Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben
Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise
kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht
verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte.
Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es
ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle
stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu
halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte
Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren
Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.
Das Werk kann man hier
in Buchform erwerben:
Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch
Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
BanBand X:
Vorbereitung auf die Passion
595. Die Juden im Haus des Lazarus. S. 9
596. Die Juden bei Martha und Maria. S. 11
597. Martha lässt den Meister benachrichtigen. S. 17
598. Der Tod des Lazarus. S. 22
599. Die Benachrichtigung Jesu. S. 33
600. Beim Begräbnis des Lazarus. S. 39
601. «Lasst uns zu unserem Freund Lazarus gehen, der schläft». S. 48
602. Die Auferweckung des Lazarus. S. 55
603 Gedanken über die Auferweckung des Lazarus. S. 72
604. In der Stadt Jerusalem und im Tempel nach der Auferstehung des Lazarus.
S. 75
605. Jesus in Bethanien. S. 88
606. Auf dem Weg nach Ephraim. S. 101
607. Der erste Tag in Ephraim. S. 110
608. Wenn das Sabbatgebot auch wichtig ist, so ist doch das Gebot der Liebe
das wichtigste. S. 115
609. Am anderen Tag. S. 121
610. In der Nacht desselben Tages. S. 133
611. An einem Sabbat in Ephraim. S. 142
612. Die Verwandten der Kinder und die Leute von Sichem. S. 150
613. Die geheime Unterweisung. S. 156
614. Was in der Dekapolis und in Judäa geschieht. S. 161
615. Was in Judäa und besonders in Jerusalem geschieht. S. 166
616. Der Sopherim Samuel, ehemaliger Jünger des Jonathan ben Uziel und dann
Jünger Jesu. S. 175
617. Was in Galiläa und besonders in Nazareth geschieht. S. 187
618. Was in Samaria und bei den Römerinnen geschieht. S. 190
619. Jesus und der Mann von Jbnia. S. 196
620. Jesus, Samuel, Judas und Johannes. S. 206
621. Die Ankunft der Mutter und der Jüngerinnen in Ephraim. S. 217
622. Judas von Kerioth ist ein Dieb. S. 238
623. Die Reise durch Samaria vor dem Passahfest; Von Ephraim Nach Silo. S. 261
624. In Silo; Die schlecht Beratenen. S. 267
625. In Libona; Die schlecht Beratenen; Noch einmal über den Wert der
Ratschläge. S. 271
626. In Sichem. S. 279
627. Der Wert den der Gerechte den Ratschlägen gibt. S. 282
628. Jesus geht nach Ennon. S. 286
629. In Ennon; Der Jüngling Benjamin. S. 290
630. Jesus wird von den Samaritern abgelehnt. S. 300
631. Die Begegnung mit dem reichen Jüngling. S. 314
632. Dritte Ankündigung des Leidens; Die Mutter der Söhne des Zebedäus. S. 320
633. In Jericho vor dem Besuch in Bethanien. S. 329
634. Jesus spricht zu unbekannten Jüngern. S. 333
635. Die beiden Blinden von Jericho. S. 339
636. Jesus kommt nach Bethanien. S. 346
637. Der Freitag vor dem Einzug in Jerusalem; I. Jesus und Judas von Kerioth.
S. 353
638. Der Freitag vor dem Einzug in Jerusalem; II. Jesus und die Jüngerinnen.
S. 364
639. Der Sabbat vor dem Einzug in Jerusalem; I. Das Wunder an Methusalem oder
Schalem. S. 382
640. Der Sabbat vor dem Einzug in Jerusalem; II. Pilger und Juden in Bethanien.
S. 393
641. Der Sabbat vor dem Einzug in Jerusalem; III. Das Gastmahl in Bethanien.
S. 398
595. DIE JUDEN IM HAUS DES
LAZARUS
Eine zahlreiche Gruppe Juden
zieht auf edlen Pferden mit großem Pomp in Bethanien ein. Es sind
Schriftgelehrte und Pharisäer, sowie einige Sadduzäer und Herodianer, die ich
schon früher einmal gesehen habe, wenn ich nicht irre beim Festmahl im Haus
des Chuza, als sie Jesus versuchen wollten, sich zum König ausrufen zu lassen.
Diener folgen der Gruppe zu Fuß.
Die Reiter durchqueren langsam
das Städtchen, und die auf dem harten Boden klappernden Hufe, das Klirren der
Geschirre und die Stimmen der Männer locken die Bewohner aus ihren Häusern.
Sie blicken sichtlich erstaunt auf die Vorbeireitenden, verneigen sich tief
zum Gruß und richten sich dann wieder auf, um flüsternde Gruppen zu bilden.
«Habt ihr gesehen?»
«Alle Synedristen von Jerusalem!»
«Nein, Joseph vom Ältestenrat,
Nikodemus und andere waren nicht dabei!»
«Und die bekanntesten Pharisäer.»
«Und die Schriftgelehrten.»
«Und wer war jener auf dem
Pferd?»
«Gewiß gehen sie zu Lazarus.»
«Er muß im Sterben liegen.»
«Ich kann nicht verstehen, warum
der Meister nicht hier ist.»
«Was willst du, die von Jerusalem
versuchen ihn doch umzubringen!»
«Du hast recht. Sicher kommen
diese Schlangen, die gerade vorbeigeritten sind, nachsehen, ob der Rabbi dort
ist.»
«Gott sei gepriesen, daß er nicht
da ist!»
«Weißt du, was sie auf dem Markt
von Jerusalem meinem Mann gesagt haben? Wir sollten uns bereithalten, da er
sich bald zum König ausrufen lassen wird und wir ihm dann alle helfen
müssen... Wie haben sie gesagt? Ach! Ein Wort, das soviel bedeutet, als wenn
ich sagen würde, daß ich alle aus dem Haus jage und mich selbst zur Herrin
mache...»
«Ein Komplott... ? Eine
Verschwörung ... ? Ein Aufstand ... ?» fragen und mutmaßen sie.
Ein Mann sagt: «Ja, das haben sie
auch mir gesagt. Aber ich glaube nicht daran.»
«Immerhin, es sind Jünger des
Rabbi, die das sagen... !»
«Hm... Daß der Rabbi Gewalt
anwendet und den Tetrarchen absetzt,
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daß er einen Thron an sich reißt,
der, ob rechtens oder nicht, den Herodianern gehört, das glaube ich nicht. Du
tätest gut daran, Joachim zu sagen, daß er nicht alles glauben soll, was er
hört ...»
«Aber weißt du, daß alle, die ihm
helfen, auf Erden und im Himmel belohnt werden? Ich wäre sehr glücklich, wenn
mein Mann unter ihnen wäre. Ich habe viele Kinder, und das Leben ist schwer.
Wenn er ein Diener des Königs von Israel werden könnte...»
«Höre, Rachel, ich halte es für
besser, mich um meinen Garten und meine Datteln zu kümmern. Wenn er selbst es
mir sagen würde... oh, dann würde ich alles zurücklassen und ihm folgen. Aber
solange es andere sagen...»
«Aber es sind doch seine Jünger.»
«Ich habe sie nie bei ihm
gesehen, und außerdem... Nein. Sie spielen sich als Lämmer auf, haben aber
Spitzbubengesichter, die mich gar nicht überzeugen.»
«Das ist wahr. Seit einiger Zeit
geschehen eigenartige Dinge, und immer heißt es, daß es die Jünger des Rabbi
seien, die da handeln. Am Vortag des vergangenen Sabbat mißhandelten einige
von diesen eine Frau, die Eier auf den Markt brachte, und sagten zu ihr: "Wir
wollen deine Eier im Namen des galiläischen Rabbi!"»
«Und du glaubst, daß er so etwas
verlangen könnte? Er, der nur gibt und nicht nimmt? Er, der unter den Reichen
leben könnte und es vorzieht, bei den Armen zu sein? Er, der seinen Mantel
hergibt, wie es die geheilte Aussätzige allen erzählt hat, der Jakobus
begegnet ist?»
Ein anderer Mann, der sich zu der
Gruppe gesellt und zugehört hat, sagt: «Du hast recht. Und diese andere Sache,
die man auch noch erzählt? Daß der Rabbi großes Unheil über uns bringen wird,
weil die Römer uns alle bestrafen werden wegen des Aufruhrs, den er unter den
Leuten stiftet? Glaubt ihr daran? Ich sage – und ich irre mich sicher nicht,
denn ich bin alt und kenne mich in der Welt aus – ich glaube, daß sowohl die,
die uns armen Leuten weismachen wollen, daß der Rabbi mit Gewalt den Thron an
sich reißen und dann auch die Römer verjagen will – ach, wenn es nur so
wäre... ! wenn es möglich wäre, dies zu tun – als auch die, die in seinem
Namen Gewalt anwenden und uns aufwiegeln durch Versprechen künftigen Gewinns,
ebenso wie die, die uns dazu bringen wollen, den Meister zu hassen als einen
gefährlichen Menschen, der Unglück über uns bringen wird; ich meine, daß sie
alle Feinde des Meisters sind, die ihm schaden wollen, um selbst herrschen zu
können. Glaubt ihnen nicht! Glaubt nicht den falschen Freunden der armen
Leute! Habt ihr gesehen, wie hochmütig sie vorübergeritten sind? Mich hätten
sie beinahe verprügelt, weil ich Mühe hatte, die Schafe, die ihnen den Weg
versperrten, in das Gehege zu treiben... Und diese sollen unsere Freunde sein?
Niemals! Sie saugen uns das Blut aus und – Gott möge es verhüten – auch ihm.»
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«Du wohnst doch bei den Feldern
des Lazarus. Weißt du vielleicht, ob er schon gestorben ist?»
«Nein, er ist noch nicht
gestorben. Er schwebt zwischen Leben und Tod... Ich habe mich bei Sara
erkundigt, die Kräuter für die Waschungen gesammelt hat.»
«Aber weshalb sind sie dann
gekommen?»
«Hm... Sie haben sich das Haus
von allen Seiten angeschaut, von hinten, von der Seite, sind auch um das Haus
des Aussätzigen herumgegangen und dann in Richtung Bethlehem weitergeritten.»
«Ich habe es doch gesagt! Sie
wollten sehen, ob der Rabbi da ist; um ihm Böses anzutun. Weißt du, was es für
sie bedeutet, ihm etwas Böses antun zu können? Und noch dazu im Haus des
Lazarus? Sag, Nathan... Dieser Herodianer, war er nicht früher der Liebhaber
von Maria des Theophilus?»
«Er war es. Vielleicht wollte er
sich auf diese Weise an Maria rächen...»
Ein Knabe kommt gerannt. Er
schreit: «Wie viele Leute im Haus des Lazarus! Ich kam soeben mit Levi, Markus
und Isaias vom Bach, und wir haben sie gesehen. Die Diener haben ihnen das Tor
geöffnet und die Reittiere abgenommen. Und Maximinus ist den Juden
entgegengeeilt, und auch andere sind mit tiefen Verbeugungen herbeigelaufen.
Dann sind Martha und Maria mit ihren Dienerinnen zur Begrüßung aus dem Haus
gekommen. Wir hätten gern noch mehr gesehen, aber da haben sie das Tor
geschlossen, und alle sind ins Haus gegangen...»
Der Junge ist ganz erregt über
die Nachricht, die er bringt, über das, was er gesehen hat...
Die Leute machen ihre
Bemerkungen.
596. DIE JUDEN BEI MARTHA UND
MARIA
Wenngleich durch Schmerz und
Anstrengung erschöpft, ist Martha doch immer die Frau, die es versteht, zu
empfangen, zu bewirten und Ehre zu erweisen mit jener vollkommenen Vornehmheit
einer wahren Dame. So erteilt sie jetzt, nachdem sie die Gesellschaft in einen
der Säle geleitet hat, Anweisungen, damit den Gästen die üblichen
Erfrischungen angeboten und sie mit allem versorgt werden, was ihnen zur
Erquickung dienen kann.
Die Diener gehen umher, schenken
warme Getränke oder vortrefflichen Wein ein und bieten herrliche Früchte an,
gelbe Datteln wie Topase, getrocknete Weinbeeren von wundervollen, makellosen
Trauben, die an unsere Rosinen erinnern, und flüssigen Honig, alles in
Amphoren, Kelchen, Tellern und kostbaren Schüsseln. Und Martha wacht
aufmerksam
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über alles, damit auch niemand
vernachlässigt wird. Vielmehr läßt sie die Diener die Speisen entsprechend dem
Alter und vielleicht auch entsprechend den individuellen Wünschen jedes
Einzelnen, die ihr wohl bekannt sind, anbieten. So hält sie einen Diener
zurück, der sich soeben Elchias mit einem gefüllten Weinkrug und einem Kelch
nähert: «Tobias, keinen Wein, sondern Honigwasser und Dattelsaft.» Und zu
einem anderen sagt sie: «Johannes zieht gewiß den Wein vor. Biete ihm den
weißen von der Spätlese an.» Und ganz persönlich bringt sie dem alten
Schriftgelehrten Chananias heiße Milch, die sie reichlich mit goldgelbem Honig
süßt, während sie sagt: «Dies wird deinen Husten lindern! Du hast dir an
diesem kalten Tag die Mühe gemacht, hierher zu kommen, obwohl du leidend bist.
Ich bin gerührt, euch so eifrig zu sehen.»
«Es ist unsere Pflicht, Martha.
Eucheria stammte aus unserem Geschlecht. Eine echte Jüdin, die uns allen Ehre
machte.»
«Dein Gedenken an meine geliebte
Mutter ehrt und rührt mich zutiefst. Ich werde Lazarus diese Worte
wiederholen.»
«Aber wir wollen ihn selbst
grüßen. Einen so guten Freund!» sagt falsch wie immer Elchias, der
hinzugekommen ist.
«Ihn grüßen? Das ist nicht
möglich. Er ist zu sehr erschöpft.»
«Oh, wir werden ihn nicht stören.
Nicht wahr, ihr alle? Es genügt uns ein Lebewohl von der Schwelle seines
Zimmers aus...» sagt Felix.
«Ich kann nicht, ich kann
wirklich nicht. Nikomedes hat jede Anstrengung und Aufregung verboten.»
«Ein Blick auf den sterbenden
Freund kann ihn nicht töten, Martha», sagt Callascebona. «Zu sehr würde es uns
schmerzen, ihn nicht gegrüßt zu haben.»
Martha ist erregt und zögert. Sie
schaut zur Tür, ob nicht vielleicht Maria ihr zu Hilfe kommt. Aber Maria ist
nicht da.
Die Juden bemerken diese
Erregung, und Sadok, der Schriftgelehrte, sagt zu Martha: «Man könnte meinen,
daß unser Kommen dich beunruhigt hat, Frau...»
«Nein, nein, gewiß nicht. Aber
habt Verständnis für meinen Schmerz. Seit Monaten lebe ich an der Seite eines
Sterbenden und... ich kann nicht... Ich kann mich nicht mehr wie früher bei
den Festen benehmen...»
«Oh, dies ist kein Fest! Wir
wollten nicht einmal, daß du uns mit solchen Ehren empfängst! Aber
vielleicht... vielleicht willst du uns etwas verbergen und läßt uns deshalb
Lazarus nicht sehen, läßt uns nicht in sein Zimmer. Ja, ja, wer weiß! Aber hab
keine Angst! Das Zimmer eines Kranken ist eine heilige Zufluchtsstätte für wen
auch immer, glaube mir ...» sagt Elchias.
«Es gibt im Zimmer meines Bruders
nichts zu verbergen. Nichts ist dort versteckt. Das Zimmer beherbergt nur
einen Sterbenden, dem man aus Mitleid jede quälende Erinnerung ersparen
sollte», sagt mit ihrer
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herrlichen, dem Klang einer Orgel
gleichenden Stimme Maria, die auf der Schwelle erscheint und den Purpurvorhang
mit der Hand beiseite schiebt. «Und du, Elchias, und ihr alle seid quälende
Erinnerungen für Lazarus!»
«Maria!» seufzt Martha bittend,
um sie zum Schweigen zu bringen.
«Nichts, Schwester. Laß mich
reden...» Sie wendet sich den anderen zu: «Und um euch jeden Zweifel zu
nehmen, soll einer von euch – so wird es nur eine schmerzvolle Erinnerung an
die Vergangenheit, die zurückkehrt, sein – mit mir kommen, wenn der Anblick
und der Geruch eines Sterbenden ihn nicht abstößt und der Gestank des
verfallenden Fleisches ihm nicht Übelkeit bereitet.»
«Und du... bist du nicht selbst
eine schmerzliche Erinnerung?» fragt spöttisch der Herodianer, den ich schon
einmal, ich weiß nicht wo, gesehen habe, wobei er aus seiner Ecke kommt und
sich vor Maria stellt.
Martha stöhnt. Maria hat den
Blick eines erregten Adlers. Ihre Augen blitzen. Sie richtet sich stolz auf,
vergißt die Müdigkeit und den Schmerz, die sie gebeugt haben, und sagt mit dem
Ausdruck einer gekränkten Königin: «Ja, auch ich bin eine Erinnerung. Aber
keine schmerzliche, wie du sagst. Ich bin die Erinnerung an Gottes
Barmherzigkeit... Und bei meinem Anblick stirbt Lazarus in Frieden, denn er
weiß, daß er seinen Geist in die Hände der unendlichen Barmherzigkeit
zurückgibt.»
«Ha, ha, ha! So hast du nicht
gesprochen in alten Zeiten! Deine Tugend! Die kannst du nur jemandem vor Augen
stellen, der dich nicht kennt ...»
«Aber nicht dir, nicht wahr?
Gerade dir stelle ich sie vor Augen, um dir zu zeigen, daß man so wird wie
die, mit denen man verkehrt. Früher bin ich zu meinem Unglück mit dir verkehrt
und war so wie du. Nun verkehre ich mit dem Heiligen und werde ehrbar ...»
«Trümmer kann man nicht
wiederherstellen, Maria.»
«In der Tat, die Vergangenheit:
du, ihr alle, ihr könnt sie nicht wiederherstellen. Ihr könnt nicht
wiederherstellen, was ihr zerstört habt. Du nicht, den ich verabscheue. Ihr
nicht, die ihr in der Zeit des Schmerzes meinen Bruder beleidigt habt und euch
jetzt in übler Absicht als seine Freunde ausgebt.»
«Oh, du bist kühn, Frau! Der
Rabbi mag dir viele Teufel ausgetrieben haben, aber sanftmütig hat er dich
nicht gemacht!» sagt ein etwa Vierzigjähriger.
«Nein, Jonathan ben Annas. Er hat
mich nicht schwach gemacht, sondern stärker. Er hat mir die Kühnheit eines
ehrbaren Menschen gegeben, der wieder ehrbar werden wollte und alle Bindungen
an die Vergangenheit gelöst hat, um sich ein neues Leben aufzubauen. Auf! Wer
kommt mit zu Lazarus?» Sie ist gebieterisch wie eine Königin und beherrscht
sie alle mit ihrer Offenheit, die auch kein Selbstmitleid kennt. Martha
hingegen ist verängstigt. Mit Tränen in den Augen blickt sie flehentlich Maria
an, um sie zum Schweigen zu bringen.
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«Ich werde kommen», sagt mit dem
Seufzer eines Opfers Elchias, der immer falsch wie eine Schlange ist.
Sie gehen zusammen hinaus. Die
anderen wenden sich Martha zu: «Deine Schwester... ! Immer derselbe Charakter.
Sie sollte nicht so sein. Für so vieles müßte sie um Verzeihung bitten», sagt
Uriel, der Rabbi, den ich in Gischala gesehen habe und der dort Steine auf
Jesus geworfen hat.
Marthas Kräfte kehren bei dem
Peitschenhieb dieser Worte zurück und sie entgegnet: «Gott hat ihr verziehen,
und jede andere Verzeihung hat nach der seinen keine Bedeutung mehr. Ihr
jetziges Leben ist ein Beispiel für die Welt...» Doch der Mut verläßt Martha
gleich wieder, und sie schluchzt unter Tränen: «Ihr seid grausam! Gegen sie...
und gegen mich... Ihr habt kein Mitleid, weder mit unserem vergangenen noch
mit unserem gegenwärtigen Schmerz. Warum seid ihr gekommen? Um zu beleidigen
und zu verletzen?»
«Nein, Frau. Nein. Einzig und
allein, um den großen Juden zu grüßen, der im Sterben liegt. Aus keinem
anderen Grund. Keinem anderen. Du darfst unsere guten Absichten nicht
mißverstehen. Wir haben durch Joseph und Nikodemus von der Verschlechterung
seines Zustandes erfahren und sind gekommen... wie sie, die beiden guten
Freunde des Rabbi und des Lazarus. Warum wollt ihr uns anders behandeln, uns,
die wir wie sie den Rabbi und Lazarus lieben? Ihr seid ungerecht. Willst du
etwa behaupten, daß sie, und auch Johannes, Eleazar, Philippus, Josua und
Joachim nicht gekommen sind, um sich nach Lazarus zu erkundigen, und daß auch
Manaen nicht gekommen ist... ?»
«Ich behaupte gar nichts. Ich
staune nur, daß ihr alles so genau wißt. Ich dachte nicht, daß ihr auch das
Innere der Häuser überwacht. Ich wußte nicht, daß es außer den
sechshundertdreizehn Vorschriften noch eine neue gibt, die besagt, die
privaten Angelegenheiten der Familien auszuforschen und auszuspionieren... Oh,
verzeiht! Ich beleidige euch. Der Schmerz beraubt mich der Sinne, und ihr
vergrößert ihn noch.»
«Oh, wir verstehen dich, Frau!
Und da wir angenommen haben, daß ihr wie von Sinnen seid, sind wir gekommen,
um euch einen guten Rat zu geben. Laßt den Meister holen. Auch gestern sind
wieder sieben Aussätzige gekommen, um den Herrn zu preisen, da der Rabbi sie
geheilt hat. Ruft ihn doch auch für Lazarus!»
«Mein Bruder ist nicht
aussätzig», schreit Martha außer sich. «Deshalb wolltet ihr ihn sehen? Dazu
seid ihr gekommen? Nein, er ist nicht aussätzig! Seht meine Hände an. Seit
Jahren pflege ich ihn und habe keinen Aussatz an mir. Meine Haut ist gerötet
von den Essenzen, aber ich habe keinen Aussatz. Ich habe nicht ...»
«Friede! Beruhige dich, Frau. Wer
behauptet denn, daß Lazarus aussätzig ist? Und wer verdächtigt euch einer so
schrecklichen Sünde wie der, einen Aussätzigen zu verbergen? Glaubst du denn,
daß wir euch
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ungeachtet eurer Macht nicht
bestraft hätten, wenn ihr gesündigt hättet? Wir achten weder des Vaters noch
der Mutter, weder der Gattin noch der Kinder, wenn es gilt, den Vorschriften
Gehorsam zu verschaffen. Das versichere ich dir. Ich, Jonathan des Uziel.»
«Aber gewiß! So ist es! Und jetzt
sagen wir dir, weil wir es gut mit dir meinen und weil wir deine Mutter
geliebt haben und Lazarus lieben: Laßt den Meister rufen. Du schüttelst den
Kopf? Willst du damit sagen, daß es schon zu spät ist? Wie? Hast du kein
Vertrauen zu ihm, du, Martha, die treue Jüngerin? Das ist schlimm! Beginnst
auch du schon an ihm zu zweifeln?» sagt Archelaos.
«Du lästerst, Schriftgelehrter!
Ich glaube an den Meister als an den wahren Gott!»
«Warum willst du es dann nicht
versuchen? Er hat Tote auferweckt... Man sagt wenigstens so... Vielleicht
weißt du nicht, wo er ist? Wenn du willst, suchen wir ihn für dich, helfen wir
dir...» schlägt Felix vor.
«Aber nein! Im Haus des Lazarus
weiß man gewiß, wo der Rabbi ist. Sage es offen, Frau, und wir brechen sofort
auf, suchen ihn und bringen ihn zu dir. Und dann werden wir alle Zeugen des
Wunders sein und uns mit dir, mit euch allen freuen», sagt der Versucher Sadok.
Martha ist unsicher geworden und
erliegt beinahe der Versuchung nachzugeben. Die anderen drängen, während sie
sagt: «Wo er ist, weiß ich nicht... wirklich nicht... Er ist vor einigen Tagen
aufgebrochen und hat sich verabschiedet wie einer, der für lange Zeit
fortgeht. Es wäre mir ein großer Trost, wenn ich wüßte, wo er ist... Wenn ich
es wenigstens wüßte... Aber ich weiß es wirklich nicht...»
«Arme Frau! Aber wir werden dir
helfen ... Wir werden ihn zu dir bringen», sagt Cornelius.
«Nein, das ist nicht nötig! Der
Meister ... Ihr sprecht doch von ihm, nicht wahr? Der Meister hat gesagt, wir
sollen hoffen wider alle Hoffnung, und auf Gott allein. Und wir tun es ...»
ruft Maria aus, die gerade mit Elchias zurückkehrt. Dieser läßt sie sofort
stehen und unterhält sich gebeugt mit drei Pharisäern.
«Aber er stirbt doch, wie ich
höre!» sagt einer von ihnen, nämlich Doras.
«Und? Soll er sterben! Ich werde
mich dem Beschluß Gottes nicht widersetzen und dem Rabbi gehorsam sein.»
«Worauf willst du nach dem Tod
noch hoffen? Du bist völlig von Sinnen!» spottet der Herodianer.
«Worauf? Auf das Leben!» Die
Stimme ist ein Schrei bedingungslosen Glaubens.
«Auf das Leben? Ha, ha! Sei
ehrlich. Du weißt, daß vor einem echten Toten seine Macht nichtig ist, und in
deiner törichten Liebe zu ihm willst du das verbergen.»
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«Hinaus mit euch allen! Es wäre
Marthas Aufgabe, euch hinauszuwerfen, aber sie fürchtet euch. Ich fürchte nur,
Gott zu beleidigen, der mir verziehen hat. Daher tue ich es an Marthas Stelle.
Geht alle! Es ist kein Platz in diesem Haus für solche, die Jesus Christus
hassen. Hinaus! Kehrt in eure finsteren Höhlen zurück! Alle hinaus! Oder ich
lasse euch durch die Diener hinauswerfen wie einen Haufen schmutziger
Landstreicher.»
Sie ist großartig in ihrem Zorn.
Die Juden machen sich aus dem Staub, und ihre ganze Feigheit zeigt sich hier,
vor dieser Frau. Dieser Frau, die aber auch wirklich einem zürnenden Erzengel
gleicht...
Der Saal leert sich, und der
Blick Marias ist für jeden der an ihr Vorübergehenden ein caudinisches Joch
1), unter das sich der Hochmut der besiegten Juden beugen muß, während einer
nach dem anderen die Schwelle überschreitet. Endlich ist der Saal leer.
Martha sinkt auf den Teppich und
bricht in Tränen aus.
«Warum weinst du, Schwester? Ich
sehe keinen Grund dazu...»
«Oh, du hast sie beleidigt... und
sie haben dich... sie haben uns beleidigt... und jetzt werden sie sich
rächen... und...»
«So schweig doch, du dummes
Frauenzimmer! An wem sollen sie sich denn rächen? An Lazarus? Erst müssen sie
sich beraten, und bevor sie etwas beschlossen haben... Oh! An einem Gulal
rächt man sich nicht! Und an uns? ... Haben wir denn ihr Brot zum Leben nötig?
Unseren Besitz werden sie nicht anrühren. Rom hält seine Hand schützend
darüber. Wie also? Und wenn sie es auch tun könnten, sind wir beide denn nicht
jung und kräftig? Können wir nicht arbeiten? Ist Jesus vielleicht nicht arm?
Ist unser Jesus denn nicht selbst ein Arbeiter gewesen? Würden wir ihm nicht
ähnlicher sein, wenn wir arm wären und arbeiten würden? Freue dich doch, arm
zu werden! Hoffe darauf! Bitte Gott darum!»
«Aber was sie zu dir gesagt haben
...»
«Ha, ha! Was sie zu mir gesagt
haben, ist die reine Wahrheit. Ich selbst sage sie. Ich bin eine Unreine
gewesen. Doch nun bin ich das Lamm des Hirten! Und die Vergangenheit ist tot.
Auf, gehen wir zu Lazarus.»
____________
1) 321 vor Christus besiegten die
Samniten die Römer bei der Stadt Caudium. Die Truppen Roms wurden durch das
Joch, ein aus drei Lanzen gebildetes niedriges Tor, geschickt. Das bedeutete
eine Entehrung.
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597. MARTHA LÄSST DEN MEISTER
BENACHRICHTIGEN
Ich befinde mich noch im Haus des
Lazarus und sehe, daß Martha und Maria einen schon etwas älteren Mann sehr
würdevollen Aussehens in den Garten begleiten, der, ich würde sagen, kein
Hebräer ist, da sein Gesicht glattrasiert ist wie bei den Römern.
In einiger Entfernung vom Haus
fragt ihn Maria: «Nun, Nikomedes? Was sagst du zu unserem Bruder? Wir halten
ihn für sehr... krank... Sprich.»
Der Mann breitet in einer Geste
des Bedauerns die Arme aus, gleichsam als Bestätigung der Hoffnungslosigkeit
des Falles, bleibt stehen und sagt: «Er ist schwer krank. Ich habe euch nie
darüber im unklaren gelassen, seit ich ihn in Behandlung genommen habe. Ich
habe alles versucht, ihr wißt es, aber es hat nichts genützt. Ich habe
gehofft... ja, ich habe gehofft, daß er wenigstens am Leben bleiben und der
Entkräftung durch die Krankheit widerstehen würde durch die gute Ernährung und
die Herzmittel, die ich zubereitet habe. Ich habe es auch mit Giften versucht,
die das Blut vor der Zersetzung bewahren und seine Kräfte erhalten sollten,
entsprechend der alten Schule der großen Meister der Medizin. Aber das Übel
ist stärker als die zu seiner Heilung zur Verfügung stehenden Mittel. Diese
Krankheiten sind eine Art Zersetzung. Und wenn sie äußerlich sichtbar werden,
ist das Knochenmark schon zerstört. Wie der Saft in einem Baum von der Wurzel
bis zum Gipfel steigt, so hat sich hier die Krankheit von den Füßen aus in den
ganzen Körper ausgebreitet.»
«Aber es sind doch nur seine Füße
krank...» jammert Martha.
«Ja, aber das Fieber zerstört
dort, wo ihr glaubt, daß alles gesund sei. Seht dieses vom Baum gefallene
Zweiglein. Es scheint nur an der Bruchstelle wurmstichig zu sein. Aber seht...
(Er zerbröselt es zwischen den Fingern.) Seht ihr? Unter der noch glatten
Rinde ist die Fäulnis bis nach oben gedrungen, wo das Ästchen noch gesund zu
sein scheint, weil Blätter daran sind. Lazarus... liegt nun im Sterben,
bedauernswerte Schwestern! Der Gott eurer Väter und die Halbgötter unserer
Medizin konnten oder wollten nichts tun. Ich spreche von eurem Gott... Und
daher... Ja, ich sehe, daß der Tod sich nähert, da auch das Fieber steigt, ein
Symptom des Verfalls, der das Blut ergriffen hat; ich sehe es an den
unregelmäßigen Herzschlägen und dem Fehlen jeglicher Reaktion des Kranken und
seiner Organe auf irgendwelche Reize. Ihr seht... Er kann nicht mehr essen. Er
kann nicht mehr das Wenige behalten, das er zu sich nimmt, und was in seinem
Magen bleibt, wird nicht verdaut. Es geht dem Ende zu... Und – glaubt einem
Arzt, der euch zu Dank verpflichtet ist im Gedenken an euren Vater – das
Wünschenswerteste wäre nunmehr der Tod... Es handelt sich um eine schreckliche
Krankheit. Seit Tausenden von Jahren zerstört sie den Menschen, und der Mensch
ist nicht imstande, mit ihr
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fertigzuwerden. Nur die Götter
könnten helfen, wenn ...» Er hält inne, sieht die Schwestern an und reibt sich
mit den Fingern das rasierte Kinn. Er denkt nach. Dann sagt er: «Warum ruft
ihr nicht den Galiläer? Er ist euer Freund. Er kann... denn er vermag alles.
Ich habe Leute untersucht, die unheilbar waren und nun gesund sind. Eine
eigenartige Kraft geht von ihm aus. Ein geheimnisvolles Fluidum, das belebt,
die ungeordneten Abläufe im Körper ordnet und sie zwingt, gesunden zu
wollen... Ich verstehe es nicht, aber ich weiß es... denn ich bin ihm gefolgt,
habe mich unter das Volk gemischt und wunderbare Dinge gesehen... Ruft ihn.
Ich bin ein Heide. Aber ich verehre den geheimnisvollen Wundertäter eures
Volkes. Und ich wäre glücklich, wenn er zustande brächte, wozu ich nicht fähig
gewesen bin.»
«Er ist Gott, Nikomedes. Daher
kann er es. Die Kraft, die du Fluidum nennst, ist sein göttlicher Wille», sagt
Maria.
«Ich lache nicht über euren
Glauben. Vielmehr will ich euch ermutigen, ihn ins Unendliche anwachsen zu
lassen. Übrigens... liest man, daß die Götter schon andere Male zur Erde
herabgestiegen sind. Ich... wollte das nie glauben. Aber nach bestem Wissen
und Gewissen als Mensch und Arzt muß ich sagen, daß es so ist, denn der
Galiläer wirkt Heilungen, die nur ein Gott wirken kann.»
«Nicht ein Gott, Nikomedes. Der
wahre Gott», berichtigt Maria.
«Gut, wie du willst. Ich will an
ihn glauben und sein Jünger werden, wenn ich sehe, daß Lazarus aufersteht...
Denn nun muß man mehr von Auferstehung als von Heilung sprechen. Ruft ihn
also, und schnellstens... denn wenn ich mich nicht täusche, wird Lazarus
spätestens am dritten Tag nach dem heutigen sterben. Ich habe gesagt
"spätestens"... Es könnte aber auch früher geschehen, jetzt.»
«Oh, könnten wir doch! Aber wir
wissen nicht, wo er ist...» sagt Martha.
«Ich weiß es. Einer seiner Jünger
hat es mir gesagt. Er war auf dem Weg zu ihm, zusammen mit einigen Kranken,
von denen zwei zu meinen Patienten gehören. Er ist am anderen Ufer des Jordan,
bei der Furt. So hat er gesagt. Ihr kennt den Ort vielleicht besser.»
«Ah, er ist sicher im Haus des
Salomon!» sagt Maria.
«Ist es sehr weit?»
«Nein, Nikomedes.»
«Dann schickt sofort einen Diener
zu ihm und laßt ihm ausrichten, daß er kommen soll. Ich werde später
wiederkommen und hierbleiben, um sein Wunder an Lazarus mitzuerleben. Salve,
domine. Und vergeßt nicht, euch gegenseitig Mut zu machen.» Er verneigt sich
vor ihnen und geht auf den Ausgang zu, wo ihn ein Diener mit seinem Pferd
erwartet und ihm das Tor aufhält.
«Was sollen wir tun, Maria?»
fragt Martha, nachdem sie den Arzt hat fortreiten sehen.
18
«Wir gehorchen dem Meister. Er
hat befohlen, ihn nach dem Tod des Lazarus rufen zu lassen. Und das werden wir
tun...»
«Aber wenn er tot ist... was
nützt dann der Meister noch hier? Für unser Herz wird es ein Trost sein, das
schon. Aber für Lazarus ... ? Ich schicke einen Diener und lasse ihn rufen.»
«Nein, du würdest das Wunder
vereiteln. Er hat gesagt, wir sollen hoffen und glauben, auch wenn die
Situation hoffnungslos erscheint. Und wenn wir dies tun, werden wir das Wunder
erleben, dessen bin ich sicher. Wenn wir aber nicht glauben können, dann wird
Gott uns unserer Anmaßung, es besser machen zu wollen als er, überlassen und
uns nichts gewähren.»
«Aber siehst du denn nicht, wie
sehr Lazarus leidet? Hörst du denn nicht, wie er in den Augenblicken, in denen
er bei Bewußtsein ist, nach dem Meister verlangt? Hast du denn kein Herz, daß
du unserem armen Bruder eine letzte Freude versagen willst? Unser armer
Bruder! Bald werden wir keinen Bruder mehr haben! Keinen Vater, keine Mutter
und keinen Bruder mehr! Das Haus zerstört, und wir beide allein, wie zwei
Palmen in der Wüste.» Martha wird vom Schmerz übermannt und gerät in eine, ich
würde sagen, typisch orientalische Nervenkrise: sie wirft sich hin und her,
schlägt sich ins Gesicht und rauft sich die Haare.
Maria packt sie und befiehlt ihr:
«Schweig! Schweig, sage ich dir! Er kann es hören. Ich liebe ihn mehr als du
und kann mich beherrschen. Du gleichst einer kranken Frau. Schweig, sage ich
dir! Mit solchen Ausbrüchen ändert man das Schicksal nicht und rührt nicht
einmal die Herzen. Und wenn du es tust, um meines umzustimmen, so hast du dich
geirrt. Mir bricht das Herz im Gehorsam, aber ich harre in ihm aus.»
Martha ergibt sich der Kraft der
Schwester und ihren Worten. Sie beruhigt sich einigermaßen und ruft aber in
ihrem Schmerz nun jammernd nach der Mutter: «Mutter, o meine Mutter, tröste du
mich! Kein Friede ist mehr in mir, seit du tot bist. Wenn du doch hier wärest,
Mutter! Wenn die Schmerzen dich nicht getötet hätten! Wenn du hier wärest,
dann würdest du uns sagen, was wir tun sollen, und wir würden dir gehorchen
zum Wohl aller... Oh... !»
Maria wechselt die Gesichtsfarbe,
weint lautlos mit angstvollem Gesicht und ringt schweigend die Hände.
Martha betrachtet sie und sagt:
«Als unsere Mutter im Sterben lag, mußte ich ihr versprechen, daß ich
zeitlebens für Lazarus eine Mutter sein würde. Wenn sie hier wäre...»
«Dann würde sie dem Meister
gehorchen, denn sie war eine gerechte Frau. Umsonst bemühst du dich, mich
umzustimmen. Sage mir nur, daß ich die Mörderin meiner Mutter gewesen bin
durch das Leid, das ich ihr zugefügt habe. Ich werde dir sagen: "Du hast
recht." Aber wenn du mich dazu bringen willst zu sagen, daß du recht tust, den
Meister zu rufen, so
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sage ich dir: "Nein." Und ich
werde immer "Nein" sagen. Ich bin sicher, daß die Mutter mir vom Schoß
Abrahams aus recht gibt und mich segnet. Gehen wir ins Haus.»
«Ich sage nichts mehr! Ich sage
nichts mehr!»
«Alles, alles sollst du sagen! Du
hörst dem Meister zu und scheinst aufmerksam zu sein, während er spricht, aber
dann erinnerst du dich nicht mehr an seine Worte. Hat er denn nicht immer
gesagt, daß Lieben und Gehorchen uns zu Kindern Gottes und Erben seines
Reiches macht? Wie kannst du dann sagen, daß uns nichts mehr bleibt, wenn wir
Gott und sein Reich für unsere Treue besitzen werden? Oh! Wahrlich, man muß
wie ich schrankenlos gewesen sein im Bösen, um es auch im Guten, im Gehorsam,
in der Hoffnung, im Glauben und in der Liebe zu sein, es sein zu können und
sein zu wollen... !»
«Du läßt es zu, daß die Juden den
Meister verspotten und anklagen. Hast du sie vorgestern nicht gehört?»
«Denkst du immer noch an das
Gekrächze dieser Raben, an das Kreischen dieser Geier? Laß sie doch
ausspucken, was in ihnen ist! Was kümmert dich die Welt? Was ist die Welt im
Vergleich zu Gott? Schau: weniger als diese lästige Fliege, die erstarrt oder
vergiftet ist, weil sie Schmutz gefressen hat, und die ich jetzt zertrete.»
Und sie tritt energisch mit dem Absatz auf eine Bremse, die langsam über den
Kies des Weges kriecht. Dann nimmt sie Martha beim Arm und sagt: «Auf. Komm
ins Haus und...»
«Lassen wir es den Meister doch
wenigstens wissen. Schicken wir jemanden zu ihm, der ihm sagt, daß Lazarus im
Sterben liegt, mehr nicht...»
«Als ob er es nötig hätte, das
von uns zu erfahren. Nein, habe ich gesagt. Es ist nutzlos. Er hat gesagt:
"Wenn er tot ist, dann laßt es mich wissen." Das werden wir tun. Vorher
nicht.»
«Niemand, aber auch gar niemand
hat Mitleid mit meinem Schmerz! Du am allerwenigsten...»
«Höre auf, so zu weinen. Ich kann
es nicht ertragen...» In ihrem Schmerz beißt sie sich in die Lippen, um der
Schwester Mut zu machen und nicht selbst zu weinen.
Marcella kommt aus dem Haus
gerannt, gefolgt von Maximinus. «Martha, Maria, lauft! Schnell! Lazarus geht
es schlecht. Er antwortet nicht mehr...»
Die beiden Schwestern eilen ins
Haus... und bald darauf hört man die laute Stimme Marias Anweisungen für die
nötigen Hilfeleistungen geben. Diener laufen mit Herzmitteln und dampfenden
Kesseln mit kochendem Wasser vorbei, man hört sie flüstern und sieht ihre
Gesten des Schmerzes...
Langsam kehrt nach so viel
Aufregung die Ruhe wieder. Man sieht die Diener miteinander reden, nicht mehr
so erregt, aber sichtlich ratlos und betrübt, wie ihren Gesprächen zu
entnehmen ist. Die einen schütteln den
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Kopf. Andere heben den Blick zum
Himmel und breiten die Arme aus, als wollten sie sagen: «So ist es nun
einmal.» Andere weinen, und wieder andere hoffen immer noch auf ein Wunder.
Nun kommt Martha wieder,
leichenblaß. Sie schaut hinter sich, um zu sehen, ob ihr jemand folgt. Sie
blickt auf die Diener, die sie ängstlich umringen. Noch einmal dreht sie sich
um, ob jemand aus dem Haus kommt und ihr folgt. Dann sagt sie zu einem der
Diener: «Du, komm mit mir!»
Der Diener löst sich aus der
Gruppe und folgt ihr in die Jasminlaube. Martha spricht, den Blick immer auf
das Haus gerichtet, das man durch das dichte Geflecht der Zweige sehen kann.
«Höre gut zu. Wenn alle Diener wieder hineingegangen sind und ich ihnen
Anweisungen gegeben habe, damit sie im Haus beschäftigt sind, dann begib dich
in den Stall, nimm eines der schnellsten Pferde und sattle es... Sollte dich
jemand dabei beobachten, dann sage, daß du den Arzt holen mußt... Du lügst
nicht, und ich lehre dich nicht zu lügen, denn ich schicke dich wahrlich zu
dem gesegneten Arzt... Nimm Futter für das Tier und Nahrung für dich selbst
mit. Hier hast du auch eine Börse für alles, was du vielleicht brauchst. Geh
zum kleinen Tor hinaus und reite über die gepflügten Felder, damit man das
Klappern der Hufe nicht hört. Dann schlage den Weg nach Jericho ein und reite
im Galopp, ohne je anzuhalten, nicht einmal in der Nacht! Hast du verstanden?
Ohne auch nur einen einzigen Halt! Der neue Mond wird dir den Weg erhellen,
falls du noch nicht am Ziel bist, wenn es Nacht wird. Bedenke, daß das Leben
deines Herrn in deinen Händen liegt und von deiner Schnelligkeit abhängt. Ich
verlasse mich auf dich.»
«Herrin, ich will dir dienen wie
ein treuer Sklave.»
«Geh zur Furt von Bethabara.
Überquere sie und reite zum Dorf hinter Bethanien jenseits des Jordan. Weißt
du, welches ich meine? Dort, wo Johannes anfangs getauft hat.»
«Ich weiß. Auch ich bin damals
hingegangen, um mich zu reinigen.»
«In diesem Dorf ist der Meister.
Alle werden dir das Haus zeigen können, in dem er sich aufhält. Aber wenn du
statt der Hauptstraße dem Fluß folgst, ist es besser. Du wirst so weniger
gesehen und kannst das Haus allein finden. Es ist das erste an der einzigen
Straße des Ortes, die von den Feldern zum Fluß führt. Du kannst es nicht
verfehlen. Ein niedriges Haus ohne Terrasse oder oberes Zimmer, mit einem
Garten, der vom Fluß aus gesehen vor dem Haus liegt. Es ist ein Garten mit
einem Gartentor aus Holz und einer Weißdornhecke, glaube ich... auf jeden Fall
mit einer Hecke. Hast du verstanden? Dann wiederhole.»
Der Diener wiederholt alles
geduldig.
«So ist es recht. Du bittest, mit
ihm sprechen zu dürfen, mit ihm allein, und sagst ihm, daß deine Herrinnen
dich schicken, daß Lazarus sehr krank ist und im Sterben liegt, daß wir es
nicht länger ertragen und daß
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Lazarus nach ihm verlangt. Er
möge sofort kommen, sofort, um Gotteswillen! Hast du verstanden?»
«Ich habe verstanden, Herrin.»
«Danach kehrst du sogleich
zurück, damit hier niemand deine Abwesenheit bemerkt. Nimm eine Fackel mit für
die dunklen Stunden. Geh, lauf, galoppiere, gib dem Pferd die Sporen, aber
komm bald mit der Antwort des Meisters zurück!»
«Ich werde es tun, Herrin.»
«Geh, geh! Siehst du? Sie sind
schon alle im Haus. Geh sofort. Niemand wird dich bei den Vorbereitungen
sehen. Ich selbst werde dir etwas zu essen bringen. Geh! Ich werde es auf die
Schwelle des kleinen Tores legen. Geh! Und Gott sei mit dir... Geh!»
Sie drängt ihn voller Unruhe und
läuft dann eiligst, aber sehr vorsichtig ins Haus. Bald darauf verläßt sie es
durch eine Hintertür an der Südseite mit einer kleinen Tasche in der Hand,
geht an einer Hecke entlang bis zur ersten Öffnung, biegt dort ab und
verschwindet...
598. DER TOD DES LAZARUS
Alle Türen und Fenster im Zimmer
des Lazarus stehen weit offen, um ihm das Atmen zu erleichtern. Um ihn herum,
der im Koma liegt – einem tiefen Koma, das sich vom Tod nur durch die schwache
Atembewegung unterscheidet – stehen die beiden Schwestern, Maximinus, Marcella
und Noemi, und achten auf jede geringste Bewegung des Sterbenden.
Jedesmal, wenn ein Krampf den
Mund verzieht und es aussieht, als ob er sprechen wolle, oder wenn die Lider
sich einen Spalt öffnen, neigen sich die beiden Schwestern über ihn, um ein
Wort oder einen Blick zu erhaschen... Doch es ist vergebliche Mühe. Es sind
nur unkontrollierte Bewegungen, unabhängig von Willen und Verstand, die beide
nun erstorben sind; Bewegungen, die von den Schmerzen des Fleisches herrühren,
ebenso wie der auf dem Antlitz des Sterbenden glänzende Schweiß und das
Zittern, das von Zeit zu Zeit die abgemagerten Finger befällt und sie zu
Krallen verkrampft. Die beiden Schwestern rufen ihn immer wieder beim Namen
und legen ihre ganze Liebe in ihre Stimme. Aber der Name und die Liebe prallen
ab an seinem Unvermögen, etwas wahrzunehmen, und Grabesstille ist die einzige
Antwort auf ihr Rufen.
Noemi fährt unter Tränen fort, an
die sicherlich eiskalten Füße in Wollstreifen gewickelte angewärmte
Ziegelsteine zu legen. Marcella hält einen Becher in der Hand, dem sie ein
feines Leinenstückchen entnimmt, das Martha benützt, um die trockenen Lippen
des Bruders anzufeuchten. Maria trocknet mit einem anderen Linnen den starken
Schweiß, der in
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Strömen über das abgemagerte
Antlitz und die Hände des Sterbenden rinnt. Maximinus hat sich neben dem Bett
an einen hohen, dunklen Schrank gelehnt und betrachtet, hinter dem Rücken der
über den Bruder gebeugten Maria stehend, den Sterbenden.
Sonst ist niemand anwesend.
Tiefstes Schweigen herrscht, wie in einem leeren Haus oder an einem
verlassenen Ort. Die Dienerinnen, die die heißen Ziegelsteine bringen, gehen
barfuß und erzeugen auf dem Marmorboden keinerlei Geräusch. Sie gleichen
Spukgestalten.
Plötzlich sagt Maria: «Mir
scheint, die Hände werden wieder warm. Schau, Martha, seine Lippen sind nicht
mehr so blutleer.»
«Ja, auch der Atem geht freier.
Ich beobachte ihn schon eine Weile», bemerkt Maximinus.
Martha neigt sich über den Bruder
und ruft leise, aber mit Nachdruck: «Lazarus! Lazarus! Oh! Schau, Maria, er
hat ein wenig gelächelt und die Lider bewegt. Es geht ihm besser, Maria! Es
geht ihm besser! Wie spät ist es?»
«Die Vesper ist schon vorbei.»
«Ah!» Martha richtet sich auf,
faltet die Hände über der Brust und hebt den Blick zum Himmel, eine Geste
stillen, aber vertrauensvollen Gebetes. Ein Lächeln erhellt ihr Gesicht.
Die anderen schauen sie erstaunt
an, und Maria sagt zu ihr: «Ich verstehe nicht, warum du so glücklich bist,
daß die Vesper schon vorbei ist.»Dabei forscht sie argwöhnisch und ängstlich
im Gesicht der Schwester.
Doch Martha antwortet nicht und
nimmt wieder die vorige Stellung ein.
Eine Dienerin tritt ein mit
Ziegelsteinen, die sie Noemi übergibt. Maria befiehlt ihr: «Bring zwei Lampen!
Es wird dunkel, und ich will ihn sehen.» Die Dienerin geht leise hinaus und
kehrt kurz darauf mit zwei brennenden Lampen zurück. Eine von ihnen stellt sie
auf den Schrank, an den sich Maximinus gelehnt hat, und die andere auf ein
Tischchen voller Binden und kleinen Krügen auf der anderen Seite des Bettes.
«Oh, Maria! Maria! Schau, er ist
tatsächlich nicht mehr so bleich.»
«Er sieht auch nicht mehr so
erschöpft aus. Er kommt wieder zu sich!»sagt Marcella.
«Gebt ihm noch ein paar Tropfen
von dem Gewürzwein, den Sara zubereitet hat. Er hat ihm gutgetan», schlägt
Maximinus vor.
Maria nimmt von dem Schrank einen
kleinen Schnabelkrug mit sehr schlankem Hals und träufelt vorsichtig einige
Tropfen Wein zwischen die halbgeöffneten Lippen.
«Langsam, Maria, damit er nicht
erstickt!» rät Noemi.
«Oh, er schluckt! Er verlangt
danach! Schau, Martha! Schau! Er sucht mit der Zunge danach...»
Alle beugen sich über ihn, um
besser sehen zu können, und Noemi ruft
23
ihm zu: «Mein Kleinod! Sieh deine
Amme an, heilige Seele!» und sie tritt näher, um ihn zu küssen.
«Schau! Schau, Noemi, er trinkt
deine Tränen. Sie sind auf seine Lippen gefallen, und er hat sie gespürt und
geschluckt.»
«Oh, du meine Freude! Hätte ich
doch Milch wie einst! Ich würde sie dir Tropfen für Tropfen in den Mund
träufeln, mein Lämmlein, und wenn ich mein Herz ausquetschen und dann sterben
müßte.» Ich nehme an, daß Noemi, die Amme Marias, auch die Nährmutter des
Lazarus gewesen ist.
«Herrinnen, Nikomedes ist
zurückgekehrt», sagt ein auf der Schwelle erscheinender Diener.
«Er soll hereinkommen! Er soll
hereinkommen! Er wird uns helfen, ihm Linderung zu verschaffen.»
«Schaut! Schaut! Er öffnet die
Augen und bewegt die Lippen», sagt Maximinus.
«Er drückt meine Hand mit der
seinen!» schreit Maria und beugt sich nieder und sagt: «Lazarus, hörst du
mich? Wer bin ich?»
Lazarus öffnet tatsächlich die
Augen und schaut. Es ist ein unsicherer, verschleierter Blick, aber immerhin
ein Blick. Er bewegt auch mühsam die Lippen und sagt: «Mama!»
«Ich bin Maria. Maria, deine
Schwester!»
«Mama!»
«Er erkennt dich nicht. Er ruft
seine Mutter. Die Sterbenden tun es immer», sagt Noemi mit tränenüberströmtem
Antlitz.
«Aber er spricht! Nach so langer
Zeit spricht er endlich. Das ist schon viel... Bald wird es ihm besser gehen.
Oh, mein Herr, belohne deine Dienerin!» sagt Martha, wiederum in der Haltung
innigen und vertrauensvollen Gebetes.
«Aber was hast du denn? Hast du
etwa den Meister gesehen? Ist er dir erschienen? Antworte mir, Martha! Nimm
mir die Angst!» sagt Maria.
Das Eintreten des Nikomedes
verhindert die Antwort. Alle wenden sich ihm zu und erzählen ihm, wie sich der
Zustand des Lazarus nach seinem Weggang immer mehr verschlechterte bis zu dem
Punkt, da sie ihn schon tot glaubten, und wie sie ihn dann mit allen möglichen
Mitteln wenigstens wieder zum Atmen brachten. Und wie er seit kurzem, nachdem
eine der Frauen einen Gewürzwein zubereitet hatte, wieder warm geworden sei
und geschluckt und zu trinken versucht habe, wie er sogar die Augen geöffnet
und gesprochen habe...
Alle reden sie gleichzeitig in
ihrer wieder auflebenden Hoffnung auf den Arzt ein, der sie mit skeptischer
Ruhe und ohne ein Wort zu sagen reden läßt.
Endlich sind sie fertig, so daß
er zu Wort kommt: «Nun gut. Laßt mich einmal sehen.» Und er geht um sie herum
zu dem Lager, wobei er anordnet, daß die Lampen nähergebracht und die Fenster
geschlossen werden,
24
da er den Kranken aufdecken will.
Er neigt sich über ihn, ruft ihn, stellt ihm Fragen und bewegt die Lampe hin
und her vor dem Gesicht des Lazarus, der nun mit offenen Augen daliegt und
anscheinend erstaunt um sich blickt; dann nimmt er die Decke weg, prüft den
Atem, den Puls, die Temperatur und die Steifheit seiner Glieder... Alle warten
sehnsüchtig auf ein Wort von ihm. Nikomedes deckt den Kranken wieder zu, sieht
ihn nochmals an und denkt nach. Dann wendet er sich um, schaut die Anwesenden
an und sagt: «Man kann nicht leugnen, daß er wieder etwas zu Kräften gekommen
ist. Momentan geht es ihm besser als bei meinem letzten Besuch. Aber macht
euch keine falschen Hoffnungen. Es ist nur die scheinbare Besserung vor dem
Tod. Ich bin dessen ebenso sicher, wie ich sicher war, daß es dem Ende zugeht.
Denn ihr seht, daß ich sofort wiedergekommen bin, nachdem ich meine anderen
Pflichten erfüllt hatte, um ihm den Tod weniger schmerzlich zu machen, soweit
dies in meiner Macht steht... Oder um das Wunder zu sehen, wenn... Habt ihr
vorgesorgt?»
«Ja, ja, Nikomedes!» unterbricht
ihn Martha. Und um ihn am Weiterreden zu hindern, sagt sie rasch: «Aber hast
du nicht gesagt, daß er innerhalb von drei Tagen... Ich...» Sie weint.
«Ich habe es gesagt. Ich bin
Arzt. Ich lebe zwischen Tod und Tränen. Aber der gewohnte Anblick des
Schmerzes hat mein Herz noch nicht verhärtet. Und heute... habe ich euch
vorbereitet... und euch eine ziemlich lange... und ungewisse Frist genannt.
Aber meine Wissenschaft sagte mir, daß das Ende näher bevorstünde, und mein
Herz ließ mich euch aus Mitleid täuschen... Auf! Seid stark... Geht hinaus...
Man kann nie wissen, wieviel die Sterbenden verstehen...» Der Arzt schickt die
tränenüberströmten Frauen hinaus und wiederholt: «Seid stark! Seid stark!»
Maximinus bleibt bei dem
Sterbenden zurück. Auch der Arzt entfernt sich, um Arzneien zu bereiten, die
den Todeskampf mildern sollen, der nach seinen Worten «sehr schmerzlich sein
wird».
«Erhalte ihn am Leben! Erhalte
ihn am Leben, wenigstens bis morgen! Es ist schon fast Nacht, du siehst es,
Nikomedes. Was ist es schon für deine Wissenschaft, ein Leben um weniger als
einen Tag zu verlängern? Erhalte ihn am Leben!»
«Domina, ich tue, was ich kann.
Aber wenn der Docht zu Ende ist, kann nichts mehr die Flamme erhalten!»
antwortet der Arzt und geht.
Die beiden Schwestern umarmen
sich und weinen untröstlich, und wer nun stärker weint, ist Maria. Die andere
hat ihre Hoffnung im Herzen...
Die Stimme des Lazarus dringt aus
dem Zimmer. Sie ist kräftig, herrisch und erschreckt, denn sie kommt völlig
unerwartet nach so viel Schwäche. Lazarus ruft: «Martha! Maria! Wo seid ihr?
Ich will aufstehen! Mich anziehen! Ich will dem Meister sagen, daß ich gesund
bin! Ich muß zum Meister gehen. Einen Wagen! Rasch! Und ein schnelles Pferd.
Ganz gewiß ist er es, der mich geheilt hat.» Er spricht schnell und
rhythmisch.
25
Fieberglühend sitzt er im Bett
und versucht herauszuspringen. Er wird von Maximinus daran gehindert, der zu
den herbeieilenden Frauen sagt: «Er redet im Delirium.»
«Nein! Laß ihn gehen! Das Wunder!
Das Wunder! Oh, ich bin glücklich, der Anlaß zu sein! Gleich nachdem Jesus es
erfahren hat! Gott der Väter, sei gelobt und gepriesen für deine Macht und
deinen Messias...»Martha ist auf die Knie gesunken und trunken vor Freude...
Lazarus, der immer heftiger
fiebert – was aber Martha nicht als die Ursache der ganzen Szene erkennt –
spricht inzwischen weiter: «Er ist so oft zu mir gekommen, während ich krank
war. Es ist nur recht, daß ich zu ihm gehe und ihm sage: "Ich bin geheilt" Ich
bin geheilt! Ich habe keine Schmerzen mehr! Ich bin stark. Ich will aufstehen
und gehen... Gott wollte meine Ergebung prüfen. Man wird mich den neuen Job
nennen!»Er spricht in feierlichem Ton und unterstreicht seine Worte mit
ausladenden Gesten: «"Gott ließ sich rühren durch die Bußgesinnung des Job...
und gab ihm doppelt so viel von allem, was er besessen hatte. Und der Herr
segnete die letzten Jahre des Job mehr als die ersten... und er lebte bis
zu..." Aber nein, ich bin nicht Job! Ich war in den Flammen, und er hat mich
herausgeholt, ich war im Bauch des Ungeheuers und kehre ans Licht zurück. Also
bin ich Jonas, und die drei Jünglinge des Daniel...»
Der von irgend jemandem gerufene
Arzt erscheint. Er betrachtet ihn und sagt: «Das ist das Delirium. Ich habe es
erwartet. Die Zersetzung des Blutes erhitzt das Gehirn.» Er drückt Lazarus
wieder auf das Bett und ordnet an, daß man ihn festhalte. Dann geht er hinaus
zu seinen Arzneien.
Lazarus ist etwas beunruhigt,
weil man ihn festhält, und weint dann wieder ein bißchen wie ein Kind.
«Er ist wirklich im Delirium»,
jammert Maria.
«Nein. Ihr versteht alle nichts.
Ihr wißt nicht, was glauben heißt! Nun ja, ihr wißt eben nicht... Um diese
Stunde hat der Meister schon erfahren, daß Lazarus im Sterben liegt. Ja,
Maria, ich habe es getan. Ich habe es getan und dir nichts davon gesagt...»
«Oh, du Unselige! Das hast das
Wunder verwirkt!» schreit Maria.
«Aber nein! Du siehst doch, sein
Zustand begann sich in dem Augenblick zu bessern, als Jonas beim Meister
eintraf. Er redet irre... sicher... Er ist schwach, und sein Gehirn ist immer
noch vom Tod, der schon von ihm Besitz ergriffen hatte, umnebelt. Aber er
redet nicht so irre, wie der Arzt meint. Höre nur! Sind dies Worte eines
Deliriums?»
Tatsächlich sagt Lazarus: «Ich
habe mich dem Todesurteil gebeugt und erfahren, wie bitter das Sterben ist.
Und seht. Gott war zufriedengestellt durch meine Ergebung und gibt mich dem
Leben und den Schwestern zurück. Ich werde nun weiterhin dem Herrn dienen und
mich mit Martha und Maria heiligen können... Mit Maria! Was ist Maria? Maria
ist das Geschenk Jesu an den armen Lazarus. Er hatte es mir gesagt... Wie
lange
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ist es schon her. "Eure Vergebung
wird am meisten bewirken. Sie wird mir helfen." Er hatte es mir versprochen:
"Sie wird deine Freude sein." Und an jenem Tag, als ich mich erregte, weil sie
ihre Schande hierher, zum Heiligen, brachte, welche Worte, um sie zur Rückkehr
einzuladen! Die Weisheit und die Liebe hatten sich verbündet, um ihr Herz zu
rühren... Und das andere Mal, als ich beschloß, mich für sie, für ihre Rettung
als Opfer anzubieten? ... Ich will leben, um mich an ihr, der Geretteten, zu
erfreuen! Ich will mit ihr den Herrn preisen!
Ströme von Tränen, Beleidigungen,
Schande, Bitterkeit... Alles habe ich ihretwegen ertragen, und es hat mein
Leben zerstört. Das Feuer, das Feuer des Schmelzofens! Es kehrt zurück mit der
Erinnerung... Maria des Theophilus und der Eucheria, meine Schwester: die
Dirne! Königin hätte sie sein können und ist in den Schmutz hinabgestiegen, in
dem sich die Schweine wälzen. Und meine Mutter ist darüber gestorben... Und
dann, nicht mehr unter die Leute gehen zu können, ohne ihrem Spott ausgesetzt
zu sein. Ihretwegen! Wo bist du, Unselige! Hat dir etwa das Brot gefehlt, daß
du dich verkaufen mußtest, wie du es getan hast? Was hast du aus der Brust der
Amme gesogen? Was hat dich deine Mutter gelehrt? Vielleicht Unzucht die eine
und Sünde die andere? Fort mit dir, du Schande unseres Hauses!»
Die letzten Worte schreit er
hinaus. Er scheint verrückt geworden. Marcella und Noemi beeilen sich, die
Türen fest zu verschließen und die schweren Vorhänge zuzuziehen, um den
Widerhall zu dämpfen, während der Arzt, der ins Zimmer zurückgekehrt ist, sich
vergebens bemüht, das Delirium einzudämmen, das sich immer noch steigert.
Maria liegt völlig vernichtet am
Boden und schluchzt unter den unbarmherzigen Anklagen des Sterbenden, der
fortfährt: «Einen, zwei, zehn Liebhaber... Die Schande Israels wanderte von
Arm zu Arm... Ihre Mutter starb... Sie frönte weiter ihren schmutzigen
Liebschaften. Bestie! Vampir! Du hast das Leben aus deiner Mutter gesogen! Du
hast unsere Freude zerstört. Martha ist dein Opfer geworden. Niemand heiratet
die Schwester einer Dirne. Ich... Ach! Ich... Der angesehene Lazarus, der Sohn
des Theophilus... Mich haben die Straßenjungen von Ophel bespien! "Seht den
Komplizen einer Ehebrecherin und Schamlosen", sagten die Schriftgelehrten und
die Pharisäer und schüttelten ihre Kleider ab, um dadurch zu zeigen, daß sie
nichts zu tun haben wollten mit der Sünde, die mich durch den Kontakt mit dir
befleckte. "Seht den Sünder! Wer die Schuldige nicht bestrafen will, ist
ebenso schuldig wie sie", schrien die Rabbis, wenn ich zum Tempel hinaufging,
und das Funkeln der Augen der Priester trieb mir den Schweiß aus allen
Poren... Das Feuer! Du! Du hast das Feuer ausgespieen, das in dir brannte.
Denn du bist ein Dämon, Maria! Unrat bist du! Ein Fluch! Dein Feuer hat alle
erfaßt, denn dein Feuer bestand aus vielen Feuern für die Unzüchtigen, die
sich wie Fische in
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deinen Netzen verfingen, wenn du
vorbeigingst ... Warum habe ich dich nicht umgebracht? Ich werde in der
Gehenna brennen müssen, weil ich dich am Leben gelassen und so beigetragen
habe, viele Familien zu verderben und Tausenden Ärgernis zu geben! Wer sagt:
"Wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis kommt"? Wer sagt dies? Ach, der
Meister! Ich will den Meister! Ich will ihn, damit er mir verzeiht. Ich will
ihm sagen, daß ich sie nicht töten konnte, weil ich sie liebte... Maria war
die Sonne unseres Hauses... Ich will den Meister! Warum ist er nicht hier? Ich
will nicht leben! Ich will nur seine Verzeihung für das Ärgernis, das ich
gegeben habe, weil ich das Ärgernis habe leben lassen. Ich bin schon in den
Flammen. Es ist das Feuer Marias! Es hat mich erfaßt, alle hat es erfaßt; um
Wollust für sie zu entflammen und Haß auf uns, um mein Fleisch zu verbrennen.
Weg mit diesen Decken! Fort mit allem! Ich bin im Feuer! Mein Fleisch und
meinen Verstand hat es ergriffen. Ich bin ihretwegen verloren. Meister!
Meister! Deine Verzeihung! Er kommt nicht! Er kann nicht in das Haus des
Lazarus kommen. Es ist eine Mistgrube ihretwegen. Dann... will ich vergessen.
Alles. Ich bin nicht mehr Lazarus. Gebt mir Wein! Salomon sagt: "Gebt Wein
denen, deren Herz zerrissen ist, daß sie trinken und ihr Elend vergessen und
ihres Schmerzes nicht mehr gedenken." Ich will nicht mehr daran denken. Alle
sagen: "Lazarus ist reich. Er ist der reichste Mann von Judäa." Das ist nicht
wahr! Alles ist nur Stroh, nicht Gold. Und die Häuser? Sie sind Wolken. Und
die Weinberge, die Oasen, die Gärten, die Olivenhaine? Nichts. Täuschungen.
Ich bin Job. Ich besitze nichts mehr. Ich hatte eine Perle. Sie war schön und
von unschätzbarem Wert. Sie war mein Stolz. Sie hieß Maria. Ich habe sie nicht
mehr. Ich bin arm. Der Ärmste von allen. Der mehr als alle anderen
Getäuschte... Auch Jesus hat mich getäuscht, denn er hatte mir versprochen,
daß er sie mir wiedergeben würde... Doch sie... Wo ist sie? Seht sie dort. Sie
gleicht einer heidnischen Hetäre, die Frau aus Israel, die Tochter einer
Heiligen! Halbnackt, betrunken, von Sinnen... und umgeben von der Meute ihrer
Liebhaber, die den nackten Körper meiner Schwester mit den Augen
verschlingen... Und sie lacht darüber, so bewundert und verehrt zu werden. Ich
will mein Verbrechen sühnen. Ich will durch Israel wandern und sagen: "Geht
nicht zum Haus meiner Schwester. Ihr Haus ist der Weg zur Hölle und führt in
die Abgründe des Todes." Und dann will ich zu ihr gehen und sie zertreten,
denn es steht geschrieben: "Jede unzüchtige Frau soll wie Unrat auf dem Weg
zertreten werden." Oh, hast du den Mut, vor mir zu erscheinen, der ich, durch
dich vernichtet und entehrt, nun sterbe? Vor mir, der ich mein Leben als Opfer
angeboten habe, um deine Seele zu retten, und ohne Erfolg? Wie ich dich
gewollt hätte, fragst du? Wie ich dich gewollt hätte, um nicht so sterben zu
müssen? So hätte ich dich gewünscht: Wie Susanna, die Keusche! Du sagst, sie
hätten dich verführt? Hattest du nicht einen Bruder, um dich zu verteidigen?
Susanna war
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allein, aber sie antwortete: "Es
ist besser für mich, in eure Hände zu fallen, als vor dem Angesicht des Herrn
zu sündigen." Und Gott ließ ihre Reinheit erstrahlen. Ich hätte mit deinen
Verführern gesprochen und dich verteidigt. Aber du! Du bist davongelaufen.
Judith war Witwe. Sie lebte abgeschieden, den Bußgürtel um die Hüften, und
fastete; und sie stand in hohem Ansehen bei allen, denn sie fürchtete den
Herrn. Von ihr wird gesungen: "Du bist der Ruhm Jerusalems, die Freude
Israels, die Ehre unseres Volkes, denn du bist mannhaft und dein Herz ist
stark, du hast die Keuschheit geliebt und nach deiner Ehe keinen anderen Mann
mehr gekannt. Daher hat die Hand des Herrn dich stark gemacht, und du wirst in
Ewigkeit gepriesen werden." Wäre Maria wie Judith gewesen, hätte der Herr mich
geheilt. Aber er konnte es ihretwegen nicht. Deshalb bat ich auch nicht um
Heilung. Wo sie ist, kann kein Wunder stattfinden... Aber der Tod... die
Leiden bedeuten mir nichts. Zehnmal und hundertmal so viel will ich leiden und
nicht nur einmal sterben, wenn sie dadurch gerettet wird. Oh, höchster Herr!
Alle Todesarten! Alle Schmerzen! Aber rette Maria! Nur eine Stunde, nur eine
einzige Stunde möchte ich mich an ihr erfreuen! An ihr, die wieder heilig
geworden ist, rein wie in der Kindheit! Eine Stunde nur diese Freude! Mich
ihrer rühmen zu können, der goldenen Blume meines Hauses, der lieblichen
Gazelle mit den sanften Augen, der Nachtigall am Abend, der liebevollen
Taube... Ich verlange nach dem Meister, um ihm zu sagen, daß ich dies will:
Maria! Maria! Komm, Maria! Wie sehr muß dein Bruder leiden, Maria! Aber wenn
du kommst, wenn du dich bekehrst, dann wird mein Schmerz süß werden. Sucht
Maria! Ich bin am Ende! Ich sterbe! Maria! Macht Licht! Luft... Ich...
ersticke! Oh, was fühle ich... !»
Der Arzt macht eine Handbewegung
und sagt: «Das ist das Ende. Nach dem Delirium folgt die Erschöpfung, und dann
der Tod. Aber das Bewußtsein kann zurückkehren. Kommt näher. Besonders du. Er
wird sich freuen.» Und nachdem er Lazarus, der nach so viel Erregung völlig
erschöpft ist, zurückgebettet hat, geht er zu Maria, die bis jetzt am Boden
geweint und gestöhnt hat: «Bringt ihn zum Schweigen!» Er richtet sie auf und
führt sie an das Bett.
Lazarus hat die Augen
geschlossen. Er scheint furchtbar zu leiden und ist von Zittern und Krämpfen
befallen. Der Arzt versucht, ihm mit Arzneien Erleichterung zu verschaffen...
So vergeht einige Zeit.
Lazarus öffnet die Augen. Er
scheint alles vergessen zu haben, was geschehen ist, doch er ist bei
Bewußtsein. Er lächelt den Schwestern zu und sucht ihre Hände zu fassen und
ihre Küsse zu erwidern. Dann wird er totenbleich. Er klagt: «Ich friere...»
und klappert mit den Zähnen, während er versucht, sich bis zum Mund
zuzudecken. Dann stöhnt er: «Nikomedes, ich kann die Schmerzen nicht länger
ertragen. Die Wölfe zerfleisehen meine Beine und fressen mein Herz. Welch ein
Schmerz! Und wenn
29
der Todeskampf schon so ist, wie
wird dann erst der Tod sein? Wie werde ich ihn ertragen? Oh, wenn der Meister
hier wäre! Warum habt ihr ihn nicht rufen lassen? Ich wäre selig an seiner
Brust gestorben...» Lazarus weint.
Martha sieht Maria streng an.
Maria versteht diesen Blick und, noch erschüttert vom Delirium des Bruders,
wird sie von Gewissensbissen gepackt. Am Bett kniend neigt sie sich, um die
Hand des Bruders zu küssen, und schluchzt: «Ich bin die Schuldige. Martha
wollte es schon vor zwei Tagen tun. Ich habe es nicht gewollt. Denn er hatte
uns gesagt, wir sollten ihn erst nach deinem Tod benachrichtigen. Verzeih mir!
An jedem Schmerz deines Lebens bin ich schuldig... Und doch habe ich dich
geliebt und liebe ich dich, Bruder! Nach dem Meister liebe ich dich am
meisten... Und Gott weiß, daß ich nicht lüge. Sage mir, daß du mir meine
Vergangenheit verzeihst. Gib mir Frieden...»
«Domina!» mahnt der Arzt. «Der
Kranke kann keine Aufregungen brauchen.»
«Das ist wahr... Sag nur, daß du
mir verzeihst, Jesus von dir ferngehalten zu haben...»
«Maria! Deinetwegen ist Jesus
hierhergekommen... und deinetwegen kommt er wieder, denn du verstehst zu
lieben... mehr als alle anderen. Mich hast du vor allen anderen geliebt... Ein
Leben... der Freude hätte mir nicht... hätte mir nicht... die Freude
gegeben... die ich durch dich gehabt habe. Ich segne dich... Ich sage dir...
daß du recht daran getan hast... Jesus zu gehorchen... Ich habe es nicht
gewußt ... Nun weiß ich... Ich sage ... es ist gut so ... Helft mir sterben!
... Noemi ... dir gelang es früher ... mich in den Schlaf zu wiegen...
Gesegnete Martha ... mein Friede... Maximinus... mit Jesus. Auch für mich...
Meinen Anteil... den Armen... Jesus... für die Armen... Und verzeiht...
allen... Ach, welche Beklemmung... ! Luft... ! Licht! Alles zittert... Ihr
seid von einem Schein umgeben, der mich blendet... wenn ich euch ansehe...
Sprecht... laut ...» Er hat seine Linke auf das Haupt Marias gelegt und seine
Rechte den Händen Marthas überlassen. Er keucht...
Sie richten ihn vorsichtig auf
und schieben ihm noch einige Kissen unter, während Nikomedes ihm erneut ein
paar Tropfen seiner Medizin einflößt. Das arme Haupt schwankt und sinkt zurück
in einer tödlichen Ohnmacht. Das ganze Leben konzentriert sich auf den Atem.
Doch er öffnet wiederum die Augen und blickt Maria an, die seinen Kopf stützt.
Er lächelt ihr zu und sagt: «Die Mama! Sie ist zurückgekehrt... Mama! Sprich!
Deine Stimme... Du kennst... das Geheimnis... Gottes... Habe ich... dem Herrn
gedient?»
Maria flüstert mit vor Schmerz
brüchiger Stimme: «Der Herr sagt dir: "Komm mit mir, du guter und getreuer
Knecht, denn du hast jedes meiner Worte befolgt und das Wort geliebt, das ich
gesandt habe!"»
30
«Ich verstehe nicht... Lauter...
!»
Maria wiederholt lauter...
«Es ist wirklich die Mama!» sagt
Lazarus glücklich und läßt sein Haupt an die Schulter der Schwester sinken...
Dann sagt er nichts mehr. Nur
noch Stöhnen und krampfhaftes Zittern, Schweiß und Röcheln... Er empfindet nun
die Welt nicht mehr, die Gefühle, und versinkt in der immer vollkommeneren
Finsternis des Todes. Die Lider sinken über die glasigen Augen, in denen eine
letzte Träne glänzt.
«Nikomedes! Er wird schwerer! Er
wird kälter... !» sagt Maria.
«Domina, der Tod ist eine
Erlösung für ihn!»
«Erhalte ihn am Leben! Morgen
wird Jesus hier sein. Er wird sofort aufgebrochen sein. Vielleicht hat er das
Pferd des Dieners oder ein anderes Reittier genommen», sagt Martha. Und zur
Schwester gewandt: «Oh, hättest du mir erlaubt, ihn eher zu schicken!» Dann
wieder verzweifelt zum Arzt: «Erhalte ihn am Leben!»
Der Arzt breitet die Arme aus. Er
versucht es mit Herzmitteln. Doch Lazarus kann nicht mehr schlucken...»
Das Röcheln nimmt zu... Es ist
herzzerreißend.
«Oh, man kann es nicht mehr
mitanhören!» stöhnt Noemi.
«Ja, er hat einen langen
Todeskampf ...» bestätigt der Arzt.
Aber er hat noch nicht
ausgeredet, als Lazarus nach einem letzten Sich-aufbäumen seines ganzes
Körpers zurücksinkt und sein Leben aushaucht.
Die Schwestern schreien auf, als
sie diese letzte Todeszuckung sehen, und noch einmal beim Zurücksinken des
Sterbenden. Maria ruft den Bruder und küßt ihn. Martha klammert sich an den
Arzt, der sich über den Toten beugt, und sagt: «Er ist verschieden. Nun ist es
zu spät, auf ein Wunder zu warten. Es gibt kein Warten mehr. Es ist zu spät...
! Ich ziehe mich zurück, domine. Ich habe keinen Anlaß mehr, zu bleiben.
Beeilt euch mit der Beisetzung, denn er geht schon in Verwesung über.» Der
Arzt schließt dem Toten die Augen und sagt noch einmal: «Es tut mir leid, er
war ein tugendhafter und kluger Mann. Er hätte nicht sterben dürfen!» Dann
wendet er sich den Schwestern zu, verneigt sich, grüßt sie: «Domine! Salve!»
und geht.
Die Klagen erfüllen den Raum.
Maria verlassen nun die Kräfte. Sie wirft sich über den Leib des Bruders, ruft
ihm ihre Reue zu und bettelt um seine Vergebung. Martha weint in den Armen
Noemis.
Dann ruft Maria aus: «Du hast
keinen Glauben gehabt. Du bist nicht gehorsam gewesen. Ich habe ihn zuerst
getötet, du jetzt! Ich mit meiner Sündhaftigkeit, du mit deinem Ungehorsam.»
Sie ist wie von Sinnen. Martha hebt sie auf, umarmt sie, entschuldigt sich...
Maximinus, Noemi und Marcella bemühen sich, beide zur Vernunft und Ergebung zu
bringen.
31
Und es gelingt ihnen, indem sie
an Jesus erinnern... Die Schwestern fassen sich und werden hinausgeführt, um
anderswo ihren Schmerz auszuweinen, während der Raum sich mit klagenden
Dienern füllt und bald auch die eintreten, die den Leichnam für die Bestattung
herrichten sollen.
Maximinus, der die Schwestern
hinausführt, sagt: «Er ist am Ende der zweiten Nachtwache verschieden.»
Und Noemi sagt: «Und morgen muß
er beigesetzt werden, und schnell, vor Sonnenuntergang, denn dann beginnt der
Sabbat. Ihr habt gesagt, daß der Meister große Feierlichkeiten will ...»
«Ja, Maximinus. Kümmere du dich
um alles. Ich bin ungeschickt», sagt Martha.
«Ich werde Diener zu allen nahen
und fernen Freunden schicken und alles andere anordnen», sagt Maximinus und
zieht sich zurück.
Die beiden Schwestern halten sich
weinend in den Armen. Sie werfen sich gegenseitig nichts mehr vor. Sie weinen
nur noch und versuchen, einander zu trösten.
Die Zeit vergeht. Der Tote wird
in seinem Zimmer vorbereitet. Eine lange, in Binden gewickelte Gestalt unter
dem Schweißtuch.
«Warum ist er denn schon so
eingewickelt?» ruft Martha tadelnd aus.
«Herrin, er roch schon stark aus
der Nase, und bei jeder Bewegung floß verdorbenes Blut aus seinem Mund»,
entschuldigt sich ein alter Diener.
Die Schwestern weinen laut.
Lazarus ist unter diesen Binden schon weit fort... Ein Schritt mehr in die
Ferne des Todes. Sie wachen und weinen bei ihm bis zum Morgengrauen, bis zur
Rückkehr des Dieners von der anderen Seite des Jordan. Der Diener ist
bestürzt, doch er berichtet von seinem eiligen Ritt, um die Antwort Jesu zu
überbringen.
«Hat er gesagt, daß er kommen
wird? Hat er mich nicht getadelt?» fragt Martha.
«Nein, Herrin. Er hat gesagt:
"Ich werde kommen. Sage ihnen, daß ich kommen werde und daß sie Glauben haben
sollen." Und zuvor hatte er gesagt: "Sage ihnen, sie sollen beruhigt sein.
Dies ist keine Krankheit, die zum Tod führt. Es handelt sich um die Ehre
Gottes, und seine Macht soll in seinem Sohn verherrlicht werden."»
«Hat er das gesagt? Bist du
dessen sicher?» fragt Maria.
«Herrin, auf dem ganzen Weg habe
ich mir diese Worte wiederholt.»
«Geh, geh. Du bist müde. Du hast
alles gut gemacht. Aber nun ist es zu spät... !» seufzt Martha. Und sie bricht
in lautes Wehklagen aus, sobald sie wieder mit der Schwester allein ist.
«Martha, warum?»
«Oh! Nach dem Tod nun auch die
Enttäuschung! Maria! Maria! Merkst du nicht, daß sich der Meister diesmal
geirrt hat? Schau dir Lazarus an. Er ist tot! Wir haben gegen alle Vernunft
bis zuletzt gehofft, und es hat nichts genützt. Als ich nach ihm geschickt
habe – ich werde damit
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wohl gefehlt haben – war er schon
mehr tot als lebendig. Und unser Glaube war umsonst und ist nicht belohnt
worden. Nun läßt uns der Meister sagen, daß es keine Krankheit sei, die zum
Tod führt. Ist der Meister also nicht mehr die Wahrheit? Er ist sie nicht
mehr... Oh! Alles, alles! Alles ist nun zu Ende!»
Maria ringt die Hände. Sie weiß
nicht, was sie sagen soll. Die Wirklichkeit ist die Wirklichkeit... Aber sie
sagt nichts. Sie sagt kein Wort gegen ihren Jesus. Sie weint. Sie ist wirklich
am Ende ihrer Kräfte.
Martha macht sich fortwährend den
Vorwurf, zu lange gewartet zu haben. «Durch deine Schuld», klagt sie an. «Er
wollte unseren Glauben prüfen. Gehorchen sollten wir, ja. Aber auch im Glauben
ungehorsam sein, um unsere Überzeugung zu beweisen, daß nur er das Wunder
wirken kann und muß. Mein armer Bruder! Er hat so sehr nach ihm verlangt. Wenn
er ihn wenigstens gesehen hätte! Unser armer Lazarus! Der Arme! Der Arme!» Und
das Weinen verwandelt sich in lautes Klagen, in das nach orientalischem Brauch
auch die Mägde und Diener hinter der Tür einstimmen.
599. DIE BENACHRICHTIGUNG JESU
Es wird schon dunkel, als der von
Martha gesandte Diener die bewaldete Böschung des Flusses heraufkommt und
seinem vor Schweiß triefenden Pferd die Sporen gibt, um den Höhenunterschied
zwischen dem Fluß und der Dorfstraße zu überwinden. Die Flanken des armen
Tieres zittern nach dem langen, schnellen Ritt. Die dunkle Decke ist ganz von
Schweiß durchtränkt, und der Schaum der Nüstern bedeckt seine Brust. Das Tier
schnaubt, krümmt den Hals und schüttelt den Kopf.
Nun sind sie schon auf der
Straße. Das Haus ist bald erreicht. Der Diener springt herunter, bindet das
Pferd an die Hecke und ruft.
Petrus streckt seinen Kopf aus
dem Haus und fragt mit seiner etwas rauhen Stimme: «Wer ruft da? Der Meister
ist müde. Seit vielen Stunden läßt man ihn nicht in Ruhe. Es ist beinahe
Nacht. Kommt morgen wieder.»
«Ich selbst will nichts vom
Meister. Ich bin gesund und muß ihm nur eine Nachricht überbringen.»
Petrus kommt näher und fragt:
«Und von wem, wenn ich fragen darf? Ohne ein sicheres Erkennungszeichen lasse
ich niemanden herein, besonders, wenn er nach Jerusalem stinkt wie du.» Er hat
sich langsam genähert, und mehr als der Mann erweckt die Schönheit des reich
aufgezäumten Rappen sein Mißtrauen. Doch als sie sich gegenüberstehen, fragt
er überrascht: «Du? ... Bist du denn nicht ein Diener des Lazarus?»
33
Der Diener weiß nicht, was er
sagen soll. Die Herrin hat ihm aufgetragen, nur mit dem Meister zu reden. Aber
der Apostel scheint fest entschlossen, ihn nicht weiterzulassen. Lazarus, das
weiß er, ist bei den Aposteln hoch angesehen. So entschließt er sich zu sagen:
«Ja, ich bin Jonas, der Diener des Lazarus. Ich muß mit dem Meister sprechen.»
«Geht es Lazarus schlecht? Hat er
dich gesandt?»
«Es geht ihm schlecht, ja. Aber
laß mich keine Zeit verlieren. Ich muß so rasch als möglich zurückkehren.» Und
um den letzten Widerstand des Petrus zu überwinden, sagt er: «Die Synedristen
sind in Bethanien gewesen ...»
«Die Synedristen! Komm herein!
Komm herein!» Und Petrus öffnet das Tor mit den Worten: «Bring das Pferd
herein. Wenn du willst, werden wir ihm Wasser und Heu geben.»
«Ich habe Futter. Aber ein wenig
Heu wird ihm guttun. Das Wasser dann später; jetzt würde es ihm schaden.»
Sie gehen in den Raum, in dem die
Lager stehen, und binden das Tier in einer Ecke an, um es vor Zugluft zu
schützen. Der Diener bedeckt es mit einer Decke, die an den Sattel gebunden
war, und gibt ihm Hafer und das Heu, das Petrus irgendwo hergeholt hat. Dann
gehen sie wieder hinaus, und Petrus führt den Diener in die Küche und gibt ihm
eine Schale heiße Milch aus einem Topf, der auf dem offenen Feuer steht,
anstelle des Wassers, um das der Diener gebeten hatte. Während der Diener
trinkt und sich am Feuer erholt, sagt Petrus, der sich in heroischer Weise
beherrscht und keine neugierigen Fragen stellt: «Die Milch ist besser als das
Wasser, das du wolltest. Und wenn wir sie nun schon einmal haben! Bist du ohne
Unterbrechung bis hierher geritten?»
«Ohne Unterbrechung. Und so werde
ich es auch auf dem Rückweg machen.»
«Du wirst müde sein. Wird das
Pferd es schaffen?»
«Ich hoffe. Und dann werde ich
auf dem Rückweg nicht so galoppieren wie diesmal.»
«Aber bald bricht die Nacht
herein. Der Mond geht schon auf... Wie wirst du es am Fluß machen?»
«Ich hoffe, noch vor dem
Untergang des Mondes dort zu sein. Sonst muß ich bis zum Morgengrauen im Wald
warten... Doch ich werde vorher ankommen!»
«Und dann? Der Weg vom Fluß nach
Bethanien ist lang. Und der Mond geht früh unter. Er steht im ersten Viertel.»
«Ich habe eine gute Lampe. Ich
werde sie anzünden und langsam reiten. Auch wenn ich nur langsam vorankomme,
nähere ich mich dem Haus.»
«Willst du Brot und Käse? Wir
haben etwas da. Und auch Fisch. Ich habe ihn gefangen, denn heute bin ich
dageblieben, Thomas und ich. Aber nun ist Thomas Brot holen gegangen bei einer
Frau, die uns hilft.»
34
«Nein, ich möchte euch nichts
wegnehmen. Ich habe unterwegs gegessen und hatte nur Durst und etwas Warmes
nötig. Nun fühle ich mich besser. Aber willst du nicht zum Meister gehen? Ist
er zu Hause?»
«Ja, ja! Wenn er nicht hier wäre,
hätte ich es dir gleich gesagt. Er ist im anderen Zimmer und ruht sich aus,
denn es kommen viele Menschen hierher... Ich habe schon Angst, daß man zu viel
darüber redet und die Pharisäer kommen und uns stören. Nimm doch noch etwas
Milch. Du mußt sowieso das Pferd fressen lassen... und auch ausruhen. Seine
Flanken haben wie ein schlecht gespanntes Segel geflattert...»
«Nein, die Milch habt ihr selber
nötig. Ihr seid viele.»
«Ja. Aber mit Ausnahme des
Meisters, der so viel redet, daß er davon todmüde und geschwächt ist, und der
Älteren, essen wir, die Kräftigen, alle Dinge die den Zähnen etwas zu tun
geben. Nimm. Es ist Milch von den Schafen, die der Alte hinterlassen hat. Wenn
wir hier sind, bringt die Frau sie uns. Und wenn sie nicht reicht, dann geben
uns auch alle anderen Milch. Sie haben uns gern hier und helfen uns. Und...
sag einmal: waren es viele Synedristen?»
«Oh, beinahe alle, und mit ihnen
kamen noch andere: Sadduzäer, Schriftgelehrte, Pharisäer, Juden höheren
Ranges, einige Herodianer...»
«Und was haben diese Leute in
Bethanien zu suchen gehabt? War Joseph auch dabei? Und Nikodemus, war er da?»
«Nein, die sind einige Tage
früher gekommen. Auch Manaen war schon da. Die letzteren gehörten nicht zu
denen, die den Herrn lieben.»
«Ja, das glaube ich! Es gibt so
wenige im Synedrium, die ihn lieben. Aber was haben sie eigentlich gewollt?»
«Lazarus grüßen... So sagten sie
wenigstens beim Hineingehen...»
«Hm, was für eine eigenartige
Liebe! Sie haben ihn immer gemieden, aus vielerlei Gründen... ! Gut... ! Wir
wollen ihnen glauben... Sind sie lange geblieben?»
«Einige Zeit. Und sie sind
aufgeregt weggegangen. Ich bin kein Hausdiener und habe daher nicht bei Tisch
bedient. Aber die anderen, die drinnen bedient haben, sagen, daß sie mit den
Herrinnen gesprochen haben und Lazarus sehen wollten. Dann ist Elchias zu
Lazarus gegangen und ...»
«Guter Gott... !» murmelt Petrus
in seinen Bart.
«Was hast du gesagt?»
«Nichts, nichts! Erzähle weiter.
Und hat er mit Lazarus gesprochen?»
«Ich glaube schon. Er ist mit
Maria zu ihm gegangen. Aber dann... ich weiß nicht warum, ist Maria ungeduldig
geworden, und die Diener, die in den angrenzenden Zimmern dienstbereit waren,
sagen, daß sie die Besucher wie Hunde fortgejagt hat...»
«Hoch soll sie leben! So ist es
richtig! Und sie haben dich geschickt, um dies zu berichten?»
«Laß mich nicht noch mehr Zeit
verlieren, Simon des Jonas.»
35
«Du hast recht. So komm.»
Petrus führt ihn an eine Tür. Er
klopft an und sagt: «Meister, ein Diener des Lazarus ist hier. Er will mit dir
sprechen.»
«Er soll hereinkommen», sagt
Jesus.
Petrus öffnet die Tür, läßt den
Diener eintreten, macht sie wieder zu und zieht sich dann zurück ans Feuer, um
Verdienste zu erwerben und seine Neugier abzutöten.
Jesus sitzt auf dem Rand seines
Lagers in dem kleinen Raum, in dem gerade Platz für das Bett und den Bewohner
ist. Gewiß war es zuvor eine Vorratskammer, denn an den Wänden sind noch Haken
und Bretter auf Holzpflöcken. Jesus sieht den Diener, der niedergekniet ist,
lächelnd an und grüßt ihn: «Der Friede sei mit dir.» Dann fügt er hinzu: «Was
bringst du mir für Neuigkeiten? Steh auf und sprich.»
«Meine Herrinnen schicken mich,
um dir zu sagen, daß du sofort zu ihnen kommen sollst, denn Lazarus ist sehr
krank, und der Arzt meint, daß er im Sterben liegt. Martha und Maria flehen
dich an und lassen dir durch mich ausrichten: "Komm, denn du allein kannst ihn
gesund machen."»
«Sage ihnen, sie sollen beruhigt
sein. Das ist keine Krankheit, die zum Tod führt, sondern sie gereicht Gott
zur Ehre, auf daß seine Macht in seinem Sohn verherrlicht werde.»
«Aber Lazarus ist schwer krank,
Meister. Sein Fleisch wird brandig, und er kann nichts mehr essen. Ich habe
dem Pferd die Sporen gegeben, um rascher hier zu sein ...»
«Das war nicht nötig. Es ist so,
wie ich sage.»
«Aber wirst du kommen?»
«Ich werde kommen. Sage ihnen,
daß ich kommen werde und daß sie Glauben haben sollen. Daß sie Glauben haben
sollen. Einen bedingungslosen Glauben! Hast du verstanden? Geh. Der Friede sei
mit dir und mit denen, die dich gesandt haben. Ich wiederhole dir: Sie sollen
einen bedingungslosen Glauben haben. Geh!»
Der Diener grüßt und zieht sich
zurück. Petrus eilt ihm entgegen: «Du hast einen kurzen Bericht erstattet. Ich
habe mit einer längeren Unterredung gerechnet...» Er schaut ihn an, lange...
Der brennende Wunsch, etwas zu erfahren, steht ihm im Gesicht geschrieben.
Aber er beherrscht sich...
«Ich gehe. Willst du mir Wasser
für das Pferd geben? Dann breche ich auf.»
«Komm, hier ist Wasser! Wir
können dir einen ganzen Fluß geben, außer unserem Brunnen», und Petrus geht
mit einer Lampe voran und holt das erbetene Wasser.
Sie lassen das Pferd trinken. Der
Diener nimmt die Decke ab und untersucht die Hufeisen, den Gurt, die Zügel und
die Steigbügel. Er erklärt: «Ich bin so schnell geritten. Aber es ist alles in
Ordnung. Leb wohl, Simon Petrus, und bete für uns.»
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Der Diener hält das Pferd am
Zügel und führt es hinaus auf die Straße. Dann setzt er einen Fuß in den
Steigbügel, um sich in den Sattel zu schwingen. Petrus hält ihn zurück, indem
er ihm eine Hand auf den Arm legt und sagt: «Ich will nur eines wissen: Ist es
gefährlich für den Meister, hier zu bleiben? Haben sie gedroht? Wollten sie
von den Schwestern erfahren, wo wir uns aufhalten? Sag es in Gottes Namen!»
«Nein, Simon. Davon war nicht die
Rede. Sie sind wegen Lazarus gekommen... Unter uns haben wir den Verdacht, daß
sie sehen wollten, ob der Meister bei uns ist und ob Lazarus an Aussatz
leidet, denn Martha hat laut geschrien, daß er nicht aussätzig ist, und dann
geweint... Leb wohl, Simon. Der Friede sei mit dir!»
«Und mit dir und deinen
Herrinnen. Gott möge dich auf dem Heimweg begleiten...» Petrus sieht dem
Reiter nach, der bald am Ende des Weges verschwindet, da er es wohl vorzieht,
die vom Mondlicht erhellte Hauptstraße zu nehmen, statt des dunklen Waldwegs
längs des Flusses. Dann schließt er nachdenklich das Tor und kehrt ins Haus
zurück. Er geht zu Jesus, der immer noch auf seinem Bettrand sitzt, die Hände
aufgestützt und in Gedanken versunken. Doch als er Petrus bemerkt, der ihn
fragend anblickt, kehrt er aus seiner Versenkung zurück und lächelt ihm zu.
«Du lächelst, Meister?»
«Ich lächle dir zu, Simon des
Jonas. Setz dich hier an meine Seite. Sind die anderen schon zurück?»
«Nein, Meister. Nicht einmal
Thomas. Er wird jemanden zum Plaudern gefunden haben.»
«Das ist gut.»
«Es ist gut, daß er plaudert und
daß die anderen sich verspäten? Er redet immer zu viel. Er ist immer frohen
Mutes! Und die anderen? Ich bin immer unruhig, bis sie wieder zurück sind. Ich
habe immer Angst.»
«Wovor denn, mein Simon? Vorerst
wird uns nichts Böses zustoßen, glaube mir. Beruhige dich und mache es wie
Thomas, der immer heiter ist. Du dagegen bist seit einiger Zeit sehr traurig.»
«Ich mißtraue jedem, der sagt,
daß er dich liebt. Ich bin schon alt und denke mehr nach als die Jungen. Auch
sie lieben dich, aber sie sind jung und denken nicht so viel nach... Wenn du
mich lieber heiter siehst, dann werde ich es sein... Ich werde mich bemühen,
es zu sein. Aber gib mir wenigstens einen Anlaß, froh zu sein. Sag mir die
Wahrheit, mein Herr, ich bitte dich auf den Knien (und Petrus rutscht
tatsächlich auf die Knie): Was hat dir der Diener des Lazarus erzählt? Suchen
sie dich? Wollen sie dir schaden? Wollen ... ?»
Jesus legt seine Hand auf das
Haupt des Petrus: «Aber nein, Simon! Nichts dergleichen. Er ist gekommen, um
mir zu sagen, daß der Zustand des Lazarus sich sehr verschlechtert hat, und
wir haben nur über Lazarus gesprochen.»
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«Nur? Wirklich nur?»
«Wirklich nur, Simon. Und ich
habe geantwortet, daß sie Glauben haben sollen.»
«Aber die vom Synedrium sind doch
in Bethanien gewesen! Weißt du das?»
«Das ist ganz natürlich. Das Haus
des Lazarus ist ein großes Haus. Und unsere Sitte verlangt diese Ehrung eines
Mächtigen, der im Sterben liegt. Rege dich nicht auf, Simon!»
«Aber glaubst du wirklich, daß
sie dies nicht als Vorwand gebraucht haben, um...»
«Um nachzusehen, ob ich dort bin?
Nun gut, sie haben mich nicht gefunden. Auf, sei nicht so erschrocken, als ob
sie mich schon gefangengenommen hätten. Komm wieder an meine Seite, armer
Simon, der sich absolut nicht davon überzeugen lassen will, daß mir nichts
Böses zustoßen kann bis zu dem von Gott bestimmten Augenblick, und daß mich
dann... nichts mehr vor dem Bösen wird bewahren können...»
Petrus fällt Jesus um den Hals,
verschließt ihm den Mund mit einem Kuß und sagt: «Schweig, schweig! Sag mir
nicht solche Dinge! Ich will sie nicht hören!»
Jesus gelingt es, sich so weit zu
befreien, daß er wenigstens sprechen kann, und er flüstert: «Du willst sie
nicht hören! Das ist der Fehler! Aber ich habe Mitleid mit dir... Höre, Simon.
Da nur du hier gewesen bist, dürfen nur ich und du allein wissen, was
vorgefallen ist. 'Verstehst du mich?»
«Ja, Meister. Ich werde mit
keinem der Gefährten darüber reden!»
«Wie viele Opfer, nicht wahr,
Simon?»
«Opfer? Welche? Hier geht es uns
gut. Wir haben, was wir brauchen.»
«Die Opfer, keine Fragen zu
stellen, nicht zu reden, Judas zu ertragen, weit weg von deinem See zu sein...
Aber alles wird Gott dir vergelten.»
«Oh, wenn du das meinst... !
Anstelle des Sees habe ich den Fluß, und der genügt mir. Für Judas...
entschädigst du mich in vollem Maß... Und was die anderen Dinge betrifft...
Nichtigkeiten, die mir noch dazu helfen, etwas weniger grob und dir ähnlicher
zu werden. Wie glücklich bin ich, hier bei dir sein zu dürfen. In deinen
Armen! Der Palast des Caesar käme mir nicht schöner vor als dieses Haus, wenn
ich immer so in deinen Armen liegen könnte!»
«Was weißt du denn vom Palast des
Caesar? Hast du ihn je gesehen?»
«Nein, und ich werde ihn niemals
sehen. Aber ich lege auch keinen Wert darauf. Ich stelle mir vor, daß er groß,
schön und voll schöner Dinge ist... und voller Unrat. Wie ganz Rom, denke ich.
Ich würde dort nicht hingehen, und selbst wenn man mich mit Gold überhäufen
wollte!»
«Wohin? In den Palast des Caesar
oder nach Rom?»
«An beide Orte! Verflucht seien
sie!»
«Aber gerade weil sie so sind,
müssen sie die Frohe Botschaft hören.»
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«Was willst du in Rom tun?! Es
ist ein großes Bordell! Da ist nichts zu machen, sofern du nicht selbst
hingehst. Dann ja... !»
«Ich werde hingehen. Rom ist das
Haupt der Welt. Wenn Rom erobert ist, ist die ganze Welt erobert.»
«Gehen wir nach Rom? Du läßt dich
zum König ausrufen, dort? Barmherzigkeit und Macht Gottes! Das ist ein
Wunder!»
Petrus ist aufgestanden und steht
mit erhobenen Armen vor Jesus, der lächelt und antwortet: «Ich werde in meinen
Aposteln dorthin gehen. Ihr werdet es für mich erobern. Und ich werde mit euch
sein. Aber drüben ist jemand. Laß uns gehen, Petrus.»
600. BEIM BEGRÄBNIS DES LAZARUS
Die Nachricht vom Tod des Lazarus
muß gewirkt haben wie ein Stöckchen, mit dem man in einem Bienenstock
herumstochert. Ganz Jerusalem spricht davon. Die Vornehmen, die Händler, das
einfache Volk, die Armen, die Bewohner der Stadt und der nahen Ländereien,
Fremde, die auf der Durchreise, aber nicht ortsfremd sind, und solche, die zum
ersten Mal da sind und sich erkundigen, wer der ist, dessen Tod so große
Erregung verursacht; Römer, Legionäre, Verwaltungsangestellte, Leviten und
Priester, alle versammeln und zerstreuen sich fortwährend und rennen da- und
dorthin... Grüppchen von Leuten, die mit den unterschiedlichsten Worten und
Mienen über die Tatsache sprechen. Die einen loben, die anderen weinen, die
einen fühlen sich nun noch ärmer, weil der Wohltäter tot ist, die anderen
jammern: «Nie, niemals mehr werde ich einen so guten Herrn haben.» Einige
zählen seine Verdienste auf, sprechen von seiner Abstammung, seiner
Verwandtschaft, den Pflichten und Würden des Vaters, der Schönheit und dem
Reichtum der Mutter und ihrer Geburt als «Königin», und andere spielen leider
auch auf Familienangelegenheiten an, über die man lieber den Schleier des
Schweigens breiten sollte, besonders, da es sich um einen Toten handelt, der
darunter gelitten hat...
Die verschiedensten Nachrichten
über die Ursache des Todes, den Ort des Begräbnisses und die Abwesenheit des
Messias vom Haus seines guten Freundes und Beschützers gerade in seiner
schwersten Stunde liefern den Grüppchen Redestoff. Und die vorherrschenden
Meinungen sind zwei: Die einen behaupten, dies alles sei so gekommen durch die
feindselige Haltung der Juden, der Synedristen, der Pharisäer und
ihresgleichen gegenüber dem Meister. Die anderen sagen, daß der Meister sich
angesichts dieser wirklich tödlichen Krankheit davongemacht habe, da er hier
mit seinen Betrügereien ganz sicher keinen Erfolg gehabt hätte. Auch ohne
besonderen Scharfsinn ist nicht schwer zu erraten, aus welcher Quelle
39
diese Behauptung kommt, die viele
ärgert und heftig erwidern läßt: «Bist auch du ein Pharisäer? Wenn du einer
bist, dann gib acht, denn in unserer Anwesenheit lästert man den Heiligen
nicht! Verfluchte Vipern, hervorgegangen aus der Verbindung von Hyänen mit dem
Leviathan! Wer zahlt euch dafür, daß ihr den Messias lästert?» Streitereien,
Beleidigungen, auch einige Püffe und gesalzene Schmähungen gegen die
verkommenen Pharisäer und Schriftgelehrten, die stolz wie Götter
vorbeischreiten, ohne das Volk eines Blickes zu würdigen, das für und gegen
sie redet, für und gegen den Meister, so daß es in den Straßen widerhallt. Und
Anschuldigungen! Wie viele Anschuldigungen!
«Der dort sagt, der Meister sei
ein Betrüger. Sicherlich hat er sich einen solchen Bauch zugelegt mit dem Geld
dieser Schlangen, die gerade vorbeigekommen sind.»
«Mit ihrem Geld? Mit unserem
Geld, mußt du sagen! Sie quetschen uns für diese schönen Zwecke aus! Aber wo
ist er denn? Ich möchte sehen, ob er einer von denen ist, die gestern zu mir
gesagt haben...»
«Er ist davongelaufen. Aber,
großer Gott! Wir müssen uns zusammenschließen und handeln. Sie sind zu
schamlos!»
Eine andere Unterhaltung: «Ich
habe dich gehört und ich kenne dich. Ich werde den Zuständigen sagen, wie du
über das Höchste Gericht redest.»
«Ich gehöre Christus, und der
Geifer der Dämonen schadet mir nicht. Du kannst es auch Annas und Kaiphas
sagen, wenn du willst, und möge es dazu dienen, sie gerechter zu machen!»
Und weiter vorn: «Mich klagst du
an, ein Meineidiger und Gotteslästerer zu sein, weil ich dem lebendigen Gott
folge? Du bist der Meineidige und Lästerer, weil du ihn beleidigst und
verfolgst. Ich kenne dich, weißt du! Ich habe dich gesehen und gehört. Spion!
Verkaufter! Lauft und ergreift ihn...» und er fängt an, ihm derartige
Ohrfeigen zu verabreichen, daß das knöcherne, grünliche Gesicht des Juden ganz
rot wird.
«Cornelius, Simeon, schaut, sie
mißhandeln mich ...» sagt ein anderer weiter drüben zu einer Gruppe von
Synedristen.
«Ertrage es für den Glauben und
beschmutze nicht deine Lippen und deine Hände am Vortag eines Sabbat»,
antwortet einer der Angesprochenen, ohne sich auch nur umzudrehen und den
Elenden anzusehen, mit dem das Volk kurzen Prozeß macht...
Die Frauen kreischen und bitten
ihre Ehemänner, zurückzukommen und sich nicht zu kompromittieren.
Die Legionäre patrouillieren die
Straßen, schaffen sich mit ihren Speerschäften Platz und drohen mit Strafen
und Arrest.
Der Tod des Lazarus, das
Hauptereignis, ist die Gelegenheit, sich noch über andere Dinge auszulassen
und die schon lange bestehende innere Spannung abzureagieren.
Die Synedristen, die Ältesten,
die Schriftgelehrten, die Sadduzäer, die
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mächtigen Juden, sie alle gehen
gleichgültig und duckmäuserisch vorüber, als ob alle diese kleinen Ausbrüche
von Haß, von persönlicher Rachsucht und Nervosität nicht auf sie
zurückzuführen wären. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr geraten sie in Wallung
und erhitzen sich die Gemüter.
«Diese hier behaupten, hört nur,
daß Christus die Kranken nicht heilen kann. Ich war aussätzig, und nun bin ich
gesund. Kennt ihr die dort? Ich bin nicht aus Jerusalem, aber ich habe sie in
den letzten zwei Jahren nie bei den Jüngern des Christus gesehen.»
«Die dort? Laß sehen, der in der
Mitte! Dieser elende Schurke! Es ist der, der im vergangenen Monat zu mir
gekommen ist und mir im Namen des Messias Geld angeboten hat. Er sagte, daß
Jesus Männer anwerbe, um sich Palästinas zu bemächtigen. Und nun sagt er...
Aber warum hast du ihn entkommen lassen?»
«Ich habe verstanden! Was für
Gauner! Und beinahe wäre ich auf sie hereingefallen. Mein Schwiegervater hatte
recht. Da kommt Joseph, der Älteste, mit Johannes und Josua. Wir wollen zu
ihnen gehen und sie fragen, ob es wahr ist, daß der Meister ein Heer
aufstellen will. Sie sind gerecht und müssen es wissen!» Eine große Menge
läuft zu den drei Synedristen und stellt ihnen die Frage.
«Geht nach Hause, Männer! Auf der
Straße sündigt man und schadet sich. Fragt nicht so viel. Beunruhigt euch
nicht. Kümmert euch um eure Angelegenheiten und um eure Familien. Hört nicht
auf die, die die Leichtgläubigen aufwiegeln, und laßt euch nicht täuschen. Der
Meister ist ein Lehrer und kein Krieger. Ihr kennt ihn doch. Und was er denkt,
sagt er. Er hätte euch nicht andere Leute geschickt, um euch sagen zu lassen,
daß ihr ihm als Krieger folgen sollt, wenn er dies gewollt hätte. Schadet ihm
und auch euch selbst nicht. Schadet nicht dem Vaterland. Geht nach Hause, ihr
Männer! Nach Hause! Sorgt dafür, daß dem jetzigen Unglück, dem Tod eines
Gerechten, nicht noch mehr Unglück folgt. Geht nach Hause und betet für
Lazarus, der allen nur Gutes getan hat», sagt der von Arimathäa, der vom Volk
offensichtlich sehr geliebt und geachtet wird, da es ihn als Gerechten
erkennt.
Auch Johannes (der ehemals
Eifersüchtige) sagt: «Er ist ein Mann des Friedens, nicht des Krieges. Hört
nicht auf die falschen Jünger. Denkt daran, wie verschieden die anderen waren,
die sich Messias nannten. Erinnert euch, überlegt und vergleicht, und euer
Gerechtigkeitssinn wird euch sagen, daß dieser Aufruf zur Gewalt nicht von ihm
stammen kann. Fort! Nach Hause! Geht zu den Frauen, die weinen, und zu den
Kindern, die sich fürchten. Es steht geschrieben: Wehe den Gewalttätigen und
jenen, die den Streit schüren.»
Eine Gruppe Frauen nähert sich
weinend den drei Synedristen, und eine von ihnen sagt: «Die Schriftgelehrten
haben meinen Mann bedroht. Ich habe Angst. Joseph, sprich du mit ihnen.»
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«Ich werde es tun. Aber dein Mann
muß schweigen können. Glaubt ihr, mit diesem Aufruhr dem Meister zu nützen und
dem Toten Ehre zu erweisen? Ihr irrt euch. Ihr schadet dem einen wie dem
anderen», antwortet Joseph und verläßt sie, um Nikodemus entgegenzugehen, der,
gefolgt von seinen Dienern, aus einer Seitenstraße kommt. «Ich habe nicht
erwartet, dich hier zu sehen, Nikodemus. Ich selbst weiß nicht, wie ich es
geschafft habe. Der Diener des Lazarus kam nach dem Hahnenschrei, um mir von
dem Unglück zu berichten.»
«Zu mir kam er noch später. Ich
bin sofort abgereist. Weißt du, ob der Meister in Bethanien ist?»
«Nein, er ist nicht dort. Mein
Verwalter von Bezetha war um die dritte Stunde dort und sagte mir, er habe ihn
nicht angetroffen.»
«Ich verstehe nicht, weshalb...
Allen hat er ein Wunder geschenkt, und ihm nicht!» ruft Johannes aus.
«Vielleicht, weil er dem Haus
schon mehr geschenkt hat als eine Heilung. Er hat Maria gerettet und dem Haus
Frieden und Ehre wiedergegeben...» sagt Joseph.
«Frieden und Ehre! Das Gute den
Guten... Denn viele haben ihm keine Ehre erwiesen und tun es nicht einmal
jetzt, da Maria... Ihr wißt es nicht... Vor drei Tagen waren Elchias und viele
andere dort... und haben ihm keine Ehre erwiesen. Maria hat sie davongejagt.
Sie erzählten es mir voll Zorn, und ich habe sie reden lassen, um mein Herz
nicht zu entdecken...» sagt Josua.
«Und nun gehen sie zum
Begräbnis?» fragt Nikodemus.
«Sie sind benachrichtigt worden
und haben sich im Tempel zu einer Besprechung eingefunden. Oh, die Diener
haben heute morgen bei Sonnenaufgang viel laufen müssen!»
«Warum haben sie es so eilig mit
dem Begräbnis? Gleich nach der sechsten Stunde!»
«Weil Lazarus schon in Verwesung
übergegangen war, als er starb. Mein Verwalter sagt mir, daß trotz der Harze,
die in den Zimmern verbrannt werden, und trotz der duftenden Essenzen, mit
denen man den Toten besprengt, der Leichengeruch schon an der Tür des Hauses
zu bemerken war. Und außerdem beginnt bei Sonnenuntergang der Sabbat. Es gab
also keine andere Möglichkeit.»
«Du sagst, daß sie sich im Tempel
versammelt haben? Warum?»
«Nun... eigentlich war die
Versammlung schon vorher geplant, um über Lazarus zu sprechen. Sie wollen
behaupten, daß er aussätzig war...»sagt Josua.
«Das niemals. Lazarus hätte sich
als erster in Befolgung des Gesetzes abgesondert», verteidigt Joseph den
Toten. Und er fügt hinzu: «Ich habe mit ihrem Arzt gesprochen. Er hat es
absolut ausgeschlossen. Lazarus litt an faulenden Geschwüren!»
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«Worüber haben sie dann
diskutiert, da Lazarus doch schon gestorben war?» fragt Nikodemus.
«Ob sie zum Begräbnis gehen
sollen oder nicht, nachdem Maria ihnen die Tür gewiesen hat. Die einen
wollten, die anderen nicht. Aber die, die gehen wollten, waren in der
Mehrzahl, und zwar aus drei Gründen. Sie wollten sehen, ob der Meister dort
ist. Dies war der erste Grund, und alle waren damit einverstanden. Sie wollten
auch sehen, ob er ein Wunder wirkt. Das ist der zweite Grund. Und der dritte:
die Erinnerung an die Worte, die der Meister kürzlich am Jordan bei Jericho zu
den Schriftgelehrten sagte», erklärt wiederum Josua.
«Ein Wunder! Welches, wenn er nun
tot ist?» fragt Johannes achselzuckend und schließt mit den Worten: «Immer
dieselben... Sie verlangen das Unmögliche!»
«Der Meister hat schon andere
Tote erweckt», bemerkt Joseph.
«Das ist wahr. Aber wenn er
gewollt hätte, daß er lebt, dann hätte er ihn nicht sterben lassen. Du hast
vorher schon recht gehabt: Sie haben genug erhalten.»
«Ja. Aber Uziel und auch Sadok
haben sich erinnert an eine Herausforderung vor vielen Monaten... Christus
sagte damals, er werde den Beweis erbringen, daß er auch einen schon verwesten
Leib auferstehen lassen könne. Und bei Lazarus ist dies der Fall. Und Sadok,
der Schriftgelehrte, sagt weiter, daß der Rabbi am Jordan von sich aus
behauptet habe, bei Neumond würde sich die Hälfte der Herausforderung
erfüllen. Die von einem Toten, der wieder lebendig wird und weder Krankheit
noch Auflösung mehr kennt. Sie haben gewonnen. Wenn dies geschieht, so sicher
deshalb, weil der Meister da ist. Ferner: wenn dies geschieht, dann gibt es
keinen Zweifel mehr an ihm.»
«Vorausgesetzt, daß es keine
bösen Folgen hat...» murmelt Joseph.
«Böse Folgen? Warum? Die
Schriftgelehrten und Pharisäer werden sich überzeugen ...»
«Oh, Johannes! Bist du denn ein
Fremder, daß du so sprechen kannst? Kennst du deine Mitbürger so schlecht?
Seit wann hat denn die Wahrheit sie zu Heiligen gemacht? Sagt es dir nichts,
daß man in mein Haus keine Einladung zu der Versammlung gebracht hat?»
«Auch in meines nicht. Sie
mißtrauen uns und schließen uns oft aus», sagt Nikodemus. Dann fragt er: «War
Gamaliel dort?»
«Sein Sohn. Er wird auch anstelle
seines Vaters kommen, der etwas krank in Gamala in Judäa ist.»
«Und was hat Simeon gesagt?»
«Nichts. Gar nichts. Er hat nur
zugehört und ist dann fortgegangen. Vor kurzem ist er mit einigen Schülern
seines Vaters auf dem Weg nach Bethanien hier vorbeigekommen.»
Sie sind nun fast am Tor zur
Straße nach Bethanien. Und Johannes ruft
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aus: «Schaut, es ist bewacht!
Warum wohl? Sie halten alle an, die hinausgehen.»
«Es ist Aufruhr in der Stadt...»
«Oh! So groß ist er nicht...»
Sie kommen zum Tor und werden wie
alle anderen angehalten.
«Aus welchem Grund, Soldat? In
der ganzen Antonia kennt man mich. Man kann mir nichts Schlechtes nachsagen.
Ich achte euch und eure Gesetze», sagt Joseph von Arimathäa.
«Befehl des Centurio. Der
Prokurator kommt in die Stadt, und wir wollen wissen, wer zu den Toren
hinausgeht, besonders zu dem, das auf die Straße nach Jericho führt. Wir
kennen dich. Aber wir kennen auch eure Stimmung uns gegenüber. Du und deine
Begleiter, ihr könnt gehen. Und wenn ihr beim Volk etwas zu sagen habt, dann
erklärt ihm, daß es besser ist, sich ruhig zu verhalten. Pontius ändert nicht
gerne seine Gewohnheiten wegen der Unruhe seiner Untergebenen... und er könnte
äußerst streng werden. Dies ist ein guter Rat für dich, der du gut bist.» Sie
gehen weiter...
«Habt ihr gehört? Ich sehe
schwere Tage kommen... Es wird nötiger sein, die anderen zu beraten als das
Volk ...» sagt Joseph.
Die Straße nach Bethanien ist
voller Menschen, die alle ein einziges Ziel haben: Bethanien. Alles Leute, die
zur Beisetzung gehen. Man sieht Synedristen und Pharisäer, Schriftgelehrte und
Sadduzäer, und zwischen diesen Bauern, Diener und Verwalter der verschiedenen
Häuser und Güter, die Lazarus in der Stadt und auf dem Land besitzt. Und je
näher man Bethanien kommt, desto mehr Menschen strömen von allen Seitenwegen
und Sträßchen auf die Hauptstraße.
Da ist nun Bethanien. Bethanien
in Trauer um den vornehmsten seiner Bürger. Alle seine Bewohner haben in ihren
besten Kleidern schon die Häuser verlassen, die nun verschlossen sind, als ob
niemand darin wäre. Aber sie sind noch nicht im Haus des Toten. Die Neugier
hält sie an der Straße vor dem Tor zurück. Sie beobachten, wer von den
Eingeladenen kommt, und tauschen Namen und Eindrücke aus.
«Da ist Nathanael ben Faba. Oh,
der alte Mattathias, der Verwandte des Jakob! Der Sohn des Annas! Schau ihn
dir an dort, zusammen mit Doras, Callascebona und Archelaos. Wie haben die
Galiläer es nur fertiggebracht, rechtzeitig hier zu sein? Alle sind sie da.
Schau: Eli, Jochanan, Ismael, Urias, Joachim, Elias, Joseph... Der alte
Chananias mit Sadok und den Sadduzäern Zacharias und Jochanan. Auch Simeon,
der Sohn des Gamaliel, ist da. Allein. Aber der Rabbi fehlt. Dort sind Elchias
und Nahum, Felix und der Schriftgelehrte Annas, Zacharias und Jonathan des
Uriel! Saul und Eleazar, Tryphon und Joazar. Die sind gut! Auch einer der
Söhne des Annas. Der Jüngste. Er spricht mit Simon Camit. Und dort Philippus
mit Johannes, dem Antipatriden, Alexander, Isaak
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und Jonas des Babaon. Und Sadok.
Judas, der Nachkomme der Asidäer. Und die Verwalter der verschiedenen Paläste.
Ich sehe aber die treuen Freunde nicht. Wie viele Leute!»
Wirklich, viele Leute! Alle in
würdevoller Haltung, teils mit einem den Umständen angepaßten
Gesichtsausdruck, teils mit dem Ausdruck echten Schmerzes in den Zügen. Das
weit offenstehende Tor verschluckt sie alle. Und ich sehe alle wieder, die ich
bei anderen Gelegenheiten wohlwollend oder feindlich gesinnt in der Umgebung
des Meisters gesehen habe. Alle, außer Gamaliel und dem Synedristen Simon.
Aber ich sehe auch andere, die ich noch nie gesehen habe, oder die ich
vielleicht bei Streitgesprächen über Jesus gesehen habe, ohne ihre Namen zu
kennen... Rabbis mit ihren Schülern kommen vorbei und Schriftgelehrte in
geschlossenen Gruppen. Es kommen Juden, deren Reichtümer aufgezählt werden...
Der Garten ist voller Menschen, die, nachdem sie den Schwestern ihre
Anteilnahme ausgesprochen haben (diese sitzen, wohl nach dortigem Brauch,
unter dem Portikus, also außerhalb des Hauses), sich in einem Kaleidoskop von
Farben im Garten ergehen, wo das Begrüßen kein Ende nimmt.
Martha und Maria sind erschöpft.
Sie halten sich an der Hand wie zwei Mädchen, die erschrocken sind über die
Leere, die nun im Haus herrscht, über das Nichts, das ihren Tag füllt, seit
Lazarus nicht mehr ihrer Pflege bedarf. Sie hören die Worte der Besucher an,
weinen mit den wahren Freunden, mit den treuen Untergebenen, verneigen sich
vor den kalten, stolzen, steifen Synedristen, die eher gekommen sind, um sich
in Szene zu setzen, als um den Verstorbenen zu ehren, und antworten allen, die
nach den letzten Augenblicken des Lazarus fragen, mit denselben müden Worten,
die sie nun schon zum hundertsten Mal wiederholen müssen.
Joseph und Nikodemus, die
treuesten Freunde, stellen sich an die Seite der Schwestern, mit wenigen
Worten, aber einer Freundschaft, die mehr zu trösten vermag als Worte es
können.
Elchias kommt wieder mit den
Unversöhnlichsten, mit denen er lange gesprochen hat, und fragt: «Könnten wir
den Toten nicht sehen?»
Martha fährt sich verzweifelt mit
der Hand über die Stirn und fragt: «Seit wann ist so etwas Brauch in Israel?
Er ist schon vorbereitet...» und langsam rinnen Tränen über ihr Gesicht.
«Es ist nicht Sitte, das ist
wahr. Aber wir wünschen es. Die treuesten Freunde haben wohl das Recht, ein
letztes Mal das Antlitz des Freundes zu sehen.»
«Auch wir Schwestern hätten ein
Recht darauf gehabt. Aber es war notwendig, ihn sofort einzubalsamieren... Und
als wir in das Zimmer des Lazarus zurückgekehrt sind, haben wir selbst nur die
eingewickelte Gestalt gesehen.»
«Ihr hättet klare Anweisungen
geben sollen. Könntet ihr nicht das Schweißtuch von seinem Antlitz entfernen?»
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«Oh, er ist schon verwest ... Und
die Stunde des Begräbnisses ist gekommen.»
Joseph vermittelt: «Elchias, mir
scheint, daß wir hier aus einem Übermaß an Liebe Schmerz bereiten. Lassen wir
die Schwestern in Frieden...»
Simeon, der Sohn des Gamaliel,
kommt näher und verhindert so die Antwort des Elchias: «Mein Vater wird
kommen, sobald er kann. Ich vertrete ihn. Er hat Lazarus sehr geschätzt. Und
ich ebenso.»
Martha verneigt sich und
antwortet: «Gott möge dem Rabbi die Ehre vergelten, die er unserem Bruder
erwiesen hat.»
Da der Sohn des Gamaliel gekommen
ist, entfernt sich Elchias ohne weiter zu drängen. Er diskutiert mit den
anderen, die ihn darauf aufmerksam machen: «Riechst du nicht den Gestank? Und
du hast noch Zweifel? Wir werden ja sehen, ob sie das Grab verschließen. Ohne
Luft kann man nicht leben.»
Eine weitere Gruppe von
Pharisäern nähert sich den beiden Schwestern. Sie sind fast alle aus Galiläa.
Martha kann, nachdem sie die Beileidsbezeugungen entgegengenommen hat, nicht
umhin, ihr Erstaunen über ihre Anwesenheit zu bekunden.
«Frau, das Synedrium hat sich zu
einer Versammlung von größter Wichtigkeit zusammengefunden, daher sind wir in
der Stadt», erklärt Simon von Kapharnaum und betrachtet Maria, an deren
Bekehrung er sich zweifellos erinnert. Doch er beschränkt sich darauf, sie
anzustarren.
Nun kommen Jochanan, Doras, der
Sohn des Doras, Ismael, Chananias, Sadok und andere, die ich nicht kenne. Ihre
Wolfsgesichter sagen alles, noch bevor sie den Mund aufmachen. Aber sie
warten, bis Joseph und Nikodemus sich entfernt haben, um mit drei Juden zu
reden, und schlagen dann zu.
Es ist der alte Chananias, der
den Schwestern mit seiner glucksenden Greisenstimme den ersten Dolchstoß
versetzt: «Was sagst du dazu, Maria? Euer Meister ist der einzige von den
vielen Freunden deines Bruders, der nicht hier ist. Seltsame Freundschaft!
Viel Liebe, solange es Lazarus gut ging. Und Gleichgültigkeit, als die Zeit
gekommen war, ihm Liebe zu erweisen! Für alle wirkt er Wunder. Aber hier
geschieht kein Wunder. Was sagst du zu so etwas, Frau? Er hat dich sehr
getäuscht, dieser schöne galiläische Meister. Ha, ha, ha! Hatte er nicht zu
dir gesagt, du solltest hoffen wider alle Hoffnung? Hast du also nicht
gehofft? Oder hat es keinen Sinn, auf ihn zu hoffen? Du hast auf das Leben
gehofft, hast du gesagt. Ja... er nennt sich das "Leben". Ha, ha, ha! Aber da
drinnen ist dein toter Bruder, und der Schlund des Grabes hat sich schon
geöffnet. Und der Rabbi ist nicht da. Ha, ha, ha!»
«Er gibt den Tod, nicht das
Leben», sagt Doras grinsend.
Martha verbirgt das Gesicht in
den Händen und weint. Dies ist wahrhaftig die Wirklichkeit. Ihre Hoffnung ist
enttäuscht worden. Der Rabbi
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ist nicht da. Er ist nicht einmal
gekommen, um sie zu trösten. Und er könnte doch jetzt schon hier sein. Martha
weint. Sie kann nur weinen.
Auch Maria weint. Auch sie hat
die Wirklichkeit vor Augen. Sie hat geglaubt und gehofft über alle Hoffnung
hinaus... Aber nichts hat sich ereignet, und die Diener haben den Stein von
der Öffnung des Grabes entfernt, da die Sonne am Untergehen ist. Die Sonne
geht im Winter schnell unter, und es ist Freitag, und alles muß rechtzeitig
fertig sein, damit die Gäste nicht das Gesetz des Sabbats übertreten müssen,
der bald beginnt. Sie hat so sehr gehofft, beständig gehofft, zu sehr gehofft.
Sie hat ihre Kraft zu hoffen verbraucht, und nun ist sie enttäuscht.
Chananias gibt nicht nach: «Du
antwortest mir nicht? Bist du nun davon überzeugt, daß er ein Schwindler ist,
der euch ausgenützt und verhöhnt hat? Arme Frauen!» Und er schüttelt den Kopf.
Die anderen tun es ihm nach und sagen ebenfalls: «Arme Frauen!»
Maximinus kommt herbei: «Es ist
Zeit. Gebt die Anweisungen. Ihr müßt es tun.»
Martha sinkt zu Boden. Man eilt
ihr zu Hilfe, und viele Arme tragen sie fort unter dem Wehklagen der
Bediensteten, die verstanden haben, daß die Stunde der Beisetzung gekommen ist
und sie die Totenklage anstimmen müssen.
Maria ringt die Hände und
bettelt: «Noch eine kleine Weile! Noch eine kleine Weile! Schickt Diener auf
die Straße nach Ensemes und zum Brunnen, auf alle Wege. Diener zu Pferd. Sie
sollen schauen, ob er kommt...»
«Du Unglückselige, hoffst du denn
immer noch? Was braucht es noch, um dich zu überzeugen, daß er euch verraten
und enttäuscht hat? Gehaßt hat er euch und verspottet...»
Das ist zuviel! Mit tränennassem
Gesicht, gequält und dennoch treu, erklärt Maria im Halbkreis der Gäste, die
sich versammelt haben und auf das Erscheinen des Leichnams warten: «Wenn Jesus
von Nazareth so handelt, dann ist es gut, und seine Liebe zu uns allen in
Bethanien ist groß. Alles zur Ehre Gottes und zu seiner Ehre! Er hat gesagt,
daß dies zur Ehre des Herrn gereichen wird, denn die Macht seines Wortes wird
vollkommen erstrahlen. Tue deine Pflicht, Maximinus. Das Grab ist kein
Hindernis für die Macht Gottes ...»
Sie geht zur Seite, gestützt von
Noemi, die herbeigeeilt ist, und gibt ein Zeichen... Der Leichnam wird in
seinen Binden aus dem Haus getragen, zwischen zwei Reihen von Menschen
hindurch, die laut zu klagen beginnen. Maria möchte ihm folgen, doch sie
wankt. Sie schließt sich an, als schon alle auf dem Weg zum Grab sind. Und sie
kommt gerade rechtzeitig dort an, um die lange, reglose Gestalt im Dunkel des
Grabes verschwinden zu sehen. Die von den Dienern in die Höhe gehaltenen
Fackeln, die die Stufen für die Träger beleuchten, die mit dem Toten
hinuntersteigen, tauchen alles in rötliches Licht. Denn das Grab des Lazarus
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ist unter der Erde, vielleicht,
um die unterirdischen Gänge im Fels auszunützen.
Maria schreit ... Sie ist am
Zusammenbrechen... Sie schreit ... und mit dem Namen des Bruders auch den
Namen Jesu. Es ist, als würde man ihr das Herz aus der Brust reißen. Aber sie
ruft nur diese beiden Namen und wiederholt sie, bis das dumpfe Geräusch des
Steines, mit dem man das Grab verschließt, ihr sagt, daß nun nicht einmal mehr
der Leib des Lazarus auf Erden weilt. Dann erst gibt sie auf und verliert das
Bewußtsein. Sie fällt auf die, die sie stützen, und flüstert noch einmal,
während sie in Bewußtlosigkeit versinkt: «Jesus, Jesus!» Man trägt sie fort.
Maximinus bleibt, um die Gäste zu
verabschieden und ihnen im Namen der ganzen Verwandtschaft zu danken; um sich
ihre Versicherungen anzuhören, daß sie täglich zur Beileidsbezeugung
wiederkommen werden...
Langsam wird der Garten leerer.
Die letzten, die gehen, sind Joseph, Nikodemus, Eleazar, Johannes, Joachim und
Josua. Am Tor treffen sie Sadok und Uriel, die gehässig lachen und sagen:
«Seine Herausforderung! Und wir haben sie gefürchtet!»
«Oh, es besteht kein Zweifel, daß
er tot ist. Wie er gestunken hat, trotz der Essenzen. Es gibt keinen Grund zu
zweifeln. Es war nicht nötig, das Schweißtuch zu entfernen. Ich glaube, er ist
schon voller Würmer.» Sie sind glücklich.
Joseph schaut sie an, mit so
strengem Blick, daß ihre Worte und ihr Gelächter verstummen.
Alle beeilen sich, zurück nach
Hause zu kommen, um vor dem Ende des Sonnenunterganges in der Stadt zu sein.
601. «LASST UNS ZU UNSEREM FREUND
LAZARUS GEHEN, DER SCHLÄFT»
Das Licht im Hausgärtchen des
Salomon ist schon sehr schwach, und die Umrisse der Bäume und der Häuser auf
der gegenüberliegenden Straßenseite und besonders am Ende der Straße, dort, wo
diese an der Flußböschung verschwindet, verwischen sich immer stärker und
verschmelzen mit den mehr oder weniger dunklen Schatten der stetig
voranschreitenden Abenddämmerung. Die Dinge auf Erden sind jetzt mehr Laute
als Farben. Kinderstimmen dringen aus den Häusern, Mütter rufen ihre Kleinen,
Männer treiben ihre Schafe oder Esel an, ein letztes Quietschen des
Brunnenrades, das Rauschen der Blätter im Abendwind und das Knacken der
trockenen Äste im Wald, als ob man Hölzchen zusammenschlagen würde. In der
Höhe flimmern noch unsicher die ersten Sterne, denn ein schwacher Widerschein
des Lichtes ist geblieben,
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und der Mond beginnt schon mit
seinem phosphoreszierenden Schimmer den Himmel zu erhellen.
«Alles übrige könnt ihr morgen
sagen. Nun ist es genug. Es ist Nacht. Geht alle nach Hause. Der Friede sei
mit euch. Der Friede sei mit euch. Ja... ja... Morgen! Wie? Was sagst du? Du
hast Bedenken? Schlafe bis morgen, und wenn sie dich dann immer noch quälen,
kannst du ja wiederkommen. Das wäre noch schöner! Auch noch Bedenken, um ihn
noch mehr zu ermüden! Und diese Geldgierigen da! Und die Schwiegermütter, die
vernünftigere Schwiegertöchter wollen, und die Schwiegertöchter, die weniger
sauertöpfische Schwiegermütter möchten, während sowohl die einen wie auch die
anderen es verdienen würden, daß man ihnen die Zunge ausreißt! Was gibt es
noch? Du? Was hast du gesagt? Oh, das schon, du armer Kerl! Johannes, führe
diesen Knaben zum Meister. Seine Mutter ist krank, und sie schickt ihn, um
Jesus zu bitten, daß er für sie betet. Armes Kind. Es ist immer zurückgedrängt
worden, weil es noch so klein ist. Und es kommt von weit her. Wie wird es nun
nach Hause zurückkommen? Hallo! Ihr alle, anstatt hier herumzustehen und euch
am Meister zu erfreuen, könntet ihr nicht in die Tat umsetzen, was er euch
gesagt hat: daß ihr euch gegenseitig helfen sollt und daß die Stärkeren den
Schwächeren behilflich sein sollen? Auf, wer bringt den Knaben nach Hause? Er
könnte, was Gott verhüten möge, seine Mutter tot vorfinden... Aber er soll sie
wenigstens noch einmal sehen. Esel habt ihr ja... Es ist schon Nacht, sagt
ihr? Was gibt es Schöneres als die Nacht? Ich habe jahrelang beim Schein der
Sterne geschuftet und bin gesund und kräftig. Du willst den Jungen nach Hause
bringen? Gott segne dich, Ruben. Hier ist das Kind. Hat dich der Meister
getröstet? Ja? Dann geh und freue dich. Aber man wird ihm zu essen geben
müssen. Vielleicht hat er seit heute morgen nichts mehr gegessen!»
«Der Meister hat ihm heiße Milch,
Brot und Obst gegeben. Er hat sie unter der Tunika», sagt Johannes.
«Dann geh mit diesem Mann. Er
bringt dich auf seinem Esel nach Hause.»
Endlich sind die Leute alle
weggegangen, und Petrus kann sich mit Jakobus, Judas, dem anderen Jakobus und
Thomas ausruhen, die ihm geholfen haben, die Hartnäckigsten nach Hause zu
schicken.
«Wir wollen zuschließen. Sonst
überlegt es sich einer wieder anders und kommt zurück, wie die beiden dort.
Auweh! Der Tag nach dem Sabbat ist ganz schön anstrengend!» sagt Petrus noch,
während er die Küche betritt und die Türe schließt. «So, nun haben wir Ruhe.»
Er blickt Jesus an, der am Tisch sitzt, einen Ellbogen aufgestützt und das
Haupt in der Hand, nachdenklich, abwesend. Petrus geht zu ihm, legt ihm die
Hand auf die Schulter und sagt: «Du bist müde, nicht? So viele Menschen! Von
überall her kommen sie, trotz der Jahreszeit.»
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«Man könnte meinen, sie hätten
Angst, uns bald zu verlieren», bemerkt Andreas, der gerade dabei ist, Fische
auszunehmen. Die anderen sind damit beschäftigt, das Feuer zu schüren, auf dem
die Fische geröstet werden sollen, oder in einem großen Kessel umzurühren, in
dem Zichorie kocht. Ihre Schatten bewegen sich an der dunklen Wand, die mehr
vom Feuer als von der Lampe erhellt wird.
Petrus sucht nach einer Tasse, um
Jesus, der sehr müde zu sein scheint, Milch zu geben. Aber er findet die Milch
nicht und zieht die anderen zur Rechenschaft.
«Das Kind hat die letzte Milch
getrunken. Das übrige bekamen der alte Bettler und die Frau des kranken
Mannes», erklärt Bartholomäus.
«Und der Meister ist leer
ausgegangen! Ihr hättet nicht alles weggeben dürfen.»
«Er selbst hat es so gewollt ...»
«Oh, er möchte es immer so. Aber
man darf ihn nicht machen lassen. Er gibt die Kleider weg, er gibt seine Milch
her, er gibt sich selber hin und verzehrt sich...» Petrus ist unzufrieden.
«Schon gut, Petrus! Geben ist
seliger als nehmen», sagt Jesus ruhig und kehrt aus seiner Geistesabwesenheit
zurück.
«Ja, und du gibst und gibst und
verbrauchst dich. Und je großzügiger du dich zeigst, desto mehr wirst du von
den Menschen ausgenützt.» Nebenbei fegt Petrus mit dürren Blättern, die einen
Duft von bitteren Mandeln und Chrysanthemen ausströmen, den Tisch, um ihn zu
säubern und dann Brot und Wasser daraufzustellen. Dann stellt er einen Becher
vor Jesus.
Jesus gießt sich sofort zu
trinken ein, als ob er großen Durst hätte. Petrus stellt noch einen Becher auf
die andere Seite des Tisches, neben einen Teller mit Oliven und wildem
Fenchel. Er fügt auch eine Schüssel Salat hinzu, den Philippus schon angemacht
hat, und holt mit den anderen einfache Hocker herbei, zusätzlich zu den vier
Stühlen in der Küche, die zu wenig sind für dreizehn Personen. Andreas, der
auf den über der Glut röstenden Fisch achtgegeben hat, legt diesen nun auf
einen Teller und bringt ihn zusammen mit einigen Broten zum Tisch. Johannes
holt die Lampe von ihrem Platz und stellt sie ebenfalls mitten darauf.
Während alle sich zu Tisch
begeben, um das Abendessen einzunehmen, erhebt sich Jesus, betet mit lauter
Stimme, opfert das Brot und segnet die Mahlzeit. Dann nimmt auch er wie die
übrigen Platz und verteilt Brot und Fisch; d.h., er legt den Fisch auf die
großen, flachen, teils frischen, teils schon altbackenen Brote, die jeder vor
sich liegen hat. Dann nehmen die Apostel Salat und benützen dazu die
Holzgabel, die in der Schüssel steckt. Auch für das Gemüse dient die
Brotscheibe als Teller. Nur Jesus hat einen großen, etwas verbeulten
Metallteller vor sich und zerlegt darauf den Fisch, von dem er bald dem einen,
bald dem anderen einen
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köstlichen Bissen gibt. Er
gleicht einem Vater inmitten seiner Söhne, wenngleich Nathanael, Simon der
Zelote und Philippus seine Väter und Matthäus und Petrus seine älteren Brüder
sein könnten.
Sie essen und reden über die
Vorkommnisse des Tages, und Johannes muß herzlich lachen über die Entrüstung
des Petrus über einen Hirten aus den Bergen von Galaad. Dieser hatte verlangt,
daß Jesus zu seiner Herde hinaufsteigt und sie segnet, damit er viel Geld mit
ihr verdienen und seiner Tochter eine beträchtliche Mitgift geben kann.
«Da gibt es nichts zu lachen.
Solange er noch sagte: "Ich habe kranke Schafe, und wenn sie eingehen, bin ich
ruiniert" ' hat er mir leid getan. Das wäre genauso, wie wenn wir Fischer den
Holzwurm im Boot hätten. Dann könnte man nicht mehr fischen und hätte nichts
zu essen. Und alle haben ein Recht auf Nahrung. Aber als er dann sagte: "Ich
will gesunde Schafe, damit ich reich werde und vor dem ganzen Dorf prahlen
kann mit der Aussteuer, die meine Esther bekommt, und mit dem Haus, das ich
mir bauen werde", da hat mich die Wut gepackt, und ich habe ihm gesagt:
"Deswegen hast du einen so weiten Weg zurückgelegt? Liegt dir nichts anderes
am Herzen als die Mitgift, der Reichtum und die Schafe? Hast du denn keine
Seele?" Darauf hat er geantwortet: "Für die bleibt noch genug Zeit. Jetzt sind
die Schafe und die Hochzeit wichtiger, denn er ist eine gute Partie, und
Esther fängt an, alt zu werden." Wenn ich mir nicht die Lehre Jesu vor Augen
gehalten hätte, daß man mit allen barmherzig sein soll, wäre es dem Mann gewiß
schlecht ergangen! Aber ich habe mit ihm geredet, daß ihm Hören und Sehen
verging...»
«Und es hat ausgesehen, als ob du
nicht mehr aufhören wolltest. Du warst ganz außer Atem und deine Halsadern
waren dick angeschwollen», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Der Schäfer war schon lange
weggegangen, da hast du immer noch gepredigt. Und dann sagst du, du könntest
nicht vor den Leuten reden!»fügt Thomas hinzu. Und er umarmt ihn mit den
Worten: «Armer Simon, wie sehr bist du in Zorn geraten!»
«Hatte ich vielleicht nicht
recht? Was ist der Meister? Der Glücksbringer für alle Dummköpfe Israels? Der
Brautwerber für Heiratslustige?»
«Rege dich nicht auf, Simon. Der
Fisch könnte dir schlecht bekommen, wenn du ihn zusammen mit dem Gift
verschluckst», neckt ihn Matthäus gutmütig.
«Du hast recht. Ich spüre in
allem den Geschmack, den die Gastmähler in den Häusern der Pharisäer haben,
wenn ich Brot mit Angst und Fleisch mit Zorn esse.»
Alle lachen. Jesus lächelt und
schweigt.
Die Mahlzeit ist beendet. Satt
und zufrieden sitzen sie in der wohltuenden Wärme um den Tisch herum und
werden müde. Sie reden immer
51
weniger, und einige dösen vor
sich hin. Thomas vergnügt sich damit, einen Blütenzweig mit dem Messer in die
Tischplatte zu ritzen.
Die Stimme Jesu rüttelt sie auf.
Er erhebt seine bisher verschränkten Arme von der Tischkante, breitet sie aus
wie der Priester beim «Dominus vobiscum», und sagt: «Und doch müssen wir
gehen.»
«Wohin, Meister? Zu dem mit den
Schafen?» fragt Petrus.
«Nein, Simon. Zu Lazarus. Wir
kehren nach Judäa zurück.»
«Meister, vergiß nicht, daß die
Juden dich hassen!» meint Petrus.
«Es ist nicht lange her, daß sie
dich sogar steinigen wollten!» sagt Jakobus des Alphäus.
«Aber Meister, das ist
unvorsichtig!» meint Matthäus.
«Denkst du nicht an uns?» fragt
Iskariot.
«Oh, Meister und mein Bruder, ich
beschwöre dich im Namen deiner Mutter und auch im Namen der Gottheit, die in
dir wohnt: laß nicht zu, daß die Teufel sich deiner bemächtigen und dein Wort
ersticken. Du bist allein, zu sehr allein gegen eine ganze Welt, die dich haßt
und hier auf Erden mächtig ist», sagt Thaddäus.
«Meister, schütze dein Leben! Was
würde aus mir, aus uns allen werden, wenn wir dich nicht mehr hätten?»
Johannes schaut ihn mit den weit aufgerissenen Augen eines erschrockenen und
traurigen Kindes an.
Petrus hat sich nach dem ersten
Ausruf umgedreht und redet aufgeregt mit den Älteren und mit Thomas und
Jakobus des Zebedäus. Alle sind der Meinung, daß Jesus nicht in die Umgebung
Jerusalems zurückkehren darf; wenigstens nicht, bevor die Osterzeit einen
Aufenthalt dort sicherer macht, da die Anwesenheit einer großen Anzahl von
Jüngern, die zum Fest aus allen Teilen Palästinas kommen, einen Schutz für den
Meister darstellt. Keiner von denen, die ihn hassen, wird es wagen, ihn
anzurühren, wenn ein ganzes Volk ihn mit seiner Liebe umgibt... Und sie sagen
es ihm, besorgt und beinahe rechthaberisch... Die Liebe läßt sie so sprechen.
«Ruhe! Friede! Hat denn der Tag
nicht zwölf Stunden? Wenn einer am Tag wandert, strauchelt er nicht, denn er
sieht das Licht dieser Welt. Wandert er aber in der Nacht, dann strauchelt er,
denn er sieht nichts. Ich weiß, was ich tue, denn das Licht ist in mir. Laßt
euch führen von dem, der sieht. Und außerdem müßt ihr wissen, daß, solange die
Stunde der Finsternis nicht gekommen ist, nichts Finsteres geschehen kann.
Wenn dann die Stunde gekommen ist, werden keine Entfernung und keine Macht,
nicht einmal die Heere des Caesar, mich vor den Juden erretten können. Denn
was geschrieben steht, muß sich erfüllen, und die Mächte des Bösen arbeiten
schon im verborgenen, um ihr Werk zu vollbringen. Daher laßt mich wirken...
und Gutes tun, solange ich frei bin, es zu tun. Die Stunde wird kommen, da ich
keinen Finger mehr rühren und kein Wort mehr sprechen kann, um Wunder zu
wirken. Meine Kraft wird die Welt verlassen. Eine schreckliche Stunde der
Strafe für den Menschen wird es sein. Nicht
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für mich. Für den Menschen, der
mich nicht lieben wollte. Eine Stunde, die sich wiederholen wird durch den
Willen des Menschen, der die Gottheit so weit von sich gewiesen hat, daß aus
ihm ein von Gott Verlassener, ein Anhänger Satans und seines verfluchten
Sohnes geworden ist. 1) Eine Stunde, die kommen wird, wenn das Ende der Welt
bevorsteht. Der herrschende Unglaube wird meine Wunderkraft versiegen lassen.
Nicht, weil ich sie verlieren könnte, sondern weil das Wunder dort nicht
gewährt werden kann, wo kein Glaube und kein Wille, es zu erlangen, vorhanden
ist; dort, wo man das Wunder zum Gegenstand des Spottes und zum Werkzeug des
Bösen machen und das erhaltene Gute dazu verwenden würde, noch größeres Unheil
anzurichten. Noch kann ich Wunder wirken, und ich werde sie wirken zur höheren
Ehre Gottes. Gehen wir also zu unserem Freund Lazarus, der schläft. Gehen wir,
ihn aus diesem Schlaf zu erwecken, damit er wieder gesund und imstande sei,
seinem Meister zu dienen.»
«Nun, wenn er schläft, ist es ja
gut. Dann wird er gesund werden. Der Schlaf selbst ist schon ein Heilmittel.
Warum ihn aufwecken?» fragen sie.
«Lazarus ist tot. Ich habe
gewartet, bis er tot ist, um nach Bethanien zu gehen; nicht seiner Schwestern
und seinetwegen, sondern euretwegen, damit ihr glaubt. Damit ihr im Glauben
wachst. Gehen wir zu Lazarus.»
«Nun gut! Gehen wir also! So
werden wir alle sterben, wie er gestorben ist und wie du sterben willst», sagt
Thomas im Ton eines resignierten Fatalisten.
«Thomas, Thomas, und ihr alle,
die ihr in eurem Inneren murrt und kritisiert! Wißt, wer mir nachfolgen will,
darf sich um sein Leben nicht mehr sorgen, als der Vogel sich um die
vorüberziehende Wolke sorgt. Er muß sie vorüberziehen lassen, wie auch immer
der Wind wehen mag. Der Wind ist der Wille Gottes, der euch das Leben nach
Gefallen geben oder nehmen kann, und ihr sollt euch nicht bekümmern, wie auch
der Vogel sich nicht um die vorüberziehende Wolke kümmert, sondern fortfährt
zu singen in der Gewißheit, daß der Himmel sich wieder aufheitern wird. Denn
die Wolke ist ein Zwischenfall, der Himmel aber ist die Wirklichkeit. Der
Himmel bleibt immer blau, auch wenn ihn die Wolken mit Grau zu überziehen
scheinen. Er ist und bleibt blau über den Wolken. Und so ist es auch mit dem
wahren Leben. Es ist und bleibt bestehen, auch wenn das menschliche Leben
aufhört. Wer mir nachfolgen will, darf keine Angst vor dem Leben und um sein
Leben haben. Ich werde euch zeigen, wie man den Himmel erobert. Aber wie könnt
ihr mich nachahmen, wenn ihr Angst habt, mit nach Judäa zu kommen, ihr, denen
vorerst nichts Böses angetan werden wird? Fürchtet ihr euch, mit mir gesehen
zu werden? Ihr seid frei,
1) Gemeint ist der Sohn des
Verderbens, der Lügenprophet, der Antichrist, der falsche Messias.
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mich zu verlassen. Aber wenn ihr
bleiben wollt, dann müßt ihr lernen, der Welt mit ihrer Kritik, ihrer Bosheit,
ihrem Spott und ihrem Leiden zu trotzen, um mein Reich zu erobern. Wir werden
also gehen und Lazarus, der schon seit zwei Tagen im Grab ruht, dem Tod
entreißen. Denn er ist am gleichen Abend gestorben, an dem der Diener aus
Bethanien hierher kam. Morgen um die sechste Stunde, nachdem wir alle
entlassen haben, die auf das Morgen warten, um von mir Hilfe und Belohnung für
ihren Glauben zu erhalten, werden wir von hier fortgehen, den Fluß überqueren
und im Haus der Nike übernachten. Bei Sonnenaufgang brechen wir dann auf und
gehen auf der Straße über Ensemes nach Bethanien. Vor der sechsten Stunde
werden wir in Bethanien sein. Viel Volk wird dort sein. Und die Herzen werden
erschüttert werden. Ich habe es versprochen und ich halte mein Versprechen...»
«Wem hast du es versprochen,
Herr?» fragt Jakobus des Alphäus beinahe ängstlich.
«Denen, die mich hassen, und
denen, die mich lieben... Beiden auf unwiderrufliche Weise. Erinnert ihr euch
nicht mehr an den Streit mit den Schriftgelehrten in Kedes? Sie nannten mich
noch immer einen Betrüger, weil ich nur ein eben verstorbenes Mädchen und
einen seit einem Tag toten Mann erweckt hatte. Sie sagten: "Bisher hast du
noch keinen in Verwesung übergegangenen Menschen wieder lebendig gemacht."
Tatsächlich kann nur Gott aus Staub einen Menschen bilden und aus der
Verwesung einen gesunden, lebendigen Körper. Nun, ich werde es tun. Im Monat
Kislew, am Ufer des Jordan, habe ich selbst die Schriftgelehrten an diese
Herausforderung erinnert und gesagt: "Beim neuen Mond wird es sich erfüllen."
Dies für jene, die mich hassen. Den Schwestern jedoch, die mich bedingungslos
lieben, habe ich versprochen, ihren Glauben zu belohnen, wenn sie trotz der
scheinbaren Hoffnungslosigkeit weiter hoffen. Ich habe sie schwer geprüft und
sehr betrübt, und ich allein weiß um die Leiden ihrer Herzen in diesen Tagen
und um ihre vollkommene Liebe. Wahrlich, ich sage euch, sie verdienen eine
große Belohnung, denn mehr noch als den Bruder nicht auferweckt zu sehen,
fürchten sie, daß ich verspottet werden könnte. Ich kam euch abwesend, müde
und traurig vor. Ich war bei ihnen im Geist, und ich hörte ihre Klagen und
zählte ihre Tränen. Arme Schwestern! Nun brenne ich darauf, der Welt einen
Gerechten, den Schwestern einen Bruder und den Jüngern einen Jünger
wiederzugeben. Du weinst, Simon? Ja, du und ich, wir sind die besten Freunde
des Lazarus, und deine Tränen drücken den Schmerz Marthas und Marias und den
Todeskampf des Freundes aus, aber auch die Freude, ihn bald unserer Liebe
zurückgegeben zu wissen. Stehen wir auf, packen wir die Reisesäcke und gehen
wir dann zur Ruhe, damit wir morgen bei Sonnenaufgang wach sind und hier alles
aufräumen können... da eine Rückkehr nicht gewiß ist. Wir müssen an die Armen
verteilen, was wir haben, und
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den Eifrigsten sagen, daß sie die
Pilger davon abhalten sollen, mich zu suchen, bevor ich nicht an einem anderen
sicheren Ort bin. Sie sollen auch die Jünger benachrichtigen, daß sie mich bei
Lazarus finden können. So viel ist zu tun. Und all dies muß getan sein, bevor
die Pilger kommen... Auf, löscht das Feuer und zündet die Lampen an. Jeder
soll tun, was er zu tun hat, und dann zur Ruhe gehen. Der Friede sei mit euch
allen.» Jesus erhebt sich, segnet sie und zieht sich in seine Kammer zurück...
«Er ist schon seit mehreren Tagen
tot!» sagt der Zelote.
«Das wird ein Wunder sein!» ruft
Thomas aus.
«Ich möchte sehen, was sie dann
erfinden werden, um an ihm zu zweifeln!» sagt Andreas.
«Aber wann ist denn der Diener
hier gewesen?» will Iskariot wissen.
«Am Vorabend des Freitags»,
antwortet Petrus.
«Ja? Und warum hast du es uns
nicht gesagt?» fragt wiederum Iskariot.
«Weil der Meister mir aufgetragen
hatte zu schweigen», entgegnet Petrus.
«Also... wenn wir dort
ankommen... wird er schon vier Tage im Grab liegen.»
«Sicher! Freitagabend ein Tag,
Sabbatabend zwei Tage, heute abend drei Tage, morgen vier Tage... Viereinhalb
Tage also... Allmächtiger! Er muß sich ja schon aufgelöst haben!» sagt
Matthäus.
«Er muß sich schon aufgelöst
haben... Ich will auch dies sehen und dann...»
«Was dann, Simon Petrus?» fragt
Jakobus des Alphäus.
«Wenn Israel sich dann nicht
bekehrt, kann es nicht einmal Jahwe mit seinen Blitzen bekehren.»
Und während sie so reden, gehen
sie auseinander.
602. DIE AUFERWECKUNG DES LAZARUS
Jesus kommt von Ensemes nach
Bethanien. Sie müssen einen äußerst anstrengenden Weg zurückgelegt haben über
die halsbrecherischen Pfade der Adummimberge. Die atemlosen Apostel haben
Mühe, Jesus zu folgen, der so rasch dahinschreitet, als ob die Liebe ihn auf
ihren feurigen Schwingen tragen würde. Ein strahlendes Lächeln liegt auf
seinem Antlitz, während er allen mit erhobenem Haupt unter den Strahlen der
warmen Mittagssonne vorangeht.
Noch bevor sie die ersten Häuser
von Bethanien erreicht haben, sieht ihn ein barfüßiger Junge, der mit einer
leeren Kupferkanne zum Brunnen geht. Er schreit auf, stellt die Kanne auf den
Boden und rennt davon, so schnell ihn die Beine tragen, hinein ins Dorf.
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«Gewiß wird er ankündigen, daß du
kommst», bemerkt Judas Thaddäus, nachdem er wie die anderen über den
energischen Entschluß des Jungen gelächelt hat, der sogar seinen Krug
zurückläßt als Beute für den Nächstbesten, der vorbeikommt.
Vom Brunnen aus, der etwas erhöht
liegt, sieht die Ortschaft ruhig und wie verlassen aus. Nur der graue Rauch,
der aus den Kaminen aufsteigt, zeigt an, daß in den Häusern die Frauen damit
beschäftigt sind, das Mittagsmahl zuzubereiten, und einige laute
Männerstimmen, die aus den weiten, stillen Olivenhainen und Obstgärten
dringen, lassen erkennen, daß die Männer bei der Arbeit sind. Dennoch zieht
Jesus es vor, einen schmalen Weg einzuschlagen, der hinter dem Ort
vorbeiführt, um das Haus des Lazarus zu erreichen, ohne die Aufmerksamkeit der
Bewohner zu erregen.
Sie sind ungefähr auf halbem Weg,
als sie hinter sich den Jungen von zuvor hören, der sie eilig überholt und
sich dann in die Mitte der Straße stellt und Jesus nachdenklich ansieht.
«Der Friede sei mit dir, kleiner
Markus. Hast du Angst vor mir gehabt, daß du geflüchtet bist?» fragt Jesus und
streichelt ihn.
«Ich? Nein, Herr, ich habe keine
Angst gehabt. Aber da Martha und Maria seit mehreren Tagen Diener auf die
Straßen schicken, die Ausschau nach dir halten sollen, bin ich losgerannt,
sowie ich dich gesehen habe, um ihnen zu sagen, daß du kommst ...»
«Das hast du gut gemacht. Die
Schwestern werden ihre Herzen auf meine Ankunft vorbereiten.»
«Nein, Herr. Die Schwestern
werden sich nicht vorbereiten, denn sie wissen von nichts. Man hat mir nicht
erlaubt, es ihnen zu sagen. Man hat mich beim Betreten des Gartens gepackt,
als ich sagte: "Der Rabbi ist da." Und man hat mich hinausgejagt mit den
Worten: "Du bist ein Lügner oder ein Dummkopf. Er kommt nicht mehr, denn jetzt
ist es gewiß, daß er kein Wunder mehr wirken kann." Und weil ich gesagt habe,
daß du es wirklich bist, haben sie mir zwei Ohrfeigen gegeben, wie ich noch
nie welche bekommen habe... Sieh nur meine roten Backen. Sie brennen! Und sie
haben mich hinausgeschoben und gesagt: "Dies ist zu deiner Reinigung, weil du
einen Teufel gesehen hast." Und ich habe dich jetzt genau angeschaut, um zu
sehen, ob du ein Teufel geworden bist. Aber ich merke nichts davon... Du bist
immer noch mein Jesus und schön wie die Engel, von denen Mama mir erzählt.»
Jesus beugt sich nieder, um die
geschlagenen Wangen zu küssen, und sagt: «So vergeht das Brennen. Es tut mir
leid, daß du meinetwegen leiden mußtest.»
«Es macht nichts, Herr, denn die
Ohrfeigen haben mir zwei Küsse von dir eingebracht.» Und der Junge hängt sich
an Jesus in der Hoffnung auf weitere Liebkosungen.
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«Sag einmal, Markus! Wer ist es,
der dich fortgejagt hat? Die Leute des Lazarus?» fragt Thaddäus.
«Nein, die Juden. Sie kommen alle
Tage, um ihr Beileid zu bezeigen. Es sind so viele! Sie sind im Haus und im
Garten, kommen früh und gehen spät und tun so, als ob sie die Herren des
Hauses wären. Sie mißhandeln alle. Siehst du, niemand traut sich mehr auf die
Straße. Die ersten Tage kamen die Leute und schauten... aber dann... Nun gehen
nur noch wir Kinder hinaus, um... Oh, mein Krug! Die Mama wartet auf das
Wasser... Nun wird auch sie mich schlagen... !»
Alle lächeln über seine Sorge
wegen der voraussichtlichen weiteren Ohrfeigen, und Jesus sagt: «Also, dann
geh schnell ...»
«Aber... ich wollte mit dir
hineingehen und dich das Wunder wirken sehen ...» Und er fügt hinzu: «Ich
wollte ihre Gesichter sehen... um mich für die Ohrfeigen zu rächen...»
«Das nicht. Du darfst nicht
rachsüchtig sein. Du mußt brav sein und verzeihen können... Aber die Mama
wartet auf das Wasser ...»
«Ich werde an seiner Stelle
gehen, Meister. Ich weiß, wo Markus wohnt, und ich werde der Mutter alles
erklären und dann zurückkommen ...» sagt Jakobus des Zebedäus und läuft fort.
Sie setzen langsam ihren Weg
fort, und Jesus hält den jubelnden Knaben an der Hand...
Nun sind sie am Gitter des
Gartens und gehen daran entlang. Viele Reittiere sind dort angebunden und
werden von den Dienern der jeweiligen Eigentümer bewacht. Das Flüstern, das
bei ihrer Ankunft einsetzt, zieht die Aufmerksamkeit einiger Juden auf sich.
Und sie wenden sich genau in dem Augenblick dem geöffneten Tor zu, als Jesus
den Garten betritt.
«Der Meister!» sagen die ersten,
die ihn sehen, und das Wort eilt wie das Rauschen des Windes von Gruppe zu
Gruppe und breitet sich aus wie eine Woge, die von weither kommt und am Ufer
zerschellt, bis zu den Mauern des Hauses und dringt ins Innere. Gewiß
überbringt es einer der vielen anwesenden Juden oder auch einer der da und
dort herumstehenden Pharisäer, Rabbis, Schriftgelehrten und Sadduzäer.
Jesus geht sehr langsam weiter,
während alle anderen, die von überall herbeieilen, den Weg säumen, auf dem er
dahinschreitet. Und da ihn niemand grüßt, grüßt auch er niemanden, so als ob
er nicht viele der dort Versammelten kennen würde. Diese betrachten ihn mit
zorn- und haßerfüllten Blicken, mit Ausnahme der Wenigen, die heimliche Jünger
oder wenigstens rechtschaffenen Herzens sind, auch wenn sie ihn nicht als
Messias lieben, und ihn als einen Gerechten achten. Diese sind Joseph,
Nikodemus, Johannes, Eleazar, der andere Johannes, der Schriftgelehrte, den
ich bei der Brotvermehrung gesehen habe, und ein dritter Johannes, der die
Leute nach der Bergpredigt mit Nahrung versorgt hat; außerdem Gamaliel mit
seinem Sohn, Josua, Joachim, Manaen, der Schriftgelehrte
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Joel des Abija, dem ich bei der
Episode mit Sabäa am Jordan begegnet bin, Joseph Barnabas, der Schüler des
Gamaliel, und Chuza, der Jesus von weitem betrachtet, etwas schüchtern, da er
ihn nun nach dem begangenen Fehler wiedersieht; oder vielleicht verbietet ihm
auch die Achtung vor den anderen, sich Jesus als Freund zu nähern. Tatsache
ist, daß weder die Freunde und wohlgesinnten Beobachter, noch die Feinde ihn
grüßen. Und auch Jesus grüßt niemanden. Er hat sich darauf beschränkt, beim
Betreten des Gartenweges eine allgemeine Verneigung zu machen. Dann ist er
weitergegangen, als ob er der ganzen Menge, die ihn umgibt, fremd wäre. Der
kleine Junge läuft in seinem bäuerlichen Gewand und mit den nackten Füßen
eines armen Kindes neben ihm her. Doch sein Gesicht strahlt wie an einem
Festtag und seine lebhaften, schwarzen Augen sehen alles... und blicken alle
herausfordernd an.
Martha kommt aus dem Haus
inmitten einer Gruppe jüdischer Besucher, darunter Elchias und Sadok. Sie
beschattet mit der Hand ihre vom Weinen müden Augen, die das Licht schmerzt,
und blickt sich nach Jesus um. Nun sieht sie ihn, verläßt ihre Begleiter und
eilt auf den Meister zu, der sich bis auf einige Schritte dem Wasserbecken
genähert hat, das im Sonnenlicht glitzert. Sie wirft sich nach einer ersten
Verbeugung Jesus zu Füßen, küßt diese und sagt, während sie in Tränen
ausbricht: «Der Friede sei mit dir, Meister.»
Auch Jesus sagt, sobald er sie
erblickt hat: «Der Friede sei mit dir!»und erhebt die Hand, um sie zu segnen,
wobei er die des Kindes losläßt. Bartholomäus nimmt nun das Kind bei der Hand
und zieht es etwas nach hinten.
Martha fährt fort: «Für deine
Dienerin gibt es keinen Frieden mehr!»Noch kniend erhebt sie das Antlitz zu
Jesus und mit einem Schmerzensschrei, den man in dem entstandenen Schweigen
sehr laut hört, ruft sie aus: «Lazarus ist tot! Wärest du hier gewesen, wäre
er nicht gestorben. Warum bist du nicht früher gekommen, Meister?» In dieser
Frage liegt ein ungewollter Vorwurf. Dann spricht sie weiter mit der matten
Stimme eines Menschen, der keine Kraft mehr hat, Vorwürfe zu machen, und
seinen einzigen Trost darin findet, sich an die letzten Augenblicke und
Wünsche eines Angehörigen zu erinnern, dem man alle Wünsche zu erfüllen
versucht hat, weshalb man sich auch keine Vorwürfe zu machen braucht: «Er hat
so sehr nach dir verlangt, unser Bruder... ! Sieh! Nun leide ich, und Maria
weint und kann keinen Frieden finden. Er ist nicht mehr unter uns. Und du
weißt, wie sehr wir ihn geliebt haben! Wir hatten unsere ganze Hoffnung in
dich gesetzt... !»
Ein Flüstern des Mitleids für die
Frau und des Vorwurfs für Jesus, und Zustimmung zu dem unausgesprochenen
Gedanken: «Du hättest uns erhören können, denn wir haben es verdient durch
unsere Liebe zu dir, doch du hast uns enttäuscht!» läuft von einer Gruppe zur
anderen, begleitet
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von Kopfschütteln und hämischen
Blicken. Nur die wenigen geheimen Jünger in der Menge werfen Jesus, der bleich
und traurig der schmerzerfüllten Frau zuhört, mitleidvolle Blicke zu. Gamaliel
steht ein wenig abseits inmitten einer Gruppe von Jünglingen, unter denen sich
auch sein Sohn und Joseph Barnabas befinden. Die Arme über der Brust gekreuzt,
in seinem weiten, reichen Gewand aus feinster Wolle mit -blauen Fransen,
schaut er Jesus fest an, ohne Haß und ohne Liebe.
Martha fährt fort, nachdem sie
sich die Tränen abgetrocknet hat: «Aber auch jetzt hoffe ich noch, denn ich
weiß, daß dir alles, was du vom Vater erbittest, gewährt wird.» Ein
schmerzliches, heroisches Glaubensbekenntnis, das sie mit tränenerstickter
Stimme ausspricht, während Angst in ihrem Blick zittert und die letzte
Hoffnung ihr Herz erfüllt.
«Dein Bruder wird auferstehen.
Erhebe dich, Martha!»
Martha steht auf, bleibt jedoch
in verehrungsvoller, gebeugter Haltung vor Jesus stehen, dem sie antwortet:
«Ich weiß, Meister. Er wird auferstehen am Jüngsten Tag.»
«Ich bin die Auferstehung und das
Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er tot ist. Und wer glaubt
und in mir lebt, wird in Ewigkeit nicht sterben! Glaubst du dies alles?»
Jesus, der zuerst leise und nur zu Martha gesprochen hat, erhebt nun seine
Stimme, um diese Worte zu sagen, mit denen er seine göttliche Macht bekundet,
und der Wohlklang seiner Stimme hallt im weiten Garten wie der Schlag einer
goldenen Glocke nach. Ein fast ängstlicher Schauder erfaßt die Umstehenden;
dann aber fangen einige an, höhnisch zu lachen und die Köpfe zu schütteln.
Martha, der Jesus immer stärkere
Hoffnung einflößen zu wollen scheint, indem er ihr eine Hand auf die Schulter
legt, erhebt ihr Antlitz, das zu Boden geneigt war. Sie schaut zu Jesus auf,
heftet ihren schmerzerfüllten Blick auf seine strahlenden Augen, preßt die
Hände auf die Brust und antwortet nun in erneuter, aber anders gearteter
Erregung: «Ja, Herr, ich glaube es. Ich glaube, daß du Christus, der Sohn des
lebendigen Gottes bist, der in die Welt gekommen ist, und daß du alles kannst,
was du willst. Ich glaube. Nun will ich Maria verständigen.» Und sie entfernt
sich rasch und verschwindet im Haus.
Jesus bleibt, wo er ist. Das
heißt, er macht ein paar Schritte vorwärts und bleibt bei dem Beet stehen, das
das Becken umgibt. Der Sprühregen des Wasserstrahles, den ein leichter Wind
auf diese Seite neigt und der einem silbernen Federbusch gleicht, bedeckt
Blätter und Blüten mit kleinen, funkelnden Tröpfchen. Es hat den Anschein, daß
Jesus sich in die Betrachtung der unter dem Schleier dieses klaren Wassers
schnellenden Fische verliert, die mit ihren Spielen dem von der Sonne bewegten
wäßrigen Kristall silberne Punkte und goldene Reflexe aufsetzen.
Die Juden beobachten ihn. Sie
haben sich unbewußt in zwei sehr verschiedene Gruppen geteilt. Auf einer
Seite, Jesus gegenüber, stehen alle,
59
die ihm feindlich gesinnt sind.
Für gewöhnlich gespalten in ihrer sektiererischen Gesinnung, sind sie nun
vereint, um Jesus zu bekämpfen. Auf seiner Seite, hinter den Aposteln, zu
denen sich wieder Jakobus des Zebedäus gesellt hat, stehen Joseph, Nikodemus
und die anderen ihm Wohlgesinnten. Etwas weiter entfernt, immer am gleichen
Platz und in derselben Haltung, sehe ich Gamaliel. Allein. Denn sein Sohn und
seine Schüler haben ihn alleingelassen und sich auf die beiden großen Gruppen
aufgeteilt, um näher bei Jesus zu sein.
Mit ihrem üblichen Ruf: «Rabbuni!»
und ausgestreckten Armen eilt Maria aus dem Haus auf Jesus zu und wirft sich
ihm zu Füßen. Sie küßt sie laut schluchzend, und einige Juden, die bei ihr im
Haus waren und ihr gefolgt sind, vereinen ihre Klagen von zweifelhafter
Aufrichtigkeit mit den ihren. Auch Maximinus, Marcella, Sara, Noemi und alle
Diener sind Maria gefolgt, und ein lautes, schrilles Klagen erfüllt nun den
Garten. Mir scheint, daß niemand mehr im Haus geblieben ist. Martha, die Maria
so heftig weinen sieht, weint nun ebenso.
«Der Friede sei mit dir, Maria!
Steh auf! Sieh mich an! Warum dieses trostlose Weinen, wie jemand, der keine
Hoffnung hat?» Jesus beugt sich über sie, um leise diese Worte zu sagen,
während er Maria in die Augen blickt. Sie hat sich, vor ihm kniend, auf die
Fersen gesetzt, streckt ihm flehend die Hände entgegen und kann vor Schluchzen
nicht sprechen. «Habe ich dir nicht gesagt, daß du hoffen sollst wider alle
Hoffnung, um die Herrlichkeit Gottes zu sehen? Hat sich denn dein Meister
geändert, daß du Grund zu solcher Verzweiflung hast?»
Aber Maria begreift die Worte
nicht, die sie schon auf die große, zu große Freude vorbereiten wollen nach so
viel Leid, und sie ruft, endlich wieder ihrer Stimme mächtig: «Oh, Herr! Warum
bist du nicht früher gekommen? Warum bist du so weit fortgegangen? Du hast
doch gewußt, daß Lazarus krank ist! Wenn du hier gewesen wärest, wäre mein
Bruder nicht gestorben! Warum bist du nicht gekommen? Ich mußte ihm doch noch
zeigen, daß ich ihn liebe. Und er hätte leben müssen. Ich mußte ihm doch noch
beweisen, daß ich im Guten ausharre. Ich habe meinen Bruder so sehr gequält!
Und nun? Nun, da ich ihn hätte glücklich machen können, ist er mir entrissen
worden. Du hättest ihn mir lassen können. Du hättest der armen Maria die
Freude machen können, ihn trösten zu dürfen, nachdem sie ihm so viel Schmerz
bereitet hat. Oh, Jesus! Jesus! Mein Meister! Mein Erlöser! Meine Hoffnung!»
Und sie läßt sich wieder zu Boden fallen, die Stirn auf den Füßen Jesu, die
Marias Tränen noch einmal waschen, und klagt: «Warum hast du das getan, o
Herr? Hast du nicht an jene gedacht, die dich hassen und sich nun über das
Geschehene freuen... Warum hast du das getan, Jestis?» Aber es liegt kein
Vorwurf in der Stimme Marias, wie es bei Martha der Fall war, nur der Schmerz
der Schwester, die zudem noch die Not der
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Jüngerin erleidet, das Ansehen
Jesu in den Herzen so vieler geschmälert zu sehen.
Jesus, der sich tief
hinuntergebeugt hat, um diese Worte zu hören, die mit dem Gesicht zum Boden
geflüstert worden sind, richtet sich nun auf und sagt laut: «Maria, weine
nicht! Auch dein Meister ist betrübt, weil sein treuer Freund gestorben ist...
weil er ihn sterben lassen mußte...»
Oh, welch ein Grinsen und welch
gehässige Schadenfreude auf den Gesichtern der Feinde Jesu. Sie glauben ihn
besiegt und freuen sich, während die Freunde immer trauriger werden.
Jesus sagt noch lauter: «Ich aber
sage dir: Weine nicht! Steh auf! Sieh mich an! Glaubst du, daß ich, der ich
dich so sehr geliebt habe, dies ohne guten Grund getan habe? Kannst du
glauben, daß ich dir diesen Schmerz unnötig zugefügt habe? Komm, wir wollen zu
Lazarus gehen. Wo habt ihr ihn hingelegt?»
Jesus fragt weniger Maria und
Martha, die, von immer stärkerem Schluchzen überwältigt, nicht sprechen
können, als alle anderen, besonders jene, die mit Maria aus dem Haus gekommen
sind und am allertraurigsten zu sein scheinen. Vielleicht sind es ältere
Verwandte, ich weiß es nicht. Sie antworten Jesus, der sichtlich betrübt ist:
«Komm und sieh!»und gehen in Richtung des Grabes, das am Ende des Obstgartens
liegt, dort, wo der Erdboden uneben wird und die Kalkfelsen hervortreten.
Martha geht an der Seite Jesu,
der Maria zum Aufstehen gezwungen hat und sie nun führt, da das viele Weinen
ihre Augen trübt. Sie weist Jesus mit der Hand die Stelle, an der Lazarus
liegt. Und als sie angekommen sind, sagt sie noch: «Hier ist es, Meister, hier
haben wir deinen Freund beigesetzt», und zeigt auf einen Stein, der schräg vor
dem Eingang der Gruft liegt.
Jesus ist auf dem Weg dorthin,
von allen gefolgt, an Gamaliel vorübergegangen. Doch weder er noch Gamaliel
hat gegrüßt. Gamaliel hat sich dann zu den anderen gesellt und ist wie alle
strengen Pharisäer einige Meter vom Grab entfernt stehengeblieben, während
Jesus mit den Schwestern, Maximinus und denen, die anscheinend Verwandte sind,
ganz nahe herangegangen ist. Jesus betrachtet den schweren Stein, der als Türe
dient und ein ebenso schweres Hindernis bildet zwischen ihm und dem toten
Freund. Er weint. Das Weinen der Schwestern und auch das der Nahestehenden und
Angehörigen wird stärker.
«Entfernt diesen Stein!» ruft
Jesus plötzlich, nachdem er seine Tränen getrocknet hat.
Eine Bewegung des Erstaunens und
ein Flüstern geht durch die Menge, die sich noch um einige Bewohner Bethaniens
vergrößert hat, die in den Garten zu den übrigen Besuchern gekommen sind. Ich
sehe einige Pharisäer, die sich an die Stirn greifen und den Kopf schütteln,
als ob sie sagen wollten: «Er ist verrückt!»
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Niemand befolgt den Befehl. Auch
die Getreuesten schrecken zurück und zögern.
Jesus wiederholt seinen Befehl
noch lauter und versetzt die Anwesenden in noch größere Bestürzung. Sie
schwanken zwischen einander entgegengesetzten Gefühlen, einerseits dem Wunsch
zu fliehen, und andererseits dem Wunsch, sich noch mehr zu nähern, um zu
sehen, ungeachtet des Geruches, der aus dem Grab dringen wird, das Jesus zu
öffnen gebietet.
«Meister, es ist nicht möglich»,
sagt Martha, die sich bemüht, die Tränen zurückzuhalten, um sprechen zu
können. «Seit vier Tagen ist er schon unter der Erde, und du weißt, an welcher
Krankheit er gestorben ist! Nur unsere Liebe konnte ihn pflegen... Nun riecht
er gewiß schon viel stärker, trotz aller Salben... Was willst du sehen? Seinen
verwesten Leib? ... Es geht nicht... auch wegen der Verunreinigung durch die
Zersetzung und...»
«Habe ich dir nicht gesagt, daß
du die Herrlichkeit Gottes sehen wirst, wenn du glaubst? Entfernt diesen
Stein. Ich will es!»
Es ist eine laute Kundgebung
göttlichen Willens... Und ein unterdrücktes «Oh!» kommt aus den Mündern aller.
Die Gesichter erbleichen. Einige zittern, als ob eisige Todeskälte sie umweht
hätte.
Martha gibt Maximinus ein
Zeichen, und dieser gebietet den Dienern, Werkzeuge zu holen, mit denen man
den Stein entfernen kann.
Die Diener eilen fort und kommen
mit Pickeln und starken Brecheisen zurück. Sie schlagen die glänzenden Spitzen
der Pickel zwischen den Fels und die Grabplatte, nehmen dann statt der Pickel
die Brecheisen, heben bedächtig den Stein, schieben ihn zur Seite und lehnen
ihn vorsichtig an den Fels. Ein pestartiger Gestank dringt aus der dunklen
Höhle und läßt alle zurückweichen.
Martha fragt leise: «Meister,
willst du hinuntersteigen? Wenn ja, dann lasse ich Fackeln holen ...» Aber sie
erbebt bei dem Gedanken, dies tun zu müssen.
Jesus antwortet ihr nicht. Er
erhebt die Augen zum Himmel, breitet die Arme in Kreuzform aus und betet mit
lauter Stimme, jedes Wort betonend: «Vater, ich danke dir, daß du mich erhört
hast! Ich wußte ja, daß du mich immer erhörst. Aber wegen der hier Anwesenden,
wegen des ringsum stehenden Volkes habe ich es gesagt, damit sie glauben an
dich, an mich und daran, daß du mich gesandt hast!»
Jesus verweilt noch einige Zeit
in derselben Haltung. Er scheint in Ekstase zu sein, so verklärt ist er,
während er lautlos noch andere geheime Worte des Gebetes oder der Verehrung
spricht, ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, daß Jesus so übermenschlich
erscheint, daß einem das Herz in der Brust erzittert, wenn man ihn ansieht. Es
sieht aus, als ob sein Körper sich in Licht verwandeln, vergeistigen, größer
werden und über der Erde
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schweben würde. Obwohl die Farben
der Haare, der Augen, der Haut und der Kleider sich nicht verändern wie bei
der Verklärung auf dem Tabor, als alles zu blendendem Licht und Glanz wurde,
scheint Jesus Licht auszustrahlen und selbst Licht zu werden. Das Licht
scheint ihn ganz einzuhüllen, besonders das zum Himmel erhobene, gewiß durch
die Schauung des Vaters verzückte Antlitz.
Jesus steht eine Weile so da,
dann kommt er wieder zu sich: der Mensch, aber nun angetan mit Macht und
Majestät. Er begibt sich zur Schwelle des Grabes und streckt die Arme, die er
bisher in Kreuzform und mit zum Himmel gekehrten Handflächen gehalten hat,
nach vorne. Die Hände sind jetzt schon in der Höhle des Grabes und heben sich
hell von deren Dunkel ab. Aus den Augen Jesu sprüht bläuliches Feuer, dessen
wundertätiger Schein heute, in dieser stummen Schwärze, unerträglich ist, und
mit mächtiger Stimme, mit einem noch lauteren Ruf als dem, mit welchem er auf
dem See dem Sturm befahl, mit einer Stimme, wie ich sie bei keinem anderen
Wunder gehört habe, ruft er: «Lazarus! Komm heraus!» Die Stimme hallt als Echo
aus der Grabeshöhle wider und verbreitet sich dann durch den ganzen Garten,
schallt von den Hügeln Bethaniens zurück, und ich meine, sie erreicht sogar
die Hänge jenseits der Felder und kehrt von dort vielstimmig und nur etwas
gedämpft wieder, wie ein unwiderruflicher Befehl. Von vielen Seiten hört man
das Echo: «Heraus! Heraus! Heraus!»
Alle erschauern zutiefst, und
wenn auch die Neugierde sie an ihre Plätze bannt, so sind doch die Gesichter
bleich, die Augen weit offen, und die Münder öffnen sich unbewußt, während aus
den Kehlen Rufe des Staunens dringen.
Martha, die etwas weiter hinten
seitlich steht, schaut Jesus verzückt an. Maria fällt auf die Knie, sie, die
nie von der Seite ihres Meisters gewichen ist, fällt am Eingang des Grabes auf
die Knie. Eine Hand preßt sie aufs Herz, um sein heftiges Schlagen zu
beruhigen, mit der anderen hält sie unbewußt und krampfhaft einen Zipfel des
Mantels Jesu, und man merkt, daß sie zittert, denn eine leichte Erschütterung
überträgt sich von der Hand auf den Mantel.
Etwas Weißes scheint aus der
dunklen Tiefe der Höhle zu kommen. Erst ist es nur eine schmale geschweifte
Linie, dann wird es ein Oval, und schließlich fügen sich dem Oval breitere und
längere, immer länger werdende Linien an. Und der Tote in seinen Binden kommt
langsam vorwärts, immer besser erkennbar, geisterhaft, beeindruckend.
Jesus weicht zurück, weiter
zurück, fast unmerklich, doch fortwährend, je weiter Lazarus herauskommt, und
so bleibt die Entfernung zwischen beiden immer dieselbe.
Maria ist gezwungen, den Zipfel
des Mantels loszulassen, aber sie rührt sich nicht von der Stelle. Die Freude,
die Erregung, alles zusammen hält sie an ihrem Platz fest.
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Ein immer deutlicheres «Oh!»
dringt aus den zuvor in gespannter Erwartung wie zugeschnürten Kehlen, und aus
dem kaum hörbaren Flüstern werden laute Stimmen, aus den Stimmen mächtige
Schreie.
Lazarus hat nun die Schwelle
erreicht und bleibt dort stehen, steif und stumm wie eine Gipsstatue, die eben
aus der Form kommt... Ein unförmiges, langes Etwas, am Kopf und an den Beinen
dünn, am Rumpf etwas breiter, grausig wie der Tod selbst, geisterhaft in den
weißen Tüchern vor dem dunklen Hintergrund des Grabes. Im Licht der Sonne
scheinen die Bandagen da und dort schon von Fäulnis durchtränkt.
Jesus ruft laut:«Befreit ihn von
den Binden und laßt ihn gehen. Gebt ihm Kleider und zu essen!»
«Meister... !» sagt Martha, und
sie würde vielleicht mehr sagen, aber Jesus sieht sie fest an, unterwirft sie
mit seinem flammenden Blick und spricht: «Hier! Sofort! Bringt ein Gewand!
Kleidet ihn in Gegenwart aller an und gebt ihm dann zu essen!» Jesus befiehlt
und beachtet die neben und hinter ihm Stehenden nicht. Er blickt nur auf
Lazarus, auf Maria, die neben dem Auferstandenen steht und sich nicht um den
Ekel kümmert, den die fleckigen Binden bei allen hervorrufen, und auf Martha,
die keucht, als ob ihr das Herz zerspringen wollte, und nicht weiß, ob sie vor
Freude schreien oder weinen soll...
Die Diener beeilen sich, die
Befehle Jesu auszuführen. Noemi eilt als erste fort und kommt auch als erste
zurück mit den über den Arm geworfenen Gewändern. Einige lösen die Enden der
Bandagen, nachdem sie sich die Ärmel aufgekrempelt und die Gewänder geschürzt
haben, damit sie nicht mit der durchsickernden Fäulnis in Berührung kommen.
Marcella und Sara kommen mit Gefäßen voll wohlriechender Salben. Diener folgen
ihnen mit dampfend heißem Wasser in Becken und Krügen, Bechern mit Milch und
Wein, mit Obst und Honigkuchen.
Die schmalen, sehr langen Binden,
mir scheint aus Linnen, mit Borten an beiden Seiten und sicher eigens für
diesen Gebrauch gewoben, werden wie Bänder von einer großen Spule abgerollt
und fallen schwer zu Boden, da sie von Essenzen und Fäulnis durchtränkt sind.
Die Diener schieben sie mit Stöcken beiseite. Sie haben am Kopf begonnen, und
auch dort ist Fäulnis, die wohl aus Nase, Ohren und Mund kommt. Das über das
Gesicht gebreitete Schweißtuch ist naß von diesem Ausfluß, und das Antlitz des
Lazarus, mit der Salbe auf den geschlossenen Augen, mit den verklebten Haaren
und dem spärlichen Bärtchen am Kinn ist ganz und gar nicht schön. Langsam
fällt das Leichentuch, das Grabtuch, das um den Körper gewickelt war, so wie
auch die Binden immer weiter fallen, allmählich den seit Tagen eng umwundenen
Rumpf freigeben und dem, was bisher einer großen Larve ähnlich war, wieder
menschliche Gestalt verleihen. Die knochigen Schultern, die zum Skelett
abgemagerten Arme, die kaum von Haut bedeckten Hüften und der eingefallene
Leib kommen nach und nach
64
zum Vorschein. Und so wie die
Binden fallen, bemühen sich die Schwestern, Maximinus und die Diener, die
dicke Schicht von Fäulnis und Salben zu entfernen. Und sie tun es so lange,
mit immer wieder erneuertem Wasser, dessen reinigende Wirkung man durch
hinzugefügte Essenzen verstärkt hat, bis die Haut vollkommen sauber ist.
Kaum ist sein Gesicht
ausgewickelt und gereinigt, so daß er sehen kann, und noch bevor er die
Schwestern ansieht, richtet Lazarus mit einem Lächeln der Liebe auf den
blassen Lippen und einem feuchten Schimmer in den tiefliegenden Augen seinen
Blick auf Jesus. Alles andere, was um ihn herum vorgeht, übersieht er und
beachtet es nicht. Auch Jesus lächelt ihm zu, und Tränen glänzen in seinen
Augen. Dann weist er wortlos zum Himmel, und Lazarus begreift und bewegt die
Lippen in lautlosem Gebet.
Martha glaubt, daß Lazarus etwas
sagen will, aber noch nicht dazu fähig ist, und fragt: «Was willst du mir
sagen, mein Lazarus ?»
«Nichts, Martha. Ich habe dem
Allerhöchsten gedankt.» Seine Stimme ist klar und kräftig.
Das Volk stößt wieder ein
erstauntes «Oh!» aus.
Nun haben sie Lazarus bis zu den
Hüften ausgewickelt und gereinigt. Sie können ihm eine kurze Tunika
überwerfen, eine Art Hemd, das über die Leisten hinabreicht und die Schenkel
noch teilweise bedeckt.
Sie fordern ihn auf, sich zu
setzen, um ihm die Beine auswickeln und waschen zu können. Als diese sichtbar
werden, schreien Martha und Maria gleichzeitig auf und zeigen auf die Beine
und die Binden. Auf den um die Beine gewickelten Binden und dem Linnen
darunter sind die Absonderungen der Fäulnis so reichlich, daß sie kleine
Rinnsale auf dem Stoff bilden, während die Beine vollkommen vernarbt zu sein
scheinen. Nur die blaßroten Narben erinnern noch an die Geschwüre.
Alle Anwesenden schreien nun noch
lauter vor Staunen. Jesus lächelt, und auch Lazarus, der einen Augenblick
seine geheilten Beine betrachtet und sich dann wieder abwendet und Jesus
ansieht, lächelt. Es scheint, als könne Lazarus sich nicht sattsehen an ihm.
Die Juden, Pharisäer, Sadduzäer, Schriftgelehrten und Rabbis treten vor, aber
sehr vorsichtig, um ihre Gewänder nicht zu verunreinigen. Sie betrachten
Lazarus und auch Jesus aus allernächster Nähe. Doch weder Lazarus noch Jesus
kümmern sich um sie. Sie blicken einander an, und alles andere ist
bedeutungslos.
Nun legt man Lazarus die Sandalen
an. Er steht gewandt und sicher auf, nimmt das Gewand, das Martha ihm reicht,
wirft es sich selbst über, befestigt den Gürtel und ordnet die Falten. Da
steht er, mager und bleich, doch ein Mensch wie alle anderen. Er wäscht sich
nochmals die Hände und die Arme bis zu den Ellenbogen, nachdem er die Ärmel
zurückgeschlagen hat. Dann, mit frischem Wasser, erneut das Gesicht und den
Kopf, bis er sich ganz sauber fühlt. Er trocknet das Haar und das Gesicht,
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gibt dem Diener das Handtuch
zurück und geht geradewegs zu Jesus, um sich vor ihm niederzuwerfen und ihm
die Füße zu küssen.
Jesus neigt sich zu ihm, richtet
ihn auf, drückt ihn an sein Herz und sagt: «Willkommen, mein Freund! Der
Friede und die Freude seien mit dir. Du sollst leben, und dein glückliches Los
soll sich erfüllen. Erhebe dein Antlitz, damit ich dir den Willkommenskuß
geben kann.» Und er küßt Lazarus auf die Wangen und Lazarus küßt ihn.
Erst nachdem Lazarus den Meister
verehrt und geküßt hat, spricht er mit den Schwestern und küßt auch sie. Dann
küßt er Maximinus und Noemi, die vor Freude weinen, und einige von denen, die
ich für Verwandte oder intime Freunde halte. Schließlich küßt er auch Joseph,
Nikodemus, Simon den Zeloten und noch einige mehr.
Jesus geht persönlich zu einem
Diener, der ein Tablett mit Speisen auf den Armen hält, und nimmt einen
Honigkuchen, einen Apfel und einen Becher Wein, die er, nachdem er sie
aufgeopfert und gesegnet hat, Lazarus anbietet, damit er sich stärken kann.
Und Lazarus ißt mit dem gesunden Appetit eines Menschen, der sich wohlfühlt.
Alle stoßen wiederum ein überraschtes «Oh!» aus.
Es scheint, als ob Jesus nur
Lazarus sähe, doch in Wirklichkeit beobachtet er alles und alle. Und als er
sieht, daß Sadok, Elchias, Chananias, Felix, Doras, Cornelius und andere Miene
machen, sich mit zornigen Gebärden zu entfernen, sagt er laut: «Warte einen
Augenblick, Sadok! Ich muß dir etwas sagen. Dir und Deinesgleichen!»
Sie bleiben stehen und machen
Gesichter wie ertappte Verbrecher.
Joseph von Arimathäa ist
sichtlich bestürzt und gibt dem Zeloten ein Zeichen, Jesus zurückzuhalten.
Aber er geht schon auf die haßerfüllte Gruppe zu und sagt ebenso laut: «Genügt
dir, was du gesehen hast, Sadok? Eines Tages hast du mir gesagt, um an mich
glauben zu können, müßtest du – du und Deinesgleichen – sehen, wie ein schon
verwester Toter wieder ganz und gesund wird. Hast du genug Verwesung gesehen?
Bist du imstande zu bekennen, daß Lazarus tot war und nun lebendig ist, so
lebendig und gesund, wie er es seit Jahren nicht mehr gewesen ist? Ich weiß,
ihr seid gekommen, um diese hier zu versuchen und ihnen noch größeren Schmerz
zu bereiten, ihre Zweifel noch zu verstärken. Ihr seid gekommen in der
Hoffnung, mich im Zimmer des Sterbenden versteckt zu finden. Ihr seid
gekommen, nicht aus dem Gefühl der Liebe und dem Wunsch, den Verstorbenen zu
ehren, sondern um euch zu vergewissern, daß Lazarus wirklich tot war. Und ihr
seid immer wieder gekommen und habt immer mehr gejubelt, je mehr Zeit
vergangen ist. Wenn es so gegangen wäre, wie ihr es euch erhofft habt, wie ihr
nun glaubtet, daß es gehen würde, dann hättet ihr allen Grund zum Jubeln
gehabt. Der Freund, der alle heilt, aber seinen Freund nicht heilt. Der
Meister, der jegliches Vertrauen belohnt, aber nicht das seiner Freunde in
Bethanien. Der Meister,
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dessen Ohnmacht sich vor der
Wirklichkeit des Todes offenbart. Das war es, worüber ihr gejubelt habt. Aber
nun hat Gott euch geantwortet. Kein Prophet konnte je auferwecken, was nicht
nur tot, sondern schon verwest war. Gott hat es getan. Hier ist das lebendige
Zeugnis dafür, wer ich bin. Es gab einen Tag, da Gott Lehm nahm, einen Leib
formte und ihm den Lebensodem einhauchte, und der Mensch war erschaffen. Und
ich habe damals gesagt: "Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und
Gleichnis." Denn ich bin das Wort des Vaters. Heute habe ich, das Wort, zu
dem, was noch weniger war als Lehm, was Verwesung war, gesagt: "Lebe!" und die
Verwesung wurde wieder zu Fleisch, zu gesundem Fleisch, das lebt und pulsiert.
Und es sieht euch an. Und dem Fleisch habe ich den Geist zurückgegeben, der
schon seit Tagen in Abrahams Schoß ruhte. Ich habe ihn zurückgerufen durch
meinen Willen. Denn ich vermag alles. Ich, der Lebendige, der König der
Könige, dem alle Geschöpfe und Dinge unterworfen sind. Was habt ihr mir nun zu
sagen?»
Jesus steht vor ihnen,
hochgewachsen, in strahlender Majestät, wahrhaft Richter und Gott. Sie
antworten nicht.
Jesus fährt fort: «Genügt euch
das noch nicht, um zu glauben und das Unleugbare anzunehmen?»
«Du hast nur einen Teil deines
Versprechens gehalten. Dies ist nicht das Zeichen des Jonas...» sagt Sadok
herb.
«Ihr werdet auch dieses bekommen.
Ich habe es versprochen und werde es halten», sagt der Herr. «Und auch ein
anderer, der hier anwesend ist und auf ein Zeichen wartet, wird es erhalten.
Und da er ein Gerechter ist, wird er es anerkennen. Ihr nicht. Ihr werdet
immer bleiben, was ihr seid.»
Jesus dreht sich halb um und
sieht den Synedristen Simon, den Sohn des Heli-Anna an. Er schaut ihm fest,
sehr fest in die Augen, kehrt den vorigen den Rücken, und als sie sich von
Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, sagt er mit leiser, aber schneidender
Stimme: «Dein Glück, daß Lazarus keine Erinnerung an seinen Aufenthalt unter
den Toten hat! Was hast du mit deinem Vater gemacht, du Kain?»
Simon flicht mit einem
Angstschrei, der dann in einem Fluch endet: «Sei verflucht, du Nazarener!»
worauf Jesus antwortet: «Dein Fluch steigt zum Himmel, und vom Himmel des
Allerhöchsten fällt er auf dich zurück. Du bist mit dem Mal gezeichnet,
Unseliger!»
Jesus kehrt zu den verblüfften,
beinahe erschrockenen Gruppen zurück und begegnet Gamaliel, der sich gerade
zur Straße begibt. Er sieht ihn an und Gamaliel ihn. Ohne stehenzubleiben sagt
Jesus: «Halte dich bereit, Rabbi. Das Zeichen wird bald erscheinen. Ich lüge
nie.»
Der Garten leert sich langsam.
Die Juden können es noch immer nicht fassen, doch die meisten glühen vor Zorn.
Wenn ihre Blicke töten könnten, wäre Jesus längst tot. Sie reden und
diskutieren im Fortgehen miteinander und sind so sehr durch die erlittene
Niederlage verwirrt, daß sie
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es nicht mehr fertigbringen, den
Zweck ihrer Anwesenheit hier hinter einer Maske der Freundschaft zu verbergen.
Sie gehen, ohne Lazarus und die Schwestern zu grüßen.
Einige, die der Herr durch sein
Wunder für sich gewonnen hat, bleiben noch da. Unter diesen ist Joseph
Barnabas, der sich vor Jesus niederwirft und ihm huldigt. Dasselbe tut der
Schriftgelehrte Joel, der Sohn des Abija, bevor er seines Weges geht. Und noch
andere, die ich nicht kenne, die aber einflußreiche Persönlichkeiten sein
müssen.
Lazarus hat sich inzwischen, von
seinen intimsten Freunden umringt, ins Haus zurückgezogen. Joseph, Nikodemus
und die anderen Guten verabschieden sich von Jesus und gehen. Mit tiefen
Verbeugungen verabschieden sich die Juden, die Martha und Maria beigestanden
haben. Die Diener schließen das Tor. Im Haus herrscht wieder Friede.
Jesus schaut um sich. Er sieht
Feuerschein und Rauch am Rand des Gartens, dort, wo das Grab liegt. Allein auf
einem Weg zurückgeblieben, sagt er: «Die Fäulnis, die vom Feuer vernichtet
wird... die Fäulnis des Todes... Aber jene der Herzen... dieser Herzen, kann
kein Feuer vernichten... Nicht einmal das Feuer der Hölle. Sie wird ewig
währen... Welch ein Greuel... ! Schlimmer als der Tod... Schlimmer als die
Verwesung... Und... Aber wer wird dich retten, o Menschheit, wenn du es so
sehr liebst, verdorben zu sein? Du willst verdorben sein. Und ich... Ich habe
mit einem Wort einen Menschen dem Grab entrissen... Und mit unzähligen
Worten... mit einem Meer von Schmerzen kann ich den Menschen, die Menschen,
Millionen Menschen, nicht der Sünde entreißen.» Jesus setzt sich und bedeckt
sein Gesicht mit den Händen; er ist zutiefst betrübt...
Ein vorübergehender Diener sieht
ihn. Er eilt ins Haus, und kurz darauf kommt Maria heraus. Sie geht zu Jesus
mit lautlosen Schritten, als ob sie den Erdboden nicht berühre, nähert sich
ihm und sagt leise: «Rabbuni, du bist müde... Komm, mein Herr! Deine müden
Apostel sind in das andere Haus gegangen, mit Ausnahme von Simon dem Zeloten.
Du weinst, Meister? Warum... ?»
Sie kniet zu Füßen Jesu nieder...
und beobachtet ihn... Jesus schaut sie an. Er antwortet nicht, steht auf und
geht, von Maria gefolgt, ins Haus.
Sie betreten einen Saal. Weder
Lazarus noch der Zelote sind da. Doch Martha ist da, glücklich und vor Freude
strahlend. Sie wendet sich Jesus zu und erklärt: «Lazarus nimmt ein Bad, um
sich nochmals zu reinigen. Oh, Meister! Meister! Was soll ich sagen!» Sie
betet ihn an mit ihrem ganzen Wesen. Dann bemerkt sie die Traurigkeit Jesu und
sagt: «Du bist traurig, Herr? Bist du nicht glücklich, daß Lazarus ...» Dann
kommt ihr der Gedanke: «Oh, du bist meinetwegen so ernst! Ich habe gesündigt.
Es ist wahr.»
«Wir haben gesündigt, Schwester»,
sagt Maria.
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«Nein, du nicht! Oh, Meister...
Maria hat nicht gesündigt. Maria hat zu gehorchen verstanden. Ich allein bin
ungehorsam gewesen. Ich habe den Knecht gesandt, um dich rufen zu lassen,
denn... denn ich konnte es nicht mehr mitanhören, wie sie behaupteten, daß du
nicht der Messias seiest, der Herr... Und ich konnte dieses Leid nicht länger
mitansehen ... Lazarus hat so sehr nach dir verlangt. Er hat so oft nach dir
gerufen ... Verzeih mir, Herr.»
«Und du, Maria, sagst nichts?»
fragt Jesus.
«Meister... ich ... Ich habe nur
als Frau gelitten. Ich habe gelitten, weil... Martha schwöre, schwöre hier vor
dem Meister, daß du nie, niemals mit Lazarus über sein Delirium sprechen
wirst... Mein Meister... In den letzten Stunden des Lazarus habe ich dich in
deiner ganzen Größe erkannt, o göttliche Barmherzigkeit. Oh, mein Gott! Wie
sehr hast du mich geliebt, du, der du mir vergeben hast, du, Gott, du, der
Reine, du... wenn mein Bruder, der mich doch auch liebt, der aber ein Mensch,
nur ein Mensch ist, mir im Grund seines Herzens nicht alles verziehen hat?!
Nein, ich drücke mich schlecht aus. Meine Vergangenheit hat er nicht
vergessen... Und als die Schwäche des Todes seine Güte, die ich für das
Vergessen der Vergangenheit hielt, überwältigt hatte, schrie er seinen Schmerz
und seine Verachtung für mich hinaus... Oh! ...» Maria weint.
«Weine nicht, Maria. Gott hat dir
verziehen und hat vergessen. Die Seele des Lazarus hat auch verziehen und
vergessen, wollte vergessen. Der Mensch konnte nicht alles vergessen. Und als
das Fleisch in seinem letzten Aufbäumen den geschwächten Willen überwältigte,
hat der Mensch gesprochen.»
«Ich bin ihm deshalb nicht böse,
Herr. Es hat mir geholfen, dich noch mehr zu lieben und auch Lazarus noch mehr
zu lieben. Von diesem Augenblick an aber habe auch ich nach dir verlangt...
denn die Angst, Lazarus würde meinetwegen nicht in Frieden sterben, war zu
groß... Und danach, danach, als ich sah, daß die Juden über dich spotteten...
als ich sah, daß du nicht einmal nach seinem Tod kamst, nicht einmal nachdem
ich dir gehorcht und gehofft hatte über alle Hoffnung hinaus, nachdem ich
gehofft hatte, bis das Grab geöffnet wurde, um ihn aufzunehmen, da hat auch
mein Geist gelitten. Herr, wenn ich zu sühnen hatte, und gewiß hatte ich dies,
so habe ich gesühnt, Herr...»
«Arme Maria. Ich kenne dein Herz.
Du hast das Wunder verdient, und dies möge dich im Glauben und in der Hoffnung
festigen.»
«Mein Meister, ich werde nun
immer glauben und hoffen. Ich werde nie mehr zweifeln, nie mehr, Herr. Ich
werde im Glauben leben. Du hast mir die Fähigkeit gegeben, das Unglaubliche zu
glauben.»
«Und du, Martha? Hast auch du es
gelernt ... ? Nein, noch nicht. Du bist meine Martha, aber noch nicht meine
vollkommene Anbeterin. Warum handelst du nur und betrachtest nicht? Das
Betrachten ist heiliger.
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Siehst du? Deine Kraft, die sich
zu sehr den irdischen Dingen zuwendet, hat dich im Stich gelassen angesichts
der irdischen Tatsachen, für die es manchmal keine Hilfe zu geben scheint. Für
die irdischen Probleme gibt es tatsächlich keine Hilfe, wenn Gott nicht
eingreift. Das Geschöpf muß deshalb zu glauben und zu betrachten wissen. Es
muß bis zum äußersten mit allen seinen menschlichen Kräften, mit den Gedanken,
der Seele, dem Fleisch und dem Blut, zu lieben wissen. Ich wiederhole, mit
allen Kräften, deren der Mensch fähig ist. Ich will dich stark, Martha. Ich
will dich vollkommen. Du konntest nicht gehorchen, weil du es nicht verstanden
hast, vollkommen zu glauben und zu hoffen; und du konntest nicht glauben und
hoffen, weil du nicht vollkommen lieben konntest. Aber ich verzeihe dir. Ich
spreche dich los, Martha. Ich habe heute Lazarus auferweckt. Nun gebe ich dir
ein stärkeres Herz. Ihm habe ich das Leben wiedergegeben. Dir flöße ich die
Kraft ein, in vollkommener Weise zu lieben, zu glauben und zu hoffen. Seid nun
glücklich und im Frieden. Verzeiht allen, die euch in diesen Tagen gekränkt
haben...
«Ja, Herr, hierin habe ich
gefehlt. Vor kurzem sagte ich zu dem alten Chananias, der dich in den letzten
Tagen verspottet hatte: "Wer hat nun gesiegt? Du oder Gott? Dein Spott oder
mein Glaube? Christus ist der Lebendige und die Wahrheit. Ich wußte, daß seine
Herrlichkeit noch wunderbarer erstrahlen würde. Und du, Alter, bessere und
erneuere deine Seele, wenn du nicht den Tod kennenlernen willst."»
«Das hast du gut gesagt. Aber laß
dich nicht mit den Bösewichtern ein, Maria. Verzeih, wenn du mich nachahmen
willst... Da kommt Lazarus. Ich höre seine Stimme.»
In der Tat kommt Lazarus herein,
in neuen Kleidern und die Wangen glatt rasiert, die Haare geordnet und
duftend. Bei ihm sind Maximinus und der Zelote. «Meister!» Lazarus kniet
wiederum in anbetender Haltung nieder.
Jesus legt ihm die Hand aufs
Haupt und sagt lächelnd: «Die Prüfung ist bestanden, mein Freund. Für dich und
die Schwestern. Seid nun glücklich und stark im Dienst des Herrn. An was
erinnerst du dich von der Vergangenheit, mein Freund? Ich meine deine letzten
Stunden...»
«Ich hatte großes Verlangen, dich
zu sehen, und fand großen Frieden in der Liebe der Schwestern.»
«Und was hast du am meisten
bedauert, auf Erden zurücklassen zu müssen?»
«Dich, Herr, und die Schwestern.
Dich, weil ich dir nicht mehr dienen konnte, und sie, weil sie mir alles Glück
geschenkt haben.»
«Oh, ich, Bruder!» seufzt Maria.
«Du mehr als Martha. Du hast mir
Jesus geschenkt und den Maßstab für das, was Jesus ist. Und Jesus hat mir dich
gegeben. Du bist ein Geschenk Gottes, Maria.»
70
«Das hast du auch im Sterben
gesagt...» sagt Maria und betrachtet prüfend das Gesicht des Bruders.
«Es ist mein steter Gedanke!»
«Aber ich habe dir so viel
Schmerz bereitet...»
«Auch die Krankheit hat Schmerzen
bereitet. Doch dadurch hoffe ich, die Sünden des alten Lazarus gesühnt zu
haben und zu einem neuen Leben, gereinigt und Gottes würdig, erstanden zu
sein. Du und ich: die beiden, die auferstanden sind, um dem Herrn zu dienen...
Und zwischen uns Martha, sie, die immer der Friede des Hauses gewesen ist.»
«Hörst du, Maria? Lazarus spricht
Worte der Weisheit und der Wahrheit. Nun will ich mich zurückziehen und euch
eurer Freude überlassen...»
«Nein, Herr" du bleibst bei uns.
Hier. Bleibe in Bethanien und in meinem Haus. Es wird schön sein ...»
«Ich werde bleiben. Ich will dich
für alles entschädigen, was du gelitten hast. Martha, sei nicht traurig.
Martha glaubt, sie hätte mich betrübt. Aber ich leide nicht euretwegen,
sondern vielmehr deretwegen, die sich nicht bekehren wollen. Sie hassen immer
mehr. Sie haben Gift im Herzen... Nun... wir wollen ihnen verzeihen.»
«Wir wollen ihnen verzeihen,
Herr», sagt Lazarus mit seinem sanften Lächeln... und mit diesen Worten ist
alles zu Ende.
Jesus sagt: «Im
Johannesevangelium, so wie man es jetzt seit Jahrhunderten liest, steht:
"Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen" (Joh 11,30). Um möglichen
Einwänden zuvorzukommen, möchte ich bemerken, daß zwischen diesem Satz und dem
des vorliegenden Werkes, in dem es heißt, daß ich Martha wenige Schritte vorn
Wasserbecken im Garten des Lazarus entfernt traf, kein wirklicher Widerspruch
besteht, sondern lediglich Übersetzung und Beschreibung unterschiedlich sind.
Bethanien gehörte zu drei
Vierteln Lazarus, ebenso wie ein großer Teil Jerusalems ihm gehörte. Aber
sprechen wir von Bethanien. Da es ihm zu drei Vierteln gehörte, konnte man
sagen: Bethanien des Lazarus. Daher wäre der Text auch nicht falsch, selbst
wenn ich Martha im Ort oder am Brunnen getroffen hätte, wie einige sagen
wollen. Aber ich hatte tatsächlich das Dorf nicht betreten, um zu vermeiden,
daß die Bewohner herbeieilen, die dem Synedrium alle feindlich gesinnt waren.
Ich war hinten um das Dorf herumgegangen zum Haus des Lazarus, das genau am
entgegengesetzten Ende liegt, wenn man von Ensemes nach Bethanien kommt.
Und deshalb sagt Johannes, daß
Jesus den Ort noch nicht betreten hatte. Ebenso richtig sagt der kleine
Johannes, daß ich am Wasserbecken stehengeblieben war (dem Brunnen für die
Hebräer), das schon im Garten des Lazarus liegt, aber noch sehr weit entfernt
vom Haus.
Ferner ist zu bedenken, daß die
Schwestern während der Zeit der Trauer und der Unreinheit (der siebte Tag nach
dem Tod war noch nicht gekommen) das Haus nicht verließen. Daher fand die
Begegnung im Bereich ihres Besitzes statt.
Beachtet auch, daß der kleine
Johannes berichtet, die Bewohner von Bethanien seien erst in den Garten
gekommen, als ich schon anordnete, den Stein zu entfernen. Zuvor wußte man
also in Bethanien nicht, daß ich dort war, und erst als die Nachricht sich
verbreitete, kamen sie zu Lazarus.»
71
603. GEDANKEN ÜBER DIE
AUFERWECKUNG DES LAZARUS
Jesus sagt:
«Ich hätte rechtzeitig eingreifen
können, um den Tod des Lazarus zu verhindern. Aber ich wollte es nicht. Ich
wußte, daß diese Auferweckung ein zweischneidiges Schwert sein würde; daß die
rechtschaffenen Juden sich bekehren und die Böswilligen noch verstockter
werden würden; daß letztere mich wegen dieses endgültigen Beweises meiner
Macht zum Tod verurteilen würden. Aber dazu war ich gekommen, und die Zeit war
reif, daß sich alles erfüllte. Ich hätte auch sofort nach dem Tod kommen
können. Doch ich wollte mit der Auferweckung eines schon weitgehend verwesten
Leichnams auch die hartnäckigsten Ungläubigen überzeugen. Schließlich
brauchten auch meine Apostel, die dazu bestimmt waren, meinen Glauben in die
Welt zu tragen, einen Glauben, der durch Wunder dieser Größenordnung gefestigt
war.
In den Aposteln war so viel
Menschliches, wie ich schon gesagt habe. Es war dies kein unüberwindliches
Hindernis, sondern eine logische Folge ihrer Berufung im reifen Mannesalter.
Man kann einen Charakter, eine Mentalität nicht von heute auf morgen ändern.
Andererseits wollte ich in meiner Weisheit nicht Kinder erwählen und erziehen
und sie in meinem Geist aufwachsen lassen, um dann aus ihnen meine Apostel zu
machen. Ich hätte es tun können. Ich wollte es nicht tun, denn dann hätte man
mir vorgeworfen, jene zu verachten, die nicht unschuldig sind, und hätte als
Vorwand und Entschuldigung gebraucht, daß ich selbst durch meine Wahl zu
erkennen gegeben habe, daß ein Erwachsener nicht mehr zu ändern ist.
Nein, alles kann man ändern, wenn
man nur will. Und ich habe in der Tat aus Kleinmütigen, Zornmütigen,
Wucherern, Lasterhaften und Ungläubigen Märtyrer und Heilige, Verkünder des
Evangeliums, gemacht. Nur wer nicht will, ändert sich nicht. Ich habe geliebt
und liebe immer noch die Kleinen und die Schwachen – du bist ein Beispiel
dafür – vorausgesetzt, daß sie den Willen haben, mich zu lieben und mir zu
folgen. Aus diesen "Nichts" mache ich meine Bevorzugten, meine Freunde und
meine Vertreter. Immer noch bediene ich mich ihrer, und es ist ein
fortwährendes Wunder, das ich wirke, um dadurch die anderen dazu zu bringen,
an mich zu glauben und die Möglichkeit des Wunders nicht auszuschließen. Wie
wird doch heute diese Möglichkeit so wenig in Betracht gezogen! Gleich der
Lampe, der es an Öl fehlt, wird sie schwach und erlischt, da der Glaube an den
Gott des Wunders schwach oder gar nicht vorhanden ist.
Es gibt zwei Arten, ein Wunder zu
verlangen. In einem Fall gewährt es Gott mit Liebe, im anderen kehrt er
unwillig den Rücken. Im ersten Fall bittet man, wie ich zu bitten gelehrt
habe, unermüdlich und vertrauensvoll.
72
Man wird nie zugeben, daß Gott
einen nicht erhören könnte, da Gott gut ist und die Guten erhört, denn Gott
ist mächtig und vermag alles. Dies ist Liebe, und Gott gewährt dem alles, der
liebt. Der andere Fall ist die Anmaßung der Rebellen, die fordern, daß Gott
ihnen dient, sich zu ihren Bosheiten herabläßt und ihnen gibt, was sie selbst
ihm verweigern: Liebe und Gehorsam. Diese Art ist eine Beleidigung, die Gott
mit dem Entzug seiner Gnade bestraft.
Ihr beklagt euch, daß ich keine
Massenwunder mehr wirke. Wie könnte ich sie wirken? Wo sind die Massen, die an
mich glauben? Wo die wahren Gläubigen? Wie viele wahre Gläubige gibt es in
einer Menschenmenge? Wie einige überlebende Blumen in einem vom Feuer
zerstörten Wald, sehe ich ab und zu eine gläubige Seele. Alle anderen hat
Satan mit seinen Lehren verbrannt. Und immer mehr wird er verbrennen.
Ich bitte euch, als
übernatürlichen Leitsatz meine Antwort an Thomas zu betrachten. Man kann nicht
mein wahrer Jünger sein, wenn man dem menschlichen Leben nicht den Wert
beimißt, den es verdient; es ist kein Endzweck in sich selbst, sondern ein
Mittel, um das wahre Leben zu erwerben. Wer sein Leben in dieser Welt retten
will, wird das ewige Leben verlieren. Ich habe dies bereits gesagt, und ich
wiederhole es. Was sind Prüfungen? Wolken, die vorüberziehen. Der Himmel
bleibt und erwartet euch nach der Prüfung.
Ich habe durch meinen Heroismus
für euch den Himmel erobert. Ihr müßt mich nachahmen. Der Heroismus ist nicht
nur jenen vorbehalten, die ein Martyrium erleiden müssen. Das christliche
Leben ist fortwährender Heroismus, denn es ist ein ständiger Kampf gegen die
Welt, den Dämon und das Fleisch. Ich zwinge euch nicht, mir zu folgen. Ich
lasse euch die Freiheit. Aber Scheinheilige will ich nicht. Entweder mit mir
und wie ich oder gegen mich. Ihr könnt mich nicht betrügen. Ja, mich könnt ihr
nicht betrügen. Und ich beteilige mich nicht an den Bündnissen mit dem Feind.
Wenn ihr ihn mir vorzieht, dann dürft ihr nicht glauben, daß ihr mich
gleichzeitig zum Freund habt. Entweder er oder ich. Wählt.
Der Schmerz Marthas ist anders
als der Marias, wegen der unterschiedlichen Psyche und dem dadurch
unterschiedlichen Verhalten der beiden. Glücklich jene, die so leben, daß sie
nie bereuen müssen, jemanden betrübt zu haben, der nun tot ist und den man
nicht mehr trösten kann in seinem Schmerz. Aber noch glücklicher jene, die
sich nicht anklagen müssen, ihren Gott, mich, Jesus, betrübt zu haben, und
sich vor der Begegnung mit mir nicht fürchten, sondern danach verlangen als
nach einer das ganze Leben ungeduldig erwarteten und endlich erreichten
Freude.
Ich bin euer Vater, Bruder und
Freund. Warum verletzt ihr mich so oft? Wißt ihr denn, wieviel Zeit zu leben
euch noch bleibt? Zu leben, um wiedergutzumachen? Ihr wißt es nicht. Daher
handelt recht, Stunde um Stunde, Tag für Tag, immer. So macht ihr mich immer
glücklich. Und
73
wenn euch Leid trifft – denn der
Schmerz ist Heiligung, ist die Myrrhe, die vor der Verwesung der
Fleischlichkeit bewahrt – werdet ihr immer die Gewißheit haben, daß ich euch
liebe, daß ich euch auch in dieser leidvollen Stunde liebe, und ihr werdet
auch den Frieden haben, der aus meiner Liebe kommt. Du, kleiner Johannes,
weißt, daß ich auch im größten Leid tröste.
In meinem Gebet zum Vater habe
ich wiederholt, was ich am Anfang gesagt habe: Es war nötig, durch ein großes
Wunder die Gleichgültigkeit der Juden und der ganzen Welt zu erschüttern. Und
die Auferweckung eines seit vier Tagen begrabenen Menschen, der nach einer
langen, chronischen, abstoßenden und bekannten Krankheit ins Grab gelegt
worden war, konnte niemanden gleichgültig lassen und mußte alle Zweifel
beseitigen. Hätte ich ihn geheilt, solange er noch lebte, oder ihm den Geist
sofort nach seinem Tod zurückgegeben, hätte die Voreingenommenheit der Feinde
Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Wunders aufkommen lassen können. Aber der
Gestank der Leiche, die durch die Verbände gesickerte Fäulnis und das lange
Verweilen im Grab ließen keine Zweifel zu. Zudem wollte ich – ein Wunder
innerhalb des Wunders – daß Lazarus in Gegenwart aller von den Binden befreit
und gesäubert würde, damit alle sehen, daß nicht nur das Leben, sondern auch
die Gesundheit in die zuvor von Geschwüren bedeckten Glieder zurückgekehrt
war, die das Blut mit Keimen des Todes verseucht hatten. Wenn ich Gnade
schenke, schenke ich immer mehr, als ihr erbeten habt.
Ich habe am Grab des Lazarus
geweint. Und diesen Tränen hat man viele Namen gegeben. Ihr müßt wissen, daß
man Gnaden erhält, wenn man sein Leid mit einem festen Glauben an den Ewigen
verbindet. Ich habe nicht so sehr über den Verlust des Freundes oder über den
Schmerz der Schwestern geweint, als vielmehr, weil sich mir in jener Stunde
lebhafter denn je drei Gedanken aufdrängten – wie ein aufgewirbelter Bodensatz
der Seele – die schon immer wie drei Nägel ihre Spitzen in mein Herz gebohrt
hatten.
Die Erkenntnis, welches Verderben
Satan über den Menschen gebracht hat durch die Verführung zum Bösen. Ein
Verderben, dessen irdische Strafe der Schmerz und der Tod ist. Der leibliche
Tod, Sinnbild und Metapher des geistigen Todes, in den die Schuld die Seele
führt; des geistigen Todes, der sie, die Königin, deren Bestimmung es ist, im
Reich des Lichtes zu leben, in die Finsternis der Hölle stürzt.
Ferner die Gewißheit, daß nicht
einmal dieses Wunder, sozusagen die Krönung der drei Jahre öffentlichen
Wirkens, die jüdische Welt von der Wahrheit, deren Überbringer ich war,
überzeugen würde. Und daß es kein Wunder gab, das die kommende Welt sicher zu
Christus bekehren würde. Oh, welch ein Schmerz, so bald sterben zu müssen für
so wenige!
Endlich die innere Schau meines
bevorstehenden Todes. Ich war Gott.
74
Aber ich war auch Mensch. Und um
Erlöser zu werden, mußte ich die Last der Sühne fühlen. Daher auch den
Schrecken des Todes, eines solchen Todes. Ich war lebendig und gesund und
sagte mir: "Bald werde ich tot sein und wie Lazarus in einem Grab liegen. Bald
wird der furchtbarste Todeskampf mein Gefährte sein. Ich muß sterben." Die
Güte Gottes erspart euch das Wissen um die Zukunft. Doch mir ist es nicht
erspart geblieben.
Oh, glaubt es, ihr, die ihr euch
über euer Schicksal beklagt. Kein Los war trauriger als das meine, denn ich
wußte immer im voraus, was mir geschehen würde, und mußte dies ertragen
zusammen mit der Armut, den Entbehrungen und der Bitterkeit, die mich von der
Geburt bis zum Tod begleiteten. Beklagt euch also nicht. Vertraut auf mich.
Ich gebe euch meinen Frieden.»
604. IN DER STADT JERUSALEM UND
IM TEMPEL NACH DER AUFERSTEHUNG DES LAZARUS
Hatte die Nachricht vom Tod des
Lazarus Jerusalem und einen großen Teil Judäas bewegt und erschüttert, so hat
nun die Kunde von seiner Auferstehung auch alle jene erschüttert und
beeindruckt, die die Nachricht von seinem Tod gleichgültig aufgenommen haben.
Vielleicht haben die wenigen
Pharisäer und Schriftgelehrten, d.h. die Synedristen, die bei der Auferstehung
anwesend waren, dem Volk nichts erzählt. Ganz gewiß aber haben die Juden
darüber gesprochen, und die Nachricht hat sich blitzartig verbreitet. Von Haus
zu Haus, von Terrasse zu Terrasse haben es die Frauen einander mitgeteilt,
während die Armen unten es unter großem Jubel über den Sieg des Christus und
über Lazarus verkünden. Die Straßen sind wieder von Menschen bevölkert, die
da- und dorthin eilen im Glauben, als erste die Nachricht zu überbringen, und
dann enttäuscht sind, weil man sowohl in Ophel wie in Bezetha, auf dem Sion
wie am Xystos schon davon erfahren hat. Man weiß es in den Synagogen und in
den Geschäften, im Tempel und im Palast des Herodes. Man weiß es auch in der
Burg Antonia, und von der Antonia, oder umgekehrt, gelangt die Nachricht zu
den Wachtposten an den Toren. Sie erfüllt die Paläste wie die elenden Hütten:
«Der Rabbi von Nazareth hat Lazarus von Bethanien auferweckt, der am Vorabend
des Freitags gestorben und vor dem Beginn des Sabbats ins Grab gelegt worden
war. Heute, um die sechste Stunde, ist er wieder auferstanden.»
Die hebräischen
Beifallskundgebungen für Christus und den Allerhöchsten mischen sich unter die
verschiedenen: «Beim Jupiter! Beim Pollux! Bei Libitina!» usw. usw. der Römer.
Die einzigen, die ich nicht in
der in den Straßen schwatzenden Menge
75
sehe, sind die Synedristen. Nicht
einen einzigen sehe ich, während ich Manaen und Chuza aus einem vornehmen
Palast kommen sehe und Chuza sagen höre: «Großartig! Großartig! Ich habe die
Nachricht sofort Johanna überbringen lassen. Er ist wahrhaftig Gott!» Und
Manaen antwortet ihm: «Herodes, der von Jericho gekommen ist, um den
Statthalter Pontius Pilatus zu beehren, scheint in seiner Residenz verrückt
geworden zu sein. Herodias ihrerseits ist außer sich und drängt ihn, den
Befehl zur Festnahme des Christus zu geben. Sie zittert wegen seiner Macht. Er
aus Schuldbewußtsein. Er klappert mit den Zähnen und bittet seine
Vertrautesten, ihn zu verteidigen gegen die... Geister. Er hat sich betrunken,
um sich Mut zu machen, und der Wein verwirrt ihm den Kopf und läßt ihn
Gespenster sehen. Er schreit, daß Christus auch den Täufer auferweckt habe,
der nun ständig in seiner Nähe sei und ihm den Fluch Gottes verkünde. Ich bin
aus dieser Hölle geflohen. Ich habe mich darauf beschränkt, ihm zu sagen:
"Lazarus ist auferstanden durch Jesus den Nazarener. Hüte dich, ihn
anzurühren, denn er ist Gott." Er soll nur recht viel Angst haben, damit er
nicht ihren mörderischen Gelüsten nachgibt.»
«Ich hingegen werde zu ihm gehen
müssen. Ich muß zu ihm gehen. Doch zuerst wollte ich noch bei Eliel und Elkana
vorbeischauen. Sie leben zwar zurückgezogen, doch ihr Wort hat immer noch
Geltung in Israel. Johanna sieht es gern, wenn ich sie ehre. Und ich...»
«Sie sind ein guter Schutz für
dich, das ist wahr. Doch kannst du ihn nicht mit der Liebe des Meisters
vergleichen. Sie ist der einzige wirklich wirksame Schutz...»
Chuza widerspricht ihm nicht. Er
denkt nach... Ich verliere sie aus den Augen.
Von Bezetha kommt nun Joseph von
Arimathäa. Er hat es sichtlich eilig, doch eine Gruppe von Bürgern, die noch
unsicher ist, ob man der Nachricht Glauben schenken kann, hält ihn an und
fragt ihn.
«Es ist wahr. Es ist wahr.
Lazarus ist auferstanden und auch geheilt. Ich habe es mit eigenen Augen
gesehen.»
«Dann... ist er also wirklich der
Messias!»
«Seine Werke sprechen dafür. Sein
Leben ist vollkommen. Die Zeit ist reif. Satan bekämpft ihn. Jeder möge in
seinem Herzen erwägen, wer der Nazarener ist», sagt Joseph, vorsichtig und
gleichzeitig gerecht. Dann grüßt er und geht.
Sie überlegen und kommen zu dem
Schluß: «Er ist wirklich der Messias.»
Eine Gruppe von Legionären
unterhält sich: «Wenn möglich, gehe ich morgen nach Bethanien. Bei Venus und
Mars, meinen Lieblingsgöttern! Ich kann die Erde von den glühenden Wüsten bis
zu den eisigen germanischen Ländern bereisen, aber einem, der seit Tagen tot
war und dann auferstanden ist, werde ich nicht mehr begegnen. Ich will sehen,
wie einer
76
aussieht, der von den Toten
kommt. Der muß doch ganz schwarz sein von den Wellen der Flüsse des
Jenseits...»
«Wenn er tugendhaft war, wird er
bläulich sein, da er von den blauen Wellen der Elysischen Gefilde getrunken
hat. Es gibt dort nicht nur den Styx ...»
«Dann wird er uns sagen können,
wie die Asphodelenwiesen des Hades sind... Ich werde mit dir gehen...»
«Wenn Pontius nichts dagegen
hat...»
«Oh, der hat nichts dagegen. Er
hat sofort einen Boten zu Claudia gesandt, damit sie kommt. Claudia liebt
diese Dinge. Ich habe sie schon mehr als einmal mit ihren Freundinnen und
ihrer griechischen Freigelassenen über die Seele und die Unsterblichkeit
diskutieren gehört.»
«Claudia glaubt an den Nazarener.
Für sie ist er größer als jeder andere Mensch.»
«Ja. Aber für Valeria ist er mehr
als ein Mensch. Für sie ist er Gott. Eine Art Jupiter und Apollo soll er sein
in seiner Macht und Schönheit, und weiser als Minerva. Habt ihr ihn schon
gesehen? Ich bin zum erstenmal mit Pontius hierher gekommen und weiß nicht...»
«Ich glaube, du bist zur rechten
Zeit gekommen, um viele Dinge zu sehen. Vor einer Weile hat Pontius mit
Stentorstimme geschrien: "Hier muß alles anders werden. Sie müssen endlich
begreifen, daß Rom befiehlt und sie alle nur Sklaven sind. Und je höher sie
stehen, desto mehr müssen sie gehorchen, weil sie gefährlicher sind." Mir
scheint, daß es wegen des Schreibtäfelchens war, das ihm der Diener des Annas
gebracht hatte ...»
«Ja, er will nicht auf sie
hören... Und er wechselt uns regelmäßig aus, denn er will keine Freundschaften
zwischen uns und ihnen.»
«Zwischen uns und ihnen? Ha, ha,
ha! Mit diesen Höckernasen? Pontius bekommt wohl das viele Schweinefleisch
nicht, das er ißt. Wenn überhaupt, dann die Freundschaft mit einer Dame, die
den Kuß rasierter Gesichter nicht verachtet...» lacht einer spitzbübisch.
«Tatsache ist, daß er nach den
Unruhen beim Laubhüttenfest den Austausch aller Soldaten verlangt und
genehmigt erhalten hat und daß wir nun dran sind und gehen müssen...»
«Das ist wahr. Von Caesarea wurde
schon die Ankunft der Galeere gemeldet, die Longinus und seine Centurie
bringt. Neue Offiziere, neue Soldaten... und alles wegen dieser Reptilien im
Tempel. Mir hat es hier gut gefallen.»
«Mir ist es in Brundisium besser
gegangen... aber ich werde mich daran gewöhnen», sagt einer, der erst vor
kurzem in Palästina angekommen ist.
Sie entfernen sich.
Tempelwächter kommen nun vorbei
mit Wachstäfelchen, und die Leute beobachten sie und sagen: «Das Synedrium hat
eine dringende Versammlung einberufen. Was haben sie im Sinn?»
77
Einer antwortet: «Laßt uns zum
Tempel hinaufgehen und sehen...» Sie schlagen den Weg ein, der zum Berg Moriah
führt.
Die Sonne versinkt hinter den
Häusern des Sion und den westlichen Bergen. Der Abend bricht herein, und bald
sind die Straßen von Neugierigen leer. Die, die zum Tempel hinaufgegangen
sind, kommen unruhig zurück, denn man hat sie sogar von den Toren verjagt, wo
sie sich aufgestellt hatten, um die Synedristen vorbeigehen zu sehen.
Das Innere des Tempels ist
menschenleer und verlassen. Im Mondlicht erscheint alles riesengroß. Die
Synedristen versammeln sich allmählich im Saal des Hohen Rats. Alle sind sie
da, wie bei der Verurteilung Jesu; es fehlen nur die, die damals als Schreiber
tätig waren. Ich sehe nur Synedristen, teils an ihren üblichen Plätzen, teils
in Gruppen an den Türen.
Kaiphas kommt herein, von Gesicht
und Gestalt einer aufgeblasenen giftigen Kröte ähnlich, und begibt sich an
seinen Platz.
Sie beginnen sofort über die
Vorkommnisse zu diskutieren, und das Ganze erregt sie derart, daß die Sitzung
bald sehr bewegt ist. Schließlich verlassen sie ihre Sitze und gehen
gestikulierend und laut redend auf den freien Platz im Raum hinunter. Einige
fordern zu Ruhe und Überlegung auf, bevor sie eine Entscheidung treffen.
Andere widersprechen: «Aber habt
ihr nicht jene gehört, die nach der neunten Stunde gekommen sind? Wenn wir die
einflußreichsten Juden verlieren, was nützt es uns dann, Anschuldigungen zu
sammeln? Je länger er am Leben bleibt, desto weniger wird man unseren
Beschuldigungen glauben.»
«Aber diese Tatsache können wir
nicht leugnen. Wir können nicht zu der Volksmenge, die dort gewesen ist,
sagen: "Ihr habt nicht recht gesehen. Es war alles Einbildung. Ihr wart
betrunken." Der Tote war wirklich tot, verwest, aufgelöst. Er lag in einem
verschlossenen Grab, und das Grab war gut zugemauert. Der Tote lag seit
einigen Tagen unter Binden und Balsam. Er war eingewickelt, gebunden. Und doch
hat er seinen Platz verlassen und ist allein, ohne gehen zu können, an die
Öffnung des Grabes gekommen. Und als er befreit wurde, da war sein Körper
nicht mehr tot. Er konnte atmen und die Fäulnis war verschwunden, während er
als Lebender voller Geschwüre und als Toter schon ganz verwest war.»
«Habt ihr die einflußreichsten
Juden gehört, die wir gedrängt hatten hinzugeben, um sie ganz für uns zu
gewinnen? Sie sind gekommen, um uns zu sagen: "Für uns ist er der Messias."
Fast alle sind sie gekommen! Und das Volk erst... !»
«Und diese verfluchten,
abergläubischen Römer! Was sollen wir mit ihnen anfangen? Für sie ist er
Jupiter Maximus. Und wenn sie bei dieser Ansicht bleiben! Sie haben ihre
Geschichten unter uns bekannt gemacht, und diese sind uns zum Fluch geworden.
Fluch über jene, die den Hellenismus bei uns einführen wollen und uns aus
Schmeichelei durch Bräuche
78
entweiht haben, die nicht die
unseren sind! Aber dies dient auch dazu, uns die Augen zu öffnen. Wir wissen
nun, daß der Römer schnell niederreißt, aber auch rasch wieder aufbaut durch
Verschwörungen und Staatsstreiche. Wenn nun einer von diesen Verrückten hier
sich für den Nazarener begeistert und ihn zum Caesar ausruft... und damit zum
Gott macht, wer kann ihn dann noch anrühren?»
«Aber nein! Wer sollte dies denn
tun? Sie lachen über ihn und uns. Wie unglaublich seine Werke auch sein mögen,
für sie ist er immer ein "Hebräer". Also ein Minderwertiger. Die Angst läßt
dich töricht werden, o Sohn des Annas!»
«Die Angst! Hast du gehört, wie
Pontius auf die Einladung meines Vaters geantwortet hat? Er ist erschüttert,
sage ich dir. Er ist beeindruckt von diesem letzten Ereignis und fürchtet den
Nazarener. Wir sind zu bedauern! Dieser Mensch ist zu unserem Verderben
gekommen!»
«Wären wir wenigstens nicht
dorthin gegangen und hätten wir nur nicht den einflußreichsten Juden fast
befohlen, auch hinzugeben! Wenn Lazarus wenigstens ohne Zeugen auferstanden
wäre.»
«Nun und? Was hätte dies
geändert? Wir hätten ihn doch nicht verschwinden lassen können, um glauben zu
machen, daß er nach wie vor tot ist.»
«Das nicht. Aber wir hätten sagen
können, daß es sich um einen Scheintod gehandelt hat. Bezahlte Zeugen für
falsche Aussagen findet man immer.»
«Warum so viel Aufregung? Ich
sehe keinen Grund dazu! Hat er etwa gegen das Synedrium und den Hohenpriester
aufgewiegelt? Nein. Er hat sich darauf beschränkt, ein Wunder zu wirken.»
«Er hat sich darauf beschränkt?!
Bist du denn töricht oder hast du dich ihm verkauft, Eleazar? Hat er nicht
gegen das Synedrium und den Hohenpriester gehetzt? Auf was wartest du noch?
Die Leute ...»
«Die Leute können sagen, was sie
wollen, aber die Dinge stehen so, wie Eleazar gesagt hat. Der Nazarener hat
nur ein Wunder gewirkt.»
«Noch einer, der ihn verteidigt!
Du bist kein Gerechter mehr, Nikodemus! Dies ist ein Schlag gegen uns. Gegen
uns, verstehst du? Nichts mehr wird das Volk überzeugen können. Oh, wir
Unglücklichen! Ich bin heute von einigen Juden verspottet worden. Ich und
verspottet! Ich!»
«Schweige, Doras! Du bist nur ein
Mensch. Aber die Idee, unsere innersten Überzeugungen sind getroffen worden.
Unsere Gesetze! Unsere Vorrechte!»
«Du hast recht, Simon. Wir müssen
sie verteidigen.»
«Aber wie?»
«Indem wir seine Ideen bekämpfen
und zunichte machen!»
«Das ist leicht gesagt, Sadok.
Aber wie willst du sie vernichten, wenn du nicht einmal fähig bist, eine tote
Fliege wieder lebendig zu machen?
79
Hier braucht es ein größeres
Wunder als das seine. Aber keiner von uns kann es wirken, weil...» Der, der
gerade spricht, weiß nicht warum.
Joseph von Arimathäa beendet
seinen Satz: «Weil wir Menschen sind, nur Menschen.»
Alle stürzen sich auf ihn und
fragen: «Und er, wer ist er denn?»
Joseph antwortet bestimmt: «Er
ist Gott. Wenn ich noch Zweifel gehabt hätte...»
«Aber du hast keine Zweifel
gehabt. Wir wissen es, Joseph. Wir wissen es. Sage uns nur ganz offen, daß du
ihn liebst!»
«Es ist nichts Schlimmes, wenn
Joseph ihn liebt. Ich selbst anerkenne ihn als den größten Rabbi Israels.»
«Du? Du, Gamaliel, sagst das?»
«Ich sage es. Und es ehrt mich,
von ihm... entthront worden zu sein. Denn bis jetzt habe ich die Tradition der
großen Rabbis aufrechterhalten, deren letzter Hillel gewesen ist. Doch wußte
ich nicht, wer nach mir die Weisheit der Jahrhunderte hätte fortsetzen können.
Nun kann ich beruhigt gehen, denn ich weiß, daß die Weisheit nicht sterben
wird; daß sie vielmehr zunehmen wird, vermehrt durch die seine, in der
zweifellos der Geist Gottes gegenwärtig ist.»
«Was sagst du da, Gamaliel?»
«Die Wahrheit. Selbst wenn wir
die Augen verschließen, können wir nicht verkennen, was wir in Wirklichkeit
sind. Wir sind nicht mehr weise, denn der Anfang aller Weisheit ist die Furcht
des Herrn. Und wir sind Sünder ohne Gottesfurcht. Wenn wir diese Furcht
hätten, würden wir nicht den Gerechten unterdrücken und mit törichter Gier
nach den Reichtümern der Welt verlangen. Gott gibt, und Gott nimmt, je nach
den Verdiensten und den bösen Werken. Und wenn Gott uns jetzt nimmt, was er
uns gegeben hatte, um es anderen zu geben, dann sei er gepriesen. Denn heilig
ist der Herr, und heilig sind alle seine Werke.»
«Aber wir haben doch von den
Wundern gesprochen und wollten sagen, daß keiner von uns sie wirken kann, weil
Satan nicht mit uns ist.»
«Nein, weil Gott nicht mit uns
ist. Moses teilte die Wasser und ließ eine Quelle aus dem Fels entspringen.
Josua ließ die Sonne stillstehen. Elias erweckte den Knaben und ließ Regen
fallen. Aber mit ihnen war Gott. Ich möchte euch daran erinnern, daß es sechs
Dinge gibt, die Gott verhaßt sind, und das siebte ist seinem Herzen ein
Abscheu: stolze Augen, falsche Zunge, Hände, die unschuldiges Blut vergießen,
ein Herz, das Böses sinnt, Füße, die zum Bösen eilen, der falsche Zeuge und
jener, der unter den Brüdern Unfrieden stiftet. Wir tun alle diese Dinge. Wir,
sage ich. Aber nur ihr allein tut sie. Denn ich enthalte mich, "Hosanna" oder
"Anathema" zu rufen. Ich warte ab.»
«Das Zeichen! Ja, du wartest auf
das Zeichen! Aber welches Zeichen
80
erwartest du von einem armen
Irren, wenn wir ihm wirklich alles verzeihen wollen?»
Gamaliel erhebt die Hände, und
mit vor sich ausgestreckten Armen, geschlossenen Augen, leicht geneigtem Haupt
und ehrfurchtgebietend wie nie zuvor spricht er langsam mit einer Stimme, die
von sehr weit herzukommen scheint: «Ich habe den Herrn inständig gebeten, mir
die Wahrheit kundzutun, und er hat mir die Worte Jesu, des Sohnes des Sirach,
erklärt: "Der Schöpfer aller Dinge sprach zu mir und gab mir seinen Befehl,
und der mich schuf, ruhte in meinem Zelt und sagte zu mir: 'In Jakob sollst du
wohnen. In Israel soll sein dein Erbbesitz. Fasse Wurzel unter meinen
Auserwählten .... .. Und ferner hat er mir diese Worte erklärt, und ich habe
sie verstanden: "Kommt her zu mir, die ihr mein begehrt, und an meinen
Früchten sättigt euch, denn mein Geist ist süßer als Honig und mein Erbe süßer
als Honigseim. Mein Andenken wird von Geschlecht zu Geschlecht durch die
Jahrhunderte währen. Wer mich verkostet, der wird nach mir hungern, und wer
mich trinkt, der wird nach mir dürsten. Wer auf mich hört, wird nicht
zuschanden werden, und wer sich um mich bemüht, der sündigt nicht. Wer von mir
spricht, wird das ewige Leben haben." Und Licht Gottes erleuchtete meinen
Geist, während meine Augen diese Worte lasen: "Dies alles enthält das Buch des
Lebens, das Testament des Allerhöchsten, die Lehre der Wahrheit... Gott
versprach David, aus seinem Geschlecht den mächtigen König hervorgehen zu
lassen, der auf ewig auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen wird. Er wird von
Weisheit überfließen, wie der Pischon 1) und der Tigris in den Tagen der
Erstlinge, wie der Euphrat strömt er von Bildung über und schwillt an wie der
Jordan zur Zeit der Ernte. Er wird die Weisheit wie Licht ausstrahlen... Er
hat sie als erster vollkommen erkannt." Das hat mich Gott begreifen lassen!
Doch wehe, was sage ich! Die Weisheit, die unter uns weilt, ist zu groß, als
daß man sie verstehen könnte, als daß man ihre Gedanken fassen könnte, die
gewaltiger sind als die Meere, und ihren Rat, der tiefer ist als der große
Abgrund. Und wir hören ihn rufen: "Ich bin wie ein wasserreicher Kanal aus dem
Paradies geflutet und habe gesagt: 'Ich will meinen Garten bewässern.' Da ward
der Graben mir zum Fluß und der Fluß zum Meer. So will ich weiter meine Lehre
leuchten lassen gleich dem Frühlicht, und will sie strahlen lassen bis in die
Fernen. In die tiefsten Tiefen werde ich eindringen, meinen Blick auf die
Schlafenden richten und jene, die auf den Herrn hoffen, erleuchten. Noch
weiter will ich Belehrung wie Prophetenbotschaft ausschütten und sie denen
hinterlassen, die die Weisheit suchen. Und ich werde nicht aufhören, sie zu
verkünden bis zum heiligen Jahrhundert. So habe ich nicht für mich allein mich
gemüht, sondern für alle, die die Wahrheit
1) Einer der vier Flüsse, die aus
dem Paradies strömen.
81
suchen." Dies hat mich Jahwe, der
Allerhöchste, lesen lassen.» Gamaliel läßt die Arme sinken und erhebt das
Haupt.
«Dann ist er also für dich der
Messias?! Sage es!»
«Es ist nicht der Messias.»
«Er ist es nicht? Was ist er dann
für dich? Ein Dämon ist er nicht... ein Engel auch nicht ... der Messias auch
nicht ...»
«Er ist der, der ist.»
«Du phantasierst! Gott ist er?
Gott ist dieser Verrückte für dich?»
«Er ist der, der ist. Gott weiß,
wer er ist. Wir sehen seine Werke. Gott sieht auch seine Gedanken. Aber er ist
nicht der Messias, denn für uns bedeutet Messias König. Er ist nicht und wird
auch nicht König sein. Aber er ist heilig. Und seine Werke sind heilig. Und
wir können nicht unsere Hand gegen den Unschuldigen erheben, ohne eine Sünde
zu begehen. Ich werde der Sünde nicht zustimmen.»
«Aber mit deinen Worten hast du
doch fast gesagt, daß er der Erwartete ist.»
«Ich habe es gesagt. Solange das
Licht des Allerhöchsten leuchtete, sah ich ihn als den Erwarteten. Dann... als
mich die Hand des Herrn nicht mehr hoch oben in seinem Licht hielt, wurde ich
wieder Mensch, der Mensch Israels, und die Worte waren nur noch Worte, denen
der Mensch Israels, ich, ihr, die vor uns und – Gott möge es verhüten – die
nach uns, ihren eigenen, unseren Sinn geben, und nicht den Sinn, den sie im
ewigen Gedanken haben, der sie seinem Diener diktiert hat.»
«Wir reden, weichen vom Thema ab
und verlieren Zeit. Und das Volk empört sich unterdessen», krächzt Chananias.
«Du hast ganz recht! Wir müssen
etwas beschließen und handeln, um uns zu retten und zu siegen.»
«Ihr habt gesagt, daß Pilatus uns
nicht anhören wollte, als wir ihn um seine Hilfe gegen den Nazarener gebeten
haben. Aber wenn wir ihn wissen ließen... Ihr habt gerade gesagt, wenn sich
die Soldaten für ihn begeistern, könnten sie ihn zum Caesar ausrufen... Hm,
eine gute Idee. Laßt uns gehen und dem Prokonsul diese Gefahr vortragen. Wir
werden dann als treue Diener Roms ausgezeichnet werden, und... wenn er gegen
ihn einschreitet, sind wir den Rabbi los. Gehen wir! Gehen wir! Du, Eleazar
des Annas, der du mehr als alle anderen mit ihm befreundet bist, führe uns
an», lacht Elchias falsch wie eine Schlange.
Zuerst zögern sie etwas, doch
dann geht die Gruppe der Fanatischsten hinaus, um sich zur Burg Antonia zu
begeben. Kaiphas bleibt bei den übrigen zurück.
«Um diese Zeit! Man wird sie
nicht empfangen», bemerkt jemand.
«Im Gegenteil! Das ist die beste
Zeit. Pontius ist immer guter Laune, wenn er gegessen und getrunken hat, wie
nur ein Heide essen und trinken kann...»
82
Ich lasse sie bei ihren
Diskussionen zurück und sehe die Szene in der Antonia.
Die kurze Strecke ist rasch und
ohne Schwierigkeiten zurückgelegt, denn das Mondlicht wetteifert mit dem roten
Licht der Lampen am Eingang zum Palast des Prätoriums.
Eleazar gelingt es, sich bei
Pilatus anmelden zu lassen, und sie werden in einen großen, leeren, vollkommen
leeren Saal geführt. Nur ein schwerer Sessel mit niedriger Lehne steht darin,
der mit einem purpurroten Tuch bedeckt ist, das sich lebhaft von dem
strahlenden Weiß des Saales abhebt. Die Synedristen stehen in einer Gruppe
etwas ängstlich und fröstelnd auf dem herrlichen Marmorboden. Niemand kommt.
Absolute Stille, die nur ab und zu von ferner Musik unterbrochen wird,
herrscht im Saal.
«Pilatus ist bei Tisch. Gewiß mit
Freunden. Diese Musik wird im Triclinium gespielt. Es wird Tänze zu Ehren der
Gäste geben ...» sagt Eleazar des Annas.
«Verkommenes Volk! Morgen werde
ich mich reinigen. Die Unzucht dringt durch diese Wände...» sagt Elchias mit
Abscheu.
«Warum bist du dann gekommen? Du
hast doch diesen Vorschlag gemacht!» entgegnet Eleazar.
«Zur Ehre Gottes und für das Wohl
des Vaterlandes bin ich zu jedem Opfer bereit. Und dieses ist groß! Ich hatte
mich eben gereinigt, weil ich mich Lazarus genähert hatte... und nun... Ein
schrecklicher Tag heute...!»
Pilatus kommt nicht. Die Zeit
vergeht. Eleazar, der sich auskennt, geht zu den Türen. Sie sind alle
verschlossen. Die Angst übermannt die Anwesenden. Schreckliche Geschichten
tauchen in ihrer Erinnerung auf, und alle bedauern es, gekommen zu sein. Sie
fühlen sich schon verloren.
Endlich! An der ihnen
gegenüberliegenden Seite – denn sie sind nahe der Tür stehengeblieben, durch
die sie hereingekommen sind – also dort, wo der einzige Sessel steht, öffnet
sich eine Tür und Pilatus kommt herein in einem Gewand, das weiß ist wie der
Saal. Dabei unterhält er sich mit den Gästen und lacht. Dann wendet er sich an
den Sklaven, der den Vorhang an der Tür hält, und befiehlt ihm, Essenzen in
ein Kohlebecken zu schütten und dann parfümiertes Wasser zum Händewaschen zu
bringen. Auch ein Sklave mit Spiegel und Kämmen soll kommen. Um die Hebräer
kümmert er sich nicht, so als ob sie nicht existierten. Diese ärgern sich,
wagen jedoch nicht, sich bemerkbar zu machen.
Drüben bringt man inzwischen
Kohlebecken, streut Harze auf die Glut und gießt duftendes Wasser über die
Hände der Römer. Ein Sklave ordnet mit erfahrenen Händen die Haare,
entsprechend der Mode der reichen Römer. Und die Hebräer ärgern sich...
Die Römer lachen, machen Scherze
und sehen hin und wieder zu der kleinen Gruppe hinüber, die dort im
Hintergrund wartet. Einer spricht mit Pilatus, der sie noch nicht einmal
angesehen hat. Doch Pilatus zuckt
83
nur die Achseln, macht eine
gelangweilte Geste und klatscht in die Hände, um einen Sklaven herbeizurufen,
dem er mit lauter Stimme befiehlt, Süßigkeiten zu bringen und die Tänzerinnen
hereinzuschicken. Die Hebräer beben vor Zorn und Empörung. Man stelle sich
vor, ein Elchias ist gezwungen, Tänzerinnen zu sehen! Sein Gesicht ist ein
Gedicht von Leiden und Haß.
Nun kommen die Sklaven mit
Süßigkeiten in kostbaren Schalen, und hinter ihnen die blumenbekränzten
Tänzerinnen, die kaum von den hauchfeinen schleierartigen Stoffen bedeckt
sind. Die weißen Körper schimmern durch die feinen rosa und hellblauen
Gewänder, wenn sie an den Kohlebecken und den vielen weiter hinten
aufgestellten Lampen vorüberkommen. Die Römer bewundern die Anmut der Körper
und der Bewegungen, und Pilatus verlangt die Wiederholung eines Tanzes, der
ihm besonders gefallen hat. Elchias und sein Anhang wenden sich voll
Verachtung zur Wand, um nicht sehen zu müssen, wie die Tänzerinnen gleich
Schmetterlingen in ihren wehenden, in Unordnung geratenen Gewändern
vorbeihuschen.
Nach dem kurzen Tanz entläßt
Pilatus die Tänzerinnen, wobei er jeder die mit Süßigkeiten gefüllte Schale
reicht, in die er noch achtlos ein Armband wirft. Endlich läßt er sich dazu
herab, sich den Hebräern zuzuwenden, sie zu betrachten, und sagt zu seinen
Freunden: «Und nun muß ich vom Traum zur Wirklichkeit zurückkehren... Von der
Poesie zur... Hypokrisie... Von den anmutigen zu den belastenden Dingen des
Lebens. Es ist ein Elend, Prokonsul zu sein... ! Salve, meine Freunde. Habt
Mitleid mit mir.»
Pilatus ist allein geblieben und
nähert sich nun ganz langsam den Hebräern. Er setzt sich, betrachtet seine
wohlgepflegten Hände und entdeckt etwas, was nicht in Ordnung ist unter einem
Fingernagel. Er ist ganz damit beschäftigt, kümmert sich sofort darum und
zieht ein dünnes goldenes Stäbchen aus dem Gewand, mit dem er das große
Unglück eines unvollkommenen Fingernagels beseitigt...
Dann wendet er in seiner Güte
langsam das Haupt. Er grinst, als er die Hebräer noch immer in ihrer gebeugten
servilen Haltung sieht, und sagt: «Ihr da! Kommt her! Faßt euch kurz! Ich kann
meine Zeit nicht mit unnützen Dingen vergeuden.»
Die Hebräer nähern sich, noch
immer in serviler Haltung, bis ein: «Halt, kommt mir nicht zu nahe!» sie am
Boden festnagelt. «Sprecht! Und steht gerade, denn nur Tiere stehen auf allen
Vieren», und er lacht.
Die Hebräer richten sich bei
diesem Spott auf und stehen kerzengerade.
«Nun? Sprecht! Ihr wolltet
unbedingt kommen. Jetzt, da ihr hier seid, redet.»
«Wir wollten dir sagen... Wir
haben erfahren... Wir sind treue Diener Roms...»
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«Ha, ha, ha! Treue Diener Roms!
Ich werde es den göttlichen Caesar wissen lassen, und er wird glücklich
darüber sein! Wie glücklich er sein wird! Redet, ihr Narren. Aber rasch!»
Die Synedristen zittern vor Zorn,
erwidern aber nichts. Elchias ergreift nun im Namen aller das Wort: «Du mußt
wissen, o Pontius, daß heute in Bethanien ein Mensch vom Tod erweckt worden
ist...»
«Ich weiß es! Seid ihr gekommen,
um mir dies zu sagen? Ich weiß es schon seit vielen Stunden. Glücklich jener,
der schon weiß, was der Tod ist und wie die andere Welt aussieht! Und was kann
ich daran ändern, daß Lazarus des Theophilus vom Tod auferstanden ist? Hat er
mir vielleicht eine Botschaft aus dem Hades mitgebracht?» spottet Pilatus.
«Nein. Aber seine Auferstehung
ist eine Gefahr...»
«Für ihn? Gewiß! Er befindet sich
nun in der Gefahr, noch einmal sterben zu müssen. Eine nicht gerade angenehme
Beschäftigung. Nun, was kann ich da machen? Bin ich denn Jupiter?»
«Keine Gefahr für Lazarus...
sondern für den Caesar.»
«Für? ... Domine! Vielleicht habe
ich getrunken! Habt ihr gesagt: für den Caesar? Wie könnte Lazarus dem Caesar
schaden? Vielleicht fürchtet ihr, daß der Gestank des Grabes die Luft
verpesten könnte, die der Kaiser atmet? Beruhigt euch. Er ist zu weit weg!»
«Das nicht. Aber durch seine
Auferstehung kann Lazarus den Kaiser entthronen.»
«Entthronen? Ha, ha, ha! Das ist
das Tollste, was ich je gehört habe! Dann bin also nicht ich betrunken,
sondern ihr seid es. Vielleicht hat der Schrecken euch um den Verstand
gebracht. Jemanden auferstehen zu sehen... Ich glaube schon, daß so etwas
verwirren kann. Geht, geht zu Bett. Angenehme Ruhe. Nehmt ein heißes Bad. Sehr
heiß! Das ist gut gegen Fieberwahn.»
«Wir sprechen nicht im Wahn,
Pontius. Wir möchten dir nur sagen, daß du schlimmen Zeiten entgegengehst,
wenn du nicht vorsorgst. Ganz gewiß wirst du bestraft, wenn dich der Usurpator
nicht gar noch tötet. In Kürze wird der Nazarener zum König ausgerufen werden,
zum König der Welt! Verstehst du? Deine eigenen Legionäre werden es tun. Sie
sind vom Nazarener verführt, und das heutige Ereignis hat sie begeistert. Was
bist du für ein Diener Roms, wenn du dich nicht um den Frieden Roms kümmerst?
Willst du erleben, wie das Imperium durch deine Untätigkeit erschüttert und
geteilt wird? Willst du erleben, wie Rom besiegt, seine Insignien in den
Schmutz getreten, der Kaiser getötet und alles zerstört wird?»
«Schluß! Jetzt rede ich. Und ich
sage euch, ihr seid Idioten! Noch schlimmer, ihr seid Lügner. Bösewichter seid
ihr! Ihr würdet den Tod verdienen. Hinaus mit euch, ihr infamen Diener eurer
eigenen Interessen, eures Hasses, eurer Niederträchtigkeit! Knechte seid ihr.
Ich nicht. Ich
85
bin römischer Bürger, und
römische Bürger sind niemandes Knechte. Ich bin kaiserlicher Beamter und ich
arbeite für das Wohl des Vaterlandes. Ihr... ihr seid die Untertanen. Ihr...
ihr seid die Unterworfenen. Ihr seid Galeerensträflinge, die an ihre Bänke
gekettet sind, und euer Ärger ist nutzlos... Die Peitsche des Aufsehers droht
euch. Der Nazarener! ... Ihr hättet gerne, daß ich den Nazarener töte? Ihr
möchtet, daß ich ihn ins Gefängnis werfe? Beim Jupiter! Wenn ich zum Wohl Roms
und des göttlichen Kaisers alle gefährlichen Subjekte einsperren oder töten
müßte, hier, wo ich Statthalter bin, dann dürfte ich nur den Nazarener und
seine Gefährten, und nur diese, frei und am Leben lassen. Geht. Verschwindet
und kommt mir nicht mehr unter die Augen. Ihr Aufrührer! Ihr Aufwiegler! Ihr
Diebe und Hehler! Keine einzige eurer Machenschaften ist mir verborgen. Das
sollt ihr wissen. Und ihr sollt auch wissen, daß frische Waffen und neue
Legionäre schon hinter eure Schliche gekommen sind und eure Werkzeuge kennen.
Ihr schreit wegen der römischen Steuer? Aber wie teuer sind euch Melchias von
Galaad, Jonas von Scythopolis, Philippus von Socho, Johannes von Bethaven,
Joseph von Ramot und all die anderen, die wir bald erwischen werden, zu stehen
gekommen? Geht nur nicht zu den Höhlen im Tal, denn dort sind mehr Soldaten
als Steine, und das Gesetz und die Galeeren sind für alle gleich. Für alle!
Versteht ihr? Für alle. Ich hoffe, den Tag zu erleben, da ihr alle in Ketten
liegen werdet, Sklaven unter Sklaven, unter dem Stiefel Roms. Hinaus! Geht und
berichtet euren Gesinnungsgenossen. Auch du, Eleazar des Annas, den ich nicht
mehr in meinem Haus zu sehen wünsche. Berichtet, daß die Zeit der Nachsicht zu
Ende ist und daß ich der Prokonsul bin und ihr die Untertanen seid. Die
Untertanen! Und ich befehle im Namen Roms. Hinaus! Ihr nächtlichen Schlangen!
Vampire! Und der Nazarener will euch erlösen? Wenn er Gott wäre, müßte er euch
mit einem Blitz erschlagen! Dann wäre die Welt vom größten Schandfleck
befreit. Hinaus! Und wagt es nicht, Verschwörungen anzuzetteln, sonst lernt
ihr Schwert und Geißel kennen.»
Pilatus steht auf, geht weg und
schlägt die Tür vor den erschrockenen Synedristen zu. Sie haben nicht einmal
die Zeit, zu sich zu kommen, denn ein bewaffneter Trupp kommt herein und jagt
sie wie Hunde aus dem Saal und aus dem Palast.
Sie kehren in den Saal des
Synedriums zurück und berichten. Die Erregung ist auf dem Höhepunkt. Die
Nachricht von der Gefangennahme vieler Räuber und dem Gefecht in den Höhlen
beunruhigt die Zurückgebliebenen aufs äußerste. Denn viele sind, des Wartens
müde, schon nach Hause gegangen.
«Und doch können wir ihn nicht am
Leben lassen!» schreien einige Priester.
«Wir können ihn nicht
weitermachen lassen. Er handelt, und wir tun
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nichts und verlieren täglich mehr
an Einfluß. Wenn wir ihn weiter in Freiheit lassen, wird er fortfahren, Wunder
zu wirken, und alle werden an ihn glauben. Die Römer werden am Ende noch gegen
uns einschreiten und uns ganz vernichten. Pontius sagt es... Aber wenn die
Volksmassen ihn zum König ausrufen würden, oh, dann hätte Pontius die Pflicht,
uns alle zu bestrafen. Wir dürfen das nicht zulassen», schreit Sadok.
«Nun gut, aber wie? Der römische
Rechtsweg hat nicht zum Ziel geführt. Pontius ist des Nazareners sicher. Unser
Rechtsweg... ist unmöglich gemacht. Jesus sündigt nicht...» bemerkt einer.
«Man erfindet eine Schuld, wenn
keine Schuld vorliegt», rät Kaiphas.
«Aber das wäre Sünde! Meineid!
Einen Unschuldigen verurteilen lassen! Das geht zu weit!» sagen die meisten
mit Abscheu. «Es ist ein Verbrechen, denn es wäre sein Tod!»
«Nun und? Erschreckt euch dies?
Ihr seid töricht und versteht nichts. Nach dem, was vorgefallen ist, muß Jesus
sterben. Begreift ihr denn nicht, daß es besser für uns ist, wenn ein Mensch
stirbt, bevor viele Menschen sterben. Daher muß er sterben, damit sein Volk
gerettet wird und nicht unsere ganze Nation zugrundegeht. Übrigens... sagt er
ja selbst, daß er der Erlöser ist. Also soll er sich opfern, um alle anderen
zu retten», sagt Kaiphas, abstoßend in seinem kalten, verschlagenen Haß.
«Aber Kaiphas! Überlege! Er ...»
«Ich habe gesprochen. Der Geist
des Herrn ruht auf mir, dem Hohenpriester! Wehe denen, die den Hohenpriester
Israels nicht achten! Die Blitze Gottes sollen sie treffen! Genug des Wartens!
Genug der Ängste! Ich befehle und ordne an, daß jeder, der erfährt, wo sich
der Nazarener aufhält, es uns sofort mitteilt. Verflucht sei, wer meinem Wort
nicht gehorcht.»
«Aber Annas...» entgegnen einige.
«Annas hat zu mir gesagt: "Alles,
was du tust, wird heilig sein." Wir wollen die Sitzung aufheben. Am Freitag
zwischen der dritten und der sechsten Stunde treffen wir uns alle hier zur
Beratung. Alle, habe ich gesagt! Laßt es die Abwesenden wissen. Ruft auch alle
Oberhäupter der Familien und der Stände, alle Vornehmen Israels. Das Synedrium
hat gesprochen. Geht.»
Und er zieht sich als erster
dorthin zurück, von wo er gekommen ist, während die anderen nach allen Seiten
auseinandergehen. Leise redend verlassen sie den Tempel und gehen nach Hause.
87
605. JESUS IN BETHANIEN
Schön ist es, sich auszuruhen,
umgeben von der Liebe der Freunde und in der Nähe des Meisters, an diesen
sonnigen Tagen, die schon das erste Lächeln des Vorfrühlings ankündigen. Schön
ist es, die Felder zu betrachten, aus deren Schollen das erste unschuldige
Grün des Getreides sprießt; nach den Wiesen zu sehen, die das eintönige Grün
des Winters mit den ersten vielfarbigen Blümchen besticken; die Hecken zu
bewundern, die an sonnigen Stellen schon mit den ersten aufgebrochenen Knospen
lächeln, und Mandelbäume zu entdecken, die am Gipfel eine Schaumkrone zarter
Blüten tragen.
Jesus freut sich darüber, die
Apostel genießen es, und ebenso die drei Freunde von Bethanien. Das Leid, der
Schmerz, die Traurigkeit, die Krankheit, der Tod, der Haß, der Neid, kurz
alles, was schmerzt, quält und auf der Welt Sorge bereitet, scheint so fern zu
sein.
Die Apostel sind ohne Ausnahme
überglücklich und sagen es auch. Oh, mit welch großer Gewißheit und
Siegessicherheit bringen sie ihre Überzeugung zum Ausdruck, daß Jesus nun über
alle Feinde triumphiert hat, daß er seine Aufgabe ungehindert erfüllen wird,
und daß auch die hartnäckigsten Leugner ihn jetzt als Messias anerkennen
werden. Sie reden, sind begeistert und wie verjüngt vor Glück, und sie machen
Pläne für die Zukunft und träumen... träumen so viel... und allzu menschlich.
Der Übermütigste aufgrund seiner
Veranlagung, die ihn immer zum Extremen treibt, ist Judas von Kerioth. Er
beglückwünscht sich selbst, weil er es verstanden hat, abzuwarten und das
Richtige zu tun, er beglückwünscht sich zu seinem standhaften Glauben an den
Triumph des Meisters und weil er den Drohungen des Synedriums widerstanden
hat... Er ist so begeistert, daß er am Ende sogar noch das sagt, was er bisher
immer verborgen hat, sehr zur Verwunderung der Gefährten: «Ja, sie wollten
mich bestechen. Sie wollten mich verführen mit Schmeicheleien, und als sie
sahen, daß das nicht half, auch mit Drohungen. Wenn ihr wüßtet! Aber ich... !
Ich habe es ihnen mit gleicher Münze heimgezahlt. Ich habe ihnen Freundschaft
vorgeschwindelt, so wie sie mir. Ich habe sie betrogen, wie sie mich betrogen
haben, und ich habe sie verraten, wie sie mich verraten wollten... Denn das
wollten sie. Sie wollten mich glauben machen, daß sie den Meister in guter
Absicht auf die Probe stellen, um ihn dann feierlich als den Heiligen Gottes
auszurufen. Aber ich kenne sie! Ich kenne sie. Und alles, was sie vorhatten,
habe ich so gelenkt, daß die Heiligkeit Jesu strahlender als die Mittagssonne
am wolkenlosen Himmel leuchtete... Es war ein gefährliches Spiel! Wenn sie es
erkannt hätten! Doch ich war zu allem bereit, sogar zu sterben, um Gott in
meinem Meister zu dienen. Und so habe ich alles erfahren... Nun, manchmal muß
ich euch verrückt, böse lind widerspenstig vorgekommen sein. Wenn ihr
88
gewußt hättet! Ich allein weiß,
wie viele Nächte, wieviel Mühe es mich gekostet hat, Gutes zu tun, ohne dabei
aufzufallen! Alle habt ihr mir ein wenig mißtraut. Ich weiß es. Aber ich bin
euch deswegen nicht böse. Meine Art, mich zu benehmen... ja... sie konnte
Mißtrauen erwecken. Doch der Zweck war gut, und ich dachte nur an diesen.
Jesus weiß nichts davon. Das heißt, ich glaube, daß auch er mir mißtraut. Aber
ich kann schweigen und erwarte kein Lob von ihm. Schweigt auch ihr. Einmal, in
der ersten Zeit bei ihm – du, Simon Zelot, und du, Johannes des Zebedäus, ihr
wart dabei – tadelte er mich, weil ich mich gerühmt hatte, einen praktischen
Sinn zu besitzen. Seitdem... habe ich diese Eigenschaft nie mehr
herausgekehrt, sondern sie nur zu seinem Besten eingesetzt. Ich habe es
gemacht wie eine Mutter mit ihrem unerfahrenen Kind. Sie räumt ihm alle
Hindernisse aus dem Weg, biegt ihm den Zweig ohne Dornen zur Seite und nimmt
den weg, der es verletzen könnte. Mit Umsicht veranlaßt sie es zu tun, was es
tun muß, und das Schädliche zu meiden, ohne daß sich das Kind dessen bewußt
wird. Und das Kind glaubt, alles allein erreicht zu haben, allein gehen zu
können ohne zu stolpern, um die schöne Blume für die Mutter zu pflücken und
spontan dies und das zu tun. Ich habe es beim Meister genauso gemacht. Denn
die Heiligkeit genügt nicht in einer Welt der Menschen und des Satans. Wir
müssen mit gleichen Waffen kämpfen, wenigstens als Menschen... und manchmal...
ist es auch nicht schlecht, eine Prise höllischer Schlauheit neben den anderen
Waffen einzusetzen. Das ist meine Meinung. Aber Jesus will davon nichts
hören... Er ist zu gut... Nun, ich verstehe alles und alle und entschuldige
alle, die eine schlechte Meinung von mir gehabt haben könnten. Nun wißt ihr
es. Und nun wollen wir uns als gute Kameraden lieben, alles für seine Liebe
und zu seiner Ehre!» Und Judas deutet auf Jesus, der weit weg auf einem
sonnenbeschienenen Weg spazierengeht und mit Lazarus redet, der ihm mit einem
verklärten Lächeln auf dem Gesicht zuhört.
Die Apostel entfernen sich in
Richtung des Hauses des Simon. Jesus hingegen nähert sich mit dem Freund. Ich
höre ihnen zu. Lazarus sagt. «Ja, ich hatte verstanden, daß es einem wichtigen
Zweck diente, und gewiß einem guten, mich sterben zu lassen. Ich dachte, es
sollte mir erspart bleiben mitanzusehen, wie man dich verfolgt. Und – du
weißt, daß ich die Wahrheit sage – ich war glücklich, zu sterben, um dies
nicht erleben zu müssen. Es verbittert und beunruhigt mich. Siehst du,
Meister, ich habe denen, die die Führer unseres Volkes sind, so vieles
verziehen... Bis zum letzten Tag mußte ich verzeihen... Elchias... Aber der
Tod und die Auferweckung haben ausgelöscht, was vorher war. Wozu mich an ihre
letzten Taten erinnern, mit denen sie mir Leid antun wollten? Ich habe Maria
alles verziehen. Sie scheint daran zu zweifeln. Ich weiß nicht warum, aber
seit ich auferstanden bin, zeigt sie mir gegenüber ein Verhalten... ich weiß
nicht, wie ich es nennen soll. Sie ist von einer Sanftmut und
89
Unterwürfigkeit... die so fremd
bei meiner Maria sind. Nicht einmal in der ersten Zeit, als sie, durch dich
erlöst, hierher zurückkehrte, war sie so... Vielleicht weißt du etwas und
kannst es mir erklären, denn Maria erzählt dir alles... Vielleicht haben jene,
die hier gewesen sind, sie zu sehr beleidigt. Ich habe immer die Erinnerung an
ihre Vergangenheit zu mildern versucht, wenn ich sah, wie sie darüber
nachdachte und darunter litt. Sie kann keine Ruhe finden. Sie scheint so...
über dem, was Demütigung ist, zu stehen. Und einige könnten sogar glauben, daß
sie wenig bereut... Doch ich verstehe.... Ich weiß. Alles tut sie, um zu
sühnen... Sie tut große Buße aller Art. Es würde mich nicht wundern, wenn sie
unter dem Gewand einen Bußgürtel tragen und ihr Fleisch geißeln würde... Aber
meine Bruderliebe, mit der ich ihr zu helfen versuche und den Schleier des
Vergessens über die Vergangenheit breite, haben die anderen nicht... Weißt du,
ob sie vielleicht von jemandem gekränkt worden ist, der nicht verzeihen
kann... wo sie doch so sehr der Vergebung bedarf?»
«Ich weiß es nicht. Lazarus.
Maria hat nicht davon gesprochen. Sie hat nur gesagt, daß sie sehr gelitten
hat wegen der Behauptung der Pharisäer, ich sei nicht der Messias, weil ich
dich nicht geheilt und nicht auferweckt habe.»
«Und hat sie dir nichts über mich
gesagt? Weißt du... ich habe so gelitten... Ich erinnere mich, daß meine
Mutter in ihren letzten Stunden Dinge geoffenbart hat, die weder ich noch
Martha ahnten. Und bei den letzten Regungen ihres Herzens vor dem Tod war es,
als ob der Grund ihrer Seele und ihrer Vergangenheit wieder an die Oberfläche
käme. Ich möchte nicht... Mein Herz hat so viel um Maria gelitten... Und ich
habe mich so bemüht, sie nie merken zu lassen, was ich für sie gelitten
habe... Ich möchte nicht, daß ich sie jetzt verletzt habe, wo sie gut ist,
während ich sie früher, erst aus Bruderliebe und dann aus Liebe zu dir, nie
gekränkt habe in der schlimmen Zeit, da sie unsere Schande war. Was hat sie
dir von mir gesagt, Meister?»
«Sie sprach von ihrem Schmerz, zu
wenig Zeit gehabt zu haben, um dir ihre heilige Liebe als Schwester und
Jüngerin zu schenken. Als sie dich verlor, erkannte sie in ihrem ganzen Ausmaß
die Schätze der Liebe, die sie einst mit Füßen getreten hatte... Und nun ist
sie glücklich, dir alle Liebe schenken zu können, die sie dir geben will, um
dir zu zeigen, daß du für sie der heilige, geliebte Bruder bist.»
«So ist es also! Ich habe es
geahnt! Und ich freue mich darüber. Ich fürchtete, sie beleidigt zu haben...
Seit gestern denke ich nach, immer wieder... und bemühe mich, mich zu
erinnern... Doch es will mir nicht gelingen ...»
«Aber warum willst du dich
erinnern? Du hast die Zukunft vor dir. Die Vergangenheit ist im Grab
zurückgeblieben. Nein, nicht einmal dort ist sie geblieben. Sie ist verbrannt
worden mit den Leichenbinden. Aber wenn es
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dich beruhigt, wiederhole ich dir
die letzten Worte, die du zu deinen Schwestern gesagt hast. Zu Maria
insbesondere. Du hast gesagt, ich sei wegen Maria hierhergekommen und käme
wieder, weil Maria mehr als alle anderen zu lieben versteht. Das ist wahr. Du
hast gesagt, daß sie dich mehr als alle anderen geliebt hat. Auch das ist
wahr, denn sie hat dich geliebt und sich aus Liebe zu Gott und zu dir
geändert. Du hast richtig zu ihr gesagt, daß ein Leben voller Glück und Wonne
dir nicht die Freude geschenkt hätte, die sie dir geschenkt hat. Und du hast
sie gesegnet, wie ein Patriarch seine geliebten Kinder segnet. Du hast Martha
ebenso gesegnet, die du deinen Frieden nanntest, wie Maria, die du deine
Freude nanntest. Bist du nun beruhigt?»
«Jetzt schon, Meister. Jetzt bin
ich beruhigt.»
«Und da der Friede barmherzig
macht, verzeihe auch den Führern des Volkes, die mich verfolgen. Denn dies
wolltest du sagen: daß du alles verzeihen kannst, nur nicht das Böse, das mir
zugefügt wird.»
«So ist es, Meister.»
«Nein, Lazarus. Ich verzeihe
ihnen. Und auch du mußt ihnen verzeihen, wenn du mir ähnlich sein willst.»
«Oh! Dir ähnlich sein! Das kann
ich nicht. Ich bin ein einfacher Mensch.»
«Der Mensch ist dort unten
geblieben. Der Mensch! Dein Geist... Du weißt, was beim Tod eines Menschen
geschieht...»
«Nein, Herr. Ich kann mich an gar
nichts erinnern, was mir geschehen ist», unterbricht ihn Lazarus entschieden.
Jesus lächelt und fährt fort:
«Ich meine nicht dein persönliches Wissen, deine persönliche Erfahrung. Ich
spreche von dem, was jeder Gläubige weiß... von dem, was geschieht, wenn man
stirbt.»
«Ach so, das besondere Gericht.
Ich weiß und ich glaube es. Die Seele erscheint vor Gott, und Gott richtet
sie.»
«So ist es. Und das Urteil Gottes
ist gerecht und unumstößlich. Und hat einen unendlichen Wert. Wenn auf der
gerichteten Seele eine Todsünde lastet, wird sie verdammt. Wenn sie nur eine
leichte Schuld befleckt, kommt sie ins Fegefeuer. Und wenn sie gerecht ist,
kommt sie in den Frieden des Limbus und wartet darauf, daß ich die Pforten des
Himmels öffne. Ich habe also deinen Geist zurückgerufen, nachdem er schon von
Gott gerichtet war. Wärest du verdammt gewesen, hätte ich dich nicht ins Leben
zurückrufen können, denn ich hätte dadurch das Urteil meines Vaters
aufgehoben. Für die Verdammten gibt es keine Veränderung mehr. Sie sind auf
ewig verurteilt. Also warst du bei denen, die nicht verdammt sind. Somit
entweder bei der Gruppe der Seligen oder bei der Gruppe derer, die nach der
Reinigung selig werden. Nun denke nach, mein Freund. Wenn der aufrichtige
Wille zu bereuen, den der Mensch haben kann, solange er noch Mensch ist, also
Leib und Seele, Reinigungswert
91
hat; wenn der symbolische Ritus
der Taufe im Wasser, vom Geist der Buße gewollt wegen der Verunreinigungen
durch die Welt und das Fleisch, für uns Hebräer den Wert einer Reinigung hat;
welchen Wert wird dann erst die Reue, die wahre und vollkommene, viel
vollkommenere Reue einer vom Leib getrennten Seele haben, die sich dessen
bewußt ist, was Gott ist, die erleuchtet ist über die Schwere ihrer Fehler und
die die Größe der Freude erkennt, derer sie sich für Stunden, Jahre oder
Jahrhunderte beraubt hat: der Freude im Frieden des Limbus, die bald die
Freude des Besitzes Gottes sein wird. Sie wird die doppelte und dreifache
Reinigung der vollkommenen Reue sein, der vollkommenen Liebe, des Bades in der
Glut der von der Liebe Gottes und der Liebe der Seele entzündeten Flamme, in
der und durch die die Seelen von jeder Unreinheit befreit werden und aus der
sie schön wie Seraphim hervorgehen, gekrönt mit dem, was nicht einmal die
Seraphim krönt: ihr diesseitiges und jenseitiges Martyrium gegen die
Leidenschaften und aus Liebe. Was wird also diese Reue sein? Sag es, mein
Freund!»
«Ich... ich weiß nicht... Eine
Vervollkommnung. Besser... eine Wiedergeburt.»
«Das ist es. Du hast das richtige
Wort gesagt. Die Seele ist wie neugeboren. Die Seele wird der eines kleinen
Kindes ähnlich. Sie ist neu. Die ganze Vergangenheit existiert nicht mehr. Die
Vergangenheit als Mensch. Und wenn die Schuld der Erbsünde getilgt ist, wird
die von jedem Makel, jedem Schatten eines Makels befreite Seele erneuert und
des Paradieses würdig. Ich habe deine Seele zurückgerufen, die sich schon
erneuert hatte durch den Willen zum Guten, durch die Sühne der Leiden und des
Todes, durch die vollkommene Reue und vollkommene Liebe, die du jenseits des
Todes erlangt hast. Dir hast somit die ganz unschuldige Seele eines
neugeborenen, wenige Stunden alten Kindes. Und wenn du ein neugeborenes Kind
bist, warum willst du dann diese geistige Kindheit mit den rauhen, schweren
Gewändern des erwachsenen Menschen bekleiden? Die Kinder haben Flügel und
keine Ketten an ihrer heiteren Seele. Sie ahmen mich mit Leichtigkeit nach,
denn sie haben noch keinerlei Persönlichkeit entwickelt. Sie sind so, wie ich
bin, denn in ihre noch nicht geprägten Seelen können sich meine Gestalt und
meine Lehre klar und deutlich einprägen. Ihre Seelen sind unberührt von
menschlichen Erinnerungen, Enttäuschungen und Vorurteilen. Nichts ist in
ihnen. Und so kann ich dort sein, vollkommen und unbeschränkt, wie im Himmel.
Du bist wie wiedergeboren, ein neu Geborener, denn in deinem alten Fleisch ist
eine neue Antriebskraft ohne Vergangenheit, rein und ohne Spuren dessen, was
war. Du bist zurückgekehrt, um mir zu dienen. Nur dazu. Daher mußt du sein,
wie ich bin, mehr als alle anderen. Sieh mich an. Sieh mich gut an. Spiegle
dich in mir und widerspiegle mich in dir. Zwei Spiegel, die einander
betrachten und einer im anderen die Gestalt dessen widerspiegeln, den sie
lieben.
92
Du bist Mann und bist Kind. Du
bist Mann durch das Alter und Kind durch die Reinheit des Herzens. Du hast vor
den Kindern den Vorteil, das Gute und das Böse schon zu kennen. Ja, du wußtest
schon vor der Taufe in den Flammen der Liebe das Gute zu wählen. Nun, ich sage
dir, dir, dem Menschen mit der reinen Seele, dessen Reinigung schon vollzogen
ist: "Sei vollkommen wie unser Vater im Himmel, und wie ich es bin. Sei
vollkommen, also mir ähnlich, der ich dich so sehr geliebt habe, daß ich
entgegen allen Gesetzen des Lebens und des Todes, des Himmels und der Erde
gehandelt habe, um auf Erden wieder einen Diener Gottes und wahren Freund und
im Himmel einen Seligen, einen großen Seligen zu haben." Ich sage allen: "Seid
vollkommen." Und sie, die meisten, haben nicht ein Herz wie deines, das eines
Wunders würdig ist; und würdig auch, als Werkzeug zur Verherrlichung Gottes in
seinem Sohn gebraucht zu werden. Und sie schulden Gott nicht so viel Liebe wie
du... Ich kann es sagen. Ich kann es von dir fordern. Und als erstes verlange
ich, daß du keine Rachegefühle hegst gegen die, die dich beleidigt haben und
mich beleidigen. Verzeihe, verzeihe, Lazarus. Du warst eingetaucht in die von
der Liebe entfachten Flammen. Du mußt "Liebe" sein und darfst nichts anderes
mehr kennen als die Umarmung Gottes.»
«Wenn ich das tue, werde ich dann
die Mission erfüllen, für die du mich auferweckt hast?»
«Ja, dann wirst du sie erfüllen.»
«Das genügt mir, Herr. Mehr
brauche ich nicht zu fragen und zu wissen. Dir dienen zu dürfen, danach habe
ich mich immer gesehnt. Wenn ich dir auch mit dem Nichts gedient habe, das ein
Kranker und ein Toter geben kann, und wenn ich dir werde dienen können mit dem
vielen, das ein Geheilter tun kann, so ist mein Wunsch erfüllt und ich
verlange nichts mehr. Sei gepriesen, Jesus, mein Herr und Meister! Und mit dir
der, der dich gesandt hat.»
«Gepriesen sei in alle Ewigkeit
der Herr, der allmächtige Gott.»
Sie gehen nun auf das Haus zu,
bleiben dabei ab und zu stehen und betrachten das Wiedererwachen der Bäume,
und Jesus, der groß ist, streckt einen Arm aus und pflückt einen blühenden
Mandelzweig, der sich an der Südseite des Hauses in der Sonne wärmt.
Maria kommt aus dem Haus, sieht
die beiden und nähert sich ihnen, um zu hören, was Jesus sagt: «Siehst du,
Lazarus ? Auch zu ihnen hat der Herr gesagt: "Kommt heraus." Und sie haben
gehorcht, um dem Herrn zu dienen.»
«Welch ein Geheimnis ist doch das
Keimen! Es scheint unmöglich, daß aus dem harten Stamm oder aus harten Samen
so zarte Blüten und zerbrechliche Stengel hervorkommen und zu Früchten oder
Bäumen werden. Ist es falsch zu sagen, Meister, daß der Saft oder der Keim die
Seele der Pflanze oder des Samens ist?»
93
«Es ist nicht falsch, denn es ist
der lebendige Teil. Bei ihnen zwar nicht ewig, doch geschaffen für jede Art am
ersten Tag, da Bäume und Pflanzen waren. Beim Menschen ewig, seinem Schöpfer
ähnlich, geschaffen von Mal zu Mal für jeden neuen Menschen, der empfangen
wird. Erst durch die Seele lebt die Materie. Und daher sage ich, daß der
Mensch nur für die Seele lebt. Nicht nur hier lebt er, auch im Jenseits. Um
seiner Seele willen lebt er. Wir Hebräer schmücken unsere Gräber nicht mit
Bildern, wie es die Heiden tun. Aber wenn wir etwas abbilden wollten, dann
dürfte es keine erloschene Fackel, keine leere Sanduhr oder sonst ein Symbol
für das Ende sein, sondern ein in die Furche gestreuter Same, der sich zur
Ähre entwickelt hat. Denn der Tod des Fleisches ist es, der die Seele von der
Schale befreit und sie Frucht tragen läßt in den Gärten Gottes. Der Same, der
lebendige Funke, den Gott in unseren Staub gelegt hat und der zur Ähre wird,
wenn wir es verstehen, durch den Willen und auch den Schmerz die Scholle
fruchtbar zu machen, die ihn umgibt. Der Same, das Symbol des Lebens, das sich
fortpflanzt... Aber Maximinus ruft dich...»
«Ich gehe, Meister. Es werden
Verwalter gekommen sein. In den letzten Monaten ist vieles unerledigt
geblieben, und nun beeilen sie sich, mir Rechenschaft abzulegen.»
«Und du heißt ihr Tun schon im
voraus gut, weil du ein guter Herr bist.»
«Und weil sie gute Diener sind.»
«Ein guter Herr macht auch die
Diener gut.»
«Dann werde ich gewiß ein guter
Diener, denn ich habe in dir einen vollkommenen Herrn.» Und Lazarus entfernt
sich lächelnd und leichtfüßig, ganz anders als der arme Lazarus, der er viele
Jahre lang gewesen ist.
Maria bleibt bei Jesus.
«Und du, Maria, wirst du eine
gute Dienerin deines Herrn werden?»
«Das kannst nur du wissen,
Rabbuni. Ich... ich weiß nur, daß ich eine große Sünderin gewesen bin.»
Jesus lächelt: «Hast du Lazarus
gesehen? Auch er war schwer krank, und meinst du nicht, daß er nun ganz gesund
ist?»
«So ist es, Rabbuni. Du hast ihn
geheilt. Und was du tust, tust du immer ganz. Lazarus ist nie zuvor so kräftig
und so heiter gewesen wie jetzt, da er aus dem Grab gestiegen ist.»
«Du hast recht, Maria. Was ich
tue, tue ich immer ganz. Daher bist auch du gänzlich vom Bösen befreit, denn
ich habe diese Befreiung bewirkt.»
«Das ist wahr, mein geliebter
Erretter, Erlöser, König und Gott. Das ist wahr. Und wenn du es willst, werde
auch ich eine gute Dienerin meines Herrn sein. Ich meinerseits will es, Herr.
Ich weiß jedoch nicht, ob auch du es willst.»
94
«Ich will es, Maria. Sei meine
gute Dienerin. Heute mehr als gestern. Morgen mehr als heute. Bis ich zu dir
sagen werde: "Genug, Maria. Nun ist die Stunde deiner Ruhe gekommen."»
«So sei es, Herr. Und ich möchte,
daß du mich dann rufst. So wie du meinen Bruder aus dem Grab gerufen hast. Oh,
rufe mich dann aus dem Leben!»
«Nein, nicht aus dem Leben. Ich
werde dich zum Leben, zum wahren Leben rufen. Ich werde dich aus dem Grab des
Fleisches und der Erde rufen. Ich werde dich zur Hochzeit deiner Seele mit
deinem Herrn rufen.»
«Meine Hochzeit! Du liebst die
Jungfrauen, Herr...»
«Ich liebe jene, die mich lieben,
Maria.»
«Du bist göttlich gut, Rabbuni!
Deshalb konnte ich keinen Frieden finden, als ich hören mußte, wie man dich
böse nannte, weil du nicht gekommen warst. Es war, als ob alles
zusammenbrechen würde. Welche Mühe, mir selbst zu sagen: "Nein, nein, du
darfst dieses Offensichtliche nicht akzeptieren. Was dir offensichtlich
erscheint, ist ein Traum. Die Wirklichkeit ist die Macht, die Güte, die
Gottheit deines Herrn." Ach, was habe ich gelitten! Welcher Schmerz über den
Tod des Lazarus und über seine Worte... Hat er dir nichts gesagt? Erinnert er
sich nicht mehr? Sage mir die Wahrheit...»
«Ich lüge nie, Maria. Er
fürchtet, gesprochen und gesagt zu haben, was der Schmerz seines Lebens
gewesen ist. Aber ich habe ihn beruhigt, ohne zu lügen, und er ist nun ruhig.»
«Danke, Herr. Jene Worte... haben
mir gut getan. Ja, so wie die Behandlung eines Arztes guttut, bei der die
Wurzel des Übels freigelegt und ausgebrannt wird. Sie haben die alte Maria
vollends vernichtet. Ich hatte immer noch eine zu gute Meinung von mir. Nun...
ermesse ich den Abgrund meiner Verworfenheit und weiß, daß ich noch einen
weiten Weg zurückzulegen habe, um wieder herauszukommen. Aber ich werde es
schaffen, wenn du mir hilfst.»
«Ich werde dir helfen, Maria.
Auch wenn ich nicht mehr unter den Menschen weile, werde ich dir helfen.»
«Wie, mein Herr?»
«Indem ich deine Liebe ins
Unendliche vermehre. Für dich gibt es keinen anderen Weg als diesen.»
«Das wäre zu schön für mich, die
noch so viel zu sühnen hat! Alle retten sich durch die Liebe. Alle erlangen
damit den Himmel. Aber was für die Reinen, die Gerechten genügt, genügt nicht
für die große Sünderin.»
«Es gibt keinen anderen Weg für
dich, Maria. Welchen Weg du auch nehmen wirst, er wird immer Liebe sein.
Liebe, wenn du in meinem Namen Gutes tust. Liebe, wenn du die Frohe Botschaft
verkündest. Liebe, wenn du dich absonderst. Liebe, wenn du dich kasteist.
Liebe, wenn du dich martern läßt. Du kannst nichts als lieben, Maria. Das ist
deine Natur.
95
Flammen können nur brennen. Sei
es, daß sie am Boden kriechen und die Streu verbrennen, sei es, daß sie in
leuchtender Umarmung emporstreben an einem Baum, einem Haus oder von einem
Altar, um den Himmel zu erstürmen. Jeder entsprechend seiner Natur. Die
Weisheit der Geisteslehrer besteht darin, auf den Neigungen des Menschen
aufzubauen und ihn auf den Weg zu führen, auf dem er sich zum Guten entwickeln
kann. Auch bei den Pflanzen und den Tieren gilt dieses Gesetz, und es wäre
töricht zu verlangen, daß ein Obstbaum nur blüht oder Früchte trägt, die nicht
seiner Art entsprechen; oder daß ein Tier eine Aufgabe erfüllt, für die ein
anderes bestimmt ist. Könntest du von der Biene dort, deren Bestimmung es ist,
Honig zu sammeln, verlangen, daß sie wie ein Vogel im Dickicht der Hecke
singt? Oder könntest du verlangen, daß dieser blühende Mandelbaumzweig, den
ich in der Hand halte, und der ganze Mandelbaum, von dem ich ihn gepflückt
habe, dem Menschen anstelle der Mandeln duftendes Harz spendet? Die Biene
arbeitet, der Vogel singt, der Mandelbaum trägt Früchte, ein anderer Baum
spendet Wohlgeruch. Und alle erfüllen so ihre Aufgabe. Ebenso ist es bei den
Seelen. Und deine Aufgabe ist es, zu lieben.»
«Dann entzünde mich, Herr. Ich
bitte dich um diese Gnade.»
«Genügt dir nicht die Kraft der
Liebe, die du schon besitzest?»
«Sie ist zu gering, Herr. Sie mag
ausreichen, um die Menschen zu lieben, aber nicht für dich, der du der
unendliche Herr bist.»
«Gerade weil ich es bin, wäre
eine unendliche Liebe nötig ...»
«Ja, mein Herr, diese will ich.
Schenke mir eine unendliche Liebe.»
«Maria, der Allerhöchste, der
weiß, was Liebe ist, hat dem Menschen gesagt: "Du sollst mich lieben mit allen
deinen Kräften." Mehr verlangt er nicht. Denn er weiß, daß es schon ein
Martyrium ist, mit allen seinen Kräften zu lieben.»
«Das macht nichts, mein Herr. Gib
mir eine unendliche Liebe, damit ich dich lieben kann, wie man dich lieben muß
und wie ich noch niemanden geliebt habe.»
«Du bittest mich um ein Leiden,
das dem des Scheiterhaufens gleicht, der brennt und verzehrt. Auf dem man
verbrennt und langsam von den Flammen verzehrt wird... Überlege es dir gut.»
«Schon lange denke ich daran,
mein Herr. Aber ich habe nie gewagt, dich darum zu bitten. Nun weiß ich, wie
sehr du mich liebst. Erst jetzt kenne ich das ganze Ausmaß deiner Liebe und
wage es, dich zu bitten. Gib mir diese unendliche Liebe, Herr!»
Jesus sieht sie an. Sie steht vor
ihm, noch mager von den Nachtwachen und dem Schmerz, mit ihrem einfachen,
bescheidenen Gewand und der schlichten Frisur, wie ein braves Mädchen. Mit
ihrem blassen Antlitz, das sich vor Sehnsucht rötet, und ihren bittenden
Augen, die vor Liebe leuchten, ist sie schon mehr ein Seraph als eine Frau.
Sie ist wahrlich
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die Beschauliche, die das
Martyrium der absoluten Kontemplation erfleht...
Jesus sagt ein einziges Wort,
nachdem er sie lange angesehen hat, als wolle er ihren Willen abwägen: «Ja.»
«Ach, mein Herr! Welche Gnade,
aus Liebe zu dir zu sterben!» Sie fällt auf die Knie und küßt die Füße Jesu.
«Steh auf, Maria. Nimm diese
Blüten. Es sollen die Blumen deiner geistigen Vermählung sein. Sei sanft wie
die Frucht des Mandelbaumes, rein wie seine Blüte, leuchtend wie das aus
seiner Frucht gepreßte Öl, wenn es entzündet ist, und duftend wie dieses Öl,
wenn es mit Essenzen gesättigt bei den Gastmählern versprüht oder auf die
Häupter der Könige gegossen wird, duftend nach deinen Tugenden. Dann wirst du
wahrlich über deinen Herrn den Balsam ausgießen, den er so unendlich liebt.»
Maria nimmt die Blumen, aber sie
erhebt sich nicht, sondern schenkt schon im voraus den Balsam der Liebe mit
ihren Küssen und den Tränen, die sie auf die Füße des Herrn vergießt.
Lazarus kommt ihnen entgegen:
«Meister, eine Knabe ist da, der dich sprechen will. Er ist in das Haus des
Simon gegangen, um dich dort zu suchen, und hat nur Johannes gefunden, der ihn
hierher geführt hat. Aber er will nur mit dir reden.»
«Gut, bring ihn her. Ich werde in
die Jasminlaube gehen.»
Maria kehrt mit Lazarus ins Haus
zurück, und Jesus begibt sich zur Laube. Kurz darauf kommt Lazarus mit einem
Knaben an der Hand, den ich im Haus des Joseph von Sephoris gesehen habe.
Jesus erkennt ihn sofort wieder und grüßt ihn: «Du, Martial? Der Friede sei
mit dir. Warum bist du hier?»
«Sie haben mich geschickt, damit
ich dir etwas sage ...» Er schaut Lazarus an, der versteht und sich entfernen
will.
«Bleibe, Lazarus. Dies ist mein
Freund Lazarus. Du kannst vor ihm sprechen, Kind, denn ich habe keinen
treueren Freund als ihn.»
Der Junge beruhigt sich und sagt:
«Joseph der Älteste schickt mich, denn nun bin ich bei ihm. Ich soll dir
sagen, daß du gleich nach Bethphage zum Haus des Kleon kommen sollst. Er muß
sofort mir dir sprechen. Wirklich sofort. Und er hat gesagt, du sollst allein
kommen, denn er muß mit dir ganz im geheimen reden.»
«Meister, was geht hier vor?»
fragt Lazarus erregt.
«Ich weiß es nicht, Lazarus. Es
bleibt mir nichts anderes übrig, als zu gehen. Komm mit mir.»
«Sofort, Herr. Wir können mit dem
Jungen gehen.»
«Nein, Herr. Ich gehe allein
fort. Joseph hat es mir aufgetragen. Er hat gesagt: "Wenn du es allein und gut
machst, werde ich dich wie ein Vater lieben." Und ich will von Joseph wie ein
Sohn geliebt werden. Ich gehe sofort und laufe. Du kommst in einer Weile.
Salve, Herr. Salve, Mann.»
97
«Der Friede sei mit dir,
Martial.»
Das Kind schwirrt davon wie eine
Schwalbe.
«Gehen wir, Lazarus. Bring mir
den Mantel. Ich gehe voraus, denn wie du siehst, gelingt es dem Jungen nicht,
das Tor zu öffnen, und er wird niemanden rufen wollen.»
Jesus geht rasch zum Tor, und
Lazarus rasch ins Haus. Jesus öffnet die eisernen Schlösser, und der Knabe
eilt fort. Lazarus bringt Jesus den Mantel und geht an seiner Seite den Weg
nach Bethphage.
«Was Joseph nur will? Daß er dir
so heimlich ein Kind schickt ...»
«Ein Kind kann den Blicken der
Spione entgehen», antwortet Jesus.
«Du glaubst, daß... Du hast einen
Verdacht, daß... Du fühlst dich in Gefahr, Herr?»
«Ich bin es ganz gewiß, Freund.»
«Wie, auch jetzt? Aber einen
stärkeren Beweis hättest du doch nicht erbringen können?»
«Der Haß wächst unter dem Stachel
der Wirklichkeit.»
«Oh, meinetwegen also! Ich habe
dir geschadet ... ! Mein Schmerz ist ohnegleichen», sagt Lazarus zutiefst
betrübt.
«Nicht deinetwegen. Quäle dich
nicht grundlos. Du warst das Mittel; der Grund aber war die Notwendigkeit,
verstehst du, die Notwendigkeit, der Welt den Beweis meiner göttlichen Natur
zu erbringen. Wenn du es nicht gewesen wärest, dann wäre es ein anderer
gewesen; denn ich mußte der Welt beweisen, daß ich als Gott, der ich bin,
alles kann, was ich will. Und einen seit Tagen Toten, der schon verwest ist,
zum Leben zu erwecken, kann nur das Werk Gottes sein.»
«Ach, du willst mich nur trösten.
Aber meine Freude, meine ganze Freude ist dahin... Ich leide, Herr.»
Jesus macht eine Bewegung, als
wollte er sagen: «Was kann ich da tun?», dann schweigen beide.
Sie gehen schnell, und da die
Entfernung von Bethanien nach Bethphage nicht groß ist, sind sie bald am Ziel.
Joseph geht am Eingang des Dorfes
auf und ab. Er kehrt Jesus und Lazarus den Rücken, als die beiden auf einem
hinter einer Hecke verborgenen Weg ankommen. Lazarus ruft ihn.
«Oh! Der Friede sei mit euch.
Komm Meister. Ich habe dich hier erwartet, um dich gleich zu sehen; aber gehen
wir in den Olivenhain. Ich will nicht, daß man uns sieht ...»
Er führt sie hinter den Häusern
in einen Ölgarten, der mit seinem dichten Laub den Abhang bedeckt und ein
guter Unterschlupf ist, in dem man sich unbemerkt unterhalten kann.
«Meister, ich habe das Kind
geschickt, das flink und gehorsam ist und mich sehr liebt, da ich mit dir
sprechen muß und wir nicht zusammen gesehen werden dürfen. Ich habe den Kedron
überquert, um hierher zu
98
kommen... Meister, du mußt diese
Gegend sofort verlassen. Das Synedrium hat deine Gefangennahme beschlossen,
und morgen wird dieser Beschluß in den Synagogen verkündet. Jeder, der weiß,
wo du dich aufhältst, hat die Pflicht, dich anzuzeigen. Es erübrigt sich zu
sagen, o Lazarus, daß dein Haus das erste sein wird, das man überwacht. Ich
bin um die sechste Stunde aus dem Tempel gegangen und habe sofort gehandelt;
denn während sie redeten, war mein Plan schon fertig. Ich ging nach Hause und
holte das Kind. Dann ritt ich durch das Herodestor, so als würde ich die Stadt
verlassen. Ich überquerte den Kedron und ritt an ihm entlang, ließ dann den
Esel in Gethsemane zurück und schickte den Jungen eilends zu dir. Er kannte
den Weg, denn er war schon einmal mit mir in Bethanien. Geh augenblicklich
fort, Meister. Begib dich an einen sicheren Ort. Weißt du, wohin du gehen
kannst? Wo man dich aufnimmt?»
«Würde es nicht genügen, wenn er
von hier fortginge? Oder wenn er Judäa verließe?»
«Das genügt nicht, Lazarus. Sie
sind wütend. Er muß an einen Ort gehen, an den sie nicht kommen ...»
«Aber sie kommen überallhin. Du
willst doch nicht sagen, daß der Meister Palästina verlassen muß!» sagt
Lazarus aufgeregt.
«Nun, was soll ich dir sagen...
Das Synedrium will es...»
«Meinetwegen, nicht wahr? Sag es
nur!»
«Nun ja, deinetwegen... d.h.,
weil alle sich zu ihm bekehren... und sie... wollen das nicht.»
«Aber das ist ein Verbrechen! Das
ist Gotteslästerung... Das ist...»
Jesus, bleich aber ruhig, erhebt
die Hand, gebietet Schweigen und sagt: «Schweig, Lazarus. Jeder tut, was er
muß. Alles steht geschrieben. Ich danke dir, Joseph, und versichere dir, daß
ich aufbrechen werde. Geh, geh, Joseph, damit sie deine Abwesenheit nicht
bemerken... Gott segne dich. Durch Lazarus werde ich dich wissen lassen, wo
ich mich aufhalte. Geh. Ich segne dich, Nikodemus und alle, die ein gerechtes
Herz haben.»Er küßt ihn, und sie trennen sich. Jesus kehrt mir Lazarus durch
den Ölgarten nach Bethanien zurück, während Joseph zur Stadt geht.
«Was wirst du tun, Meister?»
fragt Lazarus besorgt.
«Ich weiß es nicht. In einigen
Tagen kommen die Jüngerinnen mit meiner Mutter. Ich hätte gerne auf sie
gewartet.»
«Wenn es nur das ist... Ich
könnte sie in deinem Namen aufnehmen und zu dir führen. Aber du, wohin gehst
du inzwischen? Das Haus des Salomon scheint mir nicht geeignet... Und auch die
Häuser der bekannten Jünger nicht. Morgen... ! Du mußt sofort weggehen!»
«Ich wüßte einen Platz. Aber ich
würde gerne auf meine Mutter warten. Ihre Angst würde zu früh beginnen, wenn
sie mich nicht hier antrifft...»
«Wohin willst du gehen, Meister?»
99
«Nach Ephraim.»
«Nach Samaria? »
«Nach Samaria. Die Samariter sind
weniger Samariter als viele andere, und sie lieben mich. Ephraim liegt an der
Grenze.»
«Oh, und um die Juden zu ärgern,
werden sie dich ehren und verteidigen! Aber... warte! Deine Mutter kann nur
auf der Straße von Samaria oder den Jordan entlang kommen. Ich werde mit
Dienern zur einen und Maximinus mit anderen Dienern zur anderen Straße gehen,
und so wird der eine oder der andere ihr begegnen. Wir werden nur mit ihr
zurückkehren. Du weißt, daß niemand aus dem Haus des Lazarus dich verraten
würde. Du gehst indessen nach Ephraim. Sofort. Ach, es war Schicksal, daß ich
mich deiner nicht erfreuen durfte! Aber ich werde kommen. Über die Berge von
Adummim. Nun bin ich ja gesund und kann tun, was ich will. Und... Ja, ich
werde den Anschein erwecken, daß ich mich über Samaria nach Ptolemais begebe,
um dort ein Schiff nach Antiochia zu nehmen. Alle wissen, daß ich dort
Ländereien habe... Die Schwestern bleiben in Bethanien... Du... Ja, nun lasse
ich zwei Wagen anspannen, und ihr fahrt damit nach Jericho. Von dort aus könnt
ihr morgen bei Sonnenaufgang zu Fuß weitergehen. Oh, Meister! Mein Meister!
Rette dich! Rette dich!» Nach der ersten Aufregung wird Lazarus traurig und
weint. Jesus seufzt, sagt aber nichts. Was sollte er auch sagen ... ?
Nun sind sie beim Haus des Simon
angelangt und trennen sich. Jesus geht ins Haus. Die Apostel, die sich schon
gewundert haben, daß der Meister fortgegangen ist, ohne ein Wort zu sagen,
umringen ihn und Jesus sagt: «Nehmt eure Kleider und packt eure Reisesäcke.
Wir müssen sofort aufbrechen von hier. Beeilt euch und kommt dann ins Haus des
Lazarus.»
«Auch die nassen Gewänder? Können
wir die nicht auf dem Rückweg mitnehmen?» fragt Thomas.
«Wir kehren nicht zurück. Nehmt
alles mit.»
Die Apostel entfernen sich und
tauschen vielsagende Blicke aus. Jesus geht, um seine Sachen im Haus des
Lazarus zu holen, und verabschiedet sich von den bestürzten Schwestern.
Die Wagen stehen bald bereit. Es
sind schwere, bedeckte und von kräftigen Pferden gezogene Wagen. Jesus
verabschiedet sich von Lazarus, Maximinus und den herbeigeeilten Dienern.
Sie besteigen die Wagen, die an
einem Hinterausgang warten. Die Lenker treiben die Tiere an, und die Reise
beginnt... auf dem gleichen Weg, auf dem Jesus vor wenigen Tagen gekommen ist,
um Lazarus zu erwecken.
100
606. AUF DEM WEG NACH EPHRAIM
In dieser frischen, klaren
Morgenstunde sind die Felder rings um das Haus der Nike ein einziges Grünen
jungen, erst einige Zentimeter hohen Getreides, dessen zarte Tönung an einen
sehr hellen Smaragd erinnert. Der kahle Obstgarten in der Nähe des Hauses
erscheint noch dunkler und massiver im Gegensatz zu der Zartheit der Halme und
dem durchsichtigen Himmel in seiner paradiesischen Heiterkeit. Taubenflug
krönt das weiße Haus in der ersten Morgensonne.
Nike ist bereits aufgestanden und
eifrig damit beschäftigt, alles vorzubereiten, um es den Abreisenden unterwegs
an nichts fehlen zu lassen. Sie entläßt zuerst die beiden Diener des Lazarus,
die in ihrem Haus übernachtet haben. Nachdem sie sich gestärkt haben, fahren
sie im Trab davon. Nike kehrt in die Küche zurück, wo Dienerinnen auf großen
Feuern Milch und Speisen kochen. Sie gießt aus einem großen Gefäß Öl in zwei
kleinere Krüge und füllt Wein in Lederbeutel. Sie treibt eine Dienerin an, die
flache, fladenartige Brote formt, diese sofort in den schon vorgeheizten
Backofen zu schieben. Sie wählt unter den auf großen Brettern in der Wärme der
Küche trocknenden Käsen die schönsten aus und füllt Honig in kleine Flaschen
mit sicherem Verschluß. Dann packt sie alle diese Lebensmittel ein. Eines der
Pakete enthält ein ganzes Böcklein oder Lamm, das eine Dienerin von dem Spieß
nimmt, an dem sie es geröstet hat. Ein anderes enthält korallenrote Äpfel,
wieder ein anderes schon gebrauchsfertige Oliven, und ein drittes getrocknete
Weintrauben. Auch ein Säckchen mit gereinigter Gerste ist dabei. Nike ist noch
damit beschäftigt, dieses zu verschließen, als Jesus die Küche betritt und
alle Anwesenden grüßt.
«Meister, der Friede sei mit dir.
Du bist schon aufgestanden?»
«Ich hätte es schon früher tun
sollen. Aber meine Jünger waren so müde, daß ich sie noch etwas schlafen
lassen wollte. Was tust du da, Nike?»
«Ich bereite alles vor... Sie
werden nicht zu schwer sein; siehst du, zwölf Pakete... und ich habe die Kraft
derer, die sie tragen müssen, berücksichtigt.»
«Und ich?»
«Oh, Meister, du hast schon deine
Last ...» und in Nikes Augen glänzen Tränen.
«Komm mit hinaus, Nike. Wir
wollen ruhig miteinander sprechen.»
Sie gehen hinaus und entfernen
sich vom Haus.
«Mein Herz weint, Meister ...»
«Ich weiß es. Aber man muß stark
sein. Stark sein und daran denken, daß man mir keinen Schmerz zugefügt hat.»
«Oh, das möge niemals geschehen!
Aber ich hatte geglaubt, ich könnte
101
in deiner Nähe bleiben... deshalb
bin ich nach Jerusalem gekommen. Sonst wäre ich hiergeblieben, wo ich meine
Ländereien habe...»
«Auch Lazarus, Maria und Martha
haben gehofft, mit mir zusammensein zu können. Und du siehst!»
«Ich sehe. Ja, ich sehe. Nach
Jerusalem gehe ich nun nicht mehr, da du nicht dort bist. Ich werde näher bei
dir sein, wenn ich hier bleibe, und ich kann dir helfen.»
«Du hast schon viel gegeben...»
«Nichts habe ich gegeben. Ich
wollte, ich könnte dir überall, wohin du gehst, mein Haus nachtragen. Aber ich
werde kommen, ganz gewiß werde ich kommen, um nachzusehen, was du brauchst.
Nun werde ich erst einmal tun, was du mir aufgetragen hast. Ich werde
hierbleiben, bis sie sich überzeugt haben, daß du nicht bei mir bist. Aber
dann ...»
«Es ist ein langer und mühseliger
Weg für eine Frau, und ein sehr unsicherer.»
«Oh, ich habe keine Angst. Ich
bin zu alt, um als Frau noch zu gefallen, und ich habe keine Schätze bei mir,
die mich als Beute begehrenswert machen könnten. Die Räuber sind besser als
viele von denen, die sich für Heilige halten, während sie selbst Räuber sind,
die dir den Frieden und die Freiheit rauben wollen...»
«Du darfst sie nicht hassen,
Nike.»
«Das fällt mir schwerer als alles
andere. Aber ich will mich bemühen, aus Liebe zu dir nicht zu hassen... Ich
habe die ganze Nacht geweint, Herr!»
«Ich habe dich unermüdlich wie
eine Biene kommen und gehen gehört. Und du schienst mir wie eine Mutter, die
in Sorge um den verfolgten Sohn ist... Weine nicht. Weinen sollten die
Schuldigen, nicht du. Gott ist gut mit seinem Messias. In den traurigsten
Stunden läßt er mich immer den Trost eines mütterlichen Herzens finden ...»
«Und wie wirst du es mit deiner
Mutter machen? Du hast mir gesagt, daß sie bald gekommen wäre ...»
«Sie wird nach Ephraim kommen...
Lazarus sorgt dafür, daß sie benachrichtigt wird. Da sind Simon des Jonas und
meine Brüder...»
«Wissen sie Bescheid?»
«Noch nicht, Nike. Ich werde es
ihnen sagen, wenn wir weit weg sind.»
«Und ich werde dir, wenn ich
komme, berichten, was hier und in Jerusalem geschieht...»
Sie gehen zu den Aposteln, die
einer nach dem anderen aus dem Haus kommen, um Jesus zu suchen.
«Kommt, Brüder. Eßt noch etwas
vor der Abreise. Es ist alles bereit.»
«Nike hat unseretwegen die ganze
Nacht nicht geschlafen. Dankt der guten Jüngerin», sagt Jesus beim Betreten
der geräumigen Küche, in der auf einem Tisch, der so groß ist wie der Tisch
eines Refektoriums, Schalen
102
Mit dampfender Milch stehen, und
von dem der Duft der soeben aus dem Ofen gekommenen Brotfladen aufsteigt. Nike
bestreicht sie großzügig mit Butter und Honig und erklärt, daß dies eine
kräftigende Nahrung sei für alle, die in diesen noch frischen Morgenstunden
einen weiten Weg zurücklegen müssen.
Die Mahlzeit ist bald beendet.
Nike hat inzwischen die letzten Pakete gemacht mit dem knusprigen, frischen
Brot, und jeder Apostel nimmt sein Bündel, das so gut zusammengeschnürt ist,
daß man es bequem tragen kann.
Nun ist es Zeit zu gehen. Jesus
grüßt und segnet. Die Apostel grüßen. Aber Nike will sie noch bis an die
Grenze ihrer Felder begleiten; dann kehrt sie langsam zurück und weint in
ihren Schleier, während Jesus sich mit den Seinen auf einer Nebenstraße
entfernt, die Nike ihm gezeigt hat.
Die Gefilde sind noch verlassen.
Der Weg führt über Felder mit jungem Getreide und durch kahle Weinberge. Daher
fehlen auch die Hirten, denn sie führen ihre Herden nicht auf bearbeitetes
Land. Die Sonne erwärmt ein wenig die Morgenluft. Die ersten Blümchen am Boden
glitzern wie Juwelen unter dem Schleier des Taues, den die Sonne entzündet.
Die Vögel zwitschern ihre ersten Liebeslieder. Die schöne Jahreszeit bricht
an. Alles wird schöner und erneuert sich, alles ist Liebe... Und Jesus begibt
sich in das Exil, das dem vom Haß gewollten Tod vorangeht.
Die Apostel reden nicht. Sie
denken nach. Die rasche Abreise hat sie verwirrt. Sie waren so sicher, daß nun
alles in Ordnung ist. Sie gehen gebeugter, als es unter dem relativ geringen
Gewicht ihrer Reisesäcke und der Vorräte Nikes nötig wäre. Die Enttäuschung,
die Erkenntnis dessen, was die Welt und die Menschen sind, drückt sie nieder.
Jesus hingegen lächelt zwar
nicht, ist aber weder traurig noch niedergeschlagen. Er geht mit erhobenem
Haupt allen voran, nicht gerade energisch, aber auch nicht ängstlich. Er geht
wie einer, der weiß, wohin er gehen und was er tun muß. Er geht als der
Starke, der Held, den nichts erschüttern und erschrecken kann.
Die Nebenstraße endet an der
Hauptstraße. Jesus geht auf ihr in nördlicher Richtung weiter. Und die Apostel
folgen ihm schweigend. Da es die Straße ist, die von Galiläa durch die
Dekapolis und Samaria nach Judäa führt, sind schon Reisende unterwegs. Vor
allem Karawanen von Kaufleuten.
Die Zeit vergeht, und die Sonne
wärmt immer stärker. Da verläßt Jesus die Hauptstraße und schlägt wieder einen
schmalen Weg ein, der durch Getreidefelder zu den ersten Hügeln führt.
Die Apostel sehen sich
gegenseitig an. Vielleicht wird ihnen jetzt bewußt, daß sie nicht durch das
Jordantal nach Galiläa gehen, sondern in Richtung Samaria. Aber sie sagen noch
nichts.
Als sie bei den ersten Wäldern
der Hügel angelangt sind, sagt Jesus:
103
«Wir wollen anhalten, rasten und
etwas essen. Die Sonne zeigt den Mittag an.»
Sie sind nun an einem Bach, der
wenig Wasser führt, da es schon seit geraumer Zeit nicht mehr geregnet hat.
Aber das spärliche Wasser fließt klar über den kiesbedeckten Boden, und am
Ufer liegen große Steine, die als Tische und Sitze dienen können. Sie setzen
sich, nachdem Jesus das Mahl gesegnet und geopfert hat, und essen nachdenklich
und schweigend.
Jesus rüttelt sie auf und sagt:
«Fragt ihr mich nicht, wohin wir gehen? Hat die Sorge um den morgigen Tag eure
Zungen gelähmt, oder habt ihr das Gefühl, daß ich nicht mehr euer Meister
bin?»
Die Zwölf heben das Haupt. Zwölf
betrübte oder zumindest verwirrte Gesichter wenden sich dem ruhigen Antlitz
Jesu zu, und ein einziges «Oh!» kommt aus den zwölf Mündern. Diesem
allgemeinen Ausruf folgt die Antwort des Petrus, der für alle spricht:
«Meister, du weißt, daß du es immer für uns bist. Doch seit gestern ist es,
als hätten wir einen schweren Schlag auf den Kopf erhalten. Und es scheint uns
alles nur ein Traum zu sein. Und du... Wir sehen und wir wissen, daß du es
bist... doch du scheinst uns schon... irgendwie fern zu sein. Dieses Gefühl
haben wir schon, seit du mit deinem Vater gesprochen hast, vor der
Auferweckung des Lazarus; und seit du ihn da herausgeholt hast, so in seine
Binden gewickelt, und nur durch deinen Willen, und ihn lebendig gemacht hast,
nur durch die Stärke deiner Macht. Das macht uns fast Angst. Ich spreche für
mich ... aber ich glaube, daß alle dasselbe empfunden haben ... Und nun ...
Wir ... diese Abreise... so rasch und so geheimnisvoll!»
«Habt ihr jetzt doppelt Angst?
Spürt ihr die Gefahr näherrücken? Habt ihr oder fühlt ihr nicht die Kraft in
euch, euch den letzten Prüfungen zu stellen und sie zu bestehen? Sagt es mir
frei heraus. Wir sind noch in Judäa, und es ist nicht weit zu den ebenen
Straßen nach Galiläa. Jeder kann gehen, wenn er will, und rechtzeitig gehen,
um nicht den Haß des Synedriums zu erfahren...»
Die Apostel werden sehr erregt
bei diesen Worten. Wer sich in das von der Sonne erwärmte Gras gelegt hat,
setzt sich auf, und wer gesessen ist, springt auf die Füße.
Jesus fährt fort: «Denn ab heute
bin ich der vom Gesetz Verfolgte. Das sollt ihr wissen. Zu dieser Stunde wird
in den fünfhundert und mehr Synagogen Jerusalems und der anderen Städte, die
den gestern um die sechste Stunde ausgesprochenen Bann erhalten haben,
verkündet, daß ich der große Sünder bin. Und jeder, der weiß, wo ich mich
aufhalte, ist verpflichtet, mich beim Synedrium anzuzeigen, damit ich
gefangengenommen werden kann.»
Die Apostel schreien auf, als ob
sie ihn schon in Ketten sähen. Johannes wirft sich an Jesu Hals und klagt:
«Ach, ich habe es schon immer vorausgesehen!» Und er schluchzt laut. Die einen
beschimpfen das Synedrium,
104
die anderen rufen die göttliche
Gerechtigkeit an, einige weinen nur, und andere erstarren zur Statue.
«Schweigt und hört zu! Ich habe
euch nie betrogen. Ich habe euch immer die Wahrheit gesagt. Wenn es mir
möglich war, habe ich euch verteidigt und beschützt. Eure Nähe war mir lieb
wie die von Söhnen. Ich habe euch auch meine letzte Stunde nicht verborgen...
die Gefahren für mich... meine Leiden. Doch es waren meine Angelegenheiten,
ausschließlich meine. Nun seid auch ihr in Gefahr, eure Sicherheit, eure
Familien, und ihr müßt es euch überlegen. Ich bitte euch, es zu tun. Mit
voller Freiheit. Seht dabei ab von eurer Liebe zu mir und von eurer Berufung
durch mich. Ich entbinde euch jeglicher Verpflichtung gegen Gott und seinen
Christus. Nehmt an, daß ihr mir hier und jetzt zum erstenmal begegnet seid
und, nachdem ihr mich angehört habt, entscheiden müßt, ob es angebracht ist
oder nicht, dem Unbekannten zu folgen, dessen Worte euch erschüttert haben.
Nehmt an, ihr würdet mich zum erstenmal sehen und hören und ich würde euch
sagen: "Nehmt euch in acht, denn ich werde verfolgt und gehaßt, und wer mich
liebt und mir nachfolgt, wird verfolgt und gehaßt werden wie ich. Und er
selbst, sein Besitz und seine Verwandten werden in Gefahr sein. Gebt acht,
denn die Verfolgung kann auch zum Tod und zur Beschlagnahme des
Familienbesitzes führen." Überlegt und entscheidet. Und ich werde euch noch
ebenso lieben, auch wenn ihr mir sagen solltet: "Meister, ich kann nicht mehr
mit dir gehen." Seid ihr nun traurig? Nein, das dürft ihr nicht sein. Wir sind
gute Freunde, die in Frieden und Liebe überlegen, was zu tun ist, und
Verständnis füreinander haben. Ich kann euch nicht der Zukunft entgegengehen
lassen, ohne euch Gelegenheit zum Nachdenken zu geben. Ich schätze euch nicht
gering. Ich liebe euch alle. Aber ich bin der Meister. Und der Meister kennt
natürlich seine Jünger. Ich bin der Hirte, und der Hirte kennt seine Schafe
genau. Ich weiß, daß meine Jünger, wenn sie ohne genügende Vorbereitung vor
eine Prüfung gestellt werden, versagen oder zumindest nicht siegreich aus ihr
hervorgehen könnten, wie ein Athlet im Stadion. Und zu eurer Vorbereitung ist
nicht nur die Weisheit nötig, die vom Meister kommt und daher gut und
vollkommen ist, sondern auch die Überlegung, die von eurer Seite kommen muß.
Sich prüfen und abwägen ist eine weise Regel, immer. In kleinen und großen
Dingen. Ich, der Hirte, muß zu meinen Schafen sagen: "Seht, ich gehe nun in
das Gebiet der Wölfe und Mörder... Habt ihr die Kraft, mir dorthin zu folgen?"
Ich könnte euch auch schon sagen, wer nicht die Kraft haben wird,
standzuhalten in der Prüfung, und euch diesbezüglich beruhigen und versichern,
daß keiner von euch durch die Hand der Mörder fallen wird, die das Lamm Gottes
schlachten werden. Meine Gefangennahme ist für sie von solchem Wert, daß sie
sich damit begnügen werden... Und doch sage ich euch: "Überlegt." Einmal sagte
ich euch: "Fürchtet euch nicht vor denen, die töten." Ich sagte euch: "Wer
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die Hand an den Pflug gelegt hat
und sich umwendet, um die Vergangenheit zu betrachten oder das, was er
verlieren oder gewinnen könnte, ist für meine Mission nicht geeignet." Aber es
waren Normen, um euch einen Maßstab zu geben für das, was ein Jünger ist.
Normen für die kommenden Zeiten, wenn nicht mehr ich, sondern meine Getreuen
Meister sein werden. Sie wurden gegeben, um eure Seelen stark zu machen. Aber
auch die Stärke, die ihr unleugbar erlangt habt gegenüber dem Nichts, das ihr
wart – ich spreche von eurem Geist – reicht nicht aus für die Schwere der
Prüfung. Oh, denkt nicht in euren Herzen: "Der Meister nimmt Anstoß an uns."
Ich nehme keinen Anstoß. Ja, ich sage euch vielmehr: Nicht einmal ihr dürft,
jetzt und in der Zukunft, Anstoß nehmen an eurer Schwäche. In allen kommenden
Zeiten wird es unter den Gliedern meiner Kirche, seien sie Schafe oder Hirten,
Menschen geben, die der Größe ihrer Aufgabe nicht entsprechen. Es werden
Zeiten kommen, da es mehr falsche als echte Gläubige und mehr falsche als
echte Hirten geben wird. Zeiten der Finsternis für den Geist des Glaubens in
der Welt. Aber eine Finsternis ist nicht der Tod eines Gestirnes. Sie ist nur
eine zeitweilige, mehr oder weniger teilweise Verdunkelung. Und danach
erstrahlt seine Schönheit nur noch leuchtender. So wird es auch bei meiner
Herde sein. Ich sage euch: "Überlegt." Und ich sage euch dies als Meister,
Hirte und Freund. Ich lasse euch volle Freiheit, miteinander darüber zu
sprechen. Ich gehe in den Wald dort und bete. Einer nach dem anderen könnt ihr
dann zu mir kommen und mir eure Gedanken mitteilen. Und ich werde eure
Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit segnen, zu welchem Schluß auch immer sie euch
führen mag. Und ich werde euch lieben für alles, was ihr mir bisher schon
gegeben habt. Lebt wohl.» Jesus erhebt sich und geht.
Die Apostel sind erschüttert,
verwirrt, gerührt. Zuerst bringt keiner ein Wort heraus. Dann sagt Petrus als
erster: «Die Hölle soll mich verschlingen, wenn ich ihn verlasse! Ich bin
meiner sicher. Selbst wenn alle Dämonen der Gehenna mir mit dem Leviathan an
der Spitze entgegenkämen, würde ich mich nicht aus Angst von ihm trennen!»
«Ich auch nicht! Sollte ich
meinen Töchtern nachstehen?» sagt Philippus.
«Ich weiß genau, daß sie ihm
nichts antun werden. Das Synedrium droht; aber es handelt nur deshalb so, weil
es sich überzeugen will, daß es noch existiert. Sie wissen ganz genau, daß sie
nichts tun können, wenn Rom nicht will. Ihre Verurteilung! Nur Rom kann
verurteilen!» sagt Iskariot selbstsicher.
«Aber für religiöse
Angelegenheiten ist immer noch das Synedrium zuständig», bemerkt Andreas.
«Hast du etwa Angst, Bruder?
Vergiß nicht, daß es in unserer Familie noch nie Feiglinge gegeben hat»,
ermahnt Petrus drohend. In seinem Herzen beginnt sich ein kriegerischer Geist
zu rühren.
106
«Ich habe keine Angst und hoffe
es beweisen zu können. Ich möchte nur Judas meine Meinung sagen.»
«Du hast recht. Doch der Fehler
des Synedriums liegt darin, daß es die Waffe der Politik gebrauchen will, da
es nicht zugeben und auch nicht hören will, die Hand gegen den Christus
erhoben zu haben. Ich weiß es gewiß. Sie möchten, oder vielmehr, sie hätten
gerne den Christus zur Sünde verleitet, um ihn zum Gegenstand der Verachtung
des Volkes zu machen. Aber ihn töten! Sie! O nein! Sie haben Angst! Eine
menschlich nicht zu ermessende Angst, denn es ist eine Angst der Seele. Sie
wissen ganz genau, daß er der Messias ist. Sie wissen es. Sie wissen es so
gut, daß sie spüren, daß sie am Ende sind und eine neue Zeit anbricht. Und
deshalb wollen sie ihn vernichten. Aber sie ihn vernichten?! Nein. Daher
suchen sie einen politischen Grund, damit der Statthalter, damit Rom ihn
vernichtet. Aber der Christus schadet Rom nicht, und Rom wird ihm nicht
schaden. Und das Synedrium geifert vergebens.»
«Dann bleibst du also bei ihm?»
«Aber sicher. Sicherer als alle
anderen!»
«Ich habe nichts zu gewinnen oder
zu verlieren, ob ich nun bleibe oder gehe. Ich habe nur die Pflicht, ihn zu
lieben. Und ich werde es tun», sagt der Zelote.
«Ich erkenne ihn als den Messias
an, und deshalb folge ich ihm», sagt Nathanael.
«Auch ich. Ich habe an ihn
geglaubt von dem Augenblick an, da Johannes der Täufer ihn mir als den Messias
bezeichnet hat», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Wir sind seine Brüder. Zum
Glauben fügen wir unsere Liebe als Verwandte hinzu. Nicht wahr, Jakobus?» sagt
Thaddäus.
«Er ist seit Jahren meine Sonne.
Ich folge ihrem Lauf. Wenn er in den von den Feinden gegrabenen Abgrund
stürzt, dann werde ich ihm folgen», antwortet Jakobus des Alphäus.
«Und ich? Könnte ich vergessen,
daß er mich erlöst hat?» fragt Matthäus.
«Mein Vater würde mich siebenmal
siebenmal verfluchen, wenn ich den Meister verlassen würde. Und im übrigen,
selbst wenn es nur aus Liebe zu Maria wäre, ich würde mich nie von Jesus
trennen», sagt Thomas.
Johannes sagt nichts. Er steht
traurig und mit geneigtem Haupt da. Die anderen fassen sein Verhalten als
Schwäche auf, und mehrere fragen ihn: «Und du? Du allein willst ihn
verlassen?»
Johannes erhebt sein in Ausdruck
und Blick so reines Antlitz. Er sieht die Fragenden mit seinen klaren, blauen
Augen an und sagt: «Ich habe für uns alle gebetet. Denn wir wollen handeln und
entscheiden und verlassen uns auf uns selbst, und wir merken nicht, daß wir
dadurch an den Worten des Meisters zweifeln. Wenn er uns unvorbereitet nennt,
dann
107
beweist dies, daß wir es sind.
Wenn es uns in drei Jahren nicht gelungen ist uns vorzubereiten, werden wir es
in wenigen Monaten erst recht nicht schaffen...»
«Was sagst du? In wenigen
Monaten? Was weißt du denn? Bist du etwa ein Prophet?» Sie bestürmen ihn
beinahe in tadelndem Ton.
«Ich bin nichts.»
«Was weißt du dann? Hat er dir
vielleicht etwas gesagt? Du kennst ja immer seine Geheimnisse ...» sagt Judas
von Kerioth eifersüchtig.
«Hasse mich nicht, Freund, weil
ich begreife, daß die glückliche Zeit vorüber ist. Wann es sein wird? Ich weiß
es nicht. Ich weiß, daß es sein wird. Er selbst sagt es. Wie oft hat er es
schon gesagt! Wir wollten es nur nicht glauben. Doch der Haß der anderen
bestätigt seine Worte... Und daher bete ich. Denn man kann nichts anderes tun.
Ich bitte Gott, daß er uns stärke. Hast du vergessen, Judas, daß er zum Vater
betete, um Kraft in den Versuchungen zu erlangen? Alle Kraft kommt von Gott.
Ich ahme meinen Meister nach, wie es sich gebührt...»
«Also, du bleibst?» fragt Petrus.
«Wo soll ich denn hingehen, wenn
ich nicht bei ihm bleibe, der mein Leben und mein höchstes Gut ist? Aber da
ich nur ein armer Junge bin, der geringste von allen, erbitte ich alles von
Gott, dem Vater Jesu und unserem Vater.»
«Abgemacht, so bleiben wir also
alle. Gehen wir zu ihm. Ganz gewiß ist er traurig. Unsere Treue wird ihn
trösten», sagt Petrus.
Jesus hat sich zum Gebet
niedergeworfen. Das Gesicht im Gras, fleht er gewiß den Vater an. Doch beim
Geräusch der sich nähernden Schritte steht er auf und blickt seine Zwölf an.
Er betrachtet sie mit etwas traurigem Ernst.
«Freue dich, Meister. Keiner von
uns wird dich verlassen», sagt Petrus.
«Ihr habt euch zu rasch
entschieden, und...»
«Stunden und Jahrhunderte werden
unseren Beschluß nicht ändern», sagt Petrus.
«Noch Drohungen unsere Liebe zu
dir», erklärt Iskariot.
Jesus betrachtet sie nun nicht
mehr alle zusammen, sondern blickt einen nach dem anderen fest an. Lange
Blicke, die alle ohne Furcht ertragen. Sein Blick verweilt besonders auf
Iskariot, der ihn sicherer als alle anderen ansieht. Schließlich breitet er in
einer ergebenen Geste die Arme aus und sagt: «Gehen wir. Ihr alle habt euer
Schicksal besiegelt.» Er kehrt an seinen vorigen Platz zurück, nimmt seine
Tasche und ordnet an: «Wir nehmen die Straße nach Ephraim, die, die man uns
bezeichnet hat.»
«Nach Samaria?!» Das Staunen ist
groß.
«Nach Samaria. An die Grenze
wenigstens. Auch Johannes ging an diese Orte und lebte dort bis zu der Stunde,
da er Christus predigen sollte.»
108
«Aber er wurde trotzdem nicht
gerettet!» entgegnet Jakobus des Zebedäus.
«Ich versuche nicht, mich zu
retten, ich will retten. Und ich werde zur festgesetzten Stunde retten. Zu den
unglücklichsten Schafen geht der verfolgte Hirte, damit sie, die Verlassenen,
ihren Anteil an der Weisheit erhalten und auf die neue Zeit vorbereitet sind.»
Jesus schreitet nun schnell
voran. Die Rast hat dazu gedient, Kräfte zu sammeln und das Sabbatgebot zu
achten. Und er will am Ziel sein, bevor die Nacht das Weitergehen unmöglich
macht.
Als sie den Bach erreichen, der
von Ephraim kommt und zum Jordan fließt, ruft Jesus Petrus und Nathanael zu
sich, gibt ihnen eine Börse und sagt: «Geht voraus und sucht Maria des Jakob
auf. Ich erinnere mich, daß Malachias sie als die Ärmste des Ortes bezeichnet
hat, trotz ihres großen Hauses, nun, da ihre Söhne und Töchter nicht mehr bei
ihr sind. Wir werden bei ihr wohnen. Gebt ihr eine beträchtliche Summe, damit
sie uns gleich aufnimmt, ohne mit tausend Leuten darüber zu reden. Ihr kennt
das Haus. Das große, von vier Granatapfelbäumen beschattete, gleich bei der
Brücke am Bergbach.»
«Wir kennen es, Meister. Wir
werden tun, was du sagst.» Und sie entfernen sich eilends, während Jesus ihnen
mit den anderen langsam folgt.
In der Mulde, die der Bach in
zwei Halbkreise teilt, sieht man das weiße Dorf im letzten Tageslicht und im
ersten Mondschein schimmern. Keine Seele ist mehr unterwegs, als sie zu dem
schon ganz im Mondlicht getauchten Haus kommen. Nur das Rauschen des Baches
ist in der abendlichen Stille zu hören. Dreht man sich um und betrachtet den
Horizont, sieht man einen breiten Streifen sternenbesäten Himmels sich über
einer Landschaft wölben, die sich der verlassenen Ebene in Richtung dem Jordan
zu senkt. Tiefer Friede liegt über dem Land.
Sie klopfen an die Tür. Petrus
öffnet: «Alles erledigt, Herr. Die Alte hat geweint, als sie sah, daß ich ihr
Geld gab. Sie hatte keinen Heller mehr. Ich sagte ihr: "Weine nicht, Frau. Wo
Jesus von Nazareth ist, da gibt es kein Leid mehr." Sie hat geantwortet: "Ich
weiß es. Ich habe mein ganzes Leben gelitten, und nun hatte ich wahrhaft die
Grenze des Erträglichen erreicht. Aber der Himmel hat sich über meinem Abend
geöffnet und bringt mir den Stern Jakobs, um mir Frieden zu schenken." Nun ist
sie dort drüben und richtet die seit langem verschlossenen Zimmer her. Obwohl
es da wenig zu richten gibt... Aber die Frau scheint sehr gut zu sein. Da ist
sie. Frau! Der Rabbi ist da!»
Eine dürre Greisin mit sanften,
traurigen Augen nähert sich. Sie bleibt verwirrt und schüchtern einige
Schritte vor Jesus stehen.
«Der Friede sei mit dir, Frau.
Wir werden dich nicht viel stören.»
«Ich... wollte, ich wollte, du
würdest über mein Herz schreiten, um dir
109
den Eintritt in mein armes Haus
angenehmer zu machen. Tritt ein, Herr, und Gott möge mit dir einkehren.» Unter
dem leuchtenden Blick Jesu sind wieder Leben und Kraft in die arme Alte
zurückgekehrt.
Sie gehen alle ins Haus und
schließen die Tür. Das Haus ist geräumig wie eine Herberge und leer wie ein
verlassenes Gebäude. Nur die Küche wirkt freundlich durch das Feuer, das auf
dem Herd in der Mitte des Raumes brennt. Bartholomäus, der das Feuer schürt,
wendet sich lächelnd um und sagt: «Meister, tröste die Frau. Sie ist traurig,
weil sie dir nicht mehr Ehre erweisen kann.»
«Mir genügt dein Herz, Frau.
Sorge dich um nichts. Morgen werden wir vorsehen. Auch ich bin arm. Bringt die
Vorräte. Unter Armen teilt man Brot und Salz, ohne sich zu schämen und mit
brüderlicher Liebe. Für dich ist es die Liebe eines Sohnes, Frau, denn du
könntest mir Mutter sein, und ich will dich als Mutter ehren...»
Die betrübte alte Frau weint
lautlose Tränen, trocknet die Augen mit dem Schleier und flüstert: «Ich habe
drei Knaben und sieben Mädchen gehabt. Einen Knaben hat mir der Gießbach
geraubt und einen das Fieber. Der dritte hat mich verlassen. Fünf Mädchen
haben die Krankheit des Vaters geerbt und sind gestorben. Das sechste ist bei
einer Geburt gestorben. Und das siebte... Ach, was mir der Tod nicht genommen
hat, das hat die Sünde mir genommen. In meinem Alter ehren mich meine Kinder
nicht, und das macht mich so... Im Dorf sind sie gut zu mir... aber gut zu der
armen Frau. Du bist gut zu der Mutter...»
«Auch ich habe eine Mutter. Und
in jeder Frau und Mutter ehre ich meine Mutter. Doch weine nicht. Gott ist
gut. Habe Vertrauen. Die Kinder, die dir geblieben sind, können noch zu dir
zurückkehren. Und die anderen sind im Frieden ...»
«Ich halte es aber für eine
Strafe, weil ich von hier bin ...»
«Habe Vertrauen. Gott ist
gerechter als die Menschen ...»
Die Apostel, die mit Petrus in
die Zimmer gegangen sind, kommen nun zurück. Sie bringen die Vorräte, wärmen
das geröstete Lamm Nikes über dem Feuer und bringen es dann zum Tisch. Jesus
opfert und segnet und fordert die Alte auf, mit ihnen zu essen, anstatt in
ihrem Winkel die mageren Wurzeln ihres Abendbrotes zu verzehren.
Das Exil an der Grenze Judäas hat
begonnen.
607. DER ERSTE TAG IN EPHRAIM
«Der Friede sei mit dir,
Meister», sagen Petrus und Jakobus des Zebedäus, die mit vollen Wasserkrügen
ins Haus zurückkehren.
«Der Friede sei mit euch. Woher
kommt ihr?»
110
«Vom Bach. Wir haben Wasser
geholt, und wir werden noch mehr holen, um uns zu waschen, da wir hier
haltgemacht haben... Es ist nicht recht, daß sich die Alte unseretwegen
abmüht. Sie macht drüben schon ein Riesenfeuer, um das Wasser zu wärmen. Mein
Bruder ist in den Wald gegangen und holt Holz. Da es schon lange nicht mehr
geregnet hat, brennt das Holz wie Stroh», erklärt Jakobus des Zebedäus.
«Ja, und man hat uns am Bach und
im Wald schon gesehen, obwohl es eben erst Tag geworden ist. Wenn man bedenkt,
daß ich extra zum Bach und nicht zum Brunnen gegangen bin...» sagt Petrus.
«Und warum, Simon des Jonas?»
«Weil am Brunnen immer Leute
sind, die uns erkennen und vielleicht sofort hierher kommen...»
Während sie so reden, haben die
beiden Söhne des Alphäus, Judas von Kerioth und Thomas den langen Korridor
betreten, der das Haus in zwei Teile teilt, so daß sie die letzten Worte des
Petrus und die Antwort Jesu hören: «Nun, was nicht heute in den ersten Stunden
des Tages geschieht, geschieht gewiß später. Spätestens morgen, denn wir
bleiben hier ...»
«Hier ... ? Aber... Ich habe
geglaubt, daß wir nur kurz bleiben...» sagen mehrere.
«Es ist kein Aufenthalt, um uns
nur auszuruhen. Wir bleiben... und gehen hier erst wieder fort, wenn wir zum
Osterfest nach Jerusalem zurückkehren.»
«Oh, ich dachte, als du von der
Gegend der Wölfe und Räuber sprachst, daß du diese Gegend meintest und sie
durchqueren wolltest, wie du es schon öfters getan hast, um anderswohin zu
gelangen, ohne auf den von Juden und Pharisäern benutzten Straßen zu wandern»,
sagt Philippus, der dazugekommen ist, und andere sagen: «Auch ich habe das
geglaubt.»
«Dann habt ihr mich falsch
verstanden. Dies hier ist nicht die Gegend der Wölfe und Räuber, obwohl es in
den Bergen echte Wölfe gibt. Aber ich spreche nicht von den Tieren ...»
«Oh, das ist doch klar», ruft
Judas von Kerioth etwas ironisch aus. «Für dich, der du dich das "Lamm"
nennst, sind selbstverständlich die Menschen die Wölfe. Wir sind nicht ganz
dumm.»
«Nein, das seid ihr nicht. Ihr
seid nur in dem dumm, was ihr nicht begreifen wollt; also wenn es um mein
wahres Wesen geht, um meine Aufgabe und den Schmerz, den ihr mir zufügt, weil
ihr euch nicht eifrig bemüht, euch auf die Zukunft vorzubereiten. Zu eurem
Wohl spreche ich zu euch und belehre euch durch Wort und Beispiel. Aber ihr
lehnt ab, was den schwachen Menschen in euch beunruhigt, nämlich die
Ankündigung von Schmerz und die Forderung, gegen euer Ich anzukämpfen. Hört
mich an, bevor die Fremden kommen. Ich teile euch nun in zwei Gruppen von
fünf, und ihr geht unter der Leitung des Führers jeder Gruppe in die Umgebung,
111
wie in der ersten Zeit, als ich
euch aussandte. Denkt an alles, was ich euch damals gesagt habe, und wendet es
an. Der einzige Unterschied wird sein, daß ihr nun den Tag des Herrn als
unmittelbar bevorstehend verkündet, auch den Samaritern, so daß auch sie
bereit sind und ihr sie leichter zum einzigen Gott bekehren könnt. Seid
liebevoll und klug, ohne Vorurteile. Ihr werdet sehen und immer besser sehen,
daß uns hier vieles gewährt wird, was man uns anderenorts verweigert. Daher
seid gut zu diesen, die unschuldig für die Sünden ihrer Väter büßen. Petrus
wird das Haupt der Gruppe sein, zu der Judas des Alphäus, Thomas, Philippus
und Matthäus gehören. Jakobus des Alphäus wird Andreas, Bartholomäus, Simon
den Zeloten und Jakobus des Zebedäus anführen. Judas von Kerioth und Johannes
bleiben bei mir. Morgen beginnt ihr. Heute wollen wir uns ausruhen und tun,
was uns auf die Zukunft vorbereitet. Den Sabbat werden wir gemeinsam
verbringen. Sorgt also dafür, daß ihr vor dem Sabbat zurück seid und danach
wieder abreisen könnt. Der Sabbat soll der Tag unserer gegenseitigen Liebe
sein, nachdem wir den Nächsten in der Herde geliebt haben, die den väterlichen
Schafstall verlassen hat. Geht nun alle an eure Arbeit.»
Jesus bleibt allein und zieht
sich in einen Raum am Ende des Ganges zurück.
Das Haus hallt wider von
Schritten und Stimmen, obgleich alle in ihren Zimmern sind und man niemand
außer der alten Frau sieht, die mehrmals den Gang überquert bei ihrer Arbeit.
Eine davon ist bestimmt das Brotbacken, denn ihre Haare sind mit Mehl bestäubt
und ihre Hände voller Teig.
Nach einer Weile kommt Jesus aus
seinem Zimmer und begibt sich auf die Terrasse des Hauses. Er geht
nachdenklich dort oben auf und ab und schaut sich hin und wieder um.
Nun gesellen sich Petrus und
Judas von Kerioth zu ihm, die nicht gerade glücklich aussehen. Vielleicht tut
es Petrus leid, sich von Jesus trennen zu müssen. Judas Iskariot tut es wohl
leid, dies nicht zu können, da er nicht weggehen und sich in der Stadt
wichtigmachen kann. Auf jeden Fall sind beide sehr ernst, als sie zur Terrasse
hinaufsteigen.
«Kommt her. Seht, was für eine
schöne Aussicht.» Und Jesus weist auf den so abwechslungsreichen Horizont, der
im Nordwesten hohe, waldige Berge aufweist, ein Kamm, der sich von Norden nach
Süden zieht. Ein Berg direkt hinter Ephraim ist wahrhaft ein grüner Riese, der
alle anderen überragt. Im Nordosten und Südosten wellen sich sanfte Hügel. Das
Dorf liegt in einer grünen, sich bis in weite Fernen erstreckenden Mulde
zwischen den beiden Bergketten, der höheren und der niedrigeren, die wiederum
von hier bis zur Jordanebene verlaufen. Durch einen Einschnitt in den
niedrigeren Bergen kann man diese grüne Ebene und jenseits davon auch den
blauen Jordan sehen. Mitten im Frühling muß es hier sehr schön
112
sein, alles grün und fruchtbar.
Doch jetzt unterbricht das dunkle Braun der Weinberge und Obstgärten noch das
Grün der Getreidefelder, aus deren Schollen zarte Halme sprießen, und der
fetten Weiden auf dem fruchtbaren Boden.
Wenn Johannes das, was hinter
Ephraim liegt, Wüste nennt, so heißt das, daß die Wüste Judäas doch sehr
angenehm war, zumindest in dieser Gegend; oder vielleicht wird sie nur deshalb
so genannt, weil dort keine Dörfer, sondern nur Wälder und Weiden zwischen
heiteren Bächlein zu finden sind. Ganz anders als im Gebiet um das Tote Meer,
das man zu recht Wüste nennt, da es trocken ist und keinerlei Vegetation
aufweist, wenn man von den niedrigen, dornigen, verkrüppelten und
salzbedeckten Sträuchern absieht, und den wenigen Wüstenbäumen, die zwischen
den Felsen und dem salzigen Strand wachsen. Diese sanfte Wüste jenseits von
Ephraim hingegen zieren über weite Strecken Weinberge, Olivenhaine und
Obstbäume, und um diese Zeit lächeln die Mandelbäume mit ihren rosa
Blütenbüscheln der Sonne zu, während die Rebstöcke schon bald die Hügel mit
den Girlanden ihres frischen Grüns schmücken werden.
«Es ist beinahe wie in meiner
Stadt», sagt Judas.
«Auch Jutta gleicht diesem Ort.
Nur ist dort der Bach unten und die Stadt auf einer Anhöhe. Hier scheint es,
als liege die Ortschaft in einer weiten Muschel, und der Fluß fließt in der
Mitte. Wie viele Weinberge! Es muß sehr schön und nutzbringend für den
Eigentümer sein, hier Land zu besitzen», bemerkt Petrus.
«Es steht geschrieben: "Vom Herrn
gesegnet sei sein Land mit dem Köstlichsten vom Himmel droben und den Quellen
aus dem Abgrund, mit dem Köstlichsten, was die Sonne hervorbringt, und dem
Köstlichsten, was die Monde sprießen lassen, mit dem Besten der uralten Berge
und dem Köstlichsten der ewigen Hügel, dem Köstlichsten der Erde und ihrer
Fülle." Und auf diese Worte des Pentateuch gründen sie ihren
unerschütterlichen Stolz und ihren Glauben, den anderen überlegen zu sein. So
ist es. Auch das Wort Gottes und seine Gaben werden zur Ursache des
Verderbens, wenn sie hochmütigen Herzen zuteil werden. Sie selbst sind nicht
schlecht, doch der Stolz verdirbt ihre guten Eigenschaften», sagt Jesus.
«Eben. Die Nachkommen des
gerechten Joseph haben nur die Wut des Stieres und die Hartnäckigkeit des
Nashorns geerbt. Ich mag nicht hier sein. Warum läßt du mich nicht mit den
anderen gehen?» fragt Iskariot.
«Gefällt es dir nicht, bei mir zu
sein?» fragt Jesus und betrachtet nun nicht mehr die Landschaft, sondern dreht
sich um und sieht Judas an.
«Bei dir schon, aber nicht bei
den Leuten von Ephraim.»
«Eine schöne Antwort! Und wir,
die wir nach Samaria oder in die Dekapolis gehen wollen, da wir in der Zeit
zwischen dem einen und dem anderen Sabbat nicht weiter kommen, werden wir es
etwa mit Heiligen zu tun haben?» sagt Petrus vorwurfsvoll zu Judas, der nicht
antwortet.
113
«Was kümmert es dich, wer in
deiner Nähe ist, wenn du durch mich alles zu lieben verstehst? Liebe mich in
deinem Nächsten, dann wird jeder Ort gleich sein», sagt Jesus ruhig.
Judas antwortet auch ihm nicht.
«Wenn ich bedenke, daß ich gehen
muß ... Und ich würde so gerne hierbleiben. So gerne... Ich bin doch so
unfähig! Meister, ernenne wenigstens Philippus oder deinen Bruder zum Führer
meiner Gruppe. Ich kann zwar sagen: "Tun wir dies oder jenes, laßt uns da-
oder dorthin gehen", aber wenn ich zum Volk sprechen soll... ! Ich werde alles
verderben ...»
«Der Gehorsam wird dir helfen,
alles gut zu machen. Und ich werde Wohlgefallen haben an dem, was du tust.»
«Nun, wenn es dir gefällt,
gefällt es auch mir. Mir genügt es, dich glücklich zu machen. Aber schau! Ich
habe es doch gesagt! Da kommt schon die halbe Stadt... Sieh nur! Der
Synagogenvorsteher... die Vornehmen... ihre Frauen... die Kinder und das ganze
Volk... !»
«Gehen wir ihnen entgegen»,
gebietet Jesus und geht eilends die Treppe hinunter. Er ruft auch die anderen
Apostel, damit sie ihn vor das Haus begleiten.
Die Bewohner Ephraims nähern sich
mit größter Ehrerbietung. Nach der rituellen Begrüßung spricht einer,
anscheinend der Synagogenvorsteher, für alle: «Gepriesen sei der Allerhöchste
für diesen Tag. Und gepriesen sei sein Prophet, der zu uns gekommen ist, weil
er alle Menschen im Namen des höchsten Gottes liebt. Gepriesen seist du,
Meister und Herr, der du unser Herz und unsere Worte nicht vergessen hast und
gekommen bist, um unter uns zu weilen. Wir öffnen dir unsere Herzen und unsere
Häuser und bitten um dein Wort zu unserem Heil. Gepriesen sei dieser Tag, denn
seinetwegen wird die Wüste blühen sehen, wer ihn im rechten Geist aufzunehmen
weiß.»
«Das hast du gut gesagt,
Malachias. Wer den im rechten Geist aufzunehmen weiß, der im Namen Gottes
gekommen ist, wird seine Wüste fruchtbar werden und die kräftigen, aber wilden
Pflanzen sich veredeln sehen. Ich werde bei euch bleiben und ihr werdet zu mir
kommen als gute Freunde. Und diese werden all jenen mein Wort bringen, die es
aufzunehmen wissen...»
«Wirst du uns nicht selbst
belehren, Meister?» fragt Malachias etwas enttäuscht.
«Ich bin hierher gekommen, um
mich zu sammeln und zu beten. Um mich auf große, künftige Dinge vorzubereiten.
Mißfällt es euch, daß ich eure Gegend für meine Ruhe gewählt habe?»
«O nein. Schon allein, dich beten
zu sehen, wird uns weiser machen. Ich danke dir, daß du uns gewählt hast. Wir
werden dich bei deinen Gebeten nicht stören und nicht zulassen, daß deine
Feinde dich stören. Denn es ist uns schon bekannt, was in Judäa geschehen ist
und geschieht. Wir
114
werden wachen und uns mit einem
Wort von dir begnügen, wenn du Zeit hast. Nimm nun die Gaben unserer
Gastfreundschaft entgegen.»
«Ich bin Jesus und weise
niemanden ab. Und ich nehme an, was ihr mir schenkt, um euch zu zeigen, daß
ich euch nicht zurückweise. Aber wenn ihr mich lieben wollt, so gebt von nun
an das, was ihr mir geben würdet, den Armen im Dorf oder denen, die
vorüberkommen. Ich brauche nur Frieden und Liebe.»
«Wir wissen es. Wir wissen alles.
Und wir sind zuversichtlich, daß wir dir geben können, was du brauchst, damit
du ausrufst: "Das Land, das für mich Ägypten, also Schmerz sein sollte, wurde
für mich, wie einst für Joseph des Jakob, zum Land des Friedens und des
Ruhmes."»
«Wenn ihr mich liebt und mein
Wort annehmt, werde ich dies sagen.»
Die Leute reichen den Aposteln
ihre Gaben und ziehen sich zurück, mit Ausnahme von Malachias und zwei
anderen, die noch leise mit Jesus reden. Und auch die Kinder bleiben, wie
immer, angezogen von dem Zauber, den Jesus auf die Kinder ausübt. Sie bleiben
da und überhören die Stimmen der Mütter, die sie rufen; und sie gehen erst,
als Jesus sie liebkost und gesegnet hat. Dann erst schwirren sie zwitschernd
wie Schwalben davon. Die drei Männer folgen ihnen.
608. WENN DAS SABBATGEBOT AUCH
WICHTIG IST, SO IST DOCH DAS GEBOT DER LIEBE DAS WICHTIGSTE
Die zehn Apostel kommen müde und
verstaubt nach Hause. Als erstes fragen sie die Frau, die ihnen die Tür
öffnet: «Wo ist der Meister?»
«Ich glaube, im Wald. Er wird wie
immer beten. Heute morgen ist er schon sehr früh weggegangen und nicht
zurückgekehrt.»
«Und niemand ist ihn suchen
gegangen? Was treiben denn die beiden?!» schreit Petrus ganz aufgeregt.
«Mache dir keine Sorgen, Mann.
Bei uns ist er sicher wie im Haus seiner Mutter.»
«Sicher! Sicher! Erinnert ihr
euch an den Täufer? War er etwa sicher?»
«Er war es nicht, weil er nicht
in den Herzen jener zu lesen wußte, die mit ihm sprachen. Aber wenn der
Allerhöchste dies auch beim Täufer zugelassen hat, so wird er es doch gewiß
bei seinem Messias nicht erlauben. Du mußt dies glauben, mehr noch als ich,
die ich Frau und Samariterin bin...»
«Maria hat recht. Aber wo genau
ist er hingegangen?»
«Ich weiß es nicht. Einmal geht
er dahin, ein andermal dorthin. Manchmal allein, manchmal mit den Kindern, die
ihn so gern haben. Er lehrt sie beten und in allen Dingen Gott sehen. Aber
wahrscheinlich ist er
115
heute allein, da er nicht um die
sechste Stunde heimgekommen ist. Wenn er die Kinder mitnimmt, kommt er, denn
Kinder sind wie Vöglein, die zur rechten Zeit gefüttert werden wollen...» sagt
die Alte lächelnd. Vielleicht denkt sie an ihre eigenen zehn Kinder, denn sie
seufzt... Und es gibt ja in allen Erinnerungen des Lebens Freude und Leid.
«Und wo sind Judas und Johannes?»
«Judas ist beim Brunnen, und
Johannes spaltet Holz. Beides ist mir ausgegangen, denn ich habe alle eure
Kleider gewaschen, um sie euch bei eurer Abreise sauber übergeben zu können.»
«Gott möge es dir vergelten,
Mutter. Du hast viel Arbeit unseretwegen ...» sagt Thomas und legt eine Hand
auf die magere, gebeugte Schulter, als wolle er sie liebkosen.
«Oh, das ist keine Mühe. Mir
kommt es vor, als hätte ich meine Kinder wieder ...» lächelt die Greisin, und
ein feuchter Glanz stiehlt sich in ihre tiefliegenden Augen.
Johannes kommt mit einem großen
Holzbündel herein, und es scheint, als würde der ziemlich dunkle Gang heller
bei seinem Eintreten. Ich habe immer dieses Hellerwerden bemerkt an Orten, an
denen Johannes erscheint. Sein so sanftes und offenes Kinderlächeln, sein
klares und lachendes Auge, das an einen schönen Aprilhimmel erinnert, seine
fröhliche Stimme, wenn er liebevoll die Gefährten grüßt, alles an ihm ist wie
ein Sonnenstrahl oder wie ein Regenbogen des Friedens. Alle lieben ihn, mit
Ausnahme des Judas von Kerioth, von dem ich nicht weiß, ob er ihn liebt oder
haßt; sicher ist, daß er ihn beneidet, sich öfters über ihn lustig macht und
ihn auch manchmal beleidigt. Aber Judas ist jetzt nicht da.
Die Apostel helfen Johannes,
seine Last abzulegen, und fragen ihn, wo Jesus sein könnte. Auch Johannes
macht sich wegen der Verspätung Sorgen. Da er aber mehr Gottvertrauen hat als
die anderen, sagt er: «Sein Vater wird ihn vor dem Bösen bewahren. Wir müssen
dem Herrn vertrauen.» Und er fügt hinzu: «Doch kommt. Ihr seid müde und
staubig. Wir haben euch ein Mahl und warmes Wasser bereitet. Kommt, kommt ...»
Nun kommt auch Judas mit seinen
tropfenden Krügen. «Der Friede sei mit euch. Habt ihr eine gute Reise gehabt?»
fragt er. Aber in seiner Stimme ist keine Güte. Sie klingt spöttisch und
unzufrieden.
«Ja. Wir haben in der Dekapolis
angefangen.»
«Aus Angst, gefangengenommen und
gesteinigt zu werden oder euch zu verunreinigen?» fragt Iskariot ironisch.
«Weder das eine noch das andere.
Nur aus Vorsicht, weil wir noch Anfänger sind. Und ich habe es vorgeschlagen,
weil ich – und das soll kein Vorwurf für dich sein – über den Pergamenten
ergraut bin ...» sagt Bartholomäus.
Judas entgegnet nichts. Er geht
aus der Küche, in der sich die Angekommenen an den bereitgestellten Speisen
stärken.
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Petrus blickt dem sich
entfernenden Judas nach und schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. Thaddäus
hingegen faßt Johannes am Ärmel und fragt ihn: «Wie hat er sich in diesen
Tagen benommen? Ist er immer noch so unruhig? Sei aufrichtig...»
«Ich bin immer aufrichtig,
Thaddäus. Aber ich kann dir versichern, daß er niemandem wehgetan hat. Der
Meister ist fast immer allein. Ich bleibe bei der alten Mutter, die so gut
ist, und höre denen zu, die kommen, um mit dem Meister zu sprechen; dann
berichte ich ihm. Judas dagegen geht immer ins Dorf. Er hat dort
Freundschaften geschlossen... Da kann man nichts machen. Er ist eben so... Er
kann nicht ruhig bleiben, wie wir...»
«Meinetwegen soll er machen, was
er will. Hauptsache, er stellt nichts an.»
«Nein, das nicht. Sicher
langweilt er sich. Aber... Da kommt der Meister! Ich höre seine Stimme. Er
spricht mit jemandem...»
Sie gehen rasch hinaus und sehen
Jesus in der fallenden Dämmerung kommen. Er trägt zwei Kinder auf den Armen,
und ein drittes hängt an seinem Gewand. Er tröstet sie, denn alle drei weinen.
«Gott segne dich, Meister! Woher
kommst du denn so spät?»
Jesus betritt das Haus und
antwortet: «Ich komme von den Räubern. Und auch ich habe Beute gemacht. Ich
bin nach Sonnenuntergang noch unterwegs gewesen, doch der Vater wird mir
verzeihen, denn ich habe ein Werk der Barmherzigkeit vollbracht... Nimm,
Johannes, und du, Simon... Mir tun die Arme weh, und ich bin wirklich müde...»
Jesus setzt sich neben dem Kamin auf einen Hocker. Er lächelt, müde aber
glücklich.
«Von den Räubern? Aber wo bist du
denn gewesen? Wem gehören diese Kinder? Hast du schon etwas gegessen? Wo warst
du? Es ist unvorsichtig, im Dunkeln draußen zu bleiben, und so weit weg. Wir
sind in Sorge gewesen. Warst du nicht im Wald?» Alle reden durcheinander.
«Ich war nicht im Wald. Ich bin
in Richtung Jericho gegangen ...»
«Wie unvorsichtig! Auf diesen
Wegen könntest du denen begegnen, die dich hassen!» tadelt ihn Thaddäus.
«Ich habe den Pfad genommen, den
man uns gezeigt hat. Seit einigen Tagen schon wollte ich hingehen... Es sind
Unglückliche dort, die ich retten mußte. Sie konnten mir nichts Böses antun.
Und ich bin für diese Kinder gerade noch rechtzeitig gekommen. Gebt ihnen zu
essen. Sie müssen hungrig sein, denn sie hatten Angst vor den Räubern. Und ich
hatte nichts zu essen bei mir. Hätte ich wenigstens einen Hirten gefunden ...
! Doch da der Sabbat naht, waren alle Weiden schon verlassen...»
«Ja, nur wir beachten das
Sabbatgebot seit einiger Zeit nicht mehr», bemerkt Judas von Kerioth bissig.
«Wie redest du denn? Was willst
du damit sagen?» fragen ihn die anderen.
117
«Ich will damit sagen, daß wir
schon zweimal am Sabbat bis nach Sonnenuntergang gearbeitet haben.»
«Judas, du weißt, weshalb wir am
letzten Sabbat wandern mußten. Die Sünde liegt nicht immer bei dem, der sie
begeht, sondern auch bei dem, der dazu zwingt, sie zu begehen. Und heute...
Ich weiß, du willst sagen, daß ich auch heute das Sabbatgebot übertreten habe.
Ich antworte dir: Wenn das Gebot der Sabbatruhe auch wichtig ist, so ist doch
das Gebot der Liebe das Allerwichtigste. Ich bin nicht verpflichtet, mich vor
dir zu rechtfertigen. Aber ich will es tun, um dich die Sanftmut, die Demut
und die große Wahrheit zu lehren, daß man angesichts einer heiligen
Notwendigkeit bei der Anwendung des Gesetzes geistig beweglich sein muß. In
unserer Geschichte haben wir mehrere Beispiele dafür. Ich bin bei
Sonnenaufgang zu den Adummim-Bergen gegangen, denn ich weiß, daß dort
Unglückliche leben, denen das Verbrechen wie Aussatz auf der Seele liegt. Ich
hoffte, ihnen zu begegnen, mit ihnen sprechen zu können und vor Einbruch der
Dunkelheit zurückzukehren. Ich habe sie gefunden. Aber ich konnte nicht zu
ihnen sprechen, wie es meine Absicht war, da es andere Dinge zu besprechen
gab... Sie hatten diese drei kleinen Kinder weinend an der Schwelle eines
armseligen Stalles in der Ebene gefunden, als sie in der Nacht vom Gebirge
heruntergekommen waren, um die Lämmer zu stehlen und auch zu morden, wenn der
Hirte sich zur Wehr setzen würde. Der Hunger ist grausam im Winter dort auf
den Bergen... Und wenn grausame Herzen Hunger leiden, können Menschen wilder
als Wölfe werden. Diese Kinder waren also dort, zusammen mit einem
Hirtenknaben, der nur wenig größer und ebenso verschreckt war wie sie. Der
Vater der Kinder war in der Nacht gestorben, ich weiß nicht, woran...
Vielleicht hatte ihn ein Tier gebissen, oder sein Herz hatte versagt... Es war
kalt auf dem Stroh bei den Schafen. Der größere Junge, der neben seinem Vater
geschlafen hatte, bemerkte es zuerst. Anstatt ein Blutbad anzurichten, fanden
die Räuber also einen Toten und vier weinende Kinder. Sie ließen den Toten
liegen und trieben die Schafe mit dem Hirtenjungen vor sich her. Und da selbst
in den schlimmsten Menschen immer noch ein Rest Mitleid sein kann, nahmen sie
auch die Kinder mit. Ich habe sie getroffen, als sie gerade überlegten, was
sie mit ihnen anfangen sollten. Die Grausamsten wollten den zehnjährigen
Hirtenjungen töten, da er ein gefährlicher Zeuge ihres Raubes ist und ihre
Zufluchtsstätte kennt. Die weniger Hartherzigen wollten ihn unter Drohungen
zurückschicken und die Herde behalten. Alle wollten sie aber auch die kleinen
Kinder bei sich behalten.»
«Was wollten sie mit ihnen
anfangen? Haben sie denn keine Familie?»
«Die Mutter der Kinder ist tot.
Daher hatte der Vater sie auf die winterlichen Weiden mitgenommen, und er
wollte gerade wieder über dieses Gebirge in sein verlassenes Haus gehen...
Hätte ich die Kinder bei den
118
Räubern lassen sollen, damit sie
werden wie sie? Ich habe mit ihnen gesprochen... Wahrlich, ich sage euch, sie
haben mich besser verstanden als viele andere. Sie haben mich so gut
verstanden, daß sie mir die Kinder überlassen haben und morgen den
Hirtenknaben auf den Weg nach Sichern begleiten werden. Denn in dieser Gegend
leben die Brüder seiner Mutter. Die kleinen Kinder habe ich inzwischen zu mir
genommen, und wir werden sie hierbehalten, bis die Verwandten kommen.»
«Und du glaubst wirklich, daß die
Räuber...» sagt Judas Iskariot und lacht...
«Ich bin gewiß, daß sie dem
kleinen Hirten kein Haar krümmen werden. Es sind Unglückliche. Und wir sollen
nicht urteilen, warum sie so sind. Wir müssen vielmehr versuchen, sie zu
retten. Ein gutes Werk an ihnen kann der Anfang ihrer Rettung sein...» Jesus
neigt sein Haupt, in wer weiß welche Gedanken versunken.
Die Apostel und das alte
Mütterchen reden miteinander. Sie haben Mitleid mit den verängstigten Kindern
und geben sich alle Mühe, sie zu trösten und aufzumuntern...
Jesus hebt das Haupt, als er den
Kleinsten, ein dunkelhaariges, etwa drei Jahre altes Kind, weinen hört. Er
sagt zu Jakobus, der sich erfolglos bemüht, dem Kind Milch zu geben: «Gib mir
das Kind und geh meine Tasche holen.» Und Jesus lächelt, denn das Kind
beruhigt sich auf seinen Knien und trinkt nun seine Milch so gierig, wie es
sie zuvor zurückgewiesen hat. Die etwas größeren Kinder essen die Suppe, die
man ihnen hingestellt hat, obwohl ihnen die Tränen die Wangen herunterrollen.
«Ach, wieviel Elend! Seht nur!
Daß wir leiden ist gerecht. Aber die Unschuldigen... !» sagt Petrus, der es
nicht sehen kann, wenn Kinder leiden müssen.
«Du bist ein Sünder, Simon. Du
machst Gott Vorwürfe», bemerkt Judas Iskariot.
«Ich werde wohl ein Sünder sein.
Aber ich mache Gott keine Vorwürfe. Ich sage nur... Meister, warum müssen
Kinder leiden? Sie haben doch keine Sünden.»
«Alle haben Sünden, zumindest die
Erbsünde», sagt Judas.
Petrus antwortet ihm nicht. Er
wartet auf die Antwort Jesu. Und Jesus, der das nun satte und schläfrige Kind
wiegt, antwortet: «Simon, der Schmerz ist die Folge der Sünde.»
«Nun gut. Dann... Wenn du also
die Schuld von uns genommen hast, werden die Kinder nicht mehr leiden müssen.»
«Sie werden immer noch leiden.
Nimm keinen Anstoß daran, Simon. Schmerz und Tod wird es immer auf Erden
geben. Auch die Reinsten leiden und werden leiden. Gerade sie werden es sein,
die für alle anderen leiden. Die Sühneseelen des Herrn.»
«Aber warum? Ich verstehe das
nicht...»
119
«Es gibt viele Dinge, die man auf
Erden nicht begreift. Glaubt wenigstens, daß es Dinge sind, die von der
vollkommenen Liebe gewollt sind. Und wenn die den Menschen wiedergeschenkte
Gnade die Heiligsten unter ihnen zu kennen der verborgenen Wahrheiten gemacht
hat, dann wird sich zeigen, daß gerade die Heiligsten Opfer sein wollen, da
sie die Macht des Leidens verstanden haben... Das Kind ist nun eingeschlafen.
Maria, willst du es zu dir nehmen?»
«Gewiß, Meister. Ein erschrecktes
Kind, das nicht geschlafen und viel geweint hat, gleicht einem Vogel, der aus
dem Nest gefallen ist, und braucht die Flügel der Mutter, sagt man bei uns.
Mein Bett ist groß, da ich jetzt allein darin schlafe. Ich werde die Kinder zu
mir nehmen und auf sie achtgeben. Im Schlaf werden auch sie ihren Schmerz
vergessen. Kommt, wir wollen sie zu Bett bringen.»
Sie nimmt den Kleinsten vom Schoß
Jesu und entfernt sich, gefolgt von Petrus und Philippus, während Jakobus des
Zebedäus mit der Tasche Jesu kommt.
Jesus öffnet sie und sucht etwas,
entnimmt ihr ein schweres Gewand, faltet es auseinander und prüft die Weite.
Er ist nicht zufrieden und sucht den dunklen Mantel, der zum Gewand gehört.
Dann legt er beides beiseite, macht die Tasche zu und gibt sie Jakobus zurück.
Petrus und Philippus kommen
wieder. Die Greisin ist bei den drei Kindern geblieben, und Petrus sieht
sofort die ausgebreiteten Kleidungsstücke liegen. Er sagt: «Meister, willst du
dein Gewand wechseln? Müde wie du bist, würde dir ein warmes Bad guttun. Hier
ist Wasser, und wir werden dir auch dein Gewand anwärmen. Dann wollen wir
essen und zur Ruhe gehen. Diese Geschichte mit den armen Kindern hat mich sehr
angegriffen...»
Jesus lächelt, entgegnet aber
nichts. Er sagt nur: «Preisen wir den Herrn, der mich rechtzeitig dorthin
geführt hat, um die Unschuldigen zu retten.» Dann schweigt er. Er ist müde...
Die Alte kommt mit den Kleidchen
der Kinder herein. «Sie müßten gewechselt werden... Sie sind zerrissen und
schmutzig... Aber ich habe die Kleider meiner Kinder nicht mehr und kann sie
nicht ersetzen. Morgen werde ich sie waschen...»
«Nein, Mutter. Wenn der Sabbat
vorüber ist, dann nähst du aus diesen meinen Gewändern drei kleine Kleider...»
«Aber Herr, weißt du, daß du
jetzt nur noch drei Gewänder hast? Wenn du eines weggibst, was bleibt dir
dann? Hier ist kein Lazarus, wie damals, als du der Aussätzigen den Mantel
gegeben hast», sagt Petrus.
«Laß es gut sein. Zwei genügen
und sind schon zu viel für den Menschensohn. Nimm, Maria. Morgen abend
beginnst du mit deiner Arbeit, und der Verfolgte wird sich freuen, den Armen
helfen zu können, denn er kennt ihre Nöte.»
120
609. AM ANDEREN TAG
«Steht auf und laßt uns zum Bach
gehen. Wie die Hebräer, die außerhalb ihres Vaterlandes und an Orten, an denen
es keine Synagogen gibt, leben, werden auch wir den Sabbat unter uns feiern.
Kommt, Kinder...» sagt Jesus zu den Aposteln, die müßig im Hausgarten
umhersitzen, und streckt seine Hände den drei armen Kindern entgegen, die in
einer Ecke stehen.
Mit schüchterner Freude auf den
vorzeitig nachdenklichen Gesichtchen kommen die Kinder, die schon so viel
Schweres mitgemacht haben, näher, und die beiden größeren geben Jesus ihre
Händchen. Doch der Kleinste will von Jesus getragen werden. Jesus stellt ihn
zufrieden und sagt zu dem Größten: «Du bleibst trotzdem an meiner Seite und
hältst dich an meinem Gewand fest, so wie gestern. Isaak ist zu müde und zu
klein, um allein gehen zu können...» Der Größere ist ganz glücklich über das
Lächeln Jesu und bereit, wie ein kleiner Mann neben ihm herzugehen.
«Gib mir das Kind, Meister. Du
mußt noch müde sein von gestern, und Ruben ist betrübt, weil er deine Hand
nicht halten kann ...» sagt Bartholomäus und will ihm das Kind abnehmen, das
sich an den Hals Jesu klammert.
«Es ist starrköpfig wie die ganze
Rasse!» ruft Iskariot aus.
«Nein, es ist verängstigt. Du
verstehst nichts von Kindern. Die Kleinen sind so. Wenn sie betrübt oder
erschreckt sind, dann suchen sie Schutz beim ersten, der ihnen ein Lächeln und
Trost geschenkt hat», entgegnet Bartholomäus; und da er den Kleinen nicht auf
den Arm nehmen kann, gibt er dem Größeren die Hand, nachdem er ihm den Kopf
gestreichelt und ihm väterlich zugelächelt hat.
Sie verlassen das Haus, in dem
nur die Frau zurückbleibt, und gehen am Bach jenseits des Dorfes entlang.
Schön sind seine Ufer mit dem jungen Gras und den bunten Wiesenblumen. Das
Wasser ist klar, wenn auch spärlich, und plätschert mit Harfenklang über die
größeren Steine auf dem Kiesgrund; oder aber es rauscht durch das Gestrüpp
einiger winziger, mit Schilfrohr bewachsener Inseln. Aus dem Röhricht am Ufer
fliegen Vögel mit freudigem Trillern auf. Andere ruhen sich in der Sonne auf
einem Ast aus und singen ihre ersten Frühlingslieder oder hüpfen anmutig und
lebhaft umher, um Insekten und Würmer vom Boden aufzupicken und am Ufer Wasser
zu nippen. Zwei wilde Turteltauben nehmen in einer Biegung ein Bad und
schnäbeln gurrend miteinander. Dann fliegen sie auf und davon mit einem
Wollbäuschchen im Schnabel, das irgendein Schaf an der Weißdornhecke
hinterlassen hat, die oben gerade zu blühen beginnt.
«Sie tun das, um ein Nest zu
bauen...» sagt der größere Knabe. «Sie haben bestimmt Junge...» Das Kind neigt
das Köpfchen tief und tiefer,
121
und während es sich bei den
ersten Worten noch bemüht hat zu lächeln, weint es jetzt lautlos und wischt
sich mit der Hand die Tränen ab.
Bartholomäus nimmt es auf den
Arm, denn er versteht, welche Wunde die beiden Tauben wieder aufgerissen
haben. Und Bartholomäus, der das gute Herz eines guten Familienvaters hat,
seufzt. Das Kind weint an seiner Schulter, das andere, das zweite, das diese
Tränen sieht, fängt ebenfalls zu weinen an, gefolgt vom dritten, das eben erst
sprechen gelernt hat und mit seinem zarten Stimmchen nach dem Vater ruft.
«Heute wird dies unsere
Sabbat-Andacht sein! Wir hätten sie zu Hause lassen sollen! Eine Frau ist in
solchen Fällen geeigneter als wir und...»bemerkt Iskariot.
«Aber wenn doch auch sie nichts
anderes tut, als dauernd weinen? Im übrigen hätte auch ich große Lust dazu...
denn es gibt Dinge... die zum Weinen sind», entgegnet Petrus und nimmt das
zweite Kind auf den Arm.
«Ja, es gibt Dinge, die zum
Weinen sind. Das ist wahr. Und Maria des Jakob, die arme, traurige Alte, ist
nicht fähig zu trösten...» bestätigt der Zelote.
«Es scheint, daß wir auch nicht
viel Erfolg haben. Der einzige, der trösten könnte, ist der Meister. Und er
hat es nicht getan.»
«Er hat es nicht getan? Was hätte
er mehr tun sollen? Er hat die Räuber überredet, ist meilenweit mit den
Kindern auf dem Arm gewandert und hat dafür gesorgt, daß die Verwandten
benachrichtigt werden.»
«Alles nebensächliche Dinge. Er,
der auch dem Tod gebietet, hätte zum Schafstall hinuntergehen können, vielmehr
müssen, und den Hirten auferwecken. Er hat es bei Lazarus getan, der doch
niemandem nützlich ist. Hier aber sind es ein Vater, der zudem noch Witwer
war, und seine Kinder, die nun allein zurückbleiben... Er hätte ihn unbedingt
auferwecken müssen. Ich kann dich nicht verstehen, Meister...»
«Und wir verstehen nicht, wie du
so respektlos sein kannst...»
«Friede! Friede! Judas versteht
nicht. Er ist aber nicht der einzige, der die Absichten Gottes und die Folgen
der Sünde nicht versteht. Auch du, Simon des Jonas, kannst nicht begreifen,
weshalb die Unschuldigen leiden müssen. Daher sollt ihr Judas des Simon nicht
verurteilen, der nicht versteht, warum ich den Mann nicht auferweckt habe.
Wenn Judas nachdenkt, wird er, der mich immer tadelt, weil ich allein und weit
weggehe, verstehen, daß ich mich nicht lang so weit entfernen konnte... Denn
der Schafstall liegt in der Ebene von Jericho, aber auf der anderen Seite der
Stadt, bei der Furt. Was hättet ihr gesagt, wenn ich drei Tage lang so weit
weggewesen wäre?»
«Dein Geist hätte dem Toten
befehlen können, daß er aufersteht.»
«Bist du denn schlimmer als die
Pharisäer und Schriftgelehrten, die die Auferstehung eines schon verwesten
Toten verlangt haben, um glauben zu können, daß ich wirklich Tote zum Leben
erwecken kann?»
122
«Sie wollten es, weil sie dich
hassen. Ich möchte es, weil ich dich liebe und sehen will, daß du alle deine
Feinde vernichtest.»
«Dein altes Ansinnen und deine
ungeordnete Liebe. Du hast es noch nicht fertiggebracht, die alten Pflanzen
aus deinem Herzen auszureißen und durch neue zu ersetzen; ja, die alten haben
sich von dem Licht genährt, dem du dich genähert hast, und sind noch kräftiger
geworden. Du machst den gleichen Fehler wie so viele in der Gegenwart und
Zukunft. Trotz der Hilfe Gottes ändern sie sich nicht, weil sie nicht mit
heroischem Willen auf die Hilfe Gottes antworten.»
«Haben vielleicht diese, die wie
ich deine Jünger sind, die alten Pflanzen ausgerissen?»
«Sie haben sie wenigstens
beschnitten und veredelt. Du hast es nicht getan. Du hast dich nicht einmal
aufmerksam geprüft, ob sie beschnitten, veredelt oder ausgerissen werden
müssen. Du bist ein nachlässiger Gärtner, Judas.»
«Aber nur, was meine Seele
betrifft. Sonst verstehe ich es recht gut, im Garten zu arbeiten.»
«Du verstehst es. Du verstehst
mit allen irdischen Dingen umzugehen. Ich möchte aber, daß du in den Dingen
des Himmels ebensolche Fähigkeiten entwickelst.»
«Dein Licht müßte doch von sich
aus alle Wunder in uns wirken! Ist es denn kein gutes Licht? Wenn es das
Schlechte in uns fördert und stärkt, dann ist es nicht gut, und es liegt an
ihm, wenn wir nicht gut werden.»
«Rede für dich allein, Freund.
Ich finde nicht, daß der Meister meine bösen Neigungen gestärkt hat», sagt
Thomas.
«Ich auch nicht.» «Und ich auch
nicht», sagen Andreas und Jakobus des Zebedäus.
«Mich hat erst seine Macht von
dem Übel befreit und erneuert. Warum sprichst du so? Überlegst du dir denn
nicht, was du sagst?» fragt Matthäus.
Petrus will etwas sagen. Doch
dann zieht er es vor, schnell wegzugehen; das Kind am Hals, beginnt er das Auf
und Ab eines Bootes nachzumachen, um es zum Lachen zu bringen. Und im
Vorbeigehen packt er Thaddäus am Arm und ruft: «Auf, gehen wir auf die Insel
dort! Sie gleicht einem Korb voller Blumen. Kommt auch ihr, Nathanael,
Philippus, Simon, Johannes... Ein Sprung, und man ist drüben. Der geteilte
Bach besteht nur noch aus zwei kleinen Bächlein rechts und links der Insel...»
Petrus springt als erster auf die sandige Anschwemmung, die nur einige Meter
breit ist. Sie ist wie eine Wiese mit Gras bewachsen und wie ein Teppich mit
den ersten Frühlingsblumen übersät, und in ihrer Mitte steht eine einzige
hohe, schlanke Pappel, die ihren Wipfel im leichten Wind wiegt. Die Gerufenen
kommen langsam nach, und auch die übrigen, die näher bei Jesus waren, der
zurückgeblieben ist und mit Iskariot spricht, folgen bald.
123
«Ist der denn immer noch nicht
fertig?», fragt Petrus seinen Bruder. «Der Meister bearbeitet sein Herz»,
antwortet Andreas.
«Eher werden Feigen aus diesem
Gewächs sprießen, als daß Judas im Herzen gerecht wird.»
«Und in seinem Verstand erst»,
fügt Andreas hinzu.
«Er ist nur töricht, weil er es
sein will, und in den Dingen, in denen er es sein will», sagt Thaddäus.
«Er leidet, weil er nicht
ausgewählt wurde, das Evangelium zu verkünden. Ich weiß es», erklärt Johannes.
«Oh, von mir aus... Wenn er an
meiner Stelle gehen will... Ich lege absolut keinen Wert darauf
herumzulaufen!» ruft Petrus aus.
«Keiner von uns legt Wert darauf.
Nur er. Doch mein Bruder will ihn nicht gehen lassen. Heute morgen habe ich
mit ihm darüber gesprochen, denn ich habe die Stimmung des Judas und die
Gründe dafür verstanden. Doch Jesus hat gesagt: "Gerade, weil er ein so
krankes Herz hat, behalte ich ihn bei mir. Die Kranken und die Schwachen
bedürfen des Arztes und der Stütze."»
«So ist es... ! Genau so... !
Kommt, Kinder. Jetzt nehmen wir diese schönen Schilfrohre und machen
Schiffchen daraus. Seht nur, wie schön! Und als Fischer setzen wir diese
Blümchen hinein. Schaut, gleichen sie nicht Köpfchen mit einer weiß-roten
Kopfbedeckung... ? Hier machen wir den Hafen und hierher setzen wir die
Fischerhäuschen. Nun binden wir die Boote an diese feinen Gräser, und dann
laßt ihr sie ins Wasser gleiten... Und nach dem Fischfang zieht ihr sie wieder
ans Ufer ... Ihr könnt auch uni die Insel herumfahren... aber gebt acht auf
die Felsen ... !» Petrus ist bewundernswert in seiner Geduld. Er hat mit dem
Messer aus Rohrstückchen kleine Boote gemacht, indem er sie von einem Knoten
zum anderen auf einer Seite aufgeschnitten hat. Als Fischer hat er noch nicht
ganz aufgeblühte Gänseblümchen hineingesetzt, in den Sand hat er einen winzig
kleinen Hafen gegraben und aus feuchtem Sand kleine Häuser geformt. Und als er
seinen Zweck erreicht hat, die Kinder durch ein Spiel abzulenken, setzt er
sich zufrieden nieder und murmelt: «Arme Geschöpfe... !»
Jesus betritt die Insel, als die
Kinder gerade mit ihrem Spiel beginnen. Er liebkost sie und stellt den
Kleinsten auf den Boden, der sich gleich am Spiel der beiden Brüderchen
beteiligt.
«Nun habt ihr mich für euch, und
wir können von Gott sprechen; denn von Gott sprechen und mit Gott sprechen
heißt, sich auf die Mission vorbereiten. Nachdem wir gebetet haben, also mit
Gott gesprochen haben, werden wir von Gott sprechen, der in allen Dingen
gegenwärtig ist, um zum Guten anzuleiten. Auf, erhebt euch und laßt uns
beten.» Jestis stimmt Psalmen in hebräischer Sprache an, und die Apostel
stimmen mit ein.
124
Die Kinder, die sich mit ihren
Schiffchen entfernt haben, hören auf zu zwitschern und zu spielen und kommen
näher, als sie die Männer singen hören. Sie lauschen aufmerksam, die Augen auf
Jesus gerichtet, der für sie alles ist, und nehmen dann mit dem Kindern
eigenen Nachahmungstrieb dieselbe Stellung wie die Betenden ein. Sie versuchen
auch mitzusingen, die Töne wenigstens, da sie die Worte der Psalmen nicht
kennen. Jesus senkt seinen Blick und schaut sie mit einem Lächeln an, das die
unschuldigen Stimmchen noch eifriger singen läßt. Sie fühlen sich gelobt und
ermutigt ...
Der Psalmengesang ist beendet.
Jesus setzt sich ins Gras und beginnt zu sprechen: «Als die Könige Israels,
der von Joram und der von Juda, sich zusammenschlossen, um den König von Moab
zu bekämpfen, baten sie den Propheten Elisäus um Rat. Dieser antwortete dem
Gesandten der Könige: "Würde ich nicht Josaphat, den König von Juda, achten,
dann hätte ich dich nicht einmal angesehen. Aber nun bringt mir einen
Harfenspieler." Und während der Mann die Harfe spielte, sprach Gott zu seinem
Propheten und befahl ihm, Graben an Graben in dem ausgetrockneten Flußbett
ausheben zu lassen, damit sie sich mit Wasser füllten für Menschen und Tiere.
Und zur Stunde des morgendlichen Opfers füllte sich der Fluß, ohne daß es Wind
oder Regen gegeben hätte, wie der Herr es gesagt hatte. Welche Lehre ist eurer
Meinung nach aus dieser Episode zu ziehen? Redet!»
Die Apostel beraten sich
untereinander. Die einen sagen: «Wenn Unruhe im Herzen herrscht, spricht Gott
nicht zu ihm. Elisäus wollte den Unwillen besänftigen, der in ihm aufgestiegen
war, als er den König Israels vor sich sah, um Gott hören zu können.» Die
anderen sagen: «Es ist eine Lehre der Gerechtigkeit. Um den schuldlosen König
von Juda nicht zu bestrafen, rettet Elisäus auch den Schuldigen.» Wieder
andere sind der Meinung: «Es ist eine Lehre des Gehorsams und des Glaubens.
Sie machten Gräben, gehorchten damit dem anscheinend törichten Befehl und
warteten vertrauensvoll auf das Wasser, obgleich es windstill und der Himmel
heiter war.»
«Ihr habt gut geantwortet, aber
eure Antworten sind nicht vollständig. Wenn im Herzen Unruhe herrscht, spricht
Gott nicht zu ihm, das ist wahr. Aber Harfenklänge sind nicht erforderlich, um
das Herz zu beruhigen. Es genügt, Liebe zu haben; Liebe, die geistige Harfe,
die paradiesische Klänge erzeugt. Wenn eine Seele in der Liebe lebt, hat sie
ein ruhiges Herz und kann die Stimme Gottes hören und verstehen.»
«Dann hatte Elisäus also keine
Liebe, da er unruhig war.»
«Elisäus gehört der Zeit der
Gerechtigkeit an. Man muß die damaligen Ereignisse in die Zeit der Liebe
übertragen. Nicht im Licht der Blitze, sondern in dem der Sterne muß man sie
sehen. Ihr gehört der neuen Zeit an. Warum also seid ihr oft zorniger und
verwirrter als jene der alten Zeiten?
125
Löst euch von der Vergangenheit.
Ich wiederhole dies, auch wenn Judas es nicht gerne hört. Reißt aus,
beschneidet, veredelt und pflanzt neu. Erneuert euch, grabt die Gräben der
Demut, des Gehorsams und des Glaubens. Jene Könige verstanden es zu tun, und
sie waren, zwei gegen einen, nicht von Juda und konnten Gott nicht hören,
sondern nur den Propheten Gottes, der den Willen des Allerhöchsten kundtat.
Sie wären verdurstet in der Dürre, wenn sie nicht gehorcht hätten. Sie
gehorchten, und das Wasser füllte die Gräben. Und sie wurden nicht nur vor dem
Verdursten bewahrt, sondern besiegten auch die Feinde. Ich bin das Wasser des
Lebens. Grabt Gräben in eure Herzen, um mich empfangen zu können. Und nun
hört. Ich halte keine langen Reden. Ich gebe euch Richtlinien, damit ihr sie
betrachtet. Ihr werdet immer wie diese Kinder sein, oder vielmehr weniger als
sie, denn sie sind unschuldig, und ihr seid es nicht. Daher leuchtet das
geistige Licht in euch nur schwach, wenn ihr euch nicht daran gewöhnt zu
betrachten. Ihr hört immer zu, bewahrt aber nichts, denn euer Verstand
schläft, anstatt zu arbeiten. Hört also. Als der Sohn der Sunamitin gestorben
war, wollte sie den Propheten aufsuchen, obgleich ihr Ehemann zu ihr sagte,
daß nicht der Erste des Monats und nicht Sabbat sei; aber sie wußte, daß sie
gehen mußte, denn gewisse Dinge lassen keinen Aufschub zu. Und da sie den
Geist der Dinge verstand, wurde ihr Sohn wiedererweckt. Was sagt ihr dazu?»
«Daß dies ein Tadel für mich ist,
wegen des Sabbats», sagt Iskariot.
«Du siehst, Judas, wenn du
willst, dann verstehst du auch! Öffne also deinen Geist der Gerechtigkeit.»
«Ja... aber du hast den Sabbat
nicht geschändet, um den Mann aufzuerwecken.»
«Ich habe mehr getan. Ich habe
das Verderben, den Tod dieser Kinder, ihren wahren Tod verhindert. Und ich
habe die Räuber daran erinnert, daß...»
«Oh, warte ab, bevor du dich
damit tröstest, etwas erreicht zu haben! Ich glaube nicht, daß sie dir
gehorcht haben...»
«Wenn der Meister es sagt ...»
«Auch Elisäus sagt im Bericht
über die Sunamitin: "Der Herr hat es mir verborgen." Also weiß man nicht immer
alles, nicht einmal die Propheten», erwidert Iskariot.
«Unser Bruder ist mehr als ein
Prophet», bemerkt Thaddäus.
«Ich weiß es. Er ist der Sohn
Gottes. Aber er ist auch Mensch. Als solchem kann es ihm geschehen,
zweitrangige Dinge, wie eine Bekehrung oder eine Rückkehr, nicht zu wissen...
Meister, weißt du wirklich immer, immer alles? Ich frage mich das so oft...»
fährt Judas Iskariot hartnäckig fort.
«Und in welchem Geist? Um dir
Ruhe, Rat oder Beunruhigung zu verschaffen?» fragt Jesus.
126
«Aber... ich wüßte nicht. Ich
frage es mich nur und...»
«Und du scheinst auch beim Fragen
beunruhigt zu sein!» sagt Thomas.
«Ich? Natürlich beunruhigt die
Ungewißheit immer.»
«Wieviel Spitzfindigkeit! Ich
gebe mich damit nicht ab. Ich glaube und frage nicht und bin weder im
Ungewissen noch beunruhigt. Aber lassen wir den Meister sprechen. Mir gefällt
diese Belehrung nicht. Erzähle uns ein schönes Gleichnis, Meister. Das wird
auch den Kindern gefallen», sagt Petrus.
«Ich muß euch noch etwas fragen:
Was bedeutet für euch das Mehl, das der Suppe der Söhne der Propheten ihre
Bitterkeit nimmt?»
Ein tiefes Schweigen ist die
Antwort auf diese Frage.
«Nun, könnt ihr mir nicht
antworten?»
«Vielleicht sollte das Mehl die
Bitterkeit aufsaugen...» sagt Matthäus unsicher.
«Alles wäre bitter geworden, auch
das Mehl.»
«Ein Wunder des Propheten, der
den Diener nicht beschämen wollte», schlägt Philippus vor.
«Auch. Aber nicht nur.»
«Der Herr wollte zeigen, daß sich
die Macht des Propheten auch auf die gewöhnliche Materie erstreckte», sagt der
Zelote.
«Ja, aber dies ist noch nicht die
richtige Auslegung. Das Leben der Propheten nimmt schon vorweg, was dann in
der Fülle der Zeit sein wird, meiner Zeit. In Symbolen und Bildern spiegeln
sie meine irdischen Tage wider. Also...»
Alle schweigen und schauen sich
an. Dann neigt Johannes das Haupt, wird rot und lächelt.
«Warum sagst du nicht, was du
denkst, Johannes?» fragt ihn Jesus. «Es ist nicht Mangel an Liebe, wenn du
sprichst, denn du tust es nicht, um jemanden zu beschämen.»
«Ich denke, es will dies besagen:
In der Zeit des Hungers nach Wahrheit und des Mangels an Weisheit, in der
Zeit, in der du gekommen bist, ist jeder Baum verwildert und trägt nur
bittere, für die Menschenkinder ungenießbare und giftige Früchte, so daß sie
sie vergeblich sammeln und zubereiten, um sich von ihnen zu ernähren. Doch die
Güte des Ewigen sendet dich, das Mehl des auserlesenen Weizens, und du nimmst
durch deine Vollkommenheit das Gift aus jeder Speise und heilst wieder die in
Jahrhunderten entarteten Bäume der Schriften und den Geschmack der durch die
Lasterhaftigkeit verdorbenen Menschen. In diesem Fall ist es dein Vater, der
befiehlt, das Mehl zu bringen und es in den bitteren Kessel zu schütten, und
du bist das Mehl, das sich opfert, um sich zur Speise für alle Menschen zu
machen. Und nach deinem Opfer wird nichts Bitteres mehr auf der Welt sein,
denn du hast die Freundschaft mit Gott wiederhergestellt. Ich kann mich auch
irren.»
127
«Du irrst nicht. Dies ist der
Sinn...»
«Oh, wie bist du darauf
gekommen?», fragt Petrus erstaunt.
Jesus antwortet ihm: «Ich werde
es dir mit deinen eigenen Worten von kurz zuvor sagen. Ein Sprung, und man ist
auf der friedlichen, blumigen Insel des Geisteslebens. Aber man muß den Mut
haben, den Sprung zu wagen und das Ufer, die Welt, zu verlassen; zu springen,
ohne darauf zu achten, ob jemand über unseren ungeschickten Sprung lachen
könnte oder uns auslacht wegen unserer Einfalt, weil wir eine kleine, einsame
Insel der Welt vorziehen. Man muß springen, ohne Furcht sich zu verletzen, naß
zu werden oder eine Enttäuschung zu erleben. Man muß alles zurücklassen und
bei Gott Zuflucht suchen, sich auf die von der Welt isolierte Insel begeben
und diese nur verlassen, um an die am Ufer Gebliebenen das reine Wasser und
die Blumen zu verteilen, die man auf der Insel des Geistes gesammelt hat, auf
der es nur einen einzigen Baum gibt, den Baum der Weisheit. In seiner Nähe,
fern vom Lärm der Welt, begreift man jedes Wort und wird zum Lehrer, obwohl
man weiß, daß man Schüler ist. Auch dies ist ein Symbol. Aber nun will ich ein
schönes Gleichnis für die Kinder erzählen. Kommt und setzt euch nahe zu mir.»
Die drei Kinder kommen so nahe
heran, daß sie sich gleich auf seine Beine setzen. Jesus umarmt sie und
beginnt zu erzählen: «Eines Tages sagte der Herrgott: "Ich werde den Menschen
erschaffen, und der Mensch wird im irdischen Paradies leben, durch das der
große Fluß fließt, der sich dann in vier Hauptarme teilt, welche sind: der
Pischon, der Gichon, der Euphrat und der Tigris, die über die Erde fließen.
Und der Mensch wird glücklich sein, da er alle diese Schönheiten und
Reichtümer der Schöpfung und meine Liebe zur Freude seines Geistes haben
wird." Und so geschah es. Es war, als ob der Mensch auf einer großen Insel
lebte, noch reicher an Blumen als diese hier und an Pflanzen und Tieren jeder
Art, und als ob über ihm die Liebe Gottes stünde als Sonne der Seele. Und die
Stimme Gottes war in den Winden, wohlklingender als der Gesang der Vögel.
Aber eines Tages schlich sich auf
dieser schönen, blumigen Insel eine Schlange unter die Tiere und die Pflanzen.
Sie war anders als die von Gott geschaffenen Schlangen, die gut waren, kein
Gift in den Zähnen hatten und keine Wildheit in den Windungen ihres
elastischen Körpers. Auch diese Schlange kleidete sich in eine Haut in den
Farben der Edelsteine wie die anderen; sie machte sich sogar noch schöner, so
daß sie dem prachtvollen Geschmeide eines Königs glich, das zwischen den
herrlichen Bäumen des Gartens hindurchschlüpfte. Sie wand sich um einen
schönen freistehenden Baum mitten im Garten, der viel höher war als dieser
hier und wunderbare Blätter und Früchte trug.
Und die Schlange sah aus wie ein
um den Baum gewundenes Schmuckstück und glitzerte in der Sonne, und alle Tiere
schauten sie an, denn
128
keines konnte sich an ihre
Erschaffung erinnern oder hatte sie je zuvor gesehen. Aber keines näherte sich
ihr, sondern alle zogen sich von dem Baum zurück, nun da sich die Schlange um
seinen Stamm gewunden hatte.
Nur der Mann und die Frau
näherten sich ihm. Die Frau vor dem Mann, denn ihr gefiel dieses glänzende
Ding, das in der Sonne leuchtete und den Kopf bewegte wie eine halbgeöffnete
Blume. Und sie hörte auf das, was die Schlange sagte, wurde Gott ungehorsam
und veranlaßte auch Adam zum Ungehorsam. Erst nachdem sie ungehorsam geworden
waren, erkannten sie die Schlange als das, was sie war, und wurden sich ihrer
Sünde bewußt, denn sie hatten nun die Unschuld des Herzens verloren. Sie
versteckten sich vor Gott, der sie suchte, und belogen ihn dann, als er sie
fragte.
Daraufhin stellte Gott Engel an
die Grenzen des Gartens und verjagte die Menschen daraus. Es war, als würden
die Menschen vom sicheren Ufer des Paradieses in die im Frühling Hochwasser
führenden Flüsse der Erde geworfen. Doch Gott ließ im Herzen der Vertriebenen
die Erinnerung an ihre ewige Bestimmung, also an den Übergang aus dem schönen
Garten, in dem sie die Stimme Gottes vernahmen und seine Liebe fühlten, an den
Himmel, in dem sie Gott vollkommen besessen hätten. Und mit der Erinnerung
blieb in ihnen auch der heilige Wunsch, durch ein Leben der Gerechtigkeit
wieder an den verlorenen Ort zurückzugelangen.
Aber, meine Kinder, ihr habt
soeben gesehen: solange das Boot mit der Strömung flußabwärts treibt, geht
alles leicht. Schwimmt es aber gegen den Strom, hat es Mühe, sich über Wasser
zu halten, in den Wellen nicht zu kentern, und nicht auf dem Gras, dem Sand
und den Steinen des Flusses Schiffbruch zu erleiden. Hätte Simon Petrus eure
Schiffchen nicht an feine Binsen vom Ufer gebunden, hättet ihr sie alle
verloren, so wie es Isaak gegangen ist, der seine Binse losgelassen hat.
Ebenso ergeht es den Menschen,
die in die Ströme der Erde geworfen wurden. Sie müssen immer in der Hand
Gottes bleiben und ihren Willen, der euren Binsen gleicht, den Händen des
guten Vaters im Himmel anvertrauen. Denn er ist der Vater aller, besonders der
Unschuldigen. Und sie müssen ein wachsames Auge haben auf Gräser und Binsen,
Steine, Wirbel und Schlamm, die das Boot ihrer Seele aufhalten, zerschmettern
oder verschlingen und den Faden abreißen könnten, der sie mit Gott verbindet.
Denn die Schlange ist nun nicht mehr im Garten, sondern auf der Erde, und
versucht, die Seelen zu verderben und sie nicht gegen die Strömung des
Euphrat, des Tigris, des Gichon und des Pischon zum großen Fluß gelangen zu
lassen. Er fließt durch das ewige Paradies und nährt die Bäume des Lebens und
des Heiles, die immerwährende Früchte tragen und die all jene genießen werden,
denen es gelingt, gegen den Strom zu schwimmen und sich mit Gott und seinen
Engeln zu vereinigen und nie mehr leiden zu müssen.»
129
«So hat es auch die Mama
erzählt», sagt das größere der Kinder.
«Ja, sie hat es gesagt»,
zwitschert der Kleinste.
«Du kannst es nicht wissen. Ich
schon, denn ich bin groß. Aber wenn du Dinge sagst, die nicht wahr sind, dann
kommst du nicht ins Paradies.»
«Der Vater hat aber gesagt, dies
sei alles nicht wahr», bemerkt der Mittlere.
«Weil er nicht an den Herrn der
Mama glaubte.»
«War denn dein Vater kein
Samariter?» fragt Jakobus des Alphäus.
«Nein, er war aus einer anderen
Gegend. Aber die Mama war es, und wir sind es ebenfalls, denn sie wollte, daß
wir so werden wie sie. Sie hat uns vom Paradies erzählt und vom Garten, aber
nicht so schön wie du. Ich hatte Angst vor der Schlange und vor dem Tod, weil
die Mama immer sagte, daß sie der Teufel sei, und der Vater sagte, daß mit dem
Tod alles zu Ende sei. Daher war ich so unglücklich, allein zu sein. Ich sagte
mir auch, daß es nun nutzlos sei, gut zu sein; denn solange Vater und Mutter
noch lebten, freuten sie sich darüber, während danach niemand mehr da war, der
sich gefreut hätte, wenn wir brav sind. Doch nun weiß ich... und werde gut
sein. Ich werde niemals meinen Faden aus der Hand Gottes reißen, damit ich
nicht von den Gewässern der Erde fortgeschwemmt werde.»
«Aber ist die Mama hinauf- oder
hinuntergeschwommen?» fragt der Zweite nachdenklich.
«Was meint du damit, Kind?»,
fragt Matthäus.
«Ich meine: wo ist sie jetzt? Ist
sie zum Fluß des ewigen Paradieses gelangt?»
«Wir wollen es hoffen, Kind. Wenn
sie gut war...»
«Sie war eine Samariterin...»
sagt Iskariot verächtlich.
«Dann gibt es also kein Paradies
für uns, weil wir Samariter sind? Werden wir Gott nicht besitzen? Aber er hat
ihn doch den Vater aller genannt. Und da ich Waise bin, habe ich mich gefreut,
doch noch einen Vater zu haben... Aber wenn er es für uns nicht ist...» Das
Kind senkt traurig das Köpfchen.
«Gott ist der Vater aller
Menschen, mein Kind. Habe ich dich etwa weniger geliebt, weil du ein Samariter
bist? Ich habe dich vor den Räubern bewahrt, und ich werde dich dem Teufel
streitig machen, genauso wie ich den kleinen Sohn des Hohenpriesters im Tempel
von Jerusalem bewahren würde, wenn dieser es nicht für eine Schmach halten
würde, daß der Erlöser sein kleines Geschöpf rettet. Ja, ich werde dich noch
mehr beschützen, weil du allein und unglücklich bist. Es gibt für mich keinen
Unterschied zwischen der Seele eines Juden und der Seele eines Samariters. Und
bald wird es keine Trennung mehr geben zwischen Samaria und Judäa, denn der
Messias wird ein einziges Volk haben, das seinen Namen trägt und dem alle
angehören, die ihn lieben.»
130
«Ich habe dich lieb, Herr. Aber
bringst du mich zu meiner Mama?»fragt das größere der drei Kinder.
«Du weißt nicht, wo sie ist. Der
Mann dort hat gesagt, daß wir nur hoffen können ...» sagt der Zweitgeborene.
«Ich weiß es nicht, aber der Herr
weiß es. Er hat auch gewußt, wo wir waren, während wir doch selbst nicht
einmal wußten, wo wir waren.»
«Bei den Räubern... Sie wollten
uns erschlagen ...» Schrecken zeichnet sich wieder auf dem Gesichtchen des
Zweitgeborenen ab.
«Die Räuber waren wie Teufel.
Aber er hat uns gerettet, weil unsere Engel ihn gerufen haben.»
«Auch die Mama haben die Engel
gerettet. Ich weiß es, denn ich träume immer von ihr.»
«Du lügst, Isaak. Du kannst nicht
von ihr träumen, denn du kannst dich nicht mehr an sie erinnern.»
Der Kleinste weint und sagt:
«Nein, nein. Ich träume von ihr. Ich träume von ihr ...»
«Du darfst deinen Bruder nicht
Lügner nennen, Ruben. Seine Seele kann die Mama schon sehen, denn der gute
Vater im Himmel kann dem Waisenkind gewähren, daß es von ihr träumt und sie
teilweise kennt, so wie er auch gewährt, daß man ihn selbst erkennt. Denn aus
dieser begrenzten Erkenntnis entspringt der gute Wille zur vollkommenen
Erkenntnis. Diese erlangt man dann, wenn man immer gut ist. Nun wollen wir
gehen. Wir haben von Gott gesprochen und den Sabbat geheiligt.»Jesus steht auf
und stimmt weitere Psalmen an.
Leute von Ephraim, die den Chor
gehört haben, kommen herbei und warten ehrfurchtsvoll das Ende des Psalms ab,
um Jesus zu grüßen. Dann fragen sie ihn: «Hast du es vorgezogen, hierher zu
kommen, anstatt zu uns? Du liebst uns also nicht?»
«Keiner von euch hat mich
eingeladen. Daher bin ich mit meinen Aposteln und den Kindern hierher
gekommen.»
«Das ist wahr. Aber wir nahmen
an, dein Jünger würde dir unseren Wunsch ausrichten.»
Jesus sieht Johannes und Judas
an, und Judas antwortet: «Gestern habe ich vergessen, es dir zu sagen; und
heute war ich wegen dieser Kinder zu zerstreut.»
Jesus verläßt die kleine Insel,
springt über den schmalen Wasserarm und kommt zu den Leuten aus Ephraim. Die
Apostel folgen ihm, während die Kinder etwas zurückbleiben und die beiden
übriggebliebenen Schilfboote losbinden. Dem Petrus, der sie antreibt, erklären
sie: «Wir wollen sie behalten, um uns an die Lehre zu erinnern.»
«Und ich? Ich, ich habe meines
verloren! Ich werde mich nicht daran erinnern. Und nicht ins Paradies kommen»,
sagt der Kleinste weinend.
«Warte, weine nicht! Ich mache
dir sofort ein kleines Boot. Sicher.
131
Auch du mußt dir die Lehre
merken. Ja, allen müßte man ein kleines Boot mit einem Binsenfaden am Bug
machen, damit sie sich erinnern. Mehr noch uns Männern als euch Kindern. Bah!»
Und Petrus schneidet und formt das Boot, versieht es mit seinem Binsenfaden,
nimmt dann alle drei Kinder zusammen auf den Arm, macht einen Sprung über den
Bach und geht zu Jesus.
«Sind es diese?» fragt Malachias
von Ephraim.
«Sie sind es.»
«Sie sind von Sichern?»
«Der Hirtenknabe hat gesagt, daß
die Verwandten vom Land dort wohnen.»
«Arme Kinder! Aber wenn die
Verwandten nicht kommen sollten, was würdest du dann tun?»
«Ich würde sie bei mir behalten.
Aber sie werden kommen.»
«Diese Räuber... Werden nicht
auch sie kommen?»
«Sie werden nicht kommen. Aber
fürchtet euch nicht ihretwegen. Auch wenn sie kämen... Sie würden meine Beute
sein, und nicht ihr die ihre. Ich habe ihnen schon vierfache Beute abgenommen
und hoffe, auch einen Teil ihrer Seele der Sünde entrissen zu haben,
wenigstens bei dem einen oder anderen ...»
«Wir werden dir mit diesen
Kindern helfen. Das wirst du uns erlauben.»
«Ja. Nicht, weil sie aus eurer
Gegend stammen, sondern weil sie unschuldig sind, und die Liebe zu den
Unschuldigen ist der schnellste Weg zu Gott.»
«Aber nur du machst keinen
Unterschied zwischen Unschuldigen von hier und dort. Kein Jude hätte diese
kleinen Samariter aufgenommen, und nicht einmal ein Galiläer. Man liebt uns
nicht. Und die Abneigung gegen uns übertragen sie auch auf diese hier, die
noch nicht einmal wissen, was es heißt, Samariter oder Jude zu sein. Und das
ist grausam.»
«Ja, aber das wird sich ändern,
wenn man mein Gesetz befolgt. Siehst du, Malachias? Sie sind in den Armen des
Petrus, meines Bruders, und Simons des Zeloten. Keiner von ihnen ist Samariter
oder Vater. Und dennoch drückst nicht einmal du mit solcher Liebe deine Kinder
ans Herz, wie es meine Jünger mit den Waisen von Samaria tun. Das ist der
messianische Gedanke: alle in Liebe zu vereinigen. Das ist die Wahrheit des
messianischen Gedankens. Ein einziges Volk auf Erden unter dem Szepter des
Messias. Ein einziges Volk im Himmel unter dem Blick des einen Gottes.»
Sie entfernen sich, während sie
miteinander reden, in Richtung des Hauses der Maria des Jakob.
132
610. IN DER NACHT DESSELBEN TAGES
Jesus ist allein in einem kleinen
Zimmer. Er sitzt auf seinem Lager und denkt nach oder betet. Das gelbliche
Flämmchen einer Öllampe zuckt auf einem Regal. Es muß Nacht sein, denn weder
im Haus noch auf der Straße ist ein Geräusch zu vernehmen. Nur der Bach vor
dem Haus scheint in der Stille der Nacht lauter als sonst zu rauschen.
Jesus hebt das Haupt und sieht
zur Tür. Er horcht. Dann steht er auf und öffnet. Petrus steht vor der Tür.
«Du? Komm herein. Was willst du, Simon? Bist du noch auf, nachdem du so viel
gelaufen bist?» Er hat ihn an der Hand genommen und ins Zimmer gezogen und
dann wieder lautlos die Tür geschlossen. Er läßt ihn neben sich auf dem Lager
Platz nehmen.
«Ich wollte dir sagen, Meister...
Ja, ich wollte dir sagen, du hast es auch heute wieder gesehen, was ich wert
bin. Ich bin nur imstande, arme Kinder zu zerstreuen, eine alte Frau zu
trösten und Frieden zwischen zwei Hirten zu stiften, die sich wegen eines
Schafes streiten, das ein trockenes Euter hat. Ich bin ein armer Mensch. So
arm, daß ich nicht einmal begreife, was du mir erklärst. Doch das ist etwas
anderes. Ich wollte dir jetzt sagen, gerade deshalb, daß du mich hier bei dir
behalten sollst. Ich lege keinen Wert darauf herumzuwandern, wenn du nicht
dabei bist. Ich bringe nichts zuwege... Tu mir den Gefallen, Herr.» Petrus
spricht mit Wärme, doch er heftet den Blick dabei immer auf die rauhen, etwas
zerbröckelten Ziegel des Bodens.
«Schau mich an, Simon!» gebietet
Jesus. Und da Petrus gehorcht, sieht ihn Jesus fest an und fragt: «Und das ist
alles? Der einzige Grund deines Wachens? Der einzige Grund, weshalb ich dich
hierbehalten soll? Sei ehrlich, Simon. Du sprichst nicht schlecht über andere,
wenn du deinem Meister den anderen Teil deiner Gedanken sagst. Man muß zu
unterscheiden wissen zwischen müßigen und nützlichen Worten. Es sind müßige
Worte, und für gewöhnlich gedeiht im Müßiggang die Sünde, wenn man von den
Fehlern anderer spricht mit Menschen, die daran nichts ändern können. Dann ist
es einfach Mangel an Nächstenliebe, selbst wenn das Gesagte wahr ist. Ebenso
fehlt man gegen die Nächstenliebe, wenn man mehr oder weniger hart tadelt,
ohne mit dem Tadel einen guten Rat zu verbinden. Und ich spreche von
gerechtfertigtem Tadel. Aller andere Tadel ist ungerecht und eine Sünde gegen
den Nächsten. Aber wenn einer seinen Nächsten sündigen sieht und darunter
leidet, weil der Sünder Gott beleidigt und seiner eigenen Seele schadet, und
wenn er feststellt, daß er weder imstande ist, das ganze Ausmaß der Sünde des
anderen zu beurteilen, noch die Weisheit besitzt, die richtigen Worte zur
Bekehrung des Sünders zu finden, und sich deshalb an einen Gerechten und
Weisen wendet, um ihm seine Not anzuvertrauen, dann begeht er keine Sünde;
denn er will
133
mit seinen vertraulichen
Mitteilungen nur Ärgernis verhindern und eine Seele retten. Er gleicht einem
Mann, der einen Verwandten mit einer beschämenden Krankheit hat. Es ist
natürlich, daß er den Menschen die Krankheit verschweigt, heimlich jedoch zum
Arzt sagt: "Mein Verwandter hat meines Wissens diese und diese Krankheit, und
ich kann ihm nicht raten oder helfen. Komm du oder sage mir wenigstens, was
ich tun muß." Fehlt dieser etwa gegen die Liebe zu seinem Verwandten? Nein. Im
Gegenteil! Er würde fehlen, wenn er aus einem falschen Gefühl der Vorsicht und
Liebe vorgeben würde, von der Krankheit nichts zu wissen, und diese
fortschreiten und vielleicht zum Tod führen würde. Eines Tages, es wird nicht
mehr Jahre dauern, werdet ihr, du und deine Gefährten, die Bekenntnisse der
Seelen anhören müssen. Nicht, wie ihr sie jetzt als Menschen anhört, sondern
als Priester, als Ärzte, als Lehrer und Hirten der Seelen, so wie ich Arzt,
Lehrer und Hirte bin. Ihr werdet sie anhören, entscheiden und Ratschläge geben
müssen. Und euer Urteil wird denselben Wert haben, wie wenn Gott selbst
gesprochen hätte ...»
Petrus macht sich von Jesus los,
der ihn eng an seiner Seite gehalten hat, steht auf und sagt: «Das ist nicht
möglich, Herr. Das darfst du uns niemals auferlegen. Wie sollen wir wie Gott
richten können, wenn wir nicht einmal imstande sind, es als Menschen zu tun?»
«Ihr werdet es können, denn der
Geist Gottes wird euch frei machen und euch mit seinem Licht erfüllen. Ihr
werdet zu urteilen verstehen, wenn ihr die sieben Umstände der Tatsachen
prüft, die euch vorgetragen werden, um Rat oder Vergebung zu erhalten. Höre
gut zu und versuche, dich zu erinnern. Zu gegebener Zeit wird der Geist des
Herrn dir meine Worte wiederholen. Aber versuche trotzdem, dich zu erinnern
mit deinem Verstand, den Gott dir gegeben hat, damit du ihn gebrauchst.
Gebrauche ihn ohne geistige Trägheit oder Anmaßung, die nur dazu verleiten,
alles von Gott zu erwarten und zu verlangen. Wenn du an meiner Stelle Lehrer,
Arzt und Hirte bist und ein Gläubiger kommt, um zu deinen Füßen die Verwirrung
zu beweinen, die seine eigenen Taten oder die anderer Menschen in ihm erzeugt
haben, dann mußt du immer an diese sieben Fragen denken.
Wer: Wer hat gesündigt?
Was: Worin besteht die Sünde?
Wo: An welchem Ort?
Wie: Unter welchen Umständen?
Womit oder mit wem: Welcher
Gegenstand oder welche Person war das Mittel zur Sünde?
Warum: Welche Anreize haben die
die Sünde begünstigenden Bedingungen geschaffen?
Wann: In welcher Verfassung
befand sich der Mensch und wie hat er reagiert? War es unvorhergesehen oder
ungesunde Gewohnheit?
134
Denn siehst du, Simon, die
gleiche Sünde kann unendlich viele Schattierungen und Grade haben, je nach den
Umständen, die dazu geführt haben, und den Personen, die sie begangen haben.
Nehmen wir z.B. die beiden Sünden, die am weitesten verbreitet sind: die
Begierlichkeit des Fleisches und die Gier nach Reichtum.
Ein Mensch hat durch Unkeuschheit
gesündigt, oder er glaubt, durch Unkeuschheit gesündigt zu haben; denn
manchmal verwechselt der Mensch die Sünde mit der Versuchung, oder er hält die
künstlich durch einen ungesunden Appetit geschaffene Lust für gleichwertig mit
den Gedanken, die durch ein Leiden oder eine Krankheit entstehen, oder als
Folge einer gänzlich unerwarteten Regung von Fleisch und Blut, gegen die sich
der Geist nicht rechtzeitig zur Wehr setzen kann, um sie zu unterdrücken. Der
Mensch kommt zu dir und bekennt: "Ich bin unkeusch gewesen." Ein
unvollkommener Priester würde sagen: "Verflucht sollst du sein!" Du aber, mein
Petrus, darfst nicht so sprechen. Denn du bist Petrus des Jesus, du bist der
Nachfolger der Barmherzigkeit. Und daher mußt du, bevor du verurteilst, alle
Umstände erwägen und sanft und klug das Herz, das vor dir weint, prüfen, um
alle Aspekte der Sünde oder der anscheinenden Sünde, der Skrupel, zu kennen.
Ich habe gesagt: sanft und klug. Du darfst nie vergessen, daß du außer Lehrer
und Hirte auch Arzt bist. Und der Arzt vergiftet die Wunden nicht. Er ist
bereit, zu schneiden, wenn sich Wundbrand gebildet hat, aber er versteht es
auch, freizulegen und mit leichter Hand zu behandeln, wenn es nur eine Wunde
ist, bei der gesunde Teile verletzt sind, die wieder zusammengefügt werden
können und nicht entfernt werden müssen. Und denke daran, daß du außer Arzt
und Hirte auch Lehrer bist. Ein Lehrer paßt seine Worte dem Alter der Schüler
an. Ein Ärgernis wäre der Erzieher, der Kindern animalische Vorgänge enthüllt,
die dem Unschuldigen unbekannt sind, und der sie somit durch vorzeitige
Erkenntnisse zum Bösen verführt. Auch im Umgang mit den Seelen braucht es
Klugheit beim Befragen. Selbstrespekt und Respekt vor ihnen. Es wird dir
leichtfallen, wenn du in jeder Seele einen Sohn siehst. Der Vater ist der
natürliche Lehrer, Arzt und Führer seiner Kinder. Daher sollst du jeden
Menschen, wer er auch immer sei, der mit irgendeiner Schuld beladen oder mit
der Furcht, gesündigt zu haben, zu dir kommt, wie ein Vater lieben. So wirst
du urteilen, ohne zu verletzen oder Ärgernis zu geben. Kannst du mir folgen?»
«Ja, Meister. Ich verstehe sehr
gut. Ich muß vorsichtig und geduldig sein und den Menschen veranlassen, seine
Sünden aufzudecken, aber mich hüten, die Augen anderer darauf zu lenken, und
nur wenn ich sehe, daß tatsächlich eine Wunde vorhanden ist, muß ich sagen:
"Siehst du? Hier hast du dir aus diesem oder jenem Grund geschadet." Aber wenn
ich sehe, daß der Mensch sich nur einbildet und fürchtet, verletzt zu sein,
dann... blase ich die Nebel weg, ohne aus unnötigem Eifer Kenntnisse zu
135
vermitteln, die zur Ursache
wirklicher Sünden werden könnten. Ist das richtig?»
«Ganz richtig. Wenn also jemand
zu dir sagt: "Ich bin unkeusch gewesen", dann erwäge erst einmal, wen du vor
dir hast. Gewiß, die Sünde ist in jedem Alter möglich. Aber es wird leichter
sein, ihr bei einem Erwachsenen zu begegnen als bei einem Kind, und die Fragen
und die Antworten müssen daher verschieden sein, je nachdem, ob es sich um
einen Mann oder um ein Kind handelt. Nach der ersten kommt also die zweite
Frage nach der Art der Sünde, dann die dritte nach dem Ort der Sünde, die
vierte nach den Umständen der Sünde, die fünfte nach den Mitschuldigen, die
sechste nach dem Warum und die siebte nach dem Wann und wie oft.
Du wirst feststellen, daß sich
gewöhnlich bei einem Erwachsenen, einem in der Welt lebenden Erwachsenen, bei
jeder Frage ein wirklich schuldhafter Umstand ergibt, während du bei einem
kindlichen Geschöpf, kindlich dem Alter oder dem Geist nach, oft sagen mußt:
"Hier ist nur ein Nebel, aber keine wahrhafte Sünde." Ja, du wirst manchmal
anstelle von Schmutz eine Lilie vorfinden, die zittert, sich mit Schmutz
befleckt zu haben, und den Tautropfen, der in ihren Kelch gefallen ist, mit
einem Schlammspritzer verwechselt. Es sind dies Seelen, die sich so sehr nach
dem Himmel sehnen, daß sie selbst den Schatten einer Wolke, der auf sie fällt,
wie einen Makel fürchten, obwohl diese sich nur für einen Augenblick zwischen
die Seele und die Sonne schiebt und dann weiterzieht und keinerlei Spur auf
dem reinen Blütenkelch hinterläßt. Seelen, die ganz unschuldig sind und es
auch bleiben wollen und die Satan durch geistige Versuchungen oder den Stachel
des Fleisches oder das Fleisch selbst erschreckt, indem er sich echter
körperlicher Krankheiten bedient. Diese Seelen müssen getröstet und
aufgerichtet werden, denn sie sind keine Sünder mehr, sondern Märtyrer. Denke
immer daran.
Und vergiß auch nicht,
diejenigen, die durch die Gier nach dem Reichtum oder dem Eigentum anderer
gesündigt haben, auf dieselbe Art zu beurteilen. Denn wenn es auch eine
schwere Schuld darstellt, ohne Not und Mitleid habgierig zu sein, die Armen zu
berauben und entgegen aller Gerechtigkeit die Bürger und die Knechte und die
Völker zu quälen, so ist doch die Schuld geringer, sehr viel geringer, wenn
einer, dem von seinem Nächsten ein Brot verweigert wurde, dieses dann stiehlt,
um seinen eigenen und den Hunger seiner Kinder zu stillen. Erinnere dich,
sowohl beim Dieb als auch beim Unkeuschen sollen für dein Urteil Zahl,
Umstände und Schwere der Schuld maßgebend sein. Ferner sollst du bei deinem
Urteil in Betracht ziehen, ob der Sünder in dem Augenblick, als er die Sünde
beging, sich der Sündhaftigkeit seines Tuns bewußt war. Denn wer in voller
Kenntnis handelt, sündigt schwerer als der, der in Unkenntnis handelt. Und wer
aus freiem Willen sündigt, sündigt schwerer als einer, der zur Sünde gezwungen
wird. Wahrlich, ich sage dir, es gibt manchmal
136
Dinge, die Sünde zu sein scheinen
und in Wirklichkeit ein Martyrium sind und das Verdienst eines erlittenen
Martyriums haben. Und vergiß vor allem nie, daß du in allen Fällen, bevor du
verurteilst, bedenken mußt, daß auch du ein Mensch bist und daß dein Meister,
dem niemand eine Sünde nachsagen kann, niemals jemanden verurteilt hat, der
bereute, gesündigt zu haben.
Verzeihe siebzigmal siebenmal und
auch siebzigmal siebzigmal die Sünden deiner Brüder und deiner Kinder. Denn
einem Kranken die Tür des Heils zu verschließen, nur weil er wieder in die
Krankheit zurückgefallen ist, bedeutet, ihn zum Tod verurteilen. Hast du
verstanden?»
«Ich habe verstanden. Dies habe
ich wirklich verstanden...»
«So lege mir nun alle deine
Gedanken dar.»
«Nun gut, ja! Ich will dir alles
sagen, weil ich sehe, daß du wirklich alles weißt, und verstehe, daß ich nicht
schlecht über ihn rede, wenn ich dich bitte, Judas an meiner Stelle
auszusenden, da er leidet, wenn er nicht gehen darf. Ich will dir damit nicht
sagen, daß er eifersüchtig ist und daß ich an ihm Ärgernis nehme, ich will ihn
nur zufriedenstellen... damit auch du Frieden hast. Denn es muß sehr
anstrengend für dich sein, immer diesen Gewittersturm in deiner Nähe zu
haben...»
«Hat sich Judas wieder beklagt?»
«O ja! Er hat gesagt, daß jedes
deiner Worte ihm eine Wunde schlägt. Auch das, was du zu den Kindern gesagt
hast. Er meint, du habest nur seinetwegen gesagt, daß Eva zu dem Baum ging,
weil ihr dieses Ding gefiel, das wie ein königliches Geschmeide glitzerte. Ich
habe darin wahrlich keinen Vergleich gesehen. Doch ich bin unwissend ...
Bartholomäus und der Zelote haben gesagt, daß Judas am empfindlichsten Punkt
getroffen wurde, da er wie verhext ist von allem, was glänzt und der Eitelkeit
schmeichelt. Sie haben sicher recht, denn sie sind weise. Sei gut zu deinen
armen Aposteln, Meister. Stelle Judas zufrieden, und mich mit ihm. Du siehst
es ja selbst! Ich verstehe nur, die Kinder zum Lachen zu bringen... und selbst
ein Kind in deinen Armen zu sein», und er umarmt seinen Jesus, den er wahrhaft
mit allen seinen Kräften liebt.
«Nein. Ich kann dich nicht
zufriedenstellen. Dränge nicht. Du – eben weil du bist, wie du bist – gehst
die Frohe Botschaft verkünden. Er -eben weil er ist, wie er ist – bleibt hier.
Auch mein Bruder hat schon mit mir gesprochen, und so sehr ich ihn auch liebe,
ich mußte ihm mit einem "Nein" antworten. Selbst wenn meine Mutter mich bitten
würde, könnte ich nicht nachgeben. Es ist keine Strafe, sondern eine Medizin.
Und Judas muß sie einnehmen. Und wenn sie seinem Geist auch nicht nützt, so
wird sie doch mir nützen; denn ich werde mir nicht vorwerfen müssen, etwas
unterlassen zu haben, um ihn zu heiligen.» Jesus ist streng und gebieterisch
bei diesen Worten.
Petrus läßt die Arme sinken und
neigt seufzend das Haupt.
137
«Sei nicht traurig darüber,
Simon. Wir werden eine ganze Ewigkeit haben, um vereint zu sein und uns zu
lieben. Aber du wolltest mir noch etwas anderes sagen ...»
«Es ist spät, Meister, und du
mußt schlafen.»
«Du mehr als ich, Simon, denn bei
Sonnenaufgang mußt du dich wieder auf den Weg machen...»
«Oh, was mich betrifft, so ruhe
ich mich hier bei dir mehr aus als auf dem Lager.»
«Dann sprich. Du weißt, daß ich
wenig schlafe...»
«Also, ich bin ein Dummkopf. Ich
weiß es und sage es ohne Scham. Und wenn es nur mich anginge, so würde es mir
gar nichts ausmachen, unwissend zu sein, denn ich meine, die größte Weisheit
besteht darin, dich zu lieben, dir zu folgen und dir mit ganzem Herzen zu
dienen. Doch du schickst mich da- und dorthin. Und die Leute fragen mich, und
ich muß ihnen antworten. Ich meine, wonach ich dich frage, können die anderen
mich fragen. Denn die Menschen haben dieselben Gedanken. Du hast gestern
gesagt, daß die Unschuldigen und die Heiligen immer werden leiden müssen; mehr
noch, daß gerade sie für alle leiden werden. Das fällt mir schwer zu
verstehen, auch wenn du sagst, daß sie selbst es wünschen werden. Und ich
glaube, wenn es mir schwerfällt, wird es anderen ebenso ergehen. Und wenn sie
mich fragen, was soll ich ihnen antworten? Auf dieser ersten Reise hat eine
Mutter zu mir gesagt: "Es war nicht recht, daß mein kleines Mädchen unter so
großen Schmerzen sterben mußte, denn es war gut und unschuldig." Und da ich
nicht wußte, was ich antworten sollte, habe ich die Worte des Job wiederholt:
"Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen. Der Name des Herrn sei
gepriesen." Aber ich war selbst nicht davon überzeugt. Und ich konnte auch sie
nicht überzeugen. Nun möchte ich wissen, was ich das nächste Mal sagen soll.»
«Die Frage ist gerechtfertigt.
Höre zu. Es scheint eine Ungerechtigkeit zu sein, und doch ist es durchaus
gerecht, daß die Besten für alle leiden. Aber sage mir einmal, Simon, was ist
die Erde? Die ganze Erde.»
«Die Erde? Ein großer, ein sehr
großer Raum, der aus Staub, Wasser, Felsen, Pflanzen, Tieren und menschlichen
Geschöpfen besteht.»
«Und was sonst noch?»
«Sonst gar nichts... Es sei denn,
du willst, daß ich sage, daß sie der Ort der Strafe für den Menschen und ein
Exil ist.»
«Die Welt ist ein Altar, Simon.
Ein riesiger Altar. Sie sollte ein Altar des unaufhörlichen Lobes für ihren
Schöpfer sein. Aber die Welt ist voller Sünde. Daher muß sie ein Altar der
unablässigen Sühne sein, eine Opferstätte, auf der die Opfergaben brennen. Die
Erde müßte, wie die anderen Welten im All, Gott, der sie erschaffen hat,
Psalmen singen. Schau!»Jesus öffnet die Holzläden, und durch das offene
Fenster dringen die Kühle der Nacht, das Rauschen des Baches und das Licht des
Mondes
138
herein und sieht man den
gestirnten Himmel. «Siehst du diese Sterne? Sie singen mit ihrer Stimme aus
Licht und Bewegung in den unendlichen Räumen des Firmaments das Lob Gottes.
Tausende von Jahren währt schon ihr Gesang, der von den blauen Gefilden des
Himmels zum Himmel Gottes aufsteigt. Wir können uns Gestirne und Planeten,
Sterne und Kometen als siderische Geschöpfe vorstellen, die als siderische
Priester, Leviten, Jungfrauen und Gläubige in einem grenzenlosen Tempel das
Lob des Schöpfers singen. Lausche, Simon. Hörst du das Säuseln des Windes im
Laub und das Rauschen des Wassers in der Nacht? Auch die Erde singt – wie der
Himmel – mit den Winden und den Wassern, mit den Stimmen der Vögel und der
übrigen Tiere. Aber wenn für das Firmament das leuchtende Lob der Sterne, die
es bevölkern, genügt, so ist der Gesang des Windes, des Wassers und der Tiere
für den Tempel, der die Erde ist, nicht ausreichend. Denn auf ihr gibt es
nicht nur Luft, Wasser und Tiere, die unbewußten Sänger des Lobes Gottes,
sondern auf ihr gibt es auch den Menschen: das vollkommene Geschöpf, das über
allem steht, was lebt in der Zeit und in der Welt, und das aus Materie wie die
Tiere, die Mineralien und die Pflanzen gemacht ist, und aus Geist wie die
Engel des Himmels. Wie letztere ist auch er dazu bestimmt, wenn er seine
Prüfung besteht, Gott zu erkennen und zu besitzen, durch die Gnade zuerst, im
Paradies später. Der Mensch, eine Synthese aller Seinsstufen, hat eine
Aufgabe, die die anderen Geschöpfe nicht haben; und sie müßte für ihn, mehr
als eine Pflicht, eine Freude sein: Gott zu lieben. Bewußt und freiwillig
müßte er Gott liebend verehren und ihm die Liebe vergelten, die er dem
Menschen erzeigte, als er ihm das Leben und über das Leben hinaus den Himmel
schenkte.
Bewußt verehren und lieben.
Überlege, Simon. Welchen Vorteil hat Gott durch die Schöpfung? Welchen Nutzen?
Keinen. Die Schöpfung macht Gott nicht größer, heiliger oder reicher. Denn er
ist unendlich. Er wäre es, auch wenn es nie eine Schöpfung gegeben hätte. Aber
Gott, die Liebe, verlangte nach Liebe. Und er hat erschaffen, um Liebe zu
finden. Liebe allein kann die Schöpfung Gott geben, und diese Liebe, die sich
nur bei den Engeln und den Menschen bewußt und frei äußert, ist die Ehre
Gottes, die Freude der Engel und die Religion der Menschen. Wenn eines Tages
der große Altar der Erde seine Lobgesänge und sein Liebesflehen einstellen
sollte, würde die Erde aufhören zu existieren. Denn wenn die Liebe erlischt,
endet auch die Sühne, und der Zorn Gottes würde die zur Hölle gewordene Welt
vernichten. Die Erde muß also lieben, um fortbestehen zu können. Und weiter:
Die Erde muß der Tempel sein, der liebt und betet durch die Intelligenz der
Menschen. Aber welche Opfer werden in einem Tempel, in jedem Tempel,
dargebracht? Reine Opfer, ohne Fehl und Makel. Nur diese sind dem Herrn
wohlgefällig. Sie und die Erstlinge. Denn dem Familienvater muß man das Beste
geben, und Gott, dem Vater
139
der Menschheitsfamilie, müssen
die Erstlinge aller Dinge, die erlesensten Dinge gegeben werden.
Aber ich habe gesagt, daß die
Erde die Pflicht des zweifachen Opfers hat: die des Lob- und die des
Sühnopfers; denn die Menschheit, die schon in den ersten Menschen gesündigt
hat, sündigt fortwährend weiter und fügt der Sünde der Gleichgültigkeit
gegenüber Gott tausend andere Sünden der Anhänglichkeit an die Stimmen der
Welt, des Fleisches und Satans hinzu. Schuldbeladene, schuldbeladene
Menschheit, die trotz ihrer Ähnlichkeit mit Gott, trotz des eigenen Verstandes
und der göttlichen Hilfe immer sündigt und immer mehr sündigt. Die Sterne
gehorchen, die Pflanzen gehorchen, die Elemente gehorchen, die Tiere
gehorchen, und sie alle preisen auf ihre Art den Herrn. Die Menschen gehorchen
dem Herrn nicht und preisen ihn nicht genug. Daraus ergibt sich die
Notwendigkeit der Opferseelen, die für alle lieben und sühnen. Es sind die
Kinder, die unschuldig und unwissend die bittere Strafe des Schmerzes ertragen
müssen für jene, die nichts anderes zu tun wissen als zu sündigen. Es sind die
Heiligen, die sich freiwillig für alle opfern.
In Kürze – ein Jahr oder ein
Jahrhundert ist immer "wenig" im Vergleich zur Ewigkeit – werden keine anderen
Opfergaben mehr auf dem Altar des großen Tempels der Welt dargebracht werden
als diese Opferseelen, die sich in beständiger Selbstaufopferung verzehren:
Hostien, vereint mit der vollkommenen Hostie. Keine Angst, Petrus. Ich sage
nicht, daß ich einen Kult ähnlich dem des Moloch, des Baal oder der Astarte
errichten werde. Die Menschen selbst werden uns opfern. Verstehst du? Sie
werden uns opfern, und wir werden freudig in den Tod gehen, um für alle zu
sühnen und zu lieben. Dann werden Zeiten kommen, in denen die Menschen nicht
mehr Menschen opfern. Doch immer wird es die reinen Opferseelen geben, die die
Liebe zusammen mit dem großen Opferlamm im fortwährenden Opfer verzehrt. Ich
spreche von der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott. Wahrlich, sie werden die
Hostien der Zukunft und des zukünftigen Tempels sein. Nicht Lämmer und Böcke,
Kälber und Tauben, sondern Opfer des Herzens sind Gott wohlgefällig. David hat
es vorausgesagt. Und in der neuen Zeit, der Zeit des Geistes und der Liebe,
wird Gott nur dieses Opfer angenehm sein.
Überlege, Simon. Wenn ein Gott
Mensch werden mußte, um der göttlichen Gerechtigkeit Genüge zu tun für die
große Sünde, für die vielen Sünden der Menschen, dann können in der Zeit der
Wahrheit nur die Opfer der Menschenseelen den Herrn besänftigen. Du denkst:
"Aber warum hat dann er, der Allerhöchste, angeordnet, ihm die Jungen der
Tiere und die Früchte der Pflanzen zu opfern?" Ich will es dir sagen. Vor
meiner Ankunft war der Mensch eine befleckte Opfergabe, und die Liebe war
nicht bekannt. Nun wird sie bekannt werden. Und der Mensch, der die Liebe
kennenlernt – denn ich werde ihm die Gnade wiedergeben,
140
durch die er die Liebe erkennt –
wird aus seiner Lethargie erwachen, sich erinnern, verstehen, leben und selbst
an die Stelle der Böcklein und der Lämmer treten. Hostie der Liebe und der
Sühne, in Nachahmung des Gotteslammes, seines Meisters und Erlösers, wird er
sein. Der Schmerz, bisher eine Strafe, wird sich in vollkommene Liebe
verwandeln, und selig jene, die ihn aus vollkommener Liebe auf sich nehmen.»
«Aber die Kinder ...»
«Du meinst die, die sich noch
nicht aufzuopfern wissen... Weißt du denn, wann Gott in ihnen spricht? Die
Sprache Gottes ist eine geistige Sprache. Die Seele versteht sie und die Seele
hat kein Alter. Vielmehr sage ich dir, daß die Kinderseele, weil ohne Bosheit,
in ihrer Fähigkeit, Gott zu verstehen, erwachsener ist als die Seele eines
greisen Sünders. Ich sage dir, Simon: du wirst lange genug leben, um zu sehen,
wie viele Kinder die Erwachsenen und auch dich selbst die Weisheit der
heroischen Liebe lehren werden. In jenen Kindern aber, die aus natürlichen
Gründen sterben, wirkt Gott direkt aus Gründen einer so hohen Liebe, daß ich
sie dir nicht erklären kann. Sie gehören zu der Weisheit, die in den Büchern
des Lebens geschrieben steht, die nur von den Seligen im Himmel gelesen
werden. Gelesen, habe ich gesagt; aber in Wahrheit wird es genügen, Gott
anzuschauen, um nicht allein Gott zu erkennen, sondern auch seine unendliche
Weisheit... Nun haben wir den Mond untergehen lassen, Simon... Bald bricht der
Tag an, und du hast nicht geschlafen...»
«Das macht nichts, Meister. Ich
habe wenige Stunden Schlaf verloren und so viel Wissen erworben. Und ich war
mit dir zusammen. Aber wenn du es erlaubst, gehe ich jetzt. Nicht um zu
schlafen, sondern um über deine Worte nachzudenken.»
Petrus ist schon auf der Schwelle
und will hinausgehen, als er nachdenklich stehenbleibt und sagt: «Noch etwas,
Meister. Ist es richtig, wenn ich jemandem, der leidet, sage, daß der Schmerz
keine Strafe, sondern eine... Gnade, etwas wie... wie unsere Berufung ist,
etwas Schönes, wenn auch Mühevolles, etwas Schönes, wenngleich es denen, die
nicht darum wissen, hart und traurig erscheint?»
«Du kannst es sagen, Simon. Es
ist die Wahrheit. Der Schmerz ist keine Strafe, wenn man ihn im rechten Geist
annimmt und nutzt. Der Schmerz ist wie ein Priestertum, Simon. Ein allen
zugängliches Priestertum. Ein Priestertum, das große Macht über das Herz
Gottes verleiht. Er ist ein großes Verdienst. Mit der Sünde geboren,
besänftigt er die Gerechtigkeit. Denn Gott kann auch zum Guten gebrauchen, was
der Haß geschaffen hat, um Schmerz zu bereiten. Ich habe kein anderes Mittel
gewollt, um die Schuld zu tilgen, denn es gibt kein mächtigeres Mittel als
dieses.»
141
611. AN EINEM SABBAT IN EPHRAIM
Es muß wieder Sabbat sein, denn
die Apostel sind erneut im Haus der Maria des Jakob versammelt. Die Kinder
sind noch bei ihnen, nahe bei Jesus, an der Feuerstelle. Und das veranlaßt
Judas Iskariot zu sagen: «Nun ist schon eine Woche vergangen, und die
Verwandten sind nicht gekommen», und er lacht dabei und schüttelt den Kopf.
Jesus antwortet ihm nicht. Er
liebkost den Zweitgeborenen. Judas fragt Petrus und Jakobus des Alphäus: «Und
ihr sagt, daß ihr beide Wege gegangen seid, die nach Sichern führen?»
«Ja. Aber es war nutzlos, und wir
hätten es uns denken können. Natürlich benützen die Räuber diese belebten
Straßen nicht, besonders jetzt, da Trupps von römischen Soldaten dort ständig
patrouillieren», antwortet Jakobus des Alphäus.
«Und warum habt ihr es dann
getan?» setzt ihm Judas zu.
«Nun ja... Es kommt für uns auf
das gleiche heraus, ob wir dahin oder dorthin gehen. Also sind wir diese Wege
gegangen.»
«Und niemand konnte euch etwas
sagen?»
«Wir haben niemanden gefragt.»
«Und wie wollt ihr dann wissen,
ob sie vorbeigekommen sind oder nicht? Tragen sie vielleicht Schilder mit sich
herum, oder hinterlassen Menschen, die auf einer Straße gehen, Spuren? Ich
glaube nicht. Denn sonst hätten uns wenigstens schon die Freunde gefunden.
Doch kein einziger ist gekommen, seit wir hier sind.» Judas lacht sarkastisch.
«Wir wissen nicht, warum niemand
hierher gekommen ist. Der Meister weiß es. Wir wissen es nicht. Wenn man keine
Spuren hinterläßt und sich wie wir an einen den Leuten unbekannten Ort
zurückzieht, können sie nicht kommen, wenn man ihnen unseren Zufluchtsort
nicht bekanntgibt. Und wir wissen nicht, ob unser Bruder ihn den Freunden
genannt hat», sagt Jakobus des Alphäus geduldig.
«Oh, du willst mir doch nicht
weismachen, daß er ihn nicht wenigstens Lazarus oder Nike mitgeteilt hat?»
Jesus sagt nichts. Er nimmt ein
Kind bei der Hand und geht hinaus.
«Ich will dir gar nichts
weismachen. Aber selbst wenn es so ist, wie du sagst, kannst du nicht, kann
keiner von uns die Gründe für die Abwesenheit der Freunde beurteilen.»
«Sie sind leicht zu verstehen,
diese Gründe! Keiner will Unannehmlichkeiten mit dem Synedrium bekommen, um so
weniger einer, der reich und mächtig ist. Das ist alles! Nur wir verstehen es
bestens, uns Gefahren auszusetzen.»
«Sei gerecht, Judas! Der Meister
hat keinen von uns gezwungen, bei ihm zu bleiben. Warum bist du geblieben,
wenn du das Synedrium fürchtest?» bemerkt Jakobus des Alphäus.
142
«Du kannst immer noch jederzeit
gehen, wenn du willst. Du bist nicht angekettet...» unterbricht der andere
Jakobus, der Sohn des Zebedäus.
«Nein, das nicht! Das kommt nicht
in Frage! Hier sind wir und hier bleiben wir. Alle. Wer gehen wollte, hätte es
früher tun sollen. Jetzt nicht mehr. Ich werde mich widersetzen, wenn der
Meister sich nicht widersetzt», sagt Petrus langsam aber bestimmt und schlägt
mit der Faust auf den Tisch.
«Und weshalb? Wer bist du denn,
daß du an Stelle des Meisters Befehle erteilst?» fragt Iskariot heftig.
«Ich bin ein Mensch, der nicht
wie Gott, wie er, denkt, sondern wie ein Mensch.»
«Du mißtraust mir? Du hältst mich
für einen Verräter?» sagt Judas erregt.
«Du hast es gesagt. Nicht, daß
ich dich dafür halten will... Aber du bist so gedankenlos und so wankelmütig,
Judas! Und du hast zu viele Freunde. Und du tust zu gerne groß, in allem. Du,
oh! Du könntest nicht schweigen! Um einem niederträchtigen Menschen zu
antworten oder um zu zeigen, daß du ein Apostel bist, würdest du plaudern.
Daher bist und bleibst du hier. So kannst du nicht schaden und brauchst dir
keine Vorwürfe zu machen.»
«Gott läßt dem Menschen die
Freiheit, und du willst sie mir nehmen?»
«Ich will es. Aber sage mir doch:
Regnet es dir etwa auf den Kopf? Fehlt es dir an Brot? Schadet dir die Luft?
Beleidigen dich die Leute? Nichts von alledem. Das Haus ist solide, wenn auch
nicht reich. Die Luft ist gut, an Essen hat es dir niemals gefehlt, und die
Bevölkerung achtet dich. Warum bist du also so unruhig, wie wenn du auf einer
Galeere wärest?»
«"Zwei Völkerschaften verabscheut
meine Seele, und die dritte mir verhaßte ist kein Volk: die Bewohner von Seit,
die Philister und das törichte Volk, das in Sichern wohnt." Ich antworte dir
mit den Worten des Weisen. Und ich habe allen Grund, so zu denken. Sage mir
selbst, ob diese Völker uns lieben!»
«Mhm... Eigentlich scheint mir,
daß auch die anderen, dein Volk und mein Volk, nicht viel besser sind. Man hat
in Judäa und in Galiläa mit Steinen nach uns geworfen, und in Judäa noch mehr
als in Galiläa, im Tempel von Judäa mehr als an allen anderen Orten. Ich finde
nicht, daß wir im Land der Philister, oder hier oder anderswo mißhandelt
worden sind ...»
«Wo anderswo? Wir sind
glücklicherweise sonst nirgends hingegangen. Aber selbst wenn wir anderswohin
gegangen wären, wäre ich nicht mitgekommen, und auch in Zukunft werde ich
nicht mitkommen. Ich will mich nicht noch mehr beflecken.»
«Dich beflecken? Das ist es
nicht, was dich stört, Judas des Simon. Du willst dich nicht mit denen vom
Tempel verfeinden. Das ist deine große
143
Sorge», sagt mit ruhiger Stimme
Simon der Zelote, der mit Petrus, Jakobus des Alphäus und Philippus in der
Küche geblieben ist. Die anderen sind hinausgegangen, einer nach dem anderen,
um sich mit den beiden Kindern zum Meister zu gesellen. Eine verdienstvolle
Flucht, denn sie ist erfolgt, um nicht gegen das Gebot der Liebe zu verstoßen.
«Nein, das stimmt nicht. Es paßt
mir einfach nicht, meine Zeit zu vergeuden und Dummköpfe mit Weisheit zu
füttern. Schau! Was hat es genützt, Ermastheus zu uns zu nehmen? Er ist
fortgegangen und nicht wiedergekommen. Joseph sagte, daß er sich von ihm
getrennt habe und zum Laubhüttenfest zurückkommen wollte. Hast du ihn etwa
gesehen? Ein Abtrünniger...»
«Ich weiß nicht, warum er nicht
zurückgekehrt ist, und urteile nicht. Doch möchte ich dich fragen: Ist er etwa
der einzige, der den Meister verlassen hat und vielleicht sogar sein Feind
geworden ist? Gibt es unter uns Juden und Galiläern denn keine Abtrünnigen?
Kannst du das behaupten?»
«Nein, das ist wahr. Aber ich
fühle mich eben nicht wohl hier. Wenn man erfahren würde, daß wir hier sind!
Wenn man wüßte, daß wir uns mit Samaritern abgeben und am Sabbat sogar in ihre
Synagogen gehen! Er will es tun... Wehe, wenn man es erführe! Die Anklage wäre
dann gerechtfertigt ...»
«Und der Meister würde verurteilt
werden, willst du sagen. Er ist es ja schon. Er ist es schon, noch bevor man
es erfährt. Er ist verurteilt worden, nachdem er einen Juden in Judäa
auferweckt hat. Er wird gehaßt, und man klagt ihn an, ein Samariter und ein
Freund von Zöllnern und Dirnen zu sein. Er ist es ... von jeher. Und du weißt
besser als wir alle, daß er es nicht ist!»
«Was willst du damit sagen,
Nathanael? Was meinst du damit? Was habe ich damit zu tun? Was kann ich besser
wissen als ihr?» Judas ist äußerst erregt.
«Du kommst mir vor wie eine von
Feinden umringte Maus, mein Junge. Aber du bist keine Maus, und wir sind nicht
mit Stöcken bewaffnet, um dich zu fangen und zu töten. Warum gerätst du so in
Erregung? Wenn dein Gewissen in Ordnung ist, warum versetzen dich dann
unschuldige Worte in solche Unruhe? Was hat Bartholomäus gesagt, daß du so
außer dir bist? Ist es vielleicht nicht wahr, daß niemand besser als wir,
seine Apostel, die wir mit ihm wohnen und neben ihm schlafen, wissen und
bezeugen können, daß er nicht den Samariter, den Zöllner, den Sünder oder die
Dirne als solche liebt, sondern ihre Seelen? Nur um diese ist er besorgt, und
nur um ihrer Seelen willen gibt er sich mit Samaritern, Zöllnern und Dirnen
ab. Und nur der Allerhöchste weiß, wie schwer es dem Reinsten fällt, sich dem
zu nähern, was wir Menschen und Sünder "Schmutz" nennen. Du verstehst und
kennst Jesus noch nicht, mein Junge! Du kennst und verstehst ihn weniger als
selbst die Samariter, die Philister,
144
die Phönizier und viele andere
mehr», sagt Petrus, und eine gewisse Traurigkeit klingt in den letzten Worten
mit.
Judas sagt nichts mehr, und auch
die anderen schweigen.
Die alte Frau kommt herein und
sagt: «Die Leute aus der Stadt sind auf dem Weg. Sie sagen, es sei die Stunde
des Sabbatgebets und der Meister habe versprochen, zu reden...»
«Ich will gehen und es ihm sagen,
Frau. Und du, sage den Leuten von Ephraim, daß wir gleich kommen», antwortet
Petrus und geht in den Garten hinaus, um Jesus zu benachrichtigen.
«Und du, was machst du? Kommst
du? Wenn du nicht kommen willst, dann geh, geh hinaus, bevor ihn deine
Ablehnung kränkt», sagt der Zelote zu Judas.
«Ich komme mit euch. Mit euch
kann man nicht reden! Man könnte meinen, ich sei der größte Sünder. Jedes
meiner Worte wird falsch verstanden.»
Jesus, der nun die Küche wieder
betritt, verhindert weitere Worte.
Sie gehen auf die Straße zu den
Leuten aus Ephraim, betreten mit ihnen die Stadt und bleiben erst vor der
Synagoge stehen, an deren Portal Malachias sie begrüßt und sie einlädt
hereinzukommen.
Ich bemerke keinerlei Unterschied
zwischen den Gebetsstätten der Samariter und denen, die ich anderenorts
gesehen habe. Immer dieselben Lampen, dieselben Pulte, dieselben Regale mit
den Schriftrollen und der Platz des Synagogenvorstehers oder seines
Stellvertreters. Nur gibt es hier viel weniger Schriftrollen als in den
anderen Synagogen.'
«Wir haben unsere Gebete schon
verrichtet, während wir auf dich gewartet haben. Wenn du sprechen willst...
Welche Rolle wünschest du, Meister?»
«Ich brauche keine. Und außerdem
hättest du die nicht, aus der ich etwas auslegen will», antwortet Jesus,
wendet sich dem Volk zu und beginnt seine Rede:
«Als die Hebräer von Cyrus, dem
Perserkönig, in die Heimat zurückgeschickt wurden, um den fünfzig Jahre zuvor
zerstörten Tempel Salomons wieder aufzubauen, wurde der Altar auf seinem alten
Fundament neu errichtet und darauf morgens und abends das tägliche Brandopfer
dargebracht. Auch das außergewöhnliche Opfer an jedem Monatsersten und an den
sonstigen, dem Herrn geweihten Feiertagen sowie die individuellen Opfergaben
wurden darauf verbrannt. Nachdem die ersten unentbehrlichen und wesentlichen
Kulthandlungen gesichert waren, begannen sie im zweiten Jahr nach der Rückkehr
mit dem, was man den Rahmen
' Die Samariter anerkennen als
Heilige Schriften nur die fünf Bücher Moses, den Pentateuch: Genesis, Exodus,
Leviticus, Numeri, Deuteronomium.
145
des Kultes nennen könnte, das
Äußerliche. Zwar kein schuldhaftes Unternehmen, denn es geschah, um den Ewigen
zu ehren, aber auch kein unbedingt notwendiges. Denn der Gottesdienst ist
Liebe zu Gott, und die Liebe fühlt und übt man im Herzen, nicht vermittels
behauener Steine und mit kostbarem Holz, Gold und Weihrauch. Alle diese Dinge
sind Äußerlichkeiten und dienen mehr dazu, dem eigenen nationalen oder
bürgerlichen Stolz genugzutun, als den Herrn zu ehren.
Gott verlangt einen Tempel des
Geistes. Er begnügt sich nicht mit einem gemauerten, marmornen Tempel, in dem
der Geist der Liebe fehlt. Wahrlich, ich sage euch, der Tempel des reinen und
liebenden Herzens ist der einzige Tempel, den Gott liebt und in dem er Wohnung
nimmt mit seinem Licht. Und töricht ist der Wettstreit, den Gebiete und Städte
hinsichtlich der Schönheit der einzelnen Gebetsstätten miteinander austragen.
Warum denn wetteifern mit Reichtum und Ausstattung der Häuser, in denen man
Gott anruft? Könnte denn das Endliche je dem Unendlichen gerecht werden,
selbst wenn das Endliche zehnmal schöner als der Tempel Salomons und alle
Königspaläste zusammen wäre? Gott, der Unendliche, der von keinem Raum
umschlossen und durch keine materielle Zier geehrt werden kann, findet den
einzigen Ort, der seiner würdig ist, und er kann, vielmehr will sich im Herzen
des Menschen niederlassen; denn der Geist des Gerechten ist ein Tempel, über
dem der Geist Gottes im Duft der Liebe schwebt, und bald wird er ein Tempel
sein, in dem der Herr, als der Eine und Dreieine wie im Himmel, seine
wirkliche Wohnung aufschlägt.
Und es steht geschrieben, daß,
nachdem die Maurer das Fundament des Tempels gelegt hatten, die Priester in
ihrem Schmuck und mit ihren Trompeten und die Leviten mit ihren Zimbeln gemäß
der Vorschrift Davids hingingen. Und sie sangen: "Gott sei gepriesen, denn er
ist gut, und ewig währt seine Barmherzigkeit."
Und das Volk jubelte. Doch viele
Priester, Vorsteher, Leviten und Ältesten weinten bitterlich, als sie an den
Tempel dachten, wie er zuvor gewesen war; aber in dem Durcheinander konnte man
den freudigen Jubel von den Klagen nicht unterscheiden. Und man liest weiter,
daß die Nachbarvölker die Erbauer des Tempels störten, denn sie wollten sich
rächen, weil man sie abgewiesen hatte, als sie sich erboten, beim Bau zu
helfen; denn auch sie suchten den Gott Israels, den einen und wahren Gott. Und
diese Störungen unterbrachen den Gang der Arbeiten so lange, bis es Gott
gefiel, sie fortsetzen zu lassen. So steht es im Buch Esdras geschrieben.
Wie viele und welche Lehren
enthält dieser Abschnitt?
Die bereits genannte, daß der
wahre Gottesdienst in den Herzen stattfinden muß und ihm nicht durch Steine
und Hölzer oder Gewänder, Zimbeln und Gesänge, denen der Geist fehlt, Ausdruck
verliehen werden kann. Daß der Mangel an gegenseitiger Liebe immer Anlaß zu
Verzögerungen und
146
Störungen ist, auch wenn man
einen an und für sich guten Zweck vor Augen hat. Gott kann nicht dort sein, wo
die Liebe fehlt. Nutzlos ist es, Gott zu suchen, wenn man vorher nicht die
notwendigen Voraussetzungen schafft, um ihn finden zu können. Gott findet man
in der Liebe. Derjenige oder diejenigen, die sich in der Liebe festigen,
finden Gott, ohne ihn lange und mühsam suchen zu müssen. Und wer Gott an
seiner Seite hat, dem gelingt alles, was er unternimmt.
In dem dem Herzen eines Weisen
entsprungenen Psalm, nach der Betrachtung der schmerzlichen Ereignisse beim
Wiederaufbau des Tempels und der Mauern, heißt es: "Wenn der Herr das Haus
nicht baut, mühen die Bauleute sich umsonst. Wenn der Herr die Stadt nicht
bewacht, späht der Wächter umsonst."
Aber wie kann Gott das Haus
bauen, wenn er weiß, daß seine Bewohner ihn nicht im Herzen haben, da sie ihre
Nachbarn nicht lieben? Und wie kann er die Städte beschützen und ihren
Verteidigern Kraft verleihen, wenn er nicht in ihnen wohnen kann, da ihr Haß
gegen die Nachbarvölker sie gottlos macht? Hat es euch einen Vorteil gebracht,
ihr Völker, durch die Schranken des Hasses getrennt zu sein? Hat euch dieser
Haß mächtiger, reicher und glücklicher gemacht? Niemals kann Haß oder
Rachsucht nützen, niemals kann stark sein, wer allein ist, niemals wird
geliebt, wer selbst nicht liebt. Und vergeblich ist es, sich vor Tagesgrauen
zu erheben, wie der Psalm sagt, um mächtig, reich und glücklich zu werden. Ein
jeder möge sich die nötige Ruhe gönnen als Trost für die Trübsal des Lebens;
denn der Schlaf ist eine Gabe Gottes, wie das Licht und alles andere, an dem
sich der Mensch erfreut. Ein jeder möge sich seine Ruhe gönnen; doch soll er
im Schlaf und im Wachen die Liebe als Genossin haben, und seine Werke werden
gedeihen und seine Familie und seine Geschäfte werden blühen. Und vor allem
wird sein Geist erblühen und die königliche Krone der Kinder des Allerhöchsten
und Erben seines Reiches erwerben.
Ja, es steht geschrieben, daß
während das Volk jubelte, einige bitterlich weinten, da sie an die
Vergangenheit dachten und um sie trauerten. Aber man konnte die verschiedenen
Stimmen nicht unterscheiden im allgemeinen Lärm.
Söhne von Samaria! Und ihr, meine
Apostel, Söhne von Judäa und Galiläa! Auch heute gibt es solche, die jubeln,
und solche, die weinen, während der neue Tempel des Herrn auf ewigen
Fundamenten ersteht. Auch heute gibt es solche, die die Arbeit verzögern und
Gott dort suchen, wo er nicht ist. Auch heute gibt es solche, die gemäß dem
Befehl des Cyrus und nicht gemäß dem Befehl des Herrn aufbauen wollen; die
also auf den Befehl der Welt und nicht auf die Stimme des Geistes hören. Auch
heute noch gibt es solche, die töricht und menschlich einer schlechteren
Vergangenheit nachtrauern, einer Vergangenheit, die weder gut noch weise war
147
und den Zorn Gottes erregte. Auch
heute noch gibt es alle diese Dinge, als ob wir noch immer im Nebel der
vergangenen Zeiten und nicht im Licht der Zeit des Lichtes lebten.
Öffnet eure Herzen dem Licht.
Füllt sie mit Licht, damit wenigstens ihr, zu denen ich, das Licht, spreche,
seht. Die neue Zeit hat begonnen. Alles wird in ihr erneuert. Und wehe denen,
die sich dagegen sträuben und jene behindern, die den Tempel des neuen
Glaubens errichten, dessen Eckstein ich bin. Mich selbst werde ich hingeben
für diesen Tempel, um seine Steine zusammenzuhalten, damit das Gebäude heilig
und stark gedeihe, bewundernswert über die Jahrhunderte und groß wie die Welt,
die es mit seinem Licht erleuchten wird. Ich sage Licht und nicht Schatten,
denn mein Tempel wird aus Geist und nicht aus lichtlosen Steinen bestehen.
Stein dieses Tempels werde ich mit meinem ewigen Geist sein, und Steine werden
alle jene sein, die meine Worte und die neue Lehre befolgen. Schwerelose
Steine, flammende Steine, heilige Steine. Und das Licht wird sich über die
Erde verbreiten, das Licht des neuen Tempels, und Weisheit und Heiligkeit über
sie ausgießen. Draußen bleiben werden nur jene, die mit unreinen Tränen der
Vergangenheit nachtrauern und sie beweinen, da sie für sie die Quelle des
Nutzens und rein irdischer Ehren war.
Öffnet euch der neuen Zeit und
dem neuen Tempel, ihr Menschen von Samaria! In ihnen ist alles neu, und die
alten materiellen, gedanklichen und geistigen Trennungen und Grenzen
existieren nicht mehr. Frohlockt, denn das Exil außerhalb der Stadt Gottes
nähert sich seinem Ende. Oder freut es euch etwa, für die anderen in Israel
Ausgestoßene oder Aussätzige zu sein? Leidet ihr nicht darunter, euch wie aus
dem Schoß Gottes Vertriebene zu fühlen? Denn dies ist es, was ihr fühlt; eure
Seelen fühlen es, eure armen, in diesen euren Körpern gefangenen Seelen. Und
ihr unterdrückt sie mit euren hochmütigen Gedanken, die anderen Menschen
gegenüber nicht zugeben wollen: "Wir haben gefehlt. Doch wie verlorene Schafe
kehren wir nun in den Schafstall zurück." Daß ihr es den anderen nicht
gestehen wollt, ist schlimm. Aber sagt es wenigstens Gott. Auch wenn ihr den
Schrei eurer Seele unterdrückt, hört Gott den Seufzer eurer Seele, die betrübt
darüber ist, vom Haus des allerheiligsten Vaters aller Menschen ausgeschlossen
zu sein.
Hört die Worte des Graduale. 1)
Auch ihr seid Pilger, die seit Jahrhunderten auf dem Weg zur Oberen Stadt, zum
wahren himmlischen Jerusalern sind. Von dort, vom Himmel sind eure Seelen
herabgekommen, um ein Fleisch zu beleben, und nun sehnen sie sich danach,
dorthin zurückzukehren. Warum wollt ihr eure Seelen opfern, ihnen den Eintritt
in das
___________
1) Bezieht sich auf Psalm 121 aus
den Wallfahrtspsalmen, die die Pilger sangen, während sie zum Tempel in
Jerusalem hinaufstiegen.
148
Reich Gottes verwehren? Welche
Schuld haben sie, in ein in Samaria gezeugtes Fleisch herabgekommen zu sein?
Sie kommen alle von einem einzigen Vater. Sie haben alle denselben Schöpfer
wie die Seelen von Judäa und Galiläa, von Phönizien und der Dekapolis. Gott
ist das Ziel jeder Seele. Jede Seele strebt nach diesem Gott, auch wenn
Götzendienst aller Art oder verhängnisvolle Häresien, Schismen oder Unglaube
sie in Unkenntnis des wahren Gottes halten, die absolut wäre, wenn die Seele
nicht den Keim einer unauslöschlichen Erinnerung an die Wahrheit und eine
Sehnsucht nach ihr in sich trüge. Oh, laßt diese Erinnerung und diese
Sehnsucht in euch wachsen. Öffnet die Tore eurer Seele! Laßt das Licht hinein!
Laßt das Leben hinein! Laßt die Wahrheit hinein! Öffnet den Weg! Laßt alles
gleich einem leuchtenden, lebendigen Strom hereinfluten, wie die
Sonnenstrahlen, die Wellen und die Winde der Tag-und-NachtGleiche, damit der
Keim zum Baum werde, der zu den Höhen strebt, um seinem Herrn immer
näherzukommen.
Verlaßt das Exil! Singt mit mir:
"Wenn der Herr die Seele aus der Knechtschaft befreit, dann glaubt sie vor
Freude, es geschehe im Traum. Da ward von Lachen erfüllt unser Mund und unsere
Zunge von Jubel. Nun wird man sagen: 'Der Herr hat Großes an uns getan.'" Ja,
der Herr hat Großes an euch getan, und ihr werdet von Freude erfüllt sein.
Oh! Mein Vater! Für sie bitte ich
dich, wie für alle. Gib, daß diese unsere Gefangenen zurückkehren, o Herr,
diese Gefangenen, die in deinen und meinen Augen in den Ketten des verstockten
Irrtums liegen. Führe sie zurück, o Vater, wie der Bach sich in den großen
Fluß ergießt, in das große Meer deiner Barmherzigkeit und deines Friedens. Ich
und meine Diener säen unter Tränen deine Wahrheit in sie! Vater, gib daß zur
Zeit der großen Ernte wir, alle deine Diener, die Verkünder deiner Wahrheit,
auf diesen Schollen, die jetzt nur wenige Dornen und giftige Kräuter zu tragen
scheinen, freudig den edlen Weizen für deine Scheunen mähen können. Vater!
Vater! Um unserer Mühen und Tränen und Schmerzen willen, um des Schweißes und
des Todes willen, die unsere ständigen Begleiter bei der Aussaat waren und
sein werden, gewähre uns, vor dich zu treten und dir die Schar der Erstlinge
dieses Volkes darzubringen, die zu deiner Ehre zur Gerechtigkeit und Wahrheit
wiedergeborenen Seelen. Amen.»
In dem sehr eindrucksvollen, da
absoluten Schweigen dieser so großen Menge, die die Synagoge und den Platz
davor füllt, entsteht nun ein Flüstern. Es nimmt zu, aus dem Flüstern wird
leises Reden, aus dem Reden lautes Stimmengewirr, und aus dem Stimmengewirr
ein allgemeines Hosanna. Die Leute gestikulieren, kommentieren und jubeln
Jesus zu...
Welch ein Unterschied zu dem
Nachspiel der Predigten im Tempel! Malachias sagt im Namen aller: «Nur du
weißt so die Wahrheit zu sagen, ohne zu beleidigen oder zu beschämen! Du bist
wahrhaft der Heilige Gottes! Bete für unseren Frieden. Wir sind seit
Jahrhunderten verhärtet in
149
unseren Ansichten und durch
jahrhundertelange Beleidigungen. Und wir müssen diese harte Schale zerbrechen.
Habe Mitleid mit uns.»
«Mehr noch, ich liebe euch. Seid
guten Willens, und die Schale wird von selbst zerbrechen. Das Licht möge euch
erleuchten.»
Jesus bahnt sich einen Weg durch
die Menge und geht hinaus; die Apostel folgen ihm.
612. DIE VERWANDTEN DER KINDER
UND DIE LEUTE VON SICHEM
Jesus befindet sich allein auf
der kleinen Insel im Bach. Die Kinder spielen am Ufer und sprechen ganz leise,
als ob sie Jesus in seiner Betrachtung nicht stören wollten. Ab und zu stößt
der Kleinste einen Freudenschrei aus, wenn er ein Steinchen von schöner Farbe
oder ein neues Blümchen entdeckt. Die anderen zischeln sofort: «Sei still!
Jesus betet...» Und das Flüstern beginnt wieder, während die braunen Händchen
aus Sand Blöcke und Kegel formen, die in der kindlichen Vorstellung Häuser und
Berge sein sollen.
Oben strahlt die Sonne, die
Knospen der Bäume schwellen, und auf der Wiese öffnen die Blumen ihre Kelche.
Die graugrünen Blättchen der Pappel zittern, und die Vöglein in ihrem Wipfel
tragen ihre Liebeshändel und Rivalitäten aus, die einmal in freudigem Singen,
das andere Mal in einem Schmerzensruf enden.
Jesus betet. Er sitzt in
Betrachtung versunken im Gras, und ein Büschel Schilf verbirgt ihn vor den
Blicken vom Ufer. Ab und zu erhebt er die Augen, um nach den auf der Wiese
spielenden Kindern zu sehen; dann senkt er sie wieder und vertieft sich erneut
in seine Gedanken.
Eilige Schritte im Ufergrün und
das Erscheinen des Johannes auf dem Inselchen schlagen die Vögel in die
Flucht, die aus dem Wipfel der Pappel davonschwirren, und ihr Treiben dort mit
ängstlichen Schreien beenden.
Johannes sieht Jesus, der hinter
den Binsen verborgen ist, nicht sofort und ruft deshalb etwas erschrocken: «Wo
bist du, Meister?»
Jesus steht auf, während die
Kinder von der anderen Seite her rufen: «Dort ist er! Hinter dem hohen Gras.»
Doch Johannes hat Jesus schon
gesehen. Er geht zu ihm und sagt: «Meister, die Verwandten sind gekommen. Die
Verwandten der Kinder. Und viele Leute von Sichern mit ihnen. Sie sind zu
Malachias gegangen, und Malachias hat sie zu unserem Haus gebracht. Ich bin
gekommen, um dich zu holen.»
«Und wo ist Judas?»
«Ich weiß es nicht, Meister.
Gleich nachdem du hierher gekommen
150
bist, ist er fortgegangen und
bisher nicht zurückgekehrt. Er wird in der Stadt sein. Willst du, daß ich ihn
suche?»
«Nein, das ist nicht nötig. Bleib
hier bei den Kindern. Ich will zuerst mit den Verwandten sprechen.»
«Wie du willst, Meister.»
Jesus geht, und Johannes begibt
sich zu den Kindern, um ihnen bei einem großen Unternehmen zu helfen: dem Bau
einer Brücke über einen gedachten Bach, der aus langen Schilfblättern besteht,
die auf dem Boden liegen und das Wasser darstellen...
Jesus betritt das Haus der Maria
des Jakob, die ihn schon an der Tür erwartet hat und ihm sagt: «Sie sind nach
oben gegangen, auf die Terrasse. Ich habe sie hinaufgeführt, damit sie sich
ausruhen. Doch da kommt Judas aus dem Dorf zurück. Ich werde auf ihn warten
und dann eine Erfrischung für die Besucher bereiten. Sie sind sehr müde.»
Auch Jesus wartet auf Judas in
dem im Vergleich zur Helligkeit draußen etwas dunklen Hausgang. Und Judas, der
Jesus beim Betreten des Hauses nicht sofort sieht, sagt in anmaßendem Ton zu
der Greisin: «Wo sind die Leute aus Sichern? Etwa schon wieder fortgegangen?
Und der Meister? Hat ihn niemand gerufen? Johannes...» Da bemerkt er Jesus und
ändert seinen Ton: «Meister! Ich bin gelaufen, als ich zufällig erfuhr...
Warst du denn im Haus?»
«Johannes war da. Und er hat mich
geholt.»
«Ich... auch ich wäre hier
gewesen. Doch am Brunnen haben mich einige Leute gebeten, ihnen etwas zu
erklären ...»
Jesus entgegnet nichts. Er öffnet
erst wieder den Mund, um die Wartenden zu begrüßen, die teils auf der Brüstung
der Terrasse sitzen, teils in dem Zimmer, das sich zur Terrasse hin öffnet,
und die sich alle ehrerbietig erheben, als sie Jesus erblicken.
Jesus wendet sich nach einem
allgemeinen Gruß an Einzelne und nennt ihre Namen, und diese fragen mit
freudigem Staunen: «Du erinnerst dich noch an unsere Namen?» Es müssen
Bewohner von Sichem sein.
Jesus antwortet: «Ich erinnere
mich an eure Namen, eure Gesichter und eure Seelen. Habt ihr die Verwandten
der Kinder hierher begleitet? Sind es diese?»
«Diese sind es. Sie sind
gekommen, um die Kinder abzuholen, und wir sind mit ihnen gegangen, um dir für
die Barmherzigkeit zu danken, die du den Kindern einer Frau von Samaria
erwiesen hast. Du allein tust solche Dinge... ! Du bist stets der Heilige, der
nur heilige Dinge tut. Auch wir haben immer an dich gedacht. Und da wir
erfahren haben, daß du hier bist, sind wir gekommen, um dich zu sehen und dir
dafür zu danken, daß du unser Land als deinen Zufluchtsort erwählt hast und
uns in den Kindern unseres Blutes liebst. Doch nun höre die Verwandten an.»
151
Jesus, gefolgt von Judas, begibt
sich zu diesen, grüßt sie noch einmal und fordert sie auf zu sprechen.
«Wir sind, ich weiß nicht, ob es
dir bekannt ist, die Brüder der Mutter der Kinder. Wir waren sehr zornig auf
sie, weil sie dumm und gegen unseren Willen auf dieser Heirat bestanden hatte.
Unser Vater war schwach gegenüber der einzigen Tochter in seiner großen
Kinderschar, so daß wir auch mit ihm in Streit gerieten und viele Jahre nicht
mehr miteinander sprachen und uns nicht mehr sahen. Als wir dann hörten, daß
die Hand Gottes schwer auf der Frau lastete und Not in ihrem Haus herrschte
-denn eine unreine Verbindung schützt der Segen Gottes nicht – nahmen wir den
alten Vater wieder zu uns ins Haus, damit er wenigstens nur unter dem Unglück
seiner Tochter zu leiden habe. Schließlich ist sie gestorben, und wir haben es
erfahren. Du warst kurz zuvor bei uns, und wir sprachen von dir... So geschah
es, daß wir unseren Unwillen unterdrückten und dem Mann durch diesen und
diesen hier (zwei Männer aus Sichern) anboten, die Kinder aufzunehmen. Sie
sind ja zur Hälfte von unserem Blut. Er ließ uns antworten, daß sie lieber
alle eines elenden Todes sterben sollten, als von unserem Brot zu leben. Weder
die Kinder noch den Leichnam unserer Schwester sollten wir bekommen; nicht
einmal diesen, um ihm ein Grab entsprechend unserem Brauch zu geben. Daraufhin
schworen wir ihm und seinen Kindern Haß, und unser Haß traf ihn wie ein Fluch,
so daß er vom freien Mann zum Knecht wurde, um dann wie ein Schakal in einer
stinkenden Höhle zu sterben. Wir hätten nie davon erfahren, denn wir hatten
schon lange jede Verbindung zu ihm abgebrochen. Und wir fürchteten uns nicht
wenig, dies wohl, als wir vor nun acht Nächten die Räuber auf unserem Hof
erscheinen sahen. Als wir erfuhren, warum sie gekommen waren, nagte die
Entrüstung, nicht der Schmerz, wie Gift an uns, und wir hatten es eilig, die
Räuber fortzuschicken und boten ihnen eine gute Belohnung an, um sie zu
Freunden zu haben. Wie staunten wir, als sie sagten, sie hätten ihre Belohnung
schon erhalten und wollten nichts weiter.»
Judas unterbricht das aufmerksame
Schweigen aller mit ironischem Lachen und schreit: «Ihre Bekehrung! Ihre
vollkommene Bekehrung! Wahrlich!»
Jesus schaut ihn streng an, die
anderen schauen ihn erstaunt an, und der Sprecher fährt fort: «Was hätte man
mehr von ihnen erwarten können? Ist es nicht schon bemerkenswert, daß sie den
Hirtenjungen zu uns begleitet haben, ohne der Gefahren zu achten, und daß sie
keinen Lohn angenommen haben? Ein unglückliches Leben zieht unglückliche
Sitten nach sich. Gewiß haben sie bei dem umherirrenden und nun toten Dummkopf
keine große Beute gemacht. Nur geringe Beute und sicher kaum ausreichend für
Leute, die mindestens zehn Tage lang ihre Raubzüge unterbrechen müssen. Und
ihre Ehrlichkeit verwunderte uns so sehr, daß wir sie fragten, welche Stimme
sie zu dieser frommen Tat bewogen habe. So
152
erfuhren wir, daß ein Rabbi zu
ihnen gesprochen hatte... Ein Rabbi! Du allein konntest es gewesen sein. Denn
kein anderer Rabbi Israels könnte tun, was du tust. Und nachdem sie
weggegangen waren, befragten wir den erschreckten Hirtenknaben und erfuhren so
Genaueres. Als erstes erfuhren wir nur, daß der Mann unserer Schwester tot war
und daß die Kinder in Ephraim bei einem Gerechten waren, und daß dieser
Gerechte ein Rabbi war und mit ihnen gesprochen hatte. Wir dachten gleich, daß
du es sein mußtest. Und als wir am nächsten Morgen nach Sichern kamen,
sprachen wir mit den Leuten dort, denn wir waren noch nicht sicher, ob wir die
Kinder aufnehmen sollten. Doch sie sagten uns: "Wie? Wollt ihr, daß der
Meister von Nazareth sich vergebens liebevoll der Kinder angenommen hat? Denn
er ist es ganz gewiß, zweifelt nicht. Gehen wir vielmehr alle zu ihm, denn
seine Güte mit den Söhnen von Samaria ist groß." Und so sind wir aufgebrochen,
nachdem wir unsere Angelegenheiten geregelt hatten. Wo sind die Kinder jetzt?»
«Am Bach. Judas, geh und sage
ihnen, daß sie kommen sollen.»
Judas entfernt sich.
«Meister, es ist eine schwere
Begegnung für uns. Sie werden uns an all unseren Ärger erinnern, und wir
wissen noch nicht, ob wir sie aufnehmen sollen. Sie sind die Söhne des
schlimmsten Feindes, den wir je gehabt haben ...»
«Sie sind Kinder Gottes.
Unschuldige sind sie. Der Tod löscht das Vergangene, und durch Sühne erlangt
man Verzeihung, auch die Verzeihung Gottes. Wollt ihr strenger sein als Gott?
Und grausamer als die Räuber? Und verstockter als sie? Die Räuber wollten
vorsichtshalber den Hirtenknaben töten und die Kinder aus menschlichem Mitleid
mit den Hilflosen behalten. Der Rabbi hat gesprochen, und sie haben nicht
getötet und sind sogar bereit gewesen, den kleinen Hirten bis zu euch zu
begleiten. Sollte ich in gerechten Seelen auf Widerstand stoßen, nachdem ich
das Verbrechen besiegt habe ... ?»
«Weißt du... Wir sind vier Brüder
und haben schon siebenunddreißig Kinder in unserem Haus ...»
«Wo schon siebenunddreißig
Spatzen Nahrung finden, weil der Vater im Himmel sie Körnlein finden läßt,
können da nicht auch vierzig satt werden? Kann die Macht des Vaters nicht noch
Nahrung für weitere drei, oder auch vier seiner Kinder verschaffen? Hat denn
die göttliche Vorsehung Grenzen? Wird der Unendliche sich weigern, die
Fruchtbarkeit eurer Saat, eurer Pflanzen und eurer Schafe zu mehren, damit
immer genügend Brot, Öl, Wein, Wolle und Fleisch für eure Kinder und weitere
vier arme Kinder, die allein geblieben sind, vorhanden ist?»
«Es sind drei, Meister!»
«Es sind vier. Auch der
Hirtenknabe ist eine Waise. Könntet ihr, wenn Gott hier vor euch erscheinen
würde, behaupten, daß euer Brot so knapp
153
bemessen ist, daß ihr kein
Waisenkind mehr ernähren könnt? Der Pentateuch gebietet Barmherzigkeit mit den
Waisen...»
«Nein, wir könnten es nicht,
Herr, das ist wahr. Wir wollen nicht schlechter sein als die Räuber. Wir
werden auch dem Hirtenknaben Brot, Kleidung und Obdach gewähren. Aus Liebe zu
dir.»
«Aus Liebe. Aus alles umfassender
Liebe, zu Gott, seinem Messias, eurer Schwester und eurem Nächsten. Dies ist
die Ehrung und die Vergebung, die ihr eurem Blut schuldig seid. Nicht ein
kaltes Grab für ihre Asche. Verzeihung ist Friede. Friede für die Seele des
Menschen, der gesündigt hat. Doch wäre es nur eine geheuchelte Verzeihung, nur
Äußerlichkeit, und kein Friede für die Seele der Toten, die eure Schwester und
die Mutter der Kinder war, wenn zu der gerechten, von Gott auferlegten Sühne
noch die schmerzliche Qual des Bewußtseins käme, daß die Kinder, die ja
unschuldig sind, für ihre Sünde büßen müssen. Die Barmherzigkeit Gottes ist
unendlich. Aber fügt ihr die eure hinzu, um der Toten zum Frieden zu
verhelfen.»
«Oh, wir werden es tun! Wir
werden es tun! Niemandem hätte sich unser Herz gebeugt; nur dir, o Rabbi, der
du eines Tages unter uns geweilt und einen Samen gesät hast, der nicht
gestorben ist und nicht sterben wird.»
«Amen! Hier sind die Kinder...»
Jesus deutet auf sie, die gerade vom Ufer des Baches kommen, und ruft sie.
Und die Kinder lassen die Hände
der Apostel los, laufen herbei und rufen: «Jesus! Jesus!» Sie kommen ins Haus,
steigen die Treppe hinauf, sind nun auf der Terrasse und bleiben furchtsam vor
den vielen Fremden stehen, die sie betrachten.
«Komm, Ruben, und auch du,
Elisäus, und du, Isaak. Dies hier sind die Brüder eurer Mutter. Sie sind
gekommen, um euch mitzunehmen und euch zu ihren eigenen Kindern zu führen.
Seht ihr, wie gut der Herr ist? Genau wie die Taube der Maria des Jakob, der
wir vorgestern zugeschaut haben, als sie auch das Junge der anderen, toten
Taube gefüttert hat. Gott hat euch aufgenommen und gibt euch nun diese
Menschen, damit sie für euch sorgen und ihr keine Waisen mehr seid. Auf!
Begrüßt eure Verwandten.»
«Der Herr sei mit euch, ihr
Herren», sagt der größere Knabe schüchtern und sieht dabei zu Boden. Und die
beiden kleineren machen es ihm nach.
«Dieser hier sieht der Mutter
sehr ähnlich, und auch dieser; aber der dort (der größere) ist ganz der
Vater», bemerkt einer der Verwandten.
«Mein Freund, ich hoffe, daß du
nicht so ungerecht bist, Unterschiede zu machen in deiner Zuneigung wegen der
Ähnlichkeit eines Gesichtes», sagt Jesus.
«O nein! Das nicht. Ich habe ihn
nur betrachtet... und gedacht... Hoffentlich hat er nicht auch das Herz des
Vaters.»
154
«Er ist noch ein Kind. Und aus
seinen einfachen Worten kann man entnehmen, daß er seine Mutter mehr als jeden
anderen Menschen geliebt hat.»
«Sie hat besser für sie gesorgt,
als wir dachten. Sie sind ordentlich gekleidet und haben anständige Schuhe.
Vielleicht ist sie zu Geld gekommen.»
«Ich und meine Brüder haben neue
Kleider, weil Jesus sie uns gegeben hat. Wir hatten weder Schuhe noch Mäntel
und glichen in allem dem Hirtenjungen», sagt der Zweitgeborene, der nicht so
schüchtern wie der größere ist.
«Wir werden dir alles vergüten,
Meister», sagt einer der Verwandten und fügt hinzu: «Joachim von Sichern hat
die Spenden der Stadt. Aber wir werden noch Geld dazulegen ...»
«Nein. Ich will kein Geld. Ich
will ein Versprechen. Euer Versprechen, daß ihr diese Kinder, die ich den
Räubern entrissen habe, lieben werdet. Die Spenden... Malachias, nimm sie für
die Armen, die du kennst, und gib einen Teil davon der Maria des Jakob, denn
in ihrem Haus herrscht großes Elend.»
«Wie du willst. Wenn sie brav
sind, werden wir sie lieben.»
«Wir werden brav sein, Herr. Wir
wissen, daß wir brav sein müssen, um unsere Mutter wiederzufinden und
flußaufwärts zu fahren bis zum Schoß Abrahams; und daß wir den Faden unseres
Bootes nicht aus der Hand Gottes reißen dürfen, damit wir nicht vom Strom des
Bösen fortgetragen werden», sagt Ruben in einem Atemzug.
«Aber was redet das Kind denn
da?»
«Es ist ein Gleichnis, das sie
von mir gehört haben. Ich habe es erzählt, um ihr Herz zu trösten und ihrem
Geist eine Führung zu geben. Und die Kinder haben es sich gemerkt und wenden
es bei all ihrem Tun an. Macht euch mit ihnen vertraut, während ich mit den
Leuten von Sichern spreche.»
«Meister, noch ein Wort. Was uns
bei den Räubern ganz besonders überrascht hat, war die Bitte, dem Meister, der
die Kinder bei sich hat, auszurichten, er möge ihnen verzeihen; sie seien erst
jetzt gekommen, da sie nicht alle Straßen benützen könnten und die Anwesenheit
eines Kindes sie gehindert habe, lange Märsche durch wilde Schluchten zu
machen.»
«Hörst du es, Judas?» sagt Jesus
zu Iskariot, der nichts erwidert.
Dann begibt sich Jesus zu den
Leuten von Sichern, die ihm das Versprechen abnehmen, sie vor der Sommerhitze
wenigstens noch kurz zu besuchen. Und sie erzählen ihm Dinge aus der Stadt und
wie die an Seele oder Leib Geheilten immer an ihn denken.
Inzwischen bemühen sich Judas und
Johannes, die Kinder mit ihren Verwandten anzufreunden.
155
613. DIE GEHEIME UNTERWEISUNG
Jesus geht auf einer einsamen
Straße, vor ihm die Verwandten der Kinder und an seiner Seite die Leute von
Sichern. Sie befinden sich in einer verlassenen Gegend. Keine Ortschaft weit
und breit. Die Kinder hat man in die Sättel einiger Esel gesetzt, und einer
der Verwandten hält jeweils den Zügel und gibt acht auf das Kind. Die Leute
von Sichern haben es vorgezogen, zu Fuß zu gehen, um bei Jesus zu sein. So
laufen die übrigen Esel ohne ihre Reiter in einem Grüppchen der Gruppe der
Männer voraus und iahen und hüpfen immer wieder erfreut, daß sie so ohne eine
Last in den Stall zurückkehren können. Es ist ein herrlicher Tag, und frisches
Gras säumt den Weg. Und die Esel stecken ab und zu ihre Nüstern hinein, um ein
Maulvoll zu probieren. Dazwischen traben sie mit lustigen Sprüngen zu ihren
beladenen Artgenossen, was den Kindern sichtlich Spaß macht.
Jesus spricht zu den Leuten von
Sichern oder hört ihnen bei ihren Unterhaltungen zu. Man sieht, daß die
Samariter stolz sind, den Meister bei sich zu haben, und mehr träumen, als
angebracht ist. So sagen sie zu Jesus, wobei sie auf die hohen Berge deuten,
die sich links befinden, wenn man nach Norden geht: «Siehst du? Der Ebal und
der Garizim haben einen schlechten Ruf. Doch sie sind, für dich wenigstens,
viel besser als der Sion. Und sie wären vollkommen gut, wenn du es wolltest,
wenn du sie zu deinem Wohnsitz machen würdest. Sion ist immer noch eine
Jebusiterhöhle. Und die heutigen sind dir noch feindlicher gesinnt als die
früheren David. Dieser hat die Festung mit Gewalt genommen; aber du, der du
keine Gewalt anwendest, wirst dort nicht herrschen. Niemals. Bleibe bei uns,
Herr, und wir werden dich ehren.»
Jesus antwortet: «Sagt mir:
Hättet ihr mich geliebt, wenn ich euch mit Gewalt hätte gewinnen wollen?»
«Ehrlich gesagt... nein. Wir
lieben dich gerade, weil du ganz Liebe bist.»
«Daher also, der Liebe wegen,
herrsche ich in euren Herzen?»
«So ist es, Meister. Aber nur,
weil wir deine Liebe angenommen haben. Jene, die von Jerusalem, lieben dich
nicht.»
«Das ist wahr. Sie lieben mich
nicht. Aber ihr, die ihr in Geschäften so erfahren seid, sagt mir: Wenn ihr
etwas verkaufen, kaufen oder verdienen wollt, verliert ihr da gleich den Mut,
wenn man euch an manchen Orten nicht liebt? Oder geht ihr nicht trotzdem euren
Geschäften nach und seid nur darauf bedacht, vorteilhaft einzukaufen oder zu
verkaufen, ohne euch darum zu kümmern, ob mit dem Geld, das ihr verdient, die
Liebe des Käufers oder Verkäufers verbunden ist?»
«Wir kümmern uns nur um das
Geschäft. Es interessiert uns wenig, ob dem, der mit uns handelt, die Liebe
fehlt. Wenn das Geschäft abgeschlossen ist, dann hört auch jede Verbindung
auf. Der Verdienst bleibt, der Rest ist... belanglos.»
156
«Nun, auch ich bin gekommen, um
die Interessen meines Vaters wahrzunehmen, und ich habe mich nur um sie zu
kümmern. Ob ich dort, wo ich arbeite, auf Liebe, Verachtung oder Ablehnung
stoße, kümmert mich wenig. In einer Handelsstadt macht man nicht mit allen
Geschäfte, und nicht immer Gewinne. Aber wenn man nur einen einzigen findet,
mit dem man ein gutes Geschäft machen kann, so sagt man sich, daß die Reise
nicht umsonst gewesen ist, und man wird immer wieder dorthin zurückkehren.
Denn das, was man beim ersten Mal nur mit einem erreicht hat, gelingt beim
zweiten Mal schon mit dreien, beim vierten Mal mit sieben und danach mit zehn
und nochmals zehn. Ist es nicht so? Auch ich mache es bei meinen Eroberungen
für den Himmel wie ihr bei eurem Handel. Ich lasse nicht ab und bin hartnäckig
und halte auch das zahlenmäßig Kleine für groß; denn selbst eine einzige
gerettete Seele ist etwas Großes, ist ein großer Lohn für meine Mühe.
Jedesmal, wenn ich hingehe und meine eventuellen menschlichen Reaktionen
überwinde, um als König des Geistes auch nur einen einzigen Untertan zu
gewinnen, kann ich mir sagen, daß mein Weg, meine Mühen und Leiden nicht
umsonst gewesen sind. Ja, ich preise die Verachtung, die Beleidigungen, die
Anklagen heilig, liebenswert und wünschenswert. Ich wäre kein guter Eroberer,
wenn ich vor dem Hindernis der granitenen Festungen haltmachen würde.»
«Aber du würdest Jahrhunderte
brauchen, um sie zu besiegen. Du... bist ein Mensch. Und du wirst nicht
Jahrhunderte leben. Warum willst du also deine Zeit dort vergeuden, wo man
dich nicht will?»
«Ich werde viel kürzer leben.
Sehr bald schon werde ich nicht mehr unter euch weilen und nicht mehr die
Sonnenauf- und -untergänge wie Meilensteine der anbrechenden und zu Ende
gehenden Tage sehen; ich werde sie nur als Schönheiten der Schöpfung
betrachten und den Schöpfer, der sie schuf und der mein Vater ist, preisen;
ich werde weder die Blumen blühen und das Getreide reifen sehen, noch die
Früchte der Erde benötigen, um mich am Leben zu erhalten, denn wenn ich einmal
in mein Reich zurückgekehrt bin, wird mich die Liebe sättigen. Und dennoch
werde ich die vielen Festungen, die die Herzen der Menschen sind, besiegen.
Seht den Felsen dort, unterhalb der Quelle, an der Seite des Berges. Der
Wasserstrahl ist sehr fein; ich würde sagen, er fließt nicht einmal, er
tröpfelt nur: Tropfen, die vielleicht seit Jahrhunderten auf den aus der
Flanke des Berges vorspringenden Fels fallen. Und der Fels ist hart. Es ist
nicht brüchiger Kalk oder weicher Alabaster, es ist härtester Basalt. Und
doch, seht, wie sich in der Mitte des Steines, trotz seiner Wölbung, ein
winziger Wasserspiegel gebildet hat, nicht größer als der Kelch einer Seerose,
aber groß genug, um das Blau des Himmels widerzuspiegeln und die Vöglein zu
tränken. Ist diese Höhlung in dem gewölbten Fels etwa das Werk eines Menschen,
der einen blauen Edelstein auf dem dunklen Fels anbringen und eine
erfrischende Schale für die Vögel schaffen wollte? Nein, der
157
Mensch hat damit nichts zu tun.
Vielleicht sind in den vielen Jahrhunderten, seit die Menschen an diesem
Felsen vorübergehen und die Tropfen, wiederum seit Jahrhunderten, in
unermüdlicher und gleichmäßiger Arbeit den Stein aushöhlen, wir die ersten,
die diesen schwarzen Basalt mit seinem flüssigen Türkis in der Mitte
betrachten, seine Schönheit bewundern und den Ewigen preisen, der dies gewollt
hat zur Freude unserer Augen und zur Erfrischung der Vögel, die in der Nähe
nisten. Aber sagt mir: Hat vielleicht schon der erste Tropfen, der unter dem
Basaltvorsprung über dem Fels hervorgequollen und von der Höhe auf den Stein
gefallen ist, diese Schale ausgehöhlt, die den Himmel, die Sonne, die Wolken
und die Sterne spiegelt? Nein. Millionen und Abermillionen von Tropfen, einer
nach dem anderen, sind aufeinander gefolgt. Wie Tränen sind sie dort oben
hervorgequollen und glitzernd heruntergefallen, um mit einem Harfenton auf dem
Felsen aufzuprallen und im Sterben ein unmeßbar winziges Teilchen der harten
Materie auszuwaschen. Und dies über Jahrhunderte, wie der Sand durch eine
Sanduhr rinnt und die Zeit angibt: so viele Tropfen in der Stunde, so viele im
Verlauf einer Nachtwache, so viele zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang
und in der Nacht bis zur Morgenröte, so viele am Tag, so viele von Sabbat zu
Sabbat, so viele von Neumond zu Neumond, von Nisan zu Nisan, und von
Jahrhundert zu Jahrhundert. Der Stein ist widerstandsfähig, die Tropfen
ausdauernd. Der Mensch, der stolz und daher ungeduldig und bequem ist, hätte
Meißel und Hammer schon nach den ersten Schlägen weggeworfen und gesagt: "Den
kann man nicht aushöhlen." Der Tropfen hat ihn ausgehöhlt. Das war es, was er
zu tun hatte, wofür er geschaffen wurde. Und er hat gearbeitet, Tropfen um
Tropfen, jahrhundertelang, um den Fels auszuhöhlen. Er hat nie aufgehört und
gesagt: "Nun überlasse ich es dem Himmel, das Becken, das ich gegraben habe,
mit Regen und Tau, Reif und Schnee zu füllen." Er ist weiterhin
heruntergefallen und füllt die kleine Schale in der Hitze des Sommers und in
der Kälte des Winters ganz allein, während der Regen, ob stark oder schwach,
zwar den Wasserspiegel kräuselt, ihn aber nicht verschönern, verbreitern oder
vertiefen kann, denn er ist schon voll, nützlich und schön. Die Quelle weiß,
daß ihre Töchter, die Tropfen, in das kleine Becken fallen, um dort zu
sterben; aber sie hält sie nicht zurück. Sie drängt sie vielmehr zu ihrem
Opfer, und damit sie nicht allein bleiben und in Traurigkeit verfallen,
schickt sie ihnen immer neue Schwestern nach, so daß sie nicht einsam sterben
müssen und sich in anderen verewigt sehen. Auf dieselbe Weise werde auch ich
als erster hundert- und tausendmal an die harten Festungen der harten Herzen
schlagen und dann mein Werk von meinen Nachfolgern fortsetzen lassen, die ich
bis ans Ende der Zeiten senden werde. Und so werde ich mir Wege bahnen, und
mein Gesetz wird wie eine Sonne überall leuchten, wo es Geschöpfe gibt.
Sollten diese dann das Licht abweisen und die Wege
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sperren, die die unermüdliche
Arbeit bereitet hat, wird mich und meine Nachfolger in den Augen unseres
Vaters keine Schuld treffen. Hätte diese Quelle sich in Anbetracht der Härte
des Felsens einen anderen Weg gesucht und ihr Wasser wäre weiter drüben auf
den grasbedeckten Boden gefallen, sagt mir, hätten wir dann diesen leuchtenden
Edelstein und die Vöglein diese klare Erfrischung?»
«Man würde nichts von der Quelle
sehen, Meister.»
«Höchstens... hätte ein auch im
Hochsommer üppigeres Grasstückchen den Ort angezeigt, an dem das Quellwasser
aus dem Fels sickert.»
«Oder vielleicht hätte es auch
weniger Gras als anderswo gegeben, da die Wurzeln wegen der ständigen
Feuchtigkeit verfault wären.»
«Schlamm wäre das Ergebnis
gewesen. Mehr nicht. Ein überflüssiges Tropfen also.»
«Ihr habt es gesagt. Ein
überflüssiges oder zumindest müßiges Tropfen. Auch ich würde unvollkommene
Arbeit leisten, wenn ich nur die Orte aufsuchte, an denen die Herzen bereit
sind, mich aus Gerechtigkeit oder Sympathie aufzunehmen. Denn dann würde ich
zwar arbeiten, gewiß, aber ohne Mühen, vielmehr mit großer
Selbstzufriedenheit. Ja, es wäre ein angenehmer Kompromiß zwischen Pflicht und
Vergnügen. Es ist nicht schwer, dort zu arbeiten, wo man von Liebe umgeben ist
und die Liebe die zu bearbeitenden Seelen willfährig macht. Aber wo keine Mühe
ist, ist auch kein Verdienst und nicht viel Gewinn; denn man wird nur wenige
Eroberungen machen, wenn man sich auf die beschränkt, die schon in der
Gerechtigkeit leben. Ich wäre nicht ich, wenn ich nicht versuchte, alle
Menschen zuerst zur Wahrheit und dann zur Gnade zu führen.»
«Und glaubst du, daß es dir
gelingen wird? Was könntest du noch tun, was du nicht schon getan hast, um
deine Widersacher von deinem Wort zu überzeugen? Was? Wenn nicht einmal die
Auferweckung des Mannes von Bethanien genügt hat, um die Juden zu überzeugen,
daß du der Messias Gottes bist?»
«Ich habe noch etwas zu tun, das
größer, viel größer ist als alles bisher Getane.»
«Wann, Herr?»
«Wenn der Mond des Nisan voll
sein wird. Dann gebt acht.»
«Wird dann am Himmel ein Zeichen
erscheinen? Man sagt, als du geboren wurdest, hätte der Himmel gesprochen
durch Lichter, Gesänge und seltsame Sterne.»
«Das ist wahr... Um damit zu
zeigen, daß das Licht auf die Erde gekommen war. Im Nisan werden Zeichen am
Himmel und auf Erden erscheinen, und man wird glauben, das Ende der Welt sei
gekommen wegen der Finsternis und der Erschütterungen, des Dröhnens der Blitze
am Firmament und des Bebens in den geöffneten Eingeweiden der Erde. Aber es
wird nicht das Ende sein, sondern vielmehr der Anfang. Zuvor, bei meiner
159
Ankunft, hat der Himmel den
Menschen den Erlöser geboren, und da dies ein Werk Gottes war, wurde das
Ereignis von Frieden begleitet. Im Nisan wird es die Erde sein, die aus
eigenem Willen ihren Erlöser gebiert, und da dies ein Werk der Menschen ist,
wird das Ereignis nicht von Frieden begleitet sein. Eine furchtbare
Erschütterung wird es geben. Und in dieser furchtbaren Stunde des Jahrhunderts
und der Hölle wird die Erde ihren Leib unter den feurigen Blitzen des Zornes
Gottes winden und ihren Willen hinausbrüllen, zu berauscht, um die Bedeutung
des Ereignisses zu verstehen, zu sehr von Satan besessen, um es zu verhindern.
Wie eine irre Gebärende wird sie glauben, die verfluchte Frucht zu vernichten,
und sie wird nicht begreifen, daß sie sie damit zu Orten erhebt, wo kein
Schmerz und keine Arglist sie mehr erreichen kann. Der Baum, der neue Baum,
wird von da an seine Zweige über die ganze Erde ausbreiten, über alle
Jahrhunderte, und der zu euch spricht, wird dann mit Liebe oder mit Haß
erkannt werden als der wahre Sohn Gottes und der Gesalbte des Herrn. Und wehe
denen, die ihn erkennen, ohne ihn zu bekennen und sich zu mir zu bekehren.»
«Wo wird dies geschehen, Herr?»
«In Jerusalern, denn das ist die
Stadt des Herrn.»
«Dann werden wir nicht dort sein,
denn im Nisan hält das Osterfest uns hier zurück. Wir bleiben unserem Tempel
treu.»
«Besser wäre es, ihr würdet dem
lebendigen Tempel treu sein, der weder auf dem Moriah, noch auf dem Garizim,
sondern göttlich, also weltumfassend ist. Doch ich weiß eure Stunde
abzuwarten, die Stunde, in der ihr Gott und seinen Messias im Geist und in der
Wahrheit lieben werdet.»
«Wir glauben, daß du der Christus
bist. Und deshalb lieben wir dich.»
«Lieben heißt, der Vergangenheit
den Rücken kehren, um in meine Gegenwart einzugehen. Ihr liebt mich noch nicht
vollkommen.»
Die Samariter sehen einander
schweigend und heimlich an. Dann sagt einer: «Für dich, um zu dir zu kommen,
werden wir es tun. Aber selbst wenn wir es wollten, könnten wir nicht
hingehen, wo die Juden sind. Du weißt es. Sie würden uns nicht wollen...»
«Auch ihr wollt die Juden nicht.
Doch seid beruhigt. Bald wird es nicht mehr zwei Regionen, zwei Tempel, zwei
gegensätzliche Meinungen geben, sondern ein einziges Volk, einen einzigen
Tempel und einen einzigen Glauben für alle, die nach der Wahrheit verlangen.
Aber jetzt verlasse ich euch. Die Kinder sind nun getröstet und abgelenkt, und
mein Weg zurück nach Ephraim ist lang, wenn ich vor Einbruch der Dunkelheit
dort eintreffen will. Macht nicht viel Aufhebens. Denn das könnte die
Aufmerksamkeit der Kinder auf sich ziehen, und es ist besser, wenn sie mein
Weggehen nicht bemerken. Geht weiter, ich bleibe hier. Der Herr möge euch auf
den Pfaden der Erde und auf seinen Wegen führen. Geht.»
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Jesus stellt sich an den Hang des
Berges und wartet, bis die Leute sich entfernt haben. Das letzte Lebenszeichen
der Karawane, die nach Sichern zurückkehrt, ist das frohe Lachen eines Kindes,
das in der Stille des Gebirges widerhallt.
614. WAS IN DER DEKAPOLIS UND IN
JUDÄA GESCHIEHT
Es muß sich herumgesprochen
haben, daß Jesus sich in Ephraim aufhält. Ob die Bürger sich damit gebrüstet
haben oder ob man es auf anderen Wegen erfahren hat, weiß ich nicht. Auf jeden
Fall suchen viele Menschen Jesus auf, meist Kranke, aber auch solche, die nur
betrübt sind oder ihn einfach sehen wollen. Ich entnehme das den Worten, mit
denen Judas sich an eine Gruppe von Pilgern aus der Dekapolis wendet: «Der
Meister ist nicht da. Aber ich und Johannes sind da, und das ist das gleiche.
Sagt also, was ihr wollt, und wir werden euch zufriedenstellen.»
«Aber ihr könnt doch niemals
lehren, was er lehrt», entgegnet einer.
«Wir sind andere Er, Mann. Merke
dir das ein für allemal. Doch wenn du unbedingt den Meister selbst hören
willst, dann komm vor dem Sabbat und gehe danach wieder fort. Der Meister ist
nun ein wahrer Meister. Er spricht nicht mehr auf allen Wegen, in den Wäldern
oder auf den Felsen wie ein Wanderprediger und zu allen Stunden wie ein
Knecht. Er spricht hier und nur am Sabbat, wie es sich für ihn gehört. Und er
hat recht! Was hat es ihm genützt, sich zu mühen und sich in Liebe
aufzureiben?»
«Aber es ist doch nicht unsere
Schuld, wenn die Juden ...»
«Alle! Alle! Ob Juden oder
Nichtjuden! Alle seid ihr gleich und werdet es auch bleiben. Er tut alles für
euch, und ihr tut nichts für ihn. Er gibt, und ihr gebt nichts, nicht einmal
das Almosen, das man einem Bettler gibt.»
«Aber wir haben eine Gabe
mitgebracht für ihn. Sieh her, wenn du es nicht glaubst.»
Johannes, der bisher geschwiegen
und sichtlich gelitten und dabei immer wieder flehende und tadelnde, oder
vielmehr vorwurfsvolle Blicke auf Judas geworfen hat, kann sich nun nicht mehr
beherrschen. Und während Judas schon die Hand ausstreckt, um die Spende
entgegenzunehmen, legt er eine Hand auf seinen Arm, um ihn zurückzuhalten, und
sagt: «Nein, Judas. Das nicht. Du kennst die Weisung des Meisters.» Dann
wendet er sich an die Pilger und sagt: «Judas hat sich schlecht ausgedrückt,
und ihr habt ihn nicht richtig verstanden. Dies ist es nicht, was mein
Gefährte sagen wollte. Nur das Geschenk des aufrichtigen Glaubens und der
treuen Liebe schulden wir, ich, meine Gefährten, ihr, alle, dem Meister für
das Viele, das er uns gibt. Als wir durch Palästina pilgerten,
161
nahm er eure Gaben an, denn wir
brauchten sie für uns selbst auf unseren Wanderungen und begegneten außerdem
vielen Bettlern auf unserem Weg und erfuhren von viel verborgenem Elend.
Jetzt, hier, brauchen wir nichts – die Vorsehung sei dafür gepriesen – und
Bettler kommen auch keine zu uns. Nehmt, nehmt eure Gabe wieder zurück und
verteilt sie im Namen Jesu an die Unglücklichen. Das ist der Wunsch unseres
Herrn und Meisters und die Anordnung für die unseren, die predigend in die
verschiedenen Städte ziehen. Wenn ihr Kranke bei euch habt oder jemand
dringend mit dem Meister sprechen muß, dann sagt es. Ich werde ihn dann dort
holen, wohin er sich zum Gebet zurückzieht, da sein Geist ein großes Bedürfnis
hat, sich im Herrn zu sammeln.»
Judas murmelt etwas zwischen den
Zähnen, widerspricht aber nicht offen. Er setzt sich neben den warmen Herd und
tut so, als ob ihn die Sache weiter nicht interessiere.
«Wahrlich... es muß nicht
unbedingt sein. Wir hatten erfahren, daß der Meister hier ist, und so haben
wir den Fluß überquert, um ihn zu sehen. Wenn wir jedoch schlecht gehandelt
haben...»
«Nein, Brüder. Es ist nicht
schlecht, ihn zu lieben und zu suchen und sogar Mühen und Unbequemlichkeiten
auf sich zu nehmen. Und euer guter Wille wird belohnt werden. Ich gehe und
teile dem Herrn eure Ankunft mit, und er wird ganz sicher kommen. Sollte er
jedoch nicht kommen, werde ich euch seinen Segen bringen.» Und Johannes geht
in den Garten hinaus, um den Meister zu suchen.
«Laß das, ich werde gehen», sagt
Judas herrisch, steht auf und eilt davon.
Johannes sieht ihm nach und
entgegnet nichts. Er geht wieder in die Küche zu den Pilgern, die dort in
einem Häufchen stehen. Und fast sofort macht er ihnen den Vorschlag: «Wollen
wir dem Meister entgegengehen?»
«Aber wenn es ihm nicht recht
wäre...»
«Oh, nehmt ein Mißverständnis
nicht wichtig, ich bitte euch. Ihr kennt gewiß die Gründe, weswegen wir hier
sind. Es sind die anderen, die den Meister zu dieser Zurückhaltung zwingen. Es
ist nicht der Wille seines Herzens. Er hat immer die gleiche Liebe für euch
alle.»
«Wir wissen es. In den ersten
Tagen nach der Verkündigung des Bannes suchten ihn alle jenseits des Jordan
und an den Orten, an denen man ihn vermuten konnte. In Bethabara wie in
Bethanien, in Pella, in Ramot Galaad und noch weiter weg. Und wir wissen, daß
es auch in Judäa und in Galiläa so war. Die Häuser seiner Freunde wurden genau
überwacht, denn... wenn er auch viele Freunde und Jünger hat, so sind ihm doch
nicht wenige feindlich gesinnt, und sie glauben dem Allerhöchsten einen Dienst
zu erweisen, wenn sie den Meister verfolgen. Dann hat man plötzlich aufgehört
zu suchen, und es hat sich die Nachricht verbreitet, daß er hier ist.»
162
«Aber ihr, von wem habt ihr es
erfahren?»
«Von seinen Jüngern.»
«Von meinen Gefährten? Wo?»
«Nein, es war keiner von diesen.
Es waren andere, wohl neue, denn wir haben sie nie mit dem Meister gesehen und
auch nicht mit den alten Jüngern. Wir waren eigentlich erstaunt, daß er uns
durch Unbekannte sagen ließ, wo er sich aufhält; doch dann dachten wir, er
habe es getan, weil die Neuen den Juden nicht als Jünger bekannt waren.»
«Ich weiß nicht, was euch der
Meister sagen wird. Doch ich würde euch von mir aus raten, daß ihr von nun an
nur noch den bekannten Jüngern Glauben schenkt. Seid vorsichtig. Jeder aus
unserem Volk weiß, wie es dem Täufer ergangen ist...»
«Du glaubst, daß ...»
«Wenn Johannes, den nur eine
einzige gehaßt hat, gefangengenommen und getötet wurde, was wird dann erst mit
Jesus geschehen, der von vielen aus dem Palast und vom Tempel gleicherweise
gehaßt wird, von Pharisäern, Schriftgelehrten, Priestern und Herodianern. Seid
also wachsam, damit ihr dann nichts zu bereuen habt.. Aber da kommt Jesus.
Gehen wir ihm entgegen.»
Es ist tiefe Nacht. Eine
mondlose, aber sternenklare Nacht. Ich weiß nicht, wieviel Uhr es ist, da ich
den Mond und seine Phase nicht sehen kann. Ich sehe nur, daß es eine klare
Nacht ist. Ganz Ephraim ist in den dunklen Mantel der Nacht gehüllt. Vom Bach
ist nur das Rauschen geblieben. Sein Gischt und seine Reflexe verschwinden
ganz unter dem grünen Gewölbe der Ufergewächse, die auch das Licht der Sterne,
das eigentlich kein Licht ist, fernhalten.
Ein Nachtvogel klagt irgendwo.
Dann verstummt er, als ein Rascheln von Zweigen und das Geräusch brechenden
Schilfrohrs von der Bergseite her und am Bach entlang sich dem Haus nähert.
Dann erscheint eine hohe, kräftige Gestalt auf dem Pfad, der vom Ufer zum Haus
hinaufführt. Sie bleibt kurz stehen, wie um sich zu orientieren, und tastet
sich dann mit den Händen an der Mauer entlang weiter. Sie findet die Tür. Dann
biegt sie, weiter tastend, um die Hausecke und gelangt an den Eingang des
Gartens. Sie probiert, öffnet, schiebt das Tor auf und geht hinein. Sie
streift die Hausmauer zum Garten, verweilt unschlüssig an der Küchentür, geht
dann weiter bis zur Außentreppe, steigt wiederum tastend hinauf und setzt sich
auf die oberste Stufe, ein dunkler Schatten in der Dunkelheit.
Aber dort, im Osten, beginnt der
Nachthimmel – ein Zelt, das nur an seiner Sternenstickerei zu erkennen ist –
sich zu verändern bzw. eine Tönung anzunehmen, die das Auge als Farbe
empfindet: ein Schiefergrau, das dichtem, rauchigem Nebel gleicht und nichts
anderes bedeutet als den
163
Beginn des Morgengrauens; das
langsame, täglich neue Wunder des wiederkehrenden Lichtes.
Die Gestalt, die sich auf den
Boden gekauert hat, ein Knäuel in einem dunklen Mantel, bewegt sich nun, reckt
sich, hebt das Haupt und wirft den Mantel etwas zurück. Es ist Manaen. Er
trägt, wie ein gewöhnlicher Mann aus dem Volk, ein schweres, braunes Gewand
und einen eben
solchen Mantel. Ein rauher Stoff,
wie ihn die Arbeiter oder Pilger benützen, ohne Fransen, Schnallen und Gürtel.
Eine wollene gedrehte Kordel hält das Gewand in der Taille. Er steht auf,
streckt sich und schaut auf zum Himmel, der immer heller wird und schon die
Umgebung erkennen läßt. Unten öffnet sich quietschend eine Tür. Manaen beugt
sich lautlos vor, um zu sehen, wer das Haus verläßt. Es ist Jesus, der
vorsichtig die Tür wieder schließt und sich der Treppe nähert. Manaen macht
einen Schritt zurück und räuspert sich, um die Aufmerksamkeit Jesu auf sich zu
lenken. Dieser hebt den Kopf und bleibt auf halber Treppe stehen.
«Ich bin es, Meister. Ich bin
Manaen. Komm schnell, ich muß mit dir sprechen. Ich habe auf dich gewartet
...», flüstert Manaen und verneigt sich grüßend.
Jesus steigt die letzten Stufen
hinauf. «Der Friede sei mit dir. Wann bist du gekommen? Wie? Warum?» fragt er.
«Ich glaube, daß ich gleich nach
dem Hahnenschrei hier angekommen bin. Doch im Gebüsch, dort hinten, war ich
seit gestern, seit der zweiten Wache.»
«Die ganze Nacht im Freien!»
«Es gab keine andere Möglichkeit.
Ich mußte mit dir allein sprechen. Ich mußte den Weg hierher finden, das Haus,
ohne gesehen zu werden. Daher bin ich bei Tag gekommen und habe mich dort
unten verborgen. Ich habe gesehen, wie es still geworden ist im Ort. Ich habe
Judas und Johannes nach Hause zurückkehren sehen. Johannes ging dabei ganz
nahe an mir vorbei mit seinem Holzbündel. Aber er hat mich nicht gesehen, denn
ich war zu gut im dichten Gebüsch verborgen. Ich habe gesehen, solange es hell
genug war um etwas zu sehen, wie eine alte Frau ein- und ausging, wie das
Feuer in der Küche brannte, wie du von der Terrasse herabkamst, als die
Dämmerung schon weit fortgeschritten war, und schließlich das Haus
verschlossen wurde. Dann kam ich im Licht des neuen Mondes heraus und prägte
mir den Weg ein. Ich ging auch in den Garten. Das Gartentor ist so nutzlos,
wie wenn es gar nicht existierte. Ich hörte eure Stimmen, aber ich mußte mit
dir allein sprechen. Also ging ich wieder zurück, um nach der dritten
Nachtwache wiederzukommen und hier zu warten. Ich weiß, daß du dich gewöhnlich
vor Tagesanbruch erhebst, um zu beten. Und ich hoffte, daß du es auch heute
tun würdest. Ich preise den Allerhöchsten, daß es so gewesen ist.»
164
«Aber aus welchem Grund mußt du
so viele Beschwerlichkeiten auf dich nehmen, um mich zu sehen?»
«Meister, Joseph und Nikodemus
wollen mit dir sprechen und haben sich etwas ausgedacht, um alle ihre Bewacher
zu überlisten. Sie haben es schon mehrfach versucht, doch Beelzebub muß ein
guter Helfer deiner Feinde sein. Sie mußten es immer wieder aufgeben,
herzukommen, denn ihr Haus und auch das der Nike werden ständig überwacht. Die
Frau sollte sogar schon vor mir kommen. Sie ist eine starke Frau und hatte
sich allein auf den Weg nach dem Adummim gemacht. Doch man folgte ihr und
hielt sie bei der "Blutigen Steige" auf. Um deinen Aufenthaltsort nicht zu
verraten und die Nahrungsmittel, die sie am Sattel hatte, zu rechtfertigen,
sagte sie: "Ich gehe zu einem meiner Brüder, der auf den Bergen in einer Höhle
lebt. Wenn ihr kommen wollt, ihr, die ihr das Wort Gottes lehrt, so tut ihr
ein gutes Werk, denn mein Bruder ist krank und braucht Gott." Und mit dieser
Kühnheit hat sie sie überzeugt und sie sind wieder gegangen. Doch wagte sie
dann nicht mehr, hierher zu kommen und ging wirklich zu einem Mann, der in
einer Höhle lebt und den du ihr, wie sie sagt, anvertraut hast.»
«Das ist wahr. Aber wie hat es
Nike dann die anderen wissen lassen?»
«Sie ist nach Bethanien gegangen.
Lazarus war nicht da, aber die Schwestern. Maria war da. Und ist Maria etwa
eine Frau, die sich durch irgend etwas Angst einjagen läßt? Sie hat sich
angezogen, schöner als Judith vielleicht als sie zum König ging. Und sie ist
öffentlich zum Tempel gegangen, zusammen mit Sara und Noemi, und dann zu ihrem
Palast in Sion. Von dort hat sie Noemi zu Joseph gesandt, mit allem, was zu
sagen war. Und während alle Maria als Herrin in ihrem Haus sehen konnten und
die Juden sie scheinheilig besuchten oder nach ihr fragen ließen... um sie zu
ehren, ging die alte Noemi in ihrem bescheidenen Gewand nach Bezetha zu dem
Ältesten. Wir haben dann beschlossen, daß ich, der Nomade, der keinen Verdacht
erregt, wenn man ihn eiligst von der einen zur anderen Residenz des Herodes
reiten sieht, hierher kommen würde, um dir zu sagen, daß in der Nacht von
Freitag auf Samstag Joseph und Nikodemus, der eine von Arimathäa und der
andere von Rama kommend, sich in Gophena treffen und dich dort erwarten
werden. Ich kenne den Ort und den Weg und werde am Abend hier sein, um dich
hinzuführen. Du kannst dich mir anvertrauen. Aber traue nur mir allein,
Meister. Joseph besteht darauf, daß niemand etwas von dieser unserer Begegnung
erfährt, zum Besten aller ...»
«Auch zu deinem, Manaen?»
«Herr... Ich bin ich. Aber ich
habe keine Güter und Familieninteressen zu hüten wie Joseph.»
«Und dies bestätigt meine Worte,
daß materieller Reichtum immer eine Last ist... Aber du kannst Joseph sagen,
daß niemand etwas von unserem Treffen erfahren wird.»
165
«Dann kann ich gehen, Meister.
Die Sonne ist aufgegangen, und deine Jünger könnten aufstehen.»
«Geh nur, und Gott sei mit dir.
Ich werde mit dir kommen und dir die Stelle zeigen, an der wir uns in der
Nacht des Sabbats treffen ...»
Sie gehen geräuschlos hinunter,
verlassen den Garten und gehen sofort weiter zum Ufer des Baches.
615. WAS IN JUDÄA UND BESONDERS
IN JERUSALEM GESCHIEHT
Manaen hat einen beschwerlichen
Weg gewählt, um Jesus an den Ort zu führen, an dem man ihn erwartet. Alles
Gebirgspfade, schmal und steinig, zwischen Lichtungen und Wäldern. Der helle
Schein des Mondes, der im ersten Viertel ist, dringt kaum durch das dichte
Gewirr der Zweige und verschwindet manchmal ganz, so daß Manaen ihn ersetzen
muß durch schon vorbereitete Fackeln, die er mitgebracht und unter dem Mantel
wie eine Waffe umgehängt hat. Er geht voraus und Jesus folgt, schweigend in
der großen Stille der Nacht. Zwei- oder dreimal verursacht irgendein wildes
Tier, das durch das Gebüsch schleicht, ein Geräusch wie von Schritten, und
Manaen bleibt mißtrauisch stehen. Sonst aber gibt es keine Störung auf diesem
schon so mühsamen Weg.
«Schau, Meister. Dort ist
Gophena. Nun biegen wir hier ab. Ich zähle noch dreihundert Schritte, dann
sind wir bei den Höhlen, wo sie seit Einbruch der Dämmerung warten. Ist dir
der Weg lang vorgekommen? Und doch haben wir Abkürzungen genommen und, ich
glaube, die vorgeschriebene Entfernung nicht überschritten.»
Jesus macht eine Geste, als wolle
er sagen: «Es ging nicht anders.»
Manaen schweigt nun, da er mit
dem Zählen der Schritte beschäftigt ist. Sie sind jetzt in einem nackten,
felsigen Gang, einer Art aufwärts führendem Spalt zwischen den Felswänden, die
sich beinahe berühren. Man könnte meinen, der Spalt sei durch eine
Naturkatastrophe entstanden, so seltsam erscheint er. Darüber, ganz oben, über
den senkrechten Wänden, über dem bewegten Laubwerk der am Rand dieses riesigen
Einschnitts gewachsenen Bäume, leuchten die Sterne. Doch das Mondlicht dringt
nicht bis in diesen Abgrund. Das rauchende Licht der Fackeln hat Raubvögel
geweckt, die nun flügelschlagend auf dem Rand ihrer Nester in den Felsspalten
sitzen und kreischen.
Manaen sagt: «Da sind wir», und
stößt vor einem Spalt in der Felswand einen Schrei aus, der dem Klageruf einer
großen Eule gleicht.
Aus der Tiefe nähert sich durch
einen anderen Gang im Fels, der jedoch oben wie ein Hausflur ein Dach hat,
rötliches Licht. Joseph erscheint.
166
«Und der Meister?» fragt er, da
er Jesus nicht sieht, der etwas weiter hinten steht.
«Ich bin hier, Joseph. Der Friede
sei mit dir.»
«Der Friede sei mit dir. Komm!
Kommt. Wir haben Feuer gemacht, um die Schlangen und Skorpione zu sehen und
uns gegen die Kälte zu schützen. Ich werde euch vorangehen.»
Er dreht sich um und führt sie
auf einem unebenen Pfad durch das Innere des Berges zu einer von den Flammen
erleuchteten Stelle. Dort, am Feuer ist Nikodemus und wirft Wacholder und
Zweige hinein.
«Der Friede sei auch mit dir,
Nikodemus. Nun bin ich bei euch. So redet.»
«Meister, hat niemand bemerkt,
daß du hierher gekommen bist?»
«Aber wer denn, Nikodemus?»
«Sind denn deine Jünger nicht bei
dir?»
«Bei mir sind Johannes und Judas
des Simon. Die anderen verkündigen das Evangelium vom Tag nach dem Sabbat bis
zum Sonnenuntergang des Freitags. Doch ich habe das Haus vor der sechsten
Stunde verlassen und gesagt, daß sie mich nicht vor dem Sonnenaufgang des
Tages nach dem Sabbat erwarten sollen. Sie sind so daran gewöhnt, daß ich oft
stundenlang weg bin, daß niemand Verdacht schöpfen wird. Seid also beruhigt.
Wir haben genügend Zeit, um uns zu unterhalten, ohne befürchten zu müssen,
überrascht zu werden. Dies ist ein geeigneter Ort.»
«Ja, Höhlen für Schlangen,
Geier... und Räuber, in der guten Jahreszeit, wenn die Berge voller Herden
sind. Jetzt bevorzugen sie andere Gegenden, wo sie Schafställe und Karawanen
leichter überfallen können. Es tut uns leid, dich hierher geschleppt zu haben.
Aber von hier aus können wir in verschiedene Richtungen aufbrechen, ohne daß
uns jemand sieht. Denn die Aufmerksamkeit des Synedriums richtet sich auf die
Orte, die man der Liebe zu dir verdächtigt.»
«Nun, hierin möchte ich Joseph
widersprechen. Mir scheint, daß wir es sind, die nun Schatten sehen, wo keine
sind. Und mir scheint auch, daß sich die Sache seit einigen Tagen ziemlich
beruhigt hat...» sagt Nikodemus.
«Du irrst, Freund. Ich sage es
dir. Es ist ruhiger geworden, weil nun kein Anlaß mehr vorhanden ist, den
Meister zu suchen; denn sie wissen jetzt, wo er ist. Daher wird er und nicht
wir überwacht. Aus diesem Grund habe ich ihn auch gebeten, niemandem zu sagen,
daß wir uns treffen würden. Es könnte sein, daß irgend jemand zu allem bereit
ist...» sagt Joseph.
«Ich glaube nicht, daß die Leute
von Ephraim ...» bemerkt Manaen.
«Nicht die von Ephraim und auch
sonst niemand von Samaria. Und wenn es nur wäre, um das Gegenteil von dem zu
tun, was wir auf der anderen Seite tun...»
«Nein, Joseph, nicht deshalb.
Sondern weil in ihrem Herzen nicht die giftige Schlange haust, die ihr in euch
habt. Sie fürchten nicht, irgendein
167
Vorrecht zu verlieren. Sie haben
keine sektiererischen und Kasteninteressen zu verteidigen. Nichts haben sie,
außer einem instinktiven Bedürfnis nach der Verzeihung und Liebe dessen, den
ihre Vorfahren beleidigt haben und den auch sie weiterhin beleidigen, da sie
der vollkommenen Religion fernbleiben. Fern, denn sie sind stolz, wie auch ihr
stolz seid, und so können beide Seiten den Groll, der sie trennt, nicht
vergessen und sich nicht im Namen des einen Vaters die Hand reichen. Selbst
wenn der beste Wille bei ihnen vorhanden wäre, ihr würdet ihn abwürgen. Denn
ihr könnt nicht verzeihen. Ihr könnt euch nicht von euren Torheiten abwenden
und sagen: "Die Vergangenheit ist tot, denn der Fürst künftiger Zeiten ist
aufgestanden, der uns alle in seinem Zeichen vereinigt." Ich bin in der Tat
gekommen, und ich vereinige. Aber ihr? Oh, für euch sind viele von denen ein
Fluch, die ich für würdig erachtet habe, aufgenommen zu werden.»
«Du bist sehr streng mit uns,
Meister.»
«Ich bin gerecht. Wollt ihr etwa
behaupten, daß ihr mich in euren Herzen nicht tadelt wegen gewisser Werke?
Könnt ihr sagen, daß ihr meine Barmherzigkeit gutheißt, die ich den Juden und
Galiläern ebenso wie den Samaritern und Heiden zuteil werden lasse? Ja,
letzteren und den großen Sündern sogar noch mehr, da gerade sie sie am
nötigsten brauchen... Könnt ihr sagen, daß ihr von mir nicht Taten
majestätischer Gewalt erwartet, damit ich so meine übernatürliche Herkunft
bestätige und vor allem, gebt wohl acht, und vor allem meine Mission als
Messias nach eurer Vorstellung vom Messias? Sagt die Wahrheit: Ganz abgesehen
von der Freude eures Herzens über die Auferstehung des Freundes, wäre es euch
nicht lieber gewesen, wenn ich stattdessen prächtig und grausam in Bethanien
aufgetreten wäre, wie unsere Vorfahren gegenüber den Leuten von Ai und
Jericho; oder besser noch: wenn meine Stimme die Felsen und Mauern zum
Einsturz über meinen Feinden gebracht hätte, wie die Posaunen des Josua die
Mauern von Jericho; oder wenn ich vom Himmel große Steine auf die Feinde hätte
hageln lassen, wie es an der Steige von Beth Horon noch zu den Zeiten des
Josua geschah? Oder vielleicht hätte ich, wie in späteren Zeiten, himmlische
Reiter rufen sollen, die aus der Luft dahergefahren wären, mit goldenen
Gewändern bekleidet, mit Lanzen bewaffnet wie Kohorten, wie Reitergeschwader
in Schlachtordnung, die von beiden Seiten Angriff und Abwehr üben und Schilde
schwingen; Heere mit Helm und gezogenem Schwert, die Pfeile abschießen, um
meine Feinde zu erschrecken? Ja, das hätte euch besser gefallen; denn obwohl
ihr mich sehr liebt, ist doch eure Liebe noch nicht rein, und ihr nährt sie
mit euren israelitischen Ideen, euren althergebrachten Gedanken, da ihr
unheilige Wünsche hegt. So ist es bei Gamaliel wie beim Geringsten in Israel,
beim Hohenpriester, beim Tetrarchen, beim Bauern, beim Hirten, beim Nomaden
und beim Menschen in der Diaspora. Die fixe Idee vom Messias als Eroberer. Der
Alptraum jener, die fürchten, von ihm vernichtet
168
zu werden. Die Hoffnung derer,
die das Vaterland lieben mit leidenschaftlicher, menschlicher Liebe. Die
Sehnsucht aller, die von anderen Mächten in anderen Ländern unterdrückt
werden. Es ist nicht eure Schuld. Die reine, euch von Gott gegebene
Vorstellung von dem, was ich bin, ist im Laufe der Jahrhunderte unter
sinnveränderndem Beiwerk verschwunden. Und wenige nur verstehen es, unter
Schmerzen die messianische Idee zu ihrer ursprünglichen Reinheit
zurückzuführen. Und nun, da die Zeit nahe ist, daß das Zeichen gegeben wird,
das Gamaliel und mit ihm ganz Israel erwartet, nun, da die Zeit meiner
vollkommenen Offenbarung gekommen ist, arbeitet Satan, um eure Liebe zu
schwächen und eure Gedanken zu verwirren. Seine Stunde kommt. Ich sage es
euch. Und in dieser Stunde der Finsternis werden auch die, die sonst wachsam
oder doch ziemlich sehend sind, vollkommen blind werden. Wenige, sehr wenige
werden in dem geschlagenen Menschen den Messias erkennen. Ganz wenige nur
werden ihn als den wahren Messias erkennen, eben weil er so erniedrigt werden
wird, wie es die Propheten geschaut haben. Ich wünsche zum Wohl meiner
Freunde, daß sie mich, solange es noch Tag ist, sehen und erkennen... damit
sie mich dann auch in der Finsternis der Stunde der Welt und in der
Entstellung sehen und erkennen... Doch nun sagt mir, was ihr mir zu sagen
habt. Die Zeit vergeht rasch, und bald bricht der Tag an. Ich sage das
euretwegen, denn ich fürchte keine gefährlichen Begegnungen.»
«Also, wir wollten dir sagen, daß
irgend jemand deinen Aufenthaltsort verraten haben muß, und daß dieser Jemand
mit Sicherheit weder ich, noch Nikodemus, weder Manaen, noch Lazarus und die
Schwestern, und auch nicht Nike gewesen ist. Mit wem sonst hast du über den
von dir als Zuflucht gewählten Ort gesprochen?»
«Mit niemandem, Joseph.»
«Bist du dessen sicher?»
«Ganz sicher.»
«Und hast du auch deinen Jüngern
geboten, nicht darüber zu sprechen?»
«Vor der Abreise habe ich ihnen
den Ort nicht genannt. Erst bei der Ankunft in Ephraim habe ich ihnen
befohlen, zu predigen und in meinem Namen zu wirken. Und ich bin ihres
Gehorsams sicher.»
«Und bist du in Ephraim allein?»
«Nein, Johannes und Judas des
Simon sind bei mir. Ich habe es schon gesagt. Und er, Judas – denn ich lese
deine Gedanken – kann mir mit seiner Unüberlegtheit nicht geschadet haben, da
er die Stadt nie verlassen hat und zu dieser Zeit auch keine Pilger aus
anderen Gegenden hierher kommen.»
«Also... dann muß es Beelzebub
verraten haben. Denn im Synedrium weiß man, daß du hier bist.»
169
«Und? Wie reagieren sie dort auf
meinen Entschluß?»
«Unterschiedlich, Meister. Sehr
unterschiedlich. Die einen sagen, es sei verständlich. Nachdem sie dich von
den heiligen Stätten verbannt haben, bliebe dir ja nichts anderes übrig, als
nach Samaria zu fliehen. Andere hingegen sagen, das würde zeigen, wer du
wirklich bist: ein Samariter, mehr noch der Seele als der Rasse nach. Und das
würde genügen, um dich zu verurteilen. Alle freuen sich, daß sie dich zum
Schweigen gebracht haben und dich vor den Volksscharen einen engen Freund der
Samariter nennen können. Sie sagen: "Wir haben die Schlacht schon gewonnen.
Der Rest ist ein Kinderspiel." Aber wir bitten dich, sorge dafür, daß das
nicht wahr wird.»
«Es wird nicht wahr werden. Laßt
sie nur reden. Wer mich liebt, wird sich durch den Anschein nicht beirren
lassen. Wartet, bis der Sturm sich legt. Es ist ein Sturm der Erde. Dann wird
der Wind des Himmels kommen und der Vorhang sich öffnen und die Herrlichkeit
Gottes wird erscheinen. Was habt ihr mir sonst noch zu sagen?»
«Nichts, was dich betrifft. Sei
wachsam, sei vorsichtig. Entferne dich nicht von wo du bist. Und wir wollen
dir noch einmal sagen, daß wir dich benachrichtigen werden ...»
«Nein, das ist nicht nötig.
Bleibt, wo ihr seid. Bald werde ich die Jüngerinnen bei mir haben und, ja, das
könnt ihr Nike und Elisa ausrichten, wenn sie wollen, können sie sich den
anderen anschließen. Sagt es auch den beiden Schwestern. Da mein
Aufenthaltsort nun bekannt ist, können die, die das Synedrium nicht fürchten,
kommen und sich gegenseitig Trost spenden.»
«Die beiden Schwestern können
nicht kommen, bevor Lazarus zurückgekehrt ist. Er ist mit großem Pomp
abgereist, und ganz Jerusalem hat erfahren, daß er sich zu seinen entfernten
Besitzungen begeben hat. Wann er aber zurückkommen wird, weiß niemand. Doch
sein Diener ist schon von Nazareth zurückgekehrt und hat gesagt, das sollen
wir dir noch ausrichten, deine Mutter wird mit den anderen zum Ende dieses
Monats hier sein. Es geht ihr gut, und auch Maria des Alphäus geht es gut. Der
Diener hat sie gesehen. Sie verzögern die Abreise noch ein wenig, weil Johanna
mit ihnen kommen will, was ihr aber erst Ende des Monats möglich ist. Und
dann... wenn du erlaubst, möchten wir dir helfen... als getreue Freunde...
auch wenn wir unvollkommen sind, wie du sagst.»
«Nein. Die Jünger, die predigend
umherziehen, bringen an jedem Sabbat-Vorabend alles mit, was sie und wir hier
in Ephraim brauchen. Mehr ist nicht nötig. Der Arbeiter lebt von seinem Lohn.
Das ist auch richtig. Alles andere wäre überflüssig. Gebt es irgendeinem
Unglücklichen. Dasselbe habe ich auch den Leuten von Ephraim und meinen
Aposteln gesagt. Ich verlange von den Aposteln, daß sie bei ihrer Rückkehr
auch nicht den geringsten Vorrat angesammelt und das ganze Almosen verteilt
170
haben, so daß uns gerade so viel
bleibt, wie wir zu unserer äußerst einfachen Verpflegung in der folgenden
Woche brauchen.»
«Aber warum, Meister?»
«Um sie zu lehren, sich von allem
Reichtum zu lösen und den Geist höher zu werten als die Sorgen von morgen. Und
aus diesem und auch aus anderen guten Gründen möchte ich euch als Meister
bitten, nicht weiter darauf zu bestehen.»
«Wie du willst. Aber wir
bedauern, dir nicht dienen zu können.»
«Die Stunde wird kommen, da ihr
es tun könnt... Ist das nicht schon das erste Tageslicht?» sagt Jesus, wendet
sich nach Osten – von der entgegengesetzten Seite ist er vorher gekommen – und
zeigt auf einen fahlen Schein, der in der weit entfernten Öffnung sichtbar
wird.
«Ja, wir müssen uns trennen. Ich
gehe nach Gophena zurück, wo ich das Reittier gelassen habe, und Nikodemus
wird auf dieser Seite nach Beroth hinunter und von dort nach Rama gehen,
sobald der Sabbat zu Ende ist.»
«Und du, Manaen?»
«Oh, ich werde ganz offen nach
Jericho reiten, wo sich Herodes zur Zeit aufhält. Ich habe mein Pferd in einem
Haus armer Leute gelassen, die sich für ein Almosen vor nichts ekeln, nicht
einmal vor dem Samariter, für den sie mich halten. Aber vorerst bleibe ich bei
dir. Ich habe in der Tasche Verpflegung für uns beide.»
«Dann wollen wir uns
verabschieden. An Ostern werden wir uns wiedersehen.»
«Nein, du wirst dich doch nicht
dieser Gefahr aussetzen wollen!» sagen Joseph und Nikodemus. «Tue es nicht,
Meister!»
«Ihr seid wahrlich schlechte
Freunde, denn ihr wollt mich zur Sünde und zur Feigheit verführen. Könntet ihr
mich noch lieben, wenn ich darauf einginge? Sagt es. Seid aufrichtig. Wo
sollte ich denn sonst hingehen, um an Ostern meinen Herrn anzubeten? Etwa auf
den Berg Garizim? Oder sollte ich nicht vielmehr im Tempel von Jerusalem vor
dem Herrn erscheinen, wie es die Pflicht eines jeden männlichen Israeliten ist
an den drei Hauptfesten des Jahres? Habt ihr vergessen, daß man mich schon
beschuldigt, den Sabbat nicht zu heiligen, obgleich ich – und Manaen kann es
bezeugen – um eurem Wunsch zu entsprechen, auch heute abend einen Weg genommen
habe, der sowohl eurem Wunsch als auch den Vorschriften des Sabbats gerecht
wird?»
«Wir haben aus diesem Grund in
Gophena haltgemacht... Und wir werden ein Opfer darbringen, um für die
unfreiwillige Überschreitung aus einem unumgänglichen Grund zu sühnen. Aber
du, Meister... ! Man wird dich sofort sehen ...»
«Selbst wenn sie mich nicht sehen
sollten, werde ich dafür sorgen, daß man mich sieht.»
171
«Willst du dich zugrunderichten!
Das käme einem Selbstmord gleich ...»
«Nein. Euer Verstand ist
verdunkelt. Es wäre nicht Selbstmord, sondern Gehorsam gegenüber der Stimme
meines Vaters, die mir sagt: "Geh, es ist Zeit." Ich habe mich immer bemüht,
das Gesetz mit den Notwendigkeiten des Lebens zu versöhnen, auch an dem Tag,
an dem ich von Bethanien nach Ephraim flüchten mußte; denn die Zeit meiner
Gefangennahme war noch nicht gekommen. Das Lamm des Heiles kann erst am
Passahfest geopfert werden. Und wollt ihr, daß ich meinem Vater den Gehorsam
verweigere, mit dem ich das Gesetz befolgt habe? Geht, geht! Und seid nicht so
betrübt. Wozu bin ich denn auf die Welt gekommen, wenn nicht, um zum König
aller Menschen erklärt zu werden? Denn Messias bedeutet doch gerade dies,
nicht wahr? Ja, so ist es. Und es bedeutet auch soviel wie Erlöser. Nur stimmt
die wahre Bedeutung dieser beiden Worte nicht mit dem überein, was ihr euch
vorstellt. Doch ich segne euch und bitte Gott inständig, ein himmlischer
Strahl möge zusammen mit mein Segen in euer Inneres herabkommen; denn ich
liebe euch und ihr liebt mich; denn ich möchte, daß eure Gerechtigkeit
strahlend sei; denn ihr seid nicht böse, doch noch immer "Altes Israel", und
ihr habt nicht den heroischen Willen, die Vergangenheit hinter euch zu lassen
und euch zu erneuern. Leb wohl, Joseph. Sei gerecht. Gerecht wie jener, der
viele Jahre mein Pflegevater und zu jeglicher Erneuerung fähig war, um dem
Herrn, seinem Gott, zu dienen. Wenn er hier unter uns wäre, oh, dann würde er
euch lehren, Gott vollkommen zu dienen und gerecht, gerecht, gerecht zu sein!
Aber es ist gut, daß er schon in Abrahams Schoß weilt, damit er die
Ungerechtigkeit Israels nicht sehen muß. Der heilige Diener Gottes...! Dieser
neue Abraham hätte mir – mit durchbohrtem Herzen, doch vollkommenem gutem
Willen – nicht zur Feigheit geraten, sondern hätte gesagt, wie er es immer
tat, wenn Schweres auf uns lastete: "Wir wollen unseren Geist erheben. So
werden wir dem Blick Gottes begegnen und vergessen, daß uns die Menschen
kränken. Wir wollen alles, was uns schwerfällt, so tun, als ob Gott es uns
aufgetragen hätte. Auf diese Art heiligen wir auch die kleinsten Dinge, und
Gott wird uns lieben." Ja, so würde er sagen, um mich zu ermutigen, selbst die
größten Schmerzen auf mich zu nehmen. Er würde uns trösten und stärken... Oh!
Meine Mutter... !»
Jesus läßt Joseph los, den er
umarmt hatte, und neigt schweigend das Haupt. Sicher sieht er sein
bevorstehendes Martyrium und das seiner armen Mutter... Dann hebt er das Haupt
und umarmt Nikodemus mit den Worten: «Als du zum erstenmal als geheimer Jünger
zu mir kamst, sagte ich dir, daß ihr, um in das Himmelreich einzugehen und das
Reich Gottes zu besitzen, geistig wiedergeboren werden und das Licht lieben
müßt, mehr als die Welt es liebt. Heute ist es vielleicht das letzte Mal, daß
wir
172
uns im geheimen treffen, und ich
wiederhole dir dieselben Worte. Werde wiedergeboren im Geist, Nikodemus, damit
du das Licht lieben kannst, das Licht, das ich bin, und damit ich in dir lebe
als König und Erlöser. Geht. Gott sei mit euch.»
Die beiden Synedristen entfernen
sich, nicht in die Richtung, aus der Jesus gekommen ist, sondern in die
entgegengesetzte. Als das Geräusch ihrer Schritte verhallt ist, kommt Manaen,
der sie bis zum Ausgang der Höhle begleitet und ihnen nachgesehen hat, zurück
und bemerkt mit vielsagendem Gesicht: «Diesmal sind sie es, die das
Sabbatgebot übertreten. Und sie werden keine Ruhe finden, bis sie ihre Schuld
beim Ewigen durch das Opfer eines Tieres getilgt haben. Wäre es nicht besser
für sie, wenn sie ihre Ruhe opfern und sich offen zu dir bekennen würden? Wäre
dies dem Allerhöchsten nicht wohlgefälliger?»
«Das wäre es gewiß. Aber
verurteile sie nicht. Sie gleichen einem Teig, der langsam aufgeht. Doch im
rechten Augenblick, wenn viele, die sich besser dünken als sie, abfallen,
werden gerade sie sich gegen eine ganze Welt erheben.»
«Sagst du dies meinetwegen, Herr?
Dann nimm mir das Leben, aber lasse nicht zu, daß ich dich verleugne.»
«Du wirst mich nicht verleugnen.
Doch in dir sind schon andere Elemente als in ihnen, die dir helfen werden,
treu zu sein.»
«Ja. Ich bin... der Herodianer.
Das heißt, ich war der Herodianer. Denn so wie ich mich vom Rat getrennt habe,
so habe ich mich auch von der Partei getrennt, als ich gesehen habe, wie
schlecht und ungerecht sie dich behandeln, genau wie die anderen. Ein
Herodianer sein... ! Für die anderen heißt dies beinahe, ein Heide sein. Ich
sage nicht, daß wir Heilige sind. Es ist wahr, aus unlauteren Gründen haben
wir unlauter gehandelt. Ich rede so, als wäre ich noch der Herodianer, der ich
war, bevor ich dein wurde. Wir sind nach menschlichem Urteil doppelt unrein:
einmal, weil wir uns mit den Römern verbündet haben, und weil wir dies zu
unserem Vorteil getan haben. Aber sage mir, Meister, der du immer die Wahrheit
sagst und nicht schweigst aus Furcht, einen Freund zu verlieren: Wer von uns
ist unreiner, wir, die wir uns um vergänglicher persönlicher Triumphe willen
mit Rom verbündet haben, oder die Pharisäer, die Hohenpriester, die
Schriftgelehrten und die Sadduzäer, die sich mit Satan verbündet haben, um
dich zu vernichten? Siehst du? Als ich gesehen habe, daß die Partei der
Herodianer sich gegen dich wandte, habe ich sie verlassen. Ich sage es nicht,
um von dir gelobt zu werden, sondern um dir meine Gedanken darzulegen. Und
sie, ich spreche von den Pharisäern und den Priestern, den Schriftgelehrten
und den Sadduzäern, glauben, sie hätten einen Nutzen von diesem
unvorhergesehenen Bündnis der Herodianer mit ihnen. Die Unglückseligen! Sie
verstehen nicht, daß die Herodianer es nur tun, um sich bei den Römern beliebt
zu machen und dadurch größeren Schutz
173
zu genießen; und danach... sobald
die Sache bereinigt und beendet ist und damit die Beweggründe für das jetzige
Bündnis nicht mehr bestehen, werden sie die, deren sie sich nun als Verbündete
bedienen, niederwerfen. Auf beiden Seiten dasselbe Spiel. Alles ist auf Betrug
aufgebaut. Und dies stößt mich so sehr ab, daß ich mich völlig unabhängig
gemacht habe. Du, du bist ein großes Schreckgespenst. Für alle! Du bist auch
der Vorwand für das verwegene Interessenspiel der verschiedenen Parteien. Ein
religiöser Beweggrund? Der heilige Abscheu vor dem "Gotteslästerer", wie sie
dich nennen? Alles Lügen! Der einzige Grund ist nicht die Verteidigung der
Religion, nicht der heilige Eifer für den Allerhöchsten, sondern ihre gierige,
unersättliche Habsucht. Sie ekeln mich an, wie stinkender Unrat. Ich
wünschte... Ja, ich wünschte, die wenigen, die nicht unrein sind, wären viel
kühner. Ach, mich belastet dieses doppelte Leben, das ich führe! Ich würde
gerne dir allein folgen. Aber ich bin dir so nützlicher, als wenn ich dir
folgen würde. Es bedrückt mich... Aber du sagst, daß es bald sein wird...
Wie... Wirst du denn wirklich wie ein Lamm geopfert werden? Ist dies nicht nur
bildlich gesprochen? Das Leben Israels ist voll von Symbolen und Bildern...»
«Und du wolltest, es wäre auch
für mich so... Aber es ist nicht nur bildlich gemeint bei mir.»
«Wirklich nicht? Bist du dessen
sicher? Ich könnte... Viele von uns wären bereit, große Taten der
Vergangenheit zu wiederholen und dich als Messias salben zu lassen und zu
verteidigen. Ein Wort würde genügen, und zu Tausenden und Abertausenden würden
die Verteidiger des wahren heiligen und weisen Oberhirten sich erheben. Ich
spreche nicht mehr von einem irdischen König, nun, da ich weiß, daß dein Reich
ein rein geistiges Reich ist. Da wir jedoch nach menschlichem Ermessen nie
mehr stark und frei sein werden, so lasse wenigstens zu, daß deine Heiligkeit
das verdorbene Israel regiert und heilt. Niemand, du weißt es selbst, liebt
die gegenwärtige Priesterschaft und die, die sie unterstützen. Willst du,
Herr? Befiehl, und ich werde handeln.»
«Du hast schon große Fortschritte
gemacht, Manaen. Aber du bist noch so weit vom Ziel wie die Erde von der
Sonne. Ich werde Priester sein in Ewigkeit. Unsterblicher Hoherpriester in
einem Organismus, den ich beleben werde bis ans Ende der Zeiten. Doch ich
werde nicht mit dem Öl der Freude gesalbt werden, noch von einer Handvoll
Getreuen ausgerufen und mit Gewalt verteidigt werden, um das Vaterland in ein
noch größeres Schisma zu stürzen und es mehr denn je zum Sklaven zu machen.
Und meinst du, daß Menschenhand den Christus salben könnte? In Wahrheit sage
ich dir, daß dem nicht so ist. Die wahre Autorität, die mich zum Oberhaupt und
Messias salben wird, ist der, der mich gesandt hat. Kein anderer als Gott kann
Gott zum König der Könige und Herrn der Herren für alle Ewigkeit salben.»
174
«Dann ist also nichts, gar nichts
zu machen? Oh, welch ein Schmerz für mich!»
«Alles... Mich lieben! Darin ist
alles enthalten! Nicht das Geschöpf lieben, das den Namen Jesus trägt, sondern
das, was Jesus ist. Mich lieben mit Leib und Seele, so wie ich euch im Geist
und als Mensch liebe, um über das Menschsein hinaus mit mir zu sein. Sieh,
welch ein schöner Sonnenaufgang. Der sanfte Schein der Sterne ist nicht hier
hereingedrungen. Das triumphierende Sonnenlicht schon! So wird es den Herzen
derer ergehen, denen es gelingt, mich mit Gerechtigkeit zu lieben. Komm heraus
in die Stille des Berges, die noch keine bei der Verteidigung irdischer
Belange rauh gewordene, menschliche Stimme stört. Schau, dort, die Adler, wie
sie mit ausgespannten Schwingen auf der Suche nach Beute fortfliegen. Können
wir ihre Beute sehen? Nein. Aber sie sehen sie. Denn das Auge des Adlers ist
schärfer als das unsere. Und von dort oben haben sie einen weiten Ausblick,
und sie wissen zu wählen. Auch ich. Ich kann sehen, was ihr nicht seht, und
von oben, wo mein Geist schwebt, meine süße Beute erwählen. Nicht um sie zu
zerfetzen, wie es die Geier und Adler tun, sondern um sie mit mir zu nehmen.
Wir werden so glücklich sein im Reich meines Vaters, wir, die wir uns geliebt
haben... !»
Und Jesus, der bei diesen Worten
hinausgegangen ist, setzt sich am Eingang der Höhle in die Sonne, umarmt
Manaen, der sich neben ihm niedergelassen hat, schweigt und lächelt über wer
weiß welche Vision...
616. DER SOPHERIM SAMUEL,
EHEMALIGER JÜNGER DES JONATHAN BEN UZIEL UND DANN JÜNGER JESU
Jesus ist allein und wieder in
der Höhle. Ein Feuer brennt und spendet Licht und Wärme, und ein starker Duft
von Harz und Laubwerk verbreitet sich in der Höhle. Das Holz knistert und
sprüht Funken. Jesus hat sich nach hinten zurückgezogen, in eine Vertiefung,
in der trockene Zweige liegen, und denkt nach. Die Flammen flackern ab und zu
auf, werden kleiner und beleben sich dann wieder durch Windstöße, die aus dem
Wald kommen und heulend in die Höhle dringen, wo sie wie Trompetenstöße
widerhallen. Es ist kein beständiger Wind. Einmal fällt er, dann erhebt er
sich wieder, wie die Wogen des Meeres zur Zeit der langen Wellen. Wenn er laut
pfeift, wirbelt er Asche und trockene Blätter in den schmalen Gang im Fels,
durch den Jesus in die größere Höhle gekommen ist, und die Flammen ducken sich
und lecken seitlich am Boden entlang; dann, sobald der Wind sich gelegt hat,
richten sie sich noch flackernd auf und brennen wieder gerade. Jesus kümmert
sich nicht darum. Er denkt nach.
175
Dann mischt sich in das Pfeifen
des Windes das Geräusch des Regens, der zuerst nur leicht, dann aber immer
stärker auf das Laub der Bäume und Sträucher klatscht. Ein wahrer Wolkenbruch
verwandelt in kurzer Zeit die Bergpfade in schäumende Bäche. Nun herrscht die
Stimme des Wassers vor, denn der Wind hat sich langsam gelegt. Das spärliche
Licht der stürmischen Dämmerung und das Feuer, das nur noch glimmt, da die
Zweige verbrannt sind, erhellen die Höhle nur sehr schwach, und in den Winkeln
herrscht schon völlige Dunkelheit. Jesus, der ein dunkles Gewand trägt, ist
nicht mehr zu erkennen. Nur wenn er das Antlitz von den angezogenen Knien
erhebt, sieht man mit Mühe etwas Weißes vor der dunklen Wand.
Draußen vor der Höhle auf dem Weg
hört man plötzlich Schritte und keuchende Worte, wie von jemandem, der müde
und abgehetzt ist. Dann erscheint ein dunkler, von Wasser triefender Schatten
am Eingang. Der Mann – denn es ist ein Mann mit einem dichten, schwarzen Bart
– stößt ein «Oh!» der Erleichterung aus, wirft seine klatschnasse
Kopfbedeckung auf den Boden, schüttelt seinen Mantel aus und sagt vor sich
hin: «Hm! Du kannst ihn lange ausschütteln, Samuel. Er scheint in den Graben
eines Walkmüllers gefallen zu sein. Und die Sandalen? Boote! Boote auf dem
Grund des Flusses! Bis auf die Haut bin ich naß! Und die Bäche aus den Haaren!
Ich komme mir vor wie eine alte Dachtraufe, die Wasser aus hundert Löchern
verliert. Das fängt schon gut an! Ob er Beelzebub auf seiner Seite hat, der
ihm hilft? Hm, der Einsatz ist groß... aber...» Er läßt sich auf einen großen
Stein, nahe bei dem nun fast erloschenen Feuer nieder, dessen glimmende Reste
als letztes Lebenszeichen des verbrannten Holzes in eigenartigen roten Mustern
leuchten. Durch Blasen versucht er, es wieder anzufachen. Dann legt er die
Sandalen ab und versucht, seine schmutzbedeckten Füße mit einem Zipfel des
Mantels abzutrocknen, der nicht ganz so naß ist. Aber er trocknet sich mit
Wasser ab. Das Ergebnis ist, daß der Schlamm von den Füßen nun am Mantel
klebt. Der Mann setzt sein Selbstgespräch fort: «Verflucht sollen sie sein, er
und sie alle! Ich habe auch die Börse verloren. Natürlich! Wenigstens habe ich
nicht auch das Leben verloren... Es ist der sicherste Weg, haben sie gesagt.
Natürlich. Aber sie selbst gehen ihn nie! Wenn ich dieses Feuer nicht gesehen
hätte! Wer hat es wohl angezündet? Irgendein Unglücklicher wie ich. Wo mag er
jetzt wohl sein? Dort ist ein Loch... Vielleicht noch eine Höhle... Es werden
doch keine Räuber sein? Ach, ich Dummkopf! Was sollten sie mir denn nehmen, da
ich keinen Pfennig besitze... ! Aber egal. Dieses Feuer ist mehr wert als ein
Schatz. Hätte ich nur etwas trockenes Holz, um es wieder anzufachen! Dann
würde ich mich ausziehen und meine Kleider trocknen. Aber was rede ich denn!
Ich habe ja nur die, bis ich zurückkehre ...»
«Wenn du Zweige willst, Freund,
hier sind einige», sagt Jesus, ohne sich von seinem Platz zu rühren.
176
Der Mann, der Jesus den Rücken
zukehrt, erschrickt, als er so unerwartet eine Stimme hört, springt auf und
dreht sich um. Er scheint Angst zu haben. «Wer bist du?» fragt er und kneift
die Augen zusammen, um etwas zu sehen.
«Ein Wanderer wie du. Ich habe
das Feuer angezündet, und es freut mich, daß es dir ein Wegweiser gewesen
ist.» Jesus kommt mit einem Reisigbündel auf dem Arm näher, wirft es neben dem
Feuer auf den Boden und fordert den Mann auf: «Fache es wieder an, bevor die
Asche alles erstickt. Ich habe weder Feuerstein noch Zunder, denn der, der sie
mir geliehen hat, ist nach Sonnenuntergang fortgegangen.» Jesus spricht
freundlich, tritt aber nicht so weit vor, daß der Schein des Feuers auf ihn
fällt. Vielmehr kehrt er jetzt in seinen Winkel zurück und hüllt sich noch
fester in seinen Mantel.
Der Mann beugt sich inzwischen
nieder und bläst in die Blätter, die er auf die Glut geworfen hat. Und er
bemüht sich so lange, bis die Flamme wieder aufflackert. Er lacht und wirft
immer größere Äste hinein, die die Flammen noch höher werden lassen.
Jesus hat sich wieder an seinen
Platz gesetzt und beobachtet ihn.
«Nun müßte ich mich ausziehen, um
mein Gewand zu trocknen. Ich bin lieber nackt, als so durchnäßt. Aber nicht
einmal das kann ich tun. Ein Hang ist ins Rutschen geraten und ich wurde mit
Erde und Wasser überschüttet. Da haben wir die Bescherung! Schau, mein Gewand
ist zerrissen. Verfluchte Reise! Hätte ich doch gegen das Sabbatgebot
verstoßen! Aber nein. Bis zur Dämmerung habe ich gewartet. Und dann... Was
mache ich jetzt? Um mich zu retten, habe ich die Reisetasche losgelassen, und
sie wird ins Tal gerollt oder an einem Strauch hängengeblieben sein... wer
weiß, wo ...»
«Hier hast du mein Gewand. Es ist
trocken und warm. Mir genügt der Mantel. Nimm es, ich bin gesund. Fürchte
nichts.»
«Du bist gut. Ein guter Freund.
Wie soll ich dir danken?»
«Indem du mich wie einen Bruder
liebst.»
«Dich wie einen Bruder lieben?
Aber du weißt doch gar nicht, wer ich bin? Und wenn ich ein Übeltäter wäre?
Würdest du auch dann meine Liebe wollen?»
«Ich würde sie wollen, um dich
gut zu machen.»
Der Mann, der noch jung ist und
etwa dasselbe Alter wie Jesus hat, neigt das Haupt und denkt nach. Er hält das
Gewand Jesu in seinen Händen, aber er sieht es nicht. Er denkt nach. Und
mechanisch streift er das Gewand über die bloße Haut, denn er hat sich ganz
entkleidet und selbst das Untergewand abgelegt.
Jesus, der in seinen Winkel
zurückgekehrt ist, fragt nun: «Wann hast du gegessen?»
«Zur sechsten Stunde. Bei der
Ankunft im Tal hätte ich im Dorf etwas
177
gegessen. Doch dann habe ich mich
verirrt und die Tasche und das Geld verloren...»
«Hier, ich habe noch einige Reste
von der Mahlzeit. Ich wollte sie morgen essen. Aber nimm sie nur. Das Fasten
macht mir nichts aus.»
«Aber... wenn du wandern mußt,
wirst du deine Kräfte brauchen...»
«Oh, ich gehe nicht weit. Nur
nach Ephraim...»
«Nach Ephraim? Bist du ein
Samariter?»
«Du verachtest sie? Ich bin kein
Samariter.»
«In der Tat... du hast einen
galiläischen Akzent. Wer bist du? Warum verbirgst du mir dein Gesicht? Mußt du
dich verbergen, weil du eine Schuld auf dich geladen hast? Ich werde dich
nicht anzeigen.»
«Ich bin ein Wanderer, ich habe
es dir schon gesagt. Mein Name würde dir nichts sagen, oder zu viel. Und
überhaupt, was ist der Name? Wenn ich dir ein Gewand reiche für deine
frierenden Glieder, ein Brot gebe für deinen Hunger und vor allem meine Liebe
schenke für dein Herz, mußt du dann, um die Wohltat der trockenen Kleidung,
der Nahrung und der Liebe zu spüren, auch meinen Namen wissen? Aber wenn du
mir einen Namen geben willst, dann nenne mich "Barmherzigkeit". Ich habe
nichts Beschämendes getan, das mich zwingen würde, mich zu verbergen. Aber du
würdest mich trotzdem anzeigen, denn das Denken und Trachten deines Herzens
ist nicht gut. Und böse Gedanken führen zu bösen Taten.»
Der Mann springt auf und nähert
sich Jesus. Aber von Jesus sieht man nur die Augen, und auch diese sind von
den gesenkten Lidern verschleiert.
«Iß nur. Iß, Freund. Anderes ist
nicht zu tun.»
Der Mann kehrt zum Feuer zurück
und ißt nach und nach, ohne ein Wort zu sagen. Er ist nachdenklich geworden.
Jesus hat sich in seinem Winkel ganz zusammengekauert. Der Mann erholt sich
langsam. Die Wärme des Feuers, das Brot und das gebratene Fleisch, das Jesus
ihm gegeben hat, stimmen ihn froh. Er steht auf, reckt sich und spannt die
Kordel, die ihm als Gürtel gedient hat, zwischen einen Felsvorsprung und einen
rostigen Nagel, der von wer weiß wem und wann dort eingeschlagen wurde. Dann
hängt er das Gewand, den Mantel und die Kopfbedeckung zum Trocknen auf. Die
Sandalen stellt er, nachdem er sie ausgeschüttelt hat, direkt ans Feuer und
legt auch reichlich Reisig nach.
Jesus scheint zu schlummern. Der
Mann setzt sich nun ebenfalls und denkt nach. Dann wendet er sich um und
betrachtet den Unbekannten. Er fragt: «Schläfst du?»
Jesus antwortet: «Nein. Ich denke
nach und bete.»
«Für wen?»
«Für alle Unglücklichen aller
Art. Es gibt ihrer so viele!»
«Bist du ein Büßer ?»
«Ich bin ein Büßer. Die Erde
braucht viel Buße, damit die Schwachen Kraft erhalten, Satan zu widerstehen.»
178
«Das hast du gut gesagt. Du
sprichst wie ein Rabbi. Ich verstehe etwas davon, denn ich bin ein Sopherim.
1) Ich bin bei Rabbi Jonathan ben Uziel. Sein liebster Schüler. Und wenn der
Allerhöchste mir beisteht, werde ich ihm bald noch lieber sein. Mein Name wird
in ganz Israel gepriesen werden.»
Jesus entgegnet nichts.
Der andere steht nach einer Weile
auf und setzt sich neben Jesus. Er sagt, wobei er sich durch die Haare fährt,
die fast schon trocken sind, und auch den Bart glättet: «Höre. Du hast gesagt;
daß du nach Ephraim gehst. Gehst du nur zufällig dorthin, oder wohnst du
dort?»
«Ich wohne in Ephraim.»
«Aber du hast doch gesagt, daß du
kein Samariter bist!»
«Ich wiederhole dir, ich bin kein
Samariter.»
«Aber wer kann denn dort wohnen,
wenn nicht... Höre. Man sagt, daß der Rabbi von Nazareth, der mit dem Bann
Belegte, der Verfluchte, sich nach Ephraim zurückgezogen hat. Ist das wahr?»
«Es ist wahr. Jesus, der Gesalbte
des Herrn, ist dort.»
«Er ist nicht der Gesalbte des
Herrn! Er ist ein Betrüger! Er ist ein Gotteslästerer! Er ist ein Dämon! Er
ist die Ursache all unserer Übel. Und kein Rächer steht auf im Volk, um ihn zu
vernichten!» ruft der Mann in seinem fanatischen Haß aus.
«Hat er dir denn Böses getan, daß
du von ihm mit solchem Haß in der Stimme sprichst?»
«Mir nicht. Ich habe ihn nur
einmal kurz beim Laubhüttenfest gesehen, und in einem solchen Tumult, daß es
mir jetzt schwerfallen würde, ihn wiederzuerkennen. Denn... wenn ich auch ein
Schüler des großen Rabbi Jonathan ben Uziel bin, so bin ich doch erst seit
kurzem endgültig vom Tempel. Vorher... war es nicht möglich aus verschiedenen
Gründen, und nur, wenn der Rabbi in seinem Haus war, ließ ich mich zu seinen
Füßen nieder, um Gerechtigkeit und Bildung von ihm zu lernen. Aber du... Du
hast mich gefragt, ob ich ihn hasse, und ich habe einen verborgenen Vorwurf in
deinen Worten gehört. Bist du vielleicht ein Jünger des Nazareners?»
«Das bin ich nicht. Ab jeder, der
gerecht ist, muß den Haß verurteilen.»
«Der Haß ist heilig, wenn er
einem Feind Gottes und des Vaterlandes gilt. Der Rabbi von Nazareth ist
beides. Und heilig ist es, ihn zu bekämpfen und zu hassen.»
«Willst du den Menschen bekämpfen
oder die Idee, die er vertritt, und die Lehre, die er verbreitet?»
«Alles! Alles! Man kann nicht
eines bekämpfen, wenn man das andere
______________
1) Sopherim = Schriftgelehrter,
Gesetzeslehrer
179
verschont. Der Mensch verkörpert
seine Lehre und seine Idee. Entweder man bekämpft alles, oder es ist nutzlos.
Wenn man sich zu einer Idee bekennt, bekennt man sich zu dem Menschen, der sie
verkörpert, und zu seiner Lehre. Ich weiß es, denn ich habe mit meinem Meister
diese Erfahrung gemacht. Seine Ideen sind die meinen, und seine Wünsche sind
mir Gesetz.»
«Ein guter Jünger handelt so.
Doch muß man beurteilen können, ob der Meister gut ist. Und nur dem guten
Meister darf man nachfolgen. Denn es ist nicht erlaubt, aus Liebe zu einem
Menschen seine Seele zu verlieren.»
«Jonathan ben Uziel ist gut.»
«Nein, er ist es nicht.»
«Was sagst du da?! Mir sagst du
das? Während wir hier allein sind, könnte ich dich töten, um meinen Meister zu
rächen! Ich bin stark, weißt du?»
«Ich habe keine Angst. Ich
fürchte keine Gewalt. Ich habe keine Angst und werde mich auch nicht wehren,
wenn du mich schlagen solltest.»
«Ach, jetzt verstehe ich! Du bist
ein Jünger des Meisters, ein "Apostel". So nennt er seine getreuesten Jünger.
Und du bist wohl auf dem Weg zu ihm. Vielleicht war der, der hier bei dir
gewesen ist, auch so einer. Und womöglich erwartest du noch einen von den
Euren?»
«Ich erwarte jemanden, ja.»
«Vielleicht gar den Rabbi?»
«Ich brauche nicht auf ihn zu
warten. Er braucht mein Wort nicht, um von einem Übel geheilt zu werden. Er
hat keine kranke Seele und auch keinen kranken Körper. Ich erwarte eine arme
Seele, die vergiftet und verwirrt ist, um sie zu heilen.»
«Dann bist du ein Apostel! Es ist
bekannt, daß er sie aussendet, damit sie seine Lehre verkünden, da er Angst
hat, selbst zu gehen, seit er vom Synedrium verurteilt wurde. Daher vertrittst
du also seine Lehren! Nicht reagieren, wenn man beleidigt wird, das ist eine
seiner Lehren.»
«Es ist eine seiner Lehren, denn
er lehrt die Liebe, die Verzeihung, die Gerechtigkeit und die Sanftmut. Er
liebt die Feinde wie die Freunde, denn er sieht alles in Gott.»
«Oh! Wenn er mir begegnen würde,
wenn ich ihm, wie ich hoffe, begegnen werde, glaube ich kaum, daß er mich
lieben würde. Er wäre ein Dummkopf! Aber ich kann nicht mit dir, seinem
Apostel, reden. Und ich bedauere, daß ich gesagt habe, was ich gesagt habe. Du
wirst es ihm berichten.»
«Das ist nicht nötig. Doch in
Wahrheit sage ich dir, daß er dich lieben wird, vielmehr, daß er dich liebt,
obwohl du nach Ephraim gehst, um ihn in eine Falle zu locken und dem Synedrium
auszuliefern. Denn wer dies tut, wird eine große Belohnung erhalten.»
180
«Bist du ein Prophet oder ein
Hellseher? Hat er dir seine Macht übertragen? Bist also auch du ein
Verfluchter? Und ich habe dein Brot, dein Gewand und deine Freundschaft
angenommen?! Es steht geschrieben: "Du sollst deine Hand nicht gegen deinen
Wohltäter erheben." Du hast mir Wohltaten erwiesen! Vielleicht, weil du
wußtest, daß ich... Vielleicht, um mich daran zu hindern, zu handeln. Aber
wenn ich auch dich verschone, weil du mir Brot, Salz, Feuer und dein Gewand
gegeben hast, und ich gegen die Gerechtigkeit fehlen würde, wenn ich dir etwas
antäte, so werde ich doch deinen Rabbi nicht verschonen. Denn diesen kenne ich
nicht, und er hat mir nicht Gutes, sondern Böses getan!»
«Oh, Unglücklicher! Merkst du
denn nicht, daß du irre redest? Wie kann dir jemand, den du nicht kennst,
etwas Böses angetan haben? Wie kannst du den Sabbat heiligen, wenn du das
Gebot: "Du sollst nicht töten" nicht befolgst?»
«Ich töte nicht.»
«Nicht direkt. Aber es gibt
keinen Unterschied zwischen dem Mörder und dem, der das Opfer dem Mörder
überliefert. Du achtest das Wort eines Menschen, der sagt, daß du dem nicht
schaden sollst, der dir Gutes getan hat, aber du befolgst nicht das Gebot
Gottes. Und arglistig, für eine Handvoll Geld und für ein wenig Ehre, die
schmutzige Ehre, einen Unschuldigen verraten zu haben, gibst du dich zu einem
Verbrechen her... !»
«Ich tue es nicht allein wegen
des Geldes und der Ehre, sondern um eine Jahwe wohlgefällige und dem Vaterland
heilsame Tat zu vollbringen. Ich tue nur, was Jael und Judith getan haben.» Er
ist fanatischer denn je.
«Sisera und Holophernes waren
Feinde unseres Vaterlandes. Sie waren Invasoren. Aber was ist der Rabbi von
Nazareth? Wen überfällt er? Wen unterdrückt er? Er ist arm und will keine
Reichtümer. Er ist demütig und sucht keine Ehre. Er ist gut, zu allen.
Tausenden hat er Wohltaten erwiesen. Warum haßt ihr ihn? Warum haßt du ihn? Es
ist dir nicht erlaubt, deinem Nächsten zu schaden. Du dienst dem Synedrium.
Aber wird das Synedrium dich im anderen Leben richten, oder Gott? Und wie wird
er dich richten? Ich sage nicht: wie wird er dich als Mörder des Christus
richten, sondern ich sage: wie wird er dich als Mörder eines Unschuldigen
richten? Du glaubst nicht, daß der Rabbi von Nazareth der Christus ist, und
weil du das nicht glaubst, wird er dich dieses Verbrechens nicht beschuldigen.
Gott ist gerecht und bestraft nicht eine Schuld, eine Tat, die nicht ganz
bewußt begangen wurde. Er wird dich daher nicht verurteilen, weil du Christus
getötet hast, denn für dich ist Jesus von Nazareth nicht der Christus. Aber
Gott wird dich anklagen, einen Unschuldigen getötet zu haben. Denn du weißt,
daß er unschuldig ist. Man hat dich vergiftet, trunken gemacht mit Worten des
Hasses. Aber nicht so sehr, daß du nicht mehr begreifen kannst, daß er
unschuldig ist. Seine Werke sprechen für ihn. In eurer Angst – mehr die Angst
der Lehrer als die der
181
Schüler fürchtet und seht ihr,
was nicht ist. Es ist die Angst derer, die fürchten, von ihm verdrängt zu
werden. Fürchtet euch nicht. Er öffnet euch die Arme und sagt: "Brüder!" Er
sendet keine Bewaffneten gegen euch aus. Er verflucht euch nicht. Er möchte
euch nur retten. Euch, die Großen und die Schüler der Großen, so wie er auch
den Geringsten in Israel retten will. Euch mehr als den Geringsten in Israel,
mehr als das Kind, das noch nicht weiß, was Haß und Liebe ist. Denn ihr habt
es nötiger als die Unwissenden und die Kinder, da ihr wißt und wissend
sündigt. Wenn du dein Gewissen als Mensch reinigst von den Ideen, mit denen
sie dich gefüttert haben, wenn du es reinigst von dem Gift, das dich betäubt,
wird es dir dann noch bestätigen, daß er schuldig ist? Sage es mir! Sei
ehrlich. Hast du ihn vielleicht einmal das Gesetz übertreten sehen, oder hast
du gesehen, wie er jemandem angeraten hat, das Gesetz zu übertreten? Hast du
ihn jemals streitsüchtig, habgierig, lasterhaft, verleumderisch, hartherzig
gesehen? Sprich! Hast du ihn vielleicht unehrerbietig gegenüber dem Synedrium
gesehen? Er ist gleich einem Verbannten, um dem Spruch des Synedriums zu
gehorchen. Er könnte einen Aufruf ergehen lassen, und ganz Palästina würde ihm
folgen und gegen die wenigen, die ihn hassen, marschieren. Doch stattdessen
rät er seinen Jüngern zu Frieden und Verzeihung. Er könnte – so wie er den
Toten das Leben, den Blinden das Augenlicht, den Lahmen die Beweglichkeit, den
Tauben das Gehör wiedergibt und die Besessenen von den Dämonen befreit, da
weder Himmel noch Hölle seinem Willen widerstehen – er könnte euch mit dem
göttlichen Blitz erschlagen und sich so von seinen Feinden befreien. Doch
stattdessen betet er für euch und heilt eure Verwandten, heilt eure Herzen,
gibt euch Brot, Kleidung und Feuer. Denn ich bin Jesus von Nazareth, der
Christus, der, den du suchst, um das demjenigen, der ihn dem Synedrium
ausliefert, versprochene Kopfgeld zu erhalten und als Befreier Israels
gefeiert zu werden. Ich bin Jesus von Nazareth, der Christus. Hier bin ich.
Nimm mich also fest. Als Meister und als Sohn Gottes befreie ich dich von der
Verpflichtung, die Hand nicht gegen den zu erheben, der dir Gutes getan hat,
und spreche dich los von der Sünde, es getan zu haben.»
Jesus ist aufgestanden und hat
dabei den Mantel vom Kopf gleiten lassen. Er streckt nun die Arme aus, um sich
festnehmen und fesseln zu lassen. Aber so, hochgewachsen und gerade – und er
scheint noch schlanker, nur in seinem kurzen, eng anliegenden Untergewand und
dem dunklen Mantel, der ihm von den Schultern hängt – die Augen fest auf
seinen Verfolger gerichtet, während die tanzenden Flammen helle Lichter in
seinem wallenden Haar entzünden und seine großen Pupillen im saphirenen Rund
der Iris glänzen lassen; so majestätisch, treu und furchtlos flößt er mehr
Respekt ein, als wenn ein ganzes Heer ihn zu seinem Schutz umgäbe.
182
Der Mann ist fasziniert, gelähmt
vor Staunen. Erst nach einer Weile gelingt es ihm zu flüstern: «Du! Du! Du!»
Er scheint kein anderes Wort herauszubringen.
Jesus besteht darauf: «Nimm mich
also fest. Löse den unnützen Strick den du dort gespannt hast, um ein
zerrissenes, schmutziges Gewand aufzuhängen, und feßle meine Hände. Ich werde
dir folgen, wie ein Lamm seinem Schlächter folgt. Und ich werde dich nicht
hassen, weil du mich zum Tod führst. Ich habe es dir schon gesagt. Der Zweck
rechtfertigt die Tat und ändert ihr Wesen. Für dich bin ich der Ruin Israels,
und du glaubst Israel zu retten, wenn du mich tötest. Für dich bin ich
jeglichen Verbrechens schuldig, und du dienst daher der Gerechtigkeit, wenn du
einen Übeltäter unschädlich machst. Du bist also nicht schuldiger als ein
Henker, der einen erhaltenen Befehl ausführt. Willst du mich gleich hier
opfern? Hier, zu meinen Füßen liegt das Messer, mit dem ich dir das Brot und
das Fleisch geschnitten habe. Nimm es. Die Klinge, die der Nächstenliebe
gedient hat, wird sich in ein Opfermesser verwandeln. Mein Fleisch ist nicht
härter als das Fleisch des gebratenen Lammes, das mein Freund für meinen
Hunger hier gelassen hat und das ich dir, meinem Feind, gegeben habe, damit du
deinen Hunger stillen konntest. Aber du fürchtest die römischen Patrouillen.
Sie nehmen die Mörder Unschuldiger fest. Sie erlauben nicht, daß wir Recht
sprechen. Denn wir sind die Unterworfenen und sie die Beherrscher. Daher wagst
du nicht, mich zu töten und zu denen zu gehen, die dich geschickt haben, das
geschlachtete Lamm auf den Schultern gleich einer Ware, mit der man Geld
verdient. Laß also meinen Leichnam hier und benachrichtige deine Auftraggeber.
Denn du bist kein Schüler, sondern ein Sklave; du hast auf die königliche
Freiheit des Geistes und des Willens verzichtet, die selbst Gott den Menschen
läßt, und dienst, sklavisch dienst du deinen Auftraggebern. Bis zum Verbrechen
dienst du ihnen. Doch du bist nicht schuldig. Du bist "vergiftet". Du bist die
vergiftete Seele, auf die ich gewartet habe. Auf, also! Die Nacht und der Ort
sind für das Verbrechen geeignet. Ich müßte richtig sagen: für die Erlösung
Israels. Oh! Armer Junge! Du sprichst prophetische Worte, ohne es zu wissen!
Wahrlich, mein Tod wird Erlösung sein, und nicht allein für Israel, sondern
für die ganze Menschheit. Ich bin gekommen, um geopfert zu werden. Ich brenne
darauf, geopfert zu werden, um der Erlöser zu sein. Für alle. Du, Sopherim des
gelehrten Jonathan ben Uziel, kennst gewiß Isaias. Sieh, der Mann der
Schmerzen steht vor dir. Und wenn ich ihm nicht gleiche, wenn ich dem nicht
gleiche, den auch David gesehen hat, mit den entblößten und zerschlagenen
Gebeinen, wenn ich nicht der Aussätzige bin, den Isaias gesehen hat, dann nur,
weil ihr mein Herz nicht seht. Ich bin eine einzige Wunde. Eure Lieblosigkeit,
euer Haß, eure Härte und Ungerechtigkeit haben mich verwundet und gemartert.
Habe ich nicht das Antlitz verborgen, als du mich geschmäht hast als den,
183
der ich wahrhaftig bin: das Wort
Gottes, der Christus? Aber ich bin der Mensch, der ans Leiden gewöhnt ist!
Haltet ihr mich denn nicht für einen von Gott Geschlagenen? Opfere ich mich
nicht, weil ich mich opfern will, um durch mein Opfer euch zu heilen? Auf!
Schlag zu! Schau, ich fürchte mich nicht, und auch du sollst dich nicht
fürchten. Denn ich bin der Unschuldige und fürchte das Gericht Gottes nicht;
und wenn ich meinen Hals deinem Messer darbiete, erfülle ich damit den Willen
Gottes und ziehe nur meine Stunde etwas vor, zu eurem Wohl. Auch die Stunde
meiner Geburt habe ich aus Liebe zu euch vorverlegt, um euch früher die Zeit
des Friedens zu schenken. Aber ihr macht aus dieser meiner liebenden Sorge
eine Waffe der Verneinung... Keine Angst! Ich rufe weder die Strafe Kains noch
die Blitze Gottes auf dich herab. Ich bete für dich. Ich liebe dich. Sonst
nichts. Bin ich zu groß für deine Menschenhand? Ja, so ist es! Der Mensch
könnte Gott nicht schlagen, wenn Gott sich nicht freiwillig in die Hände des
Menschen geben würde. So werde ich also vor dir niederknien. Der Menschensohn
kniet zu deinen Füßen. Töte ihn also!»
Jesus ist tatsächlich
niedergekniet und reicht seinem Verfolger das Messer, das er an der Klinge
hält. Doch der Mann weicht zurück und murmelt: «Nein! Nein!»
«Auf! Nur einen Augenblick des
Mutes... und du wirst bekannter sein als Jael und Judith. Sieh, ich bete für
dich. Isaias sagt es: "... und er betete für die Sünder." Du kommst noch
nicht? Warum weichst du zurück? Ah! Vielleicht fürchtest du, nicht zu sehen,
wie ein Gott stirbt. Nun, ich komme zum Feuer. Das Feuer fehlt bei einem Opfer
nie. Es gehört dazu. Nun siehst du mich gut.» Jesus ist beim Feuer
niedergekniet.
«Schau mich nicht an! Schau mich
nicht an! Oh! Wohin soll ich fliehen, um deinen Blick nicht sehen zu müssen?»
schreit der Mann.
«Wen? Wen und was willst du nicht
sehen?»
«Dich... und mein Verbrechen.
Wahrlich, meine Schuld steht mir vor Augen! Wohin, wohin soll ich fliehen?»
Der Mann ist außer sich vor Entsetzen.
«An mein Herz, Sohn! Hier, in
diesen Armen, hören die Schrecken und Ängste auf. Hier ist Frieden. Komm!
Komm! Mache mich glücklich!» Jesus ist aufgestanden und streckt ihm die Arme
entgegen. Zwischen beiden ist das Feuer. Jesus erstrahlt im Widerschein der
Flammen.
Der Mann fällt auf die Knie,
bedeckt sein Antlitz und schreit: «Habe Mitleid mit mir, o Gott! Erbarme dich
meiner! Tilge meine Sünde! Ich wollte deinen Christus töten! Barmherzigkeit!
Ach, es kann keine Barmherzigkeit geben für ein solches Verbrechen! Ich bin
verflucht!» Er weint, das Gesicht am Boden, von Schluchzen geschüttelt, und
stöhnt: «Barmherzigkeit!» und verwünscht: «Verfluchte!»
Jesus geht um das Feuer herum,
neigt sich zu ihm, berührt seinen Kopf und sagt: «Verfluche sie nicht, die
dich auf Abwege geführt haben, denn
184
sie haben dir die größte Wohltat
verschafft: Daß ich zu dir spreche. Siehst du. Daß ich dich nun so in meinen
Armen halte.»
Jesus hat den Mann an den
Schultern gefaßt, ihn aufgerichtet, sich selbst auf den Boden gesetzt und ihn
an sein Herz gezogen. Das Weinen des Mannes ist nun weniger verzweifelt, aber
so reinigend! Jesus streichelt ihm das dunkle Haar und wartet, bis er sich
beruhigt.
Schließlich hebt der Mann den
Kopf und stöhnt: «Verzeihe mir!» Sein Antlitz ist wie verwandelt.
Jesus neigt sich zu ihm und küßt
ihn auf die Stirn. Der Mann wirft ihm die Arme um den Hals, legt seinen Kopf
auf die Schulter Jesu, weint und will erzählen. Er will berichten, wie man ihm
das Verbrechen suggeriert hat. Aber Jesus verbietet es ihm mit den Worten:
«Schweige! Schweige! Ich weiß alles. Als du hereingekommen bist, habe ich dich
als den erkannt, der du bist, und wußte, was du im Begriff warst zu tun. Ich
hätte weggehen und dir entfliehen können. Doch ich bin geblieben, um dich zu
retten. Du bist gerettet. Die Vergangenheit ist tot. Denk nicht mehr daran.»
«Und... du traust mir? Und wenn
ich wieder sündigen würde?»
«Nein, du wirst nicht mehr
sündigen. Ich weiß es. Du bist geheilt.»
«Ja, ich bin es. Doch die anderen
sind so verschlagen. Schicke mich nicht zu ihnen zurück.»
«Wohin willst du gehen, wo sie
nicht sind?»
«Mit dir. Nach Ephraim. Wenn du
in meinem Herzen liest, wirst du sehen, daß es keine Falle ist, die ich dir
stelle, sondern nur die Bitte um Schutz.
«Ich weiß es. Komm. Doch ich
mache dich darauf aufmerksam, daß Judas von Kerioth dort ist, der sich an das
Synedrium verkauft hat und der Verräter des Christus ist.»
«Göttliche Barmherzigkeit! Auch
das weißt du?» Die Überraschung hat ihren Höhepunkt erreicht.
«Ich weiß alles. Er meint, ich
wüßte nichts. Aber ich weiß alles. Und ich weiß auch, daß du ganz bekehrt bist
und nicht mit Judas oder einem anderen wie ihm sprechen wirst. Aber bedenke:
Wenn Judas seinen Meister verraten kann, was wird er dann nicht erst tun, um
dir zu schaden?»
Der Mann denkt lange nach. Dann
sagt er: «Das macht nichts! Wenn du mich nicht fortschickst, bleibe ich bei
dir. Wenigstens einige Zeit. Bis Passah. Bis du dich mit deinen Jüngern
triffst. Dann werde ich mich ihnen anschließen. Oh, wenn es wahr ist, daß du
mir verziehen hast, dann schicke mich nicht fort!»
«Ich schicke dich nicht fort. Nun
wollen wir zu dem Blätterhaufen dort gehen und den Morgen abwarten. Bei
Sonnenaufgang gehen wir nach Ephraim. Wir werden sagen, daß der Zufall uns
zusammengeführt hat und daß du nun zu uns gehörst. Das ist die Wahrheit.»
«Ja, es ist die Wahrheit. Am
Morgen werden meine Kleider trocken sein, und ich werde dir dein Gewand
zurückgeben.»
185
«Nein... Laß die Kleider hier.
Sie sind ein Symbol. Der Mann, der seine Vergangenheit ablegt und das neue
Gewand anlegt. In der alten Zeit sang die Mutter des Samuel in ihrer Freude:
"Der Herr macht tot und lebendig, er führt ins Totenreich hinab und herauf."
Du bist gestorben und zu neuem Leben erstanden. Du kommst vom Reich der Toten
zum wahren Leben. Laß die Kleider, die die Gräber voller Unrat berührt haben.
Und lebe! Lebe für deine wahre Ehre: Gott in Gerechtigkeit zu dienen und ihn
auf ewig zu besitzen.»
Sie setzen sich in die Nische, in
der die Blätter aufgehäuft sind, und bald wird es still. Denn der Mann schläft
ein, den müden Kopf an den Arm Jesu gelehnt; und dieser betet wieder.
... Ein schöner Frühlingstag ist
angebrochen, als sie auf dem Weg entlang dem Bach vor dem Haus der Maria des
Jakob ankommen. Der Bach wird nach dem Wolkenbruch nun wieder klar und das
angestiegene Wasser läßt ihn viel lauter rauschen. Er glitzert in der Sonne
zwischen den noch regennassen Ufern.
Petrus, der an der Tür steht,
schreit auf und läuft ihnen entgegen. Er stürzt sich auf Jesus, der sich ganz
in seinen Mantel gehüllt hat, um ihn zu umarmen, und sagt: «Oh, mein
gesegneter Meister! Welch traurigen Sabbat hast du mich verbringen lassen! Ich
konnte mich nicht entschließen, wieder aufzubrechen, ohne dich vorher gesehen
zu haben. Es wäre mir die ganze Woche nichts Rechtes eingefallen, wenn ich mit
der Ungewißheit im Herzen und ohne deinen Abschiedsgruß hätte gehen müssen.»
Jesus küßt ihn, ohne den Mantel
abzulegen. Petrus ist so in die Betrachtung seines Meisters vertieft, daß er
den Fremden, der ihn begleitet, gar nicht bemerkt. Doch inzwischen sind auch
die anderen herbeigelaufen, und Judas von Kerioth schreit: «Du, Samuel!»
«Ich. Das Reich Gottes steht
allen in Israel offen. Ich habe es betreten», sagt der Mann bestimmt.
Judas lacht, ein sonderbares
Lachen, sagt aber nichts.
Die Aufmerksamkeit aller wendet
sich nun dem Neuankömmling zu, und Petrus will wissen: «Wer ist das?»
«Ein neuer Jünger. Wir sind uns
zufällig begegnet, das heißt, Gott hat uns zusammentreffen lassen, und ich
habe ihn als einen von meinem Vater Gesandten aufgenommen. Und ihr sollt es
ebenso machen. Und da es eine große Freude ist, wenn jemand Anteil am großen
Reich des Himmels erhält, legt Taschen und Mäntel ab, ihr, die ihr zur Abreise
bereit seid. Wir wollen bis morgen beisammen bleiben. Nun laß mich gehen,
Simon; denn ich habe ihm mein Gewand gegeben, und die Morgenluft ist beißend
kalt, wenn ich hier stehenbleibe.»
«Ach, es ist mir gleich so
vorgekommen! Du wirst krank werden, Meister, wenn du solche Sachen machst!»
186
«Ich wollte nicht, aber er
wollte», entschuldigt sich der Mann.
«Ja, er wurde von einem Erdrutsch
erfaßt und konnte sich durch seinen Willen retten. Damit die Erinnerung an den
schrecklichen Augenblick ihn nicht weiter belastet und er ohne Unreinheit zu
uns kommt, habe ich darauf bestanden, daß er seine schmutzigen, zerrissenen
Kleider dort zurückläßt, wo wir uns begegnet sind, und habe ihn mit meinem
Gewand bekleidet», sagt Jesus und schaut Judas Iskariot an, der wieder so
eigenartig lacht wie am Anfang und als Jesus sagte, daß es eine große Freude
sei, wenn jemand Anteil am Himmelreich erhält. Dann geht Jesus rasch ins Haus,
um sich umzukleiden.
Die anderen umringen den
Neuankömmling und heißen ihn mit dem Friedensgruß willkommen.
617. WAS IN GALILÄA UND BESONDERS
IN NAZARETH GESCHIEHT
«Und ich sage euch, ihr seid alle
töricht, solche Dinge zu glauben. Töricht seid ihr und unwissender als die
Eunuchen, die nicht einmal die Regeln des Instinktes kennen, verstümmelt wie
sie sind. Durch die Stadt laufen Männer, die dem Meister fluchen, und andere
bringen Befehle, die unmöglich, weiß Gott, unmöglich von ihm stammen können!
Ihr kennt ihn nicht. Aber ich kenne ihn. Und ich kann nicht glauben, daß er
sich so verändert hat. Sollen sie herumlaufen! Ihr sagt, sie seien seine
Jünger? Wer hat sie denn jemals bei ihm gesehen? Ihr sagt, die Rabbis und die
Pharisäer hätten seine Sünden aufgezählt? Und wer hat sie gesehen, seine
Sünden? Habt ihr ihn je über schmutzige Dinge reden gehört, ihn? Habt ihr ihn
je bei einer Sünde ertappt? Also! Und glaubt ihr, daß Gott ihn so große Werke
vollbringen ließe, wenn er ein Sünder wäre? Dumm, sage ich, dumm seid ihr,
schwer von Begriff und töricht wie Bauern, die zum erstenmal einen Komödianten
auf dem Marktplatz sehen und alles für wahr halten, was er ihnen vorspielt! So
seid ihr. Seht ob die, die weise sind und einen wachen Verstand haben, sich
von den Worten der falschen Jünger verführen lassen, von den wahren Feinden
des Unschuldigen, unseres Jesus, den ihr nicht als Sohn der Stadt verdient!
Seht, ob Johanna des Chuza – he! aber was sage ich! – die Frau des Verwalters
des Herodes, die Prinzessin Johanna, sich von Maria abwendet! Seht, ob... Ist
es überhaupt gut, daß ich es euch sage? Aber ja! Es ist gut, denn ich sage es
nicht, um nur zu reden, sondern um euch alle zu überzeugen. Habt ihr im
vergangenen Monat den prächtigen Wagen gesehen, der ins Dorf gekommen ist und
vor dem Haus Marias gehalten hat? Könnt ihr euch noch daran erinnern? Der
Wagen, der einen Vorhang hatte, so schön wie ein
187
Palast ... Und wißt ihr, wer
darin saß und dann ausgestiegen ist, um sich vor Maria niederzuwerfen?
Lazarus, der Sohn des Theophilus, Lazarus von Bethanien, versteht ihr? Der
Sohn der höchsten Amtsperson von Syrien, des vornehmen Theophilus, der mit
Eucheria vom Stamm Juda aus dem Geschlecht Davids vermählt war! Der gute
Freund Jesu. Lazarus, der reichste und gelehrteste Mann in Israel, sowohl was
unsere Geschichte betrifft, als auch die der ganzen Welt. Der Freund der
Römer. Der Wohltäter aller Armen. Und endlich der Mann, der von den Toten
auferweckt wurde, nachdem er vier Tage im Grab gelegen hatte. Hat Lazarus sich
vielleicht von Jesus abgewandt und dem Synedrium recht gegeben? Ihr sagt, daß
er ihm treu geblieben ist, weil Jesus ihn auferweckt hat. O nein, nicht
deshalb, sondern weil er genau weiß, wer Christus, wer Jesus ist. Und wißt
ihr, was er zu Maria gesagt hat? Daß sie sich bereit halten solle, denn er
würde sie nach Judäa begleiten. Versteht ihr? Er! Lazarus! Als ob er der
Diener Marias wäre! Ich weiß es, denn ich war dort, als er hereinkam und sich
zu ihren Füßen niederwarf, auf die einfachen Ziegelsteine des Kämmerchens. Er,
gekleidet wie Salomon, an Teppiche gewöhnt, dort am Boden, um den Saum des
Kleides unserer Frau zu küssen und ihr zu sagen: "Ich grüße dich, o Maria,
Mutter meines Herrn. Ich, dein Diener, der letzte der Diener deines Sohnes,
komme, um dir von ihm zu erzählen und deinen Befehlen zu gehorchen." Versteht
ihr? Ich... ich war so gerührt... und als er auch mich grüßte und mich "Bruder
im Herrn" nannte, da hat es mir die Sprache verschlagen. Kein Wort habe ich
mehr herausgebracht. Doch Lazarus hat verstanden, denn er ist intelligent. Er
hat im Bett des Joseph geschlafen und die Diener nach Sephoris
vorausgeschickt, damit sie ihn dort erwarten. Denn er war auf dem Weg zu
seinen Besitzungen in Antiochia. Und er forderte die Frauen auf, sich
bereitzuhalten, da er am Ende des Monats wieder vorbeikommen und sie mitnehmen
würde, um ihnen die Mühen der Reise zu ersparen. Und Johanna wird sich mit
ihrem Wagen der Karawane anschließen, um die Jüngerinnen von Kapharnaum und
Bethsaida mitzunehmen. Und all dies sagt euch nichts?»
Endlich holt der gute Alphäus der
Sara wieder Luft. Er steht mitten auf dem Platz und ist von einer Gruppe
umringt. Aser und Ismael, sowie die beiden Vettern Jesu, Simon und Joseph –
Simon offener und Joseph zurückhaltender – helfen ihm und stimmen ihm in allem
zu.
Joseph sagt: «Jesus ist kein
Bastard. Wenn er etwas mitteilen will, so hat er hier genügend Verwandte, die
bereit sind, seine Botschafter zu sein. Er hat getreue und einflußreiche
Jünger wie Lazarus. Lazarus hat nichts von dem gesagt, was die anderen
erzählen.»
«Und er hat auch uns. Zuerst
waren wir Eseltreiber und sogar Esel, wie unsere Vierbeiner. Aber nun sind wir
seine Jünger, und auch wir sind imstande zu sagen: "Tut dies oder jenes"»,
bemerkt Ismael.
188
«Aber die Verurteilung, die dort
an der Türe der Synagoge angeschlagen ist, wurde von einem Boten des
Synedriums gebracht, und sie trägt den Stempel des Tempels», wenden manche
ein.
«Das ist wahr. Aber was macht
das? Wir sind in ganz Israel dafür bekannt, daß wir das Synedrium als das
kennen, was es wirklich ist, und wir werden dafür verachtet, als ob nicht viel
Gutes an uns wäre. Sollen wir ausgerechnet hierin den Tempel für weise halten?
Kennen wir denn die Schriftgelehrten, die Pharisäer und die Oberhäupter der
Priesterschaft nicht mehr?» entgegnet Alphäus.
«Das ist wahr. Alphäus hat recht.
Ich habe beschlossen, nach Jerusalern zu gehen, um von den wahren Freunden zu
erfahren, wie die Dinge stehen. Gleich morgen werde ich aufbrechen», sagt
Joseph des Alphäus.
«Und wirst du dort bleiben?»
«Nein, ich werde zurückkommen,
und dann an Passah wieder hinaufgehen. Ich kann nicht lange von zu Hause
fortbleiben. Es ist eine Mühe, die ich auf mich nehme. Ich bin das Haupt der
Familie, und ich bin auch dafür verantwortlich, daß Jesus in Judäa war. Ich
habe darauf bestanden, daß er hingeht. Der Mensch kann in seinem Urteil irren.
Ich habe geglaubt, es wäre gut für ihn. Stattdessen... Gott möge mir
verzeihen! Aber ich muß wenigstens aus der Nähe die Folgen meines Rates
beobachten, um meinem Bruder zu helfen», sagt in seiner langsamen und
würdevollen Sprechweise Joseph des Alphäus.
«Früher hast du nicht so geredet.
Aber auch dich hat die Freundschaft der Großen verführt. Dein Blick ist
umnebelt», sagt ein Nazarener.
«Nicht die Freundschaft der
Großen verführt mich, Eliachim. Es ist das Verhalten meines Bruders, das mich
überzeugt. Wenn ich gefehlt habe und jetzt mein Unrecht einsehe, so zeige ich
damit, daß ich ein gerechter Mensch bin. Denn irren ist menschlich, aber
Starrsinn ist tierisch.»
«Und du meinst, daß Lazarus
wirklich kommen wird? Oh, wir wollen ihn sehen! Wie ist einer, der von den
Toten zurückkehrt? Er wird verträumt sein, wie erschreckt. Was sagt er von
seinem Aufenthalt bei den Toten?» wird Alphäus der Sara von mehreren Seiten
gefragt.
«Er ist wie ich und ihr! Heiter,
lebhaft, ruhig... Er spricht nicht vom Jenseits. Es ist, als ob er sich nicht
erinnern würde. Aber er erinnert sich an seinen Todeskampf.»
«Warum hast du es uns denn nicht
wissen lassen, daß er im Dorf war?»
«Nun, ihr hättet sicher das Haus
überfallen. Auch ich habe mich zurückgezogen. Etwas Anstand ist immer
angebracht, nicht wahr?»
«Aber wenn er zurückkommt, werden
wir ihn doch sehen können? Sage uns Bescheid. Du wirst ja, wie üblich, der
Hüter des Hauses Marias sein.»
«Gewiß! Ich habe das Glück, in
ihrer Nähe zu sein. Aber ich werde niemandem Bescheid sagen. Kümmert euch
selbst darum. Den Wagen sieht
189
man ja, und Nazareth ist nicht
Antiochia und nicht einmal Jerusalem, daß ein so großes Gefährt unbemerkt
bleiben könnte. Stellt eine Wache auf... helft euch selbst. Aber das ist nicht
wichtig. Sorgt vielmehr dafür, daß wenigstens seine Stadt nicht als töricht
angesehen wird, weil sie den Worten der Feinde unseres Jesus glaubt. Glaubt
ihnen nicht, glaubt nicht! Keinem, der ihn einen Satan nennt, und keinem, der
euch in seinem Namen aufwiegelt. Eines Tages würdet ihr es bereuen. Wenn dann
das übrige Galiläa in die Falle geht und die Unwahrheiten glaubt, dann ist das
seine Sache. Lebt wohl. Ich gehe jetzt, denn es wird Abend...» Und er geht
zufrieden fort, weil er Jesus verteidigt hat.
Die anderen bleiben und
diskutieren weiter. Und obgleich sie in zwei Lager geteilt sind und das
größere leider das der Leichtgläubigen ist, gelingt es den wenigen Freunden
des Christus doch, ihren Vorschlag durchzusetzen: man wird abwarten, nichts
unternehmen, die Verleumdung erst dann glauben und die Aufforderung zur
Rebellion erst dann annehmen, wenn auch die anderen Städte in Galiläa es tun.
«Denn diese, schlauer als Nazareth, lachen dem falschen Boten ins Gesicht»,
sagt der Jünger Aser.
618. WAS IN SAMARIA UND BEI DEN
RÖMERINNEN GESCHIEHT
Das junge Grün der Bäume, die in
doppelter Reihe entlang den Hausmauern die vier Seiten des Hauptplatzes von
Sichern säumen und eine Art Galerie bilden, sorgt für eine frühlingshafte
Note. Die Sonne spielt mit den zarten Blättern der Platanen und zeichnet eine
Stickerei von Licht und Schatten auf den Boden. Der Brunnen in der Mitte des
Platzes gleicht einer Silberplatte im Sonnenschein.
Leute stehen hier und da in
Gruppen herum und besprechen ihre Angelegenheiten. Nun betreten einige Männer,
allem Anschein nach Fremde, den Platz, blicken um sich und gehen dann auf die
am nächsten stehende Gruppe zu. Alle fragen sich, wer diese Männer wohl sind.
Sie grüßen und werden gegrüßt... mit Verwunderung. Doch als sie sagen: «Wir
sind Jünger des Meisters von Nazareth», verfliegt jedes Mißtrauen, und einige
entfernen sich, um den anderen Gruppen Bescheid zu geben, während die
Dagebliebenen fragen: «Ist er es, der euch schickt?»
«Er ist es. Eine sehr geheime
Mission. Der Rabbi ist in großer Gefahr. Niemand liebt ihn mehr in Israel, und
er, der so gut ist, bittet, daß wenigstens ihr ihm treu bleibt.»
«Aber das wollen wir ja! Was
sollen wir tun? Was will er von uns?»
«Oh, er will nur Liebe. Denn er
vertraut zu sehr auf den Schutz Gottes. Und das bei all dem, was man in Israel
sagt! Wißt ihr denn nicht, daß
190
man ihn anklagt, mit dem Teufel
im Bund zu stehen und einen Aufstand vorzubereiten? Wißt ihr, was das
bedeutet? Repressalien der Römer, gegen uns alle. Wir, die wir schon so
unglücklich sind, sollen noch mehr geschlagen werden! Und gleichzeitig werden
wir von den Heiligen unseres Tempels verurteilt! Gewiß werden die Römer...
Auch zu eurem Besten solltet ihr handeln, ihn überzeugen, daß er sich
verteidigen muß; ihr müßt ihn verteidigen und es beinahe, nein, nicht nur
beinahe, unmöglich machen, daß er gefangengenommen wird und uns schadet, ohne
es zu wollen. Ihr müßt ihn überreden, sich auf den Garizim zurückzuziehen.
Dort, wo er sich jetzt befindet, ist er noch zu sehr im Licht der
Öffentlichkeit und kann weder den Zorn des Synedriums noch den Argwohn der
Römer besänftigen. Der Garizim bietet Asyl. Es ist sinnlos, wenn wir es ihm
sagen. Wenn wir es ihm sagen, wird er uns fluchen, weil wir ihm zur Feigheit
raten. Aber es ist nicht so. Es ist nur Liebe und Klugheit. Wir können nicht
sprechen. Aber ihr könnt es! Er liebt euch. Er hat schon eure Gegend allen
anderen vorgezogen. Bereitet euch also darauf vor, ihn aufzunehmen. Dann
werdet ihr wenigstens mit Sicherheit wissen, ob er euch liebt oder nicht.
Sollte er eure Hilfe ablehnen, wäre das ein Zeichen dafür, daß er euch nicht
liebt, und dann wäre es auch besser, wenn er anderswo hinginge; denn, glaubt
uns – wir sagen es mit Schmerzen, da wir ihn lieben: seine Anwesenheit ist
eine Gefahr für jene, die ihm Gastfreundschaft gewähren. Ihr seid die Besten
von allen und achtet der Gefahren nicht. Aber es ist nur gerecht, daß ihr das
Risiko römischer Repressalien erst dann auf euch nehmt, wenn ihr eure Liebe
erwidert seht. Wir geben euch diese Ratschläge zum Wohl aller.»
«Ihr habt recht. Wir werden tun,
was ihr sagt. Wir werden zu ihm gehen ...»
«Oh, seid vorsichtig! Er darf
nicht merken, daß wir euch überredet haben!»
«Keine Sorge! Fürchtet nicht. Wir
wissen schon, wie wir es anstellen werden. Sicher! Wir werden beweisen, daß
die verachteten Samariter hundert, ja tausend Juden und Galiläer aufwiegen,
wenn es darum geht, Christus zu verteidigen. Kommt in unsere Häuser, ihr Boten
des Herrn. Es wird sein, wie wenn er selbst käme! Schon so lange sehnt sich
Samaria danach, von den Dienern Gottes geliebt zu werden!»
Sie entfernen sich. In ihrer
Mitte führen sie wie im Triumph die Männer – ich irre mich sicher nicht, wenn
ich glaube, daß sie vom Synedrium geschickt sind – und sagen: «Wir sehen, daß
er uns liebt, denn es ist in wenigen Tagen schon die zweite Gruppe von
Jüngern, die er uns schickt. Wir haben gut daran getan, zu der ersten
freundlich zu sein. Und es ist auch recht, ihn zu lieben, wegen der kleinen
Kinder der toten Frau! Er kennt uns jetzt...»
Sie gehen glücklich fort.
191
Ganz Ephraim ist auf den Straßen,
um dem ungewöhnlichen Schauspiel einer Kolonne römischer Wagen, die durch das
Land zieht, beizuwohnen. Es sind viele Wagen und von Sklaven begleitete
geschlossene Sänften, denen Legionäre vorausgehen und nachfolgen. Die Leute
verständigen sich durch Zeichen und flüstern miteinander. Der Zug, der nun die
Straße erreicht hat, die nach Bethel und Rama abzweigt, teilt sich in zwei
Teile. Ein Wagen und eine Sänfte bleiben mit einer Eskorte von Bewaffneten
zurück, während die übrigen weiterziehen. Die Vorhänge der Sänfte öffnen sich
einen Augenblick, und eine weiße, juwelengeschmückte Frauenhand gibt dem
Aufseher der Sklaven ein Zeichen heranzukommen. Der Mann gehorcht schweigend
und hört zu. Dann nähert er sich einer Gruppe neugieriger Frauen und fragt:
«Wo ist der Rabbi von Nazareth ?»
«In dem Haus dort. Aber um diese
Zeit ist er gewöhnlich am Bach. Dort bei den Weiden, wo die Pappel steht, ist
eine kleine Insel. Auf dieser verbringt er oft ganze Tage im Gebet...»
Der Mann kommt zurück und
berichtet. Die Sänfte setzt sich wieder in Bewegung. Der Wagen hingegen bleibt
stehen. Die Soldaten folgen der Sänfte bis ans Ufer des Baches und sperren den
Pfad ab. Nur die Sänfte setzt ihren Weg fort am Wasser entlang bis zur Höhe
des Inselchens, das mit fortschreitender Jahreszeit immer dichter bewachsen
ist: ein undurchdringliches grünes Gestrüpp, das von der silbernen Baumkrone
der Pappel überragt wird. Ein Befehl, und die Sänfte bewegt sich über den
kleinen Bach, den die Träger mit hochgehaltenen Kleidern durchwaten. Claudia
Procula steigt mit einer jungen Freigelassenen heraus und gibt einem schwarzen
Sklaven, der die Sänfte begleitet, ein Zeichen, ihr zu folgen. Die anderen
kehren ans Ufer zurück.
Claudia geht nun mit den beiden
über das Inselchen und direkt zu der Pappel, die dort in der Mitte zum Himmel
ragt. Das hohe Gras schluckt das Geräusch der Schritte. So erreicht sie die
Stelle, an der Jesus in Gedanken versunken am Fuß des Baumes sitzt. Nachdem
sie mit einer gebieterischen Geste den beiden Getreuen befohlen hat
stehenzubleiben, ruft sie Jesus und geht allein auf ihn zu.
Jesus hebt den Kopf und steht
sofort auf, als er die Frau sieht. Er grüßt sie, bleibt aber vor dem Stamm der
Pappel stehen, und scheint weder überrascht noch verärgert zu sein über die
Störung.
Nach der Begrüßung beginnt
Claudia ohne Umschweife: «Meister, es sind einige Leute zu mir gekommen...
besser gesagt, zu Pontius. Ich will keine langen Reden halten. Aber da ich
dich bewundere, spreche ich zu dir, wie ich zu Sokrates gesprochen hätte, wenn
ich zu seiner Zeit gelebt hätte, oder zu einem anderen Tugendhaften, der
ungerecht verfolgt wird: "Ich kann nicht viel tun, aber was ich tun kann,
werde ich tun!" Vorläufig werde ich die nötigen Briefe schreiben, um dich zu
schützen und auch, um
192
dich mächtig zu machen. Auf
Thronen und anderen hohen Posten gibt es so viele Unwürdige ...»
«Domina, ich habe dich nicht um
Ehren und Schutz gebeten. Der wahre Gott möge dir deine guten Absichten
vergelten. Aber laß die Ehrungen und deinen Schutz denen zuteil werden, die
sie sehnsüchtig erstreben. Ich habe kein Verlangen danach.»
«Ah! Das ist es, was ich erhofft
habe! Du bist also wahrhaft der Gerechte. Ich habe es geahnt! Und die anderen
sind deine unwürdigen Verleumder! Sie sind zu uns gekommen und...»
«Es ist nicht nötig, daß du
sprichst, Domina. Ich weiß alles.»
«Weißt du auch, daß man sagt, du
hättest deiner Sünden wegen alle Macht verloren und müßtest deshalb wie ein
Ausgestoßener hier leben?»
«Auch das weiß ich. Und ich weiß
auch, daß es dir leichter gefallen ist, letztere Lüge zu glauben. Denn dein
heidnischer Verstand hat die Fähigkeit, die menschliche Macht oder die
menschliche Gemeinheit zu erkennen, aber er kann noch nicht begreifen, was die
Macht des Geistes ist. Du bist... enttäuscht von deinen Göttern, die in euren
Religionen in fortwährendem Streit miteinander liegen und deren so
unbeständige Macht den Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten zwischen ihnen
unterworfen ist. Und du meinst, beim wahren Gott wäre es ebenso. Doch es ist
nicht so. Ich bin immer noch derselbe wie damals, als du mich das erste Mal
einen Aussätzigen heilen sahst. Und ich werde derselbe sein, wenn es den
Anschein hat, daß ich endgültig vernichtet bin. Dieser dort ist dein stummer
Sklave, nicht wahr?»
«Ja, Meister.»
«Laß ihn näherkommen.»
Claudia stößt einen Ruf aus, und
der Mann nähert sich und wirft sich zwischen Jesus und seiner Herrin zu Boden.
Sein armes Herz eines Wilden weiß nicht, wen es mehr verehren soll. Er
fürchtet, daß er bestraft wird, wenn er den Christus mehr als die Herrin
verehrt. Doch ungeachtet dessen wiederholt er die Geste von Caesarea, nachdem
er zuerst Claudia einen bittenden Blick zugeworfen hat: er nimmt den bloßen
Fuß Jesu in seine großen, schwarzen Hände, wirft sich mit dem Gesicht zu
Boden, und stellt ihn auf seinen Kopf.
«Domina, höre. Ist es deiner
Meinung nach leichter, ein Reich zu erobern oder einem Menschen einen
Körperteil, der nicht mehr vorhanden ist, zurückzugeben?»
«Ein Reich zu erobern, Meister.
Das Glück hilft den Kühnen. Aber niemand – außer dir allein – kann einen Toten
wiedererwecken und einem Blinden neue Augen schenken.»
«Und warum?»
«Weil... weil Gott alles vermag.»
«Dann bin ich also Gott für
dich?»
193
«Ja... oder wenigstens... Gott
ist mit dir.»
«Kann Gott mit einem Übeltäter
sein? Ich spreche vom wahren Gott, nicht von euren Götzen, die nur in der
Einbildung dessen existieren, der etwas sucht, dessen Existenz er zwar fühlt,
von dem er aber nicht weiß, was es ist, und der sich deshalb Gespenster
schafft, um seine Seele zu beruhigen ...»
«Nein ... ich würde sagen, nein.
Das ist nicht möglich. Auch unsere Priester verlieren ihre Macht, wenn sie
schuldig werden.»
«Welche Macht?»
«Nun... die Macht, in den Sternen
zu lesen und die Antworten der Opfer, den Flug und den Gesang der Vögel
auszulegen. Du weißt, die Wahrsager, die Haruspizes ...»
«Ich weiß. Ich weiß. Nun also?
Schau her. Und du, Mann, erhebe dein Haupt und öffne den Mund, den eine
grausame menschliche Macht einer Gabe Gottes beraubt hat. Durch den Willen des
wahren und einzigen Gottes, des Schöpfers vollkommener Körper, sollst du
wiederhaben, was der Mensch dir genommen hat.»
Jesus hat seinen weißen Finger in
den Mund des Stummen gelegt. Die neugierig gewordene Freigelassene kann sich
nicht länger zurückhalten und kommt näher und schaut. Claudia neigt sich weit
vor und beobachtet. Jesus nimmt den Finger heraus und ruft: «Sprich, und
benütze die wiedergeborene Zunge, um den wahren Gott zu loben.»
Und plötzlich, wie ein
Trompetenstoß aus einem bis dahin stummen Instrument, antwortet ihm ein
gutturaler, aber deutlicher Schrei: «Jesus!» Und der Mohr fällt zu Boden und
weint vor Freude. Er leckt, ja, er leckt wahrhaftig die bloßen Füße Jesu ab,
wie es ein dankbarer Hund machen würde.
«Habe ich meine Macht verloren,
Domina? Wer das behauptet, dem kannst du diese Antwort geben. Und du, steh auf
und sei gut, und denke immer daran, wie sehr ich dich geliebt habe. Du bist
immer in meinem Herzen gewesen, seit dem Tag in Caesarea. Und mit dir alle
deinesgleichen, die als eine Ware und geringer als wilde Tiere angesehen
werden, obwohl sie Menschen sind und dem Caesar durch ihre Empfängnis
gleich... Und vielleicht sind sie durch den guten Willen ihres Herzens sogar
besser... Du kannst dich zurückziehen, Domina. Es ist nichts weiter zu sagen.»
«Oh, doch! Ich habe noch etwas zu
sagen. Nämlich, daß ich gezweifelt habe... daß ich schmerzerfüllt beinahe an
das geglaubt habe, was man über dich sagte. Und nicht ich allein. Verzeih uns
allen, außer Valeria, die immer der gleichen Überzeugung war und darin
beständige Fortschritte macht. Und dann ist hier noch meine Gabe, die du
annehmen mußt: den Mann, der mir nun nicht mehr dienen kann, da ihm die
Sprache wiedergegeben ist, und mein Geld.»
194
«Nein, weder das eine, noch das
andere.»
«Du verzeihst mir also nicht?»
«Ich verzeihe auch jenen aus
meinem Volk, die doppelt schuldig sind, weil sie mich nicht als den
anerkennen, der ich bin. Und da sollte ich euch nicht verzeihen, die ihr
nichts wißt von einer Gotteserkenntnis? Nun gut. Ich habe gesagt, daß ich
weder den Mann noch das Geld will. Nun nehme ich beides und kaufe mit dem
einen die Freiheit des anderen. Ich gebe dir dein Geld zurück, denn ich kaufe
damit diesen Mann. Und ich kaufe ihn frei, um ihm die Freiheit zu schenken. Er
soll in sein Vaterland zurückkehren und dort verkünden, daß nun der auf Erden
weilt, der alle Menschen liebt, und sie um so mehr liebt, je unglücklicher sie
sind. Hier hast du deine Börse.»
«Nein, Meister, sie gehört dir.
Der Mann ist trotzdem frei. Er gehört mir, und ich habe ihn dir geschenkt. Du
läßt ihn frei. Dazu braucht es kein Geld.»
«Nun gut... Hast du einen Namen?»
fragt Jesus den Mann.
«Sie haben ihn zum Spott Calixtus
1) genannt. Doch als er Sklave wurde...»
«Das ist nicht wichtig. Behalte
den Namen und mache ihn wahr dadurch, daß deine Seele wunderschön wird. Geh
nun und sei glücklich, denn Gott hat dich gerettet.»
Gehen! Der Mohr wird nicht müde,
die Füße Jesu zu küssen und immer wieder zu sagen: «Jesus, Jesus.» Dann stellt
er noch einmal den Fuß Jesu auf seinen Kopf mit den Worten: «Du. Mein einziger
Herr.»
«Ich. Dein wahrer Vater. Domina,
du wirst dafür sorgen, daß er in seine Heimat zurückkehrt. Verwende das Geld
dafür, und den Rest soll er erhalten. Leb wohl, Domina. Und höre nie auf die
Stimmen der Finsternis. Sei gerecht und versuche, mich zu erkennen. Leb wohl,
Calixtus. Leb wohl, Frau.»
Jesus beendet die Unterredung,
indem er mit einem einzigen Sprung über den Bach setzt und auf dem der Sänfte
gegenüberliegenden Ufer zwischen Büschen, Weiden und Schilf verschwindet.
Claudia ruft die Sänftenträger
herbei und besteigt nachdenklich die Sänfte. Und wenn sie auch schweigt, so
reden doch die Freigelassene und der freigekaufte Mohr für zehn, und selbst
die Legionäre vergessen ihre steife Disziplin vor dem Wunder einer
wiedergeborenen Zunge. Claudia ist zu nachdenklich, um Schweigen zu gebieten.
Halb liegend, den Ellbogen in die Kissen und den Kopf in die Hand gestützt,
hört sie nichts. Sie ist in Gedanken versunken und merkt nicht einmal, daß die
Freigelassene nicht bei ihr ist, sondern wie eine Elster mit den
Sänftenträgern schwätzt,
___________
1) Calixtus = griechisch «der
Schönste»
195
während Calixtus mit den
Legionären redet, die zwar in Reihen marschieren, aber das dienstliche
Schweigen nicht einhalten. Zu groß ist die Erregung, um dies fertigzubringen!
Nun haben sie die Abzweigung nach
Bethel und Rama erreicht, und die Sänfte verläßt Ephraim, um sich wieder dem
Wagenzug anzuschließen.
619. JESUS UND DER MANN VON
JABNIA
Es müssen viele Tage vergangen
sein. Ich sage dies, weil das Korn, das bei den letzten Visionen noch kaum
eine Spanne hoch war, nach dem Regen und dem darauffolgenden schönen
Sonnenschein sehr gewachsen ist und bereits Ähren bildet. Ein leichter Wind
läßt die Stiele der noch zarten Halme wogen. Die Brise spielt auch mit dem
neuen Laub der frühen Obstbäume, deren Blüten kaum ganz abgefallen sind und
noch wie Schmetterlinge zu Boden flattern, und die nun ihre zarten,
hellglänzenden smaragdfarbenen Blättchen entfalten. Schön, wie alles, was rein
und neu ist! Etwas zurückhaltender sind die noch nackten, knotigen Weinstöcke.
Aber an den gewundenen, zwischen den Stöcken ineinander verschlungenen Reben,
haben die Knospen schon die sie umgebende dunkle Hülle gesprengt und zeigen,
obgleich noch geschlossen, den silbergrauen Flaum, der das Nestchen der
zukünftigen Blätter und neuen Schößlinge bildet. Die holzigen,
schlangengleichen Girlanden der Weinstöcke scheinen geschmeidiger und von
einer neuen Anmut. Die schon warme Sonne beginnt ihre Arbeit als Färberin und
Herstellerin pflanzlicher Düfte, und während sie alles mit lebhafteren Farben
bemalt, was erst gestern noch bleich war, wärmt sie und entlockt den Schollen,
den blühenden Wiesen, den Getreidefeldern, den Gemüse- und Obstgärten, den
Wäldern, den Mauern und der zum Trocknen aufgehängten Wäsche die
verschiedensten Düfte und vereinigt sie zu einer einzigen Geruchssymphonie.
Diese wird den ganzen Sommer dauern, um dann im gewaltigen Duft des Mostes in
den Fässern zu enden, wenn die gepreßten Trauben sich in Wein verwandeln.
Überall in den Zweigen singen die Vögel, während die Hammel und Widder in den
Herden sehnsüchtig blöken. Und das Singen der Männer an den Hängen. Und
lachende Kinderstimmen. Und das Lächeln der Frauen. Es ist Frühling. Die Natur
liebt. Und der Mensch freut sich über die Liebe in der Natur, die ihn morgen
reicher macht; und er genießt diese Liebe, die in diesem heiteren Erwachen
stärker und stärker wird. Und liebenswerter erscheint ihm seine Frau,
fürsorglicher erscheint der Gattin der Mann, und teurer erscheinen beiden die
Kinder, die ihnen heute Freude und Mühe bedeuten und ihnen morgen, in ihrem
Alter, noch immer Freude sein werden, aber auch Schutz und Hilfe der Betagten,
deren Kräfte nachlassen.
196
Jesus wandert durch die Felder,
die ansteigen oder abfallen, je nach der Beschaffenheit des Geländes. Da er
sein letztes wollenes Gewand Samuel gegeben hat, ist er in Linnen gekleidet.
Doch er hat einen leichten Mantel von lebhafter blauer Farbe über eine
Schulter geworfen, ihn locker um den Körper gewickelt, und hält ihn mit einem
Arm über der Brust zusammen. Der über den Arm gelegte Mantelzipfel flattert
leicht im sanften Wind, der über die Erde streift und in den Haaren seines
unbedeckten Hauptes spielt, die in der Sonne glänzen. Jesus geht weiter, und
wenn er Kindern begegnet, neigt er sich zu ihnen, um ihre unschuldigen
Köpfchen zu streicheln, ihre kleinen Vertraulichkeiten anzuhören und zu
bewundern, was sie ihm zeigen, als ob es ein Schatz wäre.
Ein kleines Mädchen, das beim
Laufen immer wieder strauchelt – so klein ist es noch – und über sein zu
langes Kleidchen stolpert, das es vielleicht von einem vor ihm geborenen
Geschwisterchen geerbt hat, kommt mit einem seligen Lächeln, das die Augen
leuchten macht und die winzigen Zähnchen zwischen den rosa Lippen zeigt. Es
bringt einen Strauß Margeriten, einen großen Strauß, den es mit beiden Händen
hält, so viele Blumen, als so zarte und kleine Händchen nur halten können, und
reicht sie Jesus mit den Worten: «Nimm. Für dich. Für die Mama später. Ein
Kuß, hier!» Und dabei schlägt das Kind mit den Händchen, die nun frei sind, da
Jesus ihm mit Worten der Bewunderung und des Dankes den Strauß abgenommen hat,
auf sein Mündchen und reckt sich, mit zurückgelegtem Kopf, auf seinen nackten
Füßchen, bis es fast das Gleichgewicht verliert, in dem vergeblichen Versuch,
mit seinem winzigen Persönchen so das Antlitz Jesu zu erreichen. Dieser nimmt
es lächelnd auf den Arm und geht mit dem Kind, das wie ein Vöglein auf einem
hohen Baum sitzt, zu einer Gruppe von Frauen, die neue Leinwand ins klare
Wasser eines Baches tauchen, um sie dann zum Bleichen in der Sonne
auszubreiten.
Die über das Wasser gebeugten
Frauen stehen grüßend auf, und eine von ihnen sagt lächelnd: «Tamar hat dich
belästigt... Aber schon den ganzen Morgen pflückt sie Blumen in der geheimen
Hoffnung, dich vorübergehen zu sehen. Keine einzige hat sie mir geschenkt,
weil sie sie zuerst dir geben wollte.»
«Ich liebe diese Blumen mehr als
alle Schätze der Könige; denn sie sind unschuldig wie die Kinder und noch dazu
von einem Kind, das ebenso unschuldig ist wie die Blumen.» Jesus küßt das
Mädchen, stellt es auf den Boden und segnet es: «Die Gnade Gottes komme auf
dich herab.» Er grüßt die Frauen und setzt seinen Weg fort, wobei er die Grüße
der Bauern und Hirten auf den Äckern und Weiden erwidert.
Er scheint in Richtung der Ebene
zu gehen, auf die Seite, die nach Jericho führt. Doch dann dreht er um und
schlägt einen Feldweg ein, der wieder zu den Bergen nördlich von Ephraim
führt. Hier ist der günstig gelegene und vor den Nordwinden geschützte Boden
noch ertragreicher.
197
Der Weg zwischen zwei Äckern ist
auf der einen Seite von Obstbäumen in regelmäßigen Abständen gesäumt, und die
Ansätze der zukünftigen Früchte gleichen Perlen an den Ästen.
Eine von Norden nach Süden
herunterführende Straße kreuzt den Feldweg. Es muß eine ziemlich wichtige
Straße sein, denn an der Kreuzung befindet sich ein Meilenstein, wie die Römer
sie verwenden, mit der Inschrift auf der Nordseite: «Neapolis»; und unter
diesem Namen – der in lapidaren, großen lateinischen Leitern, stark wie die
Römer selbst, eingemeißelt ist – steht sehr viel kleiner und kaum in den
Granit geritzt: «Sichern»; auf der westlichen Seite steht: «Silo – Jerusalem»,
und auf der südlichen: «Jericho». Auf der Ostseite steht kein Name. Aber man
könnte sagen, wenn auch kein Name einer Stadt dort steht, so steht doch ein
Name menschlichen Unglücks dort. Denn am Boden, zwischen dem Meilenstein und
dem Graben, der wie bei allen römischen Straßen neben der Straße verläuft, um
in Regenzeiten das Wasser abzuleiten, liegt ein Mann; ein Häuflein Lumpen und
Knochen, vielleicht tot.
Jesus neigt sich über ihn, als er
ihn in dem durch den Frühjahrsregen hoch aufgeschossenen Gras des Rains
entdeckt, berührt ihn und ruft ihn: «Mann, was hast du?»
Ein Stöhnen ist die Antwort. Doch
das Bündel bewegt sich, dreht sich um, und ein eingefallenes, leichenblasses
Gesicht kommt zum Vorschein. Zwei müde, leidende und sehnsüchtige Augen
schauen erstaunt auf den, der sich über sein Elend geneigt hat. Der Mann
versucht, sich aufzusetzen, indem er seine abgemagerten Hände auf den Erdboden
stemmt; doch er ist so schwach, daß er es ohne die Hilfe Jesu nicht schaffen
würde.
Jesus hilft ihm und lehnt ihn mit
dem Rücken an den Meilenstein. Dann fragt er: «Was hast du? Bist du krank?»
«Ja.» Ein ganz schwaches Ja.
«Aber wie kannst du dich in einem
solchen Zustand allein auf eine Reise begeben? Hast du denn niemanden?»
Der Mann nickt. Aber er ist zu
schwach, um zu antworten.
Jesus blickt umher. Es ist
niemand auf den Feldern. Die Gegend ist ganz verlassen. Im Norden, fast auf
dem Rücken eines Hügels, eine Handvoll Häuser; im Westen, zwischen dem Grün
der Abhänge, das auf anderen Hügeln von Feldern in Wiesen und Wälder übergeht,
einige Hirten mit einer Herde unruhiger Ziegen. Jesus senkt seinen Blick auf
den Mann. Er fragt: «Glaubst du, bis zum Dorf gehen zu können, wenn ich dich
stütze?»
Der Mann schüttelt den Kopf, und
zwei Tränen rollen über seine Wangen, die so eingefallen und faltig sind wie
die eines alten Mannes, während der rabenschwarze Bart erkennen läßt, daß er
noch jung ist. Der Mann nimmt seine letzten Kräfte zusammen und sagt: «Sie
haben mich fortgejagt ... aus Angst vor dem Aussatz... Ich bin aber nicht...
und muß sterben ... vor
198
Hunger.» Er röchelt vor Schwäche.
Dann steckt er einen Finger in den Mund und nimmt einen grünlichen Brei
heraus: «Schau... ich habe Getreide gekaut... Aber es ist noch Gras.»
«Ich werde zu dem Hirten dort
gehen und dir lauwarme Milch bringen. Ich werde mich beeilen.» Und fast im
Laufschritt begibt sich Jesus zu der etwa zweihundert Meter höher gelegenen
Weide.
Er erreicht den Schäfer, spricht
mit ihm und zeigt in die Richtung, wo der Mann sich befindet. Der Hirte dreht
sich um und schaut. Er scheint unentschieden, ob er dem Wunsch Jesu nachkommen
soll. Dann entschließt er sich, nimmt das Holzschälchen, das wie bei allen
Hirten an seinem Gürtel hängt, und geht daran, eine Ziege zu melken.
Schließlich reicht er Jesus die volle Schale, und dieser trägt sie vorsichtig
den Hang hinunter, gefolgt von einem Hirtenbuben.
Nun ist er schon wieder bei dem
Verhungernden. Er kniet neben ihm nieder, legt einen Arm um seine Schultern,
um ihn zu stützen, und hält die Tasse mit der noch schäumenden Milch an seine
Lippen. Er läßt ihn nur kleine Schlücke trinken. Dann stellt er das
Milchnäpfchen auf den Boden und sagt: «Für den Augenblick ist es genug. Alles
auf einmal würde dir schaden. Dein Magen muß sich erst an die Milch gewöhnen,
die ich dir gegeben habe.»
Der Mann widerspricht nicht. Er
schließt die Augen und schweigt. Das Kind schaut ihn verwundert an.
Nach einiger Zeit reicht ihm
Jesus wieder die Schale. Diesmal für einen größeren Schluck. Und so fährt er
fort, mit immer kürzeren Pausen, bis die Milch zu Ende ist. Jesus gibt dem
Kind die Schale zurück und schickt es fort.
Langsam kehrt Leben in den Mann
zurück. Mit noch unsicheren Bewegungen versucht er, sich etwas in Ordnung zu
bringen, während er mit dankbarem Lächeln Jesus anblickt, der sich in seiner
Nähe ins Gras gesetzt hat. Er entschuldigt sich: «Ich stehle dir deine Zeit.»
«Das soll dich nicht beunruhigen.
Den Bruder zu lieben, kann niemals verlorene Zeit sein. Wenn du dich besser
fühlst, wollen wir miteinander sprechen.»
«Es geht mir besser. In meine
Glieder kehrt Wärme zurück, und die Augen... Ich habe schon befürchtet, hier
zu sterben... Meine armen Kinder! Ich hatte alle Hoffnung verloren... Und
dabei hatte ich bis zuletzt so sehr gehofft... ! Wenn du nicht gekommen
wärest, wäre ich gestorben... so... am Wegrand...»
«Das wäre sehr traurig gewesen.
Doch der Allerhöchste hat seinen Sohn gesehen und ist ihm zu Hilfe gekommen.
Ruhe dich nun etwas aus.»
Der Mann gehorcht. Nach einer
Weile öffnet er die Augen wieder und sagt: «Nun fühle ich mich neu belebt. Oh,
könnte ich doch nach Ephraim gehen!»
199
«Warum? Ist dort jemand, der auf
dich wartet? Bist du von dort?»
«Nein. Ich bin aus der Gegend von
Jabnia am Großen Meer. Doch ich bin am Ufer entlang nach Galiläa gegangen, bis
Caesarea. Von dort weiter nach Nazareth. Denn ich bin hier (er deutet auf den
Magen) krank. Es ist eine Krankheit, die niemand heilen kann und die mir die
Kraft nimmt, den Boden zu bearbeiten. Ich bin Witwer und habe fünf Kinder.
Einer aus unserer Gegend – denn ich bin in Gaza geboren als Sohn eines
Philisters und einer Syro-Phönizierin – einer der Unseren also, ein Jünger des
Rabbi von Galiläa, kam mit einem anderen zu uns, um uns von diesem Rabbi zu
erzählen. Auch ich habe ihn gehört. Und als ich so krank wurde, sagte ich mir:
"Ich bin Syrer und Philister. Für Israel Unrat. Doch Ermastheus hat gesagt,
daß der Rabbi von Galiläa ebenso gut wie mächtig ist. Und ich glaube es. Ich
werde zu ihm gehen." Und als die bessere Jahreszeit kam, ließ ich die Kinder
bei der Mutter meiner Frau, nahm meine wenigen Ersparnisse – denn viele waren
schon durch die Krankheit aufgebraucht – und ging den Rabbi suchen. Doch das
Geld schrumpft auf einer Reise schnell zusammen, besonders, wenn man nicht
alles essen kann... und in Herbergen bleiben muß wegen der Schmerzen, die
einen am Weitergehen hindern. In Sephoris habe ich den Esel verkauft, denn ich
hatte kein Geld mehr für mich selbst und um den Rabbi zu bezahlen. Ich dachte,
wenn ich gesund bin, werde ich unterwegs wieder alles essen können und rasch
nach Hause zurückkehren. Dort werde ich mit der Arbeit auf den eigenen und
fremden Feldern Geld verdienen... Aber der Rabbi ist weder in Nazareth noch in
Kapharnaum. Seine Mutter hat es mir gesagt. Sie sagte: "Er ist in Judäa. Suche
ihn bei Joseph von Sephoris in Bezetha oder in Gethsemane. Dort werden sie dir
sagen können, wo er ist." Also bin ich zu Fuß zurückgegangen. Und das Übel
wurde schlimmer... und das Geld immer weniger. In Jerusalem, dort, wo man mich
hingeschickt hatte, habe ich die Männer getroffen, aber nicht den Rabbi. Sie
sagten mir: "Oh, man hat ihn schon lange verjagt. Das Synedrium hat ihn
verflucht. Er ist geflohen, und wir wissen nicht, wohin." Ich fühlte mich
sterbenskrank, so wie heute. Schlimmer noch als heute. Hundertmal habe ich
nach ihm gefragt, in der Stadt und auf dem Land. Niemand wußte etwas. Einige
haben mit mir geweint. Viele haben mich geschlagen. Dann, eines Tages, als ich
gerade vor der Tempelmauer bettelte, hörte ich zwei Pharisäer sagen: "Nun, da
man weiß, daß Jesus von Nazareth in Ephraim ist..." Ich verlor keine Zeit und
kam, so schwach ich auch war, um Brot bettelnd, immer zerlumpter und von immer
elenderem Aussehen, bis hierher. Und da ich hier fremd bin, habe ich zuletzt
noch den Weg verfehlt... Heute bin ich von dort gekommen, von dem Dorf. Seit
zwei Tagen lutsche ich nur an wildem Fenchel, kaue Wurzeln und grünes
Getreide. Sie haben mich meiner Blässe wegen für einen Aussätzigen gehalten
und mit Steinwürfen vertrieben. Ich habe nur um Brot gebeten und daß man mir
den Weg nach
200
Ephraim weist. Und hier bin ich
zusammengebrochen... Aber ich möchte nach Ephraim gehen. Ich bin nun so nahe
am Ziel! Kann es denn möglich sein, daß ich es nicht erreiche? Ich glaube an
den Rabbi. Ich bin kein Israelit; aber auch Ermastheus war es nicht, und der
Rabbi hat ihn trotzdem geliebt. Ist es möglich, daß der Gott Israels mich so
bestraft, um sich für die Sünden derer zu rächen, die mich gezeugt haben?»
«Der wahre Gott ist Vater aller
Menschen. Er ist gerecht, aber gut. Und er belohnt alle, die glauben, und läßt
Unschuldige nicht fremde Schuld bezahlen. Aber warum hast du gesagt, du
hättest dich noch schlechter gefühlt als heute, als du hörtest, daß der
Aufenthalt des Rabbi unbekannt sei?»
«Ja, weil ich mir gesagt habe:
"Ich habe ihn verloren, bevor ich ihn gefunden habe."»
«Ach, deiner Gesundheit wegen.»
«Nein, nicht allein deswegen.
Ermastheus hatte gewisse Dinge von ihm erzählt, und mir schien es, daß ich
kein Unrat mehr gewesen wäre, wenn ich den Rabbi gekannt hätte.»
«Du glaubst also, daß er der
Messias ist?»
«Ich glaube es. Ich weiß nicht
recht, was der Messias ist, aber ich glaube, daß der Rabbi von Nazareth der
Sohn Gottes ist.»
Jesus lächelt verklärt, während
er fragt: «Und du bist sicher, daß er, der Sohn Gottes, dich erhören wird,
obwohl du unbeschnitten bist?»
«Oh, ich bin sicher, denn
Ermastheus hat es gesagt. Er sagte: "Er ist der Erlöser aller. Für ihn gibt es
weder Hebräer noch Götzendiener, sondern nur Geschöpfe, die er erlösen will;
denn dazu hat Gott der Herr ihn gesandt." Viele haben darüber gelacht. Ich
habe geglaubt. Wenn ich nur zu ihm sagen könnte: "Jesus, erbarme dich meiner."
Er würde mich erhören. Oh, wenn du von Ephraim bist, führe mich zu ihm.
Vielleicht bist du einer seiner Jünger ...»
Jesus lächelt immer mehr und gibt
ihm den Rat: «Versuche es, mich zu bitten, daß ich dich heile ...»
«Du bist gut, Mann. In deiner
Nähe empfinde ich einen großen Frieden. Ja, du bist gut wie... wie der Rabbi
selbst, und ganz gewiß hat er dir die Macht verliehen, Wunder zu wirken; denn
um so gut zu sein, wie du es bist, muß man sein Jünger sein. Alle, die mir
sagten, daß sie seine Jünger seien, waren gut zu mir. Aber sei nicht gekränkt,
wenn ich dir sage, daß du vielleicht den Leib heilen kannst, aber nicht die
Seele. Und ich möchte auch an der Seele geheilt werden... so wie Ermastheus.
Ein Gerechter werden. Und dies kann nur der Rabbi bewirken. Ich bin nicht nur
krank, sondern auch ein Sünder. Und ich will nicht am Körper gesund werden, um
dann eines Tages zusammen mit meiner Seele zu sterben. Ich will leben.
Ermastheus hat gesagt, daß der Rabbi das Leben der Seele ist, und daß die
Seele, die an ihn glaubt, auf ewig im Reich Gottes leben wird.
201
Führe mich zum Rabbi. Sei gut!
Warum lächelst du? Vielleicht denkst du, daß es kühn von mir ist, Heilung zu
verlangen, ohne einen Pfennig dafür geben zu können? Aber wenn ich geheilt
bin, kann ich wieder das Land bearbeiten. Ich habe herrliches Obst. Der Rabbi
soll kommen, wenn das Obst reif ist, und ich werde ihn mit meiner
Gastfreundschaft belohnen, so lange er nur will.»
«Wer hat dir denn gesagt, daß der
Rabbi Geld verlangt? Ermastheus?»
«Nein. Er sagte vielmehr, daß der
Rabbi Mitleid mit den Armen hat und ihnen als erster zu Hilfe kommt. Aber es
ist schließlich bei allen Ärzten so Brauch... bei allen...»
«Aber nicht bei ihm. Das
versichere ich dir. Und ich sage dir, wenn es dir gelingt, einen so starken
Glauben zu haben, daß du hier um das Wunder bittest, so wirst du es erlangen.»
«Sagst du die Wahrheit ... ? Bist
du dessen sicher? Nun, da du einer seiner Jünger bist, kannst du nicht lügen
und auch nicht irren. Und obgleich es mir leid tut, den Rabbi nicht
kennenzulernen... will ich dir gehorchen... Vielleicht will er nicht gesehen
werden, da er doch verfolgt wird und niemandem trauen kann. Er hat recht. Aber
nicht wir sind es, die ihm schaden werden. Es sind die wahren Hebräer... Doch
sieh... Ich sage (er gelangt mit Mühe auf die Knie): "Jesus, Sohn Gottes,
erbarme dich meiner!"»
«Es geschehe dir, wie dein Glaube
es verdient», sagt Jesus mit der Geste, mit der er den Krankheiten gebietet.
Dem Mann scheint blitzartig ein
Licht aufzugehen. Er begreift – ich weiß nicht, ob durch Erleuchtung des
Verstandes, durch ein körperliches Gefühl, oder durch beides zusammen – wer
der ist, der vor ihm steht, und er stößt einen so schrillen Schrei aus, daß
der Hirte, der auf die Straße heruntergekommen ist, vielleicht um etwas zu
sehen, seinen Schritt beschleunigt.
Der Mann liegt auf dem Boden, das
Gesicht im Gras. Und der Hirte zeigt mit seinem Stab auf ihn und sagt: «Ist er
tot? Da braucht es schon etwas mehr als Milch, wenn einer am Ende ist», und er
schüttelt den Kopf.
Der Mann hört seine Worte und
springt auf die Füße. Er ist kräftig und gesund und schreit: «Tot? Geheilt bin
ich! Auferstanden bin ich! Er hat es an mir getan! Ich leide nicht mehr unter
dem Hunger oder den Krämpfen der Krankheit. Ich fühle mich wie am Tag meiner
Hochzeit! Oh, gepriesener Jesus! Warum habe ich dich nicht eher erkannt?!
Deine Barmherzigkeit hätte mir deinen Namen nennen müssen! Welchen Frieden
habe ich in deiner Nähe verspürt! Dumm bin ich gewesen. Verzeih deinem armen
Diener!» Und er wirft sich wieder zu Boden, um ihm zu huldigen.
Der Hirte läßt seine Ziegen im
Stich und eilt in großen Sprüngen zum Dorf.
202
Jesus setzt sich zu dem Geheilten
und sagt: «Du hast von Ermastheus wie von einem Toten gesprochen. Du kennst
also sein Ende. Ich will nur eines von dir. Du sollst mit mir nach Ephraim
kommen und denen, die bei mir sind, von seinem Ende berichten. Dann werde ich
dich nach Jericho schicken, zu einer Jüngerin, die dir alles Nötige für die
Rückreise geben wird.»
«Wenn du es willst, werde ich zu
ihr gehen. Aber jetzt, da ich gesund bin, habe ich keine Angst mehr, unterwegs
zu sterben. Auch das Gras kann mich ernähren, und es ist keine Schande, die
Hand bittend auszustrecken, denn nicht für Schwelgereien, sondern für einen
guten Zweck habe ich mein ganzes Geld ausgegeben.»
«Ich will es. Du wirst ihr sagen,
daß du mich gesehen hast und daß ich sie hier erwarte. Daß sie nun kommen kann
und von niemandem belästigt werden wird. Wirst du dies ausrichten können?»
«Ich werde es können. Ach, warum
hassen sie dich, der du so gut bist?»
«Weil viele Menschen von einem
bösen Geist besessen sind. Gehen wir.»
Jesus macht sich auf den Weg nach
Ephraim, und der Mann folgt ihm sicheren Schrittes. Nur die große Magerkeit
ist geblieben und erinnert an die Krankheit und die durchgestandenen
Entbehrungen.
Vom Dorf kommen inzwischen
schreiend und gestikulierend viele Menschen herunter. Sie rufen Jesus und
bitten ihn, stehenzubleiben. Jesus hört nicht auf sie, sondern beschleunigt
vielmehr seine Schritte. Die anderen folgen ihm...
Nun sind sie in der Nähe von
Ephraim. Die Landarbeiter, die sich auf den Heimweg machen, da die Dämmerung
anbricht, grüßen Jesus und betrachten den Mann, der bei ihm ist.
Auf einem Nebenweg erscheint
Judas von Kerioth. Er zuckt überrascht zusammen, als er den Meister sieht.
Doch Jesus zeigt keine Überraschung. Er wendet sich nur dem Mann zu und sagt:
«Dies ist einer meiner Jünger. Erzähle ihm von Ermastheus.»
«Nun, das ist bald gesagt. Er war
unermüdlich im Predigen des Christus, auch nachdem er sich von seinem
Gefährten getrennt hatte, da er bei uns bleiben wollte. Er sagte, wir hätten
es nötiger als alle anderen, dich kennenzulernen, o Rabbi, und er wollte
seinem Vaterland dieses Geschenk zuteil werden lassen. Er sagte auch, er würde
erst zu dir zurückkehren, wenn selbst in den kleinsten Dörfern dein Name
bekannt sei. Er lebte wie ein Büßer. Wenn Mitleidige ihm Brot gaben, segnete
er sie in deinem Namen. Wenn jemand mit Steinen nach ihm warf, segnete er ihn
ebenfalls und ernährte sich von wilden Früchten und Muscheln, die er von den
Felsen löste oder aus dem Sand ausgrub. Viele hielten ihn für einen
Verrückten, aber niemand haßte ihn eigentlich. Allenfalls verjagten sie ihn,
als
203
brächte er Unglück. Eines Tages
fand man ihn dann tot, ganz in der Nähe meines Hauses, auf der Straße, die
nach Judäa führt, beinahe an der Grenze. Niemand hat je erfahren, wie er
gestorben ist. Aber man munkelt, daß er von einem umgebracht wurde, der nicht
wollte, daß er den Messias predigt. Er hatte eine große Wunde am Kopf. Einige
sagen, er sei von einem Pferdehuf getroffen worden. Aber ich glaube es nicht.
Er lächelte noch, als er so im Staub ausgestreckt lag. Ja, es schien wirklich,
als lächle er den letzten Sternen einer ruhigen Nacht des Elul und dem ersten
Sonnenstrahl des Morgens zu. Gärtner haben ihn gefunden, die in den ersten
Morgenstunden mit ihrem Gemüse in die Stadt gingen, und sie sagten es mir, als
sie bei mir vorbeikamen, um meine Gurken abzuholen. Ich bin gelaufen, um
nachzusehen. Er war ganz im Frieden.»
«Hast Du gehört?» fragt Jesus
Judas.
«Ich habe gehört. Aber hattest du
ihm nicht gesagt, daß er dir dienen und ein langes Leben haben würde?»
«Genau so habe ich es nicht
gesagt. Die Zeit, die vergangen ist, hat deine Erinnerung getrübt. Aber hat er
mir denn nicht gedient an den Orten, an denen er gepredigt hat, und hat er nun
nicht ein langes Leben? Gibt es ein längeres Leben als jenes, das einer
erwirbt, der im Dienst Gottes stirbt? Lang und ruhmvoll.»
Judas lacht auf die eigentümliche
Art, die mich so abstößt, und entgegnet nichts.
Inzwischen sind die Leute aus dem
Dorf mit vielen aus Ephraim zusammengetroffen und reden mit ihnen, wobei sie
auf Jesus deuten.
Jesus befiehlt Judas: «Begleite
den Mann ins Haus und sorge dafür, daß er sich vollends erholt. Er wird nach
dem Sabbat, der schon beginnt, abreisen.»
Judas gehorcht, und Jesus bleibt
allein zurück. Er geht langsam weiter, neigt sich immer wieder über die
Getreidehalme, die schon anfangen, Ähren zu bilden, und betrachtet sie.
Männer aus Ephraim bemerken:
«Schön, dieses Getreide, nicht wahr?»
«Schön, aber nicht anders als an
anderen Orten.»
«Gewiß, Meister. Auch dort ist es
nur Getreide und muß demnach gleich sein.»
«Meint ihr? Also ist das Getreide
besser als die Menschen, denn es genügt, daß es richtig gesät wird, damit es
die gleiche Frucht hervorbringt, hier wie in Judäa oder in Galiläa oder, sagen
wir, in den Ebenen längs des Großen Meeres. Die Menschen bringen jedoch nicht
dieselben Früchte. Und auch die Erde ist besser als die Menschen. Denn wenn
der Erde ein Samenkorn anvertraut wird, ist sie gut zu ihm und kümmert sich
nicht darum, ob der Same aus Samaria oder aus Judäa stammt.»
«So ist es. Aber warum sagst du,
daß die Erde und das Getreide besser als die Menschen sind?»
204
«Warum ... ? Vor kurzem bat ein
Mann an den Türen eines Dorfes um das Brot des Mitleids. Und man jagte ihn
fort, weil die Leute des Dorfes ihn für einen Juden hielten. Sie verjagten ihn
mit Steinwürfen und nannten ihn einen Aussätzigen, und er glaubte, dies sei
auf sein elendes Aussehen zurückzuführen. In Wirklichkeit aber war es wegen
seiner Abstammung. Und dieser Mann lag am Weg und war dem Hungertod nahe.
Daher sind die Leute dieses Dorfes – diese dort, die euch geschickt haben, um
mich zu befragen, und die nun gerne mit zu dem Haus kommen würden, in dem ich
wohne, um den Mann zu sehen, an dem das Wunder geschehen ist – daher also sind
sie schlechter als das Korn auf dem Feld. Denn sie haben, obwohl sie mich
schon länger kennen und ich sie bearbeitet habe, nicht dieselbe Frucht
gebracht wie dieser Mann, der weder Jude noch Samariter ist und mich nie zuvor
gesehen oder reden gehört hat. Aber er hat die Worte eines meiner Jünger
vernommen und an mich geglaubt, ohne mich zu kennen. Deshalb sind sie
schlechter als die Erdschollen, denn sie haben den Mann abgewiesen, weil er
anderer Abstammung ist. Nun möchten sie kommen, um den Hunger ihrer Neugier zu
stillen, sie, die nicht imstande waren, den Hunger eines Verhungernden zu
stillen. Sagt diesen Leuten, daß der Meister solch nutzlose Neugier nicht
befriedigen wird. Und lernt alle das große Gebot der Liebe, ohne die ihr
niemals meine Anhänger sein könnt. Es ist nicht die Liebe zu mir, nicht sie
allein, die eure Seelen retten wird, sondern die Liebe zu meiner Lehre. Und
meine Lehre lehrt die Nächstenliebe, ohne Unterscheidung der Rasse oder der
Abstammung. Sie sollen also gehen, diese Hartherzigen, die mein Herz betrübt
haben, und bereuen, wenn sie wollen, daß ich sie liebe. Denn, denkt alle
daran: ich bin zwar gut, aber ich bin auch gerecht; und wenn ich keinen
Unterschied mache und euch liebe wie die anderen in Galiläa und Judäa, dann
dürft ihr nicht in törichtem Stolz glauben, daß ihr die Bevorzugten seid und
die Freiheit habt, Böses zu tun, ohne meine Tadel fürchten zu müssen. Ich lobe
oder tadle, wie es die Gerechtigkeit verlangt, meine Verwandten und die
Apostel genauso wie jedes andere Geschöpf. Und in meinem Tadel ist Liebe; denn
ich will, daß Gerechtigkeit in den Herzen herrscht, um dann eines Tages alle
belohnen zu können, die sie geübt haben. Geht und berichtet. Möge diese
Unterweisung in euch allen Frucht bringen.»
Jesus hüllt sich in seinen
Mantel, geht eilends auf Ephraim zu und läßt die Männer stehen, die sich
ziemlich niedergeschlagen zu den Leuten des Dorfes begeben, die kein Mitleid
hatten, um ihnen die Worte des Meisters zu wiederholen.
205
620. JESUS, SAMUEL, JUDAS UND
JOHANNES
Jesus ist wieder allein und geht
langsam und nachdenklich in den dichten Wald, der im Westen von Ephraim liegt.
Vom Bach dringt das Rauschen des Wassers herauf, und in den Bäumen singen die
Vögel. Das Sonnenlicht des Frühlings dringt lebhaft und zugleich sanft durch
das Gewirr der Zweige, und die Schritte verursachen auf dem üppigen
Rasenteppich kein Geräusch. Die Sonnenstrahlen zeichnen goldene Kreise und
Linien auf das grüne Gras, und einige noch taubedeckte Blumen, die von einem
Strahl getroffen werden, während ringsum Schatten herrscht, glänzen, als ob
ihre Blütenblätter wertvolle Steine wären.
Jesus steigt zu einem Vorsprung
hinauf, der wie ein Balkon ins Leere ragt. Ein Balkon, auf dem ein riesiger
Eichbaum steht und von dem die biegsamen Ranken von wilden Brombeeren oder
Heckenrosen, von Efeu und Waldreben wie eine zerzauste, aufgelöste Mähne
herunterhängen, in der Hoffnung, sich an irgend etwas festklammern zu können;
denn sie finden weder genügend Platz noch einen Halt an ihrem für ihre
überschäumende Vitalität viel zu engen Standort.
Jesus hat den Vorsprung erreicht.
Er geht durch das dichte Gestrüpp auf den äußersten Rand zu. Ein Schwarm Vögel
flüchtet mit großem Geflatter und ängstlichem Gezwitscher. Jesus bleibt stehen
und betrachtet einen Mann, der ihm hier zuvorgekommen ist und mit
aufgestützten Ellbogen, das Gesicht in den Händen, auf dem Bauch im Gras
liegt, fast am Rand der Felsplatte, und hinausschaut in die Weite, in Richtung
Jerusalern. Der Mann ist Samuel, der ehemalige Schüler des Jonathan ben Uziel.
Er ist in Gedanken verloren, seufzt, schüttelt das Haupt...
Jesus bewegt einen Zweig, um die
Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken, und da dieser nicht reagiert,
nimmt er einen Stein aus dem Gras und läßt ihn den Pfad hinunterrollen. Das
Geräusch des aufschlagenden Steines läßt den Jüngling aufhorchen. Er wendet
sich überrascht um und fragt: «Wer ist da?»
«Ich, Samuel. Du bist mir
zuvorgekommen. Dies ist einer der Orte, an denen ich am liebsten bete», sagt
Jesus und tritt hinter dem dicken Stamm der Eiche hervor, die am Ende des
Pfades steht. Und er tut so, als ob er soeben angekommen wäre.
«Oh, Meister! Es tut mir leid...
aber ich überlasse dir sofort den Platz», sagt der Jüngling. Er steht eiligst
auf und nimmt den Mantel, den er ausgezogen hatte und auf dem er gelegen ist.
«Nein. Warum? Es ist Platz für
zwei. Die Stelle ist so schön! So abseits und einsam gelegen, über der Tiefe,
mit so viel Licht und einem so weiten Horizont. Warum willst du gehen?»
«Nun, damit du ungestört bist
beim Beten.»
«Können wir es nicht zusammen
tun, und auch betrachten, indem wir
206
miteinander reden und den Geist
zu Gott erheben... die Menschen und ihre Fehler vergessen und an Gott, unseren
Vater, denken, den guten Vater all jener, die ihn mit gutem Willen suchen und
lieben?»
Samuel scheint überrascht zu
sein, als Jesus sagt: «Die Menschen und ihre Fehler...» doch er sagt nichts
und setzt sich wieder.
Jesus setzt sich neben ihm ins
Gras und sagt: «Setz dich hierher zu mir. Sieh nur, wie klar der Horizont
heute ist. Wenn wir Adleraugen hätten, könnten wir die weißen Dörfer auf den
Bergen, die Jerusalem wie eine Krone umgeben, sehen. Und, wer weiß, vielleicht
könnten wir einen leuchtenden Punkt sehen, gleich einem Edelstein in der
klaren Luft, der unser Herz höher schlagen ließe: die goldenen Kuppeln des
Hauses Gottes... Schau, dort ist Bethel. Man kann die Häuser sehen, und dort,
hinter Bethel liegt Beroth. Wie schlau waren doch die einstigen Bewohner
dieses Ortes und der benachbarten. Doch es ist gut ausgegangen, obwohl Betrug
niemals eine gute Waffe ist. Es ist gut ausgegangen, weil sie schließlich dem
wahren Gott dienten. Es lohnt sich immer, menschliche Ehren zu verlieren, um
die Nähe des Göttlichen zu gewinnen. Auch wenn die menschlichen Ehren
zahlreich und von Wert waren und das Leben in der Nähe Gottes einfach und
unbekannt ist. Nicht wahr?»
«Ja, Meister. Du sagst es gut. So
ist es mir ergangen.»
«Aber du bist traurig, obwohl der
Wechsel dich beglücken sollte. Du bist traurig. Du leidest und sonderst dich
ab. Du hältst Ausschau nach den Orten, die du verlassen hast. Du gleichst
einem gefangenen Vogel, der hinter dem Gitter seines Käfigs sitzt und
sehnsüchtig nach dem Ort seiner Liebe Ausschau hält. Ich sage nicht, daß du
dies nicht tun sollst. Du bist frei, du kannst gehen und ...»
«Herr, hat Judas vielleicht
schlecht über mich gesprochen, daß du das sagst?»
«Nein, Judas hat nichts gesagt.
Zu mir hat er nichts gesagt. Aber zu dir. Und deshalb bist du traurig und
sonderst dich ab und bist beunruhigt.»
«Herr, wenn du diese Dinge weißt,
ohne daß sie dir jemand gesagt hat, dann mußt du auch wissen, daß ich nicht
den Wunsch habe, dich zu verlassen und es nicht bereue, mich bekehrt zu haben.
Ich sehne mich nicht nach der Vergangenheit... und bin nicht traurig aus
Furcht vor den Menschen oder vor der Strafe, mit der man mir droht. Ich habe
geschaut, nach Jerusalem geschaut, das ist wahr. Aber nicht aus Sehnsucht,
dorthin zurückzukehren; zurückzukehren als der, der ich einst war. Dorthin
zurückzukehren als Israelit, der es liebt, ins Haus Gottes einzutreten und den
Allerhöchsten anzubeten; dieses Verlangen ist in mir wie in uns allen, und ich
glaube nicht, daß du mich dafür tadelst.»
«Ich in meiner zweifachen Natur
habe als erster ein Verlangen nach jenem Altar und möchte ihn mit Heiligkeit
umgeben sehen, wie es sich gebührt. Als Sohn Gottes empfinde ich alles, was
ihm zur Ehre dient, als
207
eine Freude, und als
Menschensohn, als Israelit, und daher als Sohn des Gesetzes, sind Tempel und
Altar für mich der heiligste Ort Israels, der Ort, an dem unsere Menschheit
sich dem Göttlichen nähern und sich am Duft, der den Thron Gottes umgibt,
erfreuen kann. Ich hebe das Gesetz nicht auf, Samuel. Es ist mir heilig, denn
mein Vater hat es gegeben. Ich vervollkommne es nur und füge neue Teile hinzu.
Als Sohn Gottes kann ich dies tun. Dazu hat mich der Vater gesandt. Ich bin
gekommen, den geistigen Tempel meiner Kirche zu gründen, den Tempel, den weder
Menschen noch Dämonen überwältigen werden. Doch die Gesetzestafeln werden
einen Ehrenplatz darin haben. Denn sie sind ewig, vollkommen, unantastbar. Das
in den Tafeln enthaltene: "Du sollst diese oder jene Sünde nicht begehen",
beinhaltet in seiner lapidaren Kürze alles Notwendige, um in den Augen Gottes
gerecht zu sein, und wird durch meine Worte nicht aufgehoben. Im Gegenteil.
Auch ich nenne euch diese Zehn Gebote. Nur sage ich dazu, daß ihr sie in
vollkommener Weise befolgen sollt; also nicht aus Furcht vor dem Zorn Gottes
gegenüber denen, die seine Gebote übertreten, sondern aus Liebe zu eurem Gott,
der ein Vater ist. Ich komme, um eure Kinderhand in die Hand eures Vaters zu
legen. Seit wie vielen Jahrhunderten schon sind diese Hände
auseinandergerissen! Die Strafe hat sie auseinandergerissen. Und die Schuld
hat sie auseinandergerissen. Durch die Ankunft des Erlösers wird die Sünde
getilgt, die Schranken fallen, und ihr seid erneut Kinder Gottes.»
«Das ist wahr. Du bist gut und
tröstest immer. Und du weißt alles. Deshalb werde ich nicht über meine Nöte
sprechen. Aber ich frage dich: Warum sind die Menschen so schlecht,
wahnsinnig, töricht? Welche Künste wenden sie an, um uns so diabolisch zum
Bösen zu überreden? Und wir, wie können wir so blind sein, die Wirklichkeit
nicht zu sehen und den Lügen zu glauben? Und wie können wir selbst solche
Dämonen werden und dir in deiner Nähe widerstehen? Ich habe dort
hinübergeschaut und nachgedacht... Ja, ich habe darüber nachgedacht, wie viele
giftige Bäche von dort ausgehen, um die Kinder Israels zu verwirren. Ich habe
darüber nachgedacht, wie sich in die Gelehrtheit der Rabbis so viel Bosheit
mischen kann, daß die Tatsachen verdreht und die Menschen getäuscht werden.
Ich habe dies vor allem gedacht, weil...» Samuel, der mit Eifer gesprochen
hat, unterbricht sich und senkt das Haupt.
Jesus beendet den Satz: «... weil
Judas, mein Apostel, ist wie er ist, und allen Schmerz bereitet; mir und
allen, die zu mir gehören oder zu mir kommen, wie auch du gekommen bist. Ich
weiß es. Judas versucht, dich von hier zu vertreiben. Er macht Anspielungen
und verachtet dich ...»
«Nicht nur mich allein. Ja, er
verdirbt mir die Freude, zur Gerechtigkeit gelangt zu sein. Er versteht es so
gut, sie mir zu verderben, daß ich mir hier wie ein Verräter vorkomme; wie ein
Verräter, der sich selbst und dich verrät. Mich selbst, weil ich mir einbilde,
besser geworden zu sein, während
208
ich die Ursache deines Verderbens
sein könnte. Ich kenne mich noch nicht... und könnte, wenn ich denen vom
Tempel begegnen würde, meinem Vorsatz untreu werden und... Oh, hätte ich es
damals getan, dann hätte ich wenigstens die Entschuldigung gehabt, daß ich
dich nicht als den kannte, der du bist. Denn von dir wußte ich damals nur das,
was man mir gesagt hatte, um aus mir einen Verfluchten zu machen. Aber wenn
ich es jetzt tun würde! Welch ein Fluch würde den Verräter des Sohnes Gottes
treffen! Ich war hier... nachdenklich, ja... Ich überlegte, wohin ich fliehen
könnte, um vor mir selbst und ihnen sicher zu sein. Ich wollte an einen weit
entfernten Ort fliehen, zu den Leuten in der Diaspora... Fort, nur fort, um
den Dämon zu hindern, mich zur Sünde zu verführen... Er hat recht, dein
Apostel, wenn er mir mißtraut. Er kennt mich, denn da er die Führenden kennt,
kennt er uns alle... Er zweifelt mit Recht an mir. Wenn er sagt: "Aber weißt
du nicht, daß er uns sagt, daß wir schwach sein werden? Bedenke: Wir, seine
Apostel, die wir ihn schon so lange kennen! Und du, der du das Gift des alten
Israel in dir hast und erst jetzt gekommen bist, zu einer Zeit, die uns selbst
erzittern läßt, du glaubst, die Kraft zu haben, gerecht zu bleiben?" Er hat ja
so recht ...» Der Mann neigt entmutigt das Haupt.
«Wieviel Kummer bereiten sich
doch die Menschenkinder! Wahrlich, Satan versteht es, ihre Neigungen
auszunützen, um sie zu quälen und sie der Freude zu berauben, die ihnen
entgegengeht, um sie zu erlösen. Denn die Traurigkeit des Geistes, die Angst
vor dem Morgen und alle Sorgen sind immer Waffen, die der Mensch seinem
Widersacher in die Hand gibt. Dieser quält ihn dann mit eben den Gespenstern,
die der Mensch sich schafft. Und es gibt andere Menschen, die sich wahrlich
mit Satan verbünden, um ihm zu helfen, die Brüder zu ängstigen. Aber, mein
Sohn, gibt es denn nicht einen Vater im Himmel? Und dieser Vater, der dem
Grashälmchen hier einen Spalt im Fels gibt – einen Spalt voll Erde, in den die
Feuchtigkeit des Taus über den glatten Stein rinnt und sich in der schmalen
Ritze sammelt, damit das Hähnchen leben und dieses winzige Blümchen
hervorbringen kann, dessen Schönheit nicht weniger bewundernswert ist als die
strahlende Sonne dort oben, denn beide sind ein vollkommenes Werk des
Schöpfers – dieser Vater, der sich um ein Grashälmchen auf einem Felsen
kümmert, sollte er nicht für seinen Sohn sorgen, der den festen Willen hat,
ihm zu dienen? Oh, wahrlich, Gott enttäuscht die "guten" Wünsche des Menschen
nicht. Denn er selbst ist es, der sie in euren Herzen erweckt. Er ist es, der
in seiner vorsorgenden Weisheit die Umstände schafft, die nicht nur den
Wünschen seiner Kinder förderlich sind, sondern die den noch unvollkommenen
Wegen folgenden Wunsch, ihn zu ehren, verbessern und vervollkommnen und ihn
auf vollkommene Wege führen. Dies trifft für dich zu. Du glaubtest,
gedachtest, warst überzeugt, Gott zu ehren, indem du mich verfolgtest. Der
Vater hat gesehen,
209
daß in deinem Herzen nicht Haß
gegen Gott war, sondern das Verlangen, Gott Ehre zu erweisen, indem du den aus
der Welt entfernst, von dem sie dir gesagt hatten, daß er ein Feind Gottes und
ein Verderber der Seelen sei. Und Gott hat die Umstände so gelenkt, daß dein
Wunsch, deinem Herrn Ehre zu erweisen, erfüllt wurde. Nun bist du unter uns.
Und kannst du glauben, daß Gott dich jetzt verlassen will, da er dich hierher
geführt hat? Nur wenn du ihn verläßt, kann die Kraft des Bösen dich
umschlingen.»
«Aber ich will es doch nicht! Das
ist mein aufrichtiger Wille!» erklärt der Mann.
«Worüber machst du dir dann
Sorgen? Über die Worte eines Menschen? Laß ihn reden. Er denkt auf seine Art.
Die Gedanken der Menschen sind immer unvollkommen. Doch ich werde vorsorgen.»
«Ich möchte nicht, daß du ihn
tadelst. Es genügt mir, wenn du mir versicherst, daß ich nicht sündigen
werde.»
«Ich versichere es dir. Es wird
nicht geschehen, denn du willst nicht, daß es geschieht. Denn sieh, mein Sohn,
es würde dir nichts nützen, in die Diaspora oder auch bis an die Grenzen der
Erde zu gehen, um deine Seele vor dem Haß gegen Christus und vor der Strafe
für diesen Haß zu bewahren. Viele in Israel werden sich nicht direkt mit dem
Verbrechen beflecken; doch sie werden nicht weniger schuldig sein als jene,
die mich verurteilen und das Urteil vollstrecken. Mit dir kann ich über diese
Dinge sprechen, denn du weißt, daß alles schon vorbereitet ist. Du kennst die
Namen und die Gedanken meiner ärgsten Widersacher. Du hast es gesagt: "Judas
kennt uns alle, denn er kennt alle Führenden." Aber wenn er euch kennt, auch
euch, die geringeren, die ihr Sternen zweiter Ordnung in der Nähe der großen
Planeten gleicht, so wißt auch ihr, was man arbeitet, wie gearbeitet wird und
wer arbeitet, welche Komplotte geschmiedet werden und welche Mittel man in
Betracht zieht... Deshalb kann ich mit dir sprechen. Ich könnte es nicht mit
den anderen tun... Denn was ich leiden und mitleiden kann, können die anderen
nicht ...»
«Meister, aber wie kannst du, da
du alles weißt, so sein... Wer kommt den Pfad herauf?» Samuel steht auf, um
nachzusehen. Er ruft aus: "Judas! "
«Ja, ich bin es. Sie haben mir
gesagt, der Meister sei hierher gekommen, und statt ihm finde ich nun dich.
Ich gehe wieder und überlasse dich deinen Gedanken.» Und Judas lacht einmal
mehr sein kurzes, unaufrichtiges Lachen, das unheimlicher ist als das Klagen
eines Käuzchens.
«Ich bin auch da. Verlangt man
nach mir im Dorf?» fragt Jesus, der hinter Samuel auftaucht.
«Oh! Du? Dann warst du ja in
guter Gesellschaft, Samuel! Und auch du, Meister...»
«O ja, die Gesellschaft eines
Menschen, der nach Gerechtigkeit strebt, ist immer gut. Du hast mich gesucht,
um bei mir sein zu können. Komm
210
also. Es ist Platz für dich und
auch für Johannes, wenn er bei dir sein sollte.»
«Er ist unten. Er hat mit Pilgern
zu tun.»
«Wenn Pilger gekommen sind, muß
ich gehen.»
«Nein, sie bleiben alle bis
morgen. Johannes bereitet eben unsere Betten für ihren Aufenthalt vor. Er ist
glücklich, es tun zu können. Alles macht ihn halt immer glücklich. Ihr beiden
ähnelt euch wirklich. Ich kann nicht verstehen, wie ihr es fertigbringt, immer
glücklich zu sein, auch über die... schmerzhaftesten Dinge.»
«Die gleiche Frage wollte ich
gerade stellen, als du gekommen bist», ruft Samuel aus.
«Tatsächlich? Dann bist also auch
du nicht glücklich und wunderst dich, wie andere, die sich in noch
schwierigeren Situationen befinden, glücklich sein können.»
«Ich bin nicht unglücklich. Ich
spreche nicht von mir. Ich frage mich, aus welchen Quellen der Friede des
Meisters kommt, der über seine Zukunft nicht im unklaren ist und sich trotzdem
durch nichts erschüttern läßt.»
«Nun, aus den himmlischen
Quellen! Das ist doch klar! Er ist Gott. Zweifelst du vielleicht daran? Kann
ein Gott leiden? Er steht über dem Schmerz. Die Liebe des Vaters ist für ihn
wie... wie berauschender Wein. Und berauschender Wein ist für ihn die
Überzeugung, daß seine Handlungen... das Heil der Welt bedeuten. Und dann...
Kann er dieselben physischen Reaktionen haben wie wir einfachen Menschen? Das
widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Wenn Adam, als er noch unschuldig
war, keinerlei Schmerz kannte und ihn auch nie kennengelernt hätte, wenn er
unschuldig geblieben wäre, wie kann dann Jesus, der... absolut Unschuldige,
das Geschöpf... ich weiß nicht, ob ich ihn ungeschaffen nennen soll, da er
Gott ist, oder geschaffen, da er Eltern hat... Oh, wie viele "Warum", die auch
für die zukünftigen Menschen unbeantwortet bleiben werden, mein Meister! Wenn
also Adam durch die Unschuld frei von Schmerz war, ist es dann denkbar, daß
Jesus leiden muß?»
Jesus hat sich wieder ins Gras
gesetzt und das Haupt gesenkt. Die Haare fallen wie ein Schleier über sein
Gesicht. Daher kann ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen.
Samuel, der Judas gegenübersteht,
entgegnet: «Aber wenn er der Erlöser sein soll, dann muß er wirklich leiden.
Erinnerst du dich nicht an David und Isaias?»
«Ich erinnere mich! Ich erinnere
mich! Doch sie, die die Gestalt des Erlösers sahen, wußten nichts von der
überirdischen Hilfe, die dem Erlöser zuteil werden würde, um... gemartert zu
werden, ohne Schmerzen zu empfinden.»
«Und welche Hilfe? Ein Geschöpf
kann den Schmerz lieben und ihn
211
geduldig ertragen, je nach der
Vollkommenheit seiner Gerechtigkeit. Aber es wird den Schmerz immer empfinden.
Sonst ... wenn es ihn nicht fühlen würde... wäre es ja kein Schmerz.»
«Jesus ist der Sohn Gottes.»
«Aber er ist kein Gespenst! Er
ist aus Fleisch und Blut! Und das Fleisch leidet, wenn es gequält wird. Er ist
ein wahrer Mensch! Und die Seele des Menschen leidet, wenn er beleidigt und
gekränkt wird.»
«Seine Vereinigung mit Gott
schließt bei ihm diese menschlichen Reaktionen aus.»
Jesus hebt das Haupt und sagt:
«Wahrlich, ich sage dir, o Judas, daß ich leide und leiden werde wie jeder
andere Mensch, und mehr als jeder andere Mensch. Aber ich kann trotzdem
glücklich sein in dem heiligen und geistigen Glücksgefühl jener, die sich mit
dem Willen Gottes als ihrer einzigen Braut vermählt haben und dadurch von der
irdischen Traurigkeit befreit sind. Ich kann es, weil ich die menschliche
Auffassung von Glück überwunden habe, die Unruhe des Glücks, so wie es sich
die Menschen vorstellen. Ich verfolge nicht das, was für den Menschen das
Glück bedeutet, sondern finde meine Freude gerade im Gegenteil dessen, was der
Mensch dafür hält. Die Dinge, die der Mensch flieht und verachtet, weil er sie
als Last und Schmerz empfindet, sind für mich die süßesten. Ich betrachte
nicht die Stunde. Ich betrachte die Folgen, die die Stunde für die Ewigkeit
haben kann. Meine Zeit geht zu Ende, doch die Frucht dieser Zeit bleibt. Mein
Schmerz wird ein Ende haben, aber der Wert dieses Schmerzes ist unendlich. Was
nützt mir eine sogenannte "glückliche Stunde" auf dieser Erde, eine Stunde,
die ich nach Jahren und Jahrzehnten, nach langem Sehnen erreicht habe, wenn
ich diese Stunde dann nicht als Freude mit mir in die Ewigkeit nehmen könnte,
wenn ich sie allein genießen müßte, ohne sie mit denen zu teilen, die ich
liebe?»
«Ja, aber wenn du triumphieren
würdest, dann hätten wir, deine Jünger, teil an deiner Freude!» ruft Judas
aus.
«Ihr? Wer seid denn ihr, im
Vergleich zur Vielzahl der gewesenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen
Menschen, für die mein Schmerz Freude bedeuten wird? Ich blicke über das
irdische Glück hinaus. Mein Blick reicht weiter, zum Übernatürlichen. Ich sehe
meinen Schmerz sich in ewige Freude verwandeln für eine Vielzahl von
Geschöpfen. Ich nehme den Schmerz an als die größte Kraft, das vollkommene
Glück zu erreichen, das darin besteht, den Nächsten zu lieben, zu leiden, um
ihm die Freude zu erlangen, und sogar für ihn zu sterben.»
«Ich verstehe dieses Glück
nicht», erklärt Judas.
«Du bist noch nicht weise. Sonst
würdest du es begreifen.»
«Und Johannes ist es? Er ist
unwissender als ich!»
«Menschlich gesehen schon. Aber
er besitzt die Weisheit der Liebe.»
«Nun gut, aber ich glaube nicht,
daß die Liebe die Prügel hindert,
212
Prügel zu sein, und die Steine,
Steine zu sein, und das Fleisch zu verwunden, das sie treffen. Du sagst immer,
daß du den Schmerz liebst, da er für dich Liebe bedeutet. Aber wenn du
wirklich gefangengenommen und gemartert werden solltest... wenn so etwas
möglich ist... dann weiß ich nicht, ob du noch derselben Meinung sein wirst.
Denke daran, solange du noch dem Schmerz entgehen kannst. Er wird schrecklich
sein, weißt du? Wenn es den Menschen gelingt, dich gefangenzunehmen... oh,
dann würden sie keine Rücksicht nehmen!»
Jesus schaut ihn an. Er ist
totenbleich. Seine weitgeöffneten Augen scheinen außer dem Gesicht des Judas
alle Qualen und Martern, die ihn erwarten, zu sehen; doch in ihrer Trauer
bleiben sie sanft und gütig und vor allem ruhig: zwei reine Augen eines
Unschuldigen im Frieden. Er antwortet: «Ich weiß es. Ich weiß auch das, was du
nicht weißt. Aber ich vertraue auf die Barmherzigkeit Gottes. Er, der den
Sündern barmherzig ist, wird auch mir Barmherzigkeit erweisen. Ich bitte ihn
nicht darum, nicht leiden zu müssen, sondern darum, auf die richtige Art zu
leiden. Und nun wollen wir gehen. Samuel, geh etwas voraus und sage Johannes,
daß ich bald im Dorf sein werde.»
Samuel verneigt sich und eilt
davon.
Jesus beginnt ebenfalls
hinabzusteigen. Der Pfad ist so schmal, daß einer hinter dem anderen gehen
muß. Dies hindert jedoch Judas nicht daran zu reden: «Du traust diesem Mann zu
sehr, Meister. Ich habe dir gesagt, wer er ist. Er ist der schwärmerischste
und am leichtesten erregbare Schüler des Jonathan. Nun, jetzt ist es zu spät.
Du hast dich seinen Händen ausgeliefert. Er ist ein Spion an deiner Seite. Und
du hast mehr als einmal gedacht, und häufiger noch die anderen als du, daß ich
es bin. Ich bin kein Spion.»
Jesus bleibt stehen und wendet
sich um. Schmerz und Majestät vereinen sich auf seinem Antlitz und in seinem
Blick, der den Apostel durchbohrt. Er sagt: «Nein, kein Spion. Du bist ein
Dämon! Du hast der Schlange das Vorrecht der Verführung und des Betrugs
geraubt, um von Gott zu trennen. Dein Betragen ist weder ein Stein noch ein
Prügel. Aber es verwundet mich mehr als Steine und Prügel. Oh, in meinem
furchtbaren Leiden wird nichts das Martyrium übertreffen, das mir dein
Betragen bereitet.» Jesus bedeckt sein Antlitz mit den Händen, wie um das
Furchtbare zu verbergen, und geht dann rasch den Pfad hinunter.
Judas schreit hinter ihm her:
«Meister! Meister! Warum betrübst du mich so? Dieser Falsche hat mich
wahrscheinlich verleumdet... Höre mich an, Meister!»
Jesus hört nicht. Er eilt, er
fliegt den Abhang hinab. Vorbei an den Waldarbeitern und den Hirten, die ihn
grüßen. Er läuft vorbei, erwidert die Grüße, bleibt aber nicht stehen. Judas
fügt sich und schweigt...
Sie sind fast unten, als sie
Johannes begegnen, der ihnen mit seinem
213
reinen, von einem sanften Lächeln
erhellten Gesicht entgegenkommt. Er führt einen zwitschernden kleinen Knaben
an der Hand, der an einer Honigwabe saugt.
«Meister, hier bin ich! Es sind
Leute aus Caesarea Philippi. Sie haben erfahren, daß du hier bist und sind
gekommen. Aber es ist eigenartig! Niemand hat etwas gesagt, und doch wissen
alle, wo du bist! Sie ruhen sich nun aus. Sie sind sehr müde. Ich habe gerade
bei Dina Milch und Honig geholt, denn sie haben auch einen Kranken bei sich.
Ich habe ihn auf mein Lager gebettet. Ich habe keine Angst. Und der kleine
Annas wollte mit mir kommen. Faß ihn nicht an, Meister, er ist ganz mit Honig
beschmiert», und der gute Johannes, dessen Gewand schon ganz voller Honig und
klebriger Fingerabdrücke ist, lacht. Er lacht und hält das Kind zurück, das
Jesus seine halb ausgelutschte Honigwabe geben möchte und ruft: «Komm. Es gibt
noch viele für dich.»
«Ja. Sie holen dort bei Dina
gerade die Waben heraus. Ich habe es gewußt. Ihre Bienen haben erst vor kurzem
geschwärmt», erklärt Johannes.
Sie setzen ihren Weg fort und
erreichen das erste Haus, wo immer noch das Tamtam ertönt, das die Imker
machen; wozu, weiß ich nicht genau. Trauben von Bienen – sie gleichen großen
Trauben eines fremdartigen Weinstockes – hängen von einigen Zweigen herunter
und Männer nehmen sie ab, um sie in neuen Bienenstöcken unterzubringen. In
einiger Entfernung summen und arbeiten die unermüdlichen Bienen schon in neuen
Stöcken.
Die Männer grüßen, und eine Frau
kommt mit schönen Waben herbei und bietet sie Jesus an.
«Warum willst du sie hergeben? Du
hast Johannes schon einige gegeben.»
«Oh, meine Bienen haben dieses
Jahr viel Honig gesammelt. Ich kann gut etwas davon abgeben. Aber segne du die
neuen Schwärme. Schau, nun nehmen sie den letzten Schwarm ab. Dieses Jahr
haben sich die Bienenvölker verdoppelt.»
Jesus geht zu den kleinen
Bienenstädten, erhebt die Hand und segnet eine nach der anderen unter dem
Gesumme der Arbeitsbienen, die sich bei ihrer Arbeit nicht stören lassen.
«Alle sind voller Freude und in
Bewegung... Ein neues Heim...» sagt ein Mann.
«Und neue Hochzeiten. Sie
gleichen wahrhaft Frauen, die eine Hochzeit vorbereiten», sagt ein anderer.
«Ja, aber die Frauen schwatzen
mehr als sie arbeiten. Diese hier arbeiten schweigend, und sie arbeiten selbst
an den festlichen Tagen der Hochzeit. Sie arbeiten immer, um sich ihr Reich
und ihre Schätze zu schaffen», antwortet ein Dritter.
«Immer in Tugendhaftigkeit zu
arbeiten ist erlaubt, es ist sogar eine
214
Pflicht. Immer nur für den Gewinn
zu arbeiten jedoch nicht. Das tun nur jene, die nicht wissen, daß sie einen
Gott haben, der an seinem Tag geehrt werden muß. Schweigend zu arbeiten ist
eine Tugend, die alle von den Bienen lernen sollten. Denn im Schweigen macht
man alle Arbeiten heiligmäßig. Eure Gerechtigkeit soll wie eure Bienen sein.
Unermüdlich und schweigsam. Gott sieht. Und Gott belohnt. Der Friede sei mit
euch», sagt Jesus. Und als er mit seinen beiden Aposteln wieder allein ist,
sagt er: «Und besonders den Arbeitern des Herrn gebe ich die Bienen zum
Vorbild. Sie speichern im verborgenen des Bienenstocks den in ihrem Inneren in
unermüdlicher Arbeit an gesunden Blütenkronen entstandenen Honig. Ihre Mühe
scheint keine Mühe zu sein, so groß ist der gute Wille, mit dem sie es tun,
wenn sie wie goldene Punkte von Blume zu Blume fliegen und dann mit Nektar
beladen in ihre Zellen zurückkehren, um in dieser Abgeschiedenheit ihren Honig
zu bereiten. Man müßte es verstehen, sie nachzuahmen. Man müßte gesunde Lehren
und Freundschaften wählen, die den Nektar wahrer Tugend schenken können; und
sich dann absondern, um das eifrig Gesammelte zu Tugend und Gerechtigkeit zu
verarbeiten, die wie der Honig aus vielen guten Elementen zusammengesetzt
sind, nicht zuletzt dem guten Willen, ohne den die da und dort gesammelten
Säfte wertlos wären. Im Innern des Herzens müßte man demütig über das
nachdenken, was man Gutes gesehen und gehört hat, und man dürfte keine
Eifersucht empfinden, weil es neben den Arbeitsbienen auch Königinnen gibt,
weil es also solche gibt, die gerechter als der Nachdenkende sind. Alle Bienen
eines Volkes sind nötig, Arbeitsbienen und Königinnen. Wehe, wenn alle
Königinnen wären; wehe, wenn alle Arbeiterinnen wären. Sowohl die einen als
auch die anderen würden sterben; denn die Königinnen hätten keine Nahrung, um
sich zu vermehren, wenn es keine Arbeitsbienen gäbe, und es würde keine
Arbeitsbienen geben, wenn die Königinnen nicht für Nachkommenschaft sorgten.
Beneidet die Königinnen nicht. Auch sie haben ihre Mühe und ihre Buße. Sie
sehen die Sonne nur ein einziges Mal, bei ihrem einzigen Hochzeitsflug. Zuvor
und danach gibt es für sie nur die immerwährende Klausur innerhalb der
ambrafarbenen Wände des Bienenstockes. Jeder hat seine Aufgabe, jede Aufgabe
ist eine Erwählung, und jede Erwählung ist eine Pflicht und eine Ehre. Und die
Arbeitsbienen verlieren keine Zeit mit unnützen oder gefährlichen Flügen auf
kranke und giftige Blüten. Sie stürzen sich nicht in Abenteuer. Sie werden
ihrer Aufgabe nicht untreu und lehnen sich nicht auf gegen den Zweck, für den
sie erschaffen wurden. Oh, ihr bewundernswerten kleinen Wesen! Wieviel könnt
ihr die Menschen lehren... !»
Jesus schweigt und verliert sich
in eine seiner Betrachtungen. Judas erinnert sich plötzlich, daß er wer weiß
wohin gehen muß, und entfernt sich in größter Eile. So bleiben Jesus und
Johannes allein. Johannes beobachtet Jesus unbemerkt. Ein aufmerksamer Blick
voll liebender Sorge.
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Jesus hebt das Haupt, wendet sich
etwas zur Seite und begegnet dem Blick des Lieblingsjüngers, der ihn studiert.
Das Antlitz Jesu erhellt sich, während er Johannes an sich zieht.
So umarmt gehen sie weiter und
Johannes fragt: «Nicht wahr, Judas hat dich wieder gekränkt? Er muß auch
Samuel beunruhigt haben.»
«Warum? Hat er mit dir darüber
gesprochen?»
«Nein. Aber ich habe verstanden.
Er hat nur gesagt: "Normalerweise wird man gut, wenn man mit einem wahrhaft
Guten zusammenlebt. Aber Judas ist nicht gut, obgleich er schon drei Jahre mit
dem Meister zusammenlebt. Er ist durch und durch verdorben und die Güte des
Christus kann nicht in ihn eindringen, da er voller Bosheit ist." Ich wußte
nicht, was ich sagen sollte... denn es ist wahr... Warum ist Judas nur so? Ist
es denn möglich, daß er sich nie ändert? Und doch... Wir haben alle die
gleichen Unterweisungen erhalten... und als er zu uns kam, war er auch nicht
schlechter als wir.»
«Mein Johannes! Mein guter
Junge!» Jesus küßt ihn auf die so reine, offene Stirn und flüstert in die
weichen blonden Haare: «Es gibt Geschöpfe, die anscheinend nur dazu leben, um
das Gute in sich zu zerstören. Du bist Fischer und weißt, wie ein Segel
reagiert, wenn es von eine
Sturmwind erfaßt wird. Es legt
sich so sehr auf das Wasser, daß das Boot zu kentern droht; es wird zur Gefahr
und man muß es einziehen und au den Flügel, der zum Nest trägt, verzichten.
Denn das vom Sturm erfaßte Segel ist nicht mehr Flügel, sondern Ballast, der
auf den Grund zieht und zum Tod führt, anstatt zur Rettung. Wenn aber der
heftige Atem des Sturmes sich beruhigt, vielleicht nur für wenige Augenblicke,
dann wird das Segel sofort zum Flügel und treibt das Boot eilends dem
rettenden Hafen zu. So ist es bei vielen Seelen. Es genügt, daß der Sturm der
Leidenschaft sich legt, und die gebeugte Seele, die fast überflutet wird
von... dem, was nicht gut ist, richtet sich auf und strebt erneut dem Guten
zu.»
«Ja, Meister... Aber sage mir...
wird Judas je deinen Hafen erreichen?»
«Oh, laß mich nicht in die
Zukunft eines meiner Teuersten schauen. Ich habe die Zukunft von Millionen
Seelen vor Augen, für die meine Leiden umsonst sein werden... ! Ich habe alle
Schlechtigkeiten der Welt vor Augen... Der Ekel würgt mich. Der Ekel, den ich
beim Anblick dieser gärenden Abscheulichkeiten empfinde, die wie ein Sturm die
Erde überschwemmen und sie in verschiedenartiger, aber für die Vollkommenheit
immer auf schreckliche Art überschwemmen werden. Laß mich diese Dinge nicht
schauen! Laß, daß ich mich erquicke und stärke an einer Quelle, die von
Verderbtheit nichts weiß; daß ich die Wurmstichigkeit so vieler vergesse und
nur dich, meinen Frieden, betrachte!» Und Jesus blickt in die klaren Augen
seines jungfräulichen, liebenden Jüngers und küßt ihn noch einmal auf die
Stirn...
Sie gehen ins Haus. In der Küche
ist Samuel und spaltet Holz, um der alten Frau die Mühe des Feuermachens zu
ersparen.
216
Jesus wendet sich der Frau zu:
«Schlafen die Pilger?»
«Ich glaube schon. Man hört
keinen Laut. Nun bringe ich den Reittieren, die unten im Holzschuppen sind,
dieses Wasser...»
«Laß mich es tun, Mutter. Geh
lieber zu Rachel. Sie hat mir frischen Käse versprochen. Sage ihr, daß ich ihn
am Sabbat bezahlen werde», sagt Johannes und nimmt die beiden randvollen
Wassereimer.
Jesus und Samuel bleiben allein
zurück. Jesus geht zu dem Mann, der über die Feuerstelle gebeugt ist und
bläst, um die Flammen zu beleben, und legt ihm eine Hand auf die Schulter mit
den Worten: «Judas hat uns dort oben unterbrochen... Ich möchte dir noch
sagen, daß ich dich am Tag nach dem Sabbat mit meinen Aposteln aussenden
werde. Vielleicht ziehst du das vor...»
«Danke, Meister. Es tut mir leid,
nicht in deiner Nähe bleiben zu können. Doch in deinen Aposteln finde ich dich
wieder. Es ist mir lieber, weit weg von Judas zu sein. Ich hatte nicht den
Mut, dich darum zu bitten ...»
«Gut, es ist also abgemacht. Und
habe Mitleid mit ihm, wie auch ich es habe. Sprich weder mit Petrus noch mit
sonst jemandem darüber ...»
«Ich kann schweigen, Meister.»
«Später werden die Jünger kommen.
Unter ihnen sind Hermas, Stephanus und Isaak, zwei Gelehrte und ein Gerechter,
und viele andere. Du wirst dich wohlfühlen, wie unter wahren Brüdern.»
«Ja, Meister. Du verstehst und
hilfst. Du bist wahrlich der gute Meister», und Samuel neigt sich, um Jesu
Hand zu küssen.
621. DIE ANKUNFT DER MUTTER UND
DER JÜNGERINNEN IN EPHRAIM
Im Haus der Maria des Jakob sind
schon alle auf den Beinen, obwohl es gerade erst Tag wird. Es muß ein Sabbat
sein, denn ich sehe auch die Apostel, die die Woche über auf Mission sind.
Feuer werden angefacht, um Wasser zu wärmen, und Maria läßt sich beim Sieben
des Mehls und beim Kneten des Teigs für das Brot helfen. Das alte Frauchen ist
sehr aufgeregt, aufgeregt wie ein kleines Mädchen, während sie bei ihrer
emsigen Arbeit immer wieder diesen oder jenen fragt: «Wird es gewiß heute
sein? Sind die anderen Räume bereit? Seid ihr sicher, daß es nicht mehr als
sieben sein werden?»
Petrus, der ein Lamm häutet und
es zum Braten vorbereitet, antwortet für alle: «Sie sollten schon vor dem
Sabbat hier sein; aber vielleicht waren die Frauen noch nicht fertig und haben
sich deshalb verspätet. Doch heute werden sie ganz sicher kommen. Oh, wie
glücklich ich bin! Ist der Meister hinausgegangen? Vielleicht geht er ihnen
entgegen...»
217
«Ja, er ist mit Johannes und
Samuel hinaus und in Richtung der Straße gegangen, die in das Innere von
Samaria führt», antwortet Bartholomäus und verläßt dann mit einem Krug
kochenden Wassers die Küche.
«Dann können wir sicher sein, daß
sie kommen. Jesus weiß immer alles», versichert Andreas.
«Ich möchte nur wissen, warum du
so lachst? Was gibt es zu lachen, wenn mein Bruder spricht?» fragt Petrus, der
das spöttische Lachen des müßig in einer Ecke sitzenden Judas bemerkt hat.
«Ich lache nicht über deinen
Bruder. Ihr seid alle so glücklich; also kann doch auch ich es sein und ohne
einen besonderen Grund lachen.»
Petrus betrachtet ihn mit
vielsagender Miene, wendet sich dann aber wieder seiner Arbeit zu.
«Schaut nur! Es ist mir gelungen,
einen blühenden Zweig zu finden. Er ist zwar nicht von einem Mandelbaum, wie
ich es wollte; aber sie hat nach der Mandelblüte auch immer andere Zweige im
Haus und wird mit meinem zufrieden sein», sagt Thaddäus, der gerade
hereinkommt und von Tau tropft, als wäre er im Wald gewesen. Er bringt einen
Bund blühender Zweige, ein Wunder taubedeckter Reinheit, das die Küche zu
erhellen und zu verschönern scheint.
«Oh, wie schön! Wo hast du sie
gefunden?»
«Bei Noemi. Ich wußte, daß ihre
Obstbäume immer später blühen, weil sie den Nordwinden ausgesetzt sind. Also
bin ich dort hinaufgestiegen.»
«Deshalb siehst du auch wie
Gewächs des Waldes aus! Die Tautropfen glänzen in deinen Haaren und haben dein
Gewand ganz naß gemacht.»
«Der Weg war so naß wie nach
einem Regen. Das ist schon der reichliche Tau der schönsten Monate.» Thaddäus
geht mit seinen Blüten, doch schon bald ruft er seinen Bruder, der ihm bei der
Anordnung der Zweige helfen soll.
«Ich komme. Ich verstehe etwas
davon. Frau, hast du nicht eine Amphore mit schlankem Hals, möglichst aus
rotem Ton?» sagt Thomas.
«Ich habe, was du suchst, und
auch noch andere Vasen... Ich habe sie immer an den Festtagen gebraucht... bei
den Hochzeiten meiner Kinder oder anderen wichtigen Anlässen. Wenn du warten
kannst, bis ich diese Fladen in den Ofen geschoben habe... einen Augenblick
nur... dann öffne ich dir die Truhe, in der ich die schöneren Sachen
aufbewahrt habe... Ach! Wenige sind es jetzt, nach so viel Unglück. Aber
einige habe ich behalten... Sie sind ein Andenken... und auch ein Schmerz,
denn wenn sie auch freudige Erinnerungen beinhalten, so machen sie mich nun
traurig, da sie mich an das erinnern, was nicht wiederkehrt.»
«Dann wäre es besser, wenn dich
niemand darum gebeten hätte. Hoffen wir nur, daß es uns nicht so ergeht wie in
Nob. Viel Aufwand für nichts ...» bemerkt Iskariot.
«Wenn ich dir doch sage, daß uns
eine Gruppe von Jüngern
218
benachrichtigt hat?! Glaubst du,
sie haben geträumt? Sie haben mit Lazarus gesprochen und er hat sie
absichtlich vorausgeschickt. Und sie haben uns berichtet, daß die Mutter noch
vor dem Sabbat mit dem Wagen des Lazarus hier sein wird, und daß Lazarus und
die Jüngerinnen ...»
«Sie sind aber nicht gekommen...»
«Ihr, die ihr diesen Mann gesehen
habt, sagt einmal: Macht er nicht Angst?» fragt die Alte und trocknet sich die
Hände an der Schürze ab. Ihre Fladen hat sie Jakobus des Zebedäus und Andreas
anvertraut, die sie zum Backofen bringen.
«Angst? Warum?»
«Nun, er ist doch ein Mensch, der
von den Toten zurückgekehrt ist.»Sie ist zutiefst bewegt.
«Du kannst beruhigt sein, Mutter.
Er ist in allem genau wie wir», versichert ihr Jakobus des Alphäus.
«Paß vielmehr auf und schwätze
nicht zu viel mit den anderen Frauen, sonst haben wir am Ende ganz Ephraim
hier drinnen, um uns zu belästigen», sagt Iskariot gebieterisch.
«Ich habe noch nie unklug
dahergeredet, seit ihr hier seid. Weder zu den Leuten aus der Stadt, noch zu
den Pilgern. Ich wollte lieber für dumm gehalten werden, als mich für gescheit
auszugeben und den Meister zu stören und ihm zu schaden. Und ich werde auch
heute schweigen können. Komm mit, Thomas.» Und sie geht hinaus, um ihre
verborgenen Schätze hervorzuholen.
«Die Frau fürchtet sich bei dem
Gedanken, einen von den Toten Auferstandenen zu sehen», sagt Iskariot und
lacht ironisch.
«Sie ist nicht die einzige. Die
Jünger haben mir erzählt, daß in Nazareth und ebenso in Kana und in Tiberias
große Aufregung herrschte. Einen Menschen, der wieder lebendig wird, nachdem
er schon vier Tage im Grab gelegen hat, findet man nicht so leicht wie eine
Margarite im Frühling. Auch wir waren ziemlich blaß, als er aus dem Grab kam.
Aber könntest du denn nicht etwas arbeiten, anstatt hier unnötig zu schwatzen?
Wir arbeiten alle, und es gibt noch so viel zu tun... Geh auf den Markt und
kaufe, was nötig ist. Heute kannst du es ja tun. Was wir gekauft haben, wird
nicht ausreichen, jetzt, da sie kommen. Und wir konnten nicht mehr in die
Stadt zurückkehren, da uns sonst der Einbruch der Dunkelheit dort überrascht
hätte.»
Judas ruft Matthäus, als dieser
ordentlich gekleidet in die Küche zurückkommt, und die beiden gehen zusammen
weg.
Auch der Zelote kommt wieder in
die Küche, ebenfalls ordentlich gekleidet, und sagt: «Dieser Thomas! Er ist
wahrlich ein Künstler. Mit nichts hat er den Raum wie für ein Hochzeitsmahl
hergerichtet. Geht nur und seht ihn euch an.»
Alle außer Petrus, der noch mit
seinem Lamm beschäftigt ist, gehen
219
um zu schauen. Petrus sagt: «Ich
kann es kaum mehr erwarten. Vielleicht wird auch Margziam dabei sein. In einem
Monat ist Passah. Sicher ist er schon von Kapharnaum oder Bethsaida
aufgebrochen.»
«Es freut mich, daß Maria kommt.
Besonders für den Meister. Sie wird ihn mehr als alle anderen trösten. Und er
hat das sehr nötig», antwortet der Zelote.
«So sehr! Aber hast du bemerkt,
daß auch Johannes traurig ist? Ich habe ihn gefragt. Jedoch ohne Erfolg. In
seiner Sanftmut ist er standhafter als wir alle, und wenn er etwas nicht sagen
will, dann kann ihn nichts zum Reden bringen. Trotzdem bin ich sicher, daß er
etwas weiß. Er ist wie der Schatten des Meisters. Er folgt ihm überallhin und
betrachtet ihn immer. Und wenn er sich unbeobachtet glaubt – denn wenn er es
merkt, begegnet er deinem Blick mit seinem Lächeln, das auch einen Tiger
sanftmütig machen würde – wenn er sich also unbeobachtet glaubt, dann sieht
sein Gesicht sehr traurig aus. Versuche doch du einmal, ihn zu fragen. Er hat
dich sehr lieb und weiß, daß du vorsichtiger bist als ich...»
«Oh, das stimmt nicht. Du bist
für uns alle ein Beispiel der Klugheit geworden. Und man erkennt in dir den
alten Simon nicht wieder. Du bist wirklich der Fels, der mit seiner robusten
und verständigen Festigkeit uns alle stützt.»
«Ach was! Sag doch so etwas
nicht! Ich bin ein armer Mensch. Natürlich... wenn man so viele Jahre mit ihm
zusammen ist, wird man ein wenig wie er. Ein wenig ... sehr wenig, aber doch
ganz anders, als man vorher war. Alle sind wir ... nein, leider nicht alle...
Judas ist immer der gleiche, hier wie beim Trügerischen Gewässer.»
«Gebe Gott, daß er immer der
gleiche bleibt!»
«Was willst du damit sagen?»
«Nichts und alles, Simon des
Jonas. Wenn der Meister mich hören würde, würde er sagen: "Urteile nicht."
Aber dies ist kein Urteil, sondern Furcht. Ich fürchte, Judas ist jetzt noch
schlimmer als beim Trügerischen Gewässer.»
«Gewiß ist er das, auch wenn er
noch so ist wie damals. Er ist es, denn er müßte sich doch sehr geändert
haben, müßte gerechter geworden sein; stattdessen ist er immer der gleiche.
Und so hat er nun die Sünde geistiger Trägheit auf sich geladen, was damals
nicht der Fall war. Denn zu Anfang war er... zwar schon etwas seltsam... aber
noch voll guten Willens. Sag einmal: Gibt es dir nicht zu denken, daß der
Meister beschlossen hat, Samuel mit uns auszusenden und alle Jünger, so viele
als möglich, beim Neumond des Nisan in Jericho zu versammeln? Zuvor hatte er
gesagt, daß der Mann hierbleiben würde... Und er hatte uns zuerst auch
verboten zu sagen, wo er sich aufhält. Ich habe den Verdacht ...»
«Nein, mir kommt alles klar und
logisch vor. Ganz Palästina kennt nun den Aufenthaltsort des Meisters, man
weiß nicht, wie und durch wen. Du
220
siehst, es sind Pilger und Jünger
aus der Gegend von Kedes bis Engedi, von Joppe bis Bozrah gekommen. Also ist
es unnötig, das Geheimnis weiterhin zu bewahren. Zudem nähert sich das
Passahfest, und ganz gewiß möchte der Meister seine Jünger um sich haben bei
der Rückkehr nach Jerusalem. Das Synedrium behauptet, du hast es gehört, er
sei besiegt und habe alle seine Jünger verloren. Und Jesus wird ihnen
antworten, indem er an ihrer Spitze in Jerusalem einzieht...»
«Ich habe Angst, Simon! Große
Angst... Hast du schon gehört? Alle, auch die Herodianer, haben sich gegen ihn
zusammengeschlossen ...»
«Ach ja. Gott helfe uns... !»
«Und warum schickt er Samuel mit
uns?»
«Sicher, um ihn auf seine Aufgabe
vorzubereiten. Ich sehe keinen Grund zur Aufregung... Es klopft! Gewiß sind es
die Jüngerinnen... !»
Petrus wirft seine blutbefleckte
Schürze auf einen Stuhl und läuft hinter dem Zeloten her, der an die Haustür
stürzt. Aus den verschiedenen Türen kommen alle anderen, die sich im Haus
befinden, und rufen: «Sie sind da! Sie sind da!»
Doch als die Türe offen ist,
stehen alle so sichtlich enttäuscht vor Elisa und Nike, daß die beiden
Jüngerinnen fragen: «Ist irgend etwas passiert?»
«Nein, nein. Aber... wir
dachten... es seien die Mutter und die Jüngerinnen aus Galiläa ...» sagt
Petrus.
«Ach so. Und nun seid ihr
betrübt. Wir hingegen freuen uns sehr, euch zu sehen und zu erfahren, daß
Maria bald kommt», sagt Elisa.
«Betrübt nicht... nur etwas
enttäuscht. Doch kommt, kommt herein! Der Friede sei mit den guten
Schwestern», grüßt sie Thaddäus im Namen aller.
«Und auch mit euch. Ist der
Meister nicht da?»
«Er ist mit Johannes Maria
entgegengegangen. Wir wissen, daß sie mit dem Wagen des Lazarus von Sichern
kommt», erklärt der Zelote.
Sie gehen ins Haus, während
Andreas sich um den Esel Elisas kümmert. Nike ist zu Fuß gekommen. Sie reden
über alles, was in Jerusalem geschieht, fragen nach den Freunden und den
Jüngern... nach Annalia, Maria und Martha, nach dem alten Johannes von Nob,
nach Joseph, Nikodemus und vielen anderen. Die Abwesenheit des Judas Iskariot
läßt sie in Ruhe und offen miteinander reden.
Elisa, die alte, erfahrene Frau,
die Judas schon in Nob begegnet ist, ihn nun recht gut kennt und ihn auch nur
"Gott zuliebe" liebt, wie sie ganz offen zugibt, will wissen, ob er im Haus
ist. Sie hat bisher aus irgendeiner Laune heraus an den Gesprächen der anderen
nicht teilgenommen, und erst, als sie erfährt, daß er einkaufen gegangen ist,
sagt sie, was sie weiß: «In Jerusalem scheint sich alles beruhigt zu haben,
und nicht einmal die bekannten Jünger werden mehr verhört. Man munkelt, dies
sei so, weil
221
Pilatus die Herren vom Synedrium
ordentlich abgekanzelt und darauf aufmerksam gemacht hat, daß er allein in
Palästina Recht spricht und sie deshalb Ruhe geben sollten.»
«Man sagt aber auch», bemerkt
Nike, «- und es ist gerade Manaen, der dies sagt, und auch andere, denn
Valeria sagt es ebenfalls – daß Pilatus wirklich genug habe von diesem
Aufruhr, der das ganze Land in Unruhe versetzt und ihm Unannehmlichkeiten
bereiten könnte. Pilatus sei auch beeindruckt von der Hartnäckigkeit, mit der
die Juden ihm einreden wollen, daß Jesus danach trachtet, sich als König
ausrufen zu lassen; und wenn nicht die gleichlautend positiven Berichte der
Centurionen wären, und vor allem der Einfluß seiner Gattin, könnte es dazu
kommen, daß er Jesus bestraft, vielleicht mit dem Exil.»
«Das hätte uns gerade noch
gefehlt! Pilatus wäre imstande, es zu tun! Durchaus imstande! Es ist die
leichteste römische Strafe und die am meisten angewandte nach der Geißelung.
Stellt euch vor: Jesus allein, wer weiß wo, und wir da- und dorthin zerstreut
...» sagt der Zelote.
«Ja, zerstreut! Das sagst du...
Mich wird niemand zerstreuen. Ich laufe dem Meister nach...» sagt Petrus.
«Oh, Simon, bildest du dir ein,
daß sie dir das erlauben würden? Sie fesseln dich wie einen Galeerensträfling
und bringen dich, wohin es ihnen gefällt, vielleicht auf die Galeeren oder in
eines ihrer Gefängnisse; dann kannst du deinem Meister nicht mehr nachlaufen»,
sagt Bartholomäus zu Petrus. Dieser zerzaust sich ratlos und mutlos das Haar.
«Wir werden es Lazarus sagen.
Lazarus wird offen zu Pilatus gehen. Und dieser wird ihn sicher gerne
empfangen, denn die Heiden lieben es, außergewöhnliche Wesen zu sehen...» sagt
der Zelote.
«Lazarus wird vor seiner Abreise
schon dort gewesen sein, und Pilatus wird ihn nicht noch einmal sehen wollen!»
sagt Petrus bedrückt.
«Dann wird er als Sohn des
Theophilus zu ihm gehen. Oder er wird seine Schwester Maria zu den Damen
begleiten. Sie waren ja sehr befreundet, als... nun ja, als Maria noch eine
Sünderin war...»
«Wißt ihr schon, daß Valeria,
nachdem ihr Mann sich von ihr hat scheiden lassen, Proselytin geworden ist?
Sie macht Ernst mit ihren Vorsätzen. Sie führt das Leben einer Gerechten und
ist für viele von uns ein Beispiel. Sie hat ihre Sklaven freigelassen und
unterrichtet nun alle im wahren Glauben. Sie hatte sich ein Haus auf dem Sion
gemietet. Aber nun, da Claudia gekommen ist, ist sie zu ihr zurückgekehrt ...»
«Also... !»
«Nein. Sie hat zu mir gesagt:
"Sobald Johanna kommt, gehe ich zu ihr. Aber vorläufig will ich Claudia
überzeugen." Es scheint, daß es Claudia nicht gelingt, in ihrem begrenzten
Glauben an Christus Fortschritte zu machen. Für sie ist er ein Weiser... nicht
mehr. Es scheint sogar, daß sie sich vor ihrer Rückkehr in die Stadt durch das
Gerede hat beeinflussen lassen
222
und sich skeptisch geäußert hat:
"Nun ja, er ist ein Mann wie unsere Philosophen, und nicht gerade einer der
Besten; denn seine Worte stimmen nicht mit seinem Leben überein." Und sie
soll... nun ja, sie soll sich Dinge erlaubt haben, die sie seit einiger Zeit
aufgegeben hatte», sagt Nike.
Was nicht anders zu erwarten war.
Heidnische Seelen! Eine gute mag darunter sein... aber die anderen! Nichts als
Unrat! Unrat!» urteilt Bartholomäus.
«Und Joseph?» fragt Thaddäus.
«Welcher Joseph? Der von
Sephoris? Der hat eine Angst... ! Ah! Euer Bruder Joseph ist dagewesen. Er ist
gekommen und sofort wieder abgereist, aber über Bethanien, um den Schwestern
zu sagen, daß sie den Meister unter allen Umständen daran hindern sollen, in
die Stadt zu gehen und sich dort aufzuhalten. Ich bin dabeigewesen und habe es
gehört. So habe ich auch erfahren, daß Joseph von Sephoris sehr belästigt
wurde und nun große Angst hat. Euer Bruder hat ihn beauftragt, ihn auf dem
laufenden zu halten über das, was man im Tempel ausheckt. Der von Sephoris
kann es erfahren durch den Verwandten, der mit seiner Schwester oder der
Tochter der Schwester seiner Frau verheiratet ist, ich weiß es nicht genau,
und der ein Amt im Tempel innehat», sagt Elisa.
«Wieviel Angst! Wenn wir jetzt
nach Jerusalem gehen, will ich meinen Bruder zu Annas schicken. Ich könnte
selbst hingehen, denn auch ich kenne diesen alten Fuchs sehr gut. Doch
Johannes ist besser geeignet. Und Annas mochte ihn sehr gern, damals, als wir
noch den Worten dieses alten Wolfs lauschten und glaubten, daß er ein Lamm
sei. Ich werde Johannes schicken, denn er bringt es fertig, Schmähungen ohne
Widerrede über sich ergehen zu lassen. Ich hingegen... wenn er vor mir Flüche
gegen den Meister ausstoßen würde, oder auch nur gegen mich, weil ich ihm
folge, ich würde ihn am Kragen packen, würde ihn vermöbeln und zerquetschen,
diesen alten Wanst, wie man ein Netz auswindet. Ich würde ihm seine
niederträchtige Seele aus dem Leib prügeln, und selbst wenn er alle Soldaten
des Tempels und alle Priester um sich hätte!»
«Wenn der Meister dich so reden
hören würde!» sagt Andreas entsetzt.
«Gerade weil er nicht da ist,
sage ich es!»
«Du hast recht! Du bist nicht der
einzige, der solche Gelüste hat. Auch ich habe sie!» sagt Petrus.
«Ich auch, und nicht nur Annas
betreffend!» sagt Thaddäus.
«Oh, was das angeht... auch ich
möchte einige bedienen. Ich habe eine lange Liste. Diese drei Gerippe von
Kapharnaum – ich schließe den Pharisäer Simon aus, denn er scheint mir noch
einigermaßen gut zu sein -die beiden Wölfe von Esdrelon und das alte
Knochengerüst von Chananias. Und dann... ein Massaker, ich sage es euch, ein
Massaker in Jerusalern, und allen voran Elchias. Ich halte es einfach nicht
mehr länger aus mit all diesen hinterhältigen Schlangen!» tobt Petrus.
223
Thaddäus sagt ganz ruhig – und
diese eisige Ruhe macht mehr Eindruck als das Toben des Petrus: «Und ich würde
dir dabei helfen. Aber vielleicht würde ich damit anfangen, die Schlangen in
unserer Nähe auszuheben.»
«Wen meinst du? Samuel?»
«Nein, nein. Wir haben nicht nur
Samuel in unserer Nähe. Es gibt so viele, die ein bestimmtes Gesicht zeigen,
deren Seele aber ganz anders ist als ihr Gesicht. Ich lasse sie nicht aus den
Augen. Niemals. Ich will ganz sicher sein, bevor ich etwas unternehme. Aber
sobald ich sicher bin! Das Blut Davids ist heiß! Und heiß ist auch das Blut
der Galiläer. Ich habe beides in mir, von väterlicher und mütterlicher Seite.»
«Sage mir, wenn es soweit ist.
Ich werde dir helfen ...» sagt Petrus.
«Nein. Blutrache ist eine Pflicht
der Familie. Das ist meine Angelegenheit.»
«Aber Kinder, Kinder! Sprecht
doch nicht so. Ist es das, was der Meister lehrt? Ihr gleicht zornigen jungen
Löwen, anstatt Lämmern des Lammes. Legt eure Rachsucht ab. Die Zeiten Davids
sind schon lange vorüber. Das Gesetz des Blutes und der Vergeltung ist durch
Christus aufgehoben. Er läßt die Zehn Gebote unverändert; aber die anderen
harten mosaischen Gesetze hebt er auf. Von Moses bleiben die Gebote der
Barmherzigkeit, der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, die unser Jesus
zusammenfaßt und vervollkommnet in seinem größten Gebot: "Du sollst Gott
lieben mit deinem ganzen Gemüte; du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst, denen verzeihen, die dich beleidigen, und lieben, die dich hassen."
Oh, verzeiht mir, wenn ich als Frau mir erlaubt habe, meine Brüder zu
belehren. Es ist so viel größer als ich. Doch ich bin eine alte Mutter. Und
eine Mutter darf immer sprechen. Wenn ihr selbst Satan zu euch ruft durch
euren Haß gegen die Feinde und den Wunsch nach Rache, dann wird er kommen und
euch verderben. Satan ist nicht Stärke. Glaubt mir. Gott ist Stärke, Satan
aber Schwäche, Bürde und Abstumpfung. Ihr könntet, wenn Haß und Rache euch
erst einmal in Ketten gelegt hätten, keinen Finger mehr rühren; gegen eure
Feinde nicht, und nicht einmal, um unseren betrübten Jesus zu liebkosen. Auf,
meine Kinder! Alle seid ihr Kinder! Auch ihr, die ihr in meinem Alter oder
vielleicht noch älter seid. Alle seid ihr Kinder für eine Frau, die euch
liebt; für eine Mutter, die die Freude wiedergefunden hat, Mutter zu sein,
indem sie euch alle wie Söhne liebt. Erfüllt mich nicht mit der Angst, noch
einmal meine teuren Kinder verloren zu haben, und diesmal für immer. Denn wenn
ihr in eurem Haß oder bei einem Verbrechen sterbt, dann seid ihr auf ewig tot,
und wir könnten uns nicht mehr dort oben im Jubel um unsere gemeinsame Liebe
versammeln: um Jesus. Versprecht mir hier und sofort, mir, die ich euch
anflehe, versprecht einer armen Frau, einer armen Mutter, daß ihr nie wieder
solche Gedanken hegen werdet. Oh, sie entstellen sogar euer Antlitz. Ich
224
erkenne euch nicht wieder, so
verändert seid ihr. Wie häßlich macht euch die Rachsucht! Und ihr wart doch so
sanft. Was ist denn mit euch los? Hört mir zu! Maria würde euch das gleiche
sagen, nur mit etwas mehr Macht, denn sie ist Maria; aber es ist besser, wenn
sie nicht den ganzen Schmerz kennt... Oh, arme Mutter! Was geschieht nur? Ich
muß wahrhaftig annehmen, daß die Stunde der Finsternis angebrochen ist. Die
Stunde, die alle verschlingen wird. Die Stunde, in der Satan in allen König
sein wird, nur nicht in dem Heiligen, und alle versuchen wird, auch die
Heiligen, auch euch. Die Stunde, da er euch feige, meineidig und grausam
macht, wie er selbst es ist! Oh, bis jetzt habe ich immer Hoffnung gehabt und
gesagt: "Die Menschen werden Christus nichts anhaben können." Aber nun? Nun
habe ich Angst und zittere zum ersten Mal! An diesem klaren Himmel des Adar
sehe ich die große Finsternis sich ausbreiten und überhandnehmen; die
Finsternis, die den Namen Luzifer trägt und euch alle verdunkeln wird; die
Finsternis, die Gifte auf euch regnen lassen und euch krank machen wird. Oh,
ich habe Angst!» Elisa, die schon eine Weile lautlos geweint hat, läßt nun das
Haupt auf den Tisch sinken, an dem sie sitzt, und schluchzt verzweifelt.
Die Apostel sehen einander an.
Sie sind traurig geworden und versuchen, Elisa zu trösten; aber sie weist den
Trost zurück und sagt: «Eines, eines nur will ich von euch: euer Versprechen.
Zu eurem Besten. Damit Jesus in seinem Schmerz nicht auch noch den größten
Schmerz erleiden muß: euch verdammt zu sehen, euch, seine Auserwählten!»
«Aber ja, Elisa. Wenn es das ist,
was du willst! Weine nicht, Frau! Wir versprechen es. Höre. Wir werden gegen
niemanden auch nur einen Finger erheben. Wir werden nicht einmal schauen, um
nicht zu sehen. Weine nicht! Weine nicht! Wir werden denen verzeihen, die uns
beleidigen! Wir werden lieben, die uns hassen! Auf, weine nicht mehr.»
Elisa hebt das faltige,
tränennasse Gesicht und sagt: «Denkt daran. Ihr habt es mir versprochen!
Wiederholt es noch einmal!»
«Wir versprechen es dir, Frau.»
«Meine lieben Söhne, nun gefällt
ihr mir wieder. So erkenne ich euch wieder als meine guten Söhne. Und nun, da
sich meine Angst gelegt hat und ihr wieder rein seid von der bitteren Hefe,
wollen wir alles für die Ankunft Marias vorbereiten. Was ist noch zu tun?»
sagt Elisa und wischt sich die letzten Tränen aus den Augen.
«Eigentlich... haben wir schon
alles vorbereitet. Wir Männer. Aber Maria des Jakob hat uns dabei geholfen.
Sie ist eine Samariterin, aber eine herzensgute Seele. Du wirst sie gleich
sehen. Sie ist beim Backofen, um auf das Brot achtzugeben. Sie ist allein,
denn ihre Kinder sind tot oder haben sie vergessen, und der Reichtum ist
dahin... doch sie kennt keinen Groll...»
«Ach, seht ihr? Seht ihr, daß es
jemanden gibt, der verzeihen kann,
225
auch bei den Heiden, den
Samaritern. Und es muß schrecklich sein, wißt ihr, einem Sohn verzeihen zu
müssen... ! Besser tot als ein Sünder! Sagt, seid ihr sicher, daß Judas nicht
da ist?»
«Wenn er nicht ein Vogel geworden
ist, kann er nicht da sein, da zwar die Fenster offen, aber alle Türen, mit
Ausnahme von dieser hier, verschlossen sind.»
«Also... Maria des Simon ist mit
ihrem Verwandten in Jerusalem gewesen. Sie ist zum Tempel gegangen, um dort
Opfer darzubringen, und hat uns dann besucht. Sie gleicht einer Märtyrerin, so
betrübt ist sie! Sie hat mich gefragt, alle hat sie gefragt, ob wir nicht
etwas von ihrem Sohn wüßten. Ob er beim Meister sei... ob er immer bei ihm
gewesen sei...»
«Was hat denn diese Frau?» fragt
Andreas erstaunt.
«Sie hat ihren Sohn. Meinst du
nicht, daß das genügt?» fragt Thaddäus.
«Ich habe sie getröstet. Sie
wollte noch einmal mit uns in den Tempel. Wir gingen alle zusammen und haben
gebetet. Dann ist sie abgereist, immer mit ihrer Angst. Ich sagte ihr: "Wenn
du hierbleibst, kannst du bald mit uns zum Meister gehen. Dort wirst du deinen
Sohn finden." Sie wußte schon, daß Jesus hier ist. Man wußte es schon bis an
die Grenzen Palästinas. Doch sie wollte nicht: "Nein, nein. Der Meister hat
mir gesagt, ich solle im Frühjahr nicht in Jerusalem sein. Und ich gehorche.
Doch da ich Gott sehr nötig habe, wollte ich, bevor er zurückkommt, zum Tempel
hinaufgehen." Und dann hat sie noch etwas Eigenartiges gesagt: "Ich bin
unschuldig. Aber die Hölle ist in mir, und ich bin in ihr, so sehr werde ich
gepeinigt." Wir haben ihr viele Fragen gestellt, aber sie wollte nichts weiter
sagen; weder über ihre Qualen, noch über die Gründe für das Verbot Jesu. Sie
hat uns nur gebeten, Jesus und Judas nichts zu sagen.»
«Arme Frau! So wird sie also an
Passah nicht in Jerusalem sein?» fragt Thomas.
«Sie wird nicht dort sein.»
«Nun, wenn Jesus ihr das geboten
hat, wird er wohl einen Grund haben. Habt ihr gehört? Überall weiß man, daß
Jesus hier ist!» sagt Petrus.
«Ja. Und die, die es verkündet
haben, haben auch in seinem Namen aufgerufen, sich zu sammeln zum Aufstand
"gegen die Tyrannen", haben einige behauptet. Und andere, er würde sich hier
aufhalten, weil man ihn entlarvt hat...»
«Immer die gleichen Gründe! Die
müssen wahrhaft das ganze Gold des Tempels ausgegeben haben, um diese... ihre
Knechte in alle Himmelsrichtungen zu schicken!» bemerkt Andreas.
Es klopft an der Haustür.
«Sie sind da!» Alle eilen hinaus,
um zu öffnen.
Es ist jedoch nur Judas mit
seinen Einkäufen. Matthäus folgt ihm. Judas sieht Elisa und Nike, grüßt sie
und fragt: «Seid ihr allein?»
226
«ja. Maria ist noch nicht da.»
«Maria kommt nicht aus südlicher
Richtung, daher kann sie nicht bei euch sein. Ich meinte, ob Anastasica nicht
da ist?»
«Nein, sie ist in Bethsur
geblieben.»
«Warum? Auch sie ist eine
Jüngerin. Weißt du denn nicht, daß wir von hier aus zum Passahfest nach
Jerusalem aufbrechen werden? Sie hätte kommen sollen. Wenn nicht einmal die
Jüngerinnen und die Getreuen vollkommen sind, wer soll es dann sein? Wer wird
dann im Gefolge Jesu sein, um das Geschwätz Lügen zu strafen, daß alle ihn
verlassen haben?»
«Oh, wenn es nur das ist! Eine
arme Frau wird die Lücken nicht füllen. Die Rosen wachsen zwischen Dornen und
in verschlossenen Gärten. Ich vertrete Mutterstelle an ihr und habe es so
angeordnet.»
«Dann wird sie also an Passah
nicht dort sein?»
«Sie wird nicht dort sein.»
«Und so sind es schon zwei!» ruft
Petrus aus.
«Was sagst du? Wer: zwei?» fragt
der stets mißtrauische Judas.
«Nichts, nichts! Es war nur eine
Rechnung von mir. Man kann viele Dinge zählen, oder nicht? Auch die... Fliegen
zum Beispiel, die sich auf meinem gehäuteten Lamm dort niederlassen.»
Maria des Jakob kommt herein.
Samuel und Johannes folgen ihr und bringen die frischgebackenen Brote. Elisa
und Nike grüßen die Frau. Und Elisa fügt mit sanfter Stimme hinzu, um ihr
Vertrauen einzuflößen: «Du bist in deinem Schmerz unter Schwestern, Maria. Ich
bin allein, denn ich habe Mann und Söhne verloren, und diese dort ist eine
Witwe. Daher werden wir uns lieben, denn nur wer Tränen vergossen hat, kann
verstehen ...»
Unterdessen sagt Petrus zu
Johannes: «Warum bist du hier? Wo ist der Meister?»
«Auf dem Wagen. Mit seiner
Mutter.»
«Und du sagst nichts?!»
«Du hast mir keine Zeit dazu
gelassen. Es sind alle gekommen. Aber ihr werdet sehen, wie schlecht Maria von
Nazareth aussieht. Sie scheint um Jahre gealtert zu sein. Lazarus sagt, sie
habe sich sehr geängstigt, als er ihr mitteilte, daß Jesus hierher geflüchtet
sei.»
«Warum hat ihr dieser Dummkopf
das denn gesagt? Bevor er gestorben ist, war er doch so intelligent. Aber
vielleicht ist sein Gehirn im Grab weich geworden und hat sich nicht mehr
erholt. Man stirbt nicht ungestraft ...» sagt Judas ironisch und verächtlich.
«Nichts dergleichen! Warte ab,
bevor du redest. Lazarus von Bethanien hat es Maria erst unterwegs gesagt, als
sie sich über den Weg wunderte, den Lazarus einschlug», sagt Samuel streng.
«Ja, bei seiner ersten Durchreise
durch Nazareth sagte er nur: "In einem Monat werde ich dich zu deinem Sohn
bringen." Und er sagte nicht
227
einmal: "Wir fahren nach
Ephraim", als sie schon im Aufbruch begriffen waren, sondern...» sagt
Johannes.
«Alle wissen, daß Jesus hier ist.
Nur sie soll es nicht gewußt haben?» fragt Judas grob und unterbricht damit
Johannes.
«Maria wußte es, sie hatte es
gehört. Da jedoch eine Flut von schmutzigen Lügen Palästina überschwemmt,
wollte sie keiner dieser Nachrichten Glauben schenken. Sie hat schweigend
gelitten und gebetet. Doch als sie unterwegs waren und Lazarus den Weg längs
des Flusses einschlug, um die Nazarener und alle aus Kana, Sephoris und
Bethlehem in Galiläa irrezuführen ...»
«Ah, kommt auch Noemi mit Myrtha
und Aurea?» fragt Thomas.
«Nein. Jesus hat es ihnen
verboten. Isaak hat ihnen das Verbot überbracht, als er nach Galiläa
zurückgekehrt ist.»
«Dann... werden also auch diese
Frauen nicht bei uns sein, wie letztes Jahr.»
«Sie werden nicht bei uns sein.»
«Wieder drei!»
«Auch unsere Frauen und Töchter
werden nicht kommen. Der Meister selbst hat es ihnen geboten, bevor er Galiläa
verlassen hat. Das heißt, er hat es wiederholt; denn meine Tochter Marianna
sagte, Jesus habe es schon letztes Jahr an Passah so angeordnet.»
«Also... sehr gut! Kommen
wenigstens Johanna, Salome und Maria des Alphäus?»
«Ja. Auch Susanna.»
«Ganz gewiß auch Margziam... Doch
was ist das für ein Lärm?»
«Die Wagen! Die Wagen! Und alle
Nazarener, die sich nicht geschlagen gegeben haben und Lazarus gefolgt sind.
Auch die von Kana ...» antwortet Johannes und eilt mit den anderen davon.
Durch die offene Tür sieht man
ein wildes Durcheinander. Außer Maria, die mit Jesus und den Jüngerinnen in
einem Wagen sitzt, und Lazarus und Johanna, die zusammen mit Maria, Matthias,
Esther, weiteren Dienerinnen und dem getreuen Jonathan in einem zweiten Wagen
gefahren sind, ist eine große Volksmenge da. Bekannte Gesichter und unbekannte
Gesichter aus Nazareth, Kana, Tiberias, Naim und Endor. Und Samariter aus
allen Dörfern, durch die sie auf der Fahrt gekommen sind, und aus den
Nachbardörfern. Sie drängen sich um die Wagen, versperren den Weg und hindern
alle daran, auszusteigen oder einzusteigen.
«Was wollen die denn? Warum sind
sie gekommen? Wie haben sie es erfahren?»
«Nun, die Nazarener haben sich
auf die Lauer gelegt. Und als Lazarus am Abend ankam, um am nächsten Morgen
gleich wieder abzureisen, sind sie in die nahen Ortschaften geeilt. Und ebenso
die von Kana, denn Lazarus ist dort durchgefahren, um Susanna abzuholen und
sich mit Johanna
228
zu treffen. Dann sind sie ihm
gefolgt oder vorausgeeilt, um Jesus zu sehen und Lazarus zu sehen. Die Leute
in Samaria haben davon erfahren und sich ihnen angeschlossen. Und da sind sie
nun alle...» erklärt Johannes.
«Du, du hattest Angst, daß der
Meister kein Gefolge haben würde, sag, scheint dir das nun genug?» fragt
Philippus Iskariot.
«Nun, die sind wegen Lazarus
gekommen...»
«Nachdem sie ihn gesehen hatten,
hätten sie doch wieder gehen können. Aber sie sind bis hierher gefolgt. Ein
Zeichen, daß es auch solche gibt, die wegen des Meisters gekommen sind.»
«Gut. Wir wollen keine unnützen
Worte verlieren. Schaffen wir zunächst Platz, damit sie hereinkommen können.
Los, ihr Jungen! Damit wir in Übung bleiben. Wir haben schon lange nicht mehr
unsere Ellbogen gebraucht, um Jesus einen Weg zu bahnen!» Und Petrus arbeitet
sich als erster wie ein Keil durch die hosannarufende, neugierige,
ehrerbietige und geschwätzige Menge. Und als es ihm mit Hilfe anderer und
vieler Jünger in der Menge gelungen ist, etwas Platz zu schaffen, können sich
die Frauen endlich ins Haus flüchten, und ebenso Jesus und Lazarus. Petrus
zieht sich als letzter zurück, verrammelt die Tür mit Schlössern und Riegeln
und schickt andere zum Gartentor, um auch dieses zu verschließen. «Oh,
endlich! Der Friede sei mit dir, Maria, du Gesegnete! Endlich sehe ich dich
wieder! Nun ist alles schön, weil du bei uns bist!» grüßt Petrus und verneigt
sich bis zum Boden vor Maria. Eine Maria mit so traurigem, bleichem und müdem
Gesicht, daß es schon dem Gesicht der Schmerzensmutter gleicht.
«Ja, nun ist alles weniger
schmerzlich, da ich hier in seiner Nähe bin.»
«Ich habe dir doch versichert,
daß es die Wahrheit ist», sagt Lazarus.
«Du hast recht... Doch als ich
erfuhr, daß mein Sohn hier ist, hat sich für mich die Sonne verdunkelt und
jeder Friede war dahin... Ich habe verstanden... Oh!» Immer neue Tränen rinnen
über die bleichen Wangen.
«Weine nicht, meine Mutter! Weine
nicht! Ich war hier bei diesen guten Menschen, bei einer anderen Maria, die
ebenfalls Mutter ist...» Jesus begleitet Maria in einen Raum, der zum ruhigen
Garten hin gelegen ist. Alle folgen ihm.
Lazarus entschuldigt sich: «Ich
mußte es ihr sagen, denn sie kannte die Straße und konnte nicht verstehen,
warum ich diese nahm. Sie glaubte dich bei mir in Bethanien... Doch als dann
in Sichern ein Mann rief: "Auch wir gehen zum Meister nach Ephraim", konnte
ich es nicht mehr verheimlichen... Ich hoffte auch, diesen Leuten dadurch zu
entgehen, daß ich bei Nacht aufbrach und wenig benützte Straßen nahm. Aber es
war nichts zu machen! In jeder Ortschaft hatten sie Wachen aufgestellt, und
während uns eine Schar folgte, gingen andere bereits voraus, um uns
anzukündigen.»
Maria des Jakob bringt Milch,
Honig, Butter und frisches Brot und
229
bietet alles zuerst Maria an.
Dabei schaut sie Lazarus von unten bis oben an, halb neugierig und halb
ängstlich, und ihre Hand zittert, als sie Lazarus Milch gibt und dabei seine
Hand streift. Als sie sieht, daß er wie alle anderen von ihren Fladen ißt,
kann sie ein «Oh!» nicht zurückhalten.
Lazarus lacht als erster und sagt
liebenswürdig, vornehm und sicher, wie alle Menschen edler Herkunft: «Ja,
Frau. Ich esse genau wie du, und dein Brot und deine Milch schmecken mir sehr
gut. Gewiß wird mir auch dein Bett gefallen, denn ich spüre die Müdigkeit
ebenso wie den Hunger.»Dann wendet er sich den anderen zu und sagt: «Viele
fassen mich unter irgendeinem Vorwand an, um zu sehen, ob ich wirklich aus
Fleisch und Bein bin, ob ich warm bin und atme. Es ist etwas anstrengend.
Sobald meine Mission beendet ist, werde ich mich nach Bethanien zurückziehen.
In deiner Nähe, Meister, lenke ich die Leute zu sehr ab. Bis Syrien habe ich
geleuchtet, habe ich Zeugnis von deiner Macht abgelegt. Nun verdunkle ich
mich. Du allein sollst am Himmel des Wunders leuchten, am Himmel Gottes und
vor den Menschen.»
Maria sagt indessen zu der
Greisin: «Mein Sohn hat mir gesagt, wie gut du zu ihm gewesen bist. Laß mich
dich küssen, um dir damit zu sagen, daß ich dankbar bin. Ich habe nichts,
womit ich dich belohnen könnte, außer meiner Liebe. Auch ich bin arm... und
auch ich kann sagen, daß ich keinen Sohn mehr habe, denn er gehört Gott und
seiner Mission... Und so soll es immer sein, denn heilig und gerecht ist
alles, was Gott will.»
Maria ist sanft, doch wie
gebrochen vor Kummer... Alle Apostel betrachten sie mit so viel Mitleid, daß
sie darüber den Tumult draußen vergessen; und sie vergessen sogar, nach den
fernen Angehörigen zu fragen.
Doch Jesus sagt: «Ich gehe auf
die Terrasse, um die Leute zu segnen und zu entlassen.» Das rüttelt Petrus auf
und er sagt: «Aber wo bleibt denn Margziam? Ich habe alle Jünger gesehen, nur
ihn nicht.»
«Margziam ist nicht da»,
antwortet Salome, die Mutter des Jakobus und des Johannes.
«Was, Margziam ist nicht da?
Warum nicht? Ist er krank?»
«Nein, es geht ihm gut. Auch
deiner Frau geht es gut. Aber Margziam ist nicht da, weil Porphyria ihn nicht
gehen lassen wollte.»
«Dummes Frauenzimmer! In einem
Monat ist Passah, und da muß er doch sowieso kommen! Also hätte sie ihn gleich
mit euch schicken können, um dem Sohn und mir eine Freude zu machen. Aber sie
ist langsamer und schwerer von Begriff als ein Schaf ...»
«Johannes und Simon des Jonas,
Lazarus, und du, Simon Zelot, kommt mit mir. Die anderen bleiben, wo sie sind,
bis ich die Leute entlassen und die Jünger ausgesondert habe», befiehlt Jesus,
geht mit den vier Männern hinaus und schließt die Tür.
Er geht durch den Hausgang in die
Küche und dann in den Garten, gefolgt von Petrus, der etwas in seinen Bart
brummt, und den anderen.
230
Doch bevor Jesus die Terrasse
betritt, bleibt er auf der Treppe stehen, dreht sich um und legt eine Hand auf
die Schulter des Petrus, der ihn unzufrieden anschaut. «Höre mir gut zu, Simon
Petrus, und höre auf, Porphyria zu beschuldigen und zu schelten. Sie ist
unschuldig. Sie gehorcht nur meinem Befehl. Ich bin es, der ihr vor dem
Laubhüttenfest geboten hat, Margziam nicht nach Judäa kommen zu lassen ...»
«Aber das Passahfest, Herr!»
«Ich bin der Herr, du sagst es.
Und als Herr kann ich alles befehlen, denn meine Befehle sind immer gerecht.
Quäle dich daher nicht mit unnötigen Skrupeln. Erinnerst du dich, was in
Numeri geschrieben steht? "Wenn jemand von euch an einer Leiche unrein
geworden ist oder sich auf einer weiten Reise befindet, so soll er das Passah
des Herrn am 14. Tage des zweiten Monats gegen Abend halten."»
«Aber Margziam ist doch nicht
unrein. Ich hoffe wenigstens, daß Porphyria nicht gerade jetzt die Absicht hat
zu sterben. Und er ist auch nicht auf Reisen...» entgegnet Petrus.
«Das macht nichts. Ich will es
so. Es gibt Dinge, die noch unreiner machen können als ein Toter. Ich möchte
nicht, daß Margziam Schaden leidet. Laß mich nur gewähren, Petrus. Ich weiß,
was ich tue. Versuche zu gehorchen, wie deine Frau und auch Margziam es tun.
Wir werden mit ihm das zweite Passahfest feiern, am 14. Tag des zweiten
Monats. Und wir werden dann sehr glücklich sein. Ich verspreche es dir.»
Petrus macht eine Miene, als
wollte er sagen: «Finden wir uns eben damit ab», doch er widerspricht nicht.
Der Zelote bemerkt: «Es ist schon
eine Weile, daß du nicht mehr ausrechnest, wie viele an Ostern nicht in der
Stadt sein werden ...»
«Ich habe keine Lust mehr, sie zu
zählen. All dies erfüllt mich mit einem seltsamen Gefühl... Ein Schauder...
Dürfen es die anderen wissen?»
«Nein. Ich habe euch eigens
beiseite genommen.»
«Dann habe auch ich Lazarus etwas
Vertrauliches zu sagen.»
«Sprich nur. Wenn ich kann, will
ich gerne antworten», sagt Lazarus.
«Oh, auch wenn du mir nicht
antwortest, macht es nichts. Es genügt mir, wenn du zu Pilatus gehst – die
Idee stammt von deinem Freund Simon – und im Gespräch mit ihm so nebenbei
herausbekommst, was er mit Jesus im Sinn hat, im Guten oder Bösen... Weißt
du... mit Geschick... Denn es wird so viel geredet... !»
«Ich werde es tun, gleich nach
meiner Ankunft in Jerusalem. Ich werde über Bethel und Rama anstatt über
Jericho nach Bethanien fahren, eine Zeitlang im Palast von Sion verweilen und
dann zu Pilatus gehen. Du kannst dich darauf verlassen, Petrus. Ich werde klug
und aufrichtig sein.»
«Du wirst nur deine Zeit
vergeuden, Freund. Denn Pilatus – du weißt es als Mensch, ich weiß es als Gott
– ist nur ein Schilfrohr, das sich je nach dem Wind in die eine oder andere
Richtung neigt und auszuweichen
231
versucht. Er ist niemals
unaufrichtig; denn er ist immer davon überzeugt, daß er tun wird, und er tut
in diesem Augenblick auch, was er sagt. Aber einen Augenblick später, wenn der
Wind von einer anderen Seite heult, vergißt er – oh! nicht daß er sein
Versprechen nicht halten oder sein Wille schwanken würde – einfach alles, was
er vorher wollte. Er vergißt, weil das Heulen eines Willens, der stärker ist
als der seine, ihm das Gedächtnis nimmt, alle Gedanken fortbläst, die ein
anderer Sturm ihm eingegeben hatte, und ihm neue in den Kopf weht. Und die
tausend Stimmen des Sturms übertönt die Stimme seiner Frau, die ihm mit
Scheidung droht, wenn er nicht tut, was sie will... Und von ihr getrennt, wäre
es aus mit seiner Macht, würde er die Gunst des "göttlichen" Caesar verlieren,
wie sie sagen, obwohl sie davon überzeugt sind, daß dieser Caesar
verwerflicher ist als sie selbst... Denn sie sehen in der Person die Idee; die
Idee läßt sogar den Menschen, der sie repräsentiert, unbedeutend werden. Und
man kann nicht sagen, daß diese Idee ungebührlich wäre. Denn jeder
Staatsbürger liebt sein Vaterland, und es ist auch richtig, daß er es liebt,
daß er seinen Triumph wünscht... Der Caesar ist das Vaterland... und so... ist
er, selbst wenn er ein Elender ist, groß um dessentwillen, was er
repräsentiert. Aber ich wollte nicht vom Caesar sprechen, sondern von Pilatus.
Ich sagte also, daß stärker als alle Stimmen, als die seiner Frau und die der
Menge, die Stimme – und was für eine Stimme! – des eigenen Ich sich Gehör
verschafft. Das kleine Ich des kleinen Mannes, das gierige Ich des gierigen
Mannes, das stolze Ich des stolzen Mannes. Diese Kleinheit, dieser Stolz und
diese Gier wollen herrschen, um mächtig zu sein, wollen herrschen, um viel
Geld und einen Haufen kriechende Untergebene zu haben. Der Haß brütet im
Verborgenen, aber der kleine Caesar, Pilatus genannt, unser kleiner Caesar,
sieht ihn nicht... Er sieht nur die gebeugten Rücken, die Verehrung und Furcht
vortäuschen oder sie manchmal auch wirklich ausdrücken. Und für diese
stürmische Stimme des eigenen Ich ist er zu allem bereit. Ich sage: zu allem.
Hauptsache, er kann weiterhin Pontius Pilatus, der Prokonsul, der Diener des
Caesar, der Beherrscher einer der vielen Regionen des Imperiums bleiben. Und
deshalb wird er – auch wenn er mich heute verteidigt – morgen mein Richter
sein, mein erbarmungsloser Richter. Die Gedanken der Menschen sind immer
unstet, und ganz besonders, wenn der Mensch Pontius Pilatus heißt. Aber du
kannst Petrus zufriedenstellen, Lazarus... Wenn ihm das ein Trost ist...»
«Ein Trost nicht... aber eine
Beruhigung...»
«Dann stelle unseren guten Petrus
zufrieden und geh zu Pilatus.»
«Ich werde es tun, Meister. Aber
du hast den Prokonsul dargestellt, wie es kein Geschichtsschreiber oder
Philosoph hätte tun können. Ausgezeichnet!»
«Genauso könnte ich den wahren
Charakter eines jeden Menschen darstellen. Aber gehen wir nun zu den Leuten,
die draußen lärmen.»
232
Jesus steigt die letzten Stufen
hinauf und zeigt sich der Menge. Er hebt die Arme und sagt mit lauter Stimme:
«Leute von Galiläa und Samaria, Jünger und Nachfolger. Eure Liebe, der Wunsch,
mir Ehre zu erweisen und meine Mutter und meinen Freund zu ehren, hat euch dem
Wagen folgen lassen und mir gezeigt, wie ihr über mich denkt. Ich kann euch
für diese Gesinnung nur segnen. Doch nun kehrt nach Hause und zu euren
Geschäften zurück. Ihr von Galiläa, geht und sagt den Daheimgebliebeneu, daß
Jesus von Nazareth sie segnet. Männer von Galiläa, wir werden uns an Passah in
Jerusalem wiedersehen, wo ich am Tag nach dem Sabbat vor dem Passahfest
eintreffen werde. Männer von Samaria, geht auch ihr. Und beschränkt eure Liebe
zu mir nicht darauf, mich nur auf den irdischen Wegen zu suchen, sondern auch
auf denen des Geistes. Geht und laßt das Licht in euch leuchten. Jünger des
Meisters, trennt euch von den anderen Getreuen und bleibt in Ephraim, damit
ich euch meine Unterweisungen geben kann. Geht und gehorcht.»
«Er hat recht! Wir stören ihn. Er
will mit seiner Mutter allein sein!» schreien die Jünger und die Nazarener.
«Wir gehen. Doch zuvor wollen wir
ein Versprechen: daß er vor dem Passahfest nach Sichern kommt. Nach Sichern!
Nach Sichern!»
«Ich werde kommen. Geht nun. Ich
werde kommen, bevor ich zum Passahfest nach Jerusalem gehe.»
«Geh nicht nach Jerusalem! Geh
nicht! Bleibe bei uns! Bei uns! Wir werden dich verteidigen. Wir werden dich
zu unserem König und Herrscher erheben! Sie hassen dich! Wir lieben dich!
Nieder mit den Juden! Es lebe Jesus!»
«Ruhe! Macht keinen Lärm! Meine
Mutter leidet unter diesen Rufen, die mir mehr schaden können als ein Wort des
Fluches. Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Geht also. Ich werde durch
Sichern kommen. Doch entfernt aus euren Herzen den Gedanken, daß ich aus
niedriger menschlicher Feigheit und in sakrilegischer Auflehnung gegen den
Willen meines Vaters meine Pflicht als Israelit vernachlässigen könnte, den
wahren Gott in dem einzigen Tempel, in dem er angebetet werden darf,
anzubeten. Ich werde nur in Jerusalem die Krone als Messias erhalten und zum
König der ganzen Welt gesalbt werden, entsprechend den Worten und der von den
großen Propheten geschauten Wahrheit.»
«Höre auf damit! Es gibt keine
anderen Propheten nach Moses! Du machst dir falsche Hoffnungen.»
«Ihr auch. Seid ihr vielleicht
frei? Nein. Wie heißt Sichern jetzt? Was ist der neue Name? Und was für
Sichern gilt, gilt auch für viele andere Städte von Samaria, Judäa und
Galiläa; denn der römische Schmelztiegel macht uns alle gleich. Heißt eure
Stadt vielleicht Sichern? Nein, Neapolis heißt sie. So wie Bethsean
Scythopolis heißt und viele andere Städte, die, sei es auf Befehl der Römer,
sei es aus kriegerischer Untertänigkeit, den
233
von den Herren oder von der
Schmeichelei auferlegten Namen angenommen haben. Und ihr allein wollt stärker
sein als eine ganze Stadt, als eure Bezwinger, als Gott? Nein, nichts kann das
Schicksal dessen ändern, der zur Rettung aller bestimmt ist. Ich folge dem
geraden Weg. Folgt mir nach, wenn ihr mit mir in das ewige Reich eingehen
wollt.»
Jesus will sich zurückziehen.
Aber das Volk aus Samaria lärmt so sehr, daß die Galiläer reagieren.
Gleichzeitig eilen alle im Haus durch den Garten und die Treppe zur Terrasse
hinauf. Als erstes erscheint das bleiche, traurige und verängstigte Gesicht
Marias hinter Jesus. Die Mutter umarmt ihren Sohn und drückt ihn an sich, als
wolle sie ihn vor den Schmähungen schützen, die von unten heraufgeschrien
werden: «Du hast uns verraten! Du bist zu uns geflüchtet und hast uns glauben
gemacht, daß du uns liebst, während du uns doch nur verachtest! Nun wird man
uns durch deine Schuld noch mehr verachten!» und so weiter.
Auch die Jüngerinnen, die Apostel
und als letzte die erschrockene Maria des Jakob drängen sich nun um Jesus. Das
Geschrei von unten läßt die Ursache des Aufruhrs klar erkennen: «Warum hast du
dann deine Jünger gesandt, um uns zu sagen, daß man dich verfolgt?»
«Ich habe niemanden gesandt. Seht
dort die Leute von Sichern. Tretet vor. Was habe ich eines Tages auf dem Berg
zu euch gesagt?»
«Es ist wahr. Er hat uns gesagt,
daß er Gott nur im Tempel anbeten kann, solange nicht der neue Tempel für alle
errichtet ist. Meister, es ist nicht unsere Schuld, glaube uns! Diese sind von
falschen Boten betrogen und getäuscht worden», sagen die Sichemiten, die vor
einiger Zeit die drei Kinder abgeholt haben, die Jesus den Räubern abgenommen
hat.
«Ich weiß es. Doch nun geht. Ich
werde trotzdem nach Sichern kommen. Ich fürchte niemanden. Aber geht jetzt, um
nicht euch selbst und denen eures Blutes zu schaden. Seht ihr dort auf der
Straße die Harnische der Legionäre glänzen? Sie sind euch gewiß in einiger
Entfernung gefolgt, da sie so viel Volk gesehen haben, und sind dann abwartend
im Wald geblieben. Nun sind sie durch euren Lärm angelockt worden. Geht. Ich
sage es zu eurem Wohl.»
Tatsächlich sieht man in der
Ferne auf der Hauptstraße, die ins Gebirge führt, wo Jesus den Verhungernden
gefunden hat, ein vielfaches Aufblitzen, das sich vorwärtsbewegt. Die Leute
gehen langsam auseinander. Nur die von Ephraim, die Galiläer und die Jünger
bleiben.
«Geht auch ihr in eure Häuser,
ihr Leute von Ephraim. Und ihr von Galiläa, macht euch auf den Heimweg.
Gehorcht dem, der euch liebt!»
Auch diese gehen. Es bleiben nur
die Jünger, und Jesus gebietet, sie ins Haus und in den Garten zu lassen.
Petrus geht mit anderen hinunter, um das Tor zu öffnen.
Judas von Kerioth geht nicht
hinunter. Er lacht! Er lacht und sagt: «Nun wirst du sehen, wie die "guten
Samariter" dich hassen! Du zerstreust
234
die Steine zum Bau deines
Reiches. Und die zerstreuten Steine eines Baus werden zur Waffe, mit der man
zuschlägt. Du hast sie verachtet. Sie werden das nicht vergessen.»
«Sollen sie mich hassen. Ich
werde nicht meine Pflicht vergessen aus Furcht vor ihrem Haß. Komm, Mutter.
Wir wollen gehen und den Jüngern sagen, was sie zu tun haben, bevor wir sie
entlassen.» Jesus geht zwischen Maria und Lazarus die Treppe hinunter und ins
Haus, in dem sich bereits die nach Ephraim gekommenen Jünger drängen. Er gibt
ihnen die Anweisung, überall hinzugehen und den Gefährten auszurichten, daß
sie am Neumond des Nisan in Jericho sein und ihn dort erwarten sollen. Den
Bewohnern der Orte, durch die sie kommen, sollen sie sagen, daß er Ephraim
verläßt und sie ihn am Passahfest in Jerusalem finden werden.
Dann teilt Jesus die Jünger in
Dreiergruppen auf und vertraut Isaak, Hermas und Stephanus den neuen Jünger
Samuel an, den Stephanus so begrüßt: «Die Freude, dich im Licht zu sehen,
lindert meinen Schmerz darüber, daß sich alles zum Schlechten für den Meister
wendet.»
Hermas grüßt ihn so: «Du hast
einen Menschen für einen Gott verlassen. Und Gott ist nun wahrlich mit dir.»
Der scheue und demütige Isaak
sagt nur: «Der Friede sei mit dir, Bruder.»
Nachdem die Leute aus Ephraim, um
ihren guten Willen zu zeigen, Brot und Milch angeboten haben, gehen auch die
Jünger fort, und endlich kehrt Ruhe ein... Doch während das Lamm zubereitet
wird, hat Jesus noch zu tun. Er nähert sich Lazarus und sagt zu ihm: «Komm mit
mir zum Bach.»
Lazarus gehorcht wie üblich
sofort. Sie entfernen sich ungefähr zweihundert Meter vom Haus. Lazarus
schweigt und wartet, daß Jesus spricht. Und Jesus sagt: «Ich wollte dir sagen:
Meine Mutter ist sehr niedergeschlagen. Du hast es gesehen. Schicke deine
Schwestern hierher. Ich werde mich wirklich mit allen Aposteln und den
Jüngerinnen nach Sichem begeben. Doch dann will ich sie nach Bethanien
vorausschicken, während ich noch eine Weile in Jericho bleibe. Hier in Samaria
kann ich es noch wagen, Frauen bei mir zu haben. Anderswo geht es nicht mehr
...»
«Meister, fürchtest du
wirklich... Oh, wenn es so ist, warum hast du mich ins Leben zurückgerufen?»
«Damit ich einen Freund habe.»
«Oh, wenn es deshalb geschehen
ist... Hier bin ich. Wenn ich dich mit meiner Freundschaft trösten kann, dann
bedeutet mir kein Schmerz mehr etwas.»
«Das weiß ich. Deswegen brauche
ich dich und werde ich dich noch brauchen als meinen besten Freund.»
«Soll ich denn wirklich zu
Pilatus gehen?»
«Wenn du meinst. Aber nur wegen
Petrus, nicht meinetwegen.»
235
«Meister, ich werde dich
benachrichtigen lassen... Wann wirst du diesen Ort verlassen?»
«In acht Tagen. Die Zeit reicht
gerade noch, um hinzugehen, wo ich hingehen möchte, und dann vor dem
Passahfest bei dir zu sein. Ich werde mich in Bethanien, der Oase des
Friedens, ausruhen, bevor ich mich in den Tumult von Jerusalem stürze.»
«Meister, weißt du, daß das
Synedrium beschlossen hat, Anklagen zu erfinden, da es keine echten gibt, um
dich zu zwingen, für immer das Land zu verlassen? Ich weiß es vom Synedristen
Johannes, den ich zufällig in Ptolemais getroffen habe und der sehr glücklich
ist über das Kind, dessen Geburt bevorsteht. Er hat zu mir gesagt: "Es
schmerzt mich sehr, daß das Synedrium dies beschlossen hat. Ich hätte gerne
den Meister bei der Beschneidung meines Kindes, das hoffentlich ein Junge
wird, dabei gehabt. Es müßte in den ersten Tagen des Tammus zur Welt kommen.
Aber wird der Meister um diese Zeit noch bei uns sein? Ich würde mich freuen,
wenn er den kleinen Emmanuel – und dieser Name wird dir zeigen, wie ich denke
– bei seinem ersten Auftreten in der Welt segnen könnte. Denn mein Sohn, der
glückliche, wird nicht kämpfen müssen, um glauben zu können, so wie wir es
mußten. Er wird in der messianischen Zeit aufwachsen, und es wird ihm
leichtfallen, den Gedanken zu akzeptieren." Johannes ist nun überzeugt, daß du
der Verheißene bist.»
«Und dieser eine entschädigt mich
für das, was viele andere nicht tun. Lazarus, wir wollen uns hier in Ruhe
verabschieden. Ich danke dir für alles, mein Freund. Du bist ein wahrer
Freund. Mit zehn deinesgleichen wäre es noch schön gewesen, inmitten all
dieses Hasses zu leben...»
«Nun hast du deine Mutter, mein
Herr. Sie ist zehn und hundert Lazarusse wert. Doch vergiß nicht, was immer du
brauchst, werde ich dir beschaffen, wenn es in meiner Macht liegt. Befiehl,
und ich werde dein Diener sein, in allem. Ich bin vielleicht nicht weise und
heilig wie andere, die dich lieben; aber einen, der treuer ist als ich, wirst
du – Johannes ausgenommen – nicht finden. Ich glaube nicht, hochmütig zu sein,
wenn ich das sage. Und nun, da wir von dir gesprochen haben, möchte ich dir
noch von Syntyche berichten. Ich habe sie gesehen. Sie ist aktiv und klug, wie
nur eine Griechin es sein kann, die deine Jüngerin werden durfte. Sie leidet
darunter, fern von dir zu sein. Aber sie sagt, daß sie sich freut, deinen Weg
bereiten zu dürfen. Sie hofft, dich noch vor ihrem Tod zu sehen.»
«Sie wird mich gewiß sehen. Ich
enttäusche nicht die Hoffnung der Gerechten.»
«Sie hat eine kleine Schule, die
von Mädchen aus allen umliegenden Orten besucht wird. Und am Abend holt sie
einige arme Mädchen gemischter Abstammung, die deshalb keine Religion haben,
zu sich und unterrichtet sie in deiner Lehre. Ich habe ihr gesagt: "Warum
wirst du nicht Proselytin? Es würde dir viel helfen!' Und sie hat mir zur
Antwort
236
gegeben: "Ich will mich nicht
Israel widmen, sondern den leeren Altären, die auf einen Gott warten. Ich
bereite sie vor, meinen Gott zu empfangen. Danach, wenn sein Reich errichtet
ist, werde ich in meine Heimat zurückkehren und dort unter dem Himmel von
Hellas den Rest meines Lebens damit verbringen, die Herzen für den Meister
vorzubereiten. Das ist mein Traum. Doch sollte ich vorher durch Krankheit oder
Verfolgung umkommen, so werde ich trotzdem glücklich scheiden; denn es wird
ein Zeichen dafür sein, daß ich meine Arbeit getan habe und er seine Dienerin
zu sich ruft. Er, den ich von der ersten Begegnung an geliebt habe!'»
«Das ist wahr. Syntyche hat mich
wirklich von der ersten Begegnung an geliebt.»
«Ich wollte ihr verschweigen, daß
du verfolgt wirst. Doch in Antiochia hallen wie in einer Muschel alle Stimmen
des großen römischen Imperiums wider, und daher auch das, was hier geschieht.
Und Syntyche kennt deine Leiden. Aber mehr noch schmerzt es sie, so weit
entfernt von dir zu sein. Sie wollte mir Geld geben, aber ich habe es
abgelehnt und gesagt, sie solle es für ihre Mädchen verwenden. Und ich habe
nur eine Kopfbedeckung aus zwei verschiedenen Arten Byssus angenommen, die sie
selbst gewebt hat. Deine Mutter hat sie. Syntyche wollte mit dem Faden deine,
ihre und die Geschichte des Johannes von Endor aufzeichnen. Und weißt du wie?
Sie hat um das Quadrat herum eine Bordüre gewoben, die ein Lamm darstellt, das
zwei Tauben gegen eine Meute Hyänen verteidigt. Eine Taube hat gebrochene
Flügel, und die andere hat die Kette zerbrochen, mit der sie gefesselt war.
Und die Geschichte geht weiter, bis die Taube mit den gebrochenen Flügeln
ihren Höhenflug antritt und die andere sich freiwillig in Gefangenschaft zu
Füßen des Lammes begibt. Es scheint eine jener Geschichten zu sein, die die
Griechen in die Marmorgirlanden ihrer Tempel und in die Grabsäulen ihrer Toten
meißeln und ihre Maler auf die Krüge malen. Sie wollte sie dir durch meine
Diener schicken. Ich habe sie selbst mitgenommen.»
«Ich werde die Kopfbedeckung
tragen, denn sie kommt von einer guten Jüngerin. Gehen wir zum Haus. Wann
gedenkst du abzureisen?»
«Morgen bei Sonnenaufgang. Die
Pferde brauchen Ruhe. Dann werde ich bis Jerusalem nicht mehr anhalten und
gleich zu Pilatus gehen. Wenn ich ihn sprechen kann, werde ich dich durch
Maria seine Antwort wissen lassen.»
Sie gehen langsam ins Haus und
unterhalten sich dabei über Kleinigkeiten.
237
622. JUDAS VON KERIOTH IST EIN
DIEB
Jesus befindet sich mit den
Jüngerinnen und den beiden Aposteln auf einer der ersten Erhebungen des Berges
hinter Ephraim. Johanna hat weder die Kinder noch Esther bei sich. Ich denke,
daß sie sie bereits mit Jonathan nach Jerusalem geschickt hat. Es sind also
außer der Mutter Jesu nur Maria des Kleophas, Maria Salome, Johanna, Elisa,
Nike und Susanna anwesend. Die beiden Schwestern des Lazarus sind noch nicht
da.
Elisa und Nike falten Kleider
zusammen, die sie offenbar an dem Flüßchen, das man unten schimmern sieht,
gewaschen oder vom Bach hierher gebracht und dann an diesem sonnigen Plätzchen
zum Trocknen aufgehängt haben. Und nachdem Nike eines dieser Kleider
betrachtet hat, gibt sie es Maria Kleophä und sagt: «Auch an diesem hier hat
dein Sohn den Saum heruntergerissen.»
Maria des Alphäus nimmt das
Gewand und legt es zu den anderen, die neben ihr im Gras liegen.
Alle Jüngerinnen sind dabei, zu
nähen und die Schäden auszubessern, die in den vielen Monaten entstanden sind,
die die Apostel auf sich selbst angewiesen waren.
Elisa kommt mit anderen
getrockneten Kleidern an und sagt: «Man sieht, daß ihr drei Monate lang keine
erfahrene Frau bei euch gehabt habt. Kein einziges Gewand ist in Ordnung,
ausgenommen das des Meisters, der noch dazu nur zwei besitzt. Das, das er
trägt, und das andere, das heute gewaschen worden ist.»
«Er hat sie alle weggegeben. Es
sah so aus, als hätte ihn der Wahn gepackt, nichts mehr besitzen zu wollen.
Seit vielen Tagen schon trägt er nur das Leinenkleid», sagt Judas.
«Zum Glück hat deine Mutter daran
gedacht, dir neue mitzubringen. Diese Purpurfarbe ist wirklich sehr schön. Du
hattest es nötig, Jesus, obwohl dir das Linnengewand auch gut steht. Du
gleichst darin einer Lilie», sagt Maria des Alphäus.
«Einer sehr großen Lilie, Maria!»
spottet Judas.
«Aber einer reinen, was du ganz
gewiß nicht bist; und nicht einmal Johannes ist so rein. Du bist zwar auch in
Leinwand gekleidet, aber glaube mir, einer Lilie gleichst du wirklich nicht»,
erwidert Maria des Alphäus offen.
«Ich habe dunkle Haare und eine
dunkle Hautfarbe, deshalb bin ich anders.»
«Nein, das hat nichts damit zu
tun. Vielmehr bist du zwar äußerlich rein, Jesus aber ist es innerlich; und
seine Reinheit strahlt aus seinem Blick, aus seinem Lächeln und aus seinen
Worten. Das ist es. Ach, wie gut geht es uns hier bei meinem Jesus...» und die
gute Maria legt eine ihrer
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mageren, abgearbeiteten und
greisen Hände auf das Knie Jesu, der diese ehrbare Hand streichelt.
Marie Salome, die gerade ein
Gewand prüft, ruft entsetzt aus: «Aber das ist ja schlimmer als ein Lumpen!
Oh, mein Sohn! Wer hat dir denn das Loch so geflickt?» und empört zeigt sie
den Gefährtinnen eine Art... gekräuselten Nabel, einen erhöhten Kreis auf dem
Stoff; ein Loch, das mit einigen Riesenstichen zusammengezogen ist, die eine
Frau erschaudern lassen. Diese sonderbare Flickarbeit ist der Ausgangspunkt
zahlreicher Falten, die sich sternförmig über den Rücken des Gewandes
verbreiten. Alle lachen. Johannes, der Urheber dieser Stopfstelle, am meisten.
Er erklärt: «Da ich mit dem Loch nicht herumlaufen konnte... habe ich es eben
zugemacht.»
«Ich sehe es! Ach du meine Güte!
Ich sehe es! Aber hättest du es dir nicht von Maria des Jakob flicken lassen
können?»
«Sie ist beinahe blind, die arme
Frau! Und dann... das Schlimme ist, daß es nicht nur ein Riß, sondern ein
richtiges Loch war. Das Kleid hat sich in einem Holzbündel verhängt, das ich
auf dem Rücken trug, und als ich das Bündel absetzte, ging auch ein Stück
Stoff mit. Da habe ich es eben so repariert.»
«Da hast du es eben so ruiniert,
mein Sohn. Nun müßte ich ...» Sie betrachtet das Kleid, schüttelt den Kopf und
sagt: «Ich habe gehofft, den Saum verwenden zu können. Aber der ist schon weg
...»
«Den habe ich in Nob entfernt,
weil er zerrissen war. Aber ich habe das abgetrennte Stück deinem Sohn gegeben
...» erklärt Elisa.
«Ja... und ich habe daraus Bänder
für meine Tasche gemacht...»
«Arme Kinder! Wie nötig habt ihr
es, daß wir in eurer Nähe sind!»sagt die heiligste Mutter Maria, die gerade
ein Kleid von ich weiß nicht wem flickt.
«Hier ist Stoff nötig. Schaut
her. Die Stiche haben um das Loch herum das Gewebe vollends zerstört, und aus
einem schon großen Schaden ist ein nicht wiedergutzumachender Schaden
geworden. Außer... ich finde etwas, um den fehlenden Stoff zu ersetzen. Dann
würde man es zwar noch sehen... aber es wäre wenigstens anständig.»
«Du hast mir den Anstoß zu einem
Gleichnis gegeben...» sagt Jesus, und Judas sagt gleichzeitig: «Ich meine, daß
ich in meiner Tasche ein Stück Stoff von dieser Farbe habe. Es ist der Rest
eines Gewandes, das ich einem Männchen geschenkt habe, weil es schon zu
ausgebleicht war und man es nicht mehr tragen konnte. Der Mann war so viel
kleiner als ich, daß wir es fast um zwei Handbreiten kürzen mußten. Ich werde
dir den Stoff holen, wenn du etwas warten kannst; denn zuerst möchte ich das
Gleichnis hören.»
«Gott segne dich. Höre nur zu.
Ich wechsle unterdessen die Schnüre am Gewand des Jakobus aus. Sie sind alle
so abgenützt.»
239
«Sprich, Meister. Nachher werde
ich Maria Salome zufriedenstellen.»«Also rede ich. Ich vergleiche die Seele
mit einem Stoff. Wenn die Seele eingehaucht wird, ist sie neu und ohne Risse.
Die Erbsünde ist zwar vorhanden, aber sonst ist ihr Gewebe ohne Schäden,
Flecken oder abgenützte Stellen. Mit der Zeit und durch das Laster verschleißt
sie dann aber manchmal so sehr, daß sie brüchig wird, durch Unachtsamkeiten
bekommt sie Flecken und durch die Unordnung Risse. Wenn sie nun zerrissen ist,
darf man keine schlechte Flickarbeit machen, die dann wieder zu unzähligen
neuen Rissen führt, sondern muß eine geduldige, sorgfältige Arbeit leisten, um
den Schaden, so gut man kann, zu beheben. Und wenn der Stoff zu zerrissen ist,
wenn vielleicht gar ein Stück herausgerissen ist, dann darf man nicht stolz
sein und glauben, den Schaden selbst beheben zu können, sondern muß zu dem
gehen, von dem man weiß, daß er die Seele wiederherstellen kann, da ihm nichts
unmöglich ist und er alles kann. Ich spreche von Gott, meinem Vater, und dem
Erlöser, der ich bin. Doch der Mensch ist so stolz, daß er, je größer der
Schaden an seiner Seele ist, um so mehr versucht, ihn mit mangelhaftem
Flickwerk auszubessern, das das Übel nur noch vergrößert. Ihr könntet mir
entgegnen, daß man einen Riß immer erkennt. Auch Salome hat es gesagt. Ja, man
wird immer die Wunden sehen, die eine Seele erlitten hat. Doch die Seele
kämpft ihren Kampf, und demzufolge wird sie verwundet. Sie ist von so vielen
Feinden umgeben. Aber niemand wird beim Anblick eines von Narben bedeckten
Mannes – der Beweis für ebenso viele ruhmreiche Wunden im Kampf um den Sieg –
sagen: "Dieser Mann ist unrein." Im Gegenteil, man wird sagen: "Er ist ein
Held! Seht nur die purpurroten Narben seiner mutigen Kämpfe." Niemals wird man
sehen, daß ein Soldat sich weigert, sich behandeln zu lassen, da er sich einer
ruhmvollen Verwundung schämt. Er wird vielmehr zum Arzt gehen und mit heiligem
Stolz sagen: "Ich habe gekämpft und gesiegt. Ich habe mich nicht geschont. Du
siehst es. Nun flicke mich wieder zusammen, damit ich zu neuen Schlachten und
Siegen bereit bin." Jener hingegen, der die Wunden unreiner Krankheiten mit
sich herumträgt, die unwürdige Laster hervorgerufen haben, schämt sich seiner
Wunden vor den Angehörigen und den Freunden und auch vor den Ärzten, und oft
ist er so töricht, daß er sie verbirgt, bis ihr Gestank ihn verrät. Dann ist
es jedoch für eine Heilung zu spät. Die Demütigen sind immer aufrichtig. Sie
sind auch immer tapfer und brauchen sich der Wunden, die sie im Kampf
davongetragen haben, nicht zu schämen. Die Hochmütigen sind immer verlogen und
feige, und durch ihren Stolz geraten sie in Todesgefahr; denn sie wollen nicht
zu dem gehen, der sie heilen könnte, und ihm sagen: "Vater, ich habe
gesündigt, aber wenn du willst, kannst du mich heilen." Es gibt viele Seelen,
die aus Stolz, um eine erste Sünde nicht bekennen zu müssen, den Tod finden.
Und dann ist es auch für sie zu spät. Sie denken nicht daran, daß die
göttliche Barmherzigkeit
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mächtiger und größer ist als
jeder Wundbrand, so stark und ausgedehnt er auch sein mag, und daß sie alles
zu heilen vermag. Aber sie, die Seelen der Stolzen, wenn sie erkennen, daß sie
jegliches Heil verschmäht haben, fallen der Verzweiflung anheim, denn sie sind
ohne Gott. Sie sagen dann: "Es ist zu spät", und geben sich den letzten Tod:
die Verdammung. Nun kannst du gehen, Judas, und deinen Stoff holen ...»
«Ich gehe. Aber dieses Gleichnis
gefällt mir nicht. Ich habe es nicht verstanden.»
«Aber es ist doch so klar! Ich
habe es verstanden, und ich bin nur eine einfache Frau», sagt Maria Salome.
«Ich nicht. Früher hast du uns
schönere Gleichnisse erzählt. Nun... die Bienen ... die Stoffe... die Städte,
die ihren Namen ändern... die Seelen-Boote ... Das ist alles so armselig und
so verwirrend, daß ich nichts damit anfangen kann und es mir auch nicht
gefällt. Doch jetzt will ich gehen und den Stoff holen. Man kann ihn ja
verwenden, aber das Gewand wird trotzdem immer schadhaft sein.» Judas steht
auf und entfernt sich.
Maria hat den Kopf immer tiefer
auf ihre Arbeit sinken lassen, während Judas gesprochen hat. Johanna hingegen
hat ihn erhoben und den Törichten mit herrischer Entrüstung angeblickt. Auch
Elisa hat anfangs aufgeschaut, es dann aber wie Maria gemacht, und Nike
ebenso. Susanna hat verwundert ihre großen Augen aufgerissen und statt des
Apostels Jesus angesehen, so als frage sie sich, warum er nicht reagiert. Aber
niemand hat etwas gesagt oder irgendeine Gebärde gemacht. Nur Maria Salome und
Maria des Alphäus, die etwas volksnäher sind, haben sich angesehen und den
Kopf geschüttelt, und kaum ist Judas weggegangen, sagt Salome: «Er ist es,
dessen Kopf schadhaft ist.»
«Ja, und deshalb versteht er
nichts, und ich weiß wirklich nicht, ob du ihn wieder in Ordnung bringen
kannst. Wenn er mein Sohn wäre, würde ich ihm den Kopf einschlagen. Jawohl, so
wie ich ihn ihm gemacht habe, damit es der Kopf eines Gerechten sei, ebenso
würde ich ihn ihm einschlagen. Es ist immer noch besser, mit einem
verunstalteten Kopf herumzulaufen als mit einem verunstalteten Herzen», sagt
Maria des Alphäus.
«Sei nachsichtig, Maria. Du
kannst ihn doch nicht mit deinen Söhnen vergleichen, die in einer ehrbaren
Familie aufgewachsen sind und in einer Stadt wie Nazareth», sagt Jesus.
«Seine Mutter ist gut. Und sein
Vater war nicht böse, hat man mir gesagt», entgegnet Maria des Alphäus.
«Ja, aber sein Herz war nicht
frei von Stolz. Deshalb hat er den Sohn zu früh seiner Mutter weggenommen und
dazu beigetragen, das moralische Erbe, das er ihm mitgegeben hatte, zu
fördern, als er ihn nach Jerusalem schickte. Es ist sehr schmerzlich, dies
sagen zu müssen, aber der Tempel ist wirklich nicht der richtige Platz, um
ererbten Hochmut zu mäßigen...» sagt Jesus.
241
«Kein Platz in Jerusalem, der
einen Ehrenplatz darstellt, ist geeignet, den Stolz oder andere Fehler zu
mäßigen», seufzt Johanna, und sie fügt hinzu: «Überhaupt kein Ehrenplatz ist
dazu geeignet, sei er in Jericho, in Caesarea Philippi, in Tiberias oder im
anderen Caesarea ...» Sie näht eilig weiter und hält den Kopf tiefer als nötig
über die Arbeit gebeugt.
«Maria des Lazarus ist
gebieterisch, aber nicht stolz», bemerkt Nike.
«Jetzt. Aber früher war sie sehr
hochmütig, im Gegensatz zu ihren Eltern, die es niemals gewesen sind»,
antwortet Johanna.
«Wann werden sie kommen?»
«Bald, wenn wir in drei Tagen
abreisen sollen.»
«Wir müssen schneller arbeiten.
Wir werden kaum mit allem fertig werden», treibt Maria des Alphäus die anderen
an.
«Wir sind wegen Lazarus später
gekommen. Aber es war gut so, denn so ist Maria eine große Mühe erspart
geblieben», sagt Susanna.
«Aber wirst du denn einen so
weiten Weg zurücklegen können? Du bist so bleich und müde, Maria!» fragt Maria
des Alphäus, legt eine Hand auf den Schoß Marias und schaut sie dabei besorgt
an.
«Ich bin nicht krank, Maria, und
werde gewiß gehen können.»
«Krank nicht, aber sehr betrübt,
Mutter. Ich würde zehn und mehr Jahre meines Lebens geben und alle nur
erdenklichen Schmerzen auf mich nehmen, wenn ich dich wieder so sehen könnte,
wie du warst, als ich dich zum erstenmal sah», sagt Johannes, der sie
mitleidig betrachtet.
«Deine Liebe ist schon Arznei,
Johannes. Mein Herz beruhigt sich, wenn ich sehe, wie ihr meinen Sohn liebt.
Denn er ist die alleinige Ursache meiner Schmerzen. Ich leide nur, wenn ich
ihn nicht geliebt sehe. Hier in seiner Nähe und unter euch, die ihr ihm so
treu seid, blühe ich wieder auf. Aber natürlich... diese Monate... allein in
Nazareth, nachdem ich ihn schon so bedrückt habe fortgehen sehen, so
verfolgt... Und alle diese Stimmen, die ich hören mußte. Oh, welch ein
Schmerz! Wenn ich ihn in meiner Nähe habe, ihn sehe, sage ich mir: "Mein Jesus
hat wenigstens seine Mutter, die ihn tröstet, die ihm Worte sagt, die andere
Worte vergessen lassen", und ich sehe auch, daß nicht alle Liebe in Israel
erstorben ist. So finde ich Frieden. Ein wenig Frieden. Nicht viel... denn...»
Maria spricht nicht weiter. Sie neigt ihr Antlitz, das sie beim Sprechen zu
Johannes erhoben hatte, und man sieht nur noch den oberen Teil der Stirn, die
eine stumme Gemütsbewegung erröten läßt... Und dann glänzen zwei Tränen auf
dem dunklen Gewand, das sie gerade flickt.
Jesus seufzt, erhebt sich von
seinem Platz und geht, um sich vor ihr zu ihren Füßen niederzusetzen. Er läßt
sein Haupt auf ihre Knie sinken, küßt die Hand, die den Stoff hält, und
verweilt dann in dieser Haltung wie ein Kind, das sich ausruht. Maria nimmt
die Nadel aus dem Stoff, um den Sohn nicht zu verletzen, legt dann die Rechte
auf den auf ihren Knien ruhenden Kopf, erhebt den Blick zum Himmel und betet
gewiß, obgleich
242
sie die Lippen nicht bewegt; doch
ihr ganzer Ausdruck zeigt, daß sie betet. Dann neigt sie sich über ihren Sohn
und küßt ihn bei der Schläfe aufs Haar.
Die anderen reden nicht, bis
Salome sagt: «Wie lange braucht denn Judas noch? Die Sonne geht bald unter,
und dann werde ich nichts mehr sehen.»
«Vielleicht ist er durch jemanden
aufgehalten worden», antwortet Johannes und fragt dann seine Mutter: «Willst
du, daß ich nach ihm sehe?»
«Das wäre gut. Falls er den Stoff
nicht gefunden hat, werde ich die Ärmel kürzen. Es ist ja bald Sommer, und für
den Herbst mache ich dir ein neues Gewand, denn dieses hier wird nicht mehr
taugen. Vorläufig bessere ich es mit einem Stück vom Ärmel aus, und es ist
dann immer noch gut genug, um damit zum Fischfang zu gehen. Denn nach
Pfingsten werdet ihr doch wohl nach Galiläa zurückkehren...»
«Also, ich gehe», sagt Johannes,
und in seiner immer freundlichen Art fragt er die anderen Frauen: «Habt ihr
schon Kleider fertig, die ich mit in unsere Häuser nehmen kann? Wenn ja, gebt
sie mir. Ihr habt dann auf dem Heimweg nicht so viel zu tragen.»
Die Frauen legen alles, was sie
schon geflickt haben, zusammen und geben es Johannes, der sich umdreht und
gehen will; aber er bleibt stehen, als er sieht, daß Maria des Jakob eiligen
Schrittes auf sie zukommt.
Die gute Alte läuft, so schnell
sie in ihrem hohen Alter noch laufen kann, und ruft Johannes zu: «Ist der
Meister da?»
«Ja, Mutter. Was willst du?»
Die Frau antwortet im Laufen:
«Ada geht es sehr schlecht... Und der Mann möchte sie trösten und Jesus zu ihr
rufen... Aber nachdem die Samariter dort so böse waren, getraut er sich
nicht... Ich habe gesagt: "Du kennst ihn noch nicht. Ich werde gehen, und er
wird mir nicht "nein" sagen...» Die Alte keucht vom Laufen und wegen der
Steigung.
«Lauf nicht weiter. Ich komme mit
dir. Vielmehr, ich werde dir vorausgehen, und du kannst langsam nachkommen. Du
bist schon zu alt, Mutter, um so zu laufen», sagt Jesus. Und zur Mutter und
den Jüngerinnen gewandt: «Ich werde im Dorf bleiben. Der Friede sei mit euch.»
Jesus ergreift Johannes am Arm
und geht mit ihm rasch hinunter. Die Alte, die wieder zu Atem gekommen ist,
möchte ihm gleich folgen, nachdem sie die Fragen der Frauen beantwortet hat:
«Ach, nur der Rabbi kann sie retten. Sonst wird sie wie Rachel sterben. Sie
erkaltet schon und wird immer schwächer. Sie windet sich unter den Schmerzen.»
Doch die Frauen halten sie zurück
mit den Worten: «Habt ihr nicht versucht, ihr warme Ziegel auf die Nieren zu
legen?»
«Nein, es ist besser, sie in mit
Würzwein getränkte Wolltücher zu wickeln. So heiß es nur geht.»
243
«Mir haben die Einreibungen mit
Öl und die heißen Ziegelsteine, die mir Jakob auflegte, sehr geholfen.»
«Gebt ihr viel zu trinken.»
«Wenn sie aufstehen und einige
Schritte gehen könnte und ihr jemand gleichzeitig das Kreuz massieren würde!»
Die Frauen, die Mütter sind, also
alle außer Nike und Susanna, sowie Maria, die die Schmerzen der Frauen bei der
Geburt ihres Sohnes nicht erleiden mußte, raten dieses und jenes.
«Alles, alles hat man versucht.
Aber ihr Schoß ist zu erschöpft. Es ist das elfte Kind! Ich gehe jetzt, ich
habe mich erholt. Betet für die Mutter! Möge der Allerhöchste sie so lange am
Leben erhalten, bis der Rabbi bei ihr eintrifft.» Und die arme, gute, einsame
Alte trottet davon.
Jesus geht indessen rasch in die
von der Sonne erwärmte Stadt hinab. Er betritt die Stadt von der ihrem Haus
entgegengesetzten Seite, also im Nordwesten von Ephraim, während das Haus der
Maria des Jakob im Südosten liegt. Er geht schnell, läßt sich auch nicht
aufhalten von den Leuten, die mit ihm reden wollen, sondern grüßt und geht
weiter.
Ein Mann bemerkt: «Er ist böse
auf uns. Die Bewohner anderer Orte haben ihn gekränkt. Er hat recht.»
«Nein. Er geht zu Janoe, dessen
Frau im Sterben liegt. Es ist die elfte Geburt.»
«Arme Kinder! Und der Rabbi geht
zu ihr? Er ist dreifach gut. Er vergilt Beleidigungen mit Wohltaten.»
«Janoe hat ihn nicht beleidigt.
Keiner von uns hat ihn beleidigt!»
«Aber Männer von Samaria haben es
getan.»
«Der Rabbi ist gerecht und kann
unterscheiden. Laßt uns gehen und das Wunder sehen.»
«Sie werden uns nicht
hineinlassen. Es ist eine Frau bei der Geburt.»
«Aber wir werden wenigstens das
Neugeborene hören, wenn es weint, und das wird uns das Wunder anzeigen.»
Sie laufen los, um Jesus
einzuholen. Auch andere schließen sich ihnen an, um zu sehen.
Jesus kommt zu dem Haus, in dem
große Trübsal herrscht wegen des bevorstehenden Unglücks. Die zehn Kinder –
das größte ist ein in Tränen aufgelöstes Mädchen, das von den kleineren
weinenden Geschwisterchen umringt wird – haben sich in einem Winkel des
Hauseingangs zusammengedrängt, nahe bei der weit geöffneten Tür. Frauen kommen
und gehen. Stimmen, die flüstern, und bloße Füße, die eilig über den
Ziegelboden huschen.
Eine Frau sieht Jesus und schreit
auf: «Janoe! Habe Hoffnung! Er ist gekommen!» Und sie entfernt sich eiligst
mit einem dampfenden Krug.
Ein Mann kommt herbei und wirft
sich zu Boden. Er macht nur eine
244
Geste und sagt: «Ich glaube.
Erbarmen. Ihretwegen», und er zeigt dabei auf die Kinder.
«Steh auf und habe Mut. Der
Allerhöchste hilft denen, die glauben, und erbarmt sich seiner betrübten
Kinder.»
«Oh, komm, Meister! Komm! Sie ist
schon ganz schwarz. Sie erstickt an ihren Krämpfen. Sie atmet kaum mehr.
Komm!» Der Mann hat den Kopf verloren und verliert ihn vollends ganz, als eine
Verwandte ruft: «Janoe, komm schnell! Ada stirbt!» Er schiebt und zieht Jesus,
damit dieser nur ja schnell, ganz schnell ins Zimmer der Sterbenden geht, und
ist taub gegenüber den Worten Jesu, der sagt: «Geh und habe Vertrauen!»
Vertrauen hat der Mann schon,
doch was ihm fehlt ist die Fähigkeit, den Sinn dieser Worte zu verstehen, den
verborgenen Sinn, der schon die Gewißheit des Wunders beinhaltet. Und Jesus,
geschoben und gezogen, steigt die Treppe hinauf, um in den oberen Raum zu
gelangen, in dem die Frau liegt. Doch er bleibt auf dem Treppenabsatz stehen,
ungefähr drei Meter vor der geöffneten Tür, von wo man ein blutleeres, fast
bläuliches und in der Agonie verzerrtes Gesicht sehen kann. Die Frauen wagen
es nicht mehr, noch etwas zu tun. Sie haben die Leidende bis ans Kinn
zugedeckt und schauen nur. Sie sind wie versteinert in Erwartung des
Verscheidens.
Jesus breitet die Arme aus und
ruft: «Ich will!» Dann wendet er sich um und will gehen.
Der Ehemann, die Frauen und die
Neugierigen, die ihn umringt haben, sind enttäuscht; sie haben wohl gehofft,
Jesus würde etwas viel Außergewöhnlicheres tun und das Kind käme sofort auf
die Welt. Aber Jesus bahnt sich einen Weg, schaut ihnen ins Gesicht, während
er an ihnen vorbeigeht, und sagt: «Zweifelt nicht. Noch etwas Vertrauen. Einen
Augenblick. Die Frau muß den bitteren Preis des Gebärens bezahlen, aber sie
ist gerettet.» Er geht die Treppe hinunter und läßt die Leute sprachlos
stehen. Doch als er beim Verlassen des Hauses zu den zehn verängstigten
Kindern sagt: «Habt keine Angst, die Mama ist gerettet», und dabei mit der
Hand die erschrockenen Gesichtlein streichelt, ertönt im Haus ein lauter
Schrei, den man auch auf der Straße noch hört. Und Maria des Jakob, die gerade
ankommt, ruft aus: «Barmherzigkeit!» in der Meinung, daß der Schrei den Tod
anzeigt.
«Keine Angst, Maria! Geh rasch,
dann wirst du den Kleinen zur Welt kommen sehen. Die Kräfte und die Wehen sind
wiedergekehrt. Doch bald wird Freude herrschen.»
Jesus geht mit Johannes fort.
Niemand folgt ihnen, denn alle wollen sehen, ob das Wunder geschieht; und
sogar noch andere eilen zu dem Haus, denn es hat sich herumgesprochen, daß der
Rabbi zu Ada gegangen ist, um sie zu retten. So kann Jesus ohne Hindernisse
durch eine
245
Seitenstraße zu einem Haus gehen.
Er betritt es und ruft: «Judas, Judas!» Niemand antwortet.
«Er ist dort hinaufgegangen,
Meister. Nun können auch wir heimgehen. Die Kleider von Judas, Simon und
deinem Bruder Jakobus lege ich hierher, und die anderen von Simon Petrus,
Andreas, Thomas und Philippus werde ich im Haus der Anna lassen.»
So geschieht es, und ich
verstehe, daß sich die Apostel, um für die Jüngerinnen Platz zu machen, auf
andere Häuser verteilt haben; wenn nicht alle, so doch ein Teil von ihnen.
Da sie die Kleider nun los sind,
gehen sie, während sie sich miteinander unterhalten, zum Haus der Maria des
Jakob und betreten es durch die nur angelehnte Gartentür. Das Haus ist still
und leer. Johannes sieht einen mit Wasser gefüllten Krug auf dem Boden stehen,
und da er vielleicht glaubt, die Alte habe ihn dort gelassen, als sie gerufen
wurde um der Frau zu helfen, nimmt er ihn und begibt sich zu einem
geschlossenen Zimmer. Jesus bleibt noch im Hausflur, um seinen Mantel
abzulegen und wie immer sorgfältig zu falten, bevor er ihn auf der Truhe läßt.
Johannes öffnet die Zimmertür und stößt ein «Ach!» des Schreckens aus. Er läßt
den Krug fallen, bedeckt seine Augen mit beiden Händen und duckt sich, als
wolle er sich ganz klein machen, verschwinden, nichts sehen. Aus dem Zimmer
dringt das Geräusch von auf den Boden fallenden Münzen.
Jesus ist schon an der Tür. Ich
habe mehr Zeit gebraucht, um dies zu sagen, als er, um heranzukommen. Er
schiebt den stöhnenden Johannes beiseite: «Fort! Geh fort!» Dann öffnet er
weit die nur halb offene Tür und geht hinein. Es ist der Raum, in dem sie die
Mahlzeiten einnehmen, seit die Frauen da sind. Zwei alte, eisenbeschlagene
Truhen stehen darin, und vor einer von ihnen, genau gegenüber der Tür, steht
Judas. Er ist totenblaß, in seinen Augen mischen sich Zorn und Schrecken, und
in den Händen hält er einen Beutel Geld... Die Truhe ist aufgebrochen... Auf
dem Boden liegen Münzen, und weitere fallen hinunter, gleiten aus dem Beutel,
der offen vom Rand der Truhe hängt. Alles läßt ohne jede Möglichkeit eines
Zweifels erkennen, was hier geschieht. Judas ist ins Haus gegangen, hat die
Truhe aufgebrochen und ist im Begriff zu stehlen.
Keiner spricht. Keiner rührt
sich. Aber das ist schlimmer, als wenn alle schreien und aufeinander losgehen
würden. Drei Statuen: Judas, der Teufel; Jesus, der Richter; Johannes,
erschüttert über die Niedertracht des Gefährten.
Die Hand des Judas, die seine
Börse hält, zittert, und die Münzen darin klingeln leise.
Johannes zittert am ganzen Leib,
und obgleich er die Hände vor den Mund hält, klappert er mit den Zähnen,
während die erschrockenen Augen mehr auf Jesus als auf Judas schauen.
Jesus zeigt keinerlei
Erschütterung. Gerade und eisig, ausgesprochen
246
eisig und starr steht er da.
Endlich macht er einen Schritt, eine Geste und sagt ein Wort. Einen Schritt
auf Judas zu, eine Geste: das Zeichen für Johannes, sich zurückzuziehen, ein
Wort: «Geh!»
Aber Johannes hat Angst und
stöhnt: «Nein! Nein! Schick mich nicht fort. Laß mich hierbleiben. Ich werde
nichts sagen ... Aber laß mich hierbleiben, bei dir.»
«Geh fort! Fürchte nicht!
Schließe alle Türen ... und wenn jemand kommt... wer auch immer... selbst wenn
es meine Mutter sein sollte... laß ihn nicht hierher kommen. Geh und
gehorche!»
«Herr... !» Es sieht beinahe aus,
als ob Johannes der Schuldige wäre, so sehr fleht er und so zerknirscht ist
er.
«Geh, sage ich dir. Es wird
nichts passieren. Geh!» Jesus mildert die Strenge des Befehls, indem er seine
Hand zärtlich auf den Kopf des Lieblingsjüngers legt. Ich sehe, daß diese Hand
nun zittert. Johannes spürt das Zittern, nimmt die Hand und küßt sie mit einem
Schluchzen, das so vieles sagt. Dann geht er hinaus. Jesus schließt die Tür
und legt den Riegel vor. Nun dreht er sich um und schaut Judas an, der
ziemlich am Boden zerstört sein muß, da er, der doch sonst so frech ist, kein
Wort und keine Geste wagt.
Jesus geht um den Tisch in der
Mitte des Zimmers herum und bleibt direkt vor ihm stehen. Ich kann nicht
sagen, ob er rasch oder langsam gegangen ist. Ich bin zu erschrocken über
seinen Gesichtsausdruck, um ein Zeitgefühl zu haben. Ich sehe seine Augen und
habe Angst, wie Johannes. Sogar Judas hat Angst. Er weicht zurück zwischen die
Truhe und ein offenes Fenster, durch das der rote Schein des Sonnenunterganges
sich über Jesus ergießt.
Was hat Jesus für Augen! Er sagt
kein Wort. Doch als er sieht, daß hinter dem Gürtel am Gewand des Judas eine
Art Dietrich hervorschaut, braust er in furchterregender Weise auf, erhebt
einen Arm mit geballter Faust, als wolle er auf den Dieb einschlagen, und sein
Mund beginnt das Wort: «Verfluchter!» oder «Verflucht seist du!» Aber er
beherrscht sich, hält den Arm zurück, der schon im Fallen war, und bricht das
Wort nach den ersten drei Buchstaben ab. Er beschränkt sich darauf, mit einem
Aufwand an Beherrschung, der ihn erzittern läßt, die geschlossene Faust zu
öffnen und den Arm bis zur Höhe der Börse zu senken, die Judas noch in der
Hand hält. Er entreißt sie ihm, schleudert sie auf den Boden und sagt mit
erstickter Stimme: «Weg damit! Unrat des Satans! Verfluchtes Gold! Auswurf der
Hölle! Schlangengift! Weg damit!» Und dabei zertritt er die Börse und
zerstreut die Münzen in schrecklichem, aber beherrschtem Zorn.
Judas, der einen unterdrückten
Schrei ausstößt, als er sieht, daß Jesus nahe daran ist, ihn zu verfluchen,
reagiert nicht mehr. Aber hinter der verschlossenen Tür ertönt ein zweiter
Schrei, als Jesus die Börse auf den Boden wirft. Und dieser Aufschrei des
Johannes läßt den Dieb außer sich
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geraten. Er gibt ihm seine
dämonische Kühnheit wieder und läßt ihn rasend werden. Beinahe stürzt er sich
auf Jesus und schreit: «Du hast mich ausspionieren lassen, um mich zu
entehren. Ausspionieren von einem törichten Jungen, der nicht einmal schweigen
kann und der mich vor allen beschämen wird! Aber das wolltest du ja. Und im
übrigen... Ja, auch ich wollte es! Ich will es! Ich will dich dazu bringen,
mich fortzujagen! Dich dazu bringen, mich zu verfluchen! Zu verfluchen! Zu
verfluchen! Alles habe ich versucht, damit ich fortgejagt werde.» Er ist
heiser vor Zorn und häßlich wie ein Dämon. Er keucht, als ob ihn etwas würgen
würde.
Jesus wiederholt mit gedämpfter,
aber zugleich schrecklicher Stimme: «Dieb! Dieb! Dieb!» und endet mit den
Worten: «Heute Dieb. Morgen Mörder. Wie Barabbas. Schlimmer als er.» Bei jedem
Satz des Judas sagt er ihm leise diese Worte ins Gesicht, denn nun stehen sie
ganz nahe beieinander.
Judas, der wieder Atem geholt
hat, entgegnet ihm: «Ja, Dieb. Und durch deine Schuld. An allem Bösen, das ich
tue, bist du schuld, und du wirst es nicht müde, mich zu verderben. Du rettest
alle und schenkst allen Liebe und Ehren. Du nimmst die Sünder auf, und die
Dirnen ekeln dich nicht an. Die Diebe, die Wucherer und die Kuppler wie
Zachäus behandelst du wie Freunde und den Spion des Tempels empfängst du, als
ob er der Messias sei. Wie töricht bist du doch! Du machst einen Ignoranten zu
unserem Oberhaupt, einen Zöllner zu unserem Schatzmeister und einen Dummkopf
zu deinem Vertrauten. Und mir zählst du die kleinsten Münzen ab, läßt mir kein
Geld, kettest mich an dich, wie man einen Galeerensträfling an die Ruderbank
kettet, und willst auch nicht, daß wir – ich sage wir, aber ich bin es, ich
allein, der kein Almosen von den Pilgern annehmen darf. Und nur damit ich kein
Geld mehr in den Händen habe, hast du angeordnet, daß wir von niemandem mehr
Geld annehmen dürfen. Denn du haßt mich. Nun gut, auch ich hasse dich! Gerade
eben bist du nicht einmal fähig gewesen, mich zu schlagen und mich zu
verfluchen. Dein Fluch hätte mich vernichtet. Warum hast du es nicht getan? Es
wäre mir lieber gewesen, als dich so unfähig, so machtlos sehen zu müssen,
einen erledigten Mann, einen besiegten Mann...»
«Schweig!»
«Nein! Hast du Angst, daß
Johannes mich hören könnte? Hast du Angst, daß er endlich begreifen könnte,
wer du bist, und dich dann verläßt? Diese Angst hast du also, du, der du immer
den Helden spielst! Natürlich hast du sie! Und du hast auch Angst vor mir. Du
hast Angst! Deshalb kannst du mich nicht verfluchen. Deshalb schwindelst du
mir Liebe vor, während du mich haßt. Um mir zu schmeicheln. Damit ich
stillhalte. Du weißt, daß ich eine Macht bin! Du weißt, daß ich die Macht bin.
Die Macht, die dich haßt und dich besiegen wird! Ich habe dir versprochen, daß
ich dir bis zum Tod folge und dir alles opfere, und ich habe
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dir alles geopfert, und ich werde
in deiner Nähe bleiben bis zu deiner Stunde und meiner Stunde. Großartiger
König, der du nicht verfluchen und nicht verjagen kannst! Wolkenkönig! König
der Einbildung! König der Dummheit! Lügner! Verräter deines eigenen
Schicksals! Du hast mich immer verachtet, seit unserer ersten Begegnung. Du
hast meine Liebe nie erwidert. Du glaubtest, weise zu sein. Du bist ein
Dummkopf. Ich habe dir den rechten Weg gewiesen. Aber du... Oh! Du bist der
Reine! Du bist das Geschöpf, das Mensch ist, aber auch Gott, und du
verschmähst die Ratschläge des Klugen. Vom ersten Augenblick an hast du dich
geirrt, und du fährst fort, dich zu irren. Du... du bist... Ah!»
Der Wortschwall endet ganz
plötzlich, und es folgt ein unheimliches Schweigen nach so viel Geschrei und
eine seltsame Unbeweglichkeit nach so vielen wilden Gebärden. Denn während ich
geschrieben habe, ohne sagen zu können, was vor sich geht, hat sich Judas
geduckt – wie ein, ja wirklich, wie ein wütender Hund, der die Beute belauert
und zum Sprung ansetzt – und ist Jesus immer näher gekommen, mit einem
Gesicht, das man nicht ansehen konnte, die Hände geballt und die Ellbogen an
den Körper gepreßt, als wolle er Jesus tatsächlich angreifen. Doch dieser
zeigt nicht die geringste Furcht. Er dreht dem Apostel, der ihn anfallen und
ihn am Hals packen könnte, es aber nicht tut, sogar den Rücken zu, um die Tür
zu öffnen und in den Flur zu sehen, ob Johannes auch wirklich fortgegangen
ist. Der Hausflur ist leer und halbdunkel, weil Johannes die Tür zum Garten
geschlossen hat, nachdem er hinausgegangen ist. Jesus schließt und verriegelt
wieder die Tür, lehnt sich an sie und wartet, ohne ein Wort zu sagen oder eine
Bewegung zu machen, daß die Wut sich legt.
Es steht mir nicht zu, zu
urteilen. Aber ich glaube, nicht zu irren, wenn ich sage, daß Satan selbst
durch den Mund des Judas gesprochen hat; daß dies ein Augenblick ist, in dem
der verdorbene Apostel ganz offensichtlich vom Satan besessen ist und bereits
an der Schwelle des Verbrechens steht, schon verdammt aus eigenem Willen. Die
Art, wie der Wortschwall endet und einer scheinbaren Verwirrung des Apostels
Platz macht, erinnert mich an andere Szenen von Besessenheit, die ich in den
drei Jahren des öffentlichen Lebens Jesu gesehen habe.
Jesus, schneeweiß vor dem dunklen
Holz der Tür, an die er sich immer noch lehnt, macht nicht die geringste
Bewegung. Nur seine von Schmerz und Liebe erfüllten Augen schauen den Apostel
an. Wenn man sagen könnte, daß Augen beten, dann würde ich sagen, daß die
Augen Jesu beten, während er den Unglücklichen anblickt. Denn es ist nicht nur
Beherrschung, die aus den so betrübten Augen spricht, sondern auch
inbrünstiges Gebet. Dann, als Judas die letzten Worte sagt, breitet Jesus die
bisher gerade herunterhängenden Arme aus. Aber er öffnet sie nicht, um Judas
zu berühren, eine abwehrende Geste zu machen oder sie zum Himmel zu erheben.
Er breitet sie vielmehr waagrecht aus, nimmt die Haltung des
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Gekreuzigten ein, dort, vor dem
dunklen Holz und der rötlichen Wand. Und im gleichen Augenblick kommen die
letzten Worte nur noch zögernd aus dem Mund des Judas, und er stößt das «Ah!»
aus, das seine Rede beendet.
Jesus verharrt in seiner Haltung
mit ausgebreiteten Armen und schaut den Apostel weiterhin mit dem Blick des
Schmerzes und des Gebetes an. Und wie einer, der aus einem Delirium erwacht,
fährt sich Judas mit der Hand über die Stirn, über das schweißbedeckte
Gesicht... Er denkt nach, erinnert sich an alles und sinkt zu Boden. Ich weiß
nicht, ob er weint oder nicht. Jedenfalls sinkt er zu Boden, als ob ihn die
Kräfte verlassen hätten.
Jesus senkt den Blick und die
Arme und sagt mit leiser, aber klarer Stimme: «Nun? Hasse ich dich? Ich könnte
dich mit Füßen treten, dich zertreten und dich "Wurm" nennen. Ich könnte dich
verfluchen, so wie ich dich von der Macht befreit habe, die dich hat irrereden
lassen. Du nennst meine Unfähigkeit, dich zu verfluchen, Schwäche. Oh, es ist
keine Schwäche! Aber ich bin der Erlöser. Und der Erlöser kann nicht
verfluchen. Er kann nur retten. Er will retten... Du hast gesagt: "Ich bin die
Macht. Die Macht, die dich haßt und dich besiegen wird." Auch ich bin die
Macht, ja, ich bin die einzige Macht. Meine Kraft ist nicht der Haß, sondern
die Liebe. Und die Liebe haßt nicht und verflucht nicht, niemals. Die Macht
könnte auch die einzelnen Schlachten – wie die zwischen mir und dir, zwischen
mir und Satan, der in dir ist – gewinnen und dich deinem Herrn entreißen, für
immer; wie ich es soeben getan habe, als ich mich in das Zeichen, das rettet,
verwandelt habe, in das Tau, das Luzifer nicht sehen kann. Ich könnte diese
einzelnen Schlachten gewinnen, wie ich den bevorstehenden Kampf gegen das
ungläubige und mordgierige Israel gewinnen werde, gegen die Welt und gegen
Satan, der durch die Erlösung besiegt wird. Ich könnte diese einzelnen
Schlachten gewinnen, wie ich die letzte Schlacht gewinnen werde, die fern ist
für jene, die nach Jahrhunderten rechnen, und nahe für jene, die die Zeit mit
dem Maß der Ewigkeit messen. Aber was würde es nützen, die vollkommenen
Gesetze meines Vaters zu übertreten? Wäre es Gerechtigkeit? Wäre es ein
Verdienst? Nein. Es wäre weder Gerechtigkeit noch Verdienst. Es wäre nicht
gerecht gegenüber den anderen schuldigen Menschen, denen die Freiheit zu
sündigen nicht genommen wird, und die mich am Jüngsten Tag fragen und tadeln
könnten wegen des Urteils und der mit dir allein gemachten Ausnahme. Es werden
zehn- und hunderttausende sein, siebzigmal zehn- und hunderttausende, die die
gleichen Sünden begehen wie du und aus eigenem Willen Satan angehören werden;
die Gott beleidigen, Vater und Mutter quälen, morden, stehlen, lügen, die Ehe
brechen, Unzucht treiben, Gott lästern und zuletzt Gottesmörder sein werden,
indem sie Christus an einem nicht mehr fernen Tag wirklich töten und ihn in
künftigen Zeiten in ihren Herzen umbringen. Und sie alle könnten mir Vorwürfe
machen, wenn ich
250
kommen werde, um die Schafe von
den Böcken zu scheiden, um die ersten zu segnen und die zweiten zu verfluchen;
ja, um die zweiten zu verfluchen, zu verfluchen, denn dann wird es keine
Rettung mehr geben, sondern nur Herrlichkeit oder Verdammung; um sie noch
einmal zu verdammen, nachdem ich sie schon einzeln beim ersten Tod und beim
individuellen Gericht verurteilt habe. Denn der Mensch – du weißt es, da du es
mich hast hundert- und tausendmal sagen hören – der Mensch kann sich retten,
solange er lebt, selbst wenn er in den letzten Zügen liegt. Ein Augenblick,
eine Tausendstel Minute genügt, um alles zwischen der Seele und Gott zu
regeln, um Verzeihung zu erbitten und Lossprechung zu erlangen... Alle, habe
ich gesagt, alle könnten mir vorwerfen: "Warum hast du uns nicht an das Gute
gebunden, wie du es mit Judas getan hast?" und sie hätten recht. Denn jeder
Mensch wird mit denselben natürlichen und übernatürlichen Gaben geboren: einem
Körper und einer Seele. Und während der Körper, da er von Menschen gezeugt
ist, bei der Geburt mehr oder weniger kräftig sein kann, ist die Seele, die
von Gott kommt, bei allen mit denselben Eigenschaften und denselben Gaben
Gottes ausgestattet. Zwischen der Seele des Johannes, ich meine den Täufer,
und deiner Seele war kein Unterschied, als sie in die Körper eingehaucht
wurden. Und doch sage ich dir, selbst wenn Johannes nicht durch die Gnade im
voraus geheiligt worden wäre, damit der Herold des Christus ohne Makel sei –
wie es alle sein sollten, die mich verkündigen, wenigstens was die derzeitigen
Sünden betrifft – seine Seele wäre auf jeden Fall anders als die deine gewesen
und geworden. Vielmehr, die deine wäre anders geworden als die seine. Denn der
Täufer hätte seine Seele in der Frische der Unschuld bewahrt, hätte sie mit
immer mehr Gerechtigkeit geschmückt, dem Willen Gottes folgend, der euch
gerecht will, der will, daß ihr die erhaltenen Gaben mit ständig wachsendem
Heroismus entwickelt. Du hingegen... hast deine Seele zerstört und die ihr von
Gott geschenkten Gaben vergeudet. Was hast du aus deiner Entscheidungsfreiheit
gemacht? Was aus deinem Verstand? Hast du deinem Geist die Freiheit bewahrt,
die ihm gehörte? Hast du die Fähigkeiten deines Geistes mit Verstand
gebraucht? Nein. Du, der du mir nicht gehorchen willst – ich meine nicht nur
mir als Mensch, sondern auch als Gott – du hast Satan gehorcht. Du hast deinen
Verstand und die Freiheit deines Geistes dazu verwendet, die Finsternis zu
erfassen. Freiwillig. Das Gute und das Böse wurden dir vor Augen gestellt. Du
hast das Böse gewählt. Vielmehr, nur das Gute hast du vor Augen gehabt: mich.
Der ewige Schöpfer, der die Entwicklung deiner Seele verfolgt, der diese
Entwicklung schon kannte, da dem ewigen Geist nichts unbekannt ist von dem,
was sich in der Zeit bewegt, hat dir das Gute, und nur das Gute gezeigt, denn
er weiß, daß du schwächer bist als eine Alge im Wassergraben. Du hast mir
vorgeworfen, daß ich dich hasse. Nun, da ich eins mit dem Vater und mit der
Liebe bin, eins hier und eins
251
im Himmel, eins mit dem Vater und
dem Heiligen Geist – denn wenn in mir auch die beiden Naturen sind und
Christus wegen seiner menschlichen Natur und bis ihn der Sieg von den
menschlichen Beschränkungen befreit in Ephraim ist und in diesem Augenblick
nicht anderswo ein kann, so bin ich doch als Gott, als das Wort Gottes, sowohl
im Himmel als auch auf Erden, da meine Gottheit allgegenwärtig ist – hast du
mit deiner Anschuldigung Gott, den Einen und Dreieinen getroffen. Gott den
Vater, der dich aus Liebe erschaffen hat, Gott den Sohn, der aus Liebe Mensch
geworden ist, um dich zu erlösen, und Gott den Heiligen Geist, der so oft aus
Liebe zu dir gesprochen hat, um dir gute Wünsche einzugeben. Diesen Einen und
Dreieinen Gott, der dich so sehr geliebt hat, der dich auf meinen Weg geführt,
dich blind für die Welt gemacht hat, um dir Zeit zu geben, mich zu sehen, und
taub für die Stimmen der Welt, um dir die Möglichkeit zu geben, mich zu hören.
Und du... ! Du... ! Nachdem du mich gesehen und gehört hast, nachdem du
freiwillig zum Guten gekommen bist und mit deinem Verstand erfaßt hast, daß
dies der einzige Weg zur wahren Herrlichkeit ist, hast du das Gute
zurückgewiesen und dich freiwillig dem Bösen übergeben. Aber wenn du dies in
freier Willensentscheidung gewollt hast; wenn du meine Hand immer schroffer
zurückgewiesen hast, die sich dir angeboten hatte, um dich dem Abgrund zu
entreißen; wenn du dich immer mehr vom Hafen entfernt hast, um im wilden Meer
der Leidenschaften und des Bösen zu versinken, kannst du dann sagen, mir und
dem, von dem ich komme, der mich als Mensch erschaffen hat, um dein Heil zu
wirken, daß wir dich gehaßt haben? Du hast mir vorgeworfen, daß ich dein
Verderben will... Auch das kranke Kind beklagt sich beim Arzt und bei der
Mutter über die bittere Arznei, die sie ihm zu trinken geben, und wegen der
Dinge, die es haben will und die sie ihm zu seinem Besten verweigern. Satan
hat dich schon so blind und töricht gemacht, daß du nicht mehr die wahre Natur
der Vorsorge erkennst, die ich für dich getroffen habe; daß du so weit
gekommen bist, Böswilligkeit und den Wunsch, dir zu schaden, in dem zu sehen,
was weise Voraussicht deines Meisters, deines Erlösers, deines Freundes ist
und zu deiner Heilung dienen soll. Ich habe dich in meiner Nähe behalten. Ich
habe das Geld aus deinen Händen genommen. Ich habe dich daran gehindert, mit
diesem verfluchten Metall, das dich verrückt macht, in Berührung zu kommen...
Weißt du denn nicht, spürst du denn nicht, daß es einem dieser magischen
Getränke gleicht, die einen unstillbaren Durst verursachen und das Blut
erhitzen, es in eine Wallung bringen, die zum Tod führt? Du, ich lese deine
Gedanken, wirfst mir vor: "Und warum hast du mich dann so lange das Geld
verwalten lassen?" Warum? Nun, wenn ich dir schon früher verboten hätte, mit
Geld umzugehen, hättest du dich schon früher verkauft und wärest schon früher
zum Dieb geworden. Du hast dich trotzdem verkauft, da du nur wenig stehlen
konntest... Aber ich mußte versuchen, es
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zu verhindern, ohne dir deine
Freiheit zu nehmen. Das Gold ist dein Verderben. Des Goldes wegen bist du
lasterhaft und zum Verräter geworden ...»
«Siehst du! Du hast also den
Worten des Samuel geglaubt! Ich bin nicht ...»
Jesus, der immer lebhafter
gesprochen hat, ohne jedoch heftig zu werden oder in strafenden Ton zu
verfallen, stößt einen gebieterischen, ich würde sagen, zornigen Schrei aus.
Seine Blicke durchbohren Judas, der das Gesicht erhoben hat, und sein einziges
Wort: «Schweig!» gleicht einem Blitzstrahl.
Judas wird wieder zahm und sagt
kein Wort mehr.
Es folgt ein Schweigen, in dem
Jesus mit sichtlicher Anstrengung seine menschlichen Gefühle bezwingt: eine
Beherrschung, die so gewaltig ist, daß sie allein schon von der ihm
innewohnenden Göttlichkeit zeugt. Dann fährt er mit seiner üblichen warmen,
bei aller Strenge sanften, überzeugenden und einnehmenden Stimme fort... Nur
Dämonen können einer solchen Stimme widerstehen.
«Ich habe weder Samuel noch sonst
jemanden nötig, um von deinen Taten zu erfahren. O Unglücklicher! Weißt du,
wen du vor dir hast? Es ist wahr. Du verstehst meine Gleichnisse nicht mehr.
Du verstehst meine Worte nicht mehr. Armer Unglücklicher! Du verstehst nicht
einmal mehr dich selbst. Du weißt nicht mehr, was gut und böse ist. Satan, dem
du dich auf vielerlei Art verschrieben hast, Satan, dem du in allen
Versuchungen nachgegeben hast, hat dich töricht gemacht. Und doch hat es eine
Zeit gegeben, da du mich verstanden und geglaubt hast, daß ich der bin, der
ich bin. Und diese Erinnerung ist nicht erloschen. Kannst du denn glauben, der
Sohn Gottes, Gott selbst, hätte die Worte eines Menschen nötig, um die
Gedanken und die Werke eines anderen Menschen zu kennen? Du bist noch nicht so
tief gesunken, daß du nicht mehr glaubst, daß ich Gott bin, und darin liegt
deine größte Schuld. Daß du mich als Gott erkennst, zeigt die große Furcht,
die du vor meinem Zorn hast. Du fühlst, daß du nicht gegen einen Menschen,
sondern gegen Gott selbst kämpfst, und zitterst. Du zitterst, weil du ein Kain
bist und dir Gott nur als Rächer vorstellen kannst, als Rächer in eigener
Sache und der Unschuldigen. Du fürchtest, es könnte dir ergehen wie Korach,
Datan und Abiram und ihren Anhängern. Und obwohl du weißt, wer ich bin,
kämpfst du dennoch gegen mich. Ich müßte dir sagen: "Sei verflucht!" Aber dann
wäre ich nicht mehr der Erlöser... Du möchtest, daß ich dich fortjage. Du
sagst, daß du alles tust, um dies zu erreichen. Das rechtfertigt deine Taten
nicht. Es ist nicht nötig zu sündigen, um sich von mir zu trennen. Du kannst
es tun, sage ich dir. Seit Nob sage ich es dir, als du zu mir zurückkamst an
einem klaren Morgen, beschmutzt von Lügen und Unzucht, als ob du der Hölle
entkommen wärest, um in den Schmutz der Schweine zu fallen oder auf das Lager
der lüsternen Affen, und ich mich beherrschen mußte, um
253
dich nicht mit der Spitze der
Sandale wie ekelerregenden Unrat beiseite zu stoßen und den Abscheu zu
überwinden, der nicht nur meinen Geist, sondern auch meine Eingeweide erfaßt
hatte. Ich habe es dir immer gesagt. Schon bevor ich dich angenommen habe. Und
auch bevor wir hierher gekommen sind. Damals habe ich nur für dich, für dich
allein gesprochen. Aber du wolltest immer bleiben. Zu deinem Verderben. Du!
Mein größter Schmerz! Aber du – Stammvater so vieler Ketzer, die noch kommen
werden – denkst und sagst ja, daß ich über dem Schmerz stehe. Nein. Nur über
der Sünde stehe ich. Nur über der Unwissenheit stehe ich. Über der ersten,
weil ich Gott bin. Über der zweiten, weil in einer Seele, die nicht den Makel
der Erbsünde trägt, keine Unwissenheit sein kann. Aber ich rede zu dir als
Mensch, als der Mensch, als der erlösende Adam, der gekommen ist, um die Sünde
des sündigen Adam wiedergutzumachen und zu zeigen, was der Mensch sein könnte,
wenn er so geblieben wäre, wie er geschaffen wurde: unschuldig. Gehörte zu den
Gaben Gottes für jenen Adam nicht eine ungeschmälerte Intelligenz und eine
übergroße Weisheit, da die Vereinigung mit Gott dem gesegneten Sohn das Licht
des allmächtigen Vaters einflößte? Ich, der neue Adam, stehe über der Sünde,
aus eigenem Willen... Eines Tages, lange ist es her, hast du dich gewundert,
daß ich versucht wurde, und hast mich gefragt, ob ich nie nachgegeben hätte.
Erinnerst du dich? Und ich habe dir geantwortet. Ja. Wie hätte ich dir
antworten sollen... Denn du warst schon damals so... ein verdorbener Mensch,
daß es nutzlos gewesen wäre, deinen Augen die kostbaren Perlen der Tugenden
des Christus zu enthüllen. Du hättest ihren Wert nicht begriffen und hättest
sie... mit Kieselsteinen verwechselt... da sie von so außergewöhnlicher Größe
waren. Auch in der Wüste habe ich dir geantwortet und die Worte wiederholt,
den Sinn der Worte, die ich dir an jenem Abend auf dem Weg nach Gethsemane
gesagt hatte. Wenn Johannes oder auch Simon der Zelote mir diese Frage
gestellt hätte, dann hätte ich auf andere Art geantwortet; denn Johannes ist
rein und hätte nicht mit der Bosheit gefragt, die in deinen Worten steckte, da
du voller Bosheit bist... und Simon ist ein weiser Greis, und obwohl er das
Leben kennt, wie Johannes es nicht kennt, hat er eine Weisheit erlangt, die
ihn alle Ereignisse betrachten läßt, ohne daß er im Inneren davon beunruhigt
wird. Aber diese beiden haben mich nie gefragt, ob ich je den Versuchungen
erlegen bin, den üblichen Versuchungen oder dieser Versuchung. In der
unberührten Reinheit des ersteren ist keine Erinnerung an die Unzucht und in
dem betrachtenden Geist des anderen ist so viel Licht, daß er meine strahlende
Reinheit erkennt.
Du hast gefragt... und ich habe
dir geantwortet, wie ich konnte. Mit jener Klugheit, die niemals zur
Unaufrichtigkeit verführen darf, da Klugheit und Aufrichtigkeit in den Augen
Gottes heilig sind. Jener Klugheit, die gleich dem dreifachen Vorhang zwischen
dem Heiligen und dem Volk
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hängt, um das Geheimnis des
Königs zu verhüllen. Jener Klugheit, die die Wahl der Worte bestimmt, je nach
dem Zuhörer, seiner Verstandeskraft, seiner geistigen Reinheit und seiner
Gerechtigkeit. Denn gewisse Wahrheiten, die man den Unreinen sagt, werden für
diese zum Gegenstand des Gelächters, nicht der Verehrung... Ich weiß nicht, ob
du dich an alle diese Worte erinnerst. Und ich wiederhole sie dir in dieser
Stunde, da wir beide am Rand des Abgrunds stehen. Denn... Aber es ist nicht
nötig, dies zu sagen. Ich habe in der Wüste auf deine Frage geantwortet, da
meine erste Erklärung dich nicht zufriedengestellt hatte: "Der Meister hat
sich niemals dem Menschen überlegen gefühlt, weil er der 'Messias' ist;
vielmehr, da er Mensch ist, wollte er es in allem sein, außer der Sünde. Um
Lehrer sein zu können, muß man erst Schüler gewesen sein. Als Gott wußte ich
alles. Meine göttliche Intelligenz konnte mich durch meine Verstandesmacht
auch die Kämpfe des Menschen begreifen lassen. Aber eines Tages hätte dann
irgendein armer Freund zu mir sagen können: 'Du weißt nicht, was es heißt,
Mensch zu sein und Gefühle und Leidenschaften zu haben.' Das wäre ein
gerechter Vorwurf gewesen. Ich bin hierhergekommen, um mich nicht allein auf
die Mission, sondern auch auf die Versuchung, auf die satanische Versuchung
vorzubereiten; denn der Mensch hätte keine Macht über mich gehabt. Satan ist
gekommen, als in der Einsamkeit meine fühlbare Vereinigung mit Gott aufgehört
hatte und ich fühlte, daß ich ein Mensch mit wahrem Fleisch bin, das den
Schwächen des Fleisches unterworfen ist: dem Hunger, der Müdigkeit, dem Durst
und der Kälte. Ich habe die Materie gespürt mit ihren Forderungen, und die
Gefühle mit ihren Leidenschaften. Und durch meinen Willen habe ich die
schlechten Leidenschaften schon bei ihrem Aufkommen unterdrückt und die
heiligen Leidenschaften gedeihen lassen." Erinnerst du dich dieser Worte? Und
weiter habe ich beim ersten Mal zu dir gesagt, zu dir allein: "Das Leben ist
ein heiliges Geschenk und muß daher heiligmäßig geliebt werden. Das Leben ist
ein Mittel zum Zweck, um das ewige Leben zu erlangen." Ich habe gesagt: "Geben
wir also dem Leben, was es braucht, um zu bestehen und dem Geist zu dienen in
seinem Bestreben: Enthaltsamkeit in den Gelüsten des Fleisches, Enthaltsamkeit
in den Wünschen des Verstandes, Enthaltsamkeit in allen menschlichen
Leidenschaften des Herzens, und unbegrenzte Energie in den Leidenschaften, die
zum Himmel führen: die Liebe zu Gott und dem Nächsten, den Willen, Gott und
dem Nächsten zu dienen, den Gehorsam gegenüber der Stimme Gottes und den
Heroismus im Guten und in der Tugend." Und du hast mir damals gesagt, ich
könnte dies fertigbringen, weil ich heilig bin, während es für dich unmöglich
sei, weil du ein junger Mensch voller Lebenskraft bist. Als ob jung und
kraftvoll zu sein eine Entschuldigung für das Laster wäre und nur die Alten
oder die Kranken, die wegen ihres Alters oder ihrer Schwäche nicht fähig sind
zu dem, woran du in der Glut deiner unzüchtigen Begierden
255
dachtest, frei von Versuchungen
der Sinne wären! Ich hätte dir damals schon vieles entgegnen können. Aber du
warst nicht imstande, es zu verstehen. Nicht einmal jetzt bist du es; doch
jetzt kannst du wenigstens nicht mehr ungläubig lächeln, wenn ich dir sage,
daß der gesunde Mensch keusch sein kann, wenn er nicht von sich aus für die
Verführungen Satans und der Sinne zugänglich ist. Keuschheit ist eine geistige
Neigung, eine Regung, die sich auf das Fleisch überträgt und es durchdringt,
erhebt, mit Duft erfüllt und bewahrt. In dem, der von Keuschheit erfüllt ist,
ist für andere ungute Regungen kein Platz. Das Verderben kann nicht in ihn
eindringen. Es ist kein Platz dafür vorhanden. Und überdies! Das Verderben
dringt nicht von außen ein. Die Regung dringt nicht von außen ins Innere. Es
ist eine Regung, die aus dem Inneren, dem Herzen, den Gedanken kommt und dann
in die Hülle, das Fleisch, vordringt und es durchdringt. Deshalb habe ich
gesagt, daß das Verderben aus dem Herzen kommt. Jeder Ehebruch, jede Unzucht,
jede Sünde der Sinne hat ihren Ursprung nicht in Äußerem, sondern entspringt
den verdorbenen Gedanken, die alles aufreizend erscheinen lassen, was man
sieht. Alle Menschen haben Augen, um zu sehen. Wie kommt es dann, daß eine
Frau, die zehn Männer gleichgültig läßt, weil sie in ihr ein ihnen ähnliches
Geschöpf sehen oder sie als ein schönes Werk der Schöpfung betrachten, das
aber keine obszönen Gefühle und Phantasien in ihnen hervorruft, den elften
betört und zu unwürdigen Begierden verleitet? Es kommt daher, daß dieser elfte
ein verdorbenes Herz und unreine Gedanken hat und dort, wo zehn die Schwester
sehen, das Weib sieht. Dies habe ich dir damals zwar nicht gesagt, aber ich
habe dir gesagt, daß ich eigens für die Menschen und nicht für die Engel
gekommen bin. Ich bin gekommen, um den Menschen die königliche Würde der
Kinder Gottes wiederzugeben, indem ich sie lehre, gottähnlich zu leben. Gott
kennt keine Unzucht, o Judas. Und ich wollte euch zeigen, daß auch der Mensch
rein sein kann. Ich wollte euch zeigen, daß man leben kann, wie ich es lehre.
Um euch dies zu zeigen, mußte ich wahres Fleisch annehmen, um die Versuchungen
der Menschen erleiden und dann den Menschen, nachdem ich sie belehrt habe,
sagen zu können: "Macht es wie ich." Und du hast mich gefragt, ob ich in der
Versuchung gesündigt habe. Erinnerst du dich? Ich habe dir geantwortet, denn
ich sah, daß du nicht begreifen konntest, daß ich versucht werden könnte ohne
zu fallen, da dir die Versuchung des Wortes unwahrscheinlich erschien und du
glaubtest, daß es für den Menschen unmöglich sei, nicht zu sündigen; deshalb
habe ich dir geantwortet, daß alle versucht werden können, doch nur jene
Sünder werden, die es sein wollen. Dein Erstaunen war groß, und ungläubig hast
du weiter gefragt: "Hast du noch nie gesündigt?" Damals konntest du ungläubig
sein. Wir kannten uns erst seit kurzem. Und Palästina ist voll von Rabbis, die
das Gegenteil von dem lehren, was sie leben. Aber nun weißt du, daß ich nicht
gesündigt habe und nicht
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sündige. Du weißt, daß die
Versuchung, auch die heftigste, die den gesunden, mannhaften Menschen
bedrängt, der unter Menschen lebt und von ihnen und von Satan umgarnt wird,
mich nicht so verwirren kann, daß ich sündige. Vielmehr war jede Versuchung,
auch wenn der Widerstand sie nur noch heftiger werden ließ, da der Dämon sie
noch verstärkte, um mich zu unterwerfen, ein immer größerer Sieg. Und nicht
nur über die Unkeuschheit, die mich wie ein Sturmwind umbrauste und die
dennoch meinen Willen nicht erschüttern und nicht beeinträchtigen konnte. Wo
keine Zustimmung in der Versuchung ist, gibt es keine Sünde, Judas. Es ist
schon Sünde, wenn man, auch ohne die Tat auszuführen, der Versuchung soweit
nachgibt, daß man sie betrachtet. Es ist eine läßliche Sünde, aber es ist
schon der Weg zur Todsünde und bereitet sie vor. Denn, die Versuchung wirken
zu lassen und in Gedanken bei ihr zu verweilen, im Geist die Phasen einer
Sünde zu verfolgen, bedeutet, sich selbst zu schwächen. Satan weiß dies, und
daher greift er mit immer neuen Flammen an in der Hoffnung, daß eine von ihnen
eindringt und wirkt. Danach ist es leicht zu erreichen, daß aus dem Versuchten
ein Sünder wird. Du hast mich damals nicht verstanden. Du konntest mich nicht
verstehen. Nun kannst du es. Du verdienst es jetzt viel weniger als damals, zu
verstehen, und doch wiederhole ich die Worte, die ich dir, für dich, gesagt
habe, da du, nicht ich, derjenige bist, in dem die abgewiesene Versuchung
keine Ruhe gibt ... Sie gibt keine Ruhe, weil du sie nicht gänzlich
zurückweist. Du begehst die Tat nicht, aber du denkst ständig an sie. Heute
so, und morgen... morgen begehst du die eigentliche Sünde. Daher habe ich dich
schon damals gelehrt, den Vater um Hilfe zu bitten gegen die Versuchung. Ich
habe dich gelehrt, den Vater zu bitten, dich nicht in Versuchung zu führen.
Ich, der Sohn Gottes, ich, der ich den Satan schon besiegt habe, habe den
Vater um Hilfe gebeten, denn ich bin demütig. Du nicht. Du hast Gott nicht um
Schutz und Rettung gebeten, denn du bist stolz. Und deshalb sinkst du immer
tiefer... Erinnerst du dich jetzt an all das? Dann kannst du nun auch
verstehen, was es für mich bedeutet, der ich wahrer Mensch mit allen
menschlichen Regungen und wahrer Gott mit allen göttlichen Regungen bin, dich
so sehen zu müssen: als Unzüchtigen, Lügner, Dieb, Verräter und Mörder. Weißt
du, welche Anstrengung es für mich bedeutet, dich in meiner Nähe zu ertragen?
Weißt du, welche Mühe es mich kostet, mich zu beherrschen, wie eben jetzt, um
bis zuletzt meine Mission an dir zu erfüllen? Jeder andere Mensch hätte dich
am Kragen gepackt, wenn er dich als Dieb und Einbrecher mit der Absicht, Geld
zu stehlen, ertappt hätte, wenn er wüßte, daß du ein Verräter bist und mehr
noch als ein Verräter... Ich habe zu dir gesprochen. Noch bin ich barmherzig.
Schau. Es ist nicht Sommer und durch das Fenster dringt die kühle Abendluft in
den Raum. Und doch treibt es mir den Schweiß aus allen Poren, als ob ich
härteste Arbeit verrichtet hätte. Merkst du denn nicht, wieviel du mich
kostest?
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Was du bist? Du willst, daß ich
dich fortjage? Nein. Niemals. Wenn einer am Ertrinken ist, dann wird der zum
Mörder, der ihn losläßt. Du stehst zwischen zwei Kräften, die dich anziehen.
Ich und Satan. Aber wenn ich dich gehen lasse, bleibt nur er. Und wie wirst du
dich dann retten? Und doch würdest du mich verlassen... Du hast mich im Geist
schon verlassen... Nun gut: Ich werde trotzdem die Hülle des Judas bei mir
behalten. Deinen Körper, der nicht den Willen hat, mich zu lieben, deinen
Körper, der dem Guten unzugänglich ist. Ich behalte ihn bei mir, bis du dieses
Nichts, deine äußere Hülle, von mir verlangst, um sie mit deinem Geist zu
vereinen und mit deinem ganzen Selbst zu sündigen... Judas... ! Hast du mir
nichts zu sagen? Judas! Hast du kein Wort für deinen Meister? Willst du mich
um nichts bitten? Ich verlange nicht, daß du mir sagst: "Verzeih mir!" Ich
habe dir zu oft umsonst verziehen. Ich weiß, daß dieses Wort nur von deinen
Lippen kommt und von keiner Regung der reuigen Seele begleitet ist. Ich möchte
eine Regung deines Herzens. Bist du denn schon so tot, daß du keinen Wunsch
mehr hast? Sprich! Hast du Angst vor mir? Oh, könntest du mich nur fürchten!
Wenigstens das! Aber du hast keine Furcht vor mir. Wenn du mich fürchten
würdest, würde ich dir die Worte wiederholen, die ich an jenem längst
vergangenen Tag sagte, als wir von der Versuchung und der Sünde sprachen: "Ich
sage dir, auch nach dem größten Verbrechen würde Gott dem Schuldigen
verzeihen, wenn dieser sich mit wahrer Reue zu seinen Füßen niederwerfen,
weinend um Verzeihung bitten und voll Vertrauen und Hoffnung die Sühne auf
sich nehmen würde. Durch die Sühne könnte der Schuldige seine Seele noch
retten." Judas! Aber wenn du mich auch nicht fürchtest, so liebe ich dich doch
noch. Willst du in dieser Stunde meine unendliche Liebe um nichts bitten?»
«Nein. Das heißt, nur um eines
will ich dich bitten: daß du Johannes gebietest zu schweigen. Wie, glaubst du,
soll ich mich bessern, wenn ich der Schandfleck unter euch bin?» Er sagt das
in hochmütigem Ton.
Und Jesus antwortet ihm: «Und das
sagst du in diesem Ton? Johannes wird schweigen. Aber du, und das bitte ich
dich, sorge dafür, daß man deine Verderbtheit nicht bemerkt. Hebe die Münzen
auf und lege sie in die Börse der Johanna zurück. Ich will versuchen, die
Truhe wieder zu verschließen... mit dem Eisen, das du zum Aufbrechen benützt
hast ...»
Und während Judas unwillig die
überall verstreuten Münzen sammelt, lehnt sich Jesus an die offene Truhe, als
ob er müde wäre. Das Licht im Raum hat abgenommen, doch ist es noch hell genug
um zu sehen, wie Jesus lautlos weint, während er seinen Apostel betrachtet,
der gebückt das zerstreute Geld sammelt.
Judas ist fertig und geht zur
Truhe. Er nimmt die große schwere Börse der Johanna, wirft die Münzen hinein,
verschließt sie und sagt: «Hier!»Dann geht er zur Seite.
Jesus nimmt den einfachen
Dietrich, den Judas angefertigt hat. Mit
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zitternden Händen läßt er das
Schloß einschnappen und schließt die Truhe. Dann legt er das Eisen über sein
Knie und verbiegt es, tritt mit dem Fuß darauf, um es vollends unbrauchbar zu
machen, hebt es