solange sie uns für Pilger auf der Durchreise hielten.
Als wir dann aber fragten – und wir mußten es ja tun – ob ein junger, großer,
dunkelhaariger Mann mit rotem Gewand und weißrot-gestreiftern Talith und eine
alte magere Frau mit mehr weißem als schwarzem Haar und einem dunkelgrauen
Kleid in die Stadt gekommen seien und den Meister von Galiläa und seine
Begleiter gesucht hätten, wurden sie sofort aufgeregt. Wir hätten vielleicht
nichts von dir sagen sollen. Wir haben da gewiß einen Fehler gemacht. Aber in
den anderen Orten sind wir immer so gut aufgenommen worden... Ich weiß
wirklich nicht, was geschehen ist... ! Sie gleichen Vipern... Dieselben
Menschen, die noch vor drei Tagen so ehrerbietig dir gegenüber waren ...»
Thaddäus unterbricht ihn: «Die
Arbeit der Juden ...»
«Ich glaube nicht. Ich glaube es
nicht, wegen der Vorwürfe, die sie uns gemacht haben, und wegen ihrer
Drohungen. Ich glaube... oder vielmehr, ich bin, wir sind sicher, der Grund
des Zornes der Samariter ist, daß Jesus ihr Angebot, ihn zu schützen,
abgelehnt hat. Sie haben geschrien: "Fort! Fort mit euch! Mit euch und eurem
Meister! Er will auf den Berg Moriah gehen, um dort zu beten. Er soll nur
gehen und umkommen, mit allen, die zu ihm gehören. Es gibt keinen Platz bei
uns für jene, die uns nicht als Freunde, sondern nur als Diener betrachten.
Wir wollen nicht noch mehr Schwierigkeiten, wenn es uns keinen praktischen
Nutzen bringt. Steine, und kein Brot mehr für den Galiläer. Wir wollen ihm
nicht mehr unsere Häuser öffnen, sondern die Hunde auf ihn hetzen." Das und
ähnliches haben sie gesagt. Und da wir darauf bestanden zu erfahren, ob Judas
dagewesen ist, haben sie Steine aufgehoben, um sie auf uns zu werfen, und
haben tatsächlich ihre Hunde auf uns gehetzt. Sie riefen sich zu: "Wir wollen
alle Eingänge bewachen. Wenn er kommt, werden wir uns rächen." Da sind wir
geflohen. Eine Frau – es gibt auch unter den Bösen immer einige Gute – schob
uns in ihren Garten und führte uns von dort auf einem schmalen Weg zwischen
den Gärten zu dem Mühlgraben, in dem gerade kein Wasser ist, weil man vor dem
Sabbat die Felder bewässert hat. Dort hat sie uns versteckt und versprochen,
daß sie uns wegen Judas Bescheid geben würde. Aber sie ist nicht mehr
zurückgekommen. Wir
302
wollen trotzdem hier auf sie
warten, denn sie hat gesagt, daß sie hierher kommt, wenn sie uns im Mühlgraben
nicht mehr vorfindet.»
Sie machen allerhand Bemerkungen.
Die einen fahren fort, die Juden anzuklagen. Andere machen Jesus einen
leichten Vorwurf, einen versteckten Vorwurf, mit den Worten: «Du hast in
Sichern zu offen geredet und bist dann weggegangen. In diesen drei Tagen haben
sie entschieden, daß es nutzlos ist, sich Illusionen zu machen und sich selbst
zu schaden für einen, der sie nicht zufriedenstellt... Und so verjagen sie
dich jetzt ...»
Jesus antwortet: «Es reut mich
nicht, die Wahrheit gesagt zu haben und meine Pflicht zu tun. Jetzt verstehen
sie noch nicht. Bald aber werden sie meine Gerechtigkeit verstehen und mich
mehr verehren, als wenn ich nicht an ihr festgehalten hätte; das ist wichtiger
als meine Liebe zu ihnen.»
«Endlich! Dort kommt die Frau auf
der Straße. Sie hat den Mut, sich hier zu zeigen...» sagt Andreas.
«Sie wird uns doch nicht
verraten?» sagt Bartholomäus mißtrauisch.
«Sie ist allein!»
«Es könnten ihr Leute folgen, die
sich im Mühlgraben versteckt halten ...»
Aber die Frau, die sich mit einem
Korb auf dem Kopf nähert, geht über die Flachsfelder hinaus, in denen Jesus
und die Apostel warten. Dann schlägt sie einen schmalen Pfad ein und
entschwindet ihren Blicken... um unerwartet hinter dem Rücken der Wartenden
wieder aufzutauchen, die sich fast erschrocken umdrehen, als sie die Stengel
knistern hören.
Die Frau sagt zu den acht
Aposteln, die sie kennt: «Hier bin ich. Verzeiht, daß ich euch so lange habe
warten lassen... Ich wollte vermeiden, daß mir jemand folgt, und habe gesagt,
daß ich zu meiner Mutter gehe... Und hier habe ich Verpflegung für euch
gebracht. Der Meister... Welcher ist es? Ich möchte ihn verehren!»
«Dieser ist der Meister.»
Die Frau, die ihren Korb
abgestellt hat, kniet nieder und sagt: «Verzeih die Schuld meiner Mitbürger.
Wenn sie nicht aufgehetzt worden wären... Aber nach deiner Ablehnung haben
viele gegen dich gearbeitet ...»
«Ich hege keinen Groll gegen sie,
Frau. Steh auf und sprich. Weißt du etwas von meinem Apostel und der Frau, die
bei ihm war?»
«Ja. Man hat sie wie Hunde
verjagt, und sie sind nun auf der anderen Seite der Stadt und warten dort auf
die Nacht. Sie wollten zurückkehren nach Ennon und dich suchen. Dann wollten
sie hierherkommen, als sie erfuhren, daß ihre Gefährten hier sind. Ich habe
ihnen davon abgeraten und gesagt, sie sollten sich ruhig verhalten, ich würde
euch zu ihnen führen. Das werde ich auch tun, sobald es dunkel wird. Zum Glück
ist mein Mann auswärts und ich bin frei, das Haus zu verlassen. Ich werde euch
zu einer meiner Schwestern bringen, die in der Ebene verheiratet ist. Ihr
könnt dort schlafen, ohne zu sagen, wer ihr seid; nicht wegen Merod,
303
sondern wegen der Männer, die bei
ihr sind. Sie sind keine Samariter, sondern Leute aus der Dekapolis, die sich
hier niedergelassen haben. Aber es ist immer besser...»
«Gott möge es dir vergelten. Sind
die beiden Jünger verletzt worden?»
«Nur der Mann ein wenig. Die Frau
nicht. Gewiß hat der Allmächtige sie beschützt, denn sie hat sich mutig vor
ihren Sohn gestellt, als die Bürger Steine aufhoben. Oh, was für eine starke
Frau! Sie hat gerufen: "So behandelt ihr einen, der euch nichts getan hat? Und
ihr achtet nicht einmal mich, die ich ihn verteidige und eine Mutter bin? Habt
ihr denn alle keine Mütter, daß ihr keine Ehrfurcht habt vor einer Frau, die
geboren hat? Seid ihr denn von einer Wölfin geboren, oder seid ihr aus Erde
und Lehm entstanden?" Sie schaute den Angreifern ins Gesicht und breitete
ihren Mantel weit aus, um den Mann zu schützen. Und dabei ging sie rückwärts
und schob ihn so zur Stadt hinaus... Auch jetzt tröstet sie ihn noch und sagt:
"Möge der Allerhöchste, o mein Judas, dieses Blut, das du für den Meister
vergossen hast, Balsam für deine Seele werden lassen." Aber die Verletzung ist
sehr gering. Wahrscheinlich ist der Schrecken des Mannes größer als der
Schmerz. Doch nun nehmt und eßt. Hier ist frischgemolkene Milch für die
Frauen, und Brot, Käse und Obst. Ich konnte kein Fleisch braten. Das hätte zu
lange gedauert. Hier ist Wein für die Männer. Eßt, während es dämmert. Dann
werden wir auf sicheren Wegen zu den beiden gehen, und danach zu Merod.»
«Gott möge es dir noch einmal
vergelten», sagt Jesus. Er opfert die Speisen auf und verteilt sie dann, wobei
er etwas für die beiden Abwesenden zur Seite legt.
«Nein, nein. An die beiden habe
ich schon gedacht. Ich habe Brot und Eier in meinem Gewand verborgen, und auch
etwas Wein und Öl für die Wunden. Dies ist alles für euch. Eßt. Ich beobachte
solange die Straße...»
Sie essen. Aber die Empörung läßt
den Männern keine Ruhe und die Niedergeschlagenheit nimmt den Frauen den
Appetit; allen, mit Ausnahme von Maria von Magdala, auf die das, was die
anderen verängstigt und kränkt, immer wie ein die Nerven und den Mut
stärkendes und anregendes Getränk wirkt. Ihre Augen blitzen in Richtung der
feindseligen Stadt. Und nur die Gegenwart Jesu, der schon gesagt hat, daß er
keinen Groll empfindet, hält sie davon ab, heftige Worte zu gebrauchen. Und da
sie nicht reden und nichts unternehmen kann, läßt sie ihren Zorn an dem
unschuldigen Brot aus, in das sie auf eine so bezeichnende Weise hineinbeißt,
daß der Zelote sich nicht enthalten kann, lächelnd zu sagen: «Gut für die
Leute von Thersa, daß sie nicht in deine Hände fallen können! Du gleichst
einem Raubtier in Ketten, Maria!»
«Ich bin es. Das siehst du ganz
richtig. Und vor Gott hat es größeren Wert, daß ich mich beherrsche und nicht
dort hineingehe, wie sie es verdienen, als alles, was ich bisher an Sühne
geleistet habe.»
304
«Sei gut, Maria! Gott hat dir
größere Sünden vergeben als die Sünden dieser dort.»
«Das ist wahr. Sie haben dich,
meinen Gott, nur einmal beleidigt und sind von anderen dazu verleitet worden.
Ich viele male... und aus eigenem Willen... und ich habe kein Recht, streng
und stolz zu sein...» Maria senkt ihren Blick, und zwei große Tränen fallen
auf ihr Brot.
Martha legt ihre Hand in den
Schoß der Schwester und sagt leise: «Gott hat dir verziehen. Sei nicht mehr
traurig... Denk daran, was du dafür bekommen hast: unseren Lazarus ...»
«Ich bin nicht traurig, sondern
dankbar. Ich bin gerührt... Und ich muß auch feststellen, daß mir immer noch
die Barmherzigkeit fehlt, die ich selbst in so reichem Maß empfangen habe...
Verzeih mir, Rabbuni!»sagt sie und erhebt ihre herrlichen Augen, die die Demut
wieder sanft macht.
«Die Vergebung wird niemals denen
verweigert, die demütigen Herzens sind, Maria.»
Der Abend sinkt hernieder und
verleiht der Atmosphäre eine zartviolette Tönung. Die etwas entfernteren Dinge
sind nicht mehr zu unterscheiden. Die Halme des Flachses, die man zuvor in
ihrer ganzen Grazie erkennen konnte, verschwimmen nun zu einer dunklen Masse.
Die Vöglein in den Zweigen schweigen. Der erste Stern blitzt auf. Die erste
Grille zirpt im Gras. Es ist Abend.
«Wir können gehen. Hier, in den
Feldern, sieht uns niemand. Kommt. Ich verrate euch nicht. Ich tue es nicht um
einen Lohn. Ich erbitte nur Erbarmen vom Himmel, denn alle brauchen wir dieses
Erbarmen», sagt die Frau seufzend.
Alle stehen auf und folgen ihr.
Sie machen einen Bogen um Thersa, zwischen halbdunklen Feldern und Gärten,
aber der Bogen ist nicht so groß, als daß sie nicht Männer an den Ausgängen
der Stadt sehen würden, die um Feuer herumsitzen...
«Sie lauern uns auf ...» sagt
Matthäus.
«Die Verfluchten!» zischt
Philippus zwischen den Zähnen.
Petrus sagt nichts. Er erhebt nur
die Arme zum Himmel und schüttelt sie, eine stumme Bitte oder ein Protest.
Aber Jakobus und Johannes des
Zebedäus, die den anderen etwas vorausgegangen sind und eifrig miteinander
geredet haben, kehren nun zurück und sagen: «Meister, wenn du in deiner
vollkommenen Liebe nicht strafen willst, sollen wir es dann an deiner Stelle
tun? Willst du, daß wir Feuer vom Himmel herabrufen, damit es diese Sünder
vernichtet? Du hast uns gesagt, daß wir alles vermögen, wenn wir mit Glauben
darum bitten, und...»
Jesus, der etwas gebeugt gegangen
ist, so als wäre er müde, richtet sich mit einem Ruck auf und blitzt sie mit
zwei Augen an, die im Mondschein
305
aufflammen. Die beiden verstummen
und weichen schweigend und furchtsam vor diesem Blick zurück. Jesus, der sie
immer noch so anschaut, sagt: «Ihr wißt nicht, wessen Geistes Kinder ihr seid!
Der Menschensohn ist nicht gekommen, um die Seelen zu richten, sondern um sie
zu retten. Erinnert ihr euch nicht mehr meiner Worte? Ich habe im Gleichnis
vom Weizen und vom Unkraut gesagt: 'Laßt den Weizen und das Unkraut zusammen
wachsen. Denn wolltet ihr sie jetzt trennen, könntet ihr mit dem Unkraut auch
den Weizen ausreißen. Laßt sie daher bis zur Ernte zusammen wachsen. Zur Zeit
der Ernte will ich den Schnittern sagen: Sammelt nun das Unkraut und bindet es
in Bündel, um es zu verbrennen. Den Weizen aber bringt in meine Scheune."»
Jesus hat seinen Unmut über die beiden schon gemäßigt, die in ihrem Zorn aus
Liebe zu ihm darum bitten, Thersa bestrafen zu dürfen, und nun mit gesenktem
Haupt vor ihm stehen. Er nimmt sie, den einen rechts, den anderen links, beim
Ellbogen und setzt seinen Weg fort, wobei er sie so führt und zu allen
spricht, die sich um ihn gesammelt haben, als er stehengeblieben ist:
«Wahrlich, ich sage euch, die Zeit der Ernte ist nahe. Meine erste Ernte. Und
für viele wird es keine zweite geben. Doch preisen wir den Allerhöchsten, denn
einige, die zu meiner Zeit nicht zur guten Ähre geworden sind, werden nach der
Reinigung durch das österliche Opfer mit einer neuen Seele wiedergeboren
werden... Bis zu jenem Tag werde ich niemanden strafen... Danach wird die
Gerechtigkeit walten...»
«Nach dem Passahfest?» fragt
Petrus.
«Nein, nach der Zeit. Ich spreche
nicht von diesen Menschen, von heute. Ich schaue in die künftigen
Jahrhunderte. Der Mensch erneuert sich immer, wie das Getreide auf den
Feldern. Und die Ernten wiederholen sich. Ich werde das Nötige hinterlassen,
damit die Menschen der Zukunft guter Weizen werden können. Wenn sie es nicht
wollen, dann werden am Ende der Welt meine Engel das Unkraut vom Weizen
trennen. Das wird der ewige Tag sein, der Gott allein gehört. Jetzt ist auf
der Welt der Tag Gottes und des Satans. Der erste sät den guten Samen aus, der
zweite wirft sein verfluchtes Unkraut unter den Samen Gottes, sein Ärgernis,
seine Bosheit, seinen Samen, der Bosheit und Ärgernisse hervorruft. Denn es
wird immer solche geben, die gegen Gott aufwiegeln, so wie hier, mit diesen,
die in Wahrheit weniger schuldig sind als jene, die sie zum Bösen angereizt
haben.»
«Meister, jedes Jahr reinigen wir
uns am Passahfest, und doch bleiben wir immer so, wie wir sind. Wird es
vielleicht dieses Jahr anders sein?» fragt Matthäus.
«Ganz anders.»
«Warum? Erkläre es uns.»
«Morgen... Morgen, oder wenn wir
unterwegs sind und auch Judas des Simon bei uns ist, werde ich es euch
sagen...»
306
«0 ja, du wirst es uns sagen, und
wir werden uns bessern... Verzeih uns inzwischen, Jesus», sagt Johannes.
«Ich habe euch durchaus den
richtigen Namen gegeben. Aber der Donner schadet nicht. Der Blitz kann töten.
Doch kündigt der Donner oft den Blitz an. So geschieht es dem, der nicht alle
Unordnung gegen die Liebe aus seinem Geist entfernt. Heute bittet er darum,
bestrafen zu dürfen. Morgen bestraft er, ohne vorher zu fragen. Übermorgen
bestraft er auch ohne Grund. Der Abstieg ist leicht... Deshalb sage ich euch,
vermeidet jede Härte eurem Nächsten gegenüber. Handelt so wie ich, und ihr
werdet sicher sein, niemals fehlzugehen. Habt ihr jemals gesehen, daß ich mich
an denen gerächt habe, die mir Schmerz zugefügt haben?»
«Nein, Meister. Du ...»
«Meister! Meister! Wir sind hier.
Ich und Elisa. Oh Meister, wieviel Aufregung deinetwegen! Und wieviel Angst
vor dem Tod!» ruft Judas von Kerioth, der hinter einer Reihe Weinstöcke
hervorkommt und auf Jesus zueilt. Um die Stirne trägt er eine Binde. Elisa
folgt ihm mit mehr Ruhe.
«Hast du gelitten? Hast du Angst
gehabt zu sterben? Liebst du das Leben so sehr?» fragt Jesus und befreit sich
von Judas, der ihn umarmt hat und weint.
«Nicht das Leben... Ich habe mich
vor Gott gefürchtet. Ohne deine Verzeihung sterben zu müssen... Ich beleidige
dich immer. Alle beleidige ich. Auch diese hier... Und sie hat es mir
vergolten, indem sie mir Mutter war. Ich habe mich schuldig gefühlt und habe
Angst vor dem Tod gehabt...»
«Oh, heilsame Angst, wenn sie
dich heilig machen kann! Aber ich verzeihe dir immer, das weißt du, wenn du
nur den Willen hast zu bereuen. Und du, Elisa? Hast du verziehen?»
«Er ist ein großes unbändiges
Kind. Ich kann ihn verstehen.»
«Du bist stark gewesen, Elisa.
Ich weiß es.»
«Wenn sie nicht gewesen wäre! Ich
weiß nicht, ob ich dich wiedergesehen hätte, Meister!»
«Du siehst also ein, daß sie
nicht aus Haß, sondern aus Liebe an deiner Seite geblieben ist... Bist du
nicht verletzt worden, Elisa?»
«Nein, Meister. Die Steine flogen
um mich herum, ohne mich zu treffen. Aber mein Herz hat viel gelitten, während
ich an dich dachte...»
«Alles ist nun zu Ende. Wir
wollen der Frau folgen, die uns in ein sicheres Haus führen wird.»
Sie gehen weiter auf einer
kleinen mondbeschienenen Straße, die nach Osten führt.
Jesus hat Iskariot am Arm
genommen und geht mit ihm voraus. Sanft spricht er zu ihm und versucht, sein
Herz zu erreichen, das die Furcht vor dem Gericht Gottes erschüttert hat. «Du
siehst, Judas, wie leicht man
307
sterben kann. Der Tod lauert
immer auf uns. Du siehst, daß das, was uns von geringer Bedeutung erscheint,
solange wir voller Leben sind, wichtig, erschreckend wichtig wird, wenn der
Tod uns streift. Aber warum diese Angst haben wollen, warum sie
heraufbeschwören, um ihr im Augenblick des Todes gegenüberzustehen, wenn man
durch ein heiliges Leben den Schrecken des bevorstehenden Gerichtes Gottes
vermeiden kann? Meinst du nicht, daß es der Mühe wert ist, als Gerechter zu
leben, um dann in Frieden sterben zu können? Judas, mein Freund, die
göttliche, väterliche Barmherzigkeit hat diesen Zwischenfall zugelassen, damit
er deinem Herzen eine Warnung sei. Noch hast du Zeit, Judas... Warum willst du
deinem Meister, der im Begriff ist zu sterben, nicht die große, sehr große
Freude machen, dich zum Guten bekehrt zu wissen?»
«Aber kannst du mir denn noch
verzeihen, Jesus ?»
«Würde ich so zu dir sprechen,
wenn ich es nicht könnte? Wie wenig kennst du mich doch! Ich kenne dich. Ich
weiß, daß du wie von einem gigantischen Polypen umschlungen bist. Aber wenn du
nur wolltest, könntest du dich noch von ihm befreien. Oh, du würdest leiden,
gewiß. Es würde sehr weh tun, dir die Ketten, die dich verwunden und
vergiften, vom Leib zu reißen. Aber danach, wieviel Freude, Judas! Fürchtest
du, keine Kraft mehr zu haben, um dich gegen deine Verführer zu wehren? Ich
kann dich im voraus von der Sünde der Übertretung des Passahgebotes
freisprechen... Du bist krank. Und für die Kranken ist das Passahfest nicht
verpflichtend. Niemand ist kränker als du. Du bist wie ein Aussätziger. Die
Aussätzigen gehen nicht nach Jerusalem hinauf, solange sie unrein sind. Glaube
mir, Judas, es ist keine Verehrung, sondern eine Beleidigung des Herrn, wenn
man vor ihm erscheint mit einem so unreinen Geist wie deinem. Man muß sich
zuvor ...»
«Warum machst du mich nicht rein
und gesund?» fragt Judas schon wieder hart und widerspenstig.
«Ich werde dich nicht heilen.
Wenn jemand krank ist, sucht er von sich aus Heilung. Außer er ist ein Kind
oder geistesschwach, denn diese haben keinen Willen ...»
«Behandle mich doch wie sie...
Behandle mich, wie wenn ich töricht wäre, und sorge du vor, ohne mein Wissen
...»
«Das wäre nicht gerecht, denn du
kannst wollen. Du weißt, was gut oder schlecht für dich ist. Und es würde dir
nichts nützen, wenn ich dich heile ohne deinen Willen, geheilt zu bleiben.»
«Gib mir auch diesen.»
«Ich soll ihn dir geben? Dir also
einen guten Willen aufzwingen? Und deine Entscheidungsfreiheit? Was würde aus
ihr werden? Was würde aus deinem Ich als Mensch, als freies Geschöpf werden?
Ein Sklave?»
«So wie ich jetzt ein Sklave
Satans bin, könnte ich auch ein Sklave Gottes sein.»
308
«Wie verletzt du mich, Judas! Wie
durchbohrst du mein Herz! Aber ich verzeihe dir, was du mir antust ... Sklave
Satans, hast du gesagt. Ich hätte so etwas Schreckliches nicht gesagt...»
«Aber du hast es gedacht, weil es
wahr ist und weil du es weißt, wenn es wahr ist, daß du in den Herzen der
Menschen liest. Wenn es so ist, dann weißt du auch, daß ich nicht mehr Herr
meiner selbst bin... Er hat mich schon gepackt und...»
«Nein, er hat sich an dich
herangeschlichen, dich versucht, dich geprüft, und du hast ihn eingelassen. Es
gibt keine Besessenheit, wenn nicht von Anfang an eine gewisse Zustimmung zu
irgendeiner satanischen Versuchung gegeben ist. Die Schlange streckt ihren
Kopf durch den engmaschigen Zaun, der das Herz zu seinem Schutz umgibt; aber
sie könnte nicht eindringen, wenn der Mensch nicht selbst die Öffnung
vergrößern würde, um ihren verführerischen Schein zu bewundern, ihr zuzuhören
und ihr zu folgen... Dann erst wird der Mensch hörig, besessen, aber weil er
es will. Auch Gott sendet vom Himmel das sanfte Licht seiner väterlichen
Liebe, und dieses Licht dringt in uns ein. Besser: Gott, dem alles möglich
ist, steigt herab in das Herz der Menschen. Es ist sein Recht. Warum also kann
der Mensch, der fähig ist, Sklave, Untertan des Schrecklichen zu sein, nicht
auch ein Diener Gottes, ein Kind Gottes werden? Warum weist er seinen
heiligsten Vater ab? Du antwortest mir nicht? Du sagst mir nicht, warum du
Satan gewollt und ihn Gott vorgezogen hast? Und doch hättest du noch Zeit,
dich zu retten. Du weißt, daß ich zum Sterben gehe. Niemand weiß es besser als
du... Ich weigere mich nicht zu sterben... Ich gehe. Ich gehe in den Tod, denn
mein Tod wird zum Leben für so viele werden. Warum willst du nicht unter
diesen sein? Soll denn nur für dich, mein Freund, mein armer, kranker Freund,
mein Tod vergeblich sein?»
«Er wird für viele vergeblich
sein, täusche dich nicht. Du würdest besser daran tun, zu fliehen und weit weg
von hier das Leben zu genießen und deine Lehre zu predigen, denn sie ist gut,
als dich zu opfern.»
«Meine Lehre predigen! Aber was
könnte ich denn noch Wahres lehren, wenn ich das Gegenteil von dem tun würde,
was ich lehre? Was wäre ich denn für ein Meister, wenn ich den Gehorsam
gegenüber dem Willen Gottes nur lehren und nicht üben würde; wenn ich die
Liebe zu den Menschen predigen und sie nicht selbst lieben würde; wenn ich die
Verleugnung des Fleisches und der Welt predigen und dann mein Fleisch und die
Ehren der Welt lieben würde; wenn ich die Menschen auffordern würde, kein
Ärgernis zu geben, und dann selbst nicht nur für die Menschen, sondern auch
für die Engel zum Ärgernis würde, und so weiter? Aus dir spricht Satan in
diesem Augenblick. So wie er in Ephraim aus dir gesprochen hat, wie er so
viele Male durch dich gesprochen und gehandelt hat, um mich zu quälen. Ich
habe alle diese Werke des Satans erkannt und habe dich nicht gehaßt. Ich bin
deiner nicht müde geworden, sondern habe nur gelitten,
309
unsagbar gelitten. Wie eine
Mutter, die das Fortschreiten eines Übels beobachtet, das zum Tod des Kindes
führt. Ich habe das Fortschreiten des Übels in dir beobachtet wie ein Vater,
der zu allem bereit ist, um die Arznei für seinen kranken Sohn zu finden.
Nichts war mir zu viel, um dich zu retten. Ich habe Widerwillen, Verachtung,
Verbitterung und Entmutigung überwunden... Wie ein untröstlicher Vater und
eine Mutter, die die Vergeblichkeit aller menschlichen Bemühungen erkannt
haben und sich an den Himmel wenden, um das Leben ihres Kindes zu erhalten, so
habe ich geseufzt und seufze ich und erflehe ein Wunder, damit du dich
rettest, dich rettest, dich rettest vom Rand des Abgrunds, der sich schon
unter deinen Füßen auftut. Judas, schau mich an. Bald wird mein Blut vergossen
werden für die Sünden der Welt. Kein Tropfen meines Blutes wird mir bleiben.
Die Erde, die Steine, die Gräser, die Kleider meiner Verfolger und meine...
das Holz, das Eisen, die Stricke, die Dornen des Nabaq 1) werden es trinken...
und trinken werden es auch die Seelen, die das Heil erwarten... Du allein
willst nicht trinken? Ich würde für dich allein mein ganzes Blut geben. Du
bist mein Freund. Wie gern stirbt man für einen Freund! Um ihn zu retten! Man
sagt: "Ich sterbe, aber ich werde im Freund weiterleben, dem ich das Leben
gerettet habe." So wie eine Mutter und ein Vater auch nach ihrem Tod in ihren
Kindern weiterleben. Judas, ich flehe dich an! Ich bitte dich um nichts
anderes an diesem Vorabend meines Todes. Selbst die Richter und die Feinde
gewähren dem Verurteilten eine letzte Gnade, erfüllen ihm einen letzten
Wunsch. Ich bitte dich, verdamme dich nicht selbst. Ich bitte nicht so sehr
den Himmel darum als dich, deinen guten Willen... Denke an deine Mutter,
Judas. Was wird aus deiner Mutter werden? Was aus dem Namen deiner Familie?
Ich appelliere an deinen Stolz, der größer ist denn je. Verteidige deine Ehre.
Entehre dich nicht, Judas. Denke nach, Jahre und Jahrhunderte werden vergehen,
Reiche und Regierungen werden fallen, die Sterne werden verblassen und die
Oberfläche der Erde wird sich verändern, und du wirst immer Judas sein, so wie
Kain immer Kain ist, wenn du in deiner Sünde verharrst. Die Jahrhunderte
werden ein Ende haben. Nur Himmel und Hölle werden bleiben. Und im Himmel oder
in der Hölle werden auf ewig und mit Leib und Seele die auferstandenen
Menschen sein, dort, wohin die Gerechtigkeit sie schickt. Und du wirst immer
Judas, der Verfluchte, sein, der größte Sünder, wenn du nicht umkehrst. Ich
werde hinabsteigen und die Seelen aus dem Limbus befreien. Ich werde die
Scharen aus dem Fegfeuer herausführen. Und dich, dich werde ich nicht
mitnehmen können... Judas, ich gehe dem Tod entgegen, glücklich gehe ich ihm
entgegen, denn die Stunde ist gekommen, auf die ich seit Jahrtausenden
gewartet habe: die Stunde der Vereinigung
_________
1) Nabaq = eine im Vorderen
Orient heimische Art des Christusdorn
310
der Menschen mit ihrem Vater.
Viele werde ich nicht mit dem Vater vereinigen können. Aber im Sterben wird
mir der Anblick der großen Zahl der Geretteten ein Trost sein in meinem
unendlichen Schmerz, für so viele vergeblich gestorben zu sein. Und ich sage
dir, es wird schrecklich sein, dich unter diesen sehen zu müssen, dich, meinen
Apostel und Freund. Bereite mir nicht diesen unmenschlichen Schmerz... ! Ich
will dich retten, Judas. Retten. Schau. Wir gehen zum Fluß hinab. Morgen früh,
wenn alle noch schlafen, werden wir beide ihn überqueren, und du gehst nach
Bozrah, nach Arbela oder nach Aera, wohin du willst. Du kennst die Häuser der
Jünger. In Bozrah kannst du Joachim und Maria, die von mir geheilte
Aussätzige, aufsuchen. Ich werde dir einen Brief für sie mitgeben. Ich werde
schreiben, daß du aus Gesundheitsgründen Ruhe und eine Luftveränderung
brauchst. Das ist die Wahrheit, denn du bist an der Seele krank, und die Luft
Jerusalems wäre für dich tödlich. Aber sie werden glauben, du seist körperlich
krank. Du kannst bleiben, bis ich dich hole. Um deine Gefährten kümmere ich
mich... aber komm nicht nach Jerusalem. Siehst du, ich wollte keine Frauen bei
mir haben, mit Ausnahme der Starkmütigsten und derer, die als Mütter das Recht
haben, bei ihren Söhnen zu sein.»
«Auch meine?»
«Nein. Maria wird nicht in
Jerusalem sein...»
«Sie ist doch auch die Mutter
eines Apostels und hat dich immer verehrt.»
«Ja, und sie hätte wie die
anderen das Recht, in meiner Nähe zu sein, da sie mich aufrichtig liebt. Aber
gerade deshalb wird sie nicht dabei sein. Ich habe ihr befohlen, nicht
hinzugehen, und sie weiß zu gehorchen.»
«Warum darf sie nicht dort sein?
Was ist denn bei ihr anders als bei der Mutter deiner Brüder und der Söhne des
Zebedäus?»
«Du. Und du weißt, warum ich das
sage. Aber wenn du auf mich hörst und nach Bozrah gehst, dann werde ich deine
Mutter benachrichtigen und zu dir begleiten lassen, damit sie, die so gut ist,
dir hilft, gesund zu werden. Oh, glaube mir, nur wir lieben dich so, über alle
Maßen. Drei sind es im Himmel, die dich lieben: der Vater, der Sohn und der
Heilige Geist, die dich betrachten und darauf warten, daß dein guter Wille
siegt, um aus dir die Perle der Erlösung zu machen, die reichste dem Abgrund
entrissene Beute. Und drei sind es auf Erden: ich, deine Mutter und meine
Mutter. Schenke uns dieses Glück, Judas! Uns im Himmel und uns auf Erden, die
wir dich mit wahrer Liebe lieben.»
«Du sagst es: Nur drei sind es,
die mich lieben; die anderen... nicht.»
«Nicht so wie wir. Aber sie
lieben dich sehr. Elisa hat dich verteidigt. Die anderen sind alle in Sorge um
dich gewesen. Wenn du fern von uns bist, bist du in den Herzen aller, und dein
Name ist auf ihren Lippen. Du weißt nicht, wieviel Liebe dich umgibt. Dein
Unterdrücker verbirgt es dir. Aber meinem Wort kannst du glauben.»
311
«Ich glaube dir und ich will
versuchen, dich zufriedenzustellen. Aber ich will es allein schaffen. Ich habe
allein gefehlt, und ich muß mich selbst von meinem Übel heilen.»
«Gott allein kann aus eigener
Kraft handeln. Dein Gedanke ist Ausdruck deines Stolzes, und im Stolz ist
wieder Satan. Sei demütig, Judas. Ergreife die Hand, die ich dir als Freund
anbiete. Flüchte dich an dieses Herz, das sich dir schützend öffnet. Hier bei
mir kann Satan dir nichts anhaben.»
«Ich habe versucht, bei dir zu
bleiben... und doch bin ich immer tiefer gesunken... Es ist nutzlos!»
«Sage das nicht! Sage das nicht!
Weise die Mutlosigkeit von dir. Gott kann alles. Halte dich fest an Gott.
Judas! Judas!»
«Schweige, damit die anderen dich
nicht hören...»
«Du denkst an die anderen und
nicht an deine Seele? Armer Judas ... !»
Jesus sagt nichts mehr. Aber er
bleibt an der Seite des Apostels, bis die Frau, die einige Meter
vorausgegangen ist, ein Haus zwischen dichten Ölbäumen betritt. Da sagt Jesus
zu seinem Jünger: «Ich werde heute Nacht nicht schlafen. Ich werde für dich
beten und auf dich warten... Möge Gott zu deinem Herzen sprechen. Und du, höre
auf ihn... Ich werde bis zum Morgengrauen hierbleiben, wo ich jetzt bin, und
beten... Denk daran.»
Judas gibt keine Antwort. Die
anderen und die Frauen sind nun auch angekommen, und alle warten auf die
Rückkehr der Samariterin. Es dauert nicht lange, bis sie mit einer Frau
wiederkommt, die ihr sehr gleicht und die zu ihnen sagt: «Ich habe nicht viele
Räume, denn die Holzfäller, die an den Ölbäumen arbeiten, sind schon da. Aber
ich habe eine große Scheune, und es liegt viel Stroh darin. Für die Frauen
habe ich Platz. Kommt.»
«Geht nur. Ich werde hierbleiben
und beten. Der Friede sei mit euch allen», sagt Jesus. Und während die anderen
sich entfernen, hält er seine Mutter zurück und sagt: «Ich bleibe und bete für
Judas, meine Mutter. Hilf auch du mir...»
«Ich werde dir helfen, mein Sohn.
Kehrt vielleicht in Judas der gute Wille zurück?»
«Nein, Mama. Aber wir müssen so
tun, als ob... Der Himmel kann alles, Mama!»
«Ja, und ich kann mich immer noch
täuschen. Du nicht, mein Sohn. Du weißt. Mein heiliger Sohn! Aber ich werde
immer tun, was du tust. Geh beruhigt, mein Liebster. Auch wenn du nicht mehr
mit ihm sprechen kannst, da er dich fliehen wird, werde ich versuchen, ihn dir
zurückzubringen. Wenn nur der allerheiligste Vater meinen Schmerz erhört...
Kann ich bei dir bleiben, Jesus? Wir beten zusammen... Und ich werde dich
einige Stunden für mich allein haben ...»
312
«Bleibe, Mama. Ich erwarte dich
hier.»
Maria geht und kommt bald wieder.
Sie setzen sich auf ihre Taschen am Fuß eines Ölbaumes. In der tiefen Stille
hört man das Rauschen des nahen Flusses, und laut ertönt das Zirpen der
Grillen im großen Schweigen der Nacht. Dann beginnen die Nachtigallen zu
schlagen. Und ein Käuzchen lacht, und eine Eule weint. Und langsam ziehen die
Sterne über das Firmament, Könige nun, da das Licht des schon untergegangenen
Mondes nicht mehr über sie herrscht. Ein heller Hahnenschrei dringt durch die
ruhige Luft. In der Ferne, kaum hörbar, antwortet ein anderer Hahn. Dann
unterbricht der Harfenton der vom Dach auf die das Haus umgebenden Steine
fallenden Tropfen die Stille. Dann ein Rascheln im Laub der Bäume, als wolle
es den Tau der Nacht abschütteln, und hier und da der leise Ruf eines
erwachenden Vogels; und gleichzeitig verändert sich der Himmel, erwacht auch
das Licht. Der Morgen bricht an. Und Judas ist nicht gekommen...
Jesus sieht die Mutter an, die
weiß wie eine Lilie vor dem dunklen Stamm des Ölbaumes sitzt, und sagt zu ihr:
«Wir haben gebetet, Mutter. Gott wird Verwendung finden für unser Gebet...»
«Ja, mein Sohn. Du bist bleich
wie der Tod. Du hast heute Nacht wirklich deine ganze Kraft erschöpft, um das
Tor des Himmels zu öffnen und die Beschlüsse Gottes zu beeinflussen.»
«Auch du bist bleich, Mutter.
Groß ist deine Müdigkeit.»
«Groß ist mein Schmerz über
deinen Schmerz.»
Die Haustür wird vorsichtig
geöffnet... Jesus fährt zusammen. Aber es ist nur die Frau, die sie begleitet
hat und die nun geräuschlos das Haus verläßt. Jesus seufzt: «Ich habe gehofft,
daß ich mich getäuscht haben könnte.»
Die Frau kommt mit dem leeren
Korb heran. Sie bemerkt Jesus, grüßt ihn und will weitergehen. Doch er ruft
sie und sagt zu ihr: «Der Herr möge dir alles vergelten. Auch ich möchte es
tun, doch ich habe nichts bei mir.»
«Ich verlange nichts, Rabbi.
Keinen Lohn. Nur eines möchte ich, wenn ich auch kein Geld will. Und das
kannst du mir geben!»
* Was, Frau?»
* ... daß sich das Herz meines
Mannes wandelt. Und das kannst du bewirken, denn du bist wahrhaft der Heilige
Gottes.»
«Geh in Frieden. Du wirst
erhalten, um was du bittest. Leb wohl.»
Die Frau geht rasch in Richtung
ihres offensichtlich sehr traurigen Hauses. Maria bemerkt: «Noch eine
Unglückliche. Deshalb ist sie so gut... !»
An der Scheunentür erscheint der
zerzauste Kopf des Petrus, und hinter diesem das strahlende Antlitz des
Johannes; dann das strenge Profil des Thaddäus, das dunkle Gesicht des Zeloten
und das schmale Gesicht des
313
Knaben Benjamin... Alle sind sie
wach. Aus dem Haus kommt als erste Maria von Magdala, hinter ihr Nike, und
dann die anderen. Als alle beisammen sind und die Frau, die sie aufgenommen
hat, einen Eimer schäumender Milch gebracht hat, erscheint auch Iskariot. Er
hat den Verband abgenommen, aber ein blutunterlaufener Fleck bedeckt die halbe
Stirn, während das Auge mit dem violetten Ring noch finsterer blickt. Jesus
sieht ihn an. Judas sieht Jesus an und wendet dann den Kopf zu Seite.
Jesus sagt zu ihm: «Kaufe von der
Frau soviel sie uns geben kann. Wir gehen voraus. Du kannst uns nachkommen.»
Nachdem Jesus sich von der Frau
verabschiedet hat, macht er sich auch wirklich auf den Weg. Alle folgen ihm.
631. DIE BEGEGNUNG MIT DEM
REICHEN JÜNGLING
Wieder ein sehr schöner
Aprilmorgen. Erde und Himmel entfalten ihre ganze frühlingshafte Pracht. Alles
atmet Licht, Gesang, Duft, und die Luft ist voller Licht, festlichen Stimmen,
Liebe und Wohlgeruch. Ein kurzer Regen muß in der Nacht gefallen sein, denn
die Straßen sind dunkel und staubfrei, aber nicht schlammig. Er hat die Halme
und Blätter gewaschen, die nun, strahlend vor Sauberkeit, in einer sanften
Brise erzittern, die von den Bergen über die fruchtbare Ebene vor Jericho
weht. Von den Ufern des Jordan steigen ständig Leute herauf, die von der
anderen Seite übergesetzt haben oder auf dem Weg am Fluß entlang gekommen sind
und nun auf der Straße weiterwandern, die direkt nach Jericho und Doko führt,
wie die Wegweiser anzeigen. Und unter den vielen Hebräern, die sich von allen
Seiten nach Jerusalem zum Fest begeben, befinden sich auch Händler aus anderen
Regionen und Hirten mit den blökenden, nichtsahnenden Opferlämmern.
Viele erkennen und grüßen Jesus.
Es sind dies Hebräer aus Peräa, der Dekapolis und noch weiter entfernten
Orten. Auch eine Gruppe von Caesarea Paneas ist dabei. Und Hirten, die, da sie
mit ihren Herden ein nomadenähnliches Dasein führen, den Meister kennen, ihm
schon irgendwo einmal begegnet sind oder durch die Jünger von ihm gehört
haben.
Einer verbeugt sich vor Jesus und
sagt: «Darf ich dir das Lamm schenken ?»
«Du sollst das Lamm nicht
verschenken, Mann. Es ist dein Verdienst.»
«Oh, es ist meine Dankbarkeit. Du
erinnerst dich nicht an mich. Aber ich mich an dich. Ich bin einer von den
vielen, die du geheilt hast. Du hast meinen Hüftknochen, der mir sehr zu
schaffen machte, wiederhergestellt, was keinem anderen gelungen war. Ich gebe
dir das Lamm sehr gerne. Das schönste, das ich habe. Dieses hier. Für das
Freudenmahl. Ich weiß, daß
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du für das Opfer eines kaufen
mußt. Aber für das Freudenmahl. Du hast mir so viel gegeben. Nimm es,
Meister.»
«Ja, nimm es doch. Es ist
gespartes Geld. Oder vielmehr: auf diese Weise können wir wenigstens essen;
denn mit all dieser Verschwendung habe ich kein Geld mehr», sagt Iskariot.
«Verschwendung? Aber wir haben
doch seit Sichern nicht das Geringste mehr ausgegeben!» sagt Matthäus.
«Auf jeden Fall habe ich kein
Geld mehr. Das letzte habe ich Merod gegeben.»
«Hör zu, Mann», sagt Jesus zu dem
Hirten, um Judas zum Schweigen zu bringen, «ich gehe jetzt nicht nach
Jerusalem und kann das Lamm nicht mitnehmen. Sonst würde ich es gerne
annehmen, um dir zu zeigen, daß ich dein Geschenk schätze.»
«Aber später wirst du in die
Stadt gehen und an den Festtagen wirst du dort sein. Du wirst eine Unterkunft
haben. Sage mir, wo sie sich befindet, und ich werde das Lamm deinen Freunden
übergeben...»
«Ich habe nichts dergleichen...
Aber in Nob habe ich einen alten, armen Freund. Höre mir gut zu: Am Tag nach
dem Ostersabbat wirst du in der Frühe nach Nob gehen und Johannes, dem
Ältesten von Nob – alle kennen ihn – sagen: "Dieses Lamm schickt dir Jesus von
Nazareth, dein Freund, damit du diesen Tag mit einem Freudenmahl feiern
kannst; denn eine größere Freude als die heutige gibt es für die wahren
Freunde des Christus nicht." Wirst du das tun?»
«Wenn du es willst, werde ich es
tun.»
«Du wirst mir damit eine Freude
machen. Nicht vor dem Tag nach dem Sabbat, vergiß es nicht. Und erinnere dich
der Worte, die ich dir gesagt habe. Geh nun. Der Friede sei mit dir. Und
bewahre dein Herz in diesem Frieden in künftigen Tagen. Vergiß auch dies nicht
und glaube weiterhin an meine Wahrheit. Leb wohl.»
Menschen sind herbeigekommen, um
das Gespräch mitanzuhören, und sie gehen erst auseinander, als der Hirte seine
Herde antreibt und sie so zwingt, sich zu zerstreuen. Jesus folgt im
Kielwasser der Herde.
Die Leute flüstern: «Also geht er
wirklich nach Jerusalem? Aber weiß er denn nicht, daß er mit dem Bann belegt
ist?»
«Nun, niemand kann einem Sohn des
Gesetzes verbieten, am Passahfest vor dem Herrn zu erscheinen. Ist er eines
öffentlichen Vergehens schuldig? Nein. Denn, wenn er es wäre, hätte ihn der
Statthalter gefangennehmen lassen, wie den Barabbas.»
Und andere: «Hast du das gehört?
Er hat weder Unterkunft noch Freunde in Jerusalem. Sollten ihn denn alle
verlassen haben? Auch der von den Toten Erweckte? Das ist aber eine schöne
Dankbarkeit!»
«Schweige! Die beiden dort sind
die Schwestern des Lazarus. Ich bin aus der Gegend von Magdala und kenne sie
gut. Wenn die Schwestern
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bei ihm sind, beweist das, daß
die Familie des Lazarus ihm treu geblieben ist.»
«Vielleicht wird er es nicht
wagen, in die Stadt hineinzugehen.»
«Da hat er recht.»
«Gott wird es ihm verzeihen, wenn
er draußen bleibt.»
«Es ist nicht seine Schuld, wenn
er nicht zum Tempel hinaufgehen kann.»
«Er ist klug und weise. Wenn er
gefangengenommen würde, wäre alles zu Ende, bevor seine Stunde gekommen ist.»
«Gewiß ist er noch nicht bereit,
zu unserem König ausgerufen zu werden, und will daher nicht in Gefangenschaft
geraten.»
«Man sagt, daß er, während man
ihn in Ephraim vermutete, viele Orte und sogar die Nomadenstämme aufgesucht
habe, um seine Anhänger und Truppen vorzubereiten und sich die Hilfe mächtiger
Leute zu sichern.»
«Wer hat dir denn das erzählt?»
«Das sind die üblichen Lügen. Er
ist der heilige König und kein König, der ein Heer anführt.»
«Vielleicht wird er das
zusätzliche Passahfest feiern. Da ist es leichter, unbemerkt zu bleiben. Das
Synedrium wird nach den Festtagen aufgelöst, und die Synedristen gehen nach
Hause, um bei der Ernte dabeizusein. Bis Pfingsten werden sie sich dann nicht
wieder versammeln.»
«Und wenn die Synedristen fort
sind, wer soll ihm dann noch schaden 9 Sie sind die wahren Schakale!»
«Hin... Ob er so vorsichtig sein
wird? Das wäre zu menschlich. Er ist mehr als ein Mensch, und seine Klugheit
wird ihn nicht feige werden lassen.»
«Feige? Warum? Man kann doch
jemandem nicht Feigheit nachsagen, nur weil er sich für seine Mission schont.»
«Es wäre trotzdem Feigheit, denn
Gott ist wichtiger als jede Mission, und der Dienst Gottes hat Vorrang vor
allen anderen Dingen.»
Dies sind die Gespräche, die
geführt werden. Jesus tut, als ob er nichts hören würde.
Judas des Alphäus bleibt stehen,
um auf die Frauen zu warten, die mit dem Knaben etwa dreißig Schritte
zurückgeblieben sind, und sagt, als sie ihn eingeholt haben, zu Nike: «Ihr
habt aber viel verschenkt, nachdem wir Sichern verlassen haben.»
«Warum?»
«Judas hat keinen Pfennig mehr.
Deine neuen Sandalen, Benjamin, können wir vergessen. Es ist halt Schicksal.
Nach Thersa konnten wir nicht hineingehen, und selbst wenn wir es gekonnt
hätten, wäre kein Geld dagewesen, um etwas zu kaufen... Du wirst eben so nach
Jerusalem gehen müssen...»
«Zuerst kommt Bethanien», sagt
Martha lächelnd.
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«Und vorher kommt Jericho und
mein Haus», sagt Nike ebenfalls lächelnd.
«Und zuallererst komme ich. Ich
habe es ihm versprochen und ich werde mein Versprechen halten. Das ist eine
Reise der Erfahrungen! Nun weiß ich, was es heißt, keine Didrachme mehr zu
besitzen. Nun werde ich erfahren, was es heißt, aus Not etwas verkaufen zu
müssen», sagt Maria von Magdala.
«Aber was willst du denn
verkaufen, Maria, da du doch keinen Schmuck mehr trägst?» fragt Martha
verwundert.
«Meine großen silbernen
Haarnadeln. Es sind viele. Aber um diese unnütze Last zu halten, genügen auch
Nadeln aus Eisen. Ich werde sie verkaufen. Jericho ist voll von Leuten, die
solche Dinge kaufen. Heute ist Markttag, und auch morgen, wie immer bei
solchen Anlässen!»
«Aber Schwester!»
«Was? Du nimmst Ärgernis daran,
daß man mich für arm genug halten könnte, die silbernen Haarnadeln verkaufen
zu müssen? Oh, hätte ich dir immer nur diese Art von Ärgernis gegeben! Es war
doch viel schlimmer, als ich mich, ohne in Not zu sein, an mein eigenes und
das Laster anderer verkauft habe.»
«Schweig doch! Da ist ein Knabe,
der nichts davon weiß.»
«Er weiß noch nichts davon.
Vielleicht weiß er noch nicht, daß ich einst die Sünderin war. Morgen aber
würde er es von denen erfahren, die mich hassen, weil ich nicht mehr die von
früher bin. Und vielleicht würden sie ihm auch Dinge erzählen, die ich – so
groß meine Sünde auch gewesen sein mag – nicht getan habe. Es ist daher
besser, er erfährt von mir, was der Herr vermag, der ihn aufgenommen hat: Er
hat aus einer Sünderin eine Büßerin gemacht und aus einer Toten eine
Auferstandene. Aus mir, der im Geist Toten, und aus Lazarus, dem körperlich
Toten, hat er zwei Lebende gemacht. Denn das haben wir dem Rabbi zu verdanken,
o Benjamin! Denke immer daran und liebe ihn von ganzem Herzen, denn er ist
wahrlich der Sohn Gottes.»
Ein Stau auf der Straße hat Jesus
aufgehalten, und so holen ihn die Apostel und die Frauen ein. Jesus sagt:
«Geht ihr schon voraus nach Jericho. Wenn ihr wollt, könnt ihr auch in die
Stadt hineingehen. Ich gehe nach Doko mit diesem hier. Am Abend werde ich
wieder bei euch sein.»
«Ach, warum schickst du uns weg?
Wir sind nicht müde», protestieren alle.
«Weil ich möchte, daß ihr, oder
wenigstens einige von euch, die Jünger benachrichtigen, daß ich morgen bei
Nike sein werde.»
«Wenn es so ist, Herr, werden wir
gehen. Kommt, Elisa, und du, Johanna, du, Susanna und Martha. Wir werden alles
vorbereiten», sagt Nike.
«Und ich und das Kind werden
einkaufen gehen. Segne uns, Meister, und komm bald wieder. Und du, Mutter,
bleibst du?»
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«Ja, ich bleibe bei meinem Sohn.»
Sie trennen sich. Bei Jesus
bleiben nur die drei Marien: seine Mutter, deren Schwägerin Maria des Kleophas
und Maria Salome.
Jesus verläßt die Straße nach
Jericho und nimmt einen Seitenweg, der nach Doko führt. Kurz darauf stoßen sie
auf eine Karawane, die ich weiß nicht woher kommt, eine reiche Karawane, die
gewiß von sehr weit her kommt, denn die Frauen reiten auf Kamelen in
schwankenden Aufbauten oder Sänften auf den Höckern der Tiere, während die
Männer auf feurigen Pferden oder anderen Kamelen reiten. Ein junger Mann löst
sich aus der Gruppe. Er läßt sein Kamel niederknien, gleitet aus dem Sattel
und geht auf Jesus zu. Ein rasch herbeigeeilter Diener hält das Kamel am Zaum.
Der Jüngling wirft sich vor Jesus
auf die Knie, verneigt sich tief und sagt: «Ich bin Philippus des Kanatha und
Sohn wahrer Israeliten, und ich bin ein wahrer Israelit geblieben. Bis zum Tod
meines Vaters war ich ein Jünger des Gamaliel; dann mußte ich das Geschäft
übernehmen. Mehr als einmal habe ich dir zugehört. Ich kenne deine Werke. Ich
strebe ein besseres Leben an, um das ewige Leben zu erwerben, das du denen
verheißen hast, die dein Reich in ihrem Innern errichten. Sage mir also, guter
Meister: was muß ich tun, um das ewige Leben zu haben?»
«Warum nennst du mich gut? Gott
allein ist gut.»
«Du bist der Sohn Gottes und gut
wie dein Vater. Oh, sage mir, was ich tun muß.»
«Um in das ewige Leben
einzugehen, mußt du die Gebote halten.»
«Welche, mein Herr? Die alten
oder deine Gebote?»
«In den alten sind meine Gebote
enthalten. Meine Gebote ändern nichts an den alten. Es sind immer dieselben:
Du sollst mit wahrer Liebe den einen, wahren Gott anbeten und die Vorschriften
des Kultes befolgen; du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht Ehebruch
begehen, kein falsches Zeugnis ablegen, Vater und Mutter ehren und dem
Nächsten nicht schaden, sondern ihn lieben wie dich selbst. Wenn du dies tust,
wirst du das ewige Leben erwerben.»
«Meister, alle diese Dinge habe
ich von Kindheit an befolgt.»
Jesus schaut ihn liebevoll an und
fragt sanft: «Und es scheint dir noch nicht genug zu sein?»
«Nein, Meister. Das Reich Gottes
in uns und im anderen Leben ist etwas Großes. Eine unendliche Gabe ist Gott,
der sich uns schenkt. Ich fühle, daß alles, was Pflicht ist, zu wenig ist im
Vergleich zum Allumfassenden, Unendlichen, Vollkommenen, der sich uns schenkt,
und ich glaube, daß wir ihn verdienen müssen durch Größeres als das, was
verlangt wird, um nicht verdammt zu werden und ihm wohlgefällig zu sein.»
«Du hast recht. Um vollkommen zu
sein, fehlt dir noch eines. Wenn du vollkommen sein willst, wie unser Vater im
Himmel es wünscht, geh hin,
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verkaufe, was du hast, und gib es
den Armen; dann wirst du einen Schatz im Himmel haben und vom Vater geliebt
werden, der seinen Schatz für die Armen auf Erden hingegeben hat. Dann komm
und folge mir nach.»
Der Jüngling wird traurig und
nachdenklich. Dann steht er auf und sagt: «Ich werde deinen Rat bedenken ...»
und er entfernt sich betrübt.
Judas lächelt spöttisch und
murmelt: «Also bin ich nicht der einzige, der das Geld liebt!»
Jesus wendet sich um und schaut
ihn an... Dann schaut er die anderen elf Gesichter an, die ihn umgeben, und
seufzt: «Wie schwer ist es für einen Reichen, ins Himmelreich einzugehen, denn
sein Tor ist schmal und der Weg dorthin beschwerlich, und wer beladen ist mit
der großen Last der Reichtümer kann ihn nicht gehen noch das Tor
durchschreiten. Um dort einzugehen, darf man nur geistige Schätze der Tugend
sammeln und muß sich von aller Anhänglichkeit an irdische und eitle Dinge
befreien.» Jesus ist sehr traurig...
Die Apostel schauen einander
heimlich an...
Jesus fährt fort, während er der
Karawane des reichen Jünglings, die sich entfernt, nachblickt: «Wahrlich, ich
sage euch, leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher in den
Himmel.»
«Aber wer kann dann gerettet
werden? Durch das Elend wird man oft zum Sünder, aus Neid oder mangelnder
Achtung vor dem Eigentum anderer, oder aus Zweifel an der Vorsehung. Der
Reichtum ist ein Hindernis für die Vollkommenheit... Wer also kann dann noch
gerettet werden?»
Jesus schaut sie an und sagt:
«Was für die Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich, denn für ihn ist
alles möglich. Es genügt, daß der Mensch ihm, seinem Herrn, mit gutem Willen
hilft. Guten Willen haben heißt, den erhaltenen Rat annehmen und sich bemühen,
den Reichtümern entsagen zu lernen und frei zu werden. Frei von allen
irdischen Banden, um Gott nachfolgen zu können. Denn die wahre Freiheit hat
der Mensch erlangt, wenn er der Stimme Gottes folgt, die ihre Befehle leise
seinem Herzen eingibt, wenn er weder der Sklave seiner selbst, noch der Welt,
und daher auch nicht der Sklave Satans ist. Der Mensch soll die herrliche
Willensfreiheit gebrauchen, die Gott ihm geschenkt hat, um frei und
ausschließlich das Gute zu wollen und so das ewig strahlende, freie, selige
Leben zu erlangen. Auch der Sklave des eigenen Lebens soll man nicht sein,
wenn man sich, um es zu erhalten, dem Willen Gottes widersetzt. Ich habe es
euch gesagt: "Wer sein Leben verliert aus Liebe zu mir und um Gott zu dienen,
wird es für alle Ewigkeit gewinnen."»
«Schau! Wir haben alles
verlassen, um dir zu folgen, auch die erlaubten Dinge. Was werden wir dafür
erhalten? Werden wir in dein Reich eingehen?» fragt Petrus.
«Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch, alle, die mir auf diese Weise nachgefolgt sind und auch in Zukunft
nachfolgen werden – denn man hat
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immer Zeit, um die bisher
begangenen Fehler und Sünden wiedergutzumachen, man hat immer Zeit, solange
man auf Erden weilt und Tage bleiben, in denen man für das begangene Böse
Sühne leisten kann – sie werden mit mir in meinem Reich sein. Wahrlich, ich
sage euch, ihr, die ihr mir nachgefolgt seid und wiedergeboren wurdet, werdet
auf Thronen sitzen und die Stämme der Erde richten, zusammen mit dem
Menschensohn, der auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen wird. Wahrlich, ich
sage euch noch, jeder, der aus Liebe zu meinem Namen Haus, Felder, Vater,
Mutter, Brüder, Frau, Kinder und Schwestern verläßt, um die Frohe Botschaft zu
verbreiten und mein Nachfolger in dieser Welt zu sein, wird das Hundertfache
in dieser Zeit und das ewige Leben in der kommenden Zeit haben.»
«Aber wenn wir alles verlieren,
wie können wir dann unseren Besitz hundertfach vermehren?» fragt Judas von
Kerioth.
«Ich wiederhole euch: Was den
Menschen unmöglich ist, das ist Gott möglich. Und Gott wird denen das
Hundertfache an geistiger Freude geben, die es als Menschen in dieser Welt
verstanden haben, Kinder Gottes zu sein, also geistige Menschen. Sie werden
wahre Freude hier und im Jenseits erleben. Und weiter sage ich euch, nicht
alle, die scheinbar die Ersten sind und es auch sein müßten, da sie mehr als
alle anderen empfangen haben, sind wirklich die Ersten. Und nicht alle, die
scheinbar die Letzten sind, und weniger als die Letzten, da sie scheinbar
nicht zu meinen Jüngern und nicht einmal zum auserwählten Volk gehören, werden
die Letzten sein. Wahrlich, viele der Ersten werden die Letzten sein, und
viele der Letzten, Allergeringsten, werden die Ersten sein... Aber dort ist
schon Doko. Geht alle voraus, mit Ausnahme des Judas von Kerioth und des
Zeloten. Geht und kündigt mich denen an, die mich brauchen.»
Und Jesus wartet mit den beiden
zurückgebliebenen Aposteln auf die drei Marien, die in einigem Abstand folgen.
632. DRITTE ANKÜNDIGUNG DES
LEIDENS; DIE MUTTER DER SÖHNE DES ZEBEDÄUS
Das Morgengrauen erhellt kaum den
Himmel und macht das Gehen noch schwierig, als Jesus das stille Doko verläßt.
Gewiß hört niemand das Geräusch der Schritte, denn sie gehen vorsichtig, und
die Leute schlafen noch in den verschlossenen Häusern. Keiner spricht, bis sie
außerhalb der Stadt auf den Feldern sind, die langsam im spärlichen Licht in
ihrem taufrischen Glanz erwachen.
Dann sagt Iskariot: «Den Weg
haben wir umsonst gemacht. Man hat uns um die Nachtruhe gebracht. Es wäre
besser gewesen, nicht hierher zu kommen.»
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«Die wenigen, die wir angetroffen
haben, haben uns nicht schlecht behandelt. Sie haben die Nacht geopfert, um
uns anzuhören und um in die benachbarten Ortschaften zu gehen und die Kranken
zu holen. Es war sogar sehr gut, daß wir gekommen sind. Denn die, die aus
Krankheits- oder anderen Gründen nicht hoffen konnten, den Herrn in Jerusalem
zu sehen, haben ihn hier gesehen und sind mit der Heilung oder mit anderen
Gnaden getröstet worden. Die übrigen, das wissen wir, sind schon nach
Jerusalem aufgebrochen. Es ist ja Sitte bei uns, daß alle, die nur irgendwie
können, bereits einige Tage vor dem Fest dort eintreffen», sagt Jakobus des
Alphäus sanft; er ist immer sanft, ganz im Gegensatz zu Judas von Kerioth, der
auch in guten Stunden heftig und herrisch ist.
«Eben weil auch wir nach
Jerusalem gehen, war es unnötig, hierher zu kommen. Sie hätten uns dort gehört
und gesehen ...»
«Die Frauen und die Kranken aber
nicht...» unterbricht ihn Bartholomäus und kommt damit Jakobus zu Hilfe.
Judas tut, als hätte er nichts
gehört, und fährt fort: «Wenigstens glaube ich, daß wir nach Jerusalem gehen,
denn nach dem Gespräch mit dem Hirten bin ich nicht mehr sicher...»
«Und wohin sollen wir denn gehen,
wenn nicht dorthin?» fragt Petrus.
«Bah! Ich weiß es nicht. Es ist
alles so unwirklich, was wir seit einigen Monaten tun, alles so
unvorhergesehen, so unvernünftig, sogar so ungerecht, daß ...»
«He du! Ich habe dich in Doko
Milch trinken sehen, aber jetzt redest du wie ein Betrunkener! Wo siehst du
denn die Ungerechtigkeiten?» fragt Jakobus des Zebedäus mit nichts Gutes
verheißenden Augen. Und er fügt hinzu: «Genug des Tadels an dem Gerechten!
Hast du verstanden? Es reicht. Du hast nicht das Recht, ihn zu tadeln. Niemand
hat das Recht dazu, denn der Meister ist vollkommen, und wir... Keiner von uns
ist es, und du am allerwenigsten.»
«Aber ja! Wenn du krank bist,
dann laß dich heilen, aber ärgere uns nicht mit deinem Genörgel. Wenn du
Launen hast, dort ist der Meister. Laß dich heilen und sei still!» sagt
Thomas, der die Geduld verliert.
Jesus ist mit Judas des Alphäus
und Johannes zurückgeblieben, um den Frauen behilflich zu sein, für die es
ungewohnt und mühevoll ist, im Halbdunkel auf einem schlechten Weg zu gehen,
der noch finsterer ist als die Felder, da er durch einen dichten Olivenhain
führt. Jesus spricht eifrig mit den Frauen, ohne auf das zu achten, was vorne
geschieht und was alle, die ihn umgeben, hören können. Denn wenn man die Worte
auch nicht versteht, so merkt man doch am Tonfall, daß es keine sanften Worte
sind, sondern daß es sich eher um einen Streit handelt. Die beiden Apostel
Thaddäus und Johannes schauen sich an, sagen jedoch nichts. Sie schauen Jesus
und Maria an. Aber Maria hat sich so in ihren Mantel gehüllt, daß man kaum ihr
Gesicht sieht, und Jesus hört anscheinend nichts. Doch
321
als ihre Unterhaltung beendet ist
– sie haben von Benjamin und seiner Zukunft gesprochen und von der Witwe Sara
von Apheca, die sich in Kapharnaum niedergelassen hat und eine liebevolle
Mutter geworden ist, nicht nur für das Kind aus Gischala, sondern auch für die
kleinen Söhne der Frau aus Kapharnaum, die nach ihrer Wiederverheiratung die
Kinder aus ihrer ersten Ehe nicht mehr liebte und dann starb, «so elendiglich
' daß man wahrhaft die Hand Gottes bei ihrem Tod erkennen konnte», wie Salome
sagt – geht Jesus mit Judas Thaddäus schneller weiter, um die Apostel
einzuholen, nachdem er noch gesagt hat: «Bleib nur, Johannes, wenn du willst.
Ich gehe und antworte dem Unruhigen und stifte Frieden.»
Doch da der Weg nun offener und
heller wird, eilt auch Johannes, der noch ein kleines Stück mit den Frauen
gegangen ist, nach vorn und erreicht die anderen gerade in dem Augenblick, als
Jesus sagt: «Sei also beruhigt, Judas. Wir werden nichts Unvernünftiges tun,
wie wir es auch bisher nicht getan haben. Und auch jetzt tun wir nichts
Unvorhersehbares. Denn zum jetzigen Zeitpunkt ist vorhersehbar, daß jeder
wahre Israelit, der nicht durch Krankheit oder andere schwerwiegende Gründe
verhindert ist, zum Tempel hinaufgeht. Und auch wir gehen zum Tempel.»
«Aber nicht alle. Wie ich gehört
habe, wird Margziam nicht dabei sein. Ist er vielleicht krank? Warum kommt er
nicht mit? Glaubst du etwa, daß ihn der Samariter ersetzen kann?» Der Ton des
Judas ist unerträglich...
Petrus knurrt: «0 Klugheit, feßle
meine Zunge, denn ich bin nur ein Mensch!» Und er preßt die Lippen fest
aufeinander, um nichts mehr zu sagen. Seine großen Augen haben einen rührenden
Ausdruck und lassen die Anstrengung erkennen, die es den Mann kostet, seine
Verachtung und seine Betrübnis darüber zu verbergen, Judas so sprechen zu
hören.
Die Gegenwart Jesu gebietet allen
Schweigen. Er allein spricht und sagt mit wahrhaft göttlicher Ruhe: «Kommt
etwas näher, damit die Frauen uns nicht hören. Seit einigen Tagen schon habe
ich euch etwas zu sagen. Ich habe es euch in den Feldern bei Thersa
versprochen. Aber ich wollte, daß ihr alle da seid und es hört. Ihr alle. Die
Frauen nicht. Lassen wir sie in ihrem einfachen Frieden... Aus dem, was ich
euch zu sagen habe, geht auch hervor, weshalb weder Margziam bei uns sein
wird, noch deine Mutter, Judas von Kerioth, und auch nicht deine Töchter,
Philippus, und die Jüngerinnen von Bethlehem in Galiläa mit dem Mädchen. Es
gibt Dinge, die nicht alle ertragen können. Ich, der Meister, weiß wohl, was
für meine Jünger gut ist und wieviel sie ertragen oder nicht ertragen können.
Nicht einmal ihr seid stark genug, um die Prüfung ertragen zu können. Und es
wäre eine Gnade für euch, wenn ihr nicht dabei sein müßtet. Aber ihr müßt ja
mein Werk fortsetzen und wissen, wie schwach ihr seid, um in Zukunft
barmherzig mit den Schwachen zu sein. Daher könnt ihr nicht ausgeschlossen
werden von dieser schrecklichen Prüfung, die euch zeigen wird, was ihr seid,
was ihr geblieben seid nach drei Jahren des Zusammenseins
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mit mir, und was ihr nach diesen
drei Jahren bei mir geworden seid. Ihr seid zwölf. Und ihr seid fast
gleichzeitig zu mir gekommen. Die wenigen Tage, die zwischen meiner Begegnung
mit Jakobus, Johannes und Andreas und dem Tag liegen, an dem auch du, Judas
von Kerioth, als einer der Unseren angenommen wurdest; die Tage, die vergangen
sind, bis ihr, Jakobus, mein Bruder, und du, Matthäus, mir gefolgt seid,
können einen so großen Unterschied in eurer Formation nicht rechtfertigen. Ihr
wart alle, auch du, gelehrter Bartholomäus, auch ihr, meine Brüder, sehr
unwissend, absolut unwissend, was euer Wissen über meine Lehre betrifft.
Vielmehr erschwerte es euch eure Bildung in den Lehren des alten Israel, die
besser war als die anderer euresgleichen, euch auf meine Art zu bilden. Und
keiner von euch hat die ausreichende Wegstrecke zurückgelegt, die euch alle an
ein einziges Ziel gebracht hätte. Einer hat es fast erreicht, andere haben
sich ihm genähert, andere sind weiter entfernt, wieder andere sind noch weit
zurück, und einige... ja, ich muß auch dies sagen, einige sind rückwärts
anstatt vorwärts gegangen. Seht einander nicht so an. Sucht nicht zu wissen,
wer von euch der Erste und wer der Letzte ist. Wer vielleicht glaubt, der
Erste zu sein, und auch von den anderen dafür gehalten wird, hat noch viel zu
lernen. Und wer glaubt, der Letzte zu sein, ist im Begriff, wie ein Stern am
Himmel zu erstrahlen. Daher sage ich euch noch einmal: Urteilt nicht. Die
Tatsachen werden für sich selbst sprechen. Jetzt versteht ihr noch nicht. Aber
bald, sehr bald werdet ihr an meine Worte denken und sie verstehen.»
«Wann wird dies sein? Du hast
versprochen, uns zu sagen und auch zu erklären, warum die Reinigung am
Passahfest dieses Jahr anders sein wird. Doch du sagst es uns nie ...» beklagt
sich Andreas.
«Gerade darüber wollte ich mit
euch sprechen. Sowohl über das eine, wie über das andere, denn es ist
dasselbe, und nur eines liegt beidem zugrunde. Wir gehen nun zum Passahfest
nach Jerusalem. Und dort wird sich alles erfüllen, was durch die Propheten vom
Menschensohn geschrieben steht. Wahrlich, genauso wie es die Propheten gesehen
haben, wie es im Befehl an die Hebräer in Ägypten zum Ausdruck kam, wie es
Moses in der Wüste geboten wurde, so wird das Lamm Gottes nun geopfert werden.
Und bald wird sein Blut die Schwellen der Herzen benetzen, und der Engel
Gottes wird vorüberziehen und die nicht schlagen, die voll Liebe das Blut des
geopferten Lammes an sich tragen; des Lammes, das nun wie die Schlange aus
kostbarem Erz am Kreuz erhöht werden wird, zum Zeichen für die von der
höllischen Schlange Verwundeten, zum Heil derer, die es mit Liebe betrachten.
Der Menschensohn, euer Meister Jesus, wird nun bald in die Hände der
Oberhäupter der Priesterschaft, der Schriftgelehrten und der Ältesten gegeben
werden, die ihn zum Tod verurteilen und den Heiden überliefern werden, damit
sie ihn verhöhnen. Und er wird Backenstreiche und Stockschläge erhalten und
angespien und in verächtlichster
323
Weise durch die Straßen
geschleift werden, und die Heiden werden ihn, nachdem er gegeißelt und mit
Dornen gekrönt wurde, wie einen Verbrecher zum Tod am Kreuz verurteilen,
nachdem das in Jerusalem versammelte hebräische Volk seinen Tod dem Tod eines
Räubers vorgezogen hat. Er wird also getötet werden. Aber wie es bei den
Propheten heißt, wird er nach drei Tagen wieder auferstehen. Dies ist die
Prüfung, die euch erwartet. Und bei dieser Prüfung wird sich zeigen, wie weit
ihr auf dem Weg zur Vollkommenheit vorangeschritten seid. Wahrlich, ich sage
euch ' euch allen, die ihr euch so vollkommen glaubt, daß ihr jene verachtet,
die nicht aus Israel sind, und sogar viele aus unserem eigenen Volk...
wahrlich, ich sage euch, ihr, der auserwählte Teil meiner Herde, werdet,
sobald euch euer Hirte genommen ist, von Angst gejagt fliehen und euch
zerstreuen, wie wenn die Wölfe, die mich von allen Seiten hetzen, auch hinter
euch her wären. Doch ich sage euch, fürchtet euch nicht. Kein Haar wird euch
gekrümmt werden. Ich werde genügen, um die wütenden Wölfe zu sättigen...»
Je länger Jesus spricht, desto
mehr gleichen die Apostel Geschöpfen, die in einen Steinhagel geraten sind.
Sie sinken immer tiefer in sich zusammen während der Rede Jesu, und als er
schließlich sagt: «Und was ich euch sage, steht nun unmittelbar bevor. Es ist
nicht wie bisher, da noch Zeit blieb bis zu meiner Stunde. Jetzt ist die
Stunde gekommen. Ich gehe, um meinen Feinden überliefert und zum Heil aller
geopfert zu werden. Und diese Knospe wird, nachdem sie geblüht hat, noch nicht
alle ihre Blütenblätter verloren haben, da werde ich schon tot sein», da
bedecken die einen ihr Gesicht mit den Händen, und die anderen stöhnen, als
wären sie verwundet. Iskariot ist totenblaß, fast blau im Gesicht...
Der erste, der sich faßt, ist
Thomas, und er erklärt: «Das wird dir nicht geschehen, denn wir werden dich
verteidigen oder zusammen mit dir sterben. Damit werden wir beweisen, daß wir
dir ähnlich geworden sind an Vollkommenheit und daß unsere Liebe zu dir
vollkommen ist.»
Jesus sieht ihn wortlos an.
Bartholomäus sagt nach einem
langen, nachdenklichen Schweigen: «Du hast gesagt, daß man dich überliefern
wird... Aber wer ... ? Wer kann dich den Händen deiner Feinde überliefern? Das
steht nicht in den Prophezeiungen... Nein... Das steht nicht darin. Es wäre zu
schrecklich, wenn einer deiner Freunde, einer deiner Jünger, einer deiner
Anhänger, selbst der Geringste von allen, dich jenen überliefern würde, die
dich hassen. Nein! Wer dich mit Liebe angehört hat, und sei es auch nur ein
einziges Mal, der kann dieses Verbrechen nicht begehen. Es sind doch Menschen
und keine Raubtiere oder Dämonen... Nein, mein Herr. Und nicht einmal die, die
dich hassen, können es... Sie fürchten das Volk, und das ganze Volk wird sich
um dich scharen!»
Jesus sieht auch Nathanael an und
sagt nichts.
324
Petrus und der Zelote reden sehr
hitzig miteinander. Jakobus des Zebedäus fährt seinen Bruder an, da er ihn so
ruhig sieht, und Johannes antwortet: «Weil ich es schon seit drei Monaten weiß
...» und dabei rinnen Tränen über sein Gesicht.
Die Söhne des Alphäus reden mit
Matthäus, der betrübt sein Haupt schüttelt.
Andreas wendet sich an Iskariot:
«Du hast doch so viele Freunde im Tempel...»
«Johannes kennt Annas ebenfalls»,
entgegnet Judas und fügt hinzu: «Was kann man da machen? Was glaubst du, was
ein Menschenwort vermag, wenn es so bestimmt ist?»
«Glaubst du das wirklich?» fragen
Thomas und Andreas gleichzeitig.
«Nein. Ich glaube gar nichts. Es
ist blinder Alarm. Bartholomäus hat recht. Das ganze Volk wird sich um Jesus
scharen. Man sieht das doch schon an denen, denen wir begegnen. Es wird ein
Triumph werden. Ihr werdet schon sehen, daß es so sein wird», sagt Judas von
Kerioth.
«Aber warum sagt er dann ...»
meint Andreas und deutet auf Jesus, der stehengeblieben ist, um auf die Frauen
zu warten.
«Warum er es sagt? Weil er
unruhig ist... und weil er uns prüfen will. Aber es wird nichts geschehen. Im
übrigen will ich gehen...»
«O ja! Geh, vielleicht hörst du
etwas!» bettelt Andreas.
Alle schweigen, denn Jesus folgt
ihnen wieder, seine Mutter und Maria des Alphäus zur Seite.
Maria lächelt schwach, als ihre
Schwägerin ihr Samen zeigt, die sie, ich weiß nicht wo, gefunden hat und die
sie nach dem Passahfest in Nazareth säen will, gleich bei der Grotte, die
Maria so sehr liebt: «Als du noch ein kleines Mädchen warst, hattest du, ich
erinnere mich, immer diese Blumen in den Händchen. Du nanntest sie die Blumen
deiner Ankunft. Tatsächlich war der Garten, als du geboren wurdest, voll von
diesen Blüten; und an jenem Abend, als ganz Nazareth herbeieilte, um die
Tochter des Joachim zu sehen, ließen die Tropfen vom Himmel und die letzten
Strahlen der untergehenden Sonne die Büschel dieser Sterne wie Diamanten
aufleuchten. Und da du "Stern" genannt wurdest, sagten alle, die die vielen
kleinen strahlenden Blütensterne sahen: "Die Blumen haben sich geschmückt, um
die Blume des Joachim zu feiern, und die Sterne haben den Himmel verlassen, um
zum Stern zu kommen." Und alle lächelten und waren glücklich und freuten sich
über dieses Zeichen und über die Freude deines Vaters. Und Joseph, der Bruder
meines Mannes, sagte: "Sterne und Tropfen. Es ist wirklich Maria!" Wer hätte
ihm damals gesagt, daß du einmal sein Stern werden würdest. Als er aus
Jerusalem als dein erwählter Bräutigam zurückkehrte, wollte ganz Nazareth ihn
feiern. Denn die ihm vom Himmel zuteil gewordene Ehre war groß, und groß die
Ehre der Hochzeit mit dir, der Tochter des Joachim und der Anna. Alle
325
wollten ihn feiern. Doch er
lehnte sanft, aber entschieden jegliches Fest ab und überraschte alle damit;
denn welcher Mann, dem eine ehrenvolle Hochzeit bevorsteht ist und der noch
dazu ein solches Zeichen des Allerhöchsten erhalten hat, feiert nicht die
Freude der Seele, des Fleisches und des Blutes? Aber er sagte nur: "Eine große
Berufung braucht eine große Vorbereitung." Und mit großer Enthaltsamkeit
selbst im Sprechen und Essen – denn jede andere Enthaltsamkeit hatte er schon
immer geübt – verbrachte er betend und arbeitend die Zeit. Denn ich glaube,
jeder Schlag seines Hammers und jeder Stoß seines Meißels wurde zum Gebet,
wenn man Arbeit als Gebet ansehen kann. Sein Gesicht war wie verklärt. Ich
ging öfters hin, um das Haus in Ordnung zu bringen und die Leintücher und
andere von deiner Mutter hinterlassene Wäschestücke zu bleichen, die mit der
Zeit gelb geworden waren, und ich betrachtete ihn, während er im Garten und im
Haus arbeitete, um beide wieder so schön herzurichten, als ob sie nie
vernachlässigt worden wären. Ich habe auch mit ihm gesprochen. Doch er war
immer wie geistesabwesend. Er lächelte. Aber das Lächeln galt nicht mir oder
anderen, sondern einem Gedanken, der nicht der Gedanke eines Mannes vor der
Hochzeit war; denn dies ist ein Lächeln spitzbübischer, sinnlicher Freude...
Er, Joseph, schien unsichtbaren Engeln Gottes zuzulächeln, mit ihnen zu reden
und sich mit ihnen zu beraten... Oh, ich bin sicher, daß die Engel Joseph
unterwiesen haben, wie er dich zu behandeln hätte. Denn danach, eine weitere
Überraschung für Nazareth und beinahe ein Ärgernis für meinen Alphäus, schob
er die Hochzeit so lange als möglich auf, und niemand verstand, warum er sich
dann so plötzlich vor der festgesetzten Zeit entschloß. Auch als man erfuhr,
daß du Mutter geworden warst, wie staunte da ganz Nazareth über seine
selbstvergessene Freude... ! Aber auch mein Jakobus gleicht ihm ein wenig. Und
er gleicht ihm immer mehr. Nun, da ich ihn genau betrachte... Ich weiß nicht
weshalb, aber seit wir nach Ephraim gegangen sind, scheint er mir ganz
verändert zu sein. Ich erkenne in ihm... Joseph wieder. Schau ihn dir an,
Maria, nun, da er sich wieder umdreht und uns ansieht. Hat er nicht denselben
gesammelten Ausdruck, den Joseph, dein Mann, immer hatte? Und das Lächeln, von
dem ich nicht weiß, ob ich es traurig oder abwesend nennen soll. Schau nur, er
blickt in die Ferne, über uns hinweg, so wie es Joseph oft getan hat.
Erinnerst du dich, wie Alphäus ihn geneckt hat, wie er zu ihm sagte: "Bruder,
siehst du immer noch die Pyramiden?" und wie Joseph wortlos das Haupt
schüttelte, geduldig und geheimnisvoll in seine Gedanken vertieft. Er hat
immer nur sehr wenig gesprochen. Aber nachdem du von Hebron zurückgekehrt
bist! Da kam er nicht einmal mehr wie früher und wie alle anderen zum Brunnen.
Er war immer bei dir oder bei der Arbeit. Außer am Sabbat, wenn er in die
Synagoge ging, oder wenn er auswärts geschäftlich zu tun hatte, kann niemand
sagen, Joseph in diesen Monaten unterwegs
326
gesehen zu haben. Dann mußtet ihr
abreisen... Welche Angst haben wir ausgestanden, als wir nach dem Kindermord
nichts über euch in Erfahrung bringen konnten! Alphäus ging bis nach
Bethlehem. "Sie sind abgereist", sagte man ihm. Aber wie konnte man den Leuten
glauben, da man euch in dieser Stadt so sehr haßte, wo das unschuldige Blut
noch alles rötete und die Ruinen noch rauchten, und wo man euch die Schuld für
dieses Blutvergießen gab? Er ging nach Hebron, und dann in den Tempel, denn
Zacharias war an der Reihe. Elisabeth konnte ihm nur Tränen geben, und
Zacharias hatte nur Worte des Trostes. Beide hatten sie Angst um Johannes. Sie
fürchteten neue Gewalttaten, hielten ihn deshalb versteckt und zitterten um
ihn. Von euch wußten sie überhaupt nichts, und Zacharias sagte zu Alphäus:
"Wenn sie tot sind, dann ist ihr Blut über mir, denn ich habe sie veranlaßt,
in Bethlehem zu bleiben." Meine Maria! Mein Jesus, der so schön war am
Passahfest nach seiner Geburt! Und man wußte nichts... so lange Zeit! Warum
habt ihr uns niemals eine Nachricht zukommen lassen?»
«Weil es besser war zu schweigen.
Dort, wo wir uns aufhielten, gab es viele, die Maria und Joseph hießen, und es
war besser, für irgendein Ehepaar unter vielen gehalten zu werden», antwortet
Maria ruhig, und sie seufzt: «Es waren trotz ihrer Traurigkeit noch glückliche
Tage. Das Böse war noch so fern! Wenn wir als Menschen auch viel entbehren
mußten, der Geist nährte sich von der Freude, dich zu besitzen, mein Sohn!»
«Auch jetzt hast du ihn, deinen
Sohn, Maria. Joseph fehlt, das ist wahr. Aber Jesus ist hier mit seiner ganzen
Liebe als Erwachsener», bemerkt Maria des Alphäus.
Maria erhebt das Haupt, um ihren
Sohn zu betrachten. Und großer Schmerz liegt in ihrem Blick, obgleich der Mund
etwas lächelt. Doch sie sagt kein Wort.
Die Apostel sind stehengeblieben,
um auf sie zu warten, und sind nun wieder alle beisammen; auch Jakobus und
Johannes, die mit ihrer Mutter weit zurückgeblieben waren. Während sie sich
vom langen Gehen ausruhen und einige etwas Brot essen, nähert sich die Mutter
des Jakobus und des Johannes Jesus und wirft sich vor ihm nieder. Jesus hat
sich nicht einmal gesetzt und hat es eilig, sich wieder auf den Weg zu machen.
Da sie ihn offensichtlich um
etwas bitten will, fragt Jesus sie: «Was willst du, Frau? Sprich.»
«Gewähre mir eine Gnade, bevor du
fortgehst, wie du sagst.»
«Und welche?»
«Sage, daß diese meine Söhne, die
alles für dich verlassen haben, einer zu deiner Rechten und der andere zu
deiner Linken sitzen sollen, wenn du in deiner Herrlichkeit in deinem Reich
auf dem Thron sitzen wirst.»
Jesus schaut die Frau und dann
die beiden Apostel an und sagt: «Ihr
327
habt eure Mutter auf diesen
Gedanken gebracht und also meine Verheißungen von gestern völlig falsch
verstanden. Das Hundertfache dessen, was ihr verlassen habt, werdet ihr nicht
in einem Reich auf dieser Welt erhalten. Seid nun auch ihr gierig und töricht
geworden? Nein, es ist nicht eure Schuld. Die trübe Dämmerung der Finsternis
breitet sich schon aus, und die verpestete Luft des nahen Jerusalem verdirbt
und blendet euch... Ich sage euch, ihr wißt nicht, um was ihr mich bittet!
Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?»
«Wir können es, Herr.»
«Wie könnt ihr dies sagen, da ihr
nicht einmal verstanden habt, wie bitter mein Kelch sein wird? Es wird nicht
nur die Bitterkeit sein, die ich euch gestern geschildert habe, meine
Bitterkeit als Mann aller Schmerzen. Es werden auch Qualen sein, die ihr nicht
begreifen könntet, selbst wenn ich sie euch beschreiben würde... Und doch,
obwohl ihr noch zwei Kindern gleicht, die nicht wissen, worum sie bitten, so
seid ihr doch auch zwei ehrliche und mich liebende Seelen und werdet von
meinem Kelch trinken. Aber das Sitzen zu meiner Rechten und zu meiner Linken,
das habe nicht ich zu vergeben, sondern es wird denen zuteil werden, denen
mein Vater es vorbehalten hat.»
Während Jesus noch redet, empören
sich die anderen Apostel über die Bitte der Söhne des Zebedäus und ihrer
Mutter. Petrus sagt zu Johannes: «Auch du! Ich erkenne dich nicht wieder als
den, der du immer gewesen bist!»
Und Iskariot sagt mit seinem
hämischen Lächeln: «Wahrlich, die Ersten werden die Letzten sein! Welch eine
Zeit der Erkenntnisse und der Überraschungen ...» Und er wird ganz grün vor
Hohn.
«Sind wir etwa der Ehren wegen
dem Meister gefolgt?» rügt Philippus.
Thomas wendet sich an Maria
Salome anstatt an die beiden und sagt: «Warum beschämst du deine Söhne? Wenn
sie nicht nachgedacht haben, dann hättest du es tun sollen, um dies zu
vermeiden.»
«Das ist wahr. Unsere Mutter
hätte nicht so gehandelt», sagt Thaddäus.
Bartholomäus spricht nicht, aber
sein Gesicht drückt seine ganze Mißbilligung aus.
Simon der Zelote sagt, um die
Entrüsteten zu beruhigen: «Alle können wir Fehler machen...»
Matthäus, Andreas und Jakobus des
Alphäus schweigen und leiden sichtlich unter dem Vorfall, der auf die schöne
Vollkommenheit des Johannes einen Schatten wirft.
Jesus gebietet Schweigen durch
eine Geste und sagt: «Sollen nun aus einem Fehler viele werden? Ihr, die ihr
entrüstet tadelt, merkt ihr denn nicht, daß ihr selbst sündigt? Laßt eure
Brüder in Ruhe. Mein Tadel genügt. Ihre Beschämung ist offensichtlich, und
ihre Reue demütig und
328
aufrichtig. Ihr müßt euch
gegenseitig lieben und helfen. Denn wahrlich, keiner von euch ist schon
vollkommen. Ihr dürft die Welt und die Menschen in ihr nicht nachahmen. Ihr
wißt, daß in der Welt die Herrscher der Völker sie unterjochen und die Großen
in ihrem Namen Gewalt an ihnen verüben. Aber bei euch soll es nicht so sein.
Ihr sollt nicht danach trachten, die Menschen oder eure Gefährten zu
beherrschen. Wer unter euch der Größte sein will, soll euer Diener sein, und
wer unter euch der Erste sein will, soll euer Knecht sein. So wie es euch euer
Meister gezeigt hat. Bin ich etwa gekommen, um euch zu unterdrücken und zu
beherrschen? Oder um mich bedienen zu lassen? Nein. Wahrlich, nein. Ich bin
gekommen, um zu dienen. Und so, wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um
sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben zur Rettung
vieler hinzugeben, so sollt auch ihr handeln, wenn ihr sein wollt, wie ich bin
und wo ich bin. Nun geht. Und bleibt in Frieden untereinander, wie ich es mit
euch bin.»
Jesus sagt mir:
«Ich weise ausdrücklich darauf
hin: ihr werdet von meinem Kelch trinken." In den Übersetzungen steht: "meinen
Kelch". Ich habe gesagt: "von meinem", nicht "meinen". Kein Mensch hätte
meinen Kelch trinken können. Nur ich, der Erlöser, mußte meinen ganzen Kelch
austrinken. Gewiß, meinen Jüngern, denen, die mich nachahmen und lieben, ist
es gewährt, von dem Kelch zu trinken, den ich getrunken habe, den Tropfen, den
Schluck oder die Schlücke, den die Auserwählung durch Gott ihnen zu trinken
gewährt. Aber niemals wird irgend jemand den ganzen Kelch trinken, wie ich ihn
getrunken habe. Daher ist es richtig zu sagen: "von meinem Kelch" und nicht
"meinen Kelch".» 1)
633. IN JERICHO VOR DEM BESUCH IN
BETHANIEN
Schon zeichnen sich die weißen
Mauern der Häuser von Jericho mit ihren Palmen gegen den tiefblauen Himmel ab,
ein Blau wie Keramik oder Emaille, als bei einem Wäldchen aus zerzausten
Tamarinden, zarten Mimosen, Weißdorn mit seinen langen Dornen und anderen,
meist stacheligen Gewächsen, die der rauhe Berg hinter Jericho dort
ausgestreut haben könnte, Jesus einer großen, von Manaen angeführten Schar
Jünger begegnet. Sie scheinen auf ihn gewartet zu haben, bestätigen dies auch,
nachdem sie den Meister begrüßt haben, und fügen hinzu, daß einige andere Wege
gegangen sind, um etwas über ihn zu erfahren, da die um eine ganze Nacht
verspätete Ankunft in Jericho sie beunruhigt hat.
«Ich bin mit diesen hierher
gekommen. Und ich werde dich nicht mehr verlassen, bis ich dich bei Lazarus in
Sicherheit weiß», sagt Manaen.
_______________-
1) Im Aramäischen, der Sprache
Jesu, gibt es keinen Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ; Jesus kann also
sehr wohl "von meinem Kelch" gesagt haben.
329
«Warum? Besteht eine Gefahr... ?»
fragt Judas Thaddäus.
«Ihr seid in Judäa... Ihr kennt
das Dekret. Und auch den Haß. Es ist also alles zu befürchten», antwortet
Manaen, und zu Jesus gewandt erklärt er: «Ich habe die stärksten Männer
mitgebracht, denn es war anzunehmen, daß du hier vorüberkommen würdest, wenn
sie dich noch nicht gefangengenommen haben. Und durch unser Ansehen als Jünger
und Männer haben wir gehofft, die Bösewichter genügend zu beeindrucken, daß
sie dich respektieren.»
Tatsächlich sind bei ihm die
früheren Schüler Gamaliels, der Priester Johannes, Nikolaus von Antiochia,
Johannes von Ephesus und andere kräftige Männer in den besten Jahren und
besonders vornehmen Aussehens, deren Namen ich jedoch nicht kenne. Einige von
ihnen stellt Manaen eiligst vor, andere nicht. Männer aus allen Gegenden
Palästinas, darunter zwei vom Hof des Herodes Philippus. Namen der ältesten
Familien Israels sind zu hören auf der Straße bei dem zerzausten Wäldchen, in
dem der Wind die Blättchen der Mimosen erzittern macht und die neuen Triebe
das Weißdorns wiegt.
«Gehen wir. Ist niemand mit den
Frauen bei Nike?» fragt Jesus.
«Die Hirten. Alle außer Jonathan,
der Johanna im Palast von Jerusalern erwartet. Aber deine Jünger sind
außerordentlich zahlreich geworden. Gestern haben annähernd Fünfhundert in
Jericho auf deine Ankunft gewartet. Die Diener des Herodes waren so beunruhigt
darüber, daß sie es ihrem Herrn mitteilten. Und Herodes wußte nicht, ob er
sich fürchten oder ob er einschreiten sollte. Doch die Erinnerung an Johannes
sitzt ihm noch zu sehr in den Gliedern, und er getraut sich nicht mehr, seine
Hand gegen einen Propheten zu erheben...»
«Gut! Dieser wird dir nicht mehr
schaden!» ruft Petrus aus und reibt sich zufrieden die Hände.
«Er ist aber auch der, der am
wenigsten gilt. Er ist ja nur ein Götze, den jeder nach Gefallen herumschiebt,
und jene, die ihn in der Hand haben, verstehen es, ihn zu manipulieren.»
«Wer hat ihn denn in der Hand?
Pilatus vielleicht?» fragt Bartholomäus.
«Pilatus braucht Herodes nicht,
um handeln zu können. Herodes ist ein Diener, und die Mächtigen befragen ihre
Diener nicht», antwortet Manaen.
«Wer ist es dann?» fragt
Bartholomäus.
«Der Tempel!» sagt einer der
Männer, die bei Manaen sind, entschieden.
«Aber für den Tempel ist Herodes
ein Verfluchter. Sein Verbrechen...»
«Du bist sehr naiv, trotz deines
Wissens und deiner Jahre, Bartholomäus. Du weißt also nicht, daß der Tempel
viele, viel zu viele Dinge übersehen kann, wenn er nur sein Ziel erreicht? Und
deshalb ist er nicht mehr würdig fortzubestehen», sagt mit einer Geste
gestrenger Verachtung Manaen.
330
«Du bist ein Israelit und darfst
nicht so reden. Der Tempel ist immer noch der Tempel für uns», mahnt
Bartholomäus.
«Nein, er ist nur noch der
Kadaver dessen, was er einst war. Und ein Kadaver verwandelt sich in unreines
Aas, wenn der Tod schon vor längerer Zeit eingetreten ist. Deshalb hat Gott
den lebenden Tempel gesandt, damit wir vor dem Herrn niederknien können, ohne
daß es zu einer schmutzigen Komödie wird.»
«Schweig!» flüstert jemand in
seiner Nähe Manaen zu, denn dieser spricht zu deutlich. Es ist einer von
denen, die nicht vorgestellt worden sind, und er ist ganz verhüllt.
«Warum sollte ich schweigen, wenn
mein Herz so spricht? Meinst du, meine Reden könnten dem Meister schaden? Wenn
es so ist, werde ich schweigen. Aus keinem anderen Grund. Auch wenn sie mich
verurteilen würden, wüßte ich noch zu sagen: "So denke ich. Daher bestraft
mich und nicht andere."»
«Manaen hat recht. Wir haben
lange genug ängstlich geschwiegen. Nun ist die Zeit gekommen, da jeder seinen
Standort beziehen und sagen muß, wie er fühlt, ob er nun dafür oder dagegen
ist. Ich denke wie du, Bruder in Jesus. Und wenn uns dies den Tod bringt, dann
werden wir mit dem Bekenntnis der Wahrheit auf den Lippen sterben», sagt
Stephanus mit Nachdruck.
«Seid vorsichtig! Seid klug!»
mahnt Bartholomäus. «Der Tempel ist immer noch der Tempel. Er geht seinem Ende
entgegen, er ist gewiß nicht vollkommen, aber noch besteht er! Nach Gott gibt
es keinen größeren Menschen und keine höhere Macht als den Hohenpriester und
das Synedrium. Sie repräsentieren Gott. Und wir müssen in ihnen das sehen, was
sie repräsentieren, nicht das, was sie sind. Irre ich mich vielleicht, Meister
?»
«Du irrst dich nicht. In jeder
Institution muß man ihren Ursprung sehen. In diesem Fall den ewigen Vater, der
den Tempel und die Hierarchien begründet hat, die Riten und die Autorität der
Menschen, die bestimmt sind, ihn zu vertreten. Man muß dem Vater das Urteil
überlassen. Er weiß, wann und wie er einschreiten muß, wie er Vorsorge treffen
muß, damit die sich ausbreitende Korruption nicht alle Menschen verdirbt und
sie an Gott zweifeln läßt... Das hat Manaen richtig erkannt, als er auf den
Grund meines Kommens in dieser Stunde hingewiesen hat. Du mußt endlich mit dem
Geist der Erneuerung Manaens deine Unbeweglichkeit überwinden, Bartholomäus,
damit das Maß gerecht wird und das Gefühl stimmt. Jede Übertreibung ist immer
gefährlich. Für den, der übertreibt, für den, der darunter leidet, und für
den, der daran Anstoß nimmt und, wenn er nicht aufrichtigen Herzens ist, davon
Gebrauch macht, um seine Brüder anzuklagen. Aber das ist die Tat eines Kain.
Und die Kinder des Lichtes werden ein solches Werk der Finsternis nicht tun.»
331
Der ganz in seinen Mantel
gehüllte Mann, von dem man kaum die schwarzen lebhaften Augen sieht und der
Manaen gemahnt hat, nicht zu viel zu reden, kniet nun nieder, ergreift die
Hand Jesu und sagt: «Du bist gut, Meister. Zu spät habe ich dich
kennengelernt, o Wort Gottes! Aber noch rechtzeitig, um dich zu lieben, wie du
es verdienst, wenn ich dir auch nicht mehr so lange dienen kann wie ich
möchte, wie ich es jetzt gerne tun würde.»
«Es ist nie zu spät für die
Stunde Gottes. Sie kommt zur rechten Zeit. Sie gewährt genügend Zeit, um der
Wahrheit zu dienen, wenn der Wille vorhanden ist.»
«Aber wer ist denn das?» flüstern
die Aposteln untereinander und fragen die Jünger. Es nützt nichts. Niemand
weiß, wer er ist, oder wer es weiß, will es nicht sagen.
«Wer ist das, Meister?» fragt
Petrus, als es ihm gelungen ist, sich Jesus zu nähern, der mitten in der
Gruppe geht, hinter sich die Frauen, vor sich die Jünger, an den Seiten die
Vettern und rings herum die Apostel.
«Eine Seele, Simon. Nichts weiter
als das.»
«Aber... traust du ihm denn,
obwohl du nicht weißt, wer es ist?»
«Ich weiß, wer es ist, und ich
kenne sein Herz.»
«Ach so! Ich habe verstanden! Es
ist genauso wie bei der Verschleierten vom "Trügerischen Gewässer"... Ich
werde keine Fragen mehr stellen...» Und Petrus ist glücklich, denn Jesus läßt
Jakobus gehen und nimmt ihn an seine Seite.
Sie haben Jericho nun erreicht.
Aus dem Tor strömen die Menschen mit Hosanna-Rufen, und Jesus kommt nur mit
Mühe voran und durch die Stadt zum Haus Nikes, das auf der anderen Seite von
Jericho außerhalb der Stadt liegt. Man bittet ihn zu reden. Kinder werden in
die Höhe gehalten und bilden eine beinahe unüberwindliche, lebendige Mauer;
denn viele verlassen sich auf die Liebe Jesu zu den Kindern. Rufe werden laut:
«Du kannst sprechen. Der dort... ist schon nach Jerusalem geflohen ...»und man
deutet bei diesen Worten auf den herrlichen und verschlossenen Palast des
Herodes.
Manaen bestätigt: «Es ist wahr.
Er ist in der Nacht heimlich aufgebrochen. Er hat Angst.»
Doch nichts kann Jesus aufhalten.
Er geht weiter und sagt: «Friede! Friede! Wer Leid oder Schmerzen hat, soll zu
Nike kommen. Wer mich hören will, soll nach Jerusalem gehen. Ich bin nur als
Pilger hier, so wie ihr alle. Im Haus des Vaters werde ich sprechen. Friede!
Friede und Segen! Friede!»
Es ist schon ein kleiner Triumph,
ein Vorspiel des Einzugs in Jerusalem, der nun so nahe bevorsteht.
Ich wundere mich über die
Abwesenheit des Zachäus, bis ich ihn am Rand von Nikes Besitz inmitten seiner
Freunde, der Hirten und der
332
Jüngerinnen stehen sehe. Alle
eilen Jesus entgegen, werfen sich vor ihm nieder und folgen ihm dann, während
er segnend durch den Obstgarten und auf das gastliche Haus zugeht.
634. JESUS SPRICHT ZU UNBEKANNTEN
JÜNGERN
Eine große Menschenschar hat sich
bei Nike auf den Wiesen, wo das Heu in der Sonne trocknet, versammelt. Zwei
schwere, bedeckte Wagen warten in der Nähe der Wiesen. Ich verstehe den Grund
dieses Wartens, als ich sehe, daß alle Jüngerinnen sich zu den Wagen begeben
und einsteigen, nachdem der Meister sie entlassen und gesegnet hat. Auch
Maria, die allerseligste Jungfrau, und der Knabe von Ennon gehen mit den
Jüngerinnen; und viele Jünger umgeben die Gefährte und begleiten sie, als die
Ochsen sich langsam in Bewegung setzen. Auf den Wiesen bleiben die Apostel,
Zachäus und seine Freunde, und eine kleine Gruppe ganz in ihre Mäntel
gehüllter Leute, so als wollten sie nicht erkannt werden.
Jesus geht langsam in die Mitte
der Wiese zurück und setzt sich auf einen schon halb trockenen Heuhaufen, den
man nun bald in den Heustadel bringen wird. Er ist in eine Betrachtung
vertieft, und alle achten seine innere Sammlung und warten in drei getrennten
Gruppen und in einiger Entfernung von ihm.
Die Betrachtung dauert an, und so
auch das Warten. Die Sonne scheint immer stärker und sticht auf die Wiese, die
stark nach den trocknenden Halmen riecht. Die Wartenden flüchten sich an ihren
Rand, denn dort spenden die Bäume des Obstgartens erfrischenden Schatten.
Jesus bleibt allein zurück.
Allein unter der schon heißen Sonne, in seinem weißen Linnengewand und mit der
leichten Kopfbedeckung aus Byssus, die sich in der Brise bewegt. Vielleicht
ist es das Tuch, das Syntyche gewoben hat. Aus einem nahen Stall dringt ein
langgezogenes, klagendes Muhen, und das Piepsen der Nestlinge ertönt aus dem
Gezweig der Obstbäume und von den Tennen. Nackte Vögelchen und eindringlich
schreiende Küken. Das Leben, das sich jeden Frühling erneuert. Die Tauben
kreisen in der Luft, bevor sie mit sicherem, geradem Flug in den Schlag unter
dem Dach zurückkehren. Ich weiß nicht, ob in Nikes Haus oder auf einem nahen
Feld, singt eine Frauenstimme ein sanftes Wiegenlied, und das Kinderstimmchen,
zuerst laut und zitternd wie das Klagen eines Lämmleins, wird leiser und
verstummt schließlich...
Jesus denkt nach. Er denkt noch
immer nach und scheint unempfindlich gegen die Sonne zu sein. Ich habe oft die
außergewöhnliche Widerstandsfähigkeit Jesu gegen die Witterung der
Jahreszeiten bemerkt und mich gefragt, ob er die Kälte oder Wärme besonders
spürt und sie im
333
Geist der Abtötung klaglos
erträgt, oder ob er extremer Hitze und Kälte gebietet, wie er es bei den
entfesselten Elementen getan hat. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er bei
Wolkenbrüchen bis auf die Haut naß wird und bei großer Hitze in Schweiß
ausbricht, aber ich habe nie bemerkt, daß er unter Hitze und Kälte leidet,
noch habe ich gesehen, daß er sich davor zu schützen versucht, wie es die
Menschen gegen die Extreme des Sommers oder Winters gewöhnlich tun.
Man hat mich einmal darauf
aufmerksam gemacht, daß in Palästina niemand mit unbedecktem Haupt umhergeht
und daß es deshalb falsch ist, wenn ich schreibe, Jesu blondes Haupt habe
unbedeckt in der Sonne geleuchtet. Es ist gut möglich, daß man in Palästina
nicht mit unbedecktem Haupt umhergehen kann. Ich bin nie dort gewesen und kann
dazu nichts sagen. Ich weiß nur, daß Jesus gewöhnlich unbedeckten Hauptes
wandert. Und wenn er zu Beginn einer Wanderung das Haupt bedeckt hat, so nimmt
er die Kopfbedeckung doch bald ab, so als ob sie ihn störe, und benützt das
Tuch hauptsächlich, um sich damit Staub und Schweiß vom Antlitz zu wischen.
Wenn es regnet, schlägt er einen Zipfel des Mantels über den Kopf. Und wenn
die Sonne scheint, vor allem unterwegs, sucht er den Schatten der Bäume auf,
soweit es ihn gibt, um sich vor der Sonne zu schützen. Doch nur ganz selten
hat er, so wie heute, einen leichten Schleier auf dem Haupt.
Diese Anmerkung mag manchem
unnütz erscheinen. Aber auch dies gehört zu dem, was ich sehe und höre...
Jesus denkt immer noch nach.
«Es wird ihm schaden, wenn er
noch lange dort bleibt...» meint einer aus der Gruppe, die nicht die Gruppe
der Apostel und nicht die des Zachäus ist.
«Wir wollen seine Jünger darauf
aufmerksam machen... Außerdem... ich möchte... ich möchte mich nicht zu sehr
verspäten», sagt ein anderer.
«Ja, ja. Und der Weg über die
Adummimberge ist bei Nacht unsicher...» Die Männer gehen zu den Aposteln und
reden mit ihnen.
«In Ordnung. Ich werde ihm sagen,
daß ihr gehen wollt», sagt Iskariot.
«Nein. Nicht so. Wir möchten nur
vor Einbruch der Nacht wenigstens in Ensemes sein.»
Judas entfernt sich spöttisch
lächelnd. Er neigt sich über den Meister und sagt zu ihm: «Sie sagen, daß dir
die Sonne schaden könnte. Die Wahrheit ist, daß es ihnen schaden könnte, von
zu vielen Leuten gesehen zu werden... Nun, die Juden möchten sich
verabschieden.»
«Ich komme... Ich dachte nach...
Sie haben recht», sagt Jesus und steht auf.
«Alle, nur ich nicht ...» murrt
Iskariot.
Jesus sieht ihn an und schweigt.
Sie gehen zusammen zu den Männern, die Judas Juden genannt hat.
«Ich habe doch schon alle
entlassen und gestern gesagt, daß ich erst in Jerusalem sprechen werde.»
«Das ist wahr. Aber wir möchten
mit dir reden... Können wir mit dir allein sprechen?»
334
«Stelle sie zufrieden. Sie haben
Angst vor uns, oder besser gesagt, vor mir», sagt Judas von Kerioth wiederum
mit dem Lächeln einer Schlange.
«Wir haben vor niemandem Angst.
Wenn wir gewollt hätten, hätten wir schon gewußt, wie wir unsere Ruhe
schützen. Aber noch sind nicht alle in Palästina feige. Wir sind Nachkommen
der Helden Davids, und du hast es unseren Geschlechtern zu verdanken, daß du
noch kein Sklave und Geächteter bist. Wir waren die ersten an der Seite des
heiligen Königs, wir waren die ersten an der Seite der Makkabäer, und auch
heute sind wir wieder die ersten, wenn es gilt, dem Sohn Davids Ehre zu
erweisen und Rat zu erteilen. Denn er ist groß. Aber jedes Geschöpf, so groß
es auch sein mag, kann in den entscheidenden Stunden des Lebens einen Freund
nötig haben», antwortet heftig ein Mann, dessen Kleidung ganz aus Linnen ist,
auch der Mantel und das Kopftuch, das nur wenig von dem strengen Gesicht sehen
läßt.
«Wir sind seine Freunde. Und dies
schon seit drei Jahren, seit ihr...»
«Wir kannten ihn nicht. Zu oft
sind wir getäuscht worden von einem falschen Messias, um jeder Behauptung
gleich Glauben schenken zu können. Doch die letzten Ereignisse haben uns
erleuchtet. Seine Werke sind Werke Gottes, und für uns ist er der Sohn
Gottes.»
«Und ihr meint, er hätte euch
nötig?»
«Als Sohn Gottes nicht. Als
Mensch aber schon. Er ist gekommen, um der Mensch zu sein. Und ein Mensch
braucht immer Menschen als Brüder. Im übrigen: Was fürchtest du? Warum willst
du nicht, daß wir mit ihm sprechen? Wir fragen dich.»
«Ich? Redet! Redet nur! Die
Sünder werden eher angehört als die Gerechten.»
«Judas! Ich habe geglaubt, solche
Worte müßten dir wie Feuer auf den Lippen brennen! Wie wagst du zu richten, wo
dein Meister nicht richtet? Es steht geschrieben: "Wenn eure Sünden rot wären
wie Scharlach, sie würden weiß werden wie Schnee; wenn sie rot wären wie
Purpur, sie würden weiß werden wie Wolle."»
«Aber weißt du denn nicht, daß
unter diesen...»
«Schweig! Sprecht ihr.»
«Herr, wir wissen es. Die Anklage
gegen dich ist bereit. Man beschuldigt dich, das Gesetz und den Sabbat zu
mißachten, die Samariter mehr zu lieben als uns, Zöllner und Dirnen zu
verteidigen, die Hilfe Beelzebubs und anderer finsterer Mächte in Anspruch zu
nehmen, die Schwarze Kunst auszuüben, den Tempel zu hassen und seine
Zerstörung zu wünschen, und...»
«Genug! Jeder kann anklagen.
Beweise für die Anklagen zu finden, ist schon schwieriger.»
«Aber sie haben genügend
Helfershelfer. Glaubst du denn, daß es dort drinnen Gerechte gibt?»
335
«Ich antworte euch mit den Worten
Jobs, dem Sinnbild des Geduldigen, der ich bin: "Fern sei von mir, euch allen
recht zu geben. Ich gebe meine Unschuld bis zum Tode nimmer preis. Ich halte
fest an meinem Recht und laß es nicht. Mein Herz schämt sich nicht eines
meiner Tage." Ganz Israel kann bezeugen – denn ich will mich nicht selbst
rechtfertigen mit Worten, die auch ein Lügner sagen kann – ganz Israel kann
bezeugen, daß ich immer die Ehrfurcht vor dem Gesetz gelehrt habe; mehr noch:
daß ich den Gehorsam gegenüber dem Gesetz vervollkommnet und den Sabbat nie
mißachtet habe... Was willst du sagen? Sprich! Du wolltest etwas sagen und
hast dich dann zurückgehalten. Sprich!»
Einer aus der geheimnisvollen
Gruppe sagt: «Herr, bei der letzten Sitzung des Synedriums wurde eine Anklage
gegen dich verlesen. Sie kam aus Samaria, aus Ephraim, wo du dich aufgehalten
hast, und darin wurde behauptet, daß es mehrfach bewiesen sei, daß du das
Sabbatgebot mißachtest ...»
«Und wieder antworte ich dir mit
Job: "Denn was ist die Hoffnung des Gottlosen, wenn er aus Habgier raubte und
Gott seine Seele fordert?" Dieser Unglückliche, der ein scheinheiliges Gesicht
zeigt und ein ganz anderes Herz hat, der den großen Raub aus Neid auf mein Gut
begehen will, ist schon auf dem Weg zur Hölle; und vergeblich wird er Geld
besitzen und Ehren erhoffen und davon träumen, zu erreichen, was ich nicht
erreichen wollte, um den heiligen Plan nicht zu verraten. Aber beachten wir
ihn etwa, außer um für ihn zu beten?»
«Das Synedrium hat dich aber
verlacht und gesagt: "Das ist die Liebe der Samariter! Sie klagen ihn an, um
unsere Gunst zu gewinnen."»
«Seid ihr sicher, daß es die Hand
eines Samariters war, die diese Worte geschrieben hat?»
«Nein. Aber in Samaria ist man in
diesen Tagen hart zu dir gewesen ...»
«Weil die Boten des Synedriums
Samaria aufgewiegelt, mit üblem Rat erregt und so falsche Hoffnungen geweckt
haben, die ich zunichte machen mußte. Und im übrigen steht sowohl von Ephraim
als auch von Juda geschrieben, und das gleiche kann man von allen Orten sagen,
denn das Herz der Menschen ist wankelmütig, vergißt die Wohltaten und beugt
sich den Drohungen: "Eure Liebe gleicht ja dem morgendlichen Gewölk, sie
gleicht dem Tau, der schnell vergeht." Aber das beweist noch nicht, daß die
Samariter die Ankläger des Unschuldigen sind. Eine falsche Liebe hat sie gegen
mich aufgebracht, aber es war eine Liebe, die von Sinnen war. Welchen anderen
Beweis gibt es noch? Welchen Beweis für die Anklage, daß ich die Samariter
bevorzuge?»
«Man beschuldigt dich, sie so
sehr zu lieben, daß du immer sagst: "Höre, Israel" ' anstatt zu sagen: "Höre,
Juda." Und daß du Juda nicht tadeln kannst...»
«Ist das wahr? Verläßt die
Weisheit hier die Rabbis? Bin ich denn nicht
336
das Reis der Gerechtigkeit, das
aus David entsprossen ist und durch das, wie Jeremias sagt, Juda gerettet
werden wird? Damals sah der Prophet voraus, daß Juda, ja vor allem Juda, des
Heils bedürftig sein würde. Und dieses Reis, sagt der Prophet noch, wird
genannt werden: "Der Herr, unsere Gerechtigkeit", denn, so spricht der Herr:
"Nie soll es David an einem Nachkommen fehlen, der auf dem Thron des Hauses
Israel sitzt." Und? Hat der Prophet sich geirrt? War er vielleicht trunken?
Wovon? Gewiß von der Buße, und von nichts anderem. Denn um mich anzuklagen,
wird niemand behaupten wollen, daß Jeremias ein Prasser gewesen sei. Und doch
sagt er, daß das Reis aus David Juda retten und auf dem Thron Israels sitzen
wird. Demnach müßte man sagen, daß nach den Erleuchtungen des Propheten Israel
vor Juda erwählt sein wird, daß der König nach Israel geht und es schon eine
Gnade sein wird, wenn Juda nur gerettet wird. Wird das Reich also das Reich
Israel genannt werden? Nein. Es wird das Reich Christi genannt werden. Das
Reich dessen, der die zerstreuten Teile sammeln und sie im Herrn
wiedervereinigen wird, nachdem er – nach den Worten des anderen Propheten – in
einem Monat, was sage ich, in weniger als einem Tag die drei falschen Hirten
gerichtet und verurteilt und ihnen sein Herz verschlossen hat, da auch sie ihm
ihr Herz verschlossen und ihn zwar ersehnt, aber dann nicht in seiner wahren
Natur geliebt haben. Nun wird der, der mich gesandt und mir die beiden Stäbe
gegeben hat, den einen wie den anderen zerbrechen; denn für die Grausamen soll
es keine Gnade mehr geben, und die Strafe wird nicht mehr vom Himmel, sondern
von der Welt kommen. Und nichts ist schlimmer als die Geißeln, die Menschen
über die Menschen bringen. So wird es sein. Genau so! Ich werde geschlagen,
und die Schafe werden zu zwei Dritteln zerstreut werden. Nur ein Drittel wird
sich retten und bis ans Ende ausharren. Und dieses Drittel, immer nur ein
Drittel, wird durch das Feuer gehen, durch das ich als erster gehe. Es wird
wie Silber und Gold geläutert und geprüft werden, und es wird zu ihm gesagt
werden: "Du bist mein Volk", worauf es zu mir sagen wird: "Du bist mein Herr."
Und es wird geschehen, daß für dreißig Silberlinge, dem Preis der
schrecklichen Tat, der schändliche Handel abgeschlossen wird. Und dorthin, von
wo sie hergekommen sind, werden sie nicht mehr zurückkehren können; denn
selbst die Steine würden aufschreien vor Entsetzen, wenn sie diese Münzen
sehen müßten, befleckt vom Blut des Unschuldigen und vom Schweiß des von der
schrecklichsten Verzweiflung Verfolgten. Und sie werden dazu dienen, wie es
geschrieben steht, um von den Sklaven von Babylon den Acker für die Fremden zu
kaufen. Oh, der Acker für die Fremden! Wißt ihr, wer sie sind? Jene von Juda
und Israel. Jene, die schon bald für lange Jahrhunderte kein Vaterland mehr
haben werden. Und nicht einmal der Boden ihrer früheren Heimat wird sie
aufnehmen wollen. Er wird sie ausspeien, selbst noch als Tote, weil sie das
Leben abgelehnt haben. Unendlicher Schrecken... !»
337
Jesus schweigt, wie bedrückt, und
neigt das Haupt. Dann erhebt er es wieder, blickt um sich und sieht die
Anwesenden: die Apostel, die geheimen Jünger, Zachäus mit den Seinen. Er
seufzt wie einer, der aus einem Alptraum erwacht, und sagt: «Was habt ihr
sonst noch gesagt? Ach ja, daß man mich beschuldigt, Zöllner und Dirnen zu
lieben. Das ist wahr. Sie sind die Kranken, die Sterbenden. Ich, das Leben,
schenke mich ihnen als Leben. Kommt, ihr Erlösten meiner Herde», gebietet er
Zachäus und den Seinen. «Kommt und hört meinen Befehl. Zu vielen, die weißer
sind als ihr, habe ich gesagt: "Kommt nicht nach Jerusalem." Zu euch sage ich:
"Kommt." Es mag wie eine Ungerechtigkeit aussehen...»
«Es ist eine», unterbricht ihn
Judas.
Jesus scheint ihn nicht gehört zu
haben und spricht weiter zu Zachäus und seinen Gefährten: «Aber ich sage euch:
Kommt. Gerade weil ihr Pflanzen seid, die den Tau mehr brauchen als andere,
damit euer guter Wille vom Mächtigen gestärkt werde und ihr dann frei in der
Gnade wachsen könnt. Was das übrige betrifft... so wird der Himmel selbst mit
unmißverständlichen Zeichen antworten. In Wahrheit wird der lebendige Tempel
zerstört und in drei Tagen wieder aufgerichtet werden: für ewig. Aber der tote
Tempel, der nur beben und glauben wird, gesiegt zu haben, wird zerstört
werden, um nicht wieder aufzuerstehen. Geht! Und fürchtet euch nicht. Erwartet
büßend meinen Tag, und seine Morgenröte wird euch endgültig zum Licht führen»,
sagt Jesus zu den Verhüllten. Und dann zu Zachäus: «Geht auch ihr. Aber nicht
jetzt. Seid am Morgen des Tages nach dem Sabbat in Jerusalem. An der Seite der
Gerechten will ich die Auferweckten, denn im Reich Christi gibt es unendlich
viele Plätze. So viele wie Menschen guten Willens.» Jesus begibt sich durch
den dichten, schattigen Obstgarten zum Haus Nikes.
Ein schmaler Pfad verläuft wie
ein gelbliches Band durch das Grün des Bodens, und eine gackernde Glucke
überquert ihn, gefolgt von ihren goldfarbenen Küchlein. Die Henne plustert
sich ängstlich auf vor so vielen Unbekannten, breitet schützend die Flügel aus
und gackert noch lauter, da sie einen Angriff auf ihre Brut befürchtet. Und
diese läuft piepsend herbei, versteckt sich unter den mütterlichen Federn, das
Piepsen verstummt und die Küken scheint es nicht mehr zu geben.
Jesus bleibt stehen, um die Szene
zu betrachten... und Tränen fließen über seine Wangen.
«Er weint! Warum weint er? Er
weint!» flüstern alle, die Apostel, die Jünger und die erlösten Sünder. Und
Petrus sagt zu Johannes: «Frag ihn doch, warum er weint...»
Johannes, in seiner üblichen,
etwas gebeugten Haltung der Ehrerbietung, den Blick zu Jesus erhoben, fragt:
«Warum weinst du, mein Herr? Vielleicht über das, was man dir soeben gesagt
hat und was du geantwortet hast?»
338
Jesus erwacht aus seinen
Gedanken, lächelt traurig und sagt, wobei er auf die Gluckhenne zeigt, die
weiterhin liebevoll ihre Brut beschützt: «Auch ich, eins mit dem Vater, sah
Jerusalem, so wie es bei Ezechiel geschrieben steht: nackt und voller Schande.
Und ich sah es und ging an ihr vorüber, und da die Zeit gekommen war, die Zeit
meiner Liebe, breitete ich meinen Mantel aus und bedeckte ihre Blöße. Ich
wollte sie zur Königin machen, nachdem ich ihr Vater gewesen war, und sie
beschützen, wie diese Henne ihre Küchlein... Doch während die kleinen Küchlein
der Henne dankbar sind für ihre Sorge und sich unter ihre Flügel flüchten,
weist Jerusalem meinen Mantel ab... Aber ich werde meiner liebenden Absicht
treu bleiben... Ich... Mein Vater wird dann nach seinem Willen handeln.» Und
Jesus geht im Gras weiter, um die Henne nicht zu ängstigen, und immer noch
fließen Tränen über sein betrübtes, bleiches Gesicht.
Alle machen es ihm nach und
folgen ihm flüsternd bis zum Haus Nikes. Dort angekommen, betritt es Jesus,
während die anderen ihre eigenen Wege gehen...
635. DIE BEIDEN BLINDEN VON
JERICHO
Ein strahlend klares Morgengrauen
geht eben in die erste Morgenröte über. Die Stille der frischen Felder wird
immer häufiger unterbrochen und schmückt sich mit dem Zwitschern der
erwachenden Vögel.
Jesus verläßt als erster das Haus
der Nike, schließt leise die Tür und begibt sich zum grünen Obstgarten, aus
dem die klaren Noten des Schwarzköpfchens und der flötende Gesang der Amseln
ertönen.
Er ist noch nicht dort angelangt,
als vier Personen auf ihn zukommen. Es sind vier aus der Gruppe der
Unbekannten, die gestern nie ihr Gesicht gezeigt haben. Sie verneigen sich bis
zur Erde. Auf den Befehl und die Frage Jesu, nachdem er sie mit dem
Friedensgruß gegrüßt hat: «Steht auf! Was wollt ihr von mir?» erheben sie sich
und schlagen die Mäntel und die leinenen Kopfbedeckungen zurück, mit denen sie
wie Beduinen ihre Gesichter verhüllt hatten.
Ich erkenne das bleiche, hagere
Gesicht des Schriftgelehrten Joel des Abija, den ich in der Vision von Sabäa
gesehen habe. Von den anderen weiß ich erst, wer sie sind, nachdem sie sich
vorgestellt haben: «Ich bin Judas von Beth Horon, der letzte der wahren
Asidäer und Freunde des Mattathias Hasmonäus.» «Und ich bin Eliel, und das ist
mein Bruder Elkana von Bethlehem in Judäa. Wir sind Brüder der Johanna, deiner
Jüngerin, und es gibt für uns keine größere Ehre als diese. Wir waren
abwesend, als du stark warst, und sind nun anwesend, da du verfolgt wirst.»
339
«Ich bin Joel des Abija. Ich war
lange Zeit blind, doch nun haben sich meine Augen dem Licht geöffnet.»
«Ich hatte euch schon
verabschiedet. Was wollt ihr von mir?»
«Wir wollen dir sagen, daß... wir
uns nicht deinetwegen verhüllt haben, sondern...» sagt Eliel.
«Vorwärts! Sprecht!»
«Aber... Aber sprich du, Joel,
denn du bist der, der mehr als alle anderen weiß..»
«Herr... Das, was ich weiß, ist
so... schrecklich... Ich wollte, nicht einmal die Erde wüßte, müßte hören, was
ich zu sagen habe ...»
«Die Erde wird in der Tat
erschauern. Ich nicht. Denn ich weiß, was du sagen willst. Doch sprich
trotzdem...»
«Wenn du es weißt... dann erspare
es mir, mit bebenden Lippen von diesen schrecklichen Dingen sprechen zu
müssen. Ich glaube nicht etwa, daß du lügst, wenn du sagst, daß du es weißt,
und nur willst, daß ich es sage, um es zu erfahren, sondern weil...»
«Ja, weil es etwas ist, das zum
Himmel schreit. Aber ich werde es euch sagen, um alle zu überzeugen, daß ich
die Herzen der Menschen kenne. Du, Mitglied des Synedriums und für die
Wahrheit gewonnen, hast etwas entdeckt, was du allein nicht ertragen kannst;
denn es ist zu erschütternd. Und du bist zu diesen wahren Juden gegangen, die
nur von gutem Geist erfüllt sind, um dich mit ihnen zu beraten. Du hast recht
gehandelt, obwohl was du getan hast, nichts am Gang der Ereignisse ändern
wird. Der letzte der Asidäer wäre bereit, die Tat seiner Väter zu wiederholen,
um dem wahren Befreier zu dienen. Und er ist nicht der einzige. Auch sein
Verwandter Barsillai würde es tun, und viele andere mit ihm. Die Brüder
Johannas würden ihm aus Liebe zu mir, zu ihrer Schwester und zum Vaterland zur
Seite stehen. Aber ich werde nicht mit Lanzen und Schwertern triumphieren.
Versteht die Wahrheit ganz. Ich werde mit himmlischer Herrlichkeit
triumphieren. Du weißt – und es läßt dich noch blasser und hagerer erscheinen,
als du es sonst bist – wer die Texte der Anklage gegen mich aufgesetzt hat;
die Texte, deren Sinn und Geist zwar falsch sind, die aber wahr sind in der
direkten Bedeutung ihrer Worte; denn ich habe tatsächlich das Sabbatgebot
übertreten, als ich fliehen mußte, da meine Stunde noch nicht gekommen war;
und auch, als ich drei Unschuldige den Räubern entriß. Ich könnte sagen, daß
die Not die Tat rechtfertigt, so wie die Not David rechtfertigte, als er mit
Schaubroten seinen Hunger stillte. Es ist wahr, ich bin nach Samaria geflohen;
aber ich habe, als meine Stunde gekommen war und die Samariter mir anboten,
als Hoherpriester bei ihnen zu bleiben, Ehren und Sicherheit abgelehnt, um dem
Gesetz treu zu bleiben, auch wenn das bedeutet, daß ich mich den Feinden
ausliefere. Es ist auch wahr, daß ich die Sünder und die Sünderinnen liebe, um
sie der Sünde zu entreißen. Es ist wahr, daß ich die Zerstörung
340
des Tempels voraussage, auch wenn
diese meine Worte nur die Bestätigung des Messias für die Worte seiner
Propheten sind. Der diese und andere Anklagen vorbringt und auch die Wunder in
Punkte der Anklage verkehrt, der sich aller Mittel der Erde bedient hat, um
mich zur Sünde zu verleiten und so zu den ersten Anschuldigungen noch weitere
hinzufügen zu können, ist einer meiner Freunde. Auch dies ist vorhergesagt
worden von dem prophetischen König, von dem ich mütterlicherseits abstamme:
"Der mein Brot ißt, hat seine Ferse gegen mich erhoben." Ich weiß es. Ich
würde zweimal sterben, wenn ich... nicht verhindern könnte, daß er das
Verbrechen begeht – sein Wille hat sich nun dem Tod hingegeben, und Gott tut
der Freiheit des Menschen keine Gewalt an – aber doch wenigstens... oh,
wenigstens bewirken könnte, daß er sich, von tiefem Schmerz über das begangene
Verbrechen erfaßt, reuig Gott zu Füßen wirft... Deshalb hast du, Judas von
Beth Horon, gestern Manaen zum Schweigen ermahnt. Denn die Schlange war
anwesend und hätte außer dem Meister auch noch dem Jünger schaden können.
Nein, nur der Meister wird getroffen werden. Habt keine Furcht. Meinetwegen
soll kein Leid und kein Unglück über euch kommen. Aber wegen des Verbrechens
eines ganzen Volkes wird euch alle alles treffen, was die Propheten
vorhergesagt haben. Mein armes, armes Vaterland! Armes Land, das du die Strafe
Gottes kennenlernen wirst! Arme Bewohner dieses Landes und arme Kinder, die
ich jetzt segne und retten möchte und die, obgleich unschuldig, als Erwachsene
das größte Unglück erleiden werden. Betrachtet dieses euer blühendes, schönes,
von Grün und Blumen gleich einem wunderbaren Teppich bedecktes Land in seiner
paradiesischen Fruchtbarkeit... Prägt diese Schönheit euren Herzen ein, und
dann... wenn ich dorthin zurückgekehrt sein werde, von wo ich gekommen bin...
flieht. Flieht, solange es noch möglich ist, bevor, gleich der Raubgier der
Hölle, die Trübsal der Verwüstung über dieses Land hereinbricht und alles
vernichtet, zerstört, in Ödnis verwandelt und verbrennt, schlimmer als in
Sodom und Gomorrha. Ja, schlimmer als dort, denn dort war es ein rascher Tod.
Hier... Joel, erinnerst du dich an Sabäa? Sie hat ein letztes Mal die Zukunft
des Volkes Gottes, das den Sohn Gottes von sich stößt, vorhergesagt.»
Die vier Männer sind zu Tode
erschrocken. Die Furcht vor dem Kommenden lähmt ihre Zungen. Endlich sagt
Eliel: «Du gibst uns diesen Rat ... ?»
«Ja, geht. Nichts wird mehr sein,
was die Söhne des Volkes Abrahams hier zurückhalten könnte. Und übrigens würde
man gerade euch, die Vornehmen, nicht in Frieden lassen... Die Mächtigen, die
gefangengenommen werden, vermehren den Ruhm des Siegers. Der neue und
unvergängliche Tempel wird die ganze Erde umfassen, und jeder, der mich sucht,
wird mich finden, denn ich werde überall sein, wo ein Herz mich liebt. Geht.
Nehmt eure Frauen mit euch, die Kinder und die Greise... Ihr bietet
341
mir Rettung und Hilfe an. Ich
gebe euch den Rat zu eurer Rettung und helfe euch mit diesem Rat... Verschmäht
ihn nicht.»
«Aber nun... womit kann Rom uns
denn noch schaden? Wir werden beherrscht. Aber selbst wenn das Gesetz hart
ist, so muß man doch auch sagen, daß Rom Häuser und Städte wiederaufgebaut hat
und...»
«In Wahrheit sollt ihr wissen,
daß kein Stein Jerusalems auf dem anderen bleiben wird. Feuer, Mauerbrecher,
Katapulte und Speere werden jedes Haus dem Erdboden gleich machen, und die
heilige Stadt wird zu einer finsteren Höhle werden, und nicht nur sie
allein... Dieses unser Vaterland wird zu einer Höhle werden, zur Weide für die
wilden Esel und Schakale, wie die Propheten sagen. Und nicht nur für ein Jahr
oder mehrere Jahre oder Jahrhunderte... Nein, für immer! Die Wüste, die Dürre,
die Unfruchtbarkeit... Das ist das Schicksal dieses Landes! Schlachtfeld, Ort
der Qualen, durch unwiderrufliches Urteil für immer vereitelter Traum der
Wiedererrichtung des Reiches, Versuche einer Auferstehung, die schon im Keim
erstickt werden. Das ist das Los des Landes, das den Erlöser von sich gestoßen
und nach einem Tau verlangt hat, der für die Schuldigen zum Feuer geworden
ist.»
«Dann... dann wird es also nie,
niemals mehr ein Reich Israel geben? Werden wir nie mehr das sein, wovon wir
geträumt haben?» fragen die drei vornehmen Juden mit angstvoller Stimme. Der
Schriftgelehrte Joel weint...
«Habt ihr noch nie einen morschen
Baum gesehen, dessen Mark eine Krankheit zerstört hat? Jahrelang vegetiert er
noch dahin, so kümmerlich, daß er weder blüht noch Früchte trägt. Nur einige
seltene Blätter an den dürren Zweigen deuten darauf hin, daß noch ein wenig
Lebenssaft durch den Stamm aufsteigt... Dann, in einem Frühjahr, beginnt er
plötzlich wunderbarerweise zu blühen und bedeckt sich mit zahlreichen
Blättern, und der Besitzer, der ihn viele Jahre erfolglos gepflegt hat, freut
sich bei dem Gedanken, daß der Baum nun gesund ist und wieder üppig werden
wird nach so viel Dürre... Oh, welch eine Täuschung! Nach einem so
vielversprechenden Wiedererstehen des Lebens folgt der plötzliche Tod. Die
Blüten, die Blätter und die Fruchtansätze an den Zweigen, die schon eine
reiche Ernte versprachen, fallen ab und auf einmal bricht der an der Wurzel
verfaulte Baum krachend zusammen. So wird es Israel ergehen. Nach
jahrhundertelangem, fruchtlosem und kümmerlichem Vegetieren wird es sich auf
dem alten Stamm vereinigen und anscheinend einen Wiederaufbau erleben. Das
zerstreute Volk wird schließlich versammelt sein, und es wird ihm verziehen
werden. Ja, Gott wird diese Stunde abwarten, um die Jahrhunderte zu beenden.
Keine Jahrhunderte wird es mehr geben, sondern nur noch Ewigkeit. Selig jene,
denen vergeben wurde und die zur flüchtigen Blüte des letzten Israel beitragen
werden; des Israel, das nach so vielen Jahrhunderten Christus angehört und
erlöst sterben kann, zusammen mit
342
allen Völkern der Erde, selig mit
jenen, die nicht nur von meiner Existenz gewußt, sondern mein Gesetz als
Gesetz des Heiles und des Lebens angenommen haben. Ich höre die Stimmen meiner
Apostel. Geht, bevor sie kommen ...»
«Nicht aus Feigheit möchten wir
unerkannt bleiben, Herr, sondern um dir zu dienen. Um dir dienen zu können.
Wenn man erfahren würde, daß wir – vor allem ich – zu dir gekommen sind, würde
man uns von den Entscheidungen ausschließen...» sagt Joel.
«Ich verstehe euch. Aber gebt
acht, die Schlange ist heimtückisch. Besonders du mußt vorsichtig sein, Joel
...»
«Oh, wenn sie mich töten würden!
Ich würde gerne an deiner Stelle sterben, um nicht die Tage erleben zu müssen,
von denen du gesprochen hast. Segne mich, Herr, um mich stark zu machen ...»
«Ich segne euch alle im Namen
Gottes, des Einen und Dreieinen, und im Namen des Wortes, das Fleisch geworden
ist zur Rettung der Menschen guten Willens.» Jesus segnet sie alle zusammen
mit einer ausladenden Geste und legt dann seine Hand auf jedes der vier zu
seinen Füßen geneigten Häupter.
Die Männer stehen auf, verhüllen
wieder ihre Gesichter und verschwinden zwischen den Obstbäumen und den
Brombeerhecken, die die Apfelbäume von den Birnbäumen trennen und diese
wiederum von anderen Bäumen. Es ist höchste Zeit, denn die zwölf Apostel
kommen gerade gemeinsam aus dem Haus und suchen den Meister, um aufbrechen zu
können.
Petrus sagt: «Vor dem Haus, der
Stadt zu, wartet eine Volksmenge, die wir nur mit Mühe zurückhalten konnten,
damit du nicht beim Gebet gestört würdest. Sie wollen dir alle folgen. Keiner
von denen, die du entlassen hast, ist fortgegangen, und viele sind noch
hinzugekommen. Wir haben sie gescholten ...»
«Warum? Sie sollen mir folgen!
Wenn es nur alle tun würden! Laßt uns gehen!» Jesus hüllt sich in seinen
Mantel, den Johannes ihm reicht, geht zum Haus und seitlich daran vorbei auf
die Straße nach Bethanien und beginnt mit lauter Stimme einen Psalm...
Das Volk, eine große Schar, voran
die Männer und hinter ihnen die Frauen mit den Kindern, folgt ihm und singt
mit ihm...
Die Stadt mit ihrem grünen Gürtel
liegt immer weiter hinter ihnen. Die Straße ist voller Pilger. An den
Straßenrändern klagen viele Bettler, um Mitleid zu erregen und reichlich
Almosen zu erhalten. Lahme, Krüppel, Blinde... Das übliche Elend, das sich
immer und überall auf der Welt dort versammelt, wo ein Fest viele Menschen
zusammenführt.
Und wenn auch die Blinden nicht
sehen können, wer vorübergeht, so sehen doch die anderen, und da sie die Güte
des Meisters mit den Armen kennen, schreien sie noch lauter als sonst, um die
Aufmerksamkeit Jesu
343
auf sich zu lenken. Aber sie
bitten nicht um ein Wunder. Sie wollen nur Almosen. Und Judas gibt es ihnen.
Eine Frau bürgerlicher Herkunft
hält den Esel an, auf dem sie sitzt, und wartet bei einem großen Baum, der
eine Weggabelung beschattet, auf Jesus. Als er näherkommt, gleitet sie aus dem
Sattel und kniet mühsam nieder, da sie ein völlig regloses Kind in den Armen
hält. Wortlos hält sie es hoch. Die Augen in dem schmerzerfüllten Gesicht
flehen. Doch Jesus ist von vielen Menschen umringt und sieht die arme, am
Straßenrand kniende Mutter nicht. Ein Mann und eine Frau, anscheinend die
Begleiter der traurigen Mutter, sprechen mit ihr. «Hier ist nichts für uns»,
sagt kopfschüttelnd der Mann, und die Frau: «Herrin, er hat dich nicht
gesehen. Rufe ihn vertrauensvoll und gläubig an, und er wird dich erhören.»
Die Frau folgt ihrem Rat und ruft
so laut sie kann, um den Lärm der Stimmen und der Schritte zu übertönen:
«Herr, erbarme dich meiner!»
Jesus, der schon einige Meter
weitergegangen ist, bleibt stehen und schaut sich suchend um, und die Dienerin
sagt: «Herrin, er sucht dich. Steh auf und geh zu ihm, und Fabia wird geheilt
werden.» Und sie hilft ihrer Herrin beim Aufstehen und führt sie zu Jesus, der
sagt: «Wer mich angerufen hat, soll zu mir kommen. Die Zeit der Barmherzigkeit
ist gekommen für jene, die auf sie vertrauen.»
Die beiden Frauen drängen sich
durch die Menge, voran die Dienerin, um der Mutter einen Weg zu bahnen. Sie
sind fast bei Jesus angelangt, als eine Stimme ruft: «Mein abgestorbener Arm!
Seht! Gepriesen sei der Sohn Davids! Unser wahrer Messias ist immer mächtig
und heilig!»
Es entsteht ein Durcheinander,
denn viele drehen sich um, und Wellen von Menschen wirbeln in verschiedene
Richtungen um Jesus herum. Alle wollen wissen und sehen, was geschehen ist.
Sie fragen einen Greis, der seinen rechten Arm wie eine Fahne in der Luft
schwenkt, und dieser antwortet: «Er ist stehengeblieben, und es ist mir
gelungen, einen Zipfel seines Mantels zu fassen und mich damit zu bedecken. Da
lief es wie Feuer und Leben durch meinen abgestorbenen Arm, und nun, seht her:
der rechte Arm ist wie der linke, durch die einfache Berührung seines Gewandes
geheilt.»
Jesus fragt indessen die Frau:
«Was willst du?»
Die Frau hält ihm das Kind
entgegen und sagt: «Auch sie hat ein Recht zu leben. Sie ist unschuldig. Sie
hat sich den Ort ihrer Geburt oder ihre Eltern nicht ausgesucht. Ich bin
schuldig. Ich muß bestraft werden, nicht sie.»
«Hoffst du, daß die
Barmherzigkeit Gottes größer ist als die der Menschen ?»
«Ich hoffe es, Herr. Ich glaube
es. Für mich und für mein Kind, dem du, wie ich hoffe, den Verstand und die
Beweglichkeit wiedergeben wirst. Man sagt, daß du das Leben bist ...» und sie
weint.
344
«Ich bin das Leben, und wer an
mich glaubt, wird das Leben des Geistes und der Glieder haben. Ich will!»
Jesus hat diese Worte mit lauter Stimme ausgerufen; und nun legt er seine Hand
auf das reglose Geschöpf, und dieses zittert, lächelt und sagt: «Mama!»
«Sie bewegt sich! Sie lächelt!
Sie hat gesprochen! Fabius! Herrin!» Die beiden Frauen haben die Phasen des
Wunders verfolgt und sie laut verkündet. Sie haben nach dem Vater gerufen, der
sich einen Weg durch die Menge bahnt und zu den Frauen gelangt, als diese
schon vor Jesus knien und weinen. Die Dienerin sagt: «Ich habe es dir doch
gesagt, daß er mit allen Mitleid hat.» Und die Mutter sagt: «Und nun verzeihe
mir auch meine Sünde.»
«Zeigt dir denn der Himmel durch
die gewährte Gnade nicht, daß dir dein Fehler verziehen ist? Steh auf und geh
den neuen Weg mit deiner Tochter und dem Mann, den du erwählt hast. Geh. Der
Friede sei mit dir. Und auch mit dir, kleines Mädchen. Und mit dir, treue
Israelitin. Viel Frieden dir für deine Treue zu Gott und der Tochter der
Familie, der du dienst und die durch dein Herz dem Gesetz immer nahegestanden
hat. Und Friede auch dir, Mann, der du dem Menschensohn mehr Ehrerbietung
entgegengebracht hast als viele andere in Israel.»
Er verabschiedet sich, während
das Volk sich von dem Alten abwendet und sich nun für das neue Wunder an dem
gelähmten und stummen Mädchen interessiert, das vielleicht an den Folgen einer
Hirnhautentzündung gelitten hat und jetzt fröhlich umherhüpft und die wenigen
Worte wiederholt, die es vielleicht noch aus der Zeit vor seiner Erkrankung im
Gedächtnis behalten hat: «Vater, Mama, Elisa. Die schöne Sonne! Die Blumen...
!»
Jesus will gehen, aber von der
schon etwas zurückliegenden Weggabelung, an der die Leute, denen das Wunder
gewährt wurde, ihre Esel gelassen haben, sind zwei klagende Hilferufe in dem
so typischen hebräischen Tonfall zu hören: «Jesus, Herr! Sohn Davids, erbarme
dich meiner!»Und dann, um das Geschrei der Menge zu übertönen, die sagt:
«Schweigt. Laßt den Meister gehen. Der Weg ist weit, und die Sonne brennt
immer stärker. Laßt ihn vor der größten Hitze die Hügel erreichen», rufen sie
noch einmal lauter: «Jesus, Herr! Sohn Davids, erbarme dich meiner!»
Jesus bleibt wieder stehen und
sagt: «Geht und holt sie, die mich rufen, und führt sie zu mir.»
Einige Gutwillige gehen. Als sie
zu den beiden Blinden kommen, sagen sie: «Kommt, er hat Erbarmen mit euch.
Steht auf, denn er will euch erhören. Er hat uns geschickt, um euch in seinem
Namen zu holen.» Und sie versuchen, die beiden Blinden durch die Menge zu
führen.
Einer der beiden läßt sich
führen; der andere, der jüngere und vielleicht gläubigere, kommt der
Aufforderung der Helfer zuvor und geht allein,
345
mit seinem vor sich
ausgestreckten Stock und dem charakteristischen Lächeln und Ausdruck der
Blinden auf dem nach oben, zum Licht gewandten Gesicht... Und es scheint, daß
sein Engel ihn leitet, so rasch und sicher geht er. Wenn seine Augen nicht
weiß wären, könnte man kaum glauben, daß er blind ist. Er kommt als erster bei
Jesus an, der ihn anhält und sagt: «Was soll ich für dich tun?»
«Ich möchte sehen, Meister.
Gewähre, o Herr, daß meine Augen und die Augen meines Gefährten sich öffnen.»
Der andere Blinde ist nun auch da, und man fordert ihn auf, neben seinem
Gefährten niederzuknien.
Jesus legt seine Hände auf die zu
ihm erhobenen Gesichter und sagt: «Eure Bitte sei euch gewährt. Geht. Euer
Glaube hat euch gerettet!»
Er nimmt die Hände weg, und zwei
Ausrufe ertönen von den Lippen der Blinden: «Ich kann sehen, Uriel!» «Ich kann
sehen, Bartimäus!»Und dann beide zusammen: «Gelobt sei, der da kommt im Namen
des Herrn! Gepriesen sei, der dich gesandt hat! Ehre sei Gott! Hosanna dem
Sohne Davids!» Nun verneigen sie sich bis zur Erde, um die Füße Jesu zu
küssen. Dann stehen die beiden jetzt nicht mehr Blinden auf, und der Uriel
genannte sagt: «Ich gehe und zeige mich meinen Verwandten, und dann komme ich
zurück und folge dir, o Herr.» Bartimäus indessen sagt: «Ich verlasse dich
nicht mehr. Ich werde die Meinen benachrichtigen lassen. Es wird auch so eine
große Freude für sie sein. Aber von dir weggehen? Nein! Du hast mir das
Augenlicht geschenkt, und ich weihe dir mein Leben. Erbarme dich des Wunsches
deines geringen Knechtes.»
«Komm und folge mir. Der gute
Wille macht alle Menschen gleich, und nur der ist groß, der am besten dem
Herrn zu dienen versteht.»
Jesus setzt seinen Weg fort,
begleitet von den Hosanna-Rufen des Volkes, und Bartimäus schließt sich diesem
an, ruft mit den anderen Hosanna und sagt: «Ich bin gekommen, um ein Stück
Brot zu erbitten, und ich habe den Herrn gefunden. Ich war arm, und nun bin
ich ein Diener des heiligen Königs. Ehre sei dem Herrn und seinem Messias!»
636. JESUS KOMMT NACH BETHANIEN
Sie müssen auf halbem Weg
zwischen Jericho und Bethanien gerastet haben, denn als sie die ersten Häuser
Bethaniens erreichen, trocknet gerade der letzte Tau auf den Blättern und den
Gräsern der Wiesen, und die Sonne steht hoch am Himmel.
Die Landarbeiter in der Umgebung
werfen ihre Geräte weg und eilen zu Jesus, der im Vorübergehen Menschen und
Pflanzen segnet, da ihn die Arbeiter inständig bitten. Frauen und Kinder
laufen herbei mit den ersten Mandeln, die noch in ihrer feinen silbergrauen
Plüschhülle stecken, und
346
mit den letzten Blütenzweigen
spätblühender Obstbäume. Ich stelle fest, daß hier in der Gegend von Jerusalem
– vielleicht bedingt durch die Höhenlage oder durch die Winde, die von den
höchsten Gipfeln Judäas kommen, oder wer weiß aus welchem anderen Grund,
vielleicht auch wegen der Verschiedenartigkeit der Bäume – noch viele
Obstbäume in Blüte stehen und leichten weißen bis rosaroten, über dem Grün der
Wiesen schwebenden Wolken gleichen. Unter den hohen Stämmen zittern leise die
zarten Blätter der Weinstöcke, wie große Schmetterlinge aus kostbarem Smaragd,
die mit einem Faden an die rauhen Zweige gebunden sind.
Während Jesus am Brunnen ausruht,
wo die Felder enden und das Städtchen beginnt, und fast ganz Bethanien ihn
begrüßt, eilt Lazarus mit den Schwestern herbei, um sich vor dem Herrn
niederzuwerfen. Und obwohl erst wenig mehr als zwei Tage vergangen sind, seit
Maria ihren Meister verlassen hat, scheinen es Jahre zu sein, seit sie ihn
gesehen hat; denn sie wird nicht müde, die staubigen Füße in den Sandalen zu
küssen.
«Komm, mein Herr. Das Haus
erwartet dich, um sich deiner Gegenwart zu erfreuen», sagt Lazarus und begibt
sich an die Seite Jesu. Sie machen sich langsam auf den Weg, soweit die Leute
es zulassen, die sie umringen, und die Kinder, die sich an das Gewand Jesu
hängen, vor ihm herlaufen und dabei nach hinten und hinauf schauen, wobei sie
stolpern und auch andere zum Stolpern bringen, so daß Jesus als erster und
dann Lazarus und die Apostel die Kleinsten auf den Arm nehmen, um rascher
voranzukommen.
An der Stelle, wo ein kleiner Weg
zum Haus Simons des Zeloten führt, warten Maria und ihre Schwägerin, Maria
Salome, und Susanna. Jesus bleibt stehen, um die Mutter zu begrüßen, und geht
dann weiter bis zu dem großen, weitgeöffneten Tor, wo Maximinus, Sara,
Marcella und hinter diesen die zahlreichen Bediensteten, angefangen von denen
des Hauses bis zu den Landarbeitern, stehen. Alle geordnet, alle glücklich und
aufgeregt in ihrer Freude, die sich in einem Hosanna Luft macht, und im
Schwenken von Kopfbedeckungen und Schleiern und Werfen von Blumen und Myrten-
und Lorbeerzweigen, von Rosen und Jasmin, deren prächtige Blüten in der Sonne
glänzen oder sich wie strahlende Sterne vom braunen Erdboden abheben. Ein Duft
von Blütenblättern und zertretenen aromatischen Blättern steigt von der
sonnenerwärmten Erde auf, und Jesus schreitet über diesen duftenden Teppich.
Maria von Magdala, die ihm mit
gesenktem Blick folgt und sich bei jedem seiner Schritte bückt, gleicht einer
Ährenleserin, die dem Garbenbinder folgt und jeden Zweig, jede Blüte und sogar
jedes Blütenblatt aufhebt, auf das die Füße Jesu getreten sind.
Maximinus gibt Anweisung, die
schon vorbereiteten Süßigkeiten an die Kinder zu verteilen, um das Tor
schließen zu können und den Gästen
347
etwas Ruhe zu verschaffen.
Übrigens eine praktische Art, die Kinder vom Herrn abzulenken und sie
fortzuschicken, ohne daß sich jammernde und weinende Chöre bilden. Die Diener
gehorchen und tragen Körbe voller Küchlein mit weißbraunen Mandeln hinaus auf
die Straße.
Und während die Kleinen sich dort
zusammendrängen, schicken andere Diener die Erwachsenen fort, unter denen sich
auch Zachäus und die vier von Jericho befinden, also Joel, Judas, Eliel und
Elkana, zusammen mit anderen, die ich nicht erkenne, auch weil sie alle das
Gesicht verhüllt haben, da ein ziemlich heftiger Wind den Staub der Straße
aufwirbelt und die Sonne schon stark brennt.
Doch Jesus, der schon ein gutes
Stück gegangen ist, wendet sich um und sagt: «Wartet. Ich muß noch jemandem
etwas sagen.» Er begibt sich zu den Brüdern Johannas, nimmt sie beiseite und
sagt: «Ich bitte euch, geht zu Johanna und richtet ihr aus, daß sie zu mir
kommen soll mit allen Frauen, die bei ihr sind, und mit Annalia, der Jüngerin
von Ophel. Sie soll morgen kommen. Denn morgen abend beginnt der Sabbat, und
ich möchte ihn mit den Freunden von Bethanien verbringen. In Frieden.»
«Wir werden es ihr ausrichten,
Herr, und Johanna wird kommen.»
Jesus entläßt sie und wendet sich
an Joel: «Teile Nikodemus und Joseph mit, daß ich angekommen bin und am Tag
nach dem Sabbat in die Stadt gehen werde.»
«Oh, sei vorsichtig, Herr!» sagt
der gute Schriftgelehrte besorgt.
«Geh und sei stark! Wer gerecht
handelt und an meine Wahrheit glaubt, darf keine Furcht haben; er muß sich
vielmehr freuen, denn die alte Verheißung geht in Erfüllung.»
«Oh, ich werde aus Jerusalem
fliehen, Herr. Ich bin ein Mensch mit schwacher Gesundheit; du siehst es und
du weißt, daß ich deshalb auch verspottet werde. Ich könnte es nicht
mitansehen, wenn sie ...»
«Dein Engel wird dich leiten. Geh
in Frieden.»
«Werde ich dich noch einmal
sehen, Herr?»
«Gewiß wirst du mich noch einmal
sehen. Aber solange du mich nicht wiedersiehst, denke daran, daß deine Liebe
mir sehr viel Freude bereitet hat in den Stunden der Schmerzen.»
Joel ergreift die Hand, die Jesus
ihm auf die Schulter gelegt hat, und drückt sie an seine Lippen und küßt sie;
durch den dünnen Schleier der Kopfbedeckung fallen Tränen auf die Hand Jesu.
Dann entfernt sich Joel, und Jesus geht zu Zachäus: «Wo sind die Deinen?»
«Sie sind am Brunnen geblieben,
Herr. Ich habe ihnen gesagt, daß sie dort bleiben sollen.»
«Begib dich zu ihnen und geh mit
ihnen nach Bethphage, wo meine ältesten und getreuesten Jünger sind. Sage
Isaak, ihrem Oberhaupt, daß sie sich in der Stadt verteilen sollen, um alle
Gruppen von Jüngern zu benachrichtigen, daß ich am Morgen nach dem Sabbat um
die dritte
348
Stunde von Bethphage kommend in
Jerusalem einziehen und feierlich zum Tempel hinaufreiten werde. Sage Isaak,
daß diese Nachricht nur für die Jünger ist. Er wird verstehen, was ich damit
meine.»
«Auch ich verstehe es, Meister.
Du willst die Juden überraschen, damit sie deinen Einzug nicht verhindern
können.»
«So ist es. Tue also, wie ich dir
sage, und denke daran, daß es ein vertraulicher Auftrag ist. Ich bediene mich
deiner und nicht des Lazarus.»
«Und das beweist mir, daß deine
Güte mir gegenüber ohne Maß ist. Ich danke dir, Herr.» Er küßt die Hand des
Meisters und geht.
Jesus will zu seinen Gastgebern
zurückkehren. Doch vom Tor her, durch das die letzte Gruppe von den Dienern
eben hinausgeschoben wird, kommt ein Jüngling gelaufen. Er wirft sich Jesus zu
Füßen und ruft aus: «Segne mich, Meister! Erkennst du mich wieder?» Und er
erhebt das Antlitz, das nicht verhüllt ist.
«Ja, du bist Joseph, genannt
Barnabas, der Schüler des Gamaliel. Du bist mir bei Gischala begegnet.»
«Und ich folge dir schon seit
vielen Tagen. Ich war in Silo, als ich von Gischala kam, wohin ich mit dem
Rabbi gegangen war in der Zeit, in der du nicht da warst. Ich bin
dortgeblieben und habe bis zum Mond des Nisan die Schriftrollen studiert. Ich
war in Silo, als du dort gesprochen hast, und ich bin dir nach Libona und nach
Sichern gefolgt. Dann habe ich in Jericho auf dich gewartet, denn ich hatte
erfahren, daß du...» Er unterbricht sich plötzlich, als sei ihm bewußt
geworden, daß er im Begriff war, etwas zu sagen, was er verschweigen muß.
Jesus lächelt sanft und sagt:
«Die Wahrheit drängt sich gewaltsam auf wahrheitsliebende Lippen und
durchbricht oft die Schranken, die die Klugheit vor den Lippen errichtet. Aber
ich werde deinen Gedanken zu Ende führen: "denn du hattest von Judas Iskariot,
der in Sichern geblieben war, erfahren, daß ich nach Jericho gehen würde, um
meine Jünger zu treffen und ihnen Anweisungen zu geben." Und du bist dorthin
gegangen, um mich zu erwarten, ohne dich darum zu kümmern, daß man dich sehen
könnte, daß du Zeit verlieren und an der Seite deines Meisters Gamaliel fehlen
würdest.»
«Er wird mich nicht tadeln, wenn
er erfährt, daß ich mich verspätet habe, weil ich dir gefolgt bin. Ich werde
ihm deine Worte als Geschenk überbringen.»
«Oh, der Rabbi Gamaliel braucht
keine Worte. Er ist der weise Rabbi Israels!»
«Ja, kein anderer Rabbi kann ihn
belehren über Vergangenes, keiner, denn er weiß alles Frühere. Nur du weißt
mehr, denn du hast neue Worte voll des frischen Lebens, des Neuen. Deine Worte
sind wie der Lebenssaft im Frühling. Und es ist Rabbi Gamaliel, der dies
gesagt und hinzugefügt hat, daß die nun vom Staub der Jahrhunderte bedeckten
Weisheiten, die
349
trocken und matt geworden sind,
lebendig und strahlend werden, wenn dein Wort sie erklärt. Oh, ich werde ihm
deine Worte überbringen.»
«Und meinen Gruß. Sage ihm, er
möge sein Herz, seinen Verstand, seine Augen und seine Ohren öffnen, denn
seine mehr als zwanzig Jahre alte Frage wird beantwortet werden. Geh nun. Gott
sei mit dir.»
Der Jüngling verneigt sich
nochmals, um die Füße des Meisters zu küssen, und geht dann.
Nun können die Diener endlich das
Tor schließen, und Jesus kann sich zu seinen Freunden begeben.
«Ich habe mir erlaubt, für morgen
die Jüngerinnen hierher einzuladen», sagt Jesus, stellt sich neben Lazarus und
legt ihm einen Arm um die Schultern.
«Das hast du gut gemacht, Herr.
Mein Haus ist dein Haus, du weißt es. Deine Mutter hat es vorgezogen, im Haus
des Simon zu wohnen, und ich achte ihren Wunsch. Doch hoffe ich, daß du unter
meinem Dach bleiben wirst.»
«Ja... Obwohl auch das andere
dein Dach ist. Einer der ersten Beweise deiner Großzügigkeit mir und meinen
Freunden gegenüber. Wieviel hast du mir schon geholfen, mein Freund!»
«Und ich hoffe, dir noch lange
nützlich sein zu können. Doch deine Worte entsprechen nicht ganz der Wahrheit,
weiser Meister. Nicht ich habe mich dir gegenüber großzügig erwiesen, sondern
du dich mir gegenüber. Ich bin dein Schuldner. Und wenn ich dir einen kleinen
Teil meiner Schulden zurückerstatte, was ist diese elende Gabe schon im
Vergleich zu den Schätzen, die ich von dir empfangen habe? "Gebt, und es wird
euch gegeben werden", hast du gesagt. "Ein gerütteltes, übervolles Maß wird
euch in den Schoß gelegt werden, und ihr werdet das Hundertfache erhalten von
dem, was ihr gegeben habt", sagst du. Ich habe schon hundertmal das
Hundertfache erhalten, bevor ich etwas gegeben habe. Oh, ich erinnere mich
unserer ersten Begegnung! Du, der Herr und Gott, dem zu nahen die Seraphim
nicht würdig sind, bist zu mir gekommen, der ich einsam und betrübt war... und
mich mit meiner Traurigkeit hierher zurückgezogen hatte... Du bist zu Lazarus
gekommen, dem Menschen, der von allen gemieden wurde mit Ausnahme von Joseph,
Nikodemus und meinem treuen Freund Simon, der selbst als lebendig Begrabener
nicht aufgehört hat, mich zu lieben... Du wolltest nicht, daß meine Freude,
dich zu sehen, getrübt würde durch die gehässige Verachtung der Welt... Unsere
erste Begegnung! Ich könnte dir jedes deiner Worte von damals wiederholen...
Was hatte ich dir damals schon gegeben, da ich dich nie zuvor gesehen hatte,
um von dir sofort das Hundertfache des Hundertfachen zu erhalten?»
«Deine Gebete zum Allerhöchsten,
zu unserem Vater. Unserem Vater, Lazarus. Meinem und deinem. Meinem als Wort
und Mensch. Deinem als
350
Mensch. Als du mit so viel
Vertrauen betetest, hast du dich mir da nicht schon ganz gegeben? Du siehst
also, daß ich dir, wie es gerecht ist, das Hundertfache von dem gegeben habe,
was du mir gegeben hattest.»
«Deine Güte ist unendlich,
Meister und Herr. Du belohnst mit göttlicher Großzügigkeit schon im voraus,
sobald du einen als deinen Diener erkennst, selbst wenn dieser sich dessen
noch nicht bewußt ist.»
«Meinen Freund, nicht meinen
Diener. Denn wahrlich, jene, die den Willen meines Vaters tun und der Wahrheit
folgen, die er gesandt hat, sind meine Freunde und nicht mehr meine Diener.
Sie sind noch mehr: sie sind meine Brüder, da ich als erster den Willen meines
Vaters tue. Wer also tut, was ich tue, ist mein Freund; denn nur der Freund
tut spontan, was sein Freund tut.»
«So soll es immer bleiben
zwischen dir und mir, Herr. Wann wirst du in die Stadt gehen?»
«Am Morgen nach dem Sabbat.»
«Ich werde mitkommen.»
«Nein, du wirst nicht mit mir
kommen. Ich werde dir später erklären warum. Ich möchte dich um etwas anderes
bitten ...»
«Ich bin dir immer zu Diensten,
Meister. Auch ich möchte etwas mit dir besprechen...»
«Wir werden später miteinander
reden.»
«Möchtest du, daß wir den Sabbat
unter uns feiern, oder soll ich die üblichen Freunde einladen?»
«Ich würde dich bitten, es nicht
zu tun. Ich habe den lebhaften Wunsch, diese Stunden allein mit euch, den
klugen und friedfertigen Freunden zu verbringen, ohne mir inneren oder äußeren
Zwang antun zu müssen; in der süßen Freiheit dessen, der unter so lieben
Freunden weilt, daß er sich bei ihnen wie zu Hause fühlt.»
«Wie du willst, Herr. Ja...
eigentlich habe ich mir gerade das gewünscht. Aber es schien mir Egoismus
meinen Freunden gegenüber zu sein; denn wenn sie auch nicht mir dir, dem
wahren Freund, gleichzusetzen sind, so habe ich sie doch lieb. Aber da du es
so haben willst... Bist du müde, Herr? Oder besorgt ... ?» Lazarus fragt mehr
mit Blicken als mit Worten seinen Freund und Meister, der ihm nur mit einem
Aufleuchten seiner etwas traurigen, etwas abwesend dreinschauenden Augen und
dem schwachen Lächeln seines Mundes antwortet.
Jesus und Lazarus sind allein an
dem Becken zurückgeblieben, in dem der Wasserstrahl ruhig vor sich
hinplätschert. Die anderen sind alle ins Haus gegangen, und man hört Stimmen
und das Klirren von Eßgeschirr...
Maria von Magdala streckt zwei-
oder dreimal ihren blonden Kopf zur Türe heraus, die mit einem schweren, sich
leicht im Wind bewegenden Vorhang verhangen ist. Der Wind wird stärker, und
der Himmel bedeckt sich mit immer dunkleren Wolkenfetzen.
351
Lazarus schaut hinauf und prüft
den Himmel. «Vielleicht gibt es ein Gewitter», sagt er. Und fügt hinzu: «Es
würde dazu beitragen, daß die widerspenstigen Knospen sich öffnen, die dieses
Jahr so lange brauchen... Vielleicht waren es die späten Fröste, die das
Wachstum verzögert haben. Auch meine Mandelbäume haben darunter gelitten, und
ein Teil der Ernte ist verlorengegangen. Joseph sagte mir, daß einer seiner
Obstgärten vor dem Gerichtstor dieses Jahr vollkommen unfruchtbar zu sein
scheint. Die Bäume halten ihre Knospen zurück, als seien sie verhext. Und er
ist am überlegen, ob er sie stehenlassen oder als Holz verkaufen soll. Nicht
eine einzige Blüte. Wie sie im Tebet waren, so sind sie bis heute geblieben.
Harte, verschlossene Knospen, die einfach nicht größer werden. Allerdings weht
ein starker Nordwind in dieser Gegend; und diesen Winter haben wir oft
Nordwind gehabt. Auch meinen Garten auf der anderen Seite des Kedron hat er
geschädigt. Aber das Phänomen im Garten des Joseph ist so eigenartig, daß
viele hingehen, um den Ort zu besichtigen, der sich nicht zum Frühling
bekennen will.»
Jesus lächelt...
«Du lächelst? Warum?»
«Über die Kindlichkeit dieser
ewigen Kinder, der Menschen. Alles was eigenartig ist, fasziniert sie... Aber
der Obstgarten wird blühen, zu seiner Zeit.»
«Die Zeit ist schon vorbei, Herr.
Wann hat man je gesehen, daß beim Mond des Nisan so viele Bäume am selben Ort
noch nicht geblüht haben? Wie lange muß denn dieser Ort noch warten, bis die
richtige Zeit gekommen ist?»
«So lange, bis er mit seinen
Blüten Gott verherrlichen kann.»
«Ach so! Ich verstehe! Du wirst
hingehen und den Ort segnen, aus Liebe zu Joseph, und der Obstgarten wird
erblühen und Gott und seinen Messias durch ein neues Wunder verherrlichen. So
ist es! Du gehst hin... Darf ich es Joseph schon sagen, wenn ich ihn sehe?»
«Wenn du glaubst, es ihm sagen zu
müssen... Ja, ich werde hingehen ...»
«An welchem Tag, Herr? Ich möchte
auch dabei sein.»
«Bist denn auch du ein ewiges
Kind?» Jesus lächelt noch mehr und schüttelt gutmütig das Haupt über die
Neugier des Freundes, der ausruft: «Oh, wie bin ich glücklich, dich erheitert
zu haben, Herr. Ich sehe dein Antlitz wieder strahlend lächeln, wie ich es
schon lange nicht mehr gesehen habe! Also... darf ich kommen?»
«Nein, Lazarus. Am Rüsttag vor
dem Passahfest brauche ich dich hier.»
«Aber am Rüsttag bereitet man
sich doch ausschließlich auf das Passahfest vor! Und du... Meister, warum
willst du etwas tun, weswegen man dich tadeln wird? Geh doch an einem anderen
Tag dorthin ...»
«Ich werde gerade am Rüsttag
hingehen müssen. Aber ich werde nicht der einzige sein, der Dinge tut, die
nichts mit der Vorbereitung auf das alte
352
Passahfest zu tun haben. Auch die
Strenggläubigsten in Israel, wie Elchias, Doras, Simon, Sadok und Ismael, und
sogar Annas und Kaiphas werden ganz neuartige Dinge tun ...»
«Wird denn ganz Israel von Sinnen
sein?!»
«Du sagst es.»
«Aber du... Oh, es regnet schon.
Gehen wir ins Haus, Meister... Ich... ich bin in Sorge... Wirst du mir nicht
erklären ... ?»
«Ja, bevor ich dich verlasse,
werde ich dir alles erklären... Da kommt deine Schwester und bringt ein
schweres Tuch. Sie fürchtet, daß wir naß werden. Oh, Martha! Du bist immer
fürsorglich und rührig. Aber es regnet nicht viel.»
«Meine gute Schwester! Besser:
meine Schwestern. Nur sind beide wie zwei kleine Mädchen, die keine Bosheit
kennen; Maria ebenso wie Martha. Als Maria vorgestern von Jericho kam, glich
sie wahrhaft einem Mädchen. Die Zöpfe hingen ihr herunter, weil sie die
Haarnadeln verkauft hatte, um Sandalen für einen kleinen Jungen zu kaufen, und
die dünnen Nadeln aus Eisen ihr schweres Haar nicht halten konnten. Sie
lachte, als sie beim Aussteigen aus dem Wagen zu mir sagte: "Bruder, nun weiß
ich, was es heißt, etwas verkaufen zu müssen, um etwas kaufen zu können, und
wie schwierig für einen Armen selbst die einfachsten Dinge sind, wie zum
Beispiel die Haare mit Nadeln zusammenzuhalten, von denen man zwanzig für eine
Didrachme erhält. Ich werde es mir merken und in Zukunft noch barmherziger mit
den Armen sein." Wie hast du sie doch verändert, Herr!»
Sie, von der Jesus und Lazarus
beim Betreten des Hauses gesprochen haben, wartet bereits mit Krügen und
Schüsseln, um ihren Herrn zu bedienen. Sie will niemandem die Ehre abtreten,
ihm zu dienen. Und sie gibt sich nicht zufrieden, bis sie nicht für jede nur
mögliche Erquickung für Leib und Seele ihres Meisters gesorgt hat und ihn mit
neuen Sandalen in den für ihn bestimmten Raum gehen sieht, wo ihn schon die
Mutter mit einem frischen, nach Sonne duftenden Linnengewand erwartet...
637. DER FREITAG VOR DEM EINZUG
IN JERUSALEM; 1. JESUS UND JUDAS VON KERIOTH
«Ihr könnt gehen, wohin ihr
wollt. Ich werde heute mit Judas und Jakobus hierbleiben. Ich erwarte die
Jüngerinnen», sagt Jesus zu seinen Aposteln, die sich im Laubengang des Hauses
versammelt haben. Und er fügt hinzu: «Sorgt aber dafür, daß ihr alle vor
Sonnenuntergang zurück seid. Und seid vorsichtig. Versucht unbemerkt zu
bleiben, um Repressalien zu vermeiden.»
353
«Oh, ich bleibe hier. Was soll
ich in Jerusalem?» sagt Petrus.
«Ich hingegen werde gehen. Mein
Vater erwartet mich ganz sicher. Er möchte uns den Wein schenken. Ein altes
Versprechen, das er wie immer halten wird, denn mein Vater ist redlich. Beim
Passahmahl werdet ihr sehen. Was für ein Wein! Die Weinberge meines Vaters in
Rama sind in der ganzen Umgebung bekannt!» sagt Thomas.
«Auch Lazarus hat herrliche
Weine. Ich erinnere mich noch an das Mahl des Lichterfestes...» sagt Matthäus
genüßlich.
«Dann wird also morgen mehr denn
je deine Erinnerung aufgefrischt, denn ich glaube, Lazarus plant für morgen
abend ein großes Gastmahl. Ich habe schon gewisse Vorbereitungen gesehen...»
sagt Jakobus des Zebedäus.
«Ja? Werden denn auch noch andere
kommen?» möchte Andreas wissen.
«Nein. Ich habe Maximinus
gefragt, und er hat mir gesagt, daß sonst niemand eingeladen ist.»
«Ach... Sonst hätte ich das neue
Gewand angezogen, das mir meine Frau geschickt hat», sagt Philippus.
«Ich werde es tun. Ich wollte es
am Passahfest anziehen. Aber ich ziehe es morgen an, denn morgen haben wir
sicher mehr Ruhe als in einigen Tagen...» sagt Bartholomäus nachdenklich.
«Ich werde mich ganz neu
einkleiden für den Einzug in die Stadt. Und du, Meister?» fragt Johannes.
«Ich auch. Ich werde das
Purpurgewand anziehen.»
«Dann wirst du einem König
gleichen!» sagt der Lieblingsjünger bewundernd, der ihn in Gedanken schon in
dem herrlichen Gewand sieht...
«Ja, wenn ich nicht daran gedacht
hätte! Den Purpur habe ich schon vor Jahren besorgt...» prahlt Iskariot.
«Wirklich? Oh, wer hätte das
gedacht ... Der Meister ist immer so bescheiden.»
«Zu bescheiden! Nun ist es aber
an der Zeit, daß er König wird. Genug des Wartens! Wenn er nicht ein König auf
dem Thron sein will, dann soll er wenigstens seiner Würde entsprechend
gekleidet sein. Ich denke an alles.»
«Du hast recht, Judas. Du kennst
dich aus in der Welt. Wir sind nur arme Fischer...» sagen jene vom See
demütig... Wie so oft im Licht der Welt, im trügerischen Zwielicht der Welt,
erscheint das minderwertige Metall eines Judas edler als das rohe, aber reine,
ehrliche und aufrichtige Gold der galiläischen Herzen...
Jesus, der mit dem Zeloten und
den Söhnen des Alphäus gesprochen hat, wendet sich um und betrachtet Iskariot
und dann die ehrlichen und demütigen Männer, die sich schämen, weil sie im
Vergleich zu Judas so... mangelhaft sind... und er schüttelt den Kopf, ohne
etwas zu sagen. Doch
354
als er sieht, daß Iskariot sich
die Sandalen schnürt und seinen Mantel umlegt, so als wolle er fortgehen,
fragt er: «Wohin gehst du?»
«In die Stadt.»
«Ich habe doch gesagt, daß ich
dich mit Jakobus hierbehalte.»
«Ach so! Ich dachte, du hättest
Judas, deinen Bruder, gemeint. Dann ... bin ich also praktisch ein
Gefangener... Ha, ha, ha!» Er lacht bösartig.
«Ich glaube, in Bethanien gibt es
weder Ketten noch Gitter. Es gibt nur den Wunsch deines Meisters. Und ich wäre
glücklich, sein Gefangener zu sein», bemerkt der Zelote.
«Oh, gewiß! Es war nur ein
Scherz... Nur... Ich hätte eben gerne Nachrichten von meiner Mutter gehabt.
Sicher sind auch von Kerioth Pilger nach Jerusalem gekommen, und...»
«Nein. In zwei Tagen werden wir
alle in Jerusalem sein. Jetzt bleibst du hier!» sagt Jesus entschieden.
Judas besteht nicht darauf. Er
legt den Mantel ab und sagt: «Also? Wer geht in die Stadt? Es wäre gut zu
wissen, wie die allgemeine Stimmung ist ... Was die Jünger tun ... Ich wollte
mich auch bei Freunden erkundigen ... Ich hatte es Petrus versprochen...»
«Das ist jetzt nicht wichtig. Du
bleibst hier. Nichts von alledem, was du sagst, ist nötig, wirklich nötig...»
«Aber wenn Thomas geht ...»
«Meister, auch ich möchte gehen,
denn ich habe es ebenfalls versprochen. Ich habe Freunde im Haus des Annas und
...»
«Dort würdest du hingehen, mein
Sohn? Und wenn sie dich gefangennehmen?» fragt Salome, die nähergekommen ist.
«Wenn sie mich gefangennehmen?
Was habe ich Böses getan? Nichts. Ich brauche den Herrn nicht zu fürchten.
Daher werde ich auch nicht zittern, wenn sie mich gefangennehmen sollten...»
«Oh, der tapfere Löwe! Du wirst
nicht zittern? Aber weißt du denn nicht, wie sehr sie uns hassen? Es bedeutet
den Tod, wenn sie uns gefangennehmen...» will ihn Iskariot erschrecken.
«Und du, warum willst du dann
gehen? Hast du vielleicht Straffreiheit? Was hast du getan, um sie zu haben?
Sage es mir, dann mache ich es ebenso.»
Judas macht eine Geste der Angst
und des Zornes, aber das Gesicht des Johannes ist so unschuldig, daß sich der
Verräter sofort beruhigt. Er begreift, daß weder Bosheit noch Argwohn in
diesen Worten liegen, und sagt: «Nichts habe ich getan. Ich habe nur einige
gute Freunde beim Prokonsul und daher ...»
«Also, wer kommen will, soll
kommen, denn es regnet nicht mehr. Hier verlieren wir nur Zeit, und um die
sechste Stunde regnet es dann vielleicht schon wieder. Wer kommen will, soll
sich fertig machen», mahnt Thomas.
355
«Soll ich gehen, Meister?» fragt
Johannes.
«Geh.»
«Da seht ihr es wieder! Immer
dasselbe! Er kann gehen, die anderen auch. Ich nicht. Immer nur ich nicht.»
«Ich werde mich bemühen, etwas
über deine Mutter zu erfahren», sagt Johannes, um ihn zu beruhigen.
«Auch ich. Ich komme mit dir und
Thomas», sagt der Zelote und fügt noch hinzu: «Mein Alter wird die Jugend
zügeln, Meister. Und außerdem kenne ich die Leute von Kerioth gut. Wenn ich
jemanden sehe, gehe ich zu ihm. Ich werde dir Nachricht von deiner Mutter
bringen, Judas. Sei brav! Sei beruhigt! Es ist Passah, Judas. Alle fühlen wir
den Frieden dieses Festes, die Freude dieses Feiertages. Warum willst nur du
immer so unruhig, so finster, so mißmutig und so friedlos sein? Passah ist der
Vorübergang des Herrn... Passah ist das Fest der Befreiung für uns Hebräer,
der Befreiung von einem harten Joch. Gott der Allmächtige hat es von uns
genommen. Nun, da sich das Ereignis der alten Zeit nicht wiederholen kann,
bleibt das Symbol, die Befreiung des Einzelnen... Passah: Befreiung der
Herzen, Reinigung, Taufe, wenn du willst, mit dem Blut des Lammes, damit die
feindlichen Mächte denen nicht mehr schaden können, die damit gezeichnet sind.
Es ist so schön, das neue Jahr mit diesem Fest der Reinigung, der Befreiung,
der Anbetung unseres Erlösergottes zu beginnen...» Oh, entschuldige, Meister!
Ich habe geredet, da ich hätte schweigen sollen, denn es ist deine Sache,
unsere Herzen zu belehren...»
«Dasselbe habe auch ich gedacht,
Simon. Genau dasselbe: daß ich nun zwei Meister anstelle von einem habe. Und
das scheint mir zu viel!» sagt Iskariot zornig.
Petrus... Oh! Petrus kann sich
diesmal nicht beherrschen und platzt heraus: «Und wenn du nicht gleich
aufhörst, dann wirst du sehr bald einen dritten Meister haben, und der bin
ich. Und ich versichere dir, ich werde überzeugendere Argumente gebrauchen als
nur Worte ...»
«Würdest du die Hand gegen einen
Gefährten erheben? Nach all deinen Bemühungen, den alten Galiläer in dir
auszumerzen, kommt deine wahre Natur nun wieder zum Vorschein?»
«Sie kommt nicht zum Vorschein.
Sie ist immer deutlich sichtbar gewesen. Ich verstelle mich nicht. Aber um
einen Wildesel wie dich zu zähmen, gibt es nur ein Mittel: Prügel! Schäme
dich, die Güte des Meisters und unsere Geduld zu mißbrauchen! Komm, Simon!
Komm Johannes! Komm Thomas! Leb wohl, Meister. Auch ich werde gehen, denn wenn
ich hierbleibe... nein, weiß Gott, dann beherrsche ich mich nicht mehr.» Und
Petrus nimmt seinen Mantel, der auf einem Stuhl liegt, und wirft ihn sich in
großer Hast und voller Zorn über. Aber er ist so aufgeregt, so verärgert, daß
er ihn versehentlich verkehrt umlegt und Johannes ihn darauf aufmerksam machen
und ihm helfen muß, sich ordentlich anzuziehen. Dann stürzt er
356
davon und stampft dabei auf den
Boden, um auf diese Weise etwas von seinem Zorn loszuwerden. Er gleicht einem
wildgewordenen jungen Stier.
Die anderen... Oh, die Gesichter
der anderen sind offene Bücher, in denen man nur allzu deutlich lesen kann.
Der alte Bartholomäus erhebt sein scharfes Profil zum immer noch gewittrigen
Himmel, und es scheint, als wolle er die Winde prüfen, um nicht in die
Gesichter sehen zu müssen; denn das Gesicht Jesu ist zu traurig und das
Gesicht des Judas zu heimtückisch. Matthäus und Philippus schauen Thaddäus an,
in dessen Augen, die so sehr den Augen Jesu gleichen, Zorn glüht, und beide
haben denselben Gedanken: sie nehmen ihn in ihre Mitte, schieben ihn auf den
Weg, der zum Haus des Simon führt, und sagen: «Deine Mutter braucht uns für
eine Arbeit. Komm auch du, Jakobus des Zebedäus.» Und sie nehmen auch den Sohn
der Salome mit. Andreas sieht Jakobus des Alphäus an, und Jakobus sieht ihn
an: zwei Gesichter, die denselben beherrschten Schmerz ausdrücken. Und da sie
nicht wissen, was sie sagen sollen, fassen sie einander wie zwei Kinder an den
Händen und entfernen sich traurig. Von den Jüngerinnen ist nur Salome da, die
es nicht wagt, sich zu rühren oder etwas zu sagen, sich aber auch nicht zum
Gehen entschließen kann. Es scheint, als wolle sie durch ihre Gegenwart den
unwürdigen Apostel am Reden hindern. Zum Glück ist niemand von der Familie des
Lazarus anwesend. Auch Maria, die Mutter des Herrn, ist nicht da.
Judas ist nun allein mit Jesus
und Salome. Er will nicht mit ihnen zusammen sein, kehrt ihnen den Rücken und
geht zur Jasminlaube.
Jesus blickt ihm nach, beobachtet
ihn. Er sieht, daß Judas – nachdem er so getan hat, als würde er sich setzen –
hinten wieder hinausschleicht, zwischen den Hecken aus Rosen, Lorbeer und
Buchsbaum hindurch, die den eigentlichen Garten von den Kräuterbeeten trennen,
wo die Bienenstöcke stehen. Von dort aus kann man durch eine Seitentür in der
Mauer des großen Gartens hinausgelangen. Dieser Garten ist ein wahrer Park,
der auf zwei Seiten von sehr hohen, doppelten Hecken umgeben ist, die eine Art
Allee bilden, nur hier und da unterbrochen von Gittertoren, durch die man auf
die Wiesen und Felder und in die Olivenhaine gelangen kann, und auch zum Haus
des Simon; somit geht also der Garten in die Güter über, und die Hecken
verbinden und trennen sie gleichzeitig. Auf den anderen beiden Seiten ist der
Garten durch mächtige Mauern abgeschlossen, durch die man auf zwei Straßen
gelangt: eine Hauptstraße und eine Nebenstraße, die in die Hauptstraße mündet,
und diese führt durch Bethanien nach Bethlehem.
Die Augen Jesu, der sich auf die
Zehenspitzen stellt und einige Schritte zur Seite geht, um zu sehen, was
Iskariot macht, sprühen Flammen.
Maria Salome bemerkt es, ahnt –
obgleich sie ihrer kleinen Statur wegen nicht viel sehen kann – was am Ende
des Parkes vor sich geht, und murmelt: «Der Herr sei uns gnädig!»
357
Jesus hört diesen Seufzer, wendet
sich einen Augenblick um und sieht die gute, einfältige Jüngerin an, die zwar
eine Anwandlung mütterlichen Stolzes gehabt haben mag, als sie einen
Ehrenplatz für ihre Söhne erbat – die aber immerhin gute Apostel sind – dann
aber demütig den Tadel Jesu angenommen hat, ohne gekränkt zu sein oder ihn zu
verlassen. Sie ist vielmehr noch demütiger, noch diensteifriger dem Meister
gegenüber geworden, folgt ihm wie ein Schatten, soweit es ihr irgend möglich
ist, studiert selbst die kleinste Regung seines Gesichtes und bemüht sich,
seinen Wünschen zuvorzukommen und ihm Freude zu bereiten. Auch jetzt versucht
die gute, demütige Salome den Meister zu trösten, den Verdacht, unter dem er
leidet, zu zerstreuen, und sagt: «Siehst du, er geht nicht weit. Er hat seinen
Mantel dort hingeworfen und nicht wieder geholt. Er wird nur über die Wiesen
gehen, um seine Laune auszutoben ... Judas würde nie in die Stadt gehen, ohne
korrekt gekleidet zu sein.»
«Er würde auch nackt gehen, wenn
er gehen wollte. Und tatsächlich... Schau! Komm hierher!»
«Oh, er versucht das Tor zu
öffnen! Aber es ist geschlossen! Er ruft einen Knecht, der bei den
Bienenstöcken arbeitet.»
Jesus ruft laut: «Judas, warte
auf mich! Ich muß mit dir sprechen», und will gehen.
«Um Gotteswillen! Herr! Ich werde
Lazarus rufen... deine Mutter... Geh nicht allein!»
Obwohl Jesus rasch geht, dreht er
sich halb um und sagt: «Ich befehle dir, es nicht zu tun! Schweige vielmehr!
Allen gegenüber. Wenn sie nach mir fragen, mache ich mit Judas einen kleinen
Spaziergang. Wenn die Jüngerinnen kommen, sollen sie warten. Ich werde bald
zurück sein.»
Salome regt sich nicht, wie auch
Iskariot nicht reagiert; die eine am Haus, der andere am Gitter. Sie bleiben
stehen, wo der Wille Jesu sie festhält. Die eine sieht ihn gehen, der andere
sieht ihn kommen.
«Öffne das Tor, Jonas. Ich möchte
mit meinem Jünger ein wenig hinausgehen. Und wenn du in der Nähe bleibst,
brauchst du es hinter uns nicht wieder abzuschließen. Ich werde bald zurück
sein», sagt Jesus gütig zu dem Landarbeiter, der mit dem großen Schlüssel in
der Hand sprachlos dasteht. Das kleine Tor aus schwerem Eisen quietscht, als
er es öffnet, und auch der Schlüssel knirscht beim Umdrehen.
«Ein Tor, das selten geöffnet
wird», sagt der Diener lächelnd. «Ja, du bist eingerostet! Wenn man müßig ist,
wird man rostig... Der Rost, der Staub, die Lausbuben... Es ist wie bei uns
Menschen... Wenn wir nicht immer an unserer Seele arbeiten!»
«Gut, Jonas! Das ist ein weiser
Gedanke, um den dich viele Rabbis beneiden würden.»
«Oh, es sind meine Bienen, die
mich auf diese Gedanken bringen – und deine Worte. Ganz besonders deine Worte.
Aber auch die Bienen belehren
358
mich, denn nichts ist stumm, wenn
man nur zu hören versteht. Und ich sage mir: Wenn sie, die Bienen, den
Befehlen dessen gehorchen, der sie erschaffen hat, obgleich sie nur Tierchen
sind und ich mir nicht vorstellen kann, wo sie ein Hirn und ein Herz haben
könnten, wie könnte dann ich, der ich Hirn, Herz und Verstand habe, nicht tun,
was sie tun, und fortwährend, unermüdlich arbeiten in Befolgung dessen, was
der Meister uns lehrt, damit meine Seele immer schöner wird und rein von Rost,
Staub, Schmutz, Stroh, Steinen und anderen Bosheiten, mit denen der höllische
Feind sie bedroht.»
«Das hast du sehr schön gesagt.
Mache es wie deine Bienen, und deine Seele wird ein reicher Bienenstock voll
kostbarer Tugenden werden, und Gott wird kommen und sich daran erfreuen. Leb
wohl, Jonas. Der Friede sei mit dir.»
Jesus legt seine Hand auf das
graue Haupt des Dieners, der gebeugt vor ihm steht, und geht dann auf die
Straße hinaus in Richtung der roten Kleefelder, die wie schöne dichte, weiche
Teppiche daliegen und auf denen die Bienen gleich Fünkchen summend von Blüte
zu Blüte fliegen.
Als sie sich so weit von der
Mauer entfernt haben, daß niemand im Garten des Lazarus etwas hören kann, sagt
Jesus: «Hast du gehört, was dieser Knecht gesagt hat? Er ist nur ein
Landarbeiter. Wenn er ein paar Worte lesen kann, ist es schon viel... Und
doch... Seine Worte könnten von meinen Lippen gekommen sein, ohne daß man mich
als Meister für töricht halten würde. Er fühlt, daß man wachsam sein muß,
damit die Feinde der Seele den Geist nicht zugrunderichten... Deshalb behalte
ich dich bei mir, und du haßt mich dafür. Ich will dich vor ihnen schützen und
vor dir selbst, und du haßt mich. Ich sage es dir noch einmal: Geh fort,
Judas. Geh weit fort. Geh nicht nach Jerusalem hinein. Du bist krank. Es ist
keine Lüge zu sagen, daß du zu krank bist, um am Passahfest teilnehmen zu
können. Du wirst das nachträgliche Fest feiern. Das Gesetz erlaubt es, das
Passahfest später zu feiern, wenn man durch Krankheit oder andere
schwerwiegende Gründe verhindert ist, am eigentlichen, feierlichen Passahfest
teilzunehmen. Ich werde Lazarus bitten – er ist ein kluger Freund und wird
keine Fragen stellen – dich heute noch auf die andere Seite des Jordan zu
begleiten.»
«Nein. Ich habe dir schon oft
gesagt, daß du mich fortschicken sollst, aber du hast nicht gewollt. Jetzt bin
ich es, der nicht will.»
«Du willst nicht? Du willst dich
nicht retten? Hast du kein Mitleid mit dir selbst? Auch nicht mit deiner
Mutter?»
«Du solltest sagen: "Hast du kein
Mitleid mit mir?" Das wäre aufrichtiger.»
«Judas, mein unglücklicher
Freund, meinetwegen bitte ich dich nicht. Deinetwegen, deinetwegen bitte ich
dich. Schau, wir sind allein. Ich und du, allein. Du weißt, wer ich bin, und
ich weiß, wer du bist. Es ist der letzte
359
Augenblick der Gnade, der uns
noch gewährt wird, um dein Verderben zu verhindern... Oh, grinse nicht so
teuflisch, mein Freund! Verlache mich nicht, als ob ich ein Verrückter wäre,
weil ich sage: "dein Verderben" und nicht meines. Für mich ist es kein
Verderben. Aber für dich... Wir sind allein, ich und du, und über uns ist
Gott... Gott, der dich noch nicht haßt. Gott, der diesen letzten Kampf
zwischen Gut und Böse, die um deine Seele ringen, sieht. Über uns ist der
Himmel, der uns beobachtet. Dieser Himmel, der sich bald mit Heiligen
bevölkern wird. Schon frohlocken sie dort am Ort ihres Wartens, denn sie
fühlen, daß die Freude naht... Judas, unter diesen ist auch dein Vater ...»
«Er war ein Sünder. Er ist nicht
unter ihnen.»
«Er war ein Sünder, aber er ist
nicht verdammt. Daher naht auch für ihn die Freude. Warum willst du ihm in
seiner Freude einen Schmerz bereiten?»
«Er fühlt keinen Schmerz mehr. Er
ist tot.»
«Nein, er steht nicht über dem
Schmerz, dich schuldig zu wissen, dich als... Oh, laß mich dieses schreckliche
Wort nicht aussprechen... !»
«Aber ja, ja! Sprich es aus! Ich
sage es mir seit Monaten. Ich bin verdammt. Ich weiß es. Und daran ist nichts
mehr zu ändern!»
«Alles! Judas, ich weine. Willst
du die letzten Tränen des Menschensohnes verschulden ... ? Judas, ich bitte
dich ... Bedenke, Freund: Der Himmel erfüllt meine Bitten, und du, und du ...
Wirst du mich vergebens bitten lassen? Bedenke, wer bittend vor dir steht: der
Messias Israels, der Sohn des Vaters... Judas, höre mich an! Halte ein,
solange du noch kannst... !»
«Nein!»
Jesus bedeckt sein Antlitz mit
den Händen und läßt sich am Rand der Wiese zu Boden fallen. Er weint lautlos,
aber heftig, und seine Schultern werden von Schluchzen geschüttelt...
Judas betrachtet ihn, dort zu
seinen Füßen, verzweifelt und weinend und von dem Wunsch erfüllt, ihn zu
retten... und empfindet ein plötzliches Mitleid. Er sagt, nun nicht mehr in
dem harten Ton eines wahren Satans, in dem er zuvor gesprochen hat: «Ich kann
nicht fortgehen... Ich habe mein Wort gegeben...»
Jesus erhebt sein betrübtes
Gesicht und unterbricht ihn: «Wem? Wem? Armen Menschen! Und du fürchtest, bei
ihnen als ehrlos zu gelten? Hast du dich nicht vor drei Jahren mir übergeben?
Und nun denkst du an die Meinung einer Handvoll Übeltäter und nicht an das
Gericht Gottes? Oh! Was muß ich tun, Vater, um in ihm den Willen zu erwecken,
nicht mehr zu sündigen?» Jesus senkt, von Schmerz überwältigt, das Haupt. Er
gleicht schon dem leidenden Jesus in der Todesangst im Gethsemane.
Judas hat Mitleid mit ihm und
sagt: «Ich bleibe. Leide nicht so! Ich bleibe... Hilf mir zu bleiben!
Verteidige mich!»
360
«Immer! Immer, wenn du nur
willst. Komm. Es gibt keine Schuld, die ich nicht verstehe und nicht verzeihe.
Sage: "Ich will", und ich werde dich erlösen...»
Jesus ist aufgestanden und hat
Judas umarmt. Aber obwohl die Tränen des Gottmenschen auf das Haupt des Judas
fallen, bleibt der Mund des Judas verschlossen. Er sagt nicht das verlangte
Wort. Er sagt nicht einmal «Verzeihung», als Jesus in sein Haar flüstert:
«Fühlst du nicht, daß ich dich liebe? Ich hätte dich tadeln müssen! Ich küsse
dich. Ich hätte das Recht, dir zu sagen: "Bitte deinen Gott um Verzeihung",
und ich verlange von dir nur den Willen, daß dir verziehen wird. Du bist so
krank! Man kann von einem Schwerkranken nicht viel verlangen. Von allen
Sündern, die zu mir gekommen sind, habe ich eine vollkommene Reue verlangt, um
verzeihen zu können. Von dir, mein Freund, verlange ich nur den Willen, zu
bereuen, und dann... alles übrige werde ich tun.»
Judas schweigt...
Jesus läßt ihn los und sagt nur:
«Bleib wenigstens hier bis zum Tag nach dem Sabbat.»
«Ich werde bleiben... Gehen wir
zum Haus zurück. Sie werden unsere Abwesenheit bemerken. Vielleicht warten die
Frauen auf dich. Sie sind besser als ich, und du darfst sie nicht meinetwegen
vernachlässigen.»
«Erinnerst du dich nicht mehr an
das Gleichnis vom verlorenen Schaf? Du bist es... Sie, die Frauen, sind die
guten Schafe im Schafstall. Sie sind nicht in Gefahr, auch wenn ich den ganzen
Tag deine Seele suche, um sie in den Schafstall zurückzuführen...»
«Aber ja! Aber ja! Ich kehre
schon in den Schafstall zurück! Ich werde mich in die Bibliothek des Lazarus
einschließen und lesen. Ich will nicht gestört werden. Ich will nichts sehen
und nichts wissen. So... wirst du mir nicht immer mißtrauen. Und wenn etwas
von dem, was geschieht, dem Synedrium zugetragen wird, dann wirst du die
Schlangen unter deinen Lieblingen suchen müssen. Leb wohl! Ich werde durch das
Haupttor hineingehen. Hab keine Angst, ich werde nicht fliehen. Du kannst
kommen und nachsehen, wenn du willst.» Judas wendet ihm den Rücken und geht
mit großen Schritten davon.
Jesus, eine hohe Gestalt im
weißen Leinengewand, steht am Rand des grünroten Kleefeldes. Er erhebt die
Arme zum heiteren Himmel empor, erhebt das tieftraurige Antlitz, erhebt die
Seele zu seinem Vater und klagt: «Oh, mein Vater! Kannst du mir vorwerfen, daß
ich etwas unterlassen habe, um ihn zu retten? Du weißt, ich kämpfe um seine
Seele, nicht um mein Leben, ich kämpfe, um sein Verbrechen zu verhindern...
Vater! Mein Vater! Ich flehe dich an! Beschleunige die Stunde der Finsternis,
die Stunde des Opfers, denn allzu furchtbar ist es für mich, an der Seite des
Freundes leben zu müssen, der nicht erlöst werden will... Ein unsagbarer
Schmerz ist es!» Und Jesus setzt sich in den dichten,
361
hohen, schönen Klee, umfaßt seine
Knie, legt das Haupt darauf und weint.
Oh, ich kann dieses Weinen nicht
sehen! Zu sehr gleicht es schon dem Weinen im Gethsemane in seiner
Trostlosigkeit, Einsamkeit und in der Überzeugung, daß der Himmel nichts tun
wird, um ihn zu trösten und diesen Schmerz von ihm zu nehmen. Es tut mir zu
weh...
Jesus weint lange an diesem
einsamen, stillen Ort. Zeugen seiner Tränen sind die goldenen Bienen, der
duftende Klee, der sich leise im Wind des aufziehenden Gewitters wiegt, und
die Wolken, die am frühen Morgen noch wie ein zartes Netz den blauen Himmel
überzogen haben und sich nun verdichten, zusammenballen, schwarz werden und
erneuten Regen ankündigen.
Schließlich weint Jesus nicht
mehr und erhebt lauschend das Haupt... Räderrollen und Schellengeklingel tönen
von der Hauptstraße herüber; dann hört das Geräusch der Räder auf, aber nicht
das Klingen der Schellen. Jesus sagt: «Ich muß gehen! Die Jüngerinnen... Sie
sind treu... Mein Vater, dein Wille geschehe! Ich opfere dir diesen meinen
Wunsch als Erlöser und Freund auf. Es steht geschrieben! Er hat es gewollt. Es
ist wahr. Gewähre mir aber, o mein Vater, daß ich mein Wirken für ihn
fortsetze, bis alles vollbracht ist. Und schon jetzt bitte ich dich: Vater,
wenn ich bald, ein ohnmächtiges Opfer, selbst nicht mehr wirken kann und für
die Sünder beten werde, dann nimm du mein Leiden und übe damit Macht aus über
die Seele des Judas. Ich weiß, daß ich dich um etwas bitte, was die
Gerechtigkeit nicht gewähren kann. Doch von dir ist die Barmherzigkeit, von
dir die Liebe gekommen, und du liebst sie, die von dir kommen und eins mit dir
sind, dem einen und dreieinen Gott, dem Heiligen und Gepriesenen. Ich werde
mich selbst meinen Auserwählten zur Speise und zum Trank geben. Vater, sollen
denn mein Fleisch und mein Blut für einen von ihnen zum Fluch werden? Vater,
hilf mir! Nur eine Spur von Reue in dieses Herz... ! Vater, Vater, warum
ziehst du dich zurück? Schon entfernst du dich von deinem Wort, das betet?
Vater, die Stunde ist gekommen, ich weiß es. Dein heiliger Wille geschehe.
Aber lasse deinem Sohn, deinem Christus, dessen Fähigkeit, die Zukunft klar zu
erkennen, durch deinen unergründlichen Ratschluß in dieser Stunde nachläßt –
und ich weiß, daß dies nicht aus Grausamkeit geschieht, sondern aus
Barmherzigkeit – lasse mir die Hoffnung, daß ich ihn noch retten kann. Oh,
mein Vater. Ich weiß es. Ich habe es gewußt, seit ich bin. Ich weiß es, seit
ich nicht mehr nur das Wort, sondern auch der Mensch bin, der auf die Erde
gekommen ist. Ich weiß es, seit ich diesem Mann im Tempel begegnet bin... Ich
habe es immer gewußt... Aber jetzt... Oh, wie erscheint es mir jetzt,
barmherzigster, heiligster Vater! Es scheint mir alles nur ein furchtbarer
Traum zu sein, den sein Verhalten hervorruft, aber nicht etwas
Unabwendbares... es scheint mir, daß ich noch hoffen kann, immer noch,
362
immer, denn mein Schmerz ist
unendlich, und unendlich wird das Opfer sein. Möge es auch für ihn nicht
vergebens sein... Ach, ich träume! Es ist der Mensch in mir, der dies hoffen
will! Der Gott, der im Menschen ist, der Gott, der Mensch geworden ist, kann
sich nicht irren. Es schwinden die leichten Nebel, die mir für einen
Augenblick den Abgrund verborgen haben, den Abgrund, der sich schon geöffnet
hat, um den zu verschlingen, der die Finsternis dem Licht vorzieht... Deine
Barmherzigkeit hat ihn mir verborgen! Und deine Barmherzigkeit hat ihn mich
erst jetzt schauen lassen, da du mich getröstet hast. Ja, Vater, auch dies!
Alles! Und ich werde Barmherzigkeit sein bis zum Ende, denn dies ist mein
Wesen.»
Jesus betet noch immer still, mit
in Kreuzesform ausgebreiteten Armen, und das von Schmerz gezeichnete Gesicht
nimmt immer mehr den Ausdruck erhabenen Friedens an. Es strahlt das Licht
einer innerlichen Freude aus, obgleich der geschlossene Mund nicht lächelt. Es
ist die Freude seines mit dem Vater vereinigten Geistes, die durch die Hülle
des Fleisches leuchtet und alle Spuren löscht, die der Schmerz eingegraben hat
auf diesem Antlitz, das immer magerer und vergeistigter wird, je mehr sich der
Meister seinem Schmerz hingibt und das Opfer sich nähert. Es ist schon kein
irdisches Antlitz mehr, das Antlitz Christi, in diesen letzten Tagen seines
Erdenlebens. Und kein Künstler wird je imstande sein – selbst wenn der Erlöser
sich ihm zeigen würde – dieses von der Vollkommenheit der Liebe und dem
Abgrund allen Schmerzes gezeichnete, überirdisch schöne Antlitz des
Gottmenschen darzustellen.
Jesus ist wieder an der Tür der
Umfassungsmauer. Er geht hinein, schließt ab und begibt sich zum Haus. Der
Diener von zuvor sieht ihn und eilt herbei, um ihm den großen Schlüssel, den
er in der Hand hält, abzunehmen.
Er geht weiter und begegnet
Lazarus: «Meister, die Frauen sind angekommen. Ich habe sie in den weißen Saal
führen lassen, denn in der Bibliothek ist Judas, der liest und leidend ist.»
«Ich weiß es. Ich danke dir im
Namen der Frauen. Sind es viele?»
«Johanna, Nike, Elisa und Valeria
mit Plautina. Dann noch eine, eine Freundin oder Freigelassene, ich weiß es
nicht, die Marcella heißt, eine alte Frau, Anna von Meron, die sagt, daß sie
dich kennt, und Annalia mit einem Mädchen namens Sara. Sie sind bei den
Jüngerinnen, mit deiner Mutter und meinen Schwestern.»
«Und diese Kinderstimmen?»
«Anna hat die Kinder ihres Sohnes
mitgebracht, Johanna die ihren, und Valeria ihre Tochter. Ich habe sie in den
Innenhof geführt...»
363
638. DER FREITAG VOR DEM EINZUG
IN JERUSALEM; 11. JESUS UND DIE JÜNGERINNEN
Der schöne Saal – der als
Bankettsaal dient und dessen Wände und Decke weiß sind, wie auch die schweren
Vorhänge, die über die Sitze gebreiteten Teppiche, die Fensterscheiben aus
Glimmer- oder Alabasterplatten und die Leuchter – ist voll schwatzender
Frauen. Fünfzehn Frauen, die miteinander reden, das will etwas heißen. Doch
kaum schiebt Jesus den schweren Vorhang zur Seite und erscheint auf der
Schwelle, entsteht absolutes Schweigen, alle erheben sich und verneigen sich
mit größter Ehrerbietung.
«Der Friede sei mit euch allen»,
sagt Jesus mit einem sanften Lächeln... Von den soeben durchgestandenen Leiden
ist keine Spur mehr auf seinem Antlitz zurückgeblieben, das heiter, leuchtend
und friedlich erscheint, als ob nichts Schmerzliches vorgefallen wäre oder
bevorstehen würde. Und er ist sich dessen bewußt.
«Der Friede sei mit dir, Meister.
Wir sind gekommen. Du hast uns sagen lassen: "mit allen Frauen, die bei
Johanna sind"; und ich habe dir gehorcht. Elisa war bei mir. Sie wird auch in
diesen Tagen bei mir bleiben. Und auch diese hier war bei mir, die sich deine
Jüngerin nennt. Sie war gekommen, um dich zu suchen, denn es ist bekannt, daß
ich deine glückliche Jüngerin bin. Auch Valeria ist bei mir im Haus, seit ich
in meinem Palast bin. Valeria hatte Plautina bei sich, die gekommen war, um
sie zu besuchen. Und die beiden haben diese hier mitgebracht. Valeria wird dir
sagen, wer sie ist. Später ist dann noch Annalia gekommen, der man deinen
Wunsch mitgeteilt hat, und dieses junge Mädchen; ihre Verwandte, glaube ich.
Wir haben uns verabredet, um hierher zu kommen, und haben auch Nike nicht
vergessen. Es ist so schön, sich als Schwestern im gemeinsamen Glauben an dich
zu fühlen... Und zu hoffen, daß auch die, die zur Zeit noch eine nur
natürliche Liebe an den Meister bindet, Fortschritte machen, so wie Valeria es
getan hat», sagt Johanna, wobei sie mit einem Seitenblick Plautina ansieht,
die über die natürliche Liebe noch nicht hinausgekommen ist.
«Diamanten entstehen langsam,
Johanna. Es braucht Jahrhunderte unterirdischen Feuers... Man darf niemals
Eile haben... und sich auch nicht entmutigen lassen, Johanna ...»
«Und wenn ein Diamant... wieder
zu Asche wird?»
«Dann ist es ein Zeichen, daß es
noch kein vollkommener Diamant war. Es braucht wiederum Geduld und Feuer. Man
muß von vorne anfangen und auf den Herrn vertrauen; denn das, was nach einem
ersten Versuch wie ein Mißerfolg aussieht, verwandelt sich oft bei einem
zweiten in Triumph.»
«Oder beim dritten oder vierten
oder noch mehreren. Ich war oft ein
364
Mißerfolg, doch zuletzt hast du
gesiegt, Rabbuni!» sagt Maria von Magdala mit ihrer volltönenden Stimme im
Hintergrund des Saales.
«Maria ist immer glücklich, wenn
sie sich mit der Erinnerung an ihre Vergangenheit demütigen kann ...» seufzt
Martha, der es lieber wäre, wenn diese Erinnerung aus allen Herzen gelöscht
würde.
«Wahrlich, so ist es, Schwester!
Ich bin glücklich, wenn ich an die Vergangenheit denke. Aber ich tue es nicht,
um mich zu demütigen, wie du sagst, sondern um in der Gerechtigkeit zu wachsen
durch die Erinnerung an das begangene Böse und aus Dankbarkeit gegenüber dem,
der mich gerettet hat. Und auch, damit alle, die an ihrer Rettung oder an der
eines geliebten Menschen zweifeln, Mut fassen und jenen Glauben finden, von
dem der Meister sagt, daß er Berge versetzen kann.»
«Und du Glückliche hast diesen
Glauben! Du kennst keine Furcht ...»seufzt Johanna, die im Vergleich zu
Magdalena noch sanfter und schüchterner als gewöhnlich wirkt.
«Furcht kenne ich nicht. Meine
menschliche Natur hat sich nie gefürchtet. Und nun, seit ich meinem Retter
angehöre, kennt auch meine geistige Natur keine Furcht mehr. Alles hat dazu
beigetragen, meinen Glauben zu vermehren. Kann jemand, der auferstanden ist
wie ich und den Bruder auferstehen gesehen hat, noch an etwas zweifeln? Nein,
nichts wird in mir Zweifel aufkommen lassen.»
«Solange Gott mit dir ist, das
heißt, solange der Rabbi mit dir ist... Aber er sagt, daß er uns bald
verlassen wird. Was wird dann aus unserem Glauben? Oder aus eurem Glauben, da
ich über die menschlichen Grenzen noch nicht hinausgekommen bin ...» sagt
Plautina.
«Seine körperliche Anwesenheit
oder Abwesenheit wird keinen Einfluß auf meinen Glauben haben. Ich werde mich
nicht fürchten. Und das ist nicht Stolz. Ich kenne mich nur selbst. Auch wenn
die Drohungen des Synedriums sich erfüllen sollten... werde ich mich nicht
fürchten ...»
«Was wirst du nicht fürchten? Daß
der Gerechte nicht gerecht sei? Diese Befürchtung werde auch ich nicht haben.
Wir glauben es von so vielen Weisen, deren Weisheit wir verkosten oder
vielmehr, von deren lebendigen Gedanken wir uns noch viele Jahrhunderte nach
ihrem Tod nähren. Aber wenn du...» drängt Plautina.
«Ich fürchte mich nicht einmal,
wenn er stirbt. Das Leben kann nicht sterben. Lazarus ist auferstanden,
obgleich er nur ein armseliger Mensch war ...»
«Er ist nicht aus sich selbst
auferstanden, sondern weil der Meister seine Seele aus dem Jenseits
zurückgerufen hat. Ein Werk, das nur der Meister vollbringen kann. Aber wer
wird die Seele des Meisters zurückrufen, wenn man den Meister getötet hat?»
«Wer? Er. Also Gott. Gott ist aus
sich selbst und kann aus sich selbst auferstehen.»
365
«Gott ... ja... Nach eurem
Glauben ist er aus sich selbst geworden. Es ist schon schwer für uns, dies zu
glauben, da wir wissen, daß ein Gott vom anderen abstammt, daß sie aus
göttlichen Liebschaften hervorgegangen sind.»
«Aus schmutzigen, irrealen
Liebschaften, mußt du sagen», unterbricht sie Maria Magdalena ungestüm.
«Wie du willst ...» lenkt
Plautina ein und will ihren Satz beenden, doch Maria Magdalena kommt ihr zuvor
und sagt: «Aber der Mensch, willst du sagen, kann nicht aus sich selbst
auferstehen. Doch er, so wie er aus sich selbst Mensch geworden ist – denn
nichts ist dem Heiligen der Heiligen unmöglich – ebenso wird er aus eigenem
Willen auferstehen. Du kannst dies nicht verstehen. Du kennst nicht die
Gestalten unserer Geschichte Israels. Er und seine Wunder sind in ihnen
enthalten. Und alles wird geschehen, wie es vorhergesagt wurde. Ich glaube
schon im voraus, Herr. Alles glaube ich. Ich glaube, daß du der Sohn Gottes
und der Sohn der Jungfrau bist; daß du das Lamm des Heiles, der
Allerheiligste, der Messias, der Befreier und der König aller bist; daß dein
Reich kein Ende und keine Grenzen haben wird; und endlich, daß der Tod keine
Macht über dich hat, denn Gott hat das Leben und den Tod geschaffen, und sie
sind ihm unterworfen wie alle anderen Dinge. Ich glaube. Und wenn auch mein
Schmerz, dich verkannt und verachtet zu sehen, groß sein wird, so wird mein
Glaube an dein ewiges Sein doch immer größer sein. Ich glaube an alles, was
von dir gesagt worden ist. Ich glaube. An alles, was du sagst, glaube ich. Ich
habe auch bei Lazarus geglaubt. Ich war die einzige, die gehorcht und geglaubt
hat; die einzige, die sich den Menschen und den Dingen, die sie zum Unglauben
verleiten wollten, widersetzt hat. Nur am Ende, gegen Ende der Prüfung, war
ich etwas verwirrt... Doch die Prüfung dauerte schon so lange... und ich
dachte, daß nicht einmal mehr du, gepriesener Meister, dich dem Leichnam so
viele Tage nach seinem Tod nähern könntest... Nun... nun würde ich selbst dann
nicht mehr zweifeln, wenn ein Grab sich erst nach Monaten anstatt Tagen öffnen
müßte, um seine Beute wieder herauszugeben. Oh, mein Herr! Ich weiß, wer du
bist! Der Schmutz hat den Stern nicht erkannt.» Maria ist zu seinen Füßen auf
den Marmorboden niedergekniet, nun nicht mehr heftig, sondern sanft und
anbetend und mit zu Jesus erhobenem Gesicht.
«Wer bin ich?»
«Der, der ist. Der bist du. Das
andere, die menschliche Person, ist nur das Gewand, das über deine
Herrlichkeit und deine Heiligkeit gestreifte notwendige Gewand, damit sie zu
unserer Rettung zu uns kommen konnte. Aber du bist Gott, mein Gott.» Und sie
wirft sich nieder, um die Füße Jesu zu küssen, und es scheint, als könnte sie
ihre Lippen nicht mehr von den unter dem Leinengewand hervorschauenden
Fußspitzen lösen.
«Steh auf, Maria. Halte immer an
diesem Glauben fest. Und halte ihn
366
empor wie einen Stern in
stürmischen Stunden, damit die Herzen zu ihm aufschauen und hoffen können;
dies wenigstens...»
Dann wendet er sich an alle und
sagt: «Ich habe euch rufen lassen, denn in den kommenden Tagen werden wir uns
kaum in Ruhe sehen können. Die Welt wird um uns sein. Und die Geheimnisse der
Herzen sind schamhafter als die der Körper. Ich bin heute nicht der Meister,
sondern der Freund. Nicht alle von euch haben mir Hoffnungen oder Ängste
mitzuteilen. Doch alle wolltet ihr noch einmal in Ruhe mit mir zusammensein.
Und ich habe euch gerufen, euch, die Blüte Israels und des neuen Reiches, und
euch, die Blüte der Heiden, die den Ort der Schatten verlassen, um in das
Leben einzugehen. Bewahrt dies in euren Herzen für die künftigen Tage: eure
Verehrung für den verfolgten König Israels, den unschuldig Angeklagten, den
nicht angehörten Meister, mildert meinen Schmerz.
Ich bitte euch, fest
zusammenzuhalten, ihr aus Israel, ihr, die ihr nach Israel gekommen seid, und
ihr, die ihr auf dem Weg nach Israel seid. Die einen mögen den anderen helfen.
Die starken Herzens sind, sollen denen helfen, die schwächer sind. Die
Wissenden denen, die wenig oder gar nichts wissen und nur von dem Wunsch nach
neuer Weisheit erfüllt sind, damit sich ihr noch rein menschlicher Wunsch
durch die Sorge ihrer fortgeschritteneren Schwestern in den übernatürlichen
Wunsch nach Wahrheit verwandle. Seid barmherzig zueinander. Jene, die das
göttliche Gesetz jahrhundertelang zur Gerechtigkeit erzogen hat, mögen
Nachsicht üben mit denen, die das Heidentum... anders sein läßt. Die
moralischen Gepflogenheiten ändern sich nicht von heute auf morgen, abgesehen
von außergewöhnlichen Fällen, in denen die göttliche Macht eingreift und die
Veränderung bewirkt, um einem besonders guten Willen zu helfen. Wundert euch
nicht, wenn ihr bei denen, die zuvor einer anderen Religion angehört haben,
nur einen langsamen oder stockenden Fortschritt seht, oder vielleicht sogar
Rückfälle in alte Gewohnheiten. Denkt an das Verhalten Israels mir gegenüber
und erwartet nicht von den Heiden die Willigkeit und die Tugenden, die Israel
dem Meister nicht schenken konnte und wollte.
Fühlt euch als Schwestern. Als
Schwestern, die das Schicksal um mich versammelt hat in diesen letzten Tagen
meines sterblichen Lebens... Weint nicht! Und es hat euch zusammengeführt aus
verschiedenen Regionen. Daher erschweren auch die unterschiedlichen Sprachen
und Gebräuche euer gegenseitiges Verständnis als Menschen. Doch die Liebe
kennt wahrlich nur eine Sprache, und es ist diese: das zu tun, was der
Geliebte lehrt, und es zu tun, um ihn damit zu ehren und zu erfreuen. Darin
könnt ihr euch alle verstehen, und die, die es besser können, sollen den
anderen helfen zu verstehen. Dann... in der Zukunft, in einer mehr oder
weniger fernen Zukunft und unter verschiedenen Umständen, werdet ihr euch
367
wieder trennen und euch in alle
Richtungen der Erde zerstreuen. Einige werden in das Land ihrer Geburt
zurückkehren, andere in ein Exil gehen, das aber nicht schwer auf ihnen lasten
wird; denn die es erleiden müssen, werden in der Wahrheit schon eine
Vollkommenheit erlangt haben, die sie verstehen läßt, daß die Verbannung aus
dem wahren Vaterland nicht darin besteht, hier- oder dorthin geschickt zu
werden. Die wahre Heimat ist der Himmel. Und wer in der Wahrheit ist, ist in
Gott und hat Gott in sich. Er ist also schon im Reich Gottes, und das Reich
Gottes kennt keine Grenzen. Und er verläßt dieses Reich auch nicht, wenn man
ihn von Jerusalem z.B. nach Iberien, Pannonien, Gallien oder Illyrien schickt.
Ihr werdet immer in diesem Reich sein, wenn ihr in Jesus bleibt oder zu Jesus
kommt. Ich bin gekommen, um alle Schafe zu sammeln. Die der Herde des Vaters,
die aus anderen Herden, und auch die verwilderten Schafe ohne Hirten, die
vielmehr nicht nur verwildert, sondern wild und von der finstersten Finsternis
umgeben sind, so daß sie nicht nur kein Jota vom göttlichen Gesetz kennen,
sondern auch nichts von einem moralischen Gesetz wissen. Unbekannte Völker,
die darauf warten, bekannt zu werden in der Stunde, die Gott bestimmt hat, um
ein Teil der Herde Christi zu werden. Wann? Oh, Jahre und Jahrhunderte sind
nichts im Vergleich zur Ewigkeit. Aber ihr seid die Vorgängerinnen jener, die
mit den künftigen Hirten gehen werden, um in christlicher Liebe die wilden
Schafe und Lämmer auf die göttlichen Weiden zu führen.
Euer erstes Übungsfeld soll diese
Gegend hier sein. Das Schwälbchen, das die Flügel zum ersten Flug ausbreitet,
stürzt sich nicht sofort in große Abenteuer. Es versucht erst einmal, vom Nest
bis zur Rebe, die die Terrasse beschattet, zu fliegen. Dann kehrt es ins Nest
zurück. Daraufhin fliegt es über die eigene Terrasse hinaus auf die
nächstgelegene und wieder zurück. Es fliegt immer etwas weiter, bis es sich
stark genug fühlt und ein sicheres Orientierungsvermögen entwickelt hat. Erst
dann spielt es mit den Winden und dem Raum, kommt und geht zwitschernd,
verfolgt Insekten, streicht über das Wasser und fliegt der Sonne entgegen, bis
es zur rechten Zeit die Flügel zum langen Flug in wärmere Gegenden, die reich
an neuer Nahrung sind, ausbreitet und sich nicht fürchtet, auch das Meer zu
überfliegen.
Die so kleine Schwalbe, ein
Pünktchen glänzenden Stahles, verloren in der blauen Unendlichkeit von Himmel
und Meer, ein Pünktchen, das furchtlos dahinfliegt, obwohl es doch eben noch
den kurzen Flug vom Nest zur Rebe gefürchtet hat; ein vollkommener, nerviger
Körper durchschneidet nun die Luft wie ein Pfeil, und man weiß nicht, ob es
die Luft ist, die diesen kleinen König der Lüfte liebevoll fortträgt, oder ob
er es ist, der kleine König der Lüfte, der liebevoll sein Herrschaftsgebiet
durchstreift. Wer denkt bei der Betrachtung ihres sicheren Fluges, der sich
Winde und atmosphärische Bedingungen zunutze macht, um schneller ans
368
Ziel zu kommen, noch an ihren
ersten ungeschickten, flatternden, ängstlichen Flug?
So wird es auch bei euch sein. So
soll es auch bei euch sein. Bei euch und allen Seelen, die euch nachahmen
werden. Alles will gelernt sein. Laßt euch nicht entmutigen durch die ersten
Mißerfolge. Werdet aber auch nicht stolz nach den ersten Siegen. Die ersten
Mißerfolge sollen euch lehren, es beim nächsten Mal besser zu machen. Die
ersten Siege sollen euch als Ansporn dienen, es in Zukunft noch besser zu
machen, und sie sollen euch überzeugen, daß Gott den Menschen guten Willens
beisteht.
Seid immer den Hirten untertan
und gehorcht ihrem Rat und ihren Befehlen. Seid ihnen immer Schwestern, helft
ihnen in ihrer Mission und seid ihnen Stütze in allen ihren Mühen. Sagt dies
auch denen, die heute nicht anwesend sind. Sagt es jenen, die später kommen
werden.
Und jetzt und immer sollt ihr
Töchter meiner Mutter sein. Sie wird euch in allem führen. Sie kann Mädchen
und Witwen ebenso führen wie Ehefrauen und Mütter, da sie jeden Stand aus
eigener Erfahrung und durch ihre übernatürliche Weisheit kennt. Liebt einander
und liebt mich in Maria. Dann werdet ihr niemals fehlen, denn sie ist der Baum
des Lebens, die lebendige Arche Gottes und das Ebenbild Gottes, in dem die
Weisheit sich niedergelassen und die Gnade Fleisch angenommen hat.
Nun, da ich allgemein zu euch
gesprochen und euch gesehen habe, möchte ich meine Jüngerinnen, jene, die die
Hoffnung der künftigen Jüngerinnen sind, anhören. Geht. Ich bleibe hier. Wer
von euch mit mir sprechen will, soll kommen. Denn wir werden nie mehr
Augenblicke traulichen Friedens wie diese erleben.»
Die Frauen beraten sich. Elisa
geht mit Maria und Maria des Kleophas hinaus. Maria des Lazarus hört Plautina
zu, die sie von etwas überzeugen will. Doch es scheint, daß Maria nicht
derselben Meinung ist, denn sie schüttelt entschieden den Kopf, läßt ihre
Gesprächspartnerin einfach stehen und geht hinaus. Im Vorübergehen nimmt sie
ihre Schwester und Susanna mit und sagt: «Wir werden immer noch Zeit haben,
mit ihm zu sprechen. Lassen wir diese, die wieder fortgehen müssen, hier bei
ihm.»
«Komm, Sara. Wir werden als
letzte kommen», sagt Annalia.
Sie gehen alle langsam hinaus,
mit Ausnahme von Maria Salome, die unschlüssig auf der Schwelle stehenbleibt.
«Komm her, Maria. Schließe die
Tür und komm her. Was fürchtest du?» sagt Jesus zu ihr.
«Es ist... Ich bin immer bei dir.
Hast du Maria des Lazarus gehört?»
«Ich habe sie gehört. Doch komm
hierher. Du bist die Mutter meiner ersten Apostel. Was willst du mir sagen?»
Die Frau nähert sich langsam und
feierlich, wie jemand, der um etwas Großes bitten muß und nicht weiß, ob er es
tun darf.
Jesus ermutigt sie durch ein
Lächeln und mit den Worten: «Nun? Willst
369
du mich vielleicht um einen
dritten Platz für Zebedäus bitten? Aber er ist weise. Er hat dich gewiß nicht
hergeschickt, damit du mir das sagst. Sprich also...»
«Oh, Herr! Gerade wegen dieses
Platzes wollte ich mit dir reden. Du... sprichst in einer Art... als ob du uns
verlassen wolltest. Und ich möchte, daß du mir zuvor noch sagst, ob du mir
wirklich verziehen hast. Ich finde keinen Frieden, wenn ich daran denke, daß
ich dir mißfallen habe.»
«Du denkst immer noch daran?
Siehst du nicht, daß ich dich wie zuvor liebe und sogar noch mehr als zuvor?»
«Oh! Das schon, Herr. Aber sage
mir noch einmal das Wort der Verzeihung. Damit ich meinem Mann sagen kann, wie
gut du zu mir gewesen bist.»
«Es ist nicht nötig, daß du ihm
von einem schon verziehenen Fehler erzählst, Frau.»
«Doch, ich werde ihm davon
erzählen. Weißt du, warum? Wenn Zebedäus sieht, wie du seine Söhne liebst,
könnte er dieselbe Sünde wie ich begehen... Und wenn du uns verläßt, wer würde
ihn dann lossprechen? Ich möchte, daß wir alle in dein Reich kommen, auch mein
Mann. Und ich glaube, das zu wollen ist kein Unrecht. Ich bin eine arme Frau
und ungebildet. Aber wenn deine Mutter uns Frauen aus der Schrift vorliest
oder zitiert, dann spricht sie oft von den auserwählten Frauen Israels und von
den Stellen, die von uns handeln. Und in den Sprüchen, die mir so sehr
gefallen, steht geschrieben, daß das Herz des Mannes auf die starke Frau
vertraut. Ich finde es richtig, daß der Mann auch in bezug auf himmlische
Dinge seiner Frau vertrauen kann. Wenn ich meinem Mann einen sicheren Platz im
Himmel verschaffe, indem ich ihn daran hindere zu sündigen, so glaube ich,
damit etwas Gutes zu tun.»
«Ja, Salome. Aus deinem Mund
spricht nun wahrlich die Weisheit, und das Gesetz der Güte spricht mit deiner
Zunge. Geh in Frieden. Du hast mehr als meine Verzeihung. Deine Söhne werden
dich, dem Buch gemäß, das dir so gut gefällt, glücklich preisen, und dein Mann
wird dich in der Heimat der Gerechten loben. Geh beruhigt. Geh in Frieden. Sei
glücklich.» Er segnet und entläßt sie.
Salome geht ganz selig hinaus.
Nun kommt die alte Anna vom Haus
am Meronsee herein. Sie führt zwei Knaben an der Hand, und hinter ihnen kommt
ein schüchternes, blasses Mädchen mit gesenktem Kopf, schon eine kleine
Mutter, da es ein Kind an der Hand führt, das noch kaum richtig gehen kann.
«Oh! Anna! Auch du willst also
mit mir sprechen? Und dein Mann?»
«Er ist krank, Herr. Schwer
krank! Ich werde ihn vielleicht nicht mehr lebend antreffen...» Tränen rinnen
über das alte, faltige Gesicht.
«Und du bist hier?»
«Ich bin hier. Er hat gesagt:
"Ich kann nicht. Geh du zum Passahfest
370
und sorge dafür, daß unsere
Söhne..."» Das Weinen wird stärker und läßt sie nicht weitersprechen.
«Warum weinst du so, Frau? Dein
Mann hat recht gesprochen: "Sorge dafür, daß unsere Söhne sich Christus nicht
widersetzen, damit sie den ewigen Frieden erwerben." Judas ist ein Gerechter.
Mehr als um sein Leben und den Trost, den ihm deine Pflege hätte geben können,
ist er um das Wohl seiner Söhne besorgt. Die Schleier heben sich in den
Stunden, die dem Tod des Gerechten vorangehen, und die Augen des Geistes sehen
die Wahrheit. Aber deine Söhne hören nicht auf dich, Frau. Und was kann ich
tun, wenn sie mich ablehnen?»
«Hasse sie nicht, Herr.»
«Und warum sollte ich sie hassen?
Ich werde für sie beten. Und diesen hier, die unschuldig sind, werde ich die
Hände auflegen, um den todbringenden Haß von ihnen fernzuhalten. Kommt her zu
mir. Wer bist du?»
«Judas, wie der Vater meines
Vaters», sagt der größere Junge, und der Kleinste, den die Schwester an der
Hand hält, hüpft und schreit: «Ich, ich, Judas!»
«Ja, sie haben den Vater geehrt,
indem sie den Kindern seinen Namen gegeben haben. Aber nicht in anderen Dingen
...» sagt die Alte.
«Seine Tugenden werden in diesen
wieder aufleben. Komm auch du, Mädchen. Sei gut und klug wie jene, die dich
hierher gebracht hat.»
«Oh, Maria ist gut und klug! Um
nicht allein zu sein, werde ich sie nach Galiläa mitnehmen.»
Jesus segnet die Kinder und läßt
seine Hand auf dem Köpfchen des guten Mädchens ruhen. Dann fragt er: «Und für
dich selbst erbittest du nichts, Anna?»
«Daß ich meinen Judas noch lebend
antreffe und die Kraft habe, zu lügen und zu sagen, daß seine Söhne...»
«Nein, nicht lügen. Niemals.
Nicht einmal, um einen Sterbenden in Frieden hinscheiden zu lassen. Du sollst
Judas sagen: "Der Meister hat gesagt, daß er dich segnet und mit dir segnet er
auch dein Blut." Denn auch dieses unschuldige Mädchen ist von seinem Blut, und
ich habe es gesegnet.»
«Aber wenn er fragt, ob unsere
Söhne...»
«Dann wirst du sagen: "Der
Meister hat für sie gebetet." Und Judas wird beruhigt sein in der Gewißheit,
daß mein Gebet mächtig ist, und du hast die Wahrheit gesagt, ohne einen
Sterbenden zu beunruhigen. Denn ich werde auch für deine Söhne beten. Geh nun
in Frieden, Anna. Wann verläßt du die Stadt?»
«Am Tag nach dem Sabbat, damit
ich unterwegs nicht vom Sabbat aufgehalten werde.»
«Das ist gut so. Es freut mich,
daß du am Tag nach dem Sabbat noch
371
hier sein wirst. Halte dich an
Elisa und Nike. Geh nun. Und sei stark und treu.»
Die Frau ist schon beinahe an der
Tür, als Jesus sie zurückruft: «Höre, deine Enkel sind oft bei dir, nicht
wahr?»
«Immer, wenn ich in der Stadt
bin.»
«In diesen Tagen... laß sie zu
Hause, wenn du ausgehst, um mir zu folgen.»
«Warum, Herr? Fürchtest du
Verfolgung?»
«Ja. Und es ist gut, wenn die
Unschuld davon nichts hört und sieht ...»
«Aber... was glaubst du, was
geschehen könnte?»
«Geh, Anna. Geh.»
«Herr, wenn... wenn sie dir
antun, was man sagt, dann werden meine Söhne sicher... Und dann wird das Haus
schlimmer sein als die Straße...»
«Weine nicht. Gott wird
vorsorgen. Der Friede sei mit dir.»
Die Greisin geht weinend fort.
Eine Weile erscheint niemand.
Dann kommen Johanna und Valeria zusammen herein. Sie sind erregt. Besonders
Johanna. Die andere ist bleich und seufzt, beherrscht sich aber besser.
«Meister, Anna hat uns
erschreckt. Du hast ihr gesagt... Oh! Aber es ist doch nicht wahr! Chuza mag
ein Zweifler sein... ein kalter Rechner. Aber ein Lügner ist er nicht. Er hat
mir versichert, daß Herodes keinerlei Gelüste hat, dir zu schaden... Ich weiß
nicht, ob Pontius ...» Bei den letzten Worten schaut sie Valeria an, die
schweigt. Dann fährt sie fort: «Ich habe gehofft, etwas von Plautina zu
erfahren, aber ich habe nicht viel verstanden ...»
«Nichts, mußt du sagen, außer daß
sie keinen Schritt vorwärts getan hat und geblieben ist, was sie war. Auch mir
hat sie nichts gesagt. Aber wenn ich richtig verstanden habe, dann hat die
römische Gleichgültigkeit, die immer sehr groß ist, wenn irgend etwas keine
Auswirkung auf das Vaterland oder auf die eigene Person hat, den Geist derer
abgestumpft, die zuvor bereit schienen, sich aufrütteln zu lassen. Mehr als
die Tatsache, daß ich mich der Synagoge angenähert habe, trennt uns wie eine
Kluft, die das zuvor zusammenhängende Erdreich spaltet, diese
Gleichgültigkeit, diese geistige Trägheit... durch die sie sich nun so sehr
von mir unterscheiden. Aber sie sind glücklich. Auf ihre Art sind sie
glücklich... Und das menschliche Glück trägt nicht dazu bei, das Denken
anzuregen.»
«Es trägt nicht dazu bei, den
Geist wachzurütteln, Valeria», sagt Jesus.
«So ist es, Meister. Ich... das
ist etwas anderes... Hast du die Frau gesehen, die bei uns war? Sie gehört zu
meiner Familie. Sie ist Witwe und allein und wurde von unseren Verwandten
geschickt, um mich zu überzeugen, nach Italien zurückzukehren. Oh! Wie viele
Versprechen zukünftiger Freuden! Es sind Freuden, die ich nicht mehr schätze,
da sie für mich keine Freuden mehr sind, und ich verachte sie. Ich werde nicht
nach
372
Italien gehen. Hier habe ich dich
und mein Kind, das du mir gerettet hast, dessen Seele zu lieben du mich
gelehrt hast. Ich werde diese Orte nicht verlassen. Marcella... ich habe sie
mitgebracht, damit sie dich sieht und begreift, daß ich nicht wegen einer
unwürdigen Liebe zu einem Hebräer – für uns wäre sie unwürdig – hierbleiben
will, sondern weil ich bei dir Trost gefunden habe in meinem Schmerz als
verstoßene Gattin. Marcella ist nicht böse. Sie hat gelitten und sie hat
Verständnis. Doch sie ist noch nicht imstande, meine neue Religion zu
verstehen. Und ein wenig macht sie mir Vorwürfe, da sie mich für eine
Träumerin hält ... Aber das macht nichts. Wenn sie will, wird auch sie dorthin
gelangen, wo ich jetzt bin. Wenn nicht, werde ich mit Thusnelda hierbleiben.
Ich bin frei, ich bin reich. Ich kann tun, was ich will. Und da ich nichts
Böses tue, werde ich tun, was ich will.»
«Und wenn der Meister nicht mehr
hier ist?»
«Dann bleiben immer noch seine
Jünger. Plautina, Lydia und selbst Claudia, die nach mir diejenige ist, die am
meisten deine Lehre befolgt und dich am meisten verehrt, haben noch nicht
begriffen, daß ich nicht mehr die Frau bin, die sie gekannt haben und glauben,
immer noch zu kennen. Aber ich bin nun sicher, mich selbst zu kennen. So
sicher, daß ich sage: Selbst wenn ich sehr viel verliere, selbst wenn ich den
Meister verliere, verliere ich nicht alles, denn der Glaube wird bleiben. Und
ich werde bleiben, wo mein Glaube geboren ist. Ich will Fausta nicht
irgendwohin bringen, wo nichts mehr von dir spricht. Hier... spricht alles von
dir, und du wirst uns gewiß nicht ohne Führung lassen, uns, die wir dir folgen
wollen. Warum muß ich, die Heidin, es sein, die so denkt, während viele von
euch, auch du, wie verloren erscheinen, wenn sie an den Tag denken, da der
Meister nicht mehr unter uns sein wird?»
«Weil sie an Jahrhunderte der
Unveränderlichkeit gewöhnt sind, Valeria. Sie denken, daß der Allerhöchste
dort in seinem Haus ist, über dem unsichtbaren Altar, den nur der Hohepriester
bei feierlichen Anlässen sieht. Das hat ihnen geholfen, zu mir zu kommen. Nun
konnten endlich auch sie sich dem Herrn nähern. Aber nun fürchten sie sich
davor, weder den Allerhöchsten in seiner Herrlichkeit, noch das Wort des
Vaters unter sich zu haben. Man muß sie verstehen... und die Seele erheben,
Johanna. Ich werde in euch sein. Denk daran. Ich werde fortgehen. Aber ich
werde euch nicht als Waisen zurücklassen. Ich werde euch mein Haus
zurücklassen: meine Kirche. Und mein Wort: die Frohe Botschaft. Meine Liebe
wird in euren Herzen wohnen. Und endlich werde ich euch ein noch größeres
Geschenk hinterlassen, das euch mit mir nähren und bewirken wird, daß ich
nicht nur geistig unter euch und in euch bin. Dies werde ich tun, um euch
Trost und Kraft zu schenken. Aber nun... Anna ist sehr in Sorge wegen der
Kinder...»
«Ja, sie hat voller Angst davon
gesprochen ...»
373
«Ich habe ihr gesagt, sie von den
Menschen fernzuhalten. Dasselbe sage ich dir, Johanna, und dir, Valeria.»
«Ich werde Fausta noch vor der
geplanten Zeit mit Thusnelda nach Bether schicken. Sie sollten eigentlich erst
nach dem Fest dorthin gehen.»
«Ich will mich nicht von den
Kindern trennen. Ich werde sie im Haus behalten. Und ich werde Anna sagen, daß
sie die ihren ebenfalls dorthin bringen soll. Diese Frau hat böse Söhne; aber
sie werden sich durch meine Einladung geehrt fühlen und der Mutter nicht
widersprechen. Und ich ...»
«Ich möchte ...»
«Was, Meister?»
«Ich möchte, daß ihr in diesen
Tagen alle eng beisammenbleibt. Ich werde die Schwester meiner Mutter, Salome,
Susanna und die Schwestern des Lazarus bei mir behalten. Aber euch möchte ich
beisammen wissen, sehr nahe beisammen.»
«Aber können wir nicht hingehen,
wo du bist?»
«Ich werde dem Blitz gleichen,
der aufleuchtet und verschwindet, in diesen Tagen. Ich werde am Morgen zum
Tempel hinaufgehen und dann die Stadt verlassen. Außer jeden Morgen im Tempel
könntet ihr mich nicht finden.»
«Letztes Jahr bist du bei mir
gewesen ...»
«Dieses Jahr werde ich in keinem
Haus sein. Ich werde ein Blitz sein, der enteilt...»
«Aber das Passahfest ...»
«Ich möchte es mit meinen
Aposteln verbringen, Johanna. Wenn dein Meister es so will, hat er gewiß seine
Gründe.»
«Das ist wahr... Dann werde ich
also allein sein... denn meine Brüder haben mir gesagt, daß sie in diesen
Tagen frei sein wollen, und Chuza...»
«Meister, ich ziehe mich zurück.
Es regnet stark. Ich gehe zu den Kindern, die sich, wie ich höre, unter dem
Vordach aufhalten», sagt Valeria und zieht sich diskret zurück.
«Auch in deinem Herzen regnet es
stark, Johanna.»
«Das ist wahr, Meister. Chuza ist
so... sonderbar. Ich verstehe ihn nicht mehr. Ein dauernder Widerspruch.
Vielleicht hat er Freunde, die seine Gedanken beeinflussen... oder vielleicht
hat ihm jemand gedroht, und er fürchtet für seine Zukunft.»
«Er ist nicht der einzige. Ich
kann dir sagen, daß es nur wenige und sehr vereinzelte hier und dort sind, die
wie ich keine Angst vor der Zukunft haben. Und es werden bald immer weniger
sein. Sei sehr sanft und geduldig mit ihm. Er ist nur ein Mensch...»
«Aber er hat so viel von Gott,
von dir erhalten, er müßte...»
«Ja, er müßte! Aber wer in Israel
hat nichts von mir erhalten! Ich habe Freunden und Feinden Gutes getan. Ich
habe verziehen, geheilt, getröstet und belehrt... Du siehst, und du wirst
immer besser erkennen, daß nur
374
Gott unveränderlich ist, während
die Menschen unterschiedlich reagieren; und wer am meisten bekommen hat, ist
oft der erste, der seinen Wohltäter schlägt. Man wird wahrlich sagen können:
"Der mein Brot ißt, hat seine Ferse gegen mich erhoben."»
«Ich werde es nicht tun,
Meister.»
«Du nicht, aber viele andere.»
«Ist mein Mann etwa unter ihnen?
Wenn es so wäre, dann würde ich heute abend nicht mehr nach Hause
zurückkehren.»
«Nein. Er ist nicht unter ihnen
an diesem Abend. Aber selbst, wenn er unter ihnen wäre, dein Platz ist immer
dort. Denn wenn er sündigt, darfst nicht auch du sündigen. Wenn er wankt, mußt
du ihm Stütze sein. Wenn er dich schlägt, mußt du ihm verzeihen.»
«Oh, schlagen... Nein! Er liebt
mich. Aber ich wünschte, er wäre sicherer. Er hat großen Einfluß auf Herodes.
Und ich möchte, daß er dem Tetrarchen ein Versprechen für dich abnimmt. So wie
Claudia versucht, Pilatus eines abzunehmen. Aber Chuza hat mir nur vage Worte
von Herodes überbracht... und mir versichert, daß Herodes nur den Wunsch hat,
dich ein Wunder wirken zu sehen, und dich nicht verfolgen wird... Er hofft,
dadurch seine Gewissensbisse wegen Johannes zum Schweigen zu bringen. Chuza
sagt: "Mein König sagt immer: 'Selbst wenn der Himmel es mir gebieten würde,
ich würde die Hand nicht erheben. Ich habe zu große Angst.-»
«Er sagt die Wahrheit. Er wird
die Hand nicht gegen mich erheben. Viele in Israel werden es nicht tun, da sie
Angst haben, mich offen zu verurteilen. Aber sie werden verlangen, daß andere
es tun. Als ob es in den Augen Gottes einen Unterschied gäbe zwischen dem, der
unter dem Druck des Volkswillens verurteilt, und dem, der diese Verurteilung
herbeiführt.»
«Oh! Das Volk liebt dich aber!
Man bereitet große Feiern für dich vor. Doch Pilatus liebt keine Tumulte. Er
hat die Wachen in den letzten Tagen verstärken lassen. Ich hoffe sehr, daß...
Ich weiß nicht, was ich hoffe, Herr. Ich hoffe und verzweifle. Meine Gedanken
sind so veränderlich wie diese Tage, da Sonne mit Regen abwechselt...»
«Bete, Johanna, und sei im
Frieden. Denke immer daran, daß du deinen Meister nie betrübt hast, und daß er
sich daran erinnert. Geh.»
Johanna, die in wenigen Tagen
blaß und mager geworden ist, geht nachdenklich hinaus.
Nun zeigt sich das liebliche
Gesicht Annalias.
«Komm näher. Wo hast du deine
Gefährtin gelassen?»
«Dort drüben, Herr. Sie will nach
Hause; alle sind am Aufbrechen. Martha hat meinen Wunsch verstanden und wird
mich bis morgen abend hierbehalten. Sara kehrt nach Hause zurück, um dort zu
sagen, daß ich noch bleibe. Sie möchte deinen Segen, weil... Doch das werde
ich dir nachher sagen.»
375
«Sie soll kommen. Ich werde sie
segnen.»
Das Mädchen geht und kommt mit
der Freundin zurück, die vor dem Herrn niederkniet.
«Der Friede sei mit dir, und die
Gnade des Herrn möge dich auf den Wegen geleiten, auf die dich jene geführt
hat, die dir vorangegangen ist. Sei liebevoll zu ihrer Mutter und danke dem
Himmel, der dir Bindungen und Schmerzen erspart hat, um dich ganz zu besitzen.
Eines Tages wirst du noch glücklicher als heute darüber sein, daß du aus
freiem Willen unfruchtbar geblieben bist. Geh nun!»
Das Mädchen geht sichtlich bewegt
hinaus.
«Du hast ihr alles gesagt, was
sie erhofft hat. Diese Worte waren ihr Traum. Sara hat immer gesagt: "Mir
gefällt dein Los, obgleich es so neu in Israel ist. Und ich möchte dasselbe.
Da ich keinen Vater mehr habe und meine Mutter sanft wie eine Taube ist,
fürchte ich nicht, der Berufung nicht folgen zu können. Aber um sicher zu
sein, daß ich ihr entsprechen kann und daß sie für mich heilig ist, wie sie es
für dich ist, möchte ich es aus seinem Mund hören." Nun hast du es ihr gesagt.
Und auch ich bin glücklich, denn ich hatte schon befürchtet, einem Herzen
falsche Hoffnungen gemacht zu haben...»
«Seit wann ist sie bei dir?»
«Seit... Als das Synedrium den
Bann verkündet hat, sagte ich mir: "Die Stunde des Herrn ist gekommen, und ich
muß mich auf den Tod vorbereiten." Denn ich hatte dich darum gebeten, Herr...
Heute erinnere ich dich daran... Wenn du zum Opfer gehst, gehe ich, die
Hostie, mit dir.»
«Hast du immer noch den festen
Willen?»
«Ja, Meister. Ich könnte nicht
leben in einer Welt, in der du nicht bist... und ich könnte deine Marter nicht
überleben. Ich habe so große Angst deinetwegen! Viele von uns machen sich
Illusionen... Ich nicht! Ich fühle, daß die Stunde gekommen ist. Der Haß ist
zu groß. Ich hoffe, daß du mein Opfer annimmst. Ich habe nichts als mein
Leben, denn ich bin arm, du weißt es. Mein Leben und meine Reinheit. Deshalb
habe ich meine Mutter überredet, ihre Schwester zu sich zu rufen, damit sie
nicht allein bleibt... Sara wird ihr Tochter sein an meiner Stelle, und die
Mutter Saras wird sie trösten. Enttäusche mein Herz nicht, Herr. Die Welt hat
keine Anziehungskraft für mich. Sie ist für mich ein Kerker, in dem mich
vieles stark abstößt. Vielleicht deshalb, weil ich an der Schwelle des Todes
gestanden und verstanden habe, daß die Freuden dieser Welt nur Leere sind, die
nicht befriedigt. Ich wünsche nichts anderes als das Opfer... und daß ich dir
vorausgehen darf... um nicht sehen zu müssen, wie der Haß der Welt meinen
Herrn wie ein Marterwerkzeug quält... und um dir im Schmerz ähnlich zu
sein...»
«Dann werden wir die gebrochene
Lilie auf den Altar legen, auf dem das Lamm geopfert wird. Und sie wird sich
röten vom erlösenden Blut.
376
Und nur die Engel werden wissen,
daß die Liebe der Opferpriester eines ganz weißen Lammes war, und sie werden
den Namen des ersten Opfers der Liebe, der ersten Nachfolgerin Christi
aufzeichnen.»
«Wann, Herr?»
«Halte die Lampe bereit und warte
im Hochzeitsgewand. Der Bräutigam naht. Du wirst seinen Triumph, nicht seinen
Tod schauen; und du wirst mit ihm triumphieren beim Einzug in sein Reich.»
«Oh, ich bin die glücklichste
Frau Israels! Ich bin die mit deinem Brautkranz gekrönte Königin! Darf ich
dich als solche um eine Gnade bitten?»
«Welche?»
«Ich habe einen Mann geliebt, du
weißt es. Ich habe ihn nicht als Gatten geliebt, denn eine größere Liebe hat
von meinem Herzen Besitz ergriffen, und er hat mich dann nicht mehr geliebt,
weil... Aber ich will nicht an seine Vergangenheit denken. Ich bitte dich,
dieses Herz zu erlösen. Darf ich das? Es ist doch keine Sünde, wenn ich an der
Schwelle des Lebens an den denke, den ich geliebt habe, und ihm das ewige
Leben schenken möchte, nicht wahr?»
«Es ist keine Sünde. Du führst
die Liebe zu einem heiligen Ende durch das Opfer, zum Wohl des Geliebten.»
«Segne mich also, Meister. Sprich
mich los von jeder Sünde. Bereite mich vor auf die Hochzeit und dein Kommen.
Denn du bist es, mein Gott, der da kommt, um seine arme Dienerin aufzunehmen
und sie zu seiner Braut zu machen.»
Das Mädchen, strahlend vor Freude
und Gesundheit, neigt sich zu Boden, um die Füße des Meisters zu küssen,
während Jesus es segnet und über ihm betet. Und der lilienweiße Saal bildet
wahrlich eine würdige Umgebung für diese Zeremonie und paßt zu den beiden
jungen, schönen, weißgekleideten Menschen, die in engelgleicher, göttlicher
Liebe erstrahlen.
Jesus verläßt das in seiner
Freude ganz entrückte Mädchen und geht leise hinaus, um die Kinder zu segnen,
die mit Freudenschreien zu dem Wagen eilen und zusammen mit den Frauen, die
abreisen, einsteigen. Elisa und Nike bleiben noch, um am folgenden Tag Annalia
in die Stadt zurückzubringen. Es hat aufgehört zu regnen, das Blau des Himmels
leuchtet durch die aufgerissenen Wolken, und die Sonne sendet ihre Strahlen
und läßt die Regentropfen blitzen. Ein schwacher Regenbogen spannt sich von
Bethanien nach Jerusalem. Der Wagen fährt quietschend durch das Tor und
verschwindet.
Lazarus, der am Rand der
Säulenhalle neben Jesus steht, fragt: «Haben dir die Jüngerinnen Freude
bereitet?» und dabei beobachtet er den Meister.
«Nein, Lazarus. Sie haben mir
alle, mit einer einzigen Ausnahme, ihre Schmerzen mitgeteilt, und sie hätten
mich auch enttäuscht – wenn ich mich hätte täuschen können.»
377
«Willst du damit sagen, daß dich
die Römerinnen enttäuscht haben? Haben sie von Pilatus gesprochen?»
«Nein.»
«Dann muß ich es tun. Ich habe
gehofft, daß sie von ihm sprechen würden, und deshalb habe ich gewartet. Gehen
wir in dieses ruhige Zimmer hier. Die Frauen haben sich mit Martha an ihre
Arbeit begeben. Maria ist im anderen Haus bei deiner Mutter. Deine Mutter ist
lange mit Judas zusammen gewesen und hat ihn nun mit sich genommen... Setz
dich, Meister... Ich bin beim Prokonsul gewesen. Ich hatte es versprochen und
habe es gehalten. Aber Simon des Jonas würde mit dem Ergebnis meiner Mission
nicht sehr zufrieden sein... Glücklicherweise denkt Simon nicht mehr daran.
Der Prokonsul hat mich angehört und dann geantwortet: "Ich? Ich soll mich
darum kümmern? Ich denke nicht im geringsten daran, das zu tun! Ich sage dir
nur: Nicht wegen des Mannes – also wegen dir, Meister – sondern wegen all des
Ärgers, den ich seinetwegen habe, bin ich fest entschlossen, mich nicht mehr
um die Angelegenheit zu kümmern, weder im Guten noch im Bösen. Ich wasche mir
die Hände in Unschuld. Ich werde die Wachen verstärken, denn ich will keine
Unordnung. Auf diese Weise wird der Caesar zufrieden sein, und auch meine Frau
und ich selbst. Die einzigen also, denen ich verpflichtet bin. Und im übrigen
rühre ich keinen Finger. Das sind doch nur Zwistigkeiten dieser ewig
Unzufriedenen. Sie schaffen sie sich selbst, sie sollen sie auch genießen. Den
Mann, ich kenne ihn nicht als Übeltäter, ich kenne ihn nicht als Tugendhaften,
ich kenne ihn nicht als Weisen. Und ich will ihn gar nicht kennen, will ihn
auch in Zukunft nicht kennen. Trotzdem, obwohl ich es nicht will, gelingt es
mir nur schlecht, denn die Führer Israels klagen ihn bei mir an, Claudia lobt
ihn, und die Jünger das Galiläers beschweren sich über das Synedrium. Wäre
nicht Claudia, würde ich ihn gefangennehmen lassen und ihn ihnen übergeben,
damit sie die Angelegenheit unter sich ausmachen und ich nichts mehr von ihm
höre. Dieser Mann ist der ruhigste Untertan des ganzen Imperiums. Aber dennoch
habe ich seinetwegen so viel Ärger gehabt, daß ich eine Lösung finden
möchte..." Bei dieser Stimmung, Meister ...»
«Du willst sagen, daß es keine
Gewißheit gibt. Bei den Menschen ist man nie sicher ...»
«Mir scheint aber doch, daß das
Synedrium ruhiger ist. Der Bann ist nicht in Erinnerung gebracht worden, und
man hat die Jünger nicht belästigt. Bald kommen sie aus der Stadt zurück. Dann
werden wir hören... Man wird dir immer widersprechen. Aber etwas unternehmen?
... Das Volk liebt dich zu sehr, und es wäre unklug, es jetzt
herauszufordern.»
«Wollen wir auf die Straße gehen
und den Zurückkehrenden entgegengehen?» schlägt Jesus vor.
«Gehen wir.»
378
Sie gehen in den Garten und sind
auf halbem Weg, als Lazarus fragt: «Aber wann hast du denn etwas gegessen? Und
wo?»
«Um die erste Stunde.»
«Es ist fast Abend. Kehren wir
zurück.»
«Nein. Ich habe nicht das
Bedürfnis und ziehe es vor zu gehen. Ich sehe ein armes Kind, das sich dort an
das Tor klammert. Vielleicht hat es Hunger. Es hat zerrissene Kleider und ist
sehr mager. Ich beobachte es seit einer ganzen Weile. Es stand schon dort, als
der Wagen hinausfuhr, und ist weggelaufen, um nicht gesehen und fortgejagt zu
werden. Dann ist es zurückgekommen, und nun schaut es immer zum Haus und zu
uns herüber.»
«Wenn es Hunger hat, dann wird es
gut sein, wenn ich etwas zu essen hole. Geh weiter, Meister. Ich komme gleich
nach.» Lazarus eilt zurück, während Jesus seine Schritte in Richtung auf das
Tor beschleunigt.
Das Kind mit seinem eingefallenen
und unregelmäßigen Gesicht, in dem nur zwei schöne, lebhafte Augen strahlen,
schaut ihn an.
Jesus lächelt ihm zu und sagt
sanft, während er sich mit dem Schloß beschäftigt: «Wen suchst du, Kind?»
«Bist du der Herr Jesus ?»
«Der bin ich.»
«Ich suche dich.»
«Wer schickt dich?»
«Niemand. Aber ich möchte mit dir
reden. So viele kommen, um mit dir zu reden. Auch ich. So viele erhörst du.
Erhöre auch mich.»
Jesus läßt das Schloß aufspringen
und bittet das Kind, das Gitter loszulassen, das seine mageren Hände noch
immer halten, um das Tor öffnen zu können. Das Kind tritt zur Seite, und durch
diese Bewegung verschiebt sich das verwaschene, ärmliche Kleid auf dem
schiefgewachsenen Körperchen, und man erkennt, daß es ein armes rachitisches
Kind ist mit einem tief zwischen den Schultern sitzenden Kopf und einem
beginnenden Buckel, das nur unsicher gehen kann und nun mit gespreizten Beinen
dasteht. Wirklich ein kleiner Unglücklicher. Vielleicht ist er älter, als es
den Anschein hat, denn die Statur ist die eines etwa Sechsjährigen, aber das
Gesicht schon das eines Mannes, etwas verwelkt und mit einem spitzen Kinn,
fast ein Greisenantlitz.
Jesus beugt sich über den Jungen,
um ihn zu streicheln, und sagt: «Sage mir also, was du willst. Ich bin dein
Freund. Ich bin der Freund aller Kinder.» Mit welch liebevoller Zartheit nimmt
Jesus das magere Gesichtlein in seine Hände und küßt es auf die Stirn!
«Ich weiß es. Deshalb bin ich
gekommen. Siehst du, wie ich aussehe? Ich möchte sterben, um nicht mehr leiden
zu müssen... und um niemandem mehr anzugehören. Du, der du so viele heilst und
die Toten zum Leben erweckst, laß mich sterben, denn niemand liebt mich, und
ich werde nie arbeiten können.»
379
«Hast du keine Eltern? Bist du
eine Waise?»
«Ich habe einen Vater. Aber er
liebt mich nicht, weil ich so bin. Er hat die Mama fortgejagt, ihr einen
Scheidebrief gegeben, und mich hat er mit ihr fortgejagt. Die Mama ist
gestorben. Durch meine Schuld, weil ich ein solcher Krüppel bin.»
«Aber bei wem wohnst du denn?»
«Als die Mutter gestorben ist,
haben mich die Diener zum Vater zurückgebracht. Aber er, der wieder geheiratet
und schöne Kinder hat, hat mich fortgeschickt. Er hat mich seinen
Landarbeitern übergeben. Aber diese machen es wie ihr Herr, um sich seines
Wohlwollens zu versichern... und sie quälen mich.»
«Schlagen sie dich?»
«Nein, aber sie behandeln die
Tiere besser als mich und verspotten mich; und da ich oft krank bin, bin ich
ihnen lästig. Ich werde immer krummer, und ihre Kinder äffen mich nach und
stellen mir ein Bein. Niemand liebt mich. Und diesen Winter, als ich starken
Husten hatte und Arznei brauchte, wollte mein Vater kein Geld ausgeben und
sagte, das einzig richtige, was ich tun könne, sei bald zu sterben. Seitdem
warte ich auf dich, um dich zu bitten: "Laß mich sterben."»
Jesus nimmt das Kind in seine
Arme, ohne auf dessen Worte zu achten: «Meine Füße sind schmutzig, und auch
mein Kleid ist schmutzig, weil ich mich auf die Straße gesetzt habe.»
«Kommst du von weit her?»
«Von einem Hof in der Nähe der
Stadt. Der, bei dem ich jetzt bin, wohnt dort. Ich habe deine Apostel
vorbeigehen sehen. Ich weiß, daß sie es waren, denn die Landarbeiter haben
gesagt: "Seht, da kommen die Jünger des Rabbi von Galiläa. Aber er ist nicht
dabei." Also bin ich gekommen.»
«Du bist ganz naß, Kind. Armer
Junge! Du wirst wieder krank werden.»
«Wenn du mich nicht erhörst, wird
mich wenigstens die Krankheit töten! Wohin bringst du mich denn?»
«Ins Haus. So kannst du nicht
bleiben!»
Jesus betritt mit dem
verkrüppelten Kind in den Armen den Garten und ruft Lazarus zu, der soeben
zurückkommt: «Schließe du das Tor. Ich trage dieses ganz durchnäßte Kind ins
Haus.»
«Wer ist es denn, Meister?»
«Ich weiß es nicht. Nicht einmal
seinen Namen weiß ich.»
«Den werde ich dir auch nicht
sagen. Ich will nicht erkannt werden. Ich will das, worum ich dich gebeten
habe. Die Mama hat zu mir gesagt: "Mein Kind, mein armes Kind. Ich sterbe. Und
ich wollte, du würdest mit mir sterben, denn im Jenseits wärest du nicht mehr
verkrüppelt und müßtest nicht mehr an Leib und Seele leiden. Dort bekommen
die, die unglücklich geboren werden, keinen Spottnamen. Denn Gott ist gut zu
den Unschuldigen und den Unglücklichen." Schickst du mich zu Gott?»
380
«Das Kind möchte sterben. Es ist
eine traurige Geschichte...»
Lazarus schaut den Knaben näher
an und sagt auf einmal: «Bist du denn nicht der Sohn des Sohnes Nahums? Bist
du nicht der, der in der Sonne an der Sykomore am Rand der Ölgärten Nahums
sitzt? Und hat dich dein Vater nicht seinem Landarbeiter Josias anvertraut?»
«Ich bin es. Aber warum hast du
es gesagt?»
«Armes Kind. Nicht, um dich zu
verspotten. Glaube mir, Meister, das Los eines Hundes in Israel ist nicht so
traurig wie das Schicksal dieses Kindes. Wenn es nicht mehr in das Haus, aus
dem es gekommen ist, zurückkehren würde, würde niemand nach ihm suchen. Weder
die Knechte noch die Herren. Hyänen mit harten Herzen! Joseph kennt die
Geschichte nur zu gut... Sie hat seinerzeit großes Aufsehen erregt. Aber ich
war damals so sehr betrübt wegen Maria... Nach dem Tod der unglücklichen Frau
kam der Junge zu Josias. Ich habe ihn manchmal gesehen... vergessen in der
Sonne oder im Wind auf dem Feld; denn er hat erst spät gehen gelernt... und
konnte auch nie weit gehen. Ich weiß nicht, wie er es heute geschafft hat,
hierher zu kommen. Wer weiß, wie lange er schon unterwegs ist!»
«Seit Petrus dort vorbeigekommen
ist.»
«Und jetzt? Was machen wir mit
ihm?»
«Nach Hause gehe ich nicht mehr
zurück. Ich will sterben. Ich will fortgehen. Gnade und Erbarmen für mich,
Herr!»
Sie sind ins Haus gegangen, und
Lazarus befiehlt einem Diener, eine Decke zu bringen und Noemi zu holen, die
sich um das in seinen nassen Kleidern vor Kälte zitternde Kind kümmern soll.
«Er ist der Sohn eines deiner
ärgsten Feinde, eines der Schlimmsten in Israel! Wie alt bist du, Kind?»
«Zehn.»
«Zehn! Zehn Jahre des Leidens!»
«Das ist genug!» sagt Jesus laut
und stellt den Jungen auf den Boden.
Er ist wirklich schief gewachsen.
Die rechte Schulter ist höher als die linke, die Brust ist zu stark gewölbt,
der dünne Hals verschwindet zwischen den hohen Schlüsselbeinknochen, und die
Beine sind krumm...
Jesus schaut ihn mitleidig an,
während Noemi ihn entkleidet und abtrocknet, bevor sie ihn in eine warme Decke
hüllt. Lazarus schaut ihn ebenfalls mitleidig an.
«Ich werde ihn in mein Bett
legen, Herr, nachdem ich ihm heiße Milch gegeben habe», sagt Noemi.
«Aber läßt du mich nicht sterben?
Hab Erbarmen! Warum soll ich weiterleben, wenn ich so bin und so viel leiden
muß?» Und er fügt hinzu: «Ich habe so sehr auf dich gehofft, Herr!» Ein Tadel,
eine Enttäuschung liegt in seiner Stimme.
«Sei lieb. Gehorche, und der
Himmel wird dich trösten», sagt Jesus
381
und neigt sich zu ihm, um ihn
noch einmal zu liebkosen, indem er mit der Hand über die armen verkrüppelten
Glieder streicht.
«Bringe ihn zu Bett und wache bei
ihm. Das weitere... wird sich ergeben.»
Das Kind wird weinend
fortgetragen.
«Und solche Leute halten sich für
heilig!» ruft Lazarus aus, als er an Nahum denkt...
Die Stimme des Petrus ruft den
Meister...
«Oh, Meister! Hier bist du? Alles
ist in Ordnung, keine Belästigung. Alles ist sogar sehr ruhig. Im Tempel hat
uns niemand gestört. Johannes hat gute Nachrichten. Man hat die Jünger in Ruhe
gelassen. Die Leute erwarten dich in festlicher Stimmung. Ich bin glücklich.
Und du, was hast du getan, Meister?»
Sie unterhalten sich weiter,
während sie sich entfernen und Lazarus sich zu Maximinus begibt, der ihn
gerufen hat.
639. DER SABBAT VOR DEM EINZUG IN
JERUSALEM;
1. DAS WUNDER AN MATHUSALEM ODER
SCHALEM
Das Wetter ist nun nach den
Regenfällen der letzten Tage wieder schön geworden, der Himmel wunderbar klar,
und die Sonne strahlt. Die Erde ist durch den Regen so sauber wie die Luft.
Sie scheint erst vor wenigen Stunden erschaffen worden zu sein, so frisch und
rein ist sie. Alles glänzt und singt an diesem herrlichen Morgen.
Jesus geht langsam auf abseits
gelegenen Wegen des Gartens spazieren. Nur einige Diener, die Gärtner, sehen
ihm bei diesem einsamen Spaziergang in den ersten Morgenstunden zu. Doch
keiner stört den Meister. Sie ziehen sich vielmehr leise zurück, um ihm seinen
Frieden zu lassen.
Außerdem ist ja Sabbat, Ruhetag,
und die Gärtner sind nicht bei der Arbeit. Aus lebenslanger Gewohnheit halten
sie sich im Freien auf und beobachten die Pflanzen, die Bienenstöcke und die
Blumen, für die es keinen Sabbat gibt, die duften, im Aprillüftchen rauschen
und in der Sonne summen. Dann belebt der Garten sich langsam. Zuerst kommen
die Diener des Hauses und die Mägde, dann die Apostel und die Jüngerinnen, und
zuletzt Lazarus. Jesus geht zu ihnen und begrüßt sie.
«Seit wann bist du hier,
Meister?» fragt Lazarus und streift dabei Tautropfen aus dem Haar Jesu.
«Seit Sonnenaufgang. Die Vöglein
haben mich gerufen, Gott zu loben. Also bin ich hier herausgekommen. Gott in
der Schönheit des Erschaffenen betrachten bedeutet, ihn ehren und ihn mit
bewegtem Herzen anbeten. Die Erde ist schön. Und in diesen frühen Stunden des
Tages, an
382
einem Tag wie heute, erscheint
sie uns frisch wie in den ersten Tagen der Schöpfung.»
«Es ist wirklich Passahwetter.
Und es wird anhalten, da es sich in der ersten Mondphase eingestellt hat und
der Wind günstig ist», bemerkt Petrus.
«Darüber bin ich sehr froh, denn
ein regnerisches Passahfest ist traurig.»
«Mehr noch: Es schadet der Ernte.
Das Korn braucht Sonne, nun da es bald gemäht wird», sagt Bartholomäus.
«Ich bin glücklich, daß ich hier
meine Ruhe habe. Heute ist Sabbat, und niemand wird kommen. Kein Fremder wird
bei uns sein», sagt Andreas.
«Da irrst du dich. Wir haben
einen Gast, einen kleinen Gast. Er schläft noch, Meister. Ein weiches Bett und
ein voller Magen sorgen für einen langen Schlaf. Ich habe nachgesehen. Noemi
wacht bei ihm», sagt Lazarus.
«Wer ist es denn? Wann ist er
gekommen? Wer hat ihn gebracht? Denn du sprichst so, als wäre es ein Kind»,
fragen Frauen und Männer gleichzeitig.
«Es ist ein Kind, ein armes Kind.
Sein Leid hat es hierher gebracht. Es stand am Gitter des Tores und schaute
zum Haus. Der Meister hat es aufgenommen.»
«Wir haben nichts davon gewußt...
Warum das?»
«Weil das Kind Ruhe nötig hatte»,
antwortet Jesus, und sein Gesicht nimmt einen nachdenklichen Ausdruck an,
während er hinzufügt: «Im Haus des Lazarus versteht man zu schweigen.»
Ein Diener kommt, um Martha etwas
zu sagen, zieht sich dann zurück und kehrt mit anderen wieder, die
Servierbretter mit Milchkrügen, Tassen, Brot, Butter und Honig bringen. Alle
bedienen sich und setzen sich auf die überall vorhandenen Sitzgelegenheiten.
Aber dann rücken sie näher zum Meister heran und bitten ihn, ein Gleichnis zu
erzählen, «ein schönes Gleichnis», sagen sie, «so schön wie dieser Tag des
Nisan».
«Nicht nur eines, sondern zwei
werde ich euch erzählen. Hört zu.
Ein Mann wollte eines Tages zwei
Lampen entzünden, um den Herrn an einem seiner Festtage zu ehren. Er nahm also
zwei Gefäße von gleicher Größe, füllte Öl in gleicher Menge und Qualität in
jedes, versah sie mit zwei gleichen Dochten und zündete sie zur selben Stunde
an, damit die beiden Lampen für ihn beteten, während er arbeitete, wie es
erlaubt war. Nach einiger Zeit kam der Mann zurück und sah, daß eine Lampe mit
großer Flamme brannte, während das Flämmchen der anderen nur ganz klein und
unscheinbar war, kaum ein Lichtpünktchen in der Ecke, in der die Lampen
standen. Der Mann gab dem Docht die Schuld. Er schaute nach. Aber der Docht
war in Ordnung. Er wollte jedoch nicht so fröhlich brennen wie die andere
Lampe, deren Flamme züngelte und etwas sagen
383
zu wollen schien; und so fröhlich
tanzte und loderte sie, daß sie wirklich leise flüsterte.
"Diese Lampe singt wahrlich das
Lob des allerhöchsten Herrn!" sagte der Mann zu sich selbst. "Während diese
hier aussieht – schau sie dir nur an, meine Seele – als falle es ihr schwer,
den Herrn preisen zu müssen, so wenig Eifer zeigt sie!" Darauf kehrte der Mann
wieder zu seiner Arbeit zurück.
Nach einiger Zeit kam er wieder.
Die eine Flamme war noch größer geworden, während die andere noch kleiner
geworden war und um so ruhiger brannte, je stärker die erste leuchtend
flackerte. Der Mann kam noch ein zweites Mal, doch nichts hatte sich geändert;
er kam ein drittes Mal, und es war dasselbe. Als er zum vierten Mal wiederkam,
war das Zimmer voll von schwarzem, übelriechendem Qualm, und nur ein einziges
Flämmchen leuchtete durch die dicken Rauchwolken. Der Mann ging an das
Wandbrett, auf dem die Lampen standen, und stellte fest, daß die Lampe, die
vorher so stark gebrannt hatte, nun ausgebrannt und schwarz war und ihre
züngelnde Flamme sogar die weiße Wand beschmutzt hatte. Die andere Lampe
brannte immer noch gleichmäßig zur Ehre Gottes.
Der Mann wollte alles in Ordnung
bringen. Da hörte er in seiner Nähe eine Stimme: "Laß die Dinge so, wie sie
sind. Denke darüber nach, denn sie sind ein Symbol. Ich bin der Herr."
Der Mann warf sich anbetend zu
Boden und wagte zitternd zu sagen: "Ich bin unwissend. Erkläre mir, o
Weisheit, das Symbol der Lampen, von denen die eine, die dich mit größerem
Eifer zu ehren schien, Schaden verursacht hat, während die andere immer noch
gleichmäßig brennt."
"Ja, ich werde es dir erklären.
So wie bei diesen Lampen ist es auch bei den Herzen der Menschen. Es gibt
solche, die anfangs brennen und leuchten und von den Menschen bewundert
werden, da ihre Flamme vollkommen und beständig zu sein scheint. Und es gibt
solche, die nur ein sanftes Licht verbreiten, das die Aufmerksamkeit nicht auf
sich zieht und als Lauheit im Dienst des Herrn erscheinen kann. Aber nach dem
ersten Aufflammen, oder dem zweiten, oder dem dritten, zwischen dem dritten
und dem vierten, richten die ersteren Schaden an und erlöschen dann für immer,
denn ihr Licht war unzuverlässig. Sie wollten mehr für die Menschen leuchten
als für den Herrn, und der Stolz hat sie in kurzer Zeit verbraucht und einen
schwarzen, schweren Rauch erzeugt, der auch die Luft trübt. Die anderen hatten
nur den einen, ausdauernden Willen, Gott allein zu ehren, und es kümmerte sie
nicht, ob sie von den Menschen gelobt würden. Sie haben sich selbst verzehrt
in einer steten, reinen Flamme, ohne Rauch und üblen Geruch. Wisse das
ausdauernde Licht nachzuahmen, denn nur dieses ist Gott wohlgefällig."
Der Mann hob das Haupt... Der
Rauch hatte sich verzogen, und der Stern der getreuen Lampe leuchtete nun
allein, rein und ruhig zur Ehre
384
Gottes und ließ das Metall so
schimmern, daß es wie pures Gold glänzte. Und er sah die Lampe Stunde um
Stunde gleichmäßig leuchten, bis ihr Licht sanft, ohne Rauch und üblen Geruch
und ohne sein Gewand zu beschmutzen, in einem letzten Aufflammen erlosch, als
wolle sie sich zum Himmel erheben, zu den Sternen aufsteigen, nachdem sie den
Herrn bis zum letzten Tropfen und bis zur letzten Faser würdig geehrt hatte.
Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch, viele gibt es, die zu Anfang mit großer Flamme brennen und die
Bewunderung der Welt, die nur die Oberfläche der menschlichen Werke sieht,
hervorrufen, die aber dann sterben, verkohlen und alles mit ihrem beißenden
Rauch erfüllen. Und wahrlich, ich sage euch, Gott schenkt ihrer Flamme keine
Beachtung, denn er sieht, daß sie nur aus menschlichen Gründen so stolz
brennt.
Selig jene, die es der zweiten
Lampe nachtun und nicht verkohlen, sondern sich mit dem letzten Herzschlag
ihrer beständigen Liebe zum Himmel erheben.»
«Welch eigenartiges Gleichnis!
Aber es ist wahr! Schön! Es gefällt mir. Ich würde gerne wissen, ob wir
Flammen sind, die zum Himmel aufsteigen.» Die Apostel tauschen ihre Eindrücke
aus.
Judas findet auch hier
Gelegenheit, bissig zu werden. Sein Angriff gilt Maria von Magdala und
Johannes des Zebedäus: «Seid vorsichtig, Maria, und du, Johannes. Ihr seid
unter uns die lodernden Flammen... Daß dies nur keine bösen Folgen hat!»
Maria von Magdala will antworten,
aber sie preßt die Lippen zusammen, um die Worte nicht auszusprechen, die aus
ihrem Herzen aufsteigen. Sie schaut Judas an. Sie beschränkt sich darauf, ihn
anzuschauen. Doch dieser Blick ist so glühend, daß Judas das Lachen vergeht
und er die Augen senkt.
Johannes, sanftmütig von Herzen,
obgleich brennend vor Liebe, antwortet ruhig: «Was meine geringen Fähigkeiten
betrifft, könnte es mir schon passieren. Doch ich vertraue auf die Hilfe des
Herrn und hoffe, mich bis zum letzten Tropfen und bis zur letzten Faser zur
Ehre unseres Herrn verzehren zu können.»
«Und das andere Gleichnis? Du
hast uns zwei versprochen», sagt Jakobus des Alphäus.
«Hier ist mein zweites Gleichnis.
Da kommt gerade...» und er zeigt auf die Tür des Hauses, die mit einem Vorhang
verhangen ist, der leicht im Wind weht und den soeben die Hand eines Dieners
beiseite schiebt, um die alte Noemi durchzulassen. Diese wirft sich Jesus zu
Füßen und ruft aus: «Das Kind ist gesund! Es ist nicht mehr verkrüppelt! Du
hast es über Nacht geheilt. Der Junge war gerade aufgewacht, und ich bereitete
das Bad vor, um ihn zu waschen und ihm dann die Tunika und das Kleid
anzuziehen, die ich während der Nacht aus einem abgelegten Gewand des Lazarus
genäht hatte. Aber als ich zu ihm sagte: "Komm Junge", und die
385
Decken zurückzog, sah ich, daß
sein kleiner Körper, der gestern noch so verkrüppelt war, nun ganz gesund ist.
Ich schrie auf. Sara und Marcella, die nicht einmal von dem Kind wußten, das
in meinem Bett schlief, liefen herbei; und ich ließ sie stehen und rannte
fort, um dir zu berichten...»
Alle sind neugierig. Sie stellen
Fragen und wollen sehen. Jesus beruhigt die Aufgeregten mit einer Geste. Er
befiehlt Noemi: «Geh zu dem Kind, wasche es, kleide es an und bringe es
hierher zu mir.»
Dann wendet er sich seinen
Jüngern zu: «Und nun das zweite Gleichnis, das man mit den Worten
zusammenfassen kann: "Die wahre Gerechtigkeit macht keine Unterschiede und
kennt keine Rache."
Ein Mensch, vielmehr: Der Mensch,
der Menschensohn, hat Freunde und Feinde. Wenige Freunde und viele Feinde; und
Feinde, deren Haß und deren Gedanken ihm nicht unbekannt sind und deren Willen
und Absichten er kennt. Er weiß, daß sie vor keiner Tat zurückschrecken, so
furchtbar sie auch sein mag. Sie sind in dieser Hinsicht stärker als seine
Freunde, deren Stärke durch Schrecken oder Enttäuschung, oder auch durch
übermäßige Zuversicht wie durch zerstörerische Mauerbrecher gelitten hat.
Dieser Menschensohn mit den vielen Feinden, den man vieler unwahrer Dinge
beschuldigt, ist gestern einem armen Kind begegnet, dem traurigsten der
Kinder, dem Sohn eines Feindes. Und das Kind war verkrüppelt und hinkte und
bat um eine sonderbare Gnade: sterben zu dürfen. Alle erbitten Ehren und
Freuden vom Menschensohn, erbitten Gesundheit, erbitten Leben. Dieses arme
Kind hat darum gebeten, sterben zu dürfen, um nicht mehr leiden zu müssen. Es
hat alle erdenklichen körperlichen und seelischen Schmerzen ausgestanden, denn
sein Vater, der einen grundlosen Haß gegen mich hegt, haßt auch das
unglückliche, unschuldige Kind, das er gezeugt hat. Ich habe es geheilt, damit
es nicht mehr leidet, damit es über die physische Gesundheit hinaus die
geistige Gesundheit erlangt. Auch seine kleine Seele ist krank. Der Haß des
Vaters und die Verachtung der Menschen haben es verwundet und ihm die Liebe
geraubt. Nur der Glaube ist ihm geblieben, an den Himmel und an den
Menschensohn, von dem, vielmehr, von denen es erbat, sterben zu dürfen. Da ist
das Kind. Nun wird es euch selbst erzählen.»
Das Kind kommt nun ordentlich und
sauber und mit dem weißen Wollgewand bekleidet, das Noemi ihm eiligst über
Nacht genäht hat, an der Hand der alten Amme auf sie zu. Es ist klein,
obgleich es, da nicht mehr verkrüppelt und gebeugt, größer als gestern
aussieht. Es hat ein unregelmäßiges und etwas welkes Gesichtlein, das durch
den Schmerz schon vorzeitig den Ausdruck eines Erwachsenen angenommen hat.
Aber es ist nicht mehr verkrüppelt. Die nackten Füßchen treten nun sicher auf,
und sein Schritt ist nicht mehr das Humpeln der Hüftlahmen. Und die mageren
Schultern sind bei aller Magerheit gerade. Der dünne Hals scheint im Vergleich
zu gestern, als er zwischen den ungleichen Schultern steckte, lang zu sein.
386
«Aber... das ist doch der Sohn
der Anna des Nahum! Was für ein verschwendetes Wunder! Meinst du, sein Vater
und Nahum würden dadurch deine Freunde? Sie werden dich nur noch mehr hassen.
Denn sie erhofften sich den Tod dieses Kindes, der Frucht einer unglücklichen
Ehe», ruft Judas von Kerioth aus.
«Ich wirke keine Wunder, um
dadurch Freunde zu gewinnen, sondern aus Mitleid mit den Geschöpfen und um
meinen Vater zu ehren. Ich mache keine Unterschiede und bin nicht berechnend,
wenn ich mich mitleidig über ein armseliges menschliches Geschöpf neige. Und
ich räche mich nicht an denen, die mich verfolgen ...»
«Nahum wird deine Tat als Rache
ansehen.»
«Ich wußte nicht einmal etwas von
diesem Kind. Ich kenne noch immer nicht seinen Namen.»
«Mathusalah oder Mathusalem wird
es genannt, im Spott.»
«Die Mama hat mich Schalem
genannt. Die Mama hat mich gern gehabt. Sie war nicht böse, wie du es bist und
die, die mich hassen», sagt das Kind mit einem Glimmen in den Augen, dem
Glimmen des ohnmächtigen Zornes aller Menschen und Tiere, die man lange Zeit
gequält hat.
«Komm her, Schalem. Hierher, zu
mir. Bist du glücklich, daß du nun gesund bist?»
«Ja... aber ich wäre lieber
gestorben. Man wird mich trotzdem nicht lieben. Wenn die Mama noch leben
würde, dann wäre es schön gewesen. Aber so... ich werde immer unglücklich
sein.»
«Er hat recht. Gestern haben wir
dieses Kind getroffen. Es hat uns gefragt, ob du in Bethanien bei Lazarus
bist. Wir wollten ihm ein Almosen geben, denn wir hielten es für einen
Bettler. Doch es wollte nichts annehmen. Es war am Rand eines Feldes...» sagt
der Zelote.
«Nicht einmal du hast ihn
gekannt? Seltsam», sagt Judas von Kerioth.
«Viel seltsamer erscheint mir,
daß du so viel über diese Dinge weißt. Du vergißt, daß ich bei den Verfolgten
und dann bei den Aussätzigen war, bevor ich zum Meister kam.»
«Und du vergißt, daß ich ein
Freund von Nahum bin, der der Vertraute des Annas ist. Ich habe euch dies nie
verheimlicht.»
«Schon gut. Das ist nicht so
wichtig. Wichtig ist, daß wir nun überlegen, was wir mit diesem Kind anfangen.
Sein Vater liebt es nicht, das ist wahr. Aber er hat trotzdem ein Anrecht auf
ihn. Wir können ihm den Sohn nicht ohne sein Wissen wegnehmen. Wir müssen
vorsichtig vorgehen und dürfen ihn nicht reizen, gerade jetzt, wo sie sich
etwas gebessert zu haben scheinen», sagt Nathanael.
Judas lacht laut und höhnisch,
ohne eine Erklärung für sein Gelächter zu geben.
Jesus, der das Kind zwischen
seine Knie genommen hat, sagt langsam: «Ich werde Nahum zur Rede stellen...
Ich werde deshalb nicht noch mehr
387
gehaßt werden. Sein Haß kann
nicht größer werden, das ist unmöglich. Er hat schon das absolute Höchstmaß
erreicht.»
Annalia, die bisher ganz in einen
Gedanken versunken, der sie beseligt, geschwiegen hat, öffnet nun den Mund und
sagt: «Wenn ich dableiben würde, hätte ich das Kind gern zu mir genommen. Ich
bin jung, aber ich habe ein mütterliches Herz.»
«Gehst du denn fort? Wann?»
fragen die Frauen.
«Bald.»
«Für immer? Wohin gehst du?
Verläßt du Judäa?»
«Ja, ich gehe weit fort. Sehr
weit fort und für immer. Und ich bin so glücklich.»
«Was du nicht tun kannst, können
andere tun, wenn der Vater es erlaubt.»
«Ich werde es Nahum sagen, wenn
euch so viel daran liegt. Seine Meinung ist maßgebend, mehr als die des
eigentlichen Vaters. Morgen werde ich es ihm sagen», verspricht Judas von
Kerioth.
«Wenn nicht Sabbat wäre, würde
ich zu diesem Josias gehen, dem das Kind übergeben wurde», sagt Andreas.
«Um zu sehen, ob sie traurig
sind, weil sie es verloren haben?» fragt Matthäus.
«Ich glaube, wenn eine ihrer
Bienen sich verirren würde, wäre das für sie ein viel größerer Kummer...»
brummt Maximinus, der sich vor einer Weile zu ihnen gesellt hat.
Das Kind sagt nichts. Es schmiegt
sich an Jesus und studiert die Gesichter ringsum mit dem durchdringenden
Blick, den kränkliche und schmerzgeplagte Geschöpfe oft haben. Es scheint, daß
es mehr die Seelen als die Gesichter studiert, und als Petrus fragt: «Was
denkst du von uns?», antwortet das Kind und legt seine Hand in die des Petrus:
«Du bist gut.» Dann verbessert es sich: «Alle seid ihr gut. Aber... ich wäre
lieber unerkannt geblieben. Ich habe Angst...» und es schaut dabei Judas von
Kerioth an.
«Vor mir, nicht wahr? Du hast
Angst, daß ich mit deinem Vater spreche? Gewiß muß ich es tun, wenn ich ihn
fragen soll, ob du bei uns bleiben kannst. Doch er wird dich nicht holen.»
«Das weiß ich. Ich meine etwas
anderes... Ich würde gerne weit, weit fortgehen, wie diese Frau... Ins Land
meiner Mutter. Dort gibt es ein blaues Meer inmitten grüner Berge. Man kann es
unten sehen, mit weißen Segeln, die darüber hinfliegen, und schönen Städten
ringsherum. Und in den Bergen sind viele Höhlen, in denen die wilden Bienen
süßen, süßen Honig machen. Ich habe keinen Honig mehr gegessen, seit meine
Mama gestorben ist und man mich zu Josias gebracht hat. Philippus, Joseph,
Elisa und die anderen Kinder, die haben Honig gegessen. Aber ich nicht. Wenn
sie den Honigtopf unten aufbewahrt hätten, hätte ich ihn gestohlen,
388
denn ich hatte so große Lust
darauf. Aber sie haben ihn immer auf die höchsten Regale gestellt, und ich
konnte nicht auf die Tische klettern wie Philippus. Ich möchte so gerne Honig
essen!»
«Armes Kind! Ich gehe und hole
dir, so viel du willst», sagt Martha gerührt und entfernt sich eilends.
«Aber woher war denn seine
Mutter?» fragt Petrus.
«Sie hatte Häuser und Besitz bei
Sefed. Sie war das einzige Kind, Waise und Erbin. Schon alt, häßlich und ein
wenig hinkend. Aber sehr reich. Der alte Sadok vermittelte die Ehe, und der
Sohn des Lieblings von Annas bekam sie zur Frau... Ein Vertrag, der ein
wahrlich unwürdiger Handel war, alles nur Berechnung, keine Liebe. Nachdem der
Besitz der Frau verkauft worden war, angeblich weil er zu weit entfernt lag
von hier – mit Ausnahme eines Häuschens, das dem Verwalter gehörte, der es vom
vorigen Herrn auf Lebenszeit für sich selbst und seine Kinder bis in die
vierte Generation erhalten hatte – ging das ganze Geld bei unglücklichen
Spekulationen verloren... Aber ich glaube das nicht. Denn ich weiß, daß er
schöne Ländereien am Ufer besitzt... die er vorher nicht hatte... Dann, einige
Jahre nach der Hochzeit, die Frau war schon recht alt, kam dieses Kind zur
Welt... Und der Mann nahm es zum Anlaß, die Frau zu verstoßen und eine andere
aus der Ebene von Saron zu heiraten, die jung, schön und reich war... Die
Geschiedene flüchtete zu dem alten Verwalter und ist dort gestorben. Ich weiß
nicht, weshalb sie dieses Kind nicht behalten haben. Der Vater hielt es für
tot», erklärt Iskariot.
«Weil Johannes und auch Maria
gestorben sind, und ihre Söhne als Knechte anderswo arbeiten. Wer sollte mich
denn zu sich nehmen, da ich weder jemandes Sohn noch zur Arbeit zu gebrauchen
war? Sie waren gut, Michael und Isaak, und auch Esther und Judith waren gut.
Sie sind gut. Wenn sie zu den Festen kommen, bringen sie mir immer etwas mit;
aber Josias nimmt es mir weg und gibt es seinen eigenen Kindern.»
«Aber sie wollen dich nicht zu
sich nehmen», erwidert Judas.
«Nun, da ich aufrecht gehe und
stark bin, werden sie mich schon haben wollen. Sie sind Knechte, wie ich schon
sagte, und konnten nicht zu ihrem Herrn sagen: "Nimm diesen kranken Krüppel zu
dir." Aber jetzt können sie es ...»
«Aber wenn du von Josias
weggelaufen bist, wie können sie dich dann finden?» gibt Bartholomäus zu
bedenken.
Das Kind ist betroffen durch
diese so richtige Bemerkung und denkt nach. Die Krankheit hat es frühreif im
Denken gemacht, ebenso wie sein Gesicht zu früh erwachsen wirkt. Es sagt
traurig: «Das ist wahr! Daran hatte ich nicht gedacht.»
«Kehre zu Josias zurück. In
einigen Tagen werden sie kommen ...»
«Dorthin? Nein. Dort gehe ich
nicht mehr hin. Ich will nicht mehr dorthin. Eher bringe ich mich um!» Sein
Gesicht ist wild und von Zorn
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entstellt; aber dann wird es von
Tränen überwältigt, legt den Kopf auf die Knie Jesu und schluchzt: «Warum hast
du mich nicht sterben lassen?»
Martha, die mit einem Honigtopf
zurückkommt, ist erstaunt über diese Trostlosigkeit, und Bartholomäus, der sie
verursacht hat, ist betrübt und entschuldigt sich: «Ich war der Meinung, einen
guten Rat zu geben. Gut für alle. Für das Kind, für dich, Meister, für
Lazarus... Keiner von euch und von uns kann noch mehr Haß brauchen...»
«Das ist wahr! Eine wirklich
schwierige Situation!» ruft Petrus aus. Er denkt über den Fall nach, trifft
innerlich Entscheidungen und beschließt sie mit dem typischen Pfiff, der
seinem Gemütszustand Ausdruck verleiht, wenn er Probleme vor sich hat, die
schwer zu lösen sind.
Der eine schlägt dies, der andere
das vor. Zu Nahum gehen. Zu Josias gehen und ihm sagen, er solle Michael und
Isaak zu Lazarus schicken oder anderswohin, wo sie das Kind abholen können;
denn es ist angebracht, Lazarus nicht noch verhaßter zu machen, als er es
durch seine Freundschaft mit Jesus schon ist. Wieder andere meinen, man solle
niemandem etwas sagen und das Kind verschwinden lassen, indem man es einem
vertrauenswürdigen Jünger übergibt.
Judas von Kerioth sagt nichts. Es
scheint, als interessiere ihn die Diskussion nicht. Er spielt mit den Fransen
seines Gewandes, kämmt sie mit den Fingern und verwirrt sie dann wieder.
Auch Jesus sagt nichts. Er
liebkost und beruhigt das Kind, richtet seinen Kopf auf und gibt ihm das
Honigtöpfchen in die Hände.
Schalem ist ein Kind, ein armes
zehnjähriges Kind, das immer gelitten hat; aber er ist trotzdem noch ein Kind,
auch wenn er durch den Schmerz reifer geworden ist. Und vor einem solchen
Schatz wie dem Honig hier gehen die letzten Tränen in verzücktes Staunen über.
Er blickt auf. Die großen braunen, intelligenten Augen, das einzige Schöne in
seinem Gesicht, schauen abwechselnd Jesus und Martha an, während er fragt:
«Wieviel darf ich nehmen? Einen oder zwei Löffel?» Dabei zeigt er auf den
runden Silberlöffel, der langsam in dem blonden Honig versinkt.
«So viel du willst, Kind. So viel
du magst. Den Rest kannst du morgen essen oder später. Es gehört alles dir»,
sagt Martha und liebkost ihn.
«Alles mir?! Oh! So viel Honig
habe ich noch nie bekommen. Alles für mich! Oh!» Und er drückt ehrfürchtig den
Honigtopf an seine Brust, als ob es ein Schatz wäre.
Doch dann merkt er, daß
wertvoller als der Honig die Liebe ist, die ihm den Honig geschenkt hat; und
er stellt das Töpfchen auf die Knie Jesu, fällt der über ihn gebeugten Martha
um den Hals und gibt ihr einen Kuß. Das ist alles, was seine Dankbarkeit
vermag, alles, was er, das verlassene Kind, das nichts zu verschenken hat,
geben kann.
Die anderen unterbrechen ihre
Überlegungen und betrachten die Szene. Petrus sagt: «Dieses Kind ist noch
unglücklicher als Margziam, der doch
390
wenigstens die Liebe des
Großvaters und der anderen Landarbeiter besaß. Es ist wahr, es gibt immer noch
größeres Elend als das, was wir für groß gehalten haben.»
«Ja, den Abgrund des menschlichen
Elends hat niemand jemals ausgelotet. Wer weiß, was sich da noch alles
verbirgt... Und was in den künftigen Jahrhunderten zum Vorschein kommen wird»,
sagt Bartholomäus nachdenklich.
«Du hast also kein Vertrauen in
die Frohe Botschaft? Du glaubst nicht daran, daß sie die Welt verändern wird?
Bei den Propheten steht es geschrieben. Und der Meister wiederholt es. Du bist
ein Ungläubiger, Bartholomäus», sagt Iskariot mit leichter Ironie.
Der Zelote antwortet ihm: «Ich
sehe nicht, worin der Unglaube von Bartholomäus besteht. Die Lehre des
Meisters wird ein Trost in allem Unglück sein und auch die Härte der Sitten
und Gebräuche mildern; doch den Schmerz wird sie nicht aus der Welt schaffen.
Sie wird ihn erträglich machen durch ihre göttlichen Verheißungen künftiger
Freuden. Um den Schmerz aus der Welt zu schaffen, oder wenigstens einen großen
Teil davon, denn es wird immer Krankheiten, Tod und Naturkatastrophen geben,
wäre es nötig, daß alle ein Herz wie Christus hätten; aber...»
Iskariot unterbricht ihn: «So muß
es auch werden. Was hätte es sonst für einen Sinn, daß der Messias auf die
Welt gekommen ist?»
«Sagen wir: so sollte es werden.
Aber sage mir, Judas: Ist es bei uns so geworden? Wir sind zwölf und leben
seit drei Jahren mit ihm zusammen. Wir nehmen seine Lehre in uns auf wie die
Luft, die wir atmen. Und? Sind wir zwölf alle heilig? Was machen wir anders
als Lazarus, Stephanus, Nikolaus, Isaak, Manaen, Joseph, Nikodemus, die Frauen
und die Kinder? Ich spreche von den Gerechten unserer Heimat. Sie alle, ob sie
nun gelehrt und reich oder unwissend und arm sind, tun, was auch wir tun: ein
wenig Gutes und ein wenig Böses, aber ohne sich völlig zu erneuern. Ja, ich
muß sogar sagen, daß viele, sehr viele, uns übertreffen. Viele Jünger
übertreffen uns, die Apostel... und du verlangst, daß alle auf der Welt ein
Herz bekommen, wie Christus, wenn nicht einmal wir, die Apostel, dazu fähig
sind? Wir haben uns mehr oder weniger gebessert... Jedenfalls hoffen wir, daß
es so ist; denn es ist schwer für den Menschen, sich selbst und den Bruder,
der an seiner Seite lebt, zu kennen. Zu undurchsichtig und dicht ist der
Schleier des Fleisches; und zu sehr ist der Mensch darauf bedacht, nicht
durchschaut zu werden, als daß der Mensch den Menschen verstehen könnte. Ob
man sich selbst oder andere betrachtet, man bleibt immer an der Oberfläche.
Prüfen wir uns selbst, wollen wir uns nicht erkennen, damit unser Stolz nicht
leidet oder wir uns nicht etwa genötigt sehen, uns zu ändern. Prüfen wir
andere, so macht uns unser Stolz als Prüfer zu ungerechten Richtern, und der
Stolz der Geprüften läßt diese ihr Innerstes verschließen wie eine Auster ihre
Schale», sagt der Zelote.
391
«Gut gesagt, Simon. Du hast
wirklich weise gesprochen», lobt Judas Thaddäus, und die anderen pflichten ihm
bei.
«Wozu ist er dann gekommen, wenn
sich nichts ändern wird?» erwidert Iskariot.
Jesus ergreift das Wort: «Vieles
wird sich ändern. Nicht alles; denn was schon heute meine Lehre bekämpft, wird
es auch in Zukunft tun: der Haß jener, die das Licht nicht lieben. Der Macht
meiner Nachfolger wird die Macht der Anhänger Satans gegenüberstehen. Und wie
viele werden es sein! Mit vielerlei Gesichtern! Meiner unveränderlichen, weil
vollkommenen Lehre werden immer wieder neue Irrlehren gegenübergestellt
werden. Wieviel Leid wird daraus erwachsen! Ihr kennt die Zukunft nicht! Ihr
meint, der Schmerz, der jetzt in der Welt ist, sei groß... Aber der Wissende
sieht Schreckliches, das ihr nicht verstehen könntet, selbst wenn ich es euch
erklären würde... Wehe, wenn ich nicht gekommen wäre! Gekommen, um den
späteren Menschen ein Gesetz zu geben, das die Instinkte bei den Besten
zügelt, und das Versprechen zukünftigen Friedens! Wehe, wenn der Mensch nicht
durch mein Kommen die geistigen Hilfsmittel, die das Leben seines Geistes
"lebendig" erhalten, und die Gewißheit einer Belohnung erlangt hätte... ! Wenn
ich nicht gekommen wäre, dann wäre aus der ganzen Welt im Laufe der
Jahrhunderte ein großes irdisches Inferno geworden, und die menschliche Rasse
hätte sich gegenseitig zerfleischt und wäre, ihrem Schöpfer fluchend,
untergegangen.»
«Der Allerhöchste hat
versprochen, daß er keine universalen Strafen wie die Sündflut mehr schicken
wird. Und Gott bricht ein gegebenes Versprechen nie», sagt Judas.
«Ja, Judas des Simon, das ist
wahr. Der Allerhöchste wird keine universalen Geißeln wie die Sündflut mehr
schicken. Doch die Menschen werden selbst immer grausamere Geißeln ersinnen,
und im Vergleich zu diesen waren die Sündflut und der Feuerregen, der Sodom
und Gomorrha zerstörte, noch milde Strafen. Oh... !»
Jesus steht auf mit einer Geste
besorgten Mitleids für die Menschen der Zukunft.
«Nun gut, du weißt... Aber was
machen wir inzwischen mit diesem hier?» fragt Judas und zeigt auf das Kind,
das seinen Honig in kleinen Portionen genießt und selig ist.
«Jeder Tag hat seine Plage.
Morgen sieht man weiter. Es nützt nichts, sich um den morgigen Tag zu sorgen,
wenn wir nicht einmal wissen, wer morgen noch am Leben ist.»
«Ich denke nicht wie du. Und ich
meine, wir sollten wissen, wo wir wohnen und wo wir das Abendmahl einnehmen
werden. So vieles. Wenn wir warten und warten, wird die Stadt überfüllt sein.
Wohin gehen wir dann? Nach Gethsemane? Nein. Zu Joseph von Sephoris nicht, zu
Johanna nicht, zu Nike nicht, zu Lazarus nicht. Also wohin dann?»
392
«Dorthin, wo der Vater seinem
Wort eine Zuflucht bereiten wird.»
«Du glaubst vielleicht, ich will
es wissen, um Bericht zu erstatten?»
«Das sagst du. Ich habe nichts
gesagt. Komm, Schalem. Meine Mutter weiß von dir, hat dich aber noch nicht
gesehen. Komm, ich führe dich zu ihr.»
«Ist deine Mutter denn krank?»
fragt Thomas.
«Nein, sie betet. Sie hat das
Bedürfnis, viel zu beten.»
«Ja. Sie leidet viel. Sie weint
viel. Und Maria findet nur Trost im Gebet. Ich habe sie immer viel beten
gesehen. In den Augenblicken größten Leidens lebt sie vom Gebet, könnte man
sagen ...» erklärt Maria des Alphäus, während Jesus sich entfernt. Er führt
das Kind an der Hand und auf der anderen Seite geht Annalia, die er
aufgefordert hat, ihn zur Mutter zu begleiten.
640. DER SABBAT VOR DEM EINZUG IN
JERUSALEM; II. PILGER UND JUDEN IN BETHANIEN
Liebe und Mißgunst treiben viele
der in Jerusalem versammelten Pilger und selbst Bürger von Jerusalem nach
Bethanien. Sie warten nicht einmal das Ende des Sonnenunterganges ab. Vielmehr
hat der Sonnenuntergang eben erst begonnen, als schon die ersten beim Haus des
Lazarus ankommen. Und Lazarus, den die Diener herbeigerufen haben, wundert
sich über diese Übertretung des Sabbatgebotes, da die ersten gerade zu denen
unter den Juden gehören, die als die Unnachsichtigsten bekannt sind. Doch
diese geben die wahrhaft pharisäische Antwort: «Vom Herdentor aus konnte man
die Sonnenscheibe nicht mehr sehen, und so haben wir uns auf den Weg gemacht,
da wir dachten, daß wir die vorgeschriebene Strecke gewiß nicht überschreiten
würden, bevor die Sonnenscheibe hinter den Kuppeln des Tempels untergegangen
ist.»
Lazarus antwortet mit einem
spöttischen Lächeln auf dem mageren Antlitz; denn er ist gesund und sieht gut
aus, aber dick ist er ganz sicher nicht. Er sagt liebenswürdig, wenn auch mit
leichtem Sarkasmus: «Und was wollt ihr sehen? Der Meister ehrt seinen Sabbat.
Er ruht sich aus. Er begnügt sich nicht damit, den Sonnenball verschwinden zu
sehen, um die Ruhezeit für beendet zu halten. Er wartet, bis der letzte
Sonnenstrahl erloschen ist, bevor er sagt: "Der Sabbat ist zu Ende."»
«Wir wissen, daß er vollkommen
ist. Wir wissen es! Aber wenn wir gefehlt haben, haben wir um so mehr Grund,
ihn zu sehen. Nur kurz, nur bis er uns von unserer Schuld losgesprochen hat.»
«Es tut mir leid, aber ich kann
nicht. Der Meister ist müde und ruht. Ich werde ihn nicht stören.»
immer mehr Leute kommen. Es sind
Pilger aus allen möglichen
393
Gebieten, die bitten und betteln,
Jesus sehen zu dürfen. Mit den Hebräern sind auch Heiden und Proselyten
gekommen. Sie betrachten und bestaunen Lazarus wie ein unwirkliches Wesen. Und
Lazarus erträgt die Last seiner unfreiwilligen Berühmtheit und beantwortet
geduldig alle Fragen. Aber er gibt den Dienern keine Anweisung, das Tor zu
öffnen.
«Bist du der von den Toten
zurückgekehrte Mann?» fragt einer, der dem Aussehen nach ein Mischling ist,
denn von den Hebräern hat er nur die große, etwas herabhängende Nase, während
der Akzent und die Kleidung auf einen Ausländer schließen lassen.
«Ich bin es, zur Ehre Gottes, der
mich dem Tod entrissen hat, um mich zum Diener seines Messias zu machen.»
«Aber bist du denn wirklich tot
gewesen?» fragen andere.
«Fragt doch diese ehrenwerten
Juden hier. Sie waren bei meinem Begräbnis, und viele waren auch bei meiner
Auferweckung zugegen.»
«Aber was hast du denn gespürt?
Wo warst du? An was erinnerst du dich? Was ist in dir vorgegangen, als du
wieder lebendig wurdest? Wie hat er dich auferweckt ... ? Kann man das Grab
sehen, in dem du gelegen hast? Woran bist du gestorben? Geht es dir jetzt
wirklich gut? Nicht einmal die Narben der Wunden hast du mehr?»
Lazarus ist bemüht, allen
geduldig zu antworten. Es fällt ihm nicht schwer zu bestätigen, daß es ihm
jetzt sehr gut geht, und daß auch die Narben der Wunden in den Monaten seit
der Auferweckung verschwunden sind; aber er kann nicht sagen, was er empfunden
hat und wie er auferweckt wurde. Er antwortet: «Ich weiß es nicht. Ich befand
mich auf einmal lebend in meinem Garten, zwischen den Dienern und den
Schwestern. Nachdem man das Schweißtuch entfernt hatte, sah ich die Sonne, das
Licht, hatte Hunger, aß, erfreute mich des Lebens und der großen Liebe des
Meisters zu mir. Alles übrige wissen jene, die dabei gewesen sind, besser als
ich. Zum Beispiel die drei, die dort miteinander reden, oder die beiden, die
gerade kommen.» (Letztere sind die Synedristen Johannes und Eleazar, während
die drei, die miteinander reden, zwei Schriftgelehrte und ein Pharisäer sind,
die ich bei der Auferweckung des Lazarus gesehen habe, deren Namen ich aber
nicht mehr weiß.)
«Die sprechen doch nicht mit uns
Heiden! Geht ihr sie fragen, ihr seid Juden; du aber, zeige uns das Grab, in
dem du gelegen hast.»
Sie betteln so sehr, daß Lazarus
sich entschließt. Er sagt etwas zu den Dienern und wendet sich dann wieder an
die Leute: «Geht auf die Straße zwischen diesem und meinem anderen Haus. Ich
komme euch entgegen und führe euch zum Grab, obwohl es nichts zu sehen gibt
als ein offenes Loch in einer Felswand.»
«Das macht nichts! Gehen wir!
Gehen wir!»
«Lazarus! Warte! Können auch wir
mitkommen? Oder verweigerst du uns, was du den Fremden gewährst?» sagt ein
Schriftgelehrter.
394
«Nein, Archelaos. Komm nur, wenn
du dich durch die Nähe des Grabes nicht verunreinigt fühlst.»
«Es ist keine Verunreinigung zu
befürchten, denn es liegt kein Toter darin.»
«Aber es war vier Tage lang ein
Toter darin. Gewöhnlich genügt viel weniger, um als unrein zu gelten in
Israel. Wenn jemand nur mit seinem Gewand eine Person streift, die mit einem
Toten in Berührung gekommen ist, bezeichnet ihr ihn als unrein. Und aus meinem
Grab steigt immer noch Leichengeruch auf, obwohl es schon so lange offen
steht.»
«Das macht nichts. Wir werden uns
reinigen.»
Lazarus sieht die beiden
Pharisäer Johannes und Eleazar an und sagt zu ihnen: «Kommt ihr auch mit?»
«Ja, wir kommen.»
Lazarus geht rasch an die Seite
des Gartens mit den Hecken, die so hoch und dicht wie Mauern sind. Er öffnet
ein Tor, das sich in einer dieser Hecken befindet, schaut hinaus auf die
Straße, die zum Haus des Simon führt, gibt den Wartenden ein Zeichen zu kommen
und geht dann mit ihnen zum Grab. Ein blühender Rosenstock rankt sich um den
Eingang, ohne ihm aber den Schrecken nehmen zu können, der von einem offenen
Grab ausgeht. Auf dem schrägen Felsen unter dem blühenden Bogen, stehen die
Worte: «Lazarus, komm heraus!»
Die Übelwollenden sehen es als
erste und sagen sofort: «Warum hast du diese Worte einmeißeln lassen? Das
hättest du nicht tun dürfen!»
«Warum? In meinem Haus kann ich
tun, was ich will, und niemand kann mich einer Sünde beschuldigen, wenn ich
die Worte des göttlichen Befehls, die mich dem Leben wiedergeschenkt haben,
unauslöschlich und für immer in den Felsen eingraben ließ. Wenn ich einmal
dort drinnen liege und die barmherzige Macht des Rabbi nicht mehr preisen
kann, dann soll die Sonne sie noch auf dem Stein lesen, die Bäume sollen sie
von den Winden vernehmen, die Vögel und die Blumen sollen sie liebkosen und an
meiner Stelle fortfahren, den Befehl des Christus zu preisen, der mich dem Tod
entrissen hat.»
«Du bist ein Heide! Du bist ein
Gotteslästerer! Du lästerst unseren Gott. Du preist die Zauberei des Sohnes
Beelzebubs! Nimm dich in acht, Lazarus!»
«Ich erinnere euch daran, daß ich
in meinem Haus bin und ihr in meinem Haus seid; ungerufen und aus unwürdigen
Gründen seid ihr gekommen. Ihr seid schlechter als diese hier, die Heiden
sind, und doch in meinem Erwecker einen Gott erkennen.»
«Anathema! Wie der Meister, so
der Jünger! Schrecklich! Gehen wir! Weg von dieser Kloake. Du Verderber
Israels, das Synedrium wird sich deiner Worte erinnern.»
«Und Rom sich eurer
Verschwörungen. Hinaus!»
395
Der sonst so sanfte Lazarus
erinnert sich, daß er der Sohn des Theophilus ist, und vertreibt sie wie
Hunde. Zurück bleiben die Pilger aus allen möglichen Ländern, stellen Fragen,
schauen umher und betteln, Christus sehen zu dürfen.
«Ihr werdet ihn in der Stadt
sehen. Jetzt nicht. Ich kann nicht.»
«Ach, wird er denn in die Stadt
kommen? Wirklich? Sagst du auch nicht die Unwahrheit? Kommt er, obwohl sie ihn
so sehr hassen?»
«Er kommt. Geht nun beruhigt.
Seht ihr, wie still es im Haus ist? Man sieht und hört niemanden. Ihr habt
gesehen, was ihr sehen wolltet: den Auferweckten und den Ort seines
Begräbnisses. Nun geht. Aber sorgt dafür, daß eure Neugier nicht unfruchtbar
bleibe. Möge der Anblick des lebendigen Beweises der Macht Jesu Christi, des
Lammes Gottes und allerheiligsten Messias euch alle auf seinen Weg führen.
Eine Hoffnung macht mich glücklich, auferweckt worden zu sein: denn ich hoffe,
daß das Wunder die Zweifelnden aufrüttelt, die Heiden bekehrt und alle davon
überzeugt, daß nur einer der wahre Gott und nur einer der wahre Messias ist:
Jesus von Nazareth, der heilige Meister.»
Die Leute zerstreuen sich nur
ungern, und für einen der geht, erscheinen zehn neue, denn immer mehr Leute
kommen. Aber Lazarus gelingt es mit Hilfe einiger Diener, alle
hinauszuschieben und die Tore zu schließen.
Er will sich schon zurückziehen
und ordnet an: «Gebt acht, daß sie die Tore nicht aufbrechen oder
darübersteigen; bald bricht die Nacht herein, und sie werden zu ihren
Unterkünften zurückkehren», als er hinter einem Myrtengebüsch Johannes und
Eleazar hervorkommen sieht.
«Wie? Ich hatte euch nicht mehr
gesehen und glaubte...»
«Schicke uns nicht fort. Wir
haben uns in diesen Büschen versteckt, um nicht gesehen zu werden. Wir müssen
mit dem Meister sprechen. Wir sind gekommen, da man uns weniger verdächtigt
als Joseph und Nikodemus. Aber wir wollen von niemandem gesehen werden, mit
Ausnahme von dir und dem Meister. Ist auf deine Diener Verlaß?»
«Im Haus des Lazarus ist es
üblich, daß man nur sieht und hört, was der Hausherr will, und Fremden
gegenüber nichts weiß. Aber kommt. Gehen wir diesen Weg zwischen den beiden
grünen Wänden, die undurchdringlicher sind als eine Mauer.» Er führt sie auf
den Weg zwischen den dichten Lorbeer- und Buchsbaumhecken. «Wartet hier. Ich
werde Jesus holen.»
«Daß aber niemand etwas
bemerkt... !»
«Habt keine Angst.»
Sie müssen nicht lange warten,
denn bald erscheint Jesus auf dem durch das Gewirr der Zweige halb dunklen
Weg, ganz weiß in seinem Linnengewand. Lazarus bleibt am Beginn des Weges
stehen, wie um Wache zu halten oder aus Diskretion. Doch Eleazar gibt ihm ein
Zeichen und sagt: «Komm her.»
396
Lazarus kommt näher, während
Jesus die beiden, die sich tief verneigen, begrüßt.
«Meister, und auch du, Lazarus,
hört zu. Kaum hatte sich die Nachricht verbreitet, daß du angekommen bist und
dich hier aufhältst, hat sich das Synedrium im Haus des Kaiphas versammelt.
Alles, was geschieht, ist gesetzwidrig... Man hat beschlossen... Laß dich
nicht täuschen, Meister! Sei wachsam, Lazarus! Laßt euch nicht täuschen durch
den falschen Frieden, durch das scheinbare Desinteresse des Synedriums. Es ist
nur eine Falle, Meister, um dich anzulocken und dich, ohne Aufsehen zu
erregen, gefangenzunehmen, und ohne daß das Volk sich vorbereiten und dich
verteidigen kann. Dein Schicksal ist besiegelt und das Dekret wird nicht
geändert. Ob morgen oder in einem Jahr, es wird vollstreckt werden. Das
Synedrium vergißt niemals seine Rache. Es wartet, es kann die passende
Gelegenheit abwarten, aber dann... ! Und auch du, Lazarus. Sie wollen dich aus
dem Weg schaffen, dich gefangennehmen, dich beseitigen; denn deinetwegen
werden zu viele dem Synedrium untreu und folgen dem Meister. Du selbst hast
ganz richtig gesagt, daß du der Beweis seiner Macht bist. Und sie wollen
diesen Beweis vernichten. Das Volk vergißt rasch, sie wissen es. Wenn ihr, der
Meister und du, nicht mehr existiert, werden viele Flammen erlöschen.»
«Nein, Eleazar! Sie werden erst
recht aufflammen!» sagt Jesus.
«Oh Meister! Aber was wird
geschehen, wenn du tot bist? Was nützt es, wenn der Glaube an dich aufflammt –
selbst wenn es so ist – du aber nicht mehr unter uns bist? Ich hatte gehofft,
dir nur eine freudige Nachricht überbringen und dich einladen zu können, denn
meine Frau wird bald das Kind gebären, das wir deiner Gerechtigkeit verdanken,
die unseren entzweiten Herzen den Frieden wiedergeschenkt hat. Es wird an
Pfingsten zur Welt kommen. Ich wollte dich bitten, bei uns zu sein und es zu
segnen. Wenn du unter mein Dach kommst, wird für immer jedes Unheil von uns
fernbleiben», sagt der Pharisäer Johannes.
«Ich gebe dir schon jetzt meinen
Segen...»
«Ach, du willst nicht zu mir
kommen! Du traust mir nicht! Ich bin dir treu, Meister! Gott sieht mich!»
«Ich weiß es. Nur... Ich werde an
Pfingsten nicht mehr unter euch sein.»
«Aber das Kind wird im Landhaus
zur Welt kommen ...»
«Ich weiß es. Aber ich werde
nicht mehr da sein. Doch du, deine Frau, das ungeborene Kind und die Kinder,
die du schon hast, ihr alle habt meinen Segen. Ich danke euch, daß ihr
gekommen seid. Nun geht. Begleite sie auf dem Weg bis hinter das Haus des
Simon, damit sie nicht gesehen werden... Ich kehre ins Haus zurück. Der Friede
sei mit euch ...»
397
641. DER SABBAT VOR DEM EINZUG IN
JERUSALEM; III. DAS GASTMAHL IN BETHANIEN
Das Gastmahl ist in dem ganz
weißen Saal vorbereitet, in dem Jesus mit den Jüngerinnen gesprochen hat.
Alles glänzt in Weiß und Silber, was etwas kalt wirken könnte, wenn nicht
Apfel-, Birn- oder andere Obstbaumzweige diesen Eindruck mildern würden. Ihre
makellosen Blüten schimmern in einem so leichten Hauch von Rosa, daß sie an
Schnee erinnern, den der Kuß einer fernen Morgenröte streift. Die Zweige
stecken in bauchigen Vasen oder schlanken silbernen Amphoren auf den Tischen,
Kästen und Anrichten entlang den Wänden, und ihre Blüten erfüllen den Saal mit
dem typischen Duft von Obstbaumblüten, Frische und Herbheit des reinen
Frühlings...
Lazarus betritt an der Seite Jesu
den Saal. Hinter ihnen kommen zu zweit oder in größeren Grüppchen die Apostel.
Zuletzt die beiden Schwestern des Lazarus mit Maximinus.
Ich sehe die Jüngerinnen nicht,
und nicht einmal Maria. Vielleicht haben sie es vorgezogen, zusammen mit der
betrübten Mutter im Haus des Simon zu bleiben.
Der Tag neigt sich seinem Ende
zu. Aber die letzten Strahlen der Sonne fallen noch auf die rauschenden Wipfel
einiger Palmen, die nur wenige Meter vom Saal entfernt beisammen stehen, und
die Krone eines gigantischen Lorbeerbaumes, in dem die Spatzen streiten, bevor
sie schlafen gehen. Hinter den Palmen und dem Lorbeerbaum, den Rosen- und
Jasminhecken, den Beeten mit Maiglöckchen, sonstigen Blumen und duftenden
Pflänzchen leuchtet ein schneeweißer, mit dem zarten Grün der ersten Blättchen
gesprenkelter Fleck: einige spätblühende Apfel- oder Birnbäume im Obstgarten.
Es sieht aus, als sei eine Wolke in den Zweigen hängengeblieben.
Jesus bemerkt, als er an einem
Krug mit blühenden Zweigen vorübergeht: «Sie haben schon kleine Früchte, seht
nur. Oben sind noch Blüten , weiter unten aber sind sie bereits abgefallen,
und der Fruchtknoten beginnt anzuschwellen.»
«Es war Maria, die sie pflücken
wollte. Sie hat auch deiner Mutter einige Sträuße gebracht. Sie ist schon bei
Sonnenaufgang aufgestanden, da sie befürchtete, daß ein weiterer Sonnentag die
empfindlichen Blüten vernichten könnte. Ich habe jetzt erst von dieser
Verwüstung erfahren. Aber ich habe mich nicht darüber empört wie die
Landarbeiter. Ich habe vielmehr gedacht, es ist nur recht und billig, dir, dem
König aller Dinge, alle Schönheiten der Schöpfung zu schenken.»
Jesus setzt sich lächelnd an
seinen Platz und betrachtet Maria, die sich mit ihrer Schwester anschickt, wie
eine Magd zu dienen. Sie bietet die
398
Gefäße für die Reinigung und die
Handtücher an, gießt dann den Wein in die Kelche und stellt nach und nach die
Platten mit den Speisen auf die Tische, sowie sie die Diener aus der Küche
bringen oder sie von den Anrichten herüberreichen, auf denen sie sie
aufgeschnitten haben.
Obwohl die beiden Schwestern alle
Geladenen zuvorkommend bedienen, konzentriert sich ihre Aufmerksamkeit
natürlich auf die beiden, die ihnen am teuersten sind: Jesus und Lazarus.
Auf einmal sagt Petrus, der
herzhaft zugreift: «Sieh einer an! Erst jetzt bemerke ich, daß alle Gerichte
so zubereitet sind wie in Galiläa. Ich fühle mich... Ja, ich fühle mich wie
bei einem Hochzeitsmahl. Doch hier fehlt es nicht an Wein, wie damals in
Kana.»
Maria mischt dem Apostel lächelnd
einen neuen Kelch mit bernsteinfarbenem, klarem Wein. Aber sie sagt nichts.
Es ist wieder Lazarus, der
erklärt: «Es war auch wirklich die Absicht meiner Schwestern, besonders
Marias, ein Mahl zu bereiten, bei dem sich der Meister wie in Galiläa fühlen
würde; wie in seinem Galiläa, das, wenngleich auch nicht vollkommen, so doch
besser, viel besser als diese Gegend hier ist ...»
«Damit er sich wie zu Hause
fühlt, müßte Maria mit am Tisch sein. In Kana war sie dabei. Und ihretwegen
hat der Meister das Wunder gewirkt», bemerkte Jakobus des Alphäus.
«Es muß ein großartiger Wein
gewesen sein!»
«Der Wein ist das Sinnbild des
Frohsinns und müßte auch das der Fruchtbarkeit sein, da er der Saft der
fruchtbaren Rebe ist. Aber mir scheint nicht, daß er viel genützt hat. Susanna
ist immer noch kinderlos», bemerkt Iskariot.
«Oh, und ob es ein guter Wein
war! Er hat unseren Geist befruchtet ...»sagt Johannes etwas träumerisch, wie
immer, wenn er im Geist die von Gott gewirkten Wunder betrachtet. Und er fügt
hinzu: «Für eine Jungfrau wurde das Wunder gewirkt... Und wer davon getrunken
hat, hat die Wirkung der Reinheit gefühlt.»
«Hältst du Susanna denn für eine
Jungfrau?» fragt Iskariot lachend.
«Das habe ich nicht gesagt. Die
Mutter des Herrn ist Jungfrau, und Jungfräulichkeit strahlt aus allem, was für
sie getan wird. Ich habe immer das Gefühl, daß alles, was man für Maria tut,
jungfräulich ist ...» und Johannes träumt wieder und lächelt wer weiß welcher
Vision zu.
«Selig dieser Jüngling! Ich
glaube, er ist sich im Augenblick gar nicht bewußt, daß er auf der Welt ist.
Seht ihn euch nur an», sagt Petrus und zeigt auf Johannes, der auf seinem
Lager liegt, gedankenverloren mit Brotstückchen spielt und ganz vergißt zu
essen.
Auch Jesus dreht sich etwas um
und schaut Johannes an, der sich an einer Seite der in U-Form angeordneten
Tische befindet und daher hinter dem Rücken des Meisters. Dieser liegt in der
Mitte am mittleren Tisch,
399
seinen Vetter Jakobus zur Linken
und Lazarus zur Rechten. Nach Lazarus kommen der Zelote und Maximinus, neben
Jakobus der andere Jakobus und Petrus. Johannes befindet sich zwischen Andreas
und Bartholomäus. Dann kommt Thomas, und gegenüber sind Judas, Philippus,
Matthäus und Thaddäus, letzterer an der Ecke, wo der lange mittlere Tisch
beginnt.
Maria des Lazarus verläßt den
Saal, während Martha Tabletts auf die Tische stellt mit den schönsten ersten
Feigen, grünen Fenchelstengeln, frischen geschälten Mandeln, goldenen Orangen
und Erdbeeren oder Himbeeren – ich weiß es nicht – die noch röter leuchten
neben dem blassen Smaragdgrün des Fenchels und der Blumen und dem milchigen
Weiß der Mandeln und der kleinen Melonen, oder einem ähnlichen Obst... es
scheinen die kleinen grünen Melonen aus Unteritalien zu sein.
«Gibt es denn schon solche
Früchte? Ich habe noch nirgends reife gesehen», sagt Petrus, der die Augen
weit aufreißt, als er die Erdbeeren und die Melonen sieht.
«Sie sind zum Teil vom
Küstengebiet jenseits von Gaza, wo ich einen Garten mit diesen Früchten habe,
zum Teil von den Sonnenterrassen über dem Haus, den Gewächshäusern für die
empfindlicheren Pflanzen, die vor dem Frost geschützt werden müssen. Ein
römischer Freund hat mir gezeigt, wie man sie anbaut... Es war das einzige
Gute, das er mich gelehrt hat...» Sein Gesicht verfinstert sich. Martha
seufzt... Doch Lazarus wird sofort wieder der perfekte Gastgeber, der seine
Gäste nicht traurig stimmen möchte. «Auf den Landgütern um Baiae und Syrakus
und am weiten Golf von Sybaris pflegt man diese Köstlichkeiten so anzubauen,
um sie vor der Zeit genießen zu können. Eßt: die letzten Früchte der
Orangenbäume Libyens, die ersten der sonnigen Melonenfelder Ägyptens und der
Gärten Latiums, die weißen Mandeln unserer Heimat, die zarten Bohnen, die
verdauungsfördernden Stengel, die nach Anis schmecken... Martha, hast du an
das Kind gedacht?»
«Ich habe an alles gedacht. Maria
war ganz gerührt bei der Erinnerung an Ägypten.»
«Wir hatten einige Pflanzen in
dem armseligen Garten. Bei der großen Hitze war es ein Fest, wenn man die
Melonen in den tiefen, kühlen Brunnen des Nachbarn hängen konnte, um sie dann
am Abend zu essen... Ich erinnere mich noch daran... Und ich hatte eine
naschhafte Ziege, auf die man achtgeben mußte, denn sie hatte eine Vorliebe
für zarte Pflanzen und Früchte...» Jesus, der bis dahin mit leicht geneigtem
Haupt gesprochen hat, hebt nun den Kopf und betrachtet die Palmen, die im
leichten Abendwind rauschen. «Wenn ich diese Palmen sehe... Immer wenn ich
Palmen sehe, sehe ich Ägypten wieder, seinen gelben, sandigen Boden, den der
Wind so leicht davontrug. Und in der Ferne flimmerten die Pyramiden in der
dünnen Luft... und die hohen, schlanken Stämme der Palmen... und
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das Haus, in dem... Aber es ist
besser, nicht davon zu reden. Jede Zeit hat ihre Plage. Und mit der Plage auch
ihre Freude... Lazarus, würdest du mir einige dieser Früchte geben? Ich möchte
sie Maria und Matthias bringen. Ich glaube nicht, daß Johanna solche hat.»
«Nein, sie hat keine. Sie hat es
gestern gesagt und sich vorgenommen, sie in Bether anzupflanzen, wenn die
Gewächshäuser errichtet sind. Aber ich kann sie dir jetzt noch nicht geben.
Ich habe alle gepflückt, die es gab, und die anderen werden erst in einigen
Tagen reif sein. Dann schicke ich sie dir, oder du kannst sie bis Donnerstag
abholen lassen. Wir werden einen hübschen Korb für die Kinder vorbereiten,
nicht wahr, Martha?»
«Ja, mein Bruder. Und wir werden
die kleinen Lilien der Maiglöckchen dazulegen, die Johanna so sehr liebt.»
Maria Magdalena kommt wieder
herein. Sie bringt eine Amphore mit schlankem Hals, der in einem Schnabel
endet und elegant wie eine Vogelkehle geschwungen ist. Der wertvolle gelbliche
Alabaster hat einen leichten Rosaton, wie die Haut mancher Blondinen. Die
Apostel sehen sie an, vielleicht in Erwartung einer besonderen Leckerei. Aber
Maria geht nicht in die Mitte des U, das die Tische bilden und wo ihre
Schwester sich befindet. Sie geht hinten an den Liegen vorbei und bleibt
zwischen Jesus und Lazarus auf der einen und den beiden Jakobus auf der
anderen Seite stehen.
Sie öffnet das Alabastergefäß und
hält die Hand unter den Schnabel, um einige Tropfen einer dicken Flüssigkeit
aufzufangen, die langsam aus dem geöffneten Krug quillt. Der intensive Geruch
von Tuberosen und anderen Essenzen, ein herrlicher Duft, verbreitet sich im
Saal. Doch Maria ist nicht zufrieden mit dem wenigen, das heraustropft. Sie
bückt sich und schlägt den Hals der Amphore kurz und fest gegen die Lehne des
Ruhebettes Jesu. Der dünne Hals fällt zu Boden und bespritzt den Marmor mit
duftenden Tropfen. Nun hat die Amphore eine größere Öffnung und das
zähflüssige Öl läuft heraus.
Maria stellt sich hinter Jesus
und träufelt das dicke Öl auf das Haupt ihres Meisters, befeuchtet damit alle
Locken, reibt sie ein und bringt sie dann wieder in Ordnung mit einem Kamm,
den sie aus ihrem Haar zieht * Das angebetete Haupt ihres Jesus! Sein
rotblondes Haar glänzt und leuchtet wie dunkles Gold nach dieser Salbung. Das
Licht des Leuchters, den die Diener angezündet haben, spiegelt sich auf dem
blonden Haupt wie auf einem herrlich verzierten Bronzehelm. Der Duft ist
betäubend. Er dringt in die Nase, steigt in den Kopf und reizt fast wie
Nießpulver, so stark ist er, da das Öl im Übermaß verwendet wird.
Lazarus, der hinter sich schaut,
lächelt, als er sieht, mit welcher Sorgfalt Maria die Haare Jesu salbt und
dann kämmt, damit alles wieder schön in Ordnung ist nach dieser duftenden
Einreibung. Sie achtet nicht darauf, daß ihre Zöpfe immer weiter auf den Hals
und bald schon auf den
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Rücken herabgleiten, da nun der
Kamm fehlt, der sie zuvor zusammen mit den Nadeln gehalten hat. Auch Martha
schaut zu und lächelt. Die anderen unterhalten sich leise und mit
unterschiedlichem Gesichtsausdruck.
Aber Maria ist noch nicht
zufrieden. Es ist noch viel Öl in dem Gefäß mit dem abgebrochenen Hals, und
das dichte Haar Jesu ist schon genug gesalbt. Da wiederholt Maria die
Liebesgeste eines fernen Abends. Sie kniet vor dem Ruhebett nieder, löst die
Schnallen der Sandalen Jesu und zieht sie ihm aus. Dann taucht sie die Finger
ihrer schönen schlanken Hand in das Gefäß, entnimmt ihm so viel Salbe als
möglich und reibt damit die nackten Füße ein, Zehe um Zehe, dann die Fußsohle,
die Ferse und den Knöchel, nachdem sie den Saum des Leinenkleides
zurückgestreift hat, und schließlich den Rist. Sie verweilt an der Stelle, wo
die furchtbaren Nägel ihn durchbohren werden. Als sie keinen Balsam mehr
findet in dem Gefäß, zerbricht sie es auf dem Boden. Und da ihre Hände nun
frei sind, zieht sie die großen Haarnadeln aus dem Haar, löst die schweren
Zöpfe auf und wischt mit diesen goldenen, lebenden, weichen, fließenden
Strähnen das überflüssige Öl von den Füßen Jesu.
Judas – der bisher geschwiegen
und mit lüsternen, neidvollen Blicken die schöne Frau und den Meister, dessen
Kopf und Füße sie salbt, betrachtet hat – spricht jetzt laut. Es ist die
einzige Stimme lauten Tadels; denn die anderen, nicht alle, nur einige, haben
ihrem erstaunten Unmut nur durch Gesten oder leiser Worte Luft gemacht. Judas
hingegen, der sogar aufgestanden ist, um die Salbung der Füße Christi besser
sehen zu können, sagt unfreundlich: «Was für eine unnütze, heidnische
Verschwendung! Mußte das sein? Und dann sollen die Vorsteher des Synedriums
nicht von Sünde sprechen! Das sind Handlungen einer unzüchtigen Kurtisane, und
sie passen nicht zu dem neuen Leben, das du jetzt führst, o Frau. Sie erinnern
zu sehr an deine Vergangenheit!»
Die Beschimpfung ist so
unverschämt, daß alle bestürzt sind. Keiner bleibt ruhig. Einige setzen sich
auf ihren Lagern auf, andere springen auf die Füße, und alle starren Judas an,
als ob er plötzlich den Verstand verloren hätte.
Martha wird rot, und Lazarus
springt auf, schlägt mit der Faust auf den Tisch und ruft: «In meinem Haus...»
Doch dann schaut er Jesus an und beherrscht sich.
«Ja, ihr schaut mich an. Alle
habt ihr in euren Herzen gemurrt. Aber nun, da ich es ausgesprochen habe, da
ich offen gesagt habe, was ihr denkt, seid ihr sofort bereit, mir Unrecht zu
geben. Ich wiederhole, was ich gesagt habe. Ich will nicht sagen, daß Maria
die Geliebte des Meisters ist. Aber ich möchte betonen, daß gewisse Handlungen
sich weder für sie noch für ihn geziemen. Maria hat unklug und auch ungerecht
gehandelt. Ja! Warum diese Verschwendung? Wenn sie die Erinnerung an ihre
Vergangenheit tilgen wollte, hätte sie das Gefäß und das Öl mir geben können.
Es war
402
mindestens ein Pfund reinstes
Nardenöl. Und sehr wertvoll. Ich hätte es für wenigstens dreihundert Denare
verkauft, denn Nardenöl dieser Art kostet so viel. Und ich hätte auch das
Gefäß verkaufen können, denn es war sehr schön und kostbar. Das Geld hätte ich
den Armen gegeben, die uns immer umlagern. Es reicht ja nie für alle. Und
morgen in Jerusalem werden uns unzählige um Almosen bitten.»
«Das ist wahr», stimmen die
anderen bei. «Sie hätte etwas für den Meister verwenden können und das übrige
...»
Maria von Magdala scheint taub zu
sein. Sie trocknet immer noch die Füße Jesu mit ihren aufgelösten Haaren, die
nun unten schon schwer von Öl und dunkler als oben auf dem Kopf sind. Die Füße
Jesu, von der Farbe alten Elfenbeins, sind so glatt und weich, als hätten sie
eine neue Haut bekommen. Maria legt Jesus wieder die Sandalen an und küßt
jeden Fuß vorher und nachher noch einmal. Sie ist taub für alles, was nicht
ihre Liebe zu Jesus ist.
Jesus verteidigt sie, legt eine
Hand auf das zum letzten Kuß über seinen Fuß gebeugte Haupt und sagt: «Laßt
sie. Warum betrübt und kränkt ihr sie? Ihr wißt nicht, was sie getan hat.
Maria hat nicht unziemlich gehandelt, sondern ein gutes Werk an mir
vollbracht. Die Armen werdet ihr immer unter euch haben. Ich aber verlasse
euch bald. Sie werdet ihr immer haben, mich aber habt ihr nicht immer. Den
Armen werdet ihr immer Almosen geben können. Mir, dem Menschensohn unter den
Menschen, könnt ihr bald keinerlei Ehre mehr erweisen, weil die Menschen es so
wollen und weil die Stunde gekommen ist. Die Liebe ist für Maria Erleuchtung.
Sie fühlt, daß meine letzte Stunde naht, und da sie dieses Salböl über meinen
Leib ausgegossen hat, hat sie es für mein Begräbnis getan. Wahrlich, ich sage
euch, wo immer die Frohe Botschaft verkündet wird, da wird auch dieser Tat
ihrer prophetischen Liebe gedacht werden. Auf der ganzen Welt und zu allen
Zeiten. Wollte Gott, daß aus jedem Geschöpf eine andere Maria würde, die den
Wert der irdischen Dinge nicht berechnet, keine Anhänglichkeit an sie nährt
und nicht die geringste Erinnerung an die Vergangenheit bewahrt, sondern alles
vernichtet und mit Füßen tritt, was fleischlich und weltlich ist, die sich
selbst vernichtet und sich verausgabt, wie sie es mit dem Nardenöl und dem
Alabaster getan hat, aus Liebe zu ihrem Herrn. Weine nicht, Maria. Ich
wiederhole dir in diesem Augenblick die Worte, die ich zu Simon, dem
Pharisäer, und zu Martha, deiner Schwester, gesagt habe: "Alles ist dir
verziehen, denn du hast vollkommen geliebt." Du hast den besseren Teil
erwählt, und er wird dir nicht genommen werden. Geh in Frieden, mein sanftes,
wiedergefundenes Lamm. Geh in Frieden. Die Weideplätze der Liebe werden auf
ewig deine Nahrung sein. Steh auf. Küsse auch meine Hände, die dich gesegnet
und losgesprochen haben... Wie viele haben meine Hände losgesprochen, gesegnet
und geheilt, wie vielen haben sie Wohltaten erwiesen! Und doch sage ich euch,
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das Volk, dem ich Wohltaten
erwiesen habe, ist schon bereit, diese Hände zu durchbohren ...»
Ein beklemmendes Schweigen
erfüllt die schwere, stark duftende Luft. Maria, deren offenes Haar wie ein
Mantel über ihre Schultern fällt und ihr Gesicht verschleiert, küßt die rechte
Hand, die Jesus ihr reicht, und kann ihre Lippen nicht mehr von ihr lösen...
Martha ist gerührt. Sie kommt
herbei, nimmt das offene Haar, flicht es unter Liebkosungen in Zöpfe und
versucht, die Tränen auf den Wangen damit zu trocknen.
Niemand hat mehr Lust zu essen...
Die Worte Jesu stimmen nachdenklich. Der erste, der sich erhebt, ist Judas des
Alphäus. Er bittet um Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen. Jakobus, sein
Bruder, folgt ihm, und ebenso Andreas und Johannes. Die anderen bleiben, haben
sich aber erhoben und waschen sich die Hände in den silbernen Becken, die
ihnen die Diener reichen. Maria und Martha bedienen Jesus und Lazarus.
Ein Diener kommt herein und beugt
sich zu Maximinus, um mit ihm zu sprechen. Dieser sagt, nachdem er ihn
angehört hat: «Meister, es sind Leute da, die dich sehen möchten. Sie sagen,
daß sie von weither kommen. Was sollen wir tun?»
Jesus ruft Philippus, Jakobus des
Zebedäus und Thomas und ordnet an: «Geht, predigt und heilt in meinem Namen.
Verkündet allen, daß ich morgen zum Tempel hinaufgehen werde.»
«Ist es gut, dies zu sagen,
Herr?» fragt Simon der Zelote.
«Es verschweigen zu wollen, würde
nichts nützen; denn die Feinde haben diese Nachricht in der heiligen Stadt
schon mehr als die Freunde verbreitet. Geht.»
«Nun, solange es die Freunde
wissen... Diese verraten nichts. Ich verstehe nicht, von wem es die anderen
erfahren haben.»
«Unter vielen Freunden gibt es
immer einen Feind, Simon des Jonas. Es sind nun schon zu viele... Freunde, und
sie werden zu leicht als solche akzeptiert. Wenn ich daran denke, wieviel ich
beten und warten mußte... ! Aber es war in der ersten Zeit, und da war man
noch vorsichtig. Dann kamen die Siege und machten blind, und man wurde
unvorsichtig. Das war ein Fehler. Aber so ergeht es allen Siegern. Die Siege
trüben den Blick und verleiten zu weniger umsichtigem Handeln. Ich spreche
natürlich von uns Jüngern. Nicht vom Meister. Er ist vollkommen. Wären wir
zwölf allein geblieben, bräuchten wir keinen Verrat zu befürchten», lügt Judas
von Kerioth schamlos.
Der Blick, den Jesus dem
verräterischen Apostel zuwirft, ist unbeschreiblich. Ein mahnender Blick, voll
unsäglichem Leid. Aber Judas achtet nicht darauf. Er geht an dem Tisch vorbei
und will den Raum verlassen. Jesus folgt ihm mit den Augen, und als er sieht,
daß er wirklich hinausgehen will, fragt er: «Wohin gehst du?»
404
«Hinaus», antwortet Judas
ausweichend.
«Aus diesem Raum oder aus dem
Haus?»
«Hinaus... Nur so... um mich ein
wenig zu bewegen.»
«Geh nicht, Judas. Bleib bei mir,
bei uns ...»
«Deine Brüder und auch Johannes
und Andreas sind gegangen. Warum soll ich nicht gehen?»
«Du willst nicht gehen, um dich
auszuruhen, wie sie...»
Judas antwortet nicht, sondern
geht eigensinnig hinaus. Niemand spricht mehr im Saal. Die Gastgeber und die
vier zurückgebliebenen Apostel, Petrus, Simon, Matthäus und Bartholomäus,
schauen sich an.
Jesus schaut hinaus. Er ist
aufgestanden und an ein Fenster gegangen, um die Bewegungen des Judas zu
verfolgen. Als er sieht, daß Judas, den Mantel um die Schultern, das Haus
verläßt und sich zum Tor begibt, das man von hier aus nicht sieht, ruft er ihn
laut: «Judas, warte auf mich. Ich muß dir etwas sagen.» Dann wehrt er sanft
Lazarus ab, der ihm einen Arm um die Taille gelegt hat, da er ahnt, daß Jesus
leidet, verläßt den Saal und holt Judas ein, der zwar etwas langsamer
gegangen, aber nicht stehengeblieben ist. Er erreicht ihn, als dieser gut ein
Drittel der Entfernung zwischen dem Haus und der Umzäunung zurückgelegt hat
und sich bei einem Gebüsch aus dichtbelaubten Gewächsen befindet; diese haben
fette Blätter, die dunkelgrüner Keramik gleichen, und unzählige Büschel
kleiner Blüten. Jede Blüte ist ein Kreuzchen aus dicken, wächsernen, leicht
gelblichen und stark duftenden Blütenblättern. Ihren Namen kenne ich nicht.
Jesus zieht Judas hinter dieses
Gebüsch und hält ihn am Arm fest. Er fragt noch einmal: «Wohin gehst du,
Judas? Ich bitte dich, bleibe hier!»
«Warum fragst du, da du doch
alles weißt? Wenn du in den Herzen der Menschen lesen kannst, dann brauchst du
doch nicht zu fragen. Du weißt, daß ich zu meinen Freunden gehe. Du erlaubst
mir nicht, zu ihnen zu gehen. Sie drängen mich zu kommen, und ich gehe.»
«Deine Freunde? Deine Verderber,
mußt du sagen! Du gehst ins Verderben. Du gehst zu deinen Mördern. Geh nicht,
Judas! Geh nicht! Du gehst, um ein Verbrechen zu begehen... Du ...»
«Ah, du hast Angst?! Du hast
endlich Angst?! Du fühlst dich endlich Mensch! Du bist ein Mensch! Nichts als
ein Mensch! Denn nur der Mensch hat Angst vor dem Tod. Gott weiß, daß er nicht
sterben kann. Wenn du Gott wärest, wüßtest du, daß du nicht sterben kannst und
hättest keine Angst. Du aber hast jetzt, jetzt, da du den Tod nahen fühlst,
diese Angst, die alle Menschen haben. Und du versuchst mit allen Mitteln, sie
zu vertreiben und siehst in allem und überall nur Gefahr. Wo ist denn dein
schöner Mut? Wo sind die überzeugenden Beteuerungen, daß du glücklich bist,
daß du danach dürstest, das Opfer zu vollbringen? Nicht einmal ein Echo davon
ist dir im Herzen geblieben! Du hast geglaubt, diese Stunde
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würde niemals kommen, hast den
Starken gespielt, den Großmütigen, und feierliche Worte gesprochen. Geh! Du
bist nicht anders als die, die du scheinheilig nennst! Du hast uns
geschmeichelt und uns verraten. Und wir, wir haben alles für dich verlassen!
Wir, die wir jetzt deinetwegen gehaßt werden! Du bist die Ursache unseres
Verderbens...»
«Genug. Geh! Geh! Es sind noch
nicht viele Stunden vergangen, seit du mir gesagt hast: "Hilf mir zu bleiben!
Verteidige mich!" Ich habe es getan. Und was hat es genützt? Sage mir nur noch
eines und überlege, bevor du mir antwortest. Ist es dein eigener freier Wille,
daß du zu deinen Freunden gehst und sie mir vorziehst?»
«Ja, das ist es. Ich brauche
nicht erst nachzudenken, denn schon lange will ich nur dies.»
«Dann geh. Gott zwingt den Willen
des Menschen nicht.»
Jesus kehrt ihm den Rücken und
geht langsam zum Haus zurück. Als er schon fast angekommen ist, hebt er den
Kopf, da er den auf ihn gerichteten Blick des Lazarus, der noch an derselben
Stelle steht, fühlt. Es ist ein sehr blasses Gesicht, das sich nun bemüht, dem
treuen Freund zuzulächeln.
Jesus kehrt in den Saal zurück,
in dem die vier Apostel mit Maximinus sprechen, während Maria und Martha die
Arbeit der Diener überwachen, die den Saal wieder in Ordnung bringen und das
Geschirr und die Tischwäsche abräumen, die man beim Mahl gebraucht hat.
Lazarus ist auf der Schwelle
erschienen, hat Jesus wieder einen Arm um die Hüfte gelegt und im Vorbeigehen
einem Diener befohlen: «Bringe mir die Schriftrolle, die auf dem Tisch in
meinem Arbeitszimmer liegt.»
Lazarus geleitet Jesus zu einem
der bequemen Sitze in den Fensternischen und bittet ihn, Platz zu nehmen. Doch
Jesus bleibt stehen und gibt sich Mühe, Lazarus zuzuhören... Aber man sieht
deutlich, daß seine Gedanken anderswo sind und daß sein Herz sehr betrübt ist;
und als er merkt, daß seine Apostel ihn beobachten und nähergekommen sind,
lächelt er, um den Verdacht der ihn Umgebenden zu zerstreuen, die mit ihren
Nachbarn flüstern, einander vielsagende Blicke zuwerfen und auf den Meister
zeigen.
Der Diener kehrt mit der
Schriftrolle zurück, und Petrus, der sieht, daß der Inhalt dieses Pergaments
seinen Verstand übersteigt, zieht sich zurück mit den Worten: «Die Fische
beißen bei gewissen Ködern nicht an. Es ist besser, wenn ich mit Maximinus
über Pflanzen und Kulturen rede.»
Martha setzt ihre Arbeit fort,
während Maria schweigend Lazarus zuhört, der den Meister auf einige Stellen in
den Pergamentrollen aufmerksam macht und sagt: «Hat dieser Heide nicht eine
außergewöhnliche Fähigkeit, die Dinge vorauszusehen? Mehr als viele von uns.
Vielleicht... wenn er hier gelebt hätte, jetzt, da du unser Meister bist, wäre
er einer deiner Jünger geworden, und einer der besten. Er hätte dich
verstanden wie
406
wenige von uns. Und welches Epos
hätte sein Genie aus der Bewunderung für dich gemacht! Deine Worte, gesammelt
und bewahrt von einem trotz seines Heidentums erleuchteten Geist. Dein Leben,
beschrieben von diesem offenen und klaren Geist! Wir haben keine Dichter und
Schriftsteller mehr. Du bist zu spät auf die Welt gekommen. Wie haben doch der
Egoismus des Lebens und der religiös-soziale Verfall alle Poesie und alle
Genialität in uns zum Erlöschen gebracht! Was unsere Weisen und Propheten von
dir geschrieben haben ohne dich zu kennen, hat in keiner der lebenden Stimmen
deiner Jünger ein Echo gefunden. Deine Bevorzugten, deine Getreuen sind zum
großen Teil ungebildete Leute. Und die anderen... Nein, wir haben keine
Kohelet mehr, um den Menschen deine Weisheit und deine Gestalt zu überliefern.
Wir haben sie nicht mehr, denn es fehlt mehr der Geist und der Wille als die
Fähigkeit, es zu tun. Der aus menschlicher Sicht gehobenere Teil Israels ist
taub und stumm wie ein Fisch und kann nicht mehr die Herrlichkeit und die
Wunder Gottes besingen. Ich fürchte, daß man alles vergessen oder verfälschen
wird, teils aus Unfähigkeit, teils aus bösem Willen ...»
«Das wird nicht geschehen. Wenn
der Geist des Herrn sich in den Herzen niedergelassen hat, wird er meine Worte
wiederholen und ihren Sinn erklären. Der Geist Gottes ist es, der durch den
Mund des Christus spricht... Später wird er direkt zu den Seelen sprechen und
sie an meine Worte erinnern.»
«Oh, wenn dies nur bald geschehen
würde! Bald, denn nur wenige hören deine Worte an und noch wenigere verstehen
sie. Ich glaube, daß das Brausen des Geistes Gottes mächtig, gleich dem
Brausen lodernden Feuers, sein wird, um den Seelen mit Gewalt einzubrennen,
was sie nicht annehmen wollten, als es süß und sanft war. Ich denke, daß der
flammende Geist mit seinem Feuer die lauen und gleichgültigen Gewissen
verbrennen und ihnen deine Worte einprägen wird. Die Welt wird dich lieben
müssen. Der Allerhöchste will es! Aber wann wird dies geschehen?»
«Wenn ich mich im Opfer der Liebe
verzehrt habe, wird die Liebe kommen. Sie wird wie eine schöne Flamme sein,
die von dem dargebrachten Opfer aufsteigt. Und diese Flamme wird nicht
erlöschen, denn das Opfer wird kein Ende haben. So wie es begonnen hat, wird
es bestehen, solange die Welt besteht.»
«Aber dann... mußt du wirklich
geopfert werden, damit dies geschieht?»
«So ist es.» Jesus macht die
übliche Bewegung, mit der er seine Ergebung in sein Schicksal ausdrückt. Er
breitet die Arme aus, mit nach außen gekehrten Händen, und neigt das Haupt.
Dann erhebt er es wieder, lächelt dem betrübten Lazarus zu und sagt: «Die
unkörperliche Stimme des Geistes der Liebe wird nicht wie ein gewaltiges
Brausen sein, sondern sanft wie die Liebe, die zart wie der Wind des Nisan und
doch auch stark wie der Tod ist. Das unergründliche Wirken der Liebe! Die
Ergänzung,
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die Vervollständigung meiner
Sendung... Ich fürchte nicht, so wie du, daß etwas von dem, was ich gegeben
habe, verlorengehen wird. Vielmehr sage ich dir, wahrlich, Lichtstrahlen
werden auf meine Worte fallen, und ihr werdet ihren Geist erkennen. Ich gehe
beruhigt, denn ich vertraue meine Lehre dem Heiligen Geist an und meinen Geist
dem Vater.»
Jesus neigt nachdenklich das
Haupt. Dann legt er die Schriftrolle, der Anlaß des Gespräches, auf eine Art
Anrichte oder Truhe aus Ebenholz oder einem anderen dunklen Holz, die ganz mit
gelblichem Elfenbein eingelegt ist und die vier Diener aus dem anliegenden
Zimmer hereingetragen haben, um nach den Anweisungen Marthas das wertvolle
Geschirr darin aufzubewahren. Er sagt zu Lazarus: «Komm mit mir hinaus. Ich
muß mit dir sprechen.»
«Sofort, Herr.» Lazarus erhebt
sich von dem Stuhl, auf den er sich gesetzt hat, und folgt Jesus in den
Garten, der schon fast im Dunkeln liegt, da am Himmel das letzte Tageslicht
erlischt und der erste schwache Schein des Mondes sich noch kaum bemerkbar
macht.
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Gepriesen sei Gott unser
Vater, unser Schöpfer,
Gepriesen sei Jesus
Christus, der sich aus Liebe für uns geopfert hat,
Gepriesen sei der Hl. Geist, der unser Lehrmeister sein möchte.
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