Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben
Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise
kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht
verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte.
Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es
ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle
stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu
halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte
Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren
Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.
Das Werk kann man hier
in Buchform erwerben:
Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch
Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
Band IX:
Drittes Jahr des Lebens Jesu (Fortsetzung)
540. Im Tempel:«Nur noch kurze Zeit bin ich bei euch». S. 9
541. Jesus in Nob; Ein Windwunder. S. 14
542. Jesus im Lager der Galiläer seinen Apostel. S. 20
543. Am letzten grossen Tag des Laubhüttenfestes. S. 28
544. In Bethanien; «man kann auf viele Arten töten». S. 35
545. Am Brunnen von En Rogel. S. 38
546. Jesus, die Pharisäer und die Ehebrecherin. S. 43
547. «Den Schuldigen weise ich den Weg der Rettung. S. 46
548. Unterweisung der Apostel und Jünger. S. 49
549. Im Dorf und im Haus Salomo. S. 53
550. Jesus und Simon des Jonas. S. 58
551. Jesus spricht mit Thaddäus und Jakobus des Zebedäus. S. 62
552. Jesus und der Mann aus Petra bei Hesbon. S. 67
553. Der Abstieg vom Berg Nebo. S. 71
554. «Die Finsternis weist das Licht ab». S. 75
555. Jesus ermutigt seine Apostel. S. 83
556. Die Frau des sadduzäischen Nekromanten. S. 87
557. «Ein Gebet kann euch mit Gott verbinden, nicht eine magische Formel». S.
97
558. «Die, die man lieben gehen fort». S. 98
559. Das Gleichnis vom ungerechten Richter. S. 104
560. «Ich bin das Licht der Welt. S. 110
561. «Wir sind Nachkommen Abrahams». S. 115
562. Im Haus des Joseph von Sephoris. S. 128
563. Der alte Priester Mathan (oder Nathan). S. 135
564. Heilung des Blingeborenen. S. 142
565. In Nob; Judas von Kerioth lügt. S. 156
566. Jesus in den Ruinen eines zerstörten Dorfes. S. 163
567. Jesus spricht in Emmaus im Gebirge. S. 166
568. Jesus in Beth Horon. S. 174
569. Nach Gibeon. S. 185
570. In Gibeon. S. 192
571. Zurück nach Jerusalem. S. 196
572. Ich bin der Gute Hirte. S. 200
573. Auf dem Weg nach Bethanien; Im Hausdes Lazarus. S. 210
574. Auf dem Weg nach Thekoa; Der alte Heli-Anna. S. 216
575. Jesus spricht in Thekoa. S. 225
576. In Jericho. S. 230
577. Predigt in Jericho. S. 237
578. Im Haus des Zachäus mit den Bekehrten. S. 245
579. Jesus urteilt über Sabäa von Beth Lechi. S. 255
580. In Bethabara. S. 272
581. Auf dem Rückweg nach Nob. S. 276
582. In Nob; Judas Iskariot gehorcht nicht mehr. S. 280
583. Die folgenden Tage in Nob. S. 285
584. Jesus mit dem unzüchtigen Judas von Kerioth. S. 292
585. Jesus und Valeria; Das Wunder an dem kleinen Levi zu Nob. S. 297
586. Jesus und die Sünderin die ihn versuchen soll. S. 316
587. Jesus und Judas Iskariot auf dem Weg nach Jerusalem. S. 329
588. Jesus in der Synagoge der römischen Libertiner. S. 332
589. Judas und die Feinde Jesu. S. 341
590. Die sieben geheilten Aussätzigen; Jesus zu den Aposteln, Martha und
Maria. S. 351
591. Jesus am Tempelweihfest. S. 361
592. Jesus begibt sich zur Geburtshöhle, um allein zu sein. S. 373
593. Jesus und Johannes des Zebedäus. S. 382
594. Jesus, Johannes und Manaen. S. 388
540. IM TEMPEL:
«NUR NOCH KURZE ZEIT BIN ICH BEI
EUCH»
Ohne sich um die Mißgunst der
anderen zu kümmern, kehrt Jesus auch am dritten Tag in den Tempel zurück. Er
hat aber wohl nicht in Jerusalem geschlafen, denn seine Sandalen sind
offensichtlich sehr verstaubt. Vielleicht hat er die Nacht auf den Hügeln in
der Nähe der Stadt verbracht. Bei ihm müssen seine Brüder Jakobus und Judas
gewesen sein, zusammen mit den Hirten Joseph und Salomon. Er trifft die
übrigen Apostel und Jünger an der östlichen Tempelmauer.
«Sie sind gekommen, weißt du?
Sowohl zu uns, als auch zu den bekanntesten Jüngern. Gut, daß du nicht da
warst!»
«So müssen wir es immer machen.»
«Gut. Aber wir werden später
darüber sprechen. Gehen wir.»
«Eine große Menschenmenge ist dir
und uns vorausgeeilt und hat deine Wunder gepriesen. Wie viele sind nun
überzeugt und glauben an dich! In dieser Beziehung haben deine Brüder recht
gehabt», sagt der Apostel Johannes.
«Sie haben dich sogar bei Annalia
gesucht, weißt du?»
«Und zum Palast der Johanna sind
sie gegangen. Aber sie haben nur Chuza vorgefunden... und er war nicht gerade
guter Laune. Wie Hunde hat er sie verjagt und ihnen gesagt, daß er in seinem
Haus keine Spione duldet und daß er ihretwegen schon genug ertragen hätte. Das
hat uns Jonathan berichtet, der mit seinem Herrn hier ist», sagt der Hirte
Daniel.
«Weißt du, daß die
Schriftgelehrten alle, die auf dich warteten, vertreiben wollten, indem sie
sie zu überzeugen versuchten, daß du nicht der Messias bist. Aber sie haben
geantwortet: "Der Christus ist er nicht? Wer soll er denn dann sein? Kann je
ein anderer Mensch solche Wunder wirken? Haben vielleicht andere, die sich
Christus nannten, sie gewirkt? Nein, nein, es können hundert und tausend
Betrüger, die ihr womöglich geschickt habt, auftauchen und behaupten, sie
seien Christus, aber keiner von ihnen wird je solche Wunder wirken wie er,
noch so viele wie er." Als die Schriftgelehrten und Pharisäer dann
behaupteten, er wirke sie, weil er Beelzebub wäre, haben sie geantwortet:
"Dann müßtet ihr ja wohl aufsehenerregende Wunder wirken können, da ihr gewiß
Beelzebub seid im Vergleich zu dem Heiligen"», berichtet Petrus lachend, und
alle lachen über diese schlagfertige Antwort der Leute und über die Empörung
der Schriftgelehrten und Pharisäer, die schließlich unwillig weggegangen sind.
9
Sie sind nun bereits im Tempel
und sogleich umgeben von einer noch zahlreicheren Menge als an den
vorangegangenen Tagen.
«Der Friede sei mit dir, Herr!
Friede! Friede!» rufen die Israeliten.
«Salve, Meister!» grüßen die
Heiden.
«Friede und Licht mögen mit euch
sein», antwortet Jesus mit einem einzigen Gruß für alle.
«Wir fürchteten, sie hätten dich
gefangengenommen oder du würdest aus Vorsicht und aus Abscheu nicht kommen;
aber dann hätten wir uns verteilt und dich überall gesucht», sagen viele.
Jesus fragt mit einem schwachen
Lächeln: «Dann wollt ihr mich also nicht verlieren?»
«Wenn wir dich verlieren,
Meister, wer wird uns dann die Unterweisungen und die Gnaden geben, die du uns
gibst?»
«Meine Unterweisungen werden in
euch bleiben, und ihr werdet sie noch besser verstehen, wenn ich von euch
gegangen bin... Selbst wenn ich einst nicht mehr unter den Menschen bin, wird
es dennoch nicht an Gnaden fehlen, die auf alle herabkommen, die mich gläubig
darum bitten.»
«Oh, Meister, willst du uns denn
wirklich verlassen? Sage uns, wohin du gehst, und wir werden dir nachfolgen.
Wir brauchen dich so sehr.»
«Der Meister spricht so, um zu
sehen, ob wir ihn lieben. Aber wo sollte denn der Rabbi von Israel hingehen,
wenn nicht nach Israel?»
«Wahrlich, ich sage euch, nur
noch kurze Zeit bin ich unter euch und gehe ich zu jenen, zu denen der Vater
mich gesandt hat. Dann werdet ihr mich suchen und mich nicht finden, und wo
ich bin, dahin werdet ihr nicht kommen können. Aber laßt mich nun gehen. Heute
werde ich nicht hier im Tempel sprechen. Ich habe arme Brüder, die mich
anderswo erwarten und die nicht kommen können, weil sie schwer krank sind.
Nach dem Gebet werde ich zu ihnen gehen.»
Mit Hilfe seiner Jünger bahnt er
sich einen Weg, um zum Vorhof der Israeliten zu gelangen.
Die Zurückbleibenden schauen
einander verwundert an.
«Wohin geht er wohl?»
«Gewiß zu seinem Freund Lazarus.
Er ist schwer krank.»
«Ich meine nicht, wohin er heute
geht, sondern wenn er uns einst für immer verläßt. Habt ihr nicht gehört, daß
er gesagt hat, daß wir ihn nicht werden finden können?»
«Vielleicht geht er, Israel zu
vereinigen, indem er all den Unseren die Botschaft verkündet, die in anderen
Nationen zerstreut leben. Die Diaspora hofft wie wir auf den Messias.»
«Oder er geht zu den Heiden, um
sie zu belehren und sie in sein Reich einzuladen.»
«Nein, so kann es nicht sein. Wir
könnten ihn überall finden, auch wenn er im fernen Asien oder im Innern
Afrikas, in Rom, in Gallien, in
10
Iberia, in Thrazien oder bei den
Sarmaten wäre. Wenn er sagt, daß wir ihn nicht finden würden, selbst wenn wir
ihn suchten, ist das ein Zeichen, daß er an keinem dieser Orte sein wird.»
«Nun ja, was wird das wohl
bedeuten, wenn er sagt: "Ihr werdet mich suchen und mich nicht finden, und wo
ich bin, dahin werdet ihr nicht kommen können"? "Ich bin..." Nein: "Ich werde
sein..." Wo ist er denn? Ist er nicht hier unter uns?»
«Ich sage es dir, Judas! Er
scheint ein Mensch zu sein, aber er ist ein Geist!»
«Aber nein! Unter den Jüngern
sind einige, die ihn als Neugeborenes gesehen haben. Ja, mehr noch. Sie haben
seine Mutter schwanger gesehen, kurz bevor er geboren wurde.»
«Aber ist er denn wirklich jenes
Knäblein gewesen, das jetzt ein Mann geworden ist? Wer versichert uns, daß er
nicht ein anderes Wesen ist?»
«0 nein. Er könnte wohl ein
anderer sein, und die Hirten könnten sich täuschen. Aber die Mutter! Aber die
Brüder, und der ganze Ort!»
«Haben die Hirten die Mutter
wiedererkannt?»
«Ja sicher...»
«Dann... aber warum sagt er dann:
"Wo ich bin, dahin werdet ihr nicht kommen können"? Für uns gibt es die
Zukunft: "Werdet ihr nicht können." Für sich bleibt er in der Gegenwart: "Ich
bin." Hat dieser Mensch vielleicht keine Zukunft?»
«Ich weiß nicht, was ich dir
sagen soll. Er ist so.»
«Ich sage euch, er ist verrückt.»
«Du bist es vielleicht, du Spion
des Synedriums.»
«Ich, ein Spion? Ich bin ein
Jude, der ihn bewundert. Habt ihr nicht gesagt, daß er zu Lazarus geht?»
«Nichts haben wir gesagt, du
alter Spion. Wir wissen nichts, und wenn wir etwas wüßten, würden wir es dir
nicht sagen. Geh, und sage denen, die dich geschickt haben, daß sie ihn selbst
suchen sollen. Spion, Spion! Bestochener... !»
Der Mann sieht, daß er es
schlecht-getroffen hat, und macht sich aus dem Staub.
«Aber wir stehen hier herum!
Wären wir hinausgegangen, hätten wir ihn gesehen. Lauf du dorthin! Und du
dahin! ... Sagt uns, welchen Weg er eingeschlagen hat. Sagt ihm, er soll nicht
zu Lazarus gehen.»
Die Jüngeren eilen davon... und
kehren alsbald zurück: «Er ist nicht mehr da... Er hat sich unter die Menge
gemischt, und niemand weiß ...»
Die Menge ist enttäuscht und löst
sich langsam auf...
Aber Jesus ist viel näher, als
sie glauben. Durch eines der Tore hat er die Stadt verlassen und ist dann um
die Burg Antonia herum, durch das Schaftor in das Kedrontal hinabgestiegen.
Der Kedron führt nur wenig Wasser in der Mitte des Flußbettes. Jesus
überschreitet ihn, wobei er über
die Steine springt, die aus dem
Wasser hervorschauen, und begibt sich auf den Ölberg. Die Ölbäume sind an
dieser Stelle dicht belaubt und noch mit Gebüsch vermischt und verleihen
diesem Teil Jerusalems einen düsteren, fast traurigen Charakter. Er erstreckt
sich von den dunklen Mauern des Tempels, der mit seinem Berg diese Seite
beherrscht, bis zum Ölberg auf der anderen Seite. Gegen Süden zu wird das Tal
heller und weiter, aber hier ist es noch ziemlich eng, wie eine von einer
gigantischen Kralle zwischen dem Berg Moriah und dem Ölberg gezogene Furche.
Jesus geht nicht nach Gethsemane,
sondern gerade in die entgegengesetzte Richtung, nach Norden, immer auf dem
Berg, der in ein wildes Tal übergeht, wo entlang einer Reihe im Bogen
verlaufender niedriger, steiniger Hügel ein Bach im Norden um die Stadt herum
fließt. Anstelle der Ölbäume wachsen dort unfruchtbare, dornige, verkrüppelte,
zerzauste Bäumchen, zusammen mit Brombeersträuchern, die ihre Fühler nach
allen Seiten ausstrecken. Ein sehr trauriger, sehr einsamer Ort. Er hat etwas
Höllisches, Apokalyptisches an sich. Einige Gräber, mehr nicht, nicht einmal
Aussätzige. Eigenartig ist diese Einsamkeit im Gegensatz zu der so nahe
gelegenen volksreichen Stadt mit ihren vielen Menschen und ihrem Lärm. Hier
ist kein Geräusch zu hören, mit Ausnahme des über die Steine gurgelnden
Wassers und des Rauschens des Windes zwischen Felsen und Gebüsch. Es fehlt
sogar die freundliche Note der Vögel, die so zahlreich sind in den Ölbäumen
von Gethsemane und dem Ölgarten. Der Wind aus Nordosten ist ziemlich stark. Er
wirbelt kleine Staubwolken in die Höhe und verdrängt jegliches Geräusch aus
der Stadt. So herrscht ein bedrückendes, fast furchterregendes Schweigen, das
Schweigen eines Ortes des Todes.
«Aber ist das denn der richtige
Weg?» fragt Petrus Isaak.
«Ja, ja. Man kommt auch auf
anderen Straßen dorthin, wenn man die Stadt durch das Herodestor oder besser
noch durch das Damaskustor verläßt. Aber es ist gut, wenn ihr auch die weniger
bekannten Pfade kennenlernt. Wir haben die ganze Umgebung durchstreift, um sie
herauszufinden und sie euch zu zeigen. So könnt ihr gehen, wohin ihr wollt in
der Nähe der Stadt, ohne die gewöhnlichen Wege zu benützen.»
«Kann man den Leuten von Nob
trauen?» fragt Petrus wiederum.
«Wie seinen eigenen Hausgenossen.
Thomas im vergangenen Winter, Nikodemus immer, der Priester Johannes, sein
Jünger, und andere haben aus der kleinen Ortschaft eine Heimat für den Meister
getan.»
«Und du hast mehr als alle
anderen gemacht», sagt der Hirte Benjamin.
«Oh! Ich! Wenn ich etwas getan
habe, dann haben wir alle etwas getan. Aber glaube mir, Meister, du hast jetzt
rings um die Stadt überall Zufluchtsorte...»
«Auch Rama...» sagt Thomas, der
etwas auf seine Stadt hält. «Mein
12
Vater und mein Schwager haben
zusammen mit Nikodemus an dich gedacht.»
«Und auch Emmaus», sagt ein Mann,
der mir nicht neu ist, von dem ich aber nicht mit Bestimmtheit sagen könnte,
wer er ist, auch weil ich in Judäa mehrfach Ortschaften mit Namen Emmaus
begegnet bin, ganz abgesehen von dem Emmaus bei Tarichäa.
«Es ist zwar weit, wenn man es
auf Wegen wie diesen erreichen will, aber ich werde es nicht versäumen,
bisweilen auch dorthin zu kommen.»
«Und in mein Haus», sagt Salomon.
«Dorthin gewiß wenigstens einmal,
um den Alten zu grüßen.»
«Dann gibt es auch noch Bether.»
«Und Bethsur.»
«Ich werde nicht in die Häuser
der Jüngerinnen gehen; aber wenn es nötig ist, werde ich sie zu mir rufen.»
«Ich habe einen treuen Freund in
der Nähe von En Rogel. Sein Haus steht dir zur Verfügung. Und keiner von
denen, die dich hassen, wird glauben, daß du so in ihrer Nähe bist», sagt
Stephanus.
«Der Gärtner der königlichen
Gärten kann dich beherbergen. Er ist ganz eines Sinnes mit Manaen, der ihm
diesen Posten verschafft hat... Und überdies... du hast ihn einmal geheilt
...»
«Ich? Ich kenne ihn nicht ...»
«Er war zu Ostern unter den
Armen, die du bei Chuza geheilt hast. Die von einer schmutzigen Sichel
verursachte Wunde ließ sein Bein vereitern, und sein erster Herr hatte ihn
deshalb verjagt. Er mußte betteln gehen, um seine Kinder zu ernähren, und du
hast ihn geheilt. Manaen hat ihm dann in einem günstigen Augenblick bei
Antipas die Stelle eines Gärtners verschafft. Jetzt tut der Mann alles, was
ihm Manaen sagt. Und für dich erst ...» sagt der Hirte Matthias.
«Ich habe Manaen nie bei euch
gesehen ...» sagt Jesus und schaut ihm fest in die Augen. Matthias wird rot
und verwirrt.
«Komm, gehen wir etwas voraus!»
Der Jünger folgt ihm.
«Sprich!»
«Herr... Manaen hat einen Fehler
begangen... und er leidet sehr darunter, und mit ihm Timoneus und einige
andere. Sie finden keinen Frieden mehr, weil du ...»
«Sie glauben doch nicht etwa, daß
ich sie hasse ...»
«Nein, aber... Sie fürchten sich
vor deinen Worten und deinem Blick.»
«Oh, welch ein Irrtum! Gerade
weil sie gefehlt haben, bedürfen sie der Medizin. Weißt du, wo sie sind?»
«Ja, Meister.»
«Dann geh und sag ihnen, daß ich
sie in Nob erwarte.»
Matthias macht sich auf den Weg,
ohne Zeit zu verlieren. Der Bergpfad
13
steigt so stark an, daß bald die
ganze Nordseite Jerusalems zu sehen ist... Jesus und die Seinen wenden der
Stadt den Rücken und entfernen sich in entgegengesetzter Richtung.
541. JESUS IN NOB; EIN WINDWUNDER
Ein ruhiges, ziemlich gepflegtes
Dorf. Die Bewohner sind in den Häusern, da ein starker Wind weht. Aber sobald
die Jünger Jesus ankündigen, kommen alle Frauen, Kinder und die alten Männer,
die aus Altersgründen im Ort zurückgeblieben sind, herbei und scharen sich um
Jesus, der sie auf dem kleinen Dorfplatz erwartet. Da die Ortschaft auf einer
Anhöhe liegt, hat sie Luft und Licht auch an dunklen Tagen, und der Blick
schweift von dort bis Jerusalem im Süden und bis Rama im Norden (ich sage Rama,
denn so steht es auf einem Meilenstein, nebst der Entfernungsangabe,
geschrieben).
Die Leute sind sehr gerührt, denn
daß sie es sind, die den Herrn beherbergen dürfen, ist etwas ganz Neues und
Aufregendes für sie! ... Ein Alter, ein wahrer Patriarch, sagt es im Namen
aller, und die Frauen nicken eifrig mit dem Kopf dazu.
Daran gewöhnt, vom priesterlichen
und pharisäischen Stolz zurechtgewiesen zu werden, sind sie schüchtern... Aber
Jesus sorgt dafür, daß sie sich sofort wohlfühlen. Er nimmt ein kleines
Mädchen auf den Arm, das gerade die ersten Schritte tut, und streichelt den
Greis mit den Worten: «Habt ihr mich noch nie gesehen?»
«Von weitem, als du auf dem Weg
vorübergegangen bist... und der eine oder andere Mann unter uns im Tempel.
Aber obwohl wir so nahe bei der Stadt wohnen, ist es schwieriger für uns, das
zu erreichen, was andere haben, die von weither kommen», sagt der Alte.
«Es ist immer so, Vater. Was die
Dinge zu erleichtern scheint, macht sie schwierig; denn alle leben in der
Überzeugung, daß es leicht ist. Aber jetzt werden wir uns kennenlernen. Geh in
dein Haus, Vater. Der Herbstwind braust, und er bekommt alten Patriarchen
nicht wohl.»
«Oh, ich bin allein geblieben,
und die Tage zählen für mich nicht mehr ...»
«Seine Tochter ist weit weg
verheiratet, und die Frau ist am Laubhüttenfest gestorben», erklärt eine Frau.
«Johannes, so darfst du nicht
sprechen, heute, da du den Rabbi bei dir hast. Du hast ihn doch so sehr
ersehnt!» sagt eine kleine Alte zu ihm.
«Das ist wahr. Aber... Du bist
der Messias, nicht wahr?»
«Ja, Vater.»
«Wonach kann ich also noch
verlangen, jetzt, da ich ihn gesehen habe
14
und sehe, daß sich das dem
Abraham gegebene Versprechen erfüllt hat? Ein Alter, damals war er der Alte,
sang eines Tages im Tempel – ich war an jenem Tag dort, da meine Lia zur
Reinigung ging nach der einzigen Geburt, und vor uns hatte eine Frau den Ritus
vollzogen, die fast noch ein Mädchen war – also, der Alte sang, während er das
Kind jenes Mädchens küßte: "Nun läßt du, o Herr, deinen Diener in Frieden
scheiden, denn meine Augen haben den Erlöser gesehen." Dieses Neugeborene
warst also du! Oh! Ich Glücklicher! Ich habe damals den Herrn gebeten: "Gib,
daß auch ich sterben kann, nachdem ich ihn kennengelernt habe." Jetzt kenne
ich dich. Du bist hier. Die Hand meines Herrn ruht auf meinem Haupt. Seine
Stimme hat zu mir gesprochen. Was soll ich sagen, wenn nicht die Worte des
alten, gelehrten und gerechten Simeon? Ich sage sie: "Laß, o Herr, deinen
Knecht in Frieden scheiden, denn meine Augen haben deinen Gesalbten gesehen!"»
«Willst du nicht warten, um auch
sein Reich zu sehen?» sagt eine Frau.
«Nein, Maria, die Feste sind
nicht für die Alten. Überdies glaube ich nicht, was die meisten sagen. Ich
erinnere mich der Worte des Simeon... Er hat für das Herz dieses Mädchens ein
Schwert vorausgesagt, da nicht alle in der Welt den Erlöser lieben werden...
Er hat gesagt, daß Verderben und Auferstehung für viele kommen werden um
seinetwillen... Und dann ist da Isaias... und David... Nein, ich ziehe es vor,
zu sterben und seine Gnade im Jenseits zu erwarten... Dort wird sein Reich
sein ...»
«Vater, du siehst klarer als die
Jungen. Mein Reich ist das der Himmel. Für dich jedoch bedeutet meine Ankunft
nicht Verderben, denn du verstehst an mich zu glauben. Gehen wir in dein Haus:
ich bleibe bei dir.» Und geführt von dem Alten, geht er zu einem weißen
Häuschen an einem Sträßchen inmitten von Gärten, deren Blätter der Wind wie
ein Dieb davonträgt. Er tritt dort ein mit Petrus, den beiden Söhnen des
Alphäus und Johannes. Die anderen verteilen sich auf die übrigen Häuser... um
nach einiger Zeit zurückzukehren und das Häuschen, den Garten und die Terrasse
unter dem Dach mit Menschen zu füllen. Sogar auf das Mäuerchen, das den Garten
auf der einen Seite vom Weg trennt, steigen sie, und auf einen mächtigen
Nußbaum und einen ebenso großen Apfelbaum, ungeachtet des Sturmwindes, der
immer stärker wird und Staubwolken aufwirbelt.
Sie wollen Jesus hören, der
einige Zeit verstreichen läßt, bevor er, auf der Küchenschwelle stehend, zu
sprechen beginnt, so daß man seine Stimme drinnen wie draußen vernehmen kann.
«Ein mächtiger König, dessen
Reich sehr groß war, wollte eines Tages seine Untergebenen besuchen. Er wohnte
in einem wundervollen Palast, von wo aus er durch seine Knechte und Boten den
Untertanen seine Befehle und Gaben zukommen ließ. Diese wußten also von seiner
Gegenwart, seiner Liebe zu ihnen und seinen Absichten, ohne ihn jedoch
persönlich zu
15
kennen. Sie kannten weder seine
Stimme noch seine Sprache. Kurz, sie wußten wohl, daß er da war und ihr Herr
war, mehr aber nicht. Und wie es oft geschieht, wurden deshalb viele seiner
Gesetze und Anordnungen falsch ausgelegt, sei es aus Böswilligkeit, sei es aus
Unfähigkeit, sie zu verstehen; und die Interessen der Untergebenen und die
Wünsche des Königs, der sie glücklich wissen wollte, litten Schaden. Oft war
er gezwungen, sie zu strafen, und litt mehr als sie selbst darunter. Aber die
Strafen brachten keine Besserung. Da sagte er: "Ich werde hingehen und
persönlich mit ihnen sprechen. Ich werde mich zu erkennen geben. Dann werden
sie mich lieben, mir besser gehorchen und glücklich werden." Er verließ also
seine herrliche Wohnung, um unter sein Volk zu gehen.
Großes Staunen verursachte sein
Kommen. Das Volk war gerührt und geriet in Aufregung. Die einen jubelten, die
anderen fürchteten sich, wieder andere zürnten ihm, mißtrauten ihm oder haßten
ihn. Der König, der geduldig war, begann unermüdlich mit ihnen zu verkehren,
sowohl mit denen, die ihn liebten, als auch mit denen, die ihn fürchteten oder
haßten. Er erklärte sein Gesetz, hörte seine Untertanen an, ließ ihnen
Wohltaten zuteil werden und ertrug sie. Und schließlich liebten ihn viele von
ihnen und flohen ihn nicht mehr wegen seiner Hoheit. Einige wenige hörten auf,
ihm zu mißtrauen und ihn zu hassen. Das waren die Besseren. Aber viele
blieben, was sie gewesen waren, denn sie waren nicht guten Willens. Der König
jedoch, der sehr weise war, ertrug auch dies und nahm seine Zuflucht zu der
Liebe der Besseren, um einen Lohn für seine Mühen zu erhalten.
Doch, was geschah dann? Es
geschah, daß auch einige der Besten ihn nicht verstanden. Er kam von so weit
her! Seine Sprache war so neu! Sein Wille war so verschieden von dem seiner
Untergebenen, und er wurde nicht von allen verstanden... Einige fügten ihm
sogar Schmerz und auch sonstigen Schaden zu oder liefen wenigstens Gefahr, ihm
Schaden zuzufügen, da sie ihn nicht richtig verstanden hatten. Als sie jedoch
einsahen, daß sie ihm Kummer gemacht und Schaden zugefügt hatten, flohen sie
betrübt vor seinem Antlitz und gingen nicht mehr zu ihm aus Furcht vor seinem
Tadel.
Aber der König hatte in ihren
Herzen gelesen und in seiner Liebe rief er täglich nach ihnen, und bat den
Ewigen, ihm zu gewähren, sie wiederzufinden, um ihnen sagen zu können: "Warum
fürchtet ihr mich? Es ist wahr, euer Unverständnis hat mit Schmerz bereitet;
aber ich habe gesehen, daß dies nicht aus Bosheit geschah, sondern nur die
Folge eurer Unfähigkeit war, meine Sprache zu verstehen, die so verschieden
ist von der eurigen. Was mir wehtut ist, daß ihr mich fürchtet. Dies sagt mir,
daß ihr mich nicht nur als König mißverstanden habt, sondern auch als Freund.
Warum kommt ihr nicht? So kehrt doch zurück. Was die Freude, mich zu lieben,
euch nicht verstehen ließ, hat euch der Schmerz darüber, mir
16
Schmerz bereitet zu haben,
klargemacht. Oh, kommt, kommt, meine Freunde. Vermehrt nicht eure Unwissenheit
durch euer Fernbleiben, eure Finsternis, indem ihr euch verbergt, eure
Bitterkeiten durch das Abweisen meiner Liebe. Seht ihr? Wir leiden
schmerzlich, ihr und ich, durch diese Trennung. Ich noch mehr als ihr. Kommt
also und schenkt mir Freude."
So wollte der König sprechen, und
so spricht er. Und so spricht auch Gott zu den Sündern, und der Erlöser zu
denen, die vielleicht gefehlt haben.
So spricht der König Israels zu
seinen Untertanen. Der wahre König Israels, jener, der seine Untertanen aus
dem kleinen irdischen Reich ins große Reich der Himmel führen will. In dieses
können nicht eingehen, die dem König nicht folgen und nicht lernen, seine
Worte und seine Gedanken zu verstehen. Aber wie kann man etwas lernen, wenn
man nach dem ersten Fehler dem Meister flieht?
Niemand soll mutlos werden, wenn
er gesündigt und bereut hat, wenn er gefehlt hat und seinen Fehler anerkennt.
Er komme zur Quelle, die die Fehler tilgt und Licht und Weisheit schenkt; er
stille seinen Durst an dieser Quelle, die, vom Himmel gekommen, sich glühend
danach sehnt, sich den Menschen zu schenken.»
Jesus schweigt. Nur der Wind läßt
seine Stimme immer stärker vernehmen. Auf dem Hügel, auf dem Nob liegt, bläst
er so wild, daß die Bäume in beängstigender Weise ächzen.
Die Menschen sind gezwungen, sich
in die Häuser zurückzuziehen. Doch als sich die Menge aufgelöst hat, Jesus ins
Haus zurückgekehrt ist und die Tür geschlossen hat, erscheint Matthias hinter
dem Mäuerchen, gefolgt von Manaen und Timoneus, betritt das Gärtchen und
klopft an die verschlossene Tür.
Jesus selbst geht und öffnet.
«Meister, da sind sie... !» sagt Matthias und weist auf die beiden, die
beschämt am Rande des Gartens stehengeblieben sind und nicht wagen, das
Antlitz zu erheben und Jesus anzuschauen.
«Manaen! Timoneus! Meine
Freunde!» sagt Jesus, tritt hinaus in den Garten und schließt die Tür wieder
hinter sich, um denen drinnen zu verstehen zu geben, daß sie ihm nicht
neugierig folgen sollen. Er geht mit ausgebreiteten Armen auf die beiden zu,
um sie zu umarmen.
Die beiden erheben die Augen,
gerührt von der Liebe in der Stimme des Meisters. Sie sehen sein Antlitz,
seine Augen, so voll der Liebe, und ihre Furcht schwindet dahin. Sie laufen
ihm entgegen und rufen mit tränenerstickter Stimme: «Meister!» Sie fallen ihm
zu Füßen, umarmen seine Knie, küssen seine bloßen Füße und benetzen sie mit
ihren Tränen.
«Meine Freunde! Nicht so. Hier,
an mein Herz. Ich habe euch so sehnsüchtig erwartet! Und so gut verstanden!
Erhebt euch ...» Und er versucht sie aufzurichten.
17
«Verzeihung! Oh, Verzeihung! ...
Verweigere sie uns nicht, Meister. Wir haben so viel gelitten!»
«Ich weiß es. Aber wenn ihr
vorher gekommen wäret, hätte ich euch schon früher gesagt: "Ich liebe euch."»
«Du liebst uns, Meister? So wie
früher?!» sagt als erster Timoneus und erhebt fragend sein Antlitz.
«Mehr als früher, denn jetzt seid
ihr geheilt von aller Menschlichkeit, die eurer Liebe zu mir anhaftete.»
«Es ist wahr, o mein Meister.»
Und Manaen springt auf die Füße und kann nicht mehr widerstehen. Er wirft sich
an Jesu Brust, und Timoneus tut es ihm gleich...
«Seht ihr, wie man sich hier
wohlfühlt? Ist es hier nicht besser als in einem armen Königspalast? Wo
besitzt ihr mich mehr und mächtiger, milder und reicher an unendlichen
Schätzen, als wenn ihr mich als Erlöser, Retter, geistigen König und
liebevollen Freund habt?»
«Es ist wahr! Es ist wahr! Sie
hatten uns verführt! Und wir glaubten, dir Ehre zu erweisen und daß ihre Idee
richtig sei!»
«Denkt nicht mehr daran. Das ist
vorüber und gehört nun der Vergangenheit an. Laßt die Zeit, die vorübergeht
wie der Sturm, der uns schüttelt, es forttragen, weit fort, und für immer
zerstreuen... Aber gehen wir ins Haus. Es ist nicht möglich, hier zu bleiben
...»
Es ist wirklich ein wahrer
Wirbelsturm, der sich von Norden her auf das Dorf stürzt. Äste werden
abgerissen, Dachziegel fliegen fort, einige unsichere Mäuerchen der Terrassen
auf den Dächern krachen zusammen und der Nuß- und der Apfelbaum schütteln
sich, als wollten sie sich entwurzeln.
Sie treten ins Haus, und die vier
Apostel schauen erstaunt auf die zwar noch tränennassen, aber doch lächelnden
Gesichter der beiden Jünger. Aber sie sagen nichts.
«Ein Unglück ist im Anzug», sagt
der alte Johannes.
«0 ja. Die, die noch in den
Schutzhütten sind... Ich weiß nicht, was sie tun werden», sagt Petrus.
Der Wind ist so stark, daß die
Flämmchen eines dreiarmigen Leuchters, den man angezündet hat, um das
verschlossene Zimmer zu erleuchten, trotz der verrammelten Türen flackern.
In das Getöse des Sturmes, der
immer heftiger wird und Erde und Geröll auf das Haus prasseln läßt, als wäre
es feiner Hagel, mischt sich das immer näher kommende Geschrei von Frauen. Es
sind erschrockene Gattinnen, geängstigte Mütter: «Unsere Männer! Unsere
Kinder! Sie sind unterwegs. Wir haben Angst. Eine Mauer des verlassenen Hauses
ist schon eingestürzt... Herr, Jesus! Erbarmen!»
Jesus erhebt sich und öffnet nur
mit Mühe die Tür, gegen die der Sturm drückt. Frauen, die gekrümmt gehen, um
gegen den Wind anzukommen
18
- einen wahren Wirbelsturm unter
einem schreckenerregenden Himmel – schluchzen und strecken ihre Arme aus.
«Kommt herein. Fürchtet euch
nicht!» sagt Jesus. Er betrachtet den Himmel und die Bäume, die nahe daran
sind, entwurzelt zu werden.
«Komm zurück, Jesus! Sieh, wie
die Äste brechen und die Dachziegel herunterfallen! Es ist nicht klug, draußen
zu bleiben», schreit Judas des Alphäus.
«Die armen Oliven! Das ist Hagel.
Wo er herunterkommnt, gibt es keine Ernte mehr», meint Petrus.
Jesus geht nicht wieder hinein.
Er geht vielmehr ganz in den Wirbelsturm hinaus, der sein Gewand flattern und
seine Haare fliegen läßt. Er breitet seine Arme aus und betet. Dann befiehlt
er: «Genug! Ich will es!»und kehrt ins Haus zurück.
Der Wind heult ein letztes Mal
auf, dann regt sich plötzlich nichts mehr. Die Stille ist höchst eindrucksvoll
nach einem solchen Getöse. Aus den Häusern schauen erstaunte Gesichter. Es
bleiben nur die Zeichen des Wirbelsturmes: Blätter, zerbrochene Äste und
Fetzen von Vorhängen. Aber überall herrscht Stille. Der Himmel entspricht der
nun nicht mehr erschütterten Erde, und die schwarzen Wolken hellen sich auf.
Sie zerstreuen sich und richten keinen Schaden an, sondern lassen einen
Sprühregen niedergehen, der die trübe Luft von all dem aufgewirbelten Staub
reinigt.
«Aber was ist denn geschehen?»
«So plötzlich hat alles
aufgehört?»
«Es schien, als wäre das Ende
gekommen, und jetzt beginnt die Sonne zu strahlen!»
Stimmen fragen von Haus zu Haus.
Die Frauen, die sich zu Jesus
geflüchtet hatten, laufen hinaus. «Der Herr, der Herr ist mit uns. Er hat ein
Wunder gewirkt! Er hat dem Wind Einhalt geboten. Er hat die Wolken zerstreut.
Hosanna, Hosanna! Lobpreis dem Sohne Davids! Friede! Segen! Christus ist mit
uns! Mit uns ist der Gesegnete, der Heilige! Der Heilige! Der Heilige! Der
Messias ist mit uns! Halleluja!»
Alle Bewohner der Ortschaft,
Einheimische und Gäste, also die Apostel und die Jünger, eilen zu dem
Häuschen, in dem sich Jesus befindet. Alle wollen ihn küssen, berühren,
preisen.
«Lobt den höchsten Herrn! Er ist
der Herr über Wind und Wasser. Wenn er seinen Sohn erhört hat, geschah es, um
den Glauben und die Liebe zu belohnen, die ihr ihm bezeugt habt.»
Jesus würde sich gerne von den
Menschen verabschieden. Aber wer vermag ein Dorf zu beruhigen, das wegen eines
so offenkundigen Wunders in Feststimmung gerät, zumal, wenn es sich um ein
Dorf voller Frauen handelt? Die Bemühungen Jesu sind vergeblich. Er lächelt
geduldig,
19
während der Alte, der ihn
beherbergt, seine linke Hand küßt und mit Tränen benetzt.
Da kommen auch schon die ersten
Männer keuchend aus Jerusalem zurück, durchnäßt und erschrocken. Sie fürchten
wer weiß welches Unglück und sehen das Volk in Feststimmung. «Was gibt es? Was
ist geschehen? Habt ihr keinen Sturm gehabt? Vom Berge aus sah man das Dorf in
Staubwolken verschwinden. Wir glaubten, alles sei eingestürzt, und nun ist
hier alles heil und in Ordnung!»
«Der Herr, der Herr! Er ist zur
rechten Zeit gekommen, um uns vor dem Verderben zu retten. Nur das verfluchte
Haus ist eingestürzt, einige Ziegel sind heruntergefallen und einige Äste
abgebrochen. Und ihr? Was ist in Jerusalem geschehen?»
Fragen und Antworten kreuzen
sich. Aber die Männer schaffen sich Platz, um den Heiland zu verehren. Erst
danach erklären sie, daß in der Stadt große Furcht herrschte wegen des
bevorstehenden Sturmes, daß alle aus den Hütten in die Häuser flohen und die
Besitzer der Ölgärten sich schon wegen der verlorenen Ernte beklagten... als
sich ganz plötzlich der Sturm legte und der Himmel sich nach einem kleinen
Regenschauer aufklärte... Die ganze Stadt war erstaunt. Und da die Phantasie
in gewissen Fällen sofort in Aktion tritt, erzählten die Männer, daß die
Leute, die am Tag zuvor im Tempel waren und nun sahen, wie der Moriah am
stärksten vom Sturm heimgesucht wurde, so daß die Tische der Geldwechsler
umstürzten und Schäden am Haus des Hohenpriesters entstanden, sagten, dies sei
die Strafe für die Beschimpfung des Messias. Und so weiter, und so weiter...
Je mehr Leute kommen, desto farbiger werden die Geschichten; und manchmal sind
sie sogar apokalyptischer als der Bericht über den Karfreitag...
542. JESUS IM LAGER DER GALILÄER
MIT
SEINEN APOSTELVETTERN
«Judas und Jakobus, kommt mit
mir.»
Die beiden Söhne des Alphäus
lassen sich das nicht zweimal sagen. Sie erheben sich sogleich und verlassen
mit Jesus ein Häuschen eines Vorortes im Süden von Jerusalem, in dem man sie
heute aufgenommen hat.
«Wo gehen wir hin, Jesus?» fragt
Jakobus.
«Wir wollen uns von den Galiläern
auf dem Ölberg verabschieden.»
Sie gehen zunächst eine Weile in
Richtung Jerusalem und dann am Fuße einiger kleiner Hügel entlang, in deren
Grün Häuser, gewiß herrschaftliche Häuser, liegen. Nachdem sie die Straße nach
Bethanien und Jericho überquert haben, die südlichste, die zwischen Tophet und
Siloe
20
endet, gehen sie um einen
weiteren Hügel herum, der schon zu den Ausläufern des Ölberges gehört,
überschreiten noch eine Straße, die direkt vom Ölberg nach Bethanien führt,
und steigen schließlich auf einer kleineren Nebenstraße zwischen Ölbäumen zum
Lager der Galiläer hinauf. Dort stehen nur noch wenige Zelte, und als Andenken
an die große Zahl von Besuchern bleiben vertrocknete, auf dem Boden verstreute
Zweige, Reste von einfachen Feuerstätten, die das Gras angesengt haben, Asche,
angebrannte Holzscheite und Gerümpel, wie immer an verlassenen Lagerplätzen,
zurück.
Die Kälte der Jahreszeit und der
früh einsetzende Regen haben die Abreise der Pilger beschleunigt. Karawanen
von Frauen und Kindern sind auch jetzt noch im Aufbruch begriffen. Die Männer,
besonders die kräftigsten, sind noch geblieben, um das Fest zu Ende zu feiern.
Die an den Herrn glaubenden
Galiläer müssen durch einige Jünger benachrichtigt worden sein, denn ich sehe
alle aus den mir bekanntesten Orten. Nazareth ist vertreten durch die beiden
Jünger, Alphäus, dem Jesus nach dem Tode seiner Mutter verziehen hat, und
einige andere. Ich sehe jedoch weder Joseph noch Simon des Alphäus. Dafür
fehlen andere nicht, unter ihnen der Synagogenvorsteher, der sichtbar verlegen
ist und Jesus mit besonderer Hochachtung begrüßt, nachdem er ihm so viele
Schwierigkeiten bereitet hat. Er hilft sich damit, daß er sagt, die Verwandten
Jesu hätten sich bei «dem Freund, den du kennst» einquartiert wegen der
Kinder, die sonst in der stürmischen Nacht gelitten hätten. Kana ist vertreten
durch den Gemahl der Susanna, ihren Vater und andere; Naim durch seinen
Auferweckten und andere; Bethlehem in Galiläa durch viele Bürger, und die
Städte östlich des Sees durch ihre Bewohner...
«Der Friede sei mit euch! Der
Friede sei mit euch!» grüßt Jesus im vorübergehen. Er liebkost die Kinder, die
noch geblieben sind, seine kleinen Freunde aus den galiläischen Ortschaften,
und hört Jairus zu, der ihm sagt, wie sehr es ihm leid getan hat, daß er das
letzte Mal nicht da war.
Jesus erkundigt sich, ob die
Witwe von Aphek sich in Kapharnaum niedergelassen und den Waisenknaben von
Gischala zu sich genommen hat. «Ich weiß es nicht. Meister. Vielleicht war ich
schon abgereist», sagt Jairus.
«Ja, ja. Es kam eine Frau, die
den Kindern viel Honig und Liebkosungen zukommen läßt. Sie bäckt ihnen auch
kleine Kuchen. Und die Kinder, die bei dir waren, gehen immer zu ihr essen. Am
letzten Tage hat sie uns einen ganz kleinen Jungen gezeigt. Sie hat zwei
Ziegen gekauft wegen der Milch und uns gesagt, daß dieser Kleine der Sohn des
Himmels und des Herrn sei. Zum Fest ist sie nicht gekommen, wie sie vorhatte,
weil sie ein so kleines Kind nicht hätte mitnehmen können. Sie hat uns auch
gebeten, dir auszurichten, daß sie es in Gerechtigkeit lieben wird und dich
segnet.»
21
Die Kinder von Kapharnaum
zwitschern wie Spatzen um Jesus herum, da sie stolz sind zu wissen, was nicht
einmal der Synagogenvorsteher weiß, und Botschafter sein zu dürfen für den
guten Meister, der ihnen aufmerksam zuhört, als wären sie Erwachsene, und dann
antwortet: «Ihr werdet ihr sagen, daß auch ich sie segne und daß sie für mich
die Kinder lieben soll. Ihr aber, seid lieb zu ihr und nützt sie nicht aus,
weil sie gut ist. Liebt sie nicht nur wegen des Honigs und der Kuchen, sondern
weil sie gut ist. So gut, daß sie verstanden hat, mich glücklich zu machen, da
sie in meinem Namen ein Kind liebt. Ahmt sie alle nach, ob ihr klein oder groß
seid, und bedenkt immer, daß, wer ein Kind in meinem Namen aufnimmt, einen
besonderen Platz im Himmel haben wird. Denn Barmherzigkeit wird immer belohnt,
auch wenn es sich nur um einen Becher Wasser handelt, den ihr in meinem Namen
gebt; doch die Barmherzigkeit gegenüber den Kindern, die man nicht nur vor
Hunger, Durst und Kälte schützt, sondern auch vor der Verderbnis der Welt,
wird unendlichen Lohn erhalten... Ich bin gekommen, um euch zu segnen, bevor
ihr heimkehrt. Ihr sollt meinen Segen euren Frauen und euren Häusern bringen
...»
«Aber kommst du denn nicht mehr
zu uns, Meister?»
«Ich werde wiederkommen... aber
nicht jetzt. Nach dem Passahfest...»
«Oh, wenn du so lange
fortbleibst, wirst du gewiß dein Versprechen vergessen...»
«Habt keine Sorge. Eher wird die
Sonne aufhören zu leuchten, als daß Jesus den vergißt, der auf ihn hofft.»
«Es wird eine lange Zeit sein...
«Und eine traurige.»
«Wenn wir krank werden...»
«Wenn wir in Not sind ...»
«Wenn der Tod unsere Häuser
heimsucht ...»
«Wer wird uns dann helfen?» sagen
mehrere aus verschiedenen Orten.
«Gott. Er ist mit euch, wenn ihr
in mir bleibt mit eurem Willen.»
«Und wir? Erst seit kurzem
glauben wir an dich und bekennen es. Werden wir also keinen Beistand haben?
Jetzt, da wir dich Wunder wirken sahen und im Tempel reden hörten, jetzt
glauben wir an dich.»
«Und ich freue mich sehr darüber;
denn daß meine Mitbürger auf dem Weg des Heiles wandeln, ist mein glühendstes
Verlangen.»
«Liebst du uns so sehr? Aber wir
haben dich doch so lange Zeit beleidigt und verlacht... !»
«Das ist vorbei. Das ist nicht
mehr. Seid treu in Zukunft. In Wahrheit sage ich euch, sowohl auf Erden als
auch im Himmel ist eure Vergangenheit getilgt.»
«Bleibst du noch eine Weile bei
uns? Wir werden das Brot miteinander teilen, wie so oft in Nazareth, als wir
noch alle gleich waren und uns an den Sabbaten in den Olivenhainen ausruhten,
oder wie damals, als du nur
22
Jesus warst und mit uns zu den
Festen nach Jerusalem kamst...» Bedauern und Sehnsucht nach Vergangenem liegt
in den Stimmen der Nazarener, die nun von ihm überzeugt sind.
«Ich wollte zu Joseph und Simon
gehen. Aber ich werde sie später aufsuchen. Ihr seid mir alle Brüder in Gott,
und für mich hat der Geist und der Glaube mehr Wert als Fleisch und Blut, denn
letztere gehen zugrunde, während erstere unsterblich sind.»
Während einige sich eilig Feuer
anfachen, um Fleisch zu rösten, und einige Plätze des Ölgartens für das Mahl
herrichten, drängen sich die ältesten und bedeutendsten Männer aller Orte von
Galiläa um Jesus und fragen ihn, warum er am Morgen und am Tag zuvor nicht im
Tempel war und ob er morgen, am letzten Tage des Festes, dorthin zurückkehren
wird.
«Ich war anderswo... Aber morgen
werde ich bestimmt dort sein.»
«Und wirst du dann sprechen?»
«Wenn ich kann...»
Alphäus der Sara schaut sich um
und flüstert mit leiser Stimme dem Meister zu: «Deine Brüder sind gegangen, um
dir Hilfe in der Stadt zu sichern... Ein gewisser Mann, dessen Frau mit einem
vom Tempel verwandt ist, weiß viele Dinge... Joseph macht sich Sorgen um dich,
weißt du... Im Grunde ist er ein guter Mensch ...»
«Ich weiß es. Er wird immer
besser werden, wenn er geistig gut ist.»
Noch mehr Galiläer kommen aus der
Stadt. Die Zahl derer, die sich um Jesus scharen, mehrt sich zum großen
Mißfallen der Kinder, die von den Erwachsenen zurückgeschoben werden und denen
es nicht mehr gelingt, sich bis zu Jesus vorzudrängen, bis er schließlich die
verdrießliche und unschuldige Schar bemerkt und lächelnd sagt: «Laßt meine
Kinder zu mir kommen.»
Oh! Der Kreis öffnet sich und,
nun wieder fröhlich wie ein Schwarm Vögel, eilen sie sogleich zu Jesus, der
sie streichelt, während er weiter mit den Erwachsenen spricht. Seine schlanke,
von der sommerlichen Sonne gebräunte Hand streicht wieder und wieder über die
schwarzen und die kastanienbraunen Köpfe, unter denen sich auch hin und wieder
ein goldener Schopf befindet. Sie drängen sich so nahe wie möglich an ihm,
verstecken ihre Gesichtchen in seinem Gewand, unter seinem Mantel oder umarmen
seine Knie und seine Hüften, haschen nach einer Liebkosung und sind selig
darüber.
Dann essen sie im Kreise sitzend,
nachdem Jesus die Speisen gesegnet und verteilt hat, in heiterer und
freundschaftlicher Einheit der Herzen.
Die übrigen, die keine Anhänger
Jesu sind, schauen von weitem zu, höhnisch und ungläubig. Aber niemand kümmert
sich um sie...
Die Mahlzeit ist beendet. Jesus
erhebt sich als erster und ruft Jairus, Alphäus, Daniel von Naim, Elias von
Chorazim, Samuel (den früheren Krüppel von ich weiß nicht wo), dann einen
gewissen Urias, einen der
23
vielen Johannes, einen der vielen
Simon, einen Levi, einen Isaak, Abel von Bethlehem usw. usw., zu sich; einen
von jeder Ortschaft. Mit Hilfe seiner Vettern macht er ebensoviele gleiche
Teile aus zwei vollen Beuteln und gibt jedem der Gerufenen einen für die Armen
ihrer Dörfer.
Nachdem ihm selbst kein Heller
mehr geblieben ist, segnet er alle und verabschiedet sich. Er will in Richtung
Gethsemane gehen, um durch das Schaftor in die Stadt zurückzukehren. Aber fast
alle folgen ihm, besonders die Kinder, die sein Gewand oder die Zipfel seines
Mantels nicht loslassen und ihm nun sicher lästig sind. Doch er läßt sie
gewähren...
Der Knabe von Magdala, Benjamin,
der einmal ein klares Urteil über Judas von Kerioth ausgesprochen hat, zieht
Jesus am Gewand, bis er sich niederbeugt, um ihn anzuhören.
«Hast du ihn noch immer bei dir,
diesen Bösewicht?»
«Welchen Bösewicht? Bei mir sind
keine...» sagt Jesus lächelnd.
«Doch, gewiß sind welche bei dir.
Dieser große, schwarze Mann, der gelacht hat. Weißt du, der, von dem ich
gesagt habe, daß er außen schön und innen häßlich ist... der ist böse.»
«Er spricht von Judas», sagt
Thaddäus, der hinter Jesus steht und es hört.
«Ich weiß», antwortet Jesus und
wendet sich ihm zu. Dann sagt er zu dem Knaben: «Gewiß ist dieser Mann bei
mir. Er ist einer meiner Apostel. Aber jetzt ist er sehr gut... Warum
schüttelst du den Kopf? Man darf nicht schlecht von seinen Mitmenschen denken,
besonders von einem, den man nicht kennt.»
Das Kind läßt den Kopf hängen und
schweigt.
«Antwortest du mir nicht?»
«Du willst nicht, daß ich lüge...
ich habe dir versprochen, es nicht zu tun, und habe mein Versprechen gehalten.
Aber wenn ich dir jetzt sage: "Ja, ich glaube es, daß er gut ist", dann sage
ich die Unwahrheit, weil ich denke, daß er böse ist. Ich kann meinen Mund
halten, um dir zu gefallen, aber ich kann meinen Kopf nicht dazu zwingen,
nicht zu denken.»
Die Antwort ist so direkt und
logisch in ihrer noch kindlichen Einfalt, daß alle, die sie hören, lachen
müssen. Alle außer Jesus, der seufzend sagt: «Nun gut, dann mußt du etwas tun,
nämlich beten, damit er gut wird, wenn er dir wirklich böse zu sein scheint.
Du mußt sein Engel sein. Wirst du das tun? Wenn er sich dann bessert, werde
ich mich sehr darüber freuen. Wenn du also für ihn betest, betest du darum,
daß ich glücklich werde.»
«Ich werde es tun. Aber wenn er
böse ist und nicht gut wird bei dir, dann wird mein Gebet ihm nichts nützen.»
Jesus beendet das Gespräch damit,
daß er stehenbleibt und sich niederbeugt, um die Kinder zu küssen. Dann
befiehlt er allen zurückzukehren...
24
Als schließlich Jesus und die
beiden Vettern allein sind, sagt Judas des Alphäus nach einem kurzen
Schweigen, als hätte er vorher mit sich selbst gesprochen... «Er hat recht! In
allem hat er recht. Und ich denke genau wie er.»
«Von wem sprichst du denn?» fragt
ihn sein Bruder Jakobus, der in Gedanken versunken ein wenig vorausgegangen
ist auf dem schmalen Pfad, auf dem man nur hintereinander gehen kann.
«Von Benjamin spreche ich, und
von dem, was er gesagt hat. Und... Du willst es nicht hören. Aber auch ich
sage dir, daß Judas... kein wahrer Apostel ist... Er ist nicht aufrichtig. Er
liebt dich nicht...»
«Judas! Judas! Warum willst du
mir wehtun?»
«Mein Bruder, weil ich dich liebe
und mich vor Iskariot fürchte, mehr als vor einer Schlange...»
«Du bist ungerecht. Ohne ihn wäre
ich vielleicht schon gefangengenommen worden.»
«Jesus hat recht. Judas hat viel
getan. Er hat sich Haß und Hohn zugezogen, ohne auf sich selbst zu achten, und
hat für Jesus gearbeitet, und er arbeitet immer noch für ihn», sagt Jakobus.
«Ich kann nicht glauben, daß du
töricht oder ein Lügner bist, und ich frage mich, warum du Judas in Schutz
nimmst. Ich spreche nicht so aus Eifersucht oder Haß. Ich rede, weil ich
innerlich fühle, daß er schlecht ist, daß er unaufrichtig ist... Alles, was
ich aus Liebe zu dir glauben kann, ist, daß er verrückt ist; ein armer Irrer,
der heute diesen Unsinn und morgen einen anderen macht. Aber gut ist er nicht,
das nicht. Mißtraue ihm, Jesus! Mißtraue ihm... Niemand von uns ist ganz gut.
Aber schaue uns in die Augen. Sie sind klar. Beobachte uns gut. Unser Benehmen
ist immer gleich. Aber sagt dir die Tatsache nichts, daß ihm die Spötteleien
über die Pharisäer gar nicht so übelgenommen werden? Daß die vom Tempel nicht
auf seine Worte reagieren? Daß er immer Freunde unter denen hat, die er
scheinbar beleidigt? Daß er immer Geld hat? Nicht nur wir zwei, sondern auch
Nathanael, der reich ist, und Thomas, dem die Mittel nicht fehlen, haben nur
das Notwendige. Er... Oh! ...»
Jesus schweigt...
Jakobus bemerkt: «Teilweise hat
mein Bruder recht. Sicher ist, daß Judas immer Mittel und Wege findet, allein
zu sein ... allein zu gehen. Aber ich will weder kritisieren noch urteilen. Du
weißt ...»
«Ja, ich weiß und deswegen sage
ich, daß ich keine Urteile will. Wenn ihr einst meine Stellvertreter in der
Welt seid, werdet ihr Menschen begegnen, die noch viel eigenartiger sind als
Judas. Was für Apostel wäret ihr, wenn ihr sie abweisen wolltet, weil sie
seltsam sind? Gerade weil sie so sind, müßt ihr sie mit geduldiger Liebe
lieben, um aus ihnen Lämmer des Herrn zu machen. Laßt uns nun zu Joseph und
Simon gehen. Ihr habt es gehört, nicht wahr? Sie arbeiten im geheimen für
mich. Ihr werdet sagen:
25
Liebe zur Familie. Ja, das ist
wahr; aber es ist immerhin Liebe. Ihr seid das letzte Mal nicht als Freunde
auseinandergegangen. Schließt jetzt Frieden. Sie und ihr habt recht und
unrecht zugleich. Jeder erkenne sein eigenes Unrecht und betone nicht die
Punkte, in denen er recht hat.»
«Er hat mich sehr beleidigt,
indem er dich sehr schwer beleidigt hat», sagt Jakobus.
«Du gleichst sehr Joseph, meinem
Vater, und dein Bruder Joseph gleicht Alphäus, deinem Vater. Schau, Joseph
wurde oft von seinem älteren Bruder kritisiert, aber er ertrug ihn und verzieh
ihm immer. Denn mein Vater war ein großer Gerechter. Sei auch du so.»
«Aber wenn er mich zurechtweist,
als wäre ich noch ein kleines Kind? Du weißt, wenn er aufgeregt ist, kann man
nicht mehr mit ihm reden...»
«Und du, schweige! Das ist das
einzige Heilmittel, um den Zorn zu besänftigen. Schweige in Demut und Geduld,
und wenn du merkst, daß du nicht mehr schweigen kannst und grob werden
würdest, dann geh fort. Man muß zu schweigen und fortzugehen wissen! Nicht aus
Feigheit, nicht aus Mangel an Worten, sondern aus Tugend, Klugheit, Liebe und
Demut. Bei Streitigkeiten ist es so schwierig, gerecht zu bleiben und den
Seelenfrieden zu bewahren. Immer dringt etwas ein, verändert unser Inneres,
trübt es und stört die Ruhe. Und das Bild Gottes, das sich in jedem guten
Geiste widerspiegelt, wird verdunkelt, entschwindet, und man kann sein Wort
nicht mehr hören. Friede! Friede unter den Brüdern. Friede auch im Umgang mit
den Feinden. Wenn sie unsere Feinde sind, sind sie Freunde des Teufels. Aber
sollen auch wir Freunde Satans werden, indem wir den hassen, der uns haßt? Wie
können wir sie zur Liebe führen, wenn wir selbst außerhalb der Liebe stehen?
Ihr sagt mir: "Jesus, du hast es schon oft gesagt und handelst danach; aber
man haßt dich dennoch!" Ich werde es immer sagen. Wenn ich nicht mehr unter
euch bin, werde ich euch diese Worte vom Himmel aus eingeben. Ebenso sage ich
euch, zählt nicht die Niederlagen, sondern die Siege. Preisen wir den Herrn
für sie! Es geht kein Monat vorüber, ohne daß einige Erfolge zu verzeichnen
sind... Das muß sich der Diener Gottes vor Augen halten und darüber im Herrn
jubeln, ohne in Zorn zu geraten wie die Weltleute, wenn ihnen einer ihrer
armseligen Siege verloren geht. Wenn ihr so handelt ...»
«Der Friede sei mit dir, Meister.
Kennst du mich nicht?» sagt ein Jüngling, der von der Stadt kommt und nach
Gethsemane hinaufgeht.
«Du? ... Du bist der Levit, der
im vergangenen Jahr bei uns war, zusammen mit dem Priester.»
«Der bin ich. Wie hast du mich
wiedererkannt, da du so viele Menschen um dich herum siehst?»
«Ich vergesse die Gesichter und
die Seelen in ihrer Eigenart nicht.»
«Welche Eigenart hat denn mein
Geist?»
«Er ist gut... und unbefriedigt.
Unbefriedigt bist du von deiner
26
Umgebung. Dein Geist strebt nach
Höherem, da du fühlst, daß es so etwas gibt. Du fühlst, daß die Stunde der
Entscheidung für ein ewiges Gut gekommen ist, und daß es jenseits der
Finsternis eine Sonne gibt, das Licht. Du willst das Licht.»
Der Jüngling wirft sich auf die
Knie: «Meister, du hast es gesagt. Es ist wahr. Ich fühle dies in meinem
Herzen. Und ich vermochte nicht, mich zu entscheiden. Der alte Priester
Jonathan hat geglaubt, dann ist er gestorben. Er war alt. Ich bin jung. Aber
ich habe dich im Tempel reden gehört... Weise mich nicht ab, Herr, denn nicht
alle dort hassen dich, und ich bin einer von denen, die dich lieben... Sage
mir, was ich tun muß, da ich ein Levit bin ...»
«Tue deine Pflicht bis zur neuen
Zeit. Bedenke, daß du nicht einer irdischen Herrlichkeit entgegengehst, wenn
du mir folgst, sondern dem Schmerz. Wenn du ausharrst, wirst du Herrlichkeit
im Himmel erlangen. Nimm meine Lehre an und bestärke dich in ihr...»
«Wie?»
«Der Himmel selbst wird dich
durch seine Zeichen bestärken. Bestärke dich mit Hilfe meiner Jünger. Erkenne
und übe immer mehr alles, was ich gelehrt habe. Tue dies, und du wirst das
ewige Leben haben.»
«Ich werde es tun, Herr. Aber...
darf ich noch dem Tempel dienen?»
«Ich habe es dir gesagt: Bis zur
neuen Zeit.»
«Segne mich, Meister. Das wird
für mich die neue Weihe sein.»
Jesus segnet und küßt ihn. Dann
trennen sie sich.
«Seht ihr? So ist das Leben der
Arbeiter des Herrn. Vor einem Jahr ist der Same in sein Herz gefallen. Es
schien kein Sieg zu sein, denn er kam nicht sofort zu uns. Ein Jahr später,
seht, da kommt er, um die Worte zu bestätigen, die ich kurz zuvor gesagt habe.
Ein Sieg. Ist es nicht dies, was den Tag schön für uns macht?»
«Du hast immer recht, mein
Jesus... Aber gib acht auf Judas! Ich bin töricht, daß ich etwas sage, ich
weiß es. Aber... weißt du, mein Herz wird von dem Gedanken gequält... Ich sage
es den anderen nicht, aber es ist so... Und ich bin sicher, daß auch die
anderen dieselbe Qual haben.»
Jesus erwidert nichts. Er sagt:
«Ich bin froh, daß Joseph und Nikodemus mir dieses Geld gegeben haben. So kann
ich meinen Armen in Galiläa etwas helfen ...»
Sie sind am Tor angelangt, gehen
hindurch und entschwinden in der Menge.
27
543. AM LETZTEN GROSSEN TAG DES
LAUBHÜTTENFESTES
Der Tempel ist nun zum Bersten
voll von Menschen. Doch fehlen Frauen und Kinder. Das anhaltend stürmische
Wetter mit den vorzeitigen, zwar kurzen, aber heftigen Regenfällen, muß die
Frauen mit ihren Kindern zur Abreise bewogen haben. Aber die Männer aus allen
Gegenden Palästinas und die Proselyten der Diaspora drängen sich im wahrsten
Sinne des Wortes im Tempel, um noch ihre letzten Gebete zu verrichten, die
letzten Opfer darzubringen und die letzten Predigten der Schriftgelehrten
anzuhören.
Die galiläischen Anhänger Jesu
sind schon alle da, die wichtigsten von ihnen in der vordersten Reihe. In
ihrer Mitte und sich ihrer Eigenschaft als Verwandte wohl bewußt, stehen
Joseph des Alphäus und sein Bruder Simon. Eine andere geschlossene und
wartende Gruppe ist die der zweiundsiebzig Jünger. Ich meine die Jünger, die
Jesus auserwählt hat, die Frohe Botschaft zu verkünden; Zahl und Gesichter
haben sich geändert, da einige der älteren nicht mehr dabei sind seit ihrem
Abfall nach der Predigt über das Brot des Himmels, während andere neue, wie
Nikolaus von Antiochia, dazugekommen sind. Eine dritte Gruppe, ebenfalls sehr
geschlossen und zahlreich, ist die der Judäer, unter denen ich die
Synagogenvorsteher von Emmaus, Hebron und Kerioth sehe. Aus Jutta ist der Mann
der Sara und aus Bethsur sind die Verwandten der Elisa zugegen.
Sie stehen alle beim Schönen Tor,
und ihre Absicht ist klar: Sie wollen sich um den Meister scharen, sobald er
erscheint. Tatsächlich kann Jesus keinen Schritt innerhalb der Mauern tun,
ohne daß diese drei Gruppen ihn umgeben, als wollten sie ihn von den
Böswilligen oder auch den nur Neugierigen absondern.
Jesus begibt sich in den Vorhof
der Israeliten zum Gebet, und die anderen folgen ihm geschlossen, soweit dies
das Gedränge des Volkes gestattet, taub gegenüber den Protesten derer, die
beiseite geschoben werden und den vielen Leuten Platz machen müssen, die Jesus
umgeben. Er selbst geht zwischen seinen Vettern. Weder der Blick noch das
Verhalten des Joseph des Alphäus sind sanft und demütig wie bei Jesus.
Vielmehr mustert er mit vielsagender Miene einige der Pharisäer...
Sie beten und kehren dann in den
Vorhof der Heiden zurück. Jesus setzt sich demütig auf den Boden mit dem
Rücken zur Mauer der Säulenhalle, vor sich einen immer dichter werdenden
Halbkreis aus vielen Reihen von Leuten; sie setzen sich hinter den Reihen, die
Jesus am nächsten sind, oder lehnen sich im Stehen irgendwo an. Alle Blicke
sind auf ein einziges Antlitz gerichtet. Die Neugierigen, die Unwissenden, die
von weither kommen, und die Übelgesinnten befinden sich hinter dieser Schranke
von Getreuen und versuchen, etwas zu sehen, indem sie die Hälse recken und
sich auf die Fußspitzen stellen.
28
Jesus hört inzwischen diesen und
jenen an, der ihn um Rat fragt oder ihm etwas berichtet. So reden die
Verwandten der Elisa von ihr und fragen, ob sie wohl kommen und dem Meister
dienen darf. Er aber antwortet: «Ich bleibe nicht hier. Später kann sie
kommen.» Auch der Verwandte der Maria des Simon, der Mutter des Judas von
Kerioth, spricht und sagt, daß er zurückbleiben würde, um die Besitzungen zu
verwalten, während Maria fast immer bei der Mutter der Johanna sei. Judas
reißt erstaunt die Augen auf, sagt aber nichts. Der Gemahl der Sara erzählt,
daß ihm bald noch ein Sohn geboren wird, und fragt, wie er ihn nennen soll.
Jesus antwortet: «Johannes, wenn er männlichen Geschlechtes,
Anna, wenn es ein Mädchen ist.»
Und der alte Synagogenvorsteher von Emmaus flüstert ihm eine Gewissensfrage
zu, die Jesus leise beantwortet.
Und so geht es weiter.
Indessen kommen immer mehr Leute.
Jesus erhebt das Haupt und betrachtet die Menge. Da die Säulenhalle einige
Stufen höher liegt, kann er,
obwohl er auf dem Boden sitzt,
einen guten Teil dieser Seite des Vorhofes überblicken und sieht Gesichter
über Gesichter.
Nun steht er auf und sagt laut
mit seiner volltönenden, starken Stimme: «Wer Durst hat, der komme zu mir und
trinke! Den Herzen jener, die an mich glauben, werden Ströme lebendigen
Wassers entspringen.»
Seine Stimme erfüllt den weiten
Vorhof und die wunderschönen Säulenhallen. Gewiß erreicht sie auch die Leute
jenseits des Hofes, verbreitet sich noch weiter und übertönt jede andere
Stimme wie ein harmonischer Donner voller Versprechungen. Er spricht und
schweigt dann einen Augenblick, als wolle er mit diesen Worten das Thema
seiner Predigt ankündigen und danach den nicht Interessierten Zeit lassen,
sich zu entfernen
und die anderen später nicht mehr
zu stören. Die Schriftgelehrten und Gesetzeslehrer schweigen, d.h. sie dämpfen
ihre Stimmen zu einem sicher nicht wohlwollenden Getuschel. Gamaliel sehe ich
nicht.
Jesus tritt vor, durch den
Halbkreis, der sich bei seinem Kommen öffnet und sich dann hinter ihm wieder
schließt und so einen vollen Kreis bildet. Langsam und majestätisch schreitet
er dahin und scheint fast zu schweben über dem bunten Marmor des Fußbodens.
Sein langer Mantel bildet eine Art Schleppe hinter ihm. Er begibt sich an eine
Ecke der Säulenhalle, auf die in den Vorhof hinausragenden Stufe, und bleibt
dort stehen. So überblickt er zwei Seiten der ersten Umfassungsmauer.
Schließlich erhebt er seinen rechten Arm, wie immer, wenn er zu sprechen
beginnt, während er mit der Linken den Mantel auf der Brust zusammenhält.
Er wiederholt die anfangs
gesprochenen Worte: «Wer Durst hat, der komme zu mir und trinke! Den Herzen
jener, die an mich glauben, werden Ströme lebendigen Wassers entspringen! Der
die Theophanie des Herrn schaute, der große Ezechiel, der Priester
29
und Prophet, sah zunächst
prophetisch die unreinen Handlungen im entweihten Haus des Herrn. Er sah auch
prophetisch, daß nur die mit dem Tau Gekennzeichneten im wahren Jerusalem
leben würden, während die anderen eine Katastrophe nach der anderen, eine
Verurteilung nach der anderen, eine Strafe nach der anderen erleben müßten...
Und die Zeit ist nahe, o ihr, die ihr mir zuhört, sie ist nahe, viel näher als
ihr denkt. Daher ermahne ich euch als Meister und Erlöser, nicht länger zu
zögern, euch mit dem rettenden Zeichen zu versehen, nicht länger zu zögern, in
euch das Licht und die Weisheit aufleuchten zu lassen, Buße zu tun und über
euch selbst und die anderen zu weinen, um gerettet zu werden. Nachdem Ezechiel
all dies und anderes mehr gesehen hat, spricht er von einer erschreckenden
Vision, jener der verdorrten Gebeine.
Der Tag wird kommen, da über
einer toten Welt, unter einem erloschenen Firmament, auf die Trompetenstöße
der Engel hin Totengebeine über Totengebeine erscheinen werden. Wie ein Leib,
der sich öffnet, um zu gebären, so wird die Erde aus ihren Eingeweiden alle
Gebeine der Menschen ausspeien, die gestorben sind und in ihr begraben liegen,
von Adam bis zum letzten Menschen. Das wird die Auferstehung der Toten sein
zum großen, letzten Gericht. Danach wird sich die Welt wie ein Sodomsapfel
entleeren und zu Nichts werden, und das Firmament mit seinen Sternen wird
erlöschen. Alles wird ein Ende haben, außer zwei ewigen Dingen, die unendlich
fern voneinander liegen, gleich zwei unendlich tiefen Abgründen, und die einen
vollkommenen Gegensatz zueinander bilden in ihrem Wesen, in ihrer
Beschaffenheit und in der Art und Weise, in der sich für alle Ewigkeit die
Macht Gottes äußern wird: Das Paradies – Licht, Freude, Friede und Liebe; die
Hölle – Finsternis, Schmerz, Schrecken und Haß.
Aber glaubt ihr, weil die Welt
noch nicht vergangen ist und die Trompeten der Engel noch nicht zusammenrufen,
sei die verwüstete Erde nicht bedeckt mit leblosen, gänzlich verdorrten,
reglosen, verstreuten und toten, toten, toten Gebeinen? Wahrlich, ich sage
euch, es ist so. Unter denen, die noch zu den Lebenden zählen, weil sie atmen,
sind Unzählige, die Leichnamen gleichen, verdorrten Gebeinen, wie Ezechiel sie
geschaut hat. Von wem spreche ich? Von denen, die das Leben des Geistes nicht
in sich haben.
Solche gibt es in Israel ebenso
wie auf der ganzen Welt. Daß es unter den Heiden und Götzendienern, die darauf
warten, vom wahren Leben zum Leben geführt zu werden, nur Tote gibt, ist
natürlich und schmerzt nur die, die die wahre Weisheit besitzen; denn diese
läßt sie begreifen, daß der Ewige die Geschöpfe für sich und nicht für den
Götzendienst geschaffen hat und betrübt ist, so viele Tote sehen zu müssen.
Aber wenn der Allerhöchste schon diesen Schmerz hat, und er ist groß, wie sehr
muß er dann deretwegen leiden, die seinem Volke angehören und doch bleiches
Gebein ohne Leben und ohne Geist sind?
30
Die Auserwählten, die
Bevorzugten, die Beschützten, die Genährten, die von ihm selbst oder von
seinen Propheten Unterwiesenen, warum sind sie aus eigener Schuld verdorrtes
Gebein geworden, da doch gerade für sie immer das Wasser des Lebens vom Himmel
floß und sie mit Leben und Wahrheit tränkte? Warum sind sie vertrocknet,
obwohl eingepflanzt in das Land des Herrn? Warum ist ihr Geist tot, obwohl der
Ewige ihnen einen so großen Schatz an Weisheit zur Verfügung gestellt hat, auf
daß sie daraus schöpfen und leben? Durch welches Wunder können sie noch zum
Leben gebracht werden, wenn sie den von Gott gegebenen Quellen, Weiden und
Lichtern den Rücken gekehrt haben und in der Finsternis dahintaumeln, an
unreinen Quellen trinken und sich mit unheiligen Speisen nähren?
Werden sie also nie mehr zum
Leben zurückkehren? Doch. Im Namen des Allerhöchsten schwöre ich es. Viele
werden auferstehen. Gott hält das Wunder schon bereit, ja, es ist schon am
Wirken, es ist in einigen schon geschehen und dürre Gebeine sind zu neuem
Leben erstanden; denn der Allerhöchste, dem nichts unmöglich ist, hat sein
Versprechen gehalten und hält es auch weiterhin und vervollständigt es immer
mehr. Von der Höhe des Himmels ruft er diesen das Leben erwartenden Gebeinen
zu: "Seht, ich werde euch den Geist eingießen, und ihr werdet leben." Und er
hat seinen Geist berufen, der er selbst ist, hat ein Fleisch gebildet, um sein
Wort damit zu bekleiden, und hat es zu diesen Toten gesandt, auf daß es zu
ihnen spreche und das Leben wieder in sie einkehre.
Wie oft hat Israel im Laufe der
Jahrhunderte gerufen: "Unsere Gebeine sind verdorrt, unsere Hoffnung ist
erstorben, wir sind verworfen!" Aber jedes Versprechen ist heilig, und jede
Prophezeiung ist wahr. Seht, die Zeit ist gekommen, da der Messias Gottes die
Gräber öffnet, um die Toten herauszuholen, sie zu beleben und mit sich zu
führen ins wahre Israel, ins Reich des Herrn, ins Reich meines und eures
Vaters.
Ich bin die Auferstehung und das
Leben! Ich bin das Licht, das gekommen ist, zu erleuchten, was in der
Finsternis lag! Ich bin die Quelle, aus der ewiges Leben hervorsprudelt.
Wer zu mir kommt, wird den Tod
nicht kennen. Wer dürstet nach Leben, der komme und trinke. Wer das Leben,
d.h. Gott, besitzen will, der glaube an mich, und aus seinem Herzen werden
nicht nur Tropfen, sondern Ströme lebendigen Wassers hervorsprudeln. Denn wer
an mich glaubt, wird mit mir den neuen Tempel bilden, aus dem die Wasser des
Heiles quellen, von denen Ezechiel spricht.
Kommt zu mir, ihr Völker! Kommt
zu mir, ihr Geschöpfe! Kommt und bildet einen einzigen Tempel; denn ich weise
niemanden zurück, sondern ich will euch aus Liebe bei mir haben, bei meiner
Arbeit, in meinen Verdiensten, in meiner Herrlichkeit.
"Und ich sah Wasser unter der
Tempelschwelle hervorströmen nach
31
Osten zu... Das Wasser floß
unterhalb der rechten Seitenwand des Tempels hinab, südlich vom Altar."
Dieser Tempel sind jene, die
glauben an den Gesalbten des Herrn, an den Christus und an das neue Gesetz, an
die Lehre der Zeit des Heils und des Friedens. Wie die Mauern dieses Tempels
aus Steinen bestehen, so werden lebendige Seelen die mystischen Mauern des
Tempels bilden, der in Ewigkeit nicht untergehen und sich, nach dem Kampf und
der Prüfung, wie sein Gründer von der Erde zum Himmel erheben wird.
Dieser Altar, von dem die Wasser
fließen, dieser Altar im Osten bin ich. Mein Wasser aber wird zur Rechten
hervorströmen, denn die Rechte ist der Platz der Auserwählten im Reiche
Gottes. Diese Wasser gehen aus von mir, um sich in meine Auserkorenen zu
ergießen und sie reich an lebendigem Wassern zu machen, auf daß sie diese nach
Norden und Süden, nach Osten und Westen tragen, sie weitergeben, und der Erde
in ihren Völkern, die der Stunde des Lichtes harren, das Leben bringen; der
Stunde, die kommen wird, die mit absoluter Gewißheit kommen wird für jeden
Ort, bevor die Erde aufhört zu sein.
Mögen meine Wasser hervorsprudeln
und sich verbreiten, zusammen mit jenen, die ich selbst meinen Nachfolgern
gegeben habe und noch geben werde. Und obwohl sie zerstreut sein werden, um
die Erde urbar zu machen, werden sie doch vereint sein in einem einzigen Strom
der Gnade, der immer tiefer und immer breiter werden wird; der von Tag zu Tag
stetig anwachsen wird durch die Wasser der neuen Gefolgschaft, bis er einem
Meer gleichen wird, das alle Orte bespült, um die ganze Erde zu heiligen.
Gott will dies, Gott tut dies.
Eine Sintflut hat die Erde überschwemmt und den Sündern den Tod gebracht. Eine
neue Flut anderer Art, die kein Regen ist, wird die Welt reinwaschen und ihr
das Leben geben.
Und durch einen geheimnisvollen
Eingriff der Gnade können die Menschen Teil dieser heiligenden Flut werden,
wenn sie ihren Willen mit dem meinen und ihre Mühen und ihre Leiden mit den
meinen vereinigen. Und die Weit wird die Wahrheit erkennen und das Leben
haben. Und wer daran teilhaben will, wird es können. Nur wer nicht von den
Wassern des Lebens trinken will, wird ein sumpfiger, stinkender Morast werden
oder bleiben und die reichen Ernten der Früchte der Gnade, der Weisheit und
des Heils nicht kennenlernen, die denen vorbehalten sind, die in mir leben.
Wahrlich, ich sage euch noch
einmal: Wer Durst hat und zu mir kommt, wird trinken und keinen Durst mehr
verspüren; denn meine Gnade wird in ihm Quellen und Ströme lebendigen Wassers
hervorquellen lassen. Wer aber nicht an mich glaubt, wird verderben wie
salziger Boden, auf dem kein Leben gedeihen kann.
Wahrlich, ich sage euch, nach mir
wird der Quell nicht versiegen; denn ich werde nicht sterben sondern leben,
und nachdem ich fortgegangen
32
bin, nicht gestorben, sondern
fortgegangen, um die Pforten des Himmels zu öffnen, wird ein anderer kommen,
der mir gleich sein und mein Werk vollenden wird. Er wird euch verständlich
machen, was ich euch gesagt habe, und euch entflammen, damit ihr zu "Lichtern"
werdet, vorausgesetzt, daß ihr das Licht aufgenommen habt.»
Jesus schweigt.
Die Menge, die bisher geschwiegen
hat unter der majestätischen Gewalt der Worte, flüstert nun und macht allerlei
Bemerkungen.
Der eine sagt: «Welche Worte! Er
ist ein wahrer Prophet!»
Der andere: «Er ist der Christus,
ich sage es euch. Nicht einmal Johannes sprach so, und kein Prophet ist so
groß wie er.»
«Und er legt uns die Propheten
aus, selbst Ezechiel, dessen Symbolik so schwer zu verstehen ist.»
«Habt ihr gehört? Die Wasser! Der
Altar! Das ist klar!»
«Und die verdorrten Knochen?!
Hast du gesehen, wie die Schriftgelehrten, die Pharisäer und die Priester
verwirrt waren? Sie haben die Lektion verstanden!»
«Ja, und sie haben die Wachen
geschickt. Aber die! ... Sie haben vergessen, ihn gefangenzunehmen und sind
wie kleine Kinder, die Engel sehen, stehengeblieben. Schaut sie an da drüben.
Sie scheinen wie betäubt zu sein.»
«Schau! Schau! Ein hoher Beamter
ruft sie zurück und tadelt sie. Gehen wir zuzuhören!»
Inzwischen heilt Jesus Kranke,
die zu ihm gebracht werden, und kümmert sich um nichts anderes, bis eine
Gruppe von Priestern und Pharisäern sich durch das Volk drängt, angeführt von
einem dreißig- bis fünfunddreißigjährigen Mann, dem alle mit Furcht, fast
schon Schrecken, aus dem Weg gehen, und zu Jesus hintritt.
«Bist du immer noch hier? Geh! Im
Namen des Hohenpriesters!»
Jesus erhebt sich – er hat sich
gerade über einen Gelähmten gebeugt -und schaut sie ruhig und sanft an. Dann
beugt er sich wieder nieder, um dem Kranken die Hände aufzulegen.
«Fort von hier! Hast du
verstanden, du Verführer des Volkes? Sonst lassen wir dich gefangennehmen.»
«Geh hin und preise den Herrn
durch ein heiliges Leben», sagt Jesus dem Kranken, der sich geheilt erhebt.
Dies ist seine einzige Antwort, während die, die ihm drohen, Gift schäumen und
die Volksmenge mit ihren Hosannarufen sie mahnt, Jesus nichts zuleide zu tun.
Doch wenn Jesus auch sanft ist,
so ist es doch Joseph des Alphäus nicht. Er richtet sich kerzengerade auf,
wirft seinen Kopf zurück, um größer zu erscheinen, und ruft aus: «Eleazar, der
du mit deinesgleichen das Szepter des auserwählten Sohnes Gottes und Davids
fällen willst, wisse, daß du damit jeglichen Baum fällst, den deinen, auf den
du so stolz bist,
33
als allerersten; denn die
Ungerechtigkeit läßt über deinem Haupt das Schwert des Herrn schweben!» Er
würde noch so manches andere sagen, doch Jesus legt ihm die Hand auf die
Schulter mit den Worten: «Friede! Friede, mein Bruder!» Und Joseph, rot vor
Zorn, hüllt sich in Schweigen.
Sie gehen auf den Ausgang zu.
Außerhalb der Mauern wird Jesus berichtet, die Häupter der Priester und
Pharisäer hatten die Wachen getadelt, weil sie Jesus nicht gefangengenommen
hatten, und diese hätten sich entschuldigt mit den Worten, niemand habe je so
gesprochen wie Jesus. Eine Antwort, die die obersten der Priester und
Pharisäer, unter ihnen viele Synedristen, ganz rasend gemacht hatte. Um nun
den Wachen zu beweisen, daß nur Toren sich durch einen Verrückten verführen
lassen können, wollten sie selber kommen und ihn als einen Gotteslästerer
gefangennehmen. Auch, um dem Volk zu zeigen, welches die Wahrheit ist. Aber
Nikodemus, der zugegen war, hatte sich dem widersetzt mit den Worten: «Ihr
könnt nicht gegen ihn vorgehen. Unser Gesetz verbietet es, einen Menschen zu
verurteilen, bevor man ihn angehört und gesehen hat, was er tut. Wir haben ihn
immer nur Dinge tun sehen und sagen gehört, die keineswegs verwerflich
sind...» Da hatte sich der Zorn der Feinde Jesu auf Nikodemus gerichtet, und
sie hatten ihn mit Drohungen, Vorwürfen und Spott überhäuft, als ob er ein Tor
und ein Sünder wäre. Eleazar Ben Annas war schließlich selbst mit den
Zornigsten aufgebrochen, um Jesus zu vertreiben. Mehr wagten sie aus Furcht
vor dem Volk nicht.
Joseph des Alphäus ist furchtbar
wütend. Jesus schaut ihn an und sagt: «Siehst du, mein Bruder?» Mehr sagt er
nicht... doch es liegt so viel in diesen Worten: die Mahnung, daß er recht
hat, wenn er spricht oder schweigt; die Erinnerung an seine Worte; der Hinweis
auf das, was Judäa in Gestalt seiner höchsten Kasten ist, was der Tempel ist,
usw...
Joseph senkt das Haupt und sagt:
«Du hast recht ...» Er schweigt nachdenklich. Dann wirft er plötzlich die Arme
um den Hals Jesu, weint an seiner Brust und sagt: «Mein armer Bruder! Arme
Maria! Arme Mutter!» Ich glaube, daß Joseph in diesem Augenblick klar das
Schicksal Jesu erahnt...
«Weine nicht! Tue auch du, wie
ich, den Willen unseres Vaters!» tröstet ihn Jesus und küßt ihn.
Als Joseph sich etwas beruhigt
hat, machen sie sich auf den Weg zum Haus, in dem er zu Gast ist. Dort
verabschieden sie sich mit einem Kuß, und Joseph sagt zutiefst gerührt diese
letzten Worte: «Geh in Frieden, Jesus! Alles was ich dir bei Nazareth gesagt
habe, wiederhole ich dir, und zwar noch eindringlicher. Geh in Frieden.
Kümmere dich nur um dein Werk. An alles übrige werde ich denken. Geh, und Gott
möge dir beistehen.» Nochmals küßt er ihn mit väterlicher Miene und legt ihm
wie zum Segen als Familienoberhaupt die Hand auf das Haupt. Dann verabschiedet
sich Joseph von den Brüdern. Er wechselt auch mit Simon
34
einen Abschiedsgruß. Aber ich
bemerke, daß Jakobus, ich weiß nicht warum, ihm gegenüber eher zurückhaltend
ist, und umgekehrt ebenso. Simon gegenüber zeigt Joseph mehr Herzlichkeit.
Zum Schluß sagt Joseph noch zu
Jakobus: «Soll ich also sagen, daß ich dich verloren habe?»
«Nein, Bruder. Du sollst sagen,
daß du weißt, wo ich bin, und daß es daher an dir ist, mich zu finden. Ohne
Groll. Bete vielmehr für dich, denn in den Dingen des Geistes soll man nicht
gleichzeitig zwei Pfade einschlagen. Du weißt, was ich damit sagen will ...»
«Du siehst doch, daß ich ihn
verteidige...»
«Du verteidigst den Menschen und
den Verwandten. Das genügt nicht, um die Ströme der Gnade zu empfangen, von
denen er gesprochen hat. Verteidige den Sohn Gottes, ohne Furcht vor der Welt
und ohne an eigene Interessen zu denken, und du wirst vollkommen sein. Leb
wohl. Ich empfehle dir unsere Mutter und Maria des Joseph ...»
Ich weiß nicht, ob Jesus sie
gehört hat, denn er ist dabei, sich von den anderen Nazarenern und Galiläern
zu verabschieden. Als er damit fertig ist, gebietet er: «Gehen wir auf den
Ölberg. Von dort aus gehen wir dann irgendwohin weiter...»
544. IN BETHANIEN; «MAN KANN AUF
VIELE ARTEN TÖTEN»
Ein Haus in Bethanien, das immer
trauriger wird, jedoch stets gastfreundlich ist... Die Gegenwart von Freunden
und Jüngern nimmt dem Haus nichts von seiner Traurigkeit. Da sind Joseph,
Nikodemus, Manaen, Elisa und Anastasica, die, so glaube ich, es nicht länger
ausgehalten haben, fern von Jesus zu sein und sich entschuldigen, als wären
sie ungehorsam gewesen, die aber auch fest entschlossen sind, nicht
fortzugehen. Elisa erklärt die triftigen Gründe dafür, nämlich: die
Unmöglichkeit für die Schwestern des Lazarus, dem Meister zu folgen, um ihm
und den Aposteln die mütterliche Sorge zukommen zu lassen, die eine Gruppe von
alleinstehenden Männern nötig hat, zumal sie auch noch verfolgt wird.
«Nur wir können dafür sorgen;
denn Martha und Maria können ihren Bruder nicht im Stich lassen; Johanna ist
nicht da; Annalia ist zu jung, um mit uns zu kommen; und Nike bleibt besser,
wo sie ist, um euch aufnehmen zu können. Meine weißen Haare schützen uns vor
Gerede. Ich werde dir vorausgehen oder dich dort erwarten, wo du mich
hinschickst. So wirst du immer eine Mutter in der Nähe haben, und ich werde
das Gefühl haben, immer noch einen Sohn zu besitzen. Ich werde tun, was du
willst, aber laß mich dir dienen.»
Jesus willigt ein, da er sieht,
daß alle ihr beistimmen. Vielleicht möchte
35
er auch, bei den großen
Bitterkeiten, mit denen sein Herz sich abfinden muß, ein mütterliches Herz in
der Nähe haben, in dem er einen Widerschein der Liebe seiner Mutter findet...
Elisa jubelt vor Freude.
Jesus sagt: «Ich werde oft in Nob
sein. Du wirst ins Haus des alten Johannes gehen, das er mir für meine
Aufenthalte angeboten hat, und immer, wenn wir zurückkommen, werde ich dich
dort finden...»
«Willst du denn trotz des Regens
aufbrechen?» fragt Joseph von Arimathäa.
«Ja. Ich will noch nach Peräa
gehen und im Haus des Salomon verweilen; dann werde ich mich nach Jericho und
Samaria begeben. Oh, ich möchte noch so viele Orte aufsuchen... !»
«Meister, entferne dich nicht zu
weit von den bewachten Straßen und von den Städten, denen ein Centurio
vorsteht. Die Römer sind unsicher, und auch die anderen sind es. Zweierlei
Befürchtungen, zweierlei Überwachung. Sie überwachen dich, überwachen sich
aber auch gegenseitig. Doch glaube mir, für dich sind die Römer weniger
gefährlich ...»
«Sie haben uns aufgegeben... !»
platzt Judas von Kerioth heraus.
«Glaubst du? Nein. Kannst du
vielleicht unterscheiden, wer von den Heiden, die dem Meister zuhören, von
Claudia oder von Pontius geschickt worden ist? Unter den Freigelassenen der
ersteren und ihren Freundinnen sind nicht wenige, die im Beth Hamidrasch reden
könnten, wenn sie Israeliten wären. Vergiß nicht, daß es überall Gelehrte
gibt, daß Rom die Welt beherrscht und daß die Patrizier gern die beste Beute
für sich nehmen zum Schmuck ihrer Häuser. Wenn die Gymnasiarchen und die
Veranstalter der Spiele im Zirkus sich alle die aussuchen, die ihnen Gewinn
und Ruhm einbringen können, so suchen sich die Patrizier jene aus, die durch
Bildung oder Schönheit ihnen selbst und ihren Häusern zur Zierde und Ehre
gereichen... Meister, diese Unterhaltung weckt eine Erinnerung in mir...
Erlaubst du mir, dir eine Frage zu stellen?»
«Sprich.»
«Diese Frau, die Griechin, die im
vergangenen Jahr hier war... und der Anlaß einer Anklage gegen dich, wo ist
sie jetzt? Viele haben das zu erfahren versucht... und nicht zu einem guten
Zweck. Aber ich habe keine schlechten Absichten... Nur... daß sie in ihren
Irrtum zurückgefallen ist, scheint mir unmöglich zu sein. Sie besaß eine große
Intelligenz und eine aufrichtige Rechtschaffenheit. Aber sie ist nicht mehr zu
sehen ...»
«An einem Ort der Erde hat sie,
die Heidin, einem verfolgten Israeliten die Nächstenliebe zu schenken
verstanden, die ihm von den Israeliten verweigert wurde.»
«Meinst du Johannes von Endor?
Ist er bei ihr?»
«Er ist gestorben.»
«Gestorben?»
36
«Ja, und man hätte ihn an meiner
Seite sterben lassen können... man hätte nicht mehr lange warten müssen...
Die, und es sind viele, die darauf hingewirkt haben, ihn von mir zu entfernen,
haben einen Mord begangen, wie wenn sie den Dolch gegen ihn erhoben hätten.
Sie haben ihm das Herz gebrochen, und obwohl sie wissen, daß er daran
gestorben ist, fühlen sie sich nicht als Mörder, und keine Gewissensbisse
quälen sie. Man kann auf verschiedene Art einen Bruder töten, mit einer Waffe,
mit der Zunge oder auch durch eine böse Tat. Zum Beispiel, indem man den
Verfolgern den Aufenthaltsort des Verfolgten verrät ... oder einem
Unglücklichen eine Zufluchtsstätte des Trostes verwehrt ... Oh, auf
wievielerlei Arten tötet man... Aber der Mensch empfindet keine
Gewissensbisse. Der Mensch, und das ist das Zeichen seiner geistigen Dekadenz,
hat sein Gewissen getötet.»
Jesus ist so streng bei diesen
Worten, daß niemand den Mut zu reden findet. Sie schauen sich gegenseitig an,
lassen den Kopf hängen und sind verwirrt, auch die unschuldigsten und die
besten unter ihnen.
Nach einem kurzen Schweigen sagt
Jesus: «Niemand braucht meinen Feinden und denen des Verstorbenen berichten,
was ich jetzt gesagt habe, damit sie noch in teuflischer Freude jubeln.
Sollten sie euch jedoch nach ihm fragen, so sagt nur, daß Johannes im Frieden
ist, daß sein Leib in einem fernen Grab ruht und sein Geist mich erwartet.»
«Herr, hat dir das viel Schmerz
bereitet?» fragt Nikodemus.
«Was? Sein Tod?»
«Ja.»
«Nein, sein Tod hat mir Frieden
gegeben, weil es sein Frieden gewesen ist. Schmerz, großen Schmerz, haben mir
jene verursacht, die aus niedrigen Gefühlen dem Synedrium seine Anwesenheit
unter den Jüngern verraten und so seine Abreise bewirkt haben. Aber jeder hat
sein System, und nur ein starker guter Wille kann Instinkten und Systemen
gebieten. Doch ich sage euch: "Wer verraten hat, wird weiterhin verraten. Wer
einen Tod verursacht hat, wird weiterhin Tod verursachen." Doch wehe ihm! Er
glaubt zu siegen und verliert. Und das Gericht Gottes erwartet ihn.»
«Warum schaust du mich so an,
Meister?» fragt Johannes des Zebedäus, verwirrt und errötend, als wäre er der
Schuldige.
«Wenn ich dich anschaue, wird
niemand denken, nicht einmal der Schlechteste, daß du einen deiner Brüder
gehaßt haben könntest.»
«Es wird ein Pharisäer oder
irgendein Römer gewesen sein... Er hat ihnen ja Eier geliefert», sagt Judas
Iskariot.
«Ein Dämon ist es gewesen. Aber
er hat ihm Gutes erwiesen, obwohl er ihm schaden wollte. Er hat seine
vollständige Reinigung und die Ankunft seines Friedens beschleunigt.»
«Wie hast du das erfahren? Wer
hat dir die Nachricht überbracht?» fragt Joseph.
37
«Hat es der Meister vielleicht
nötig, daß ihm jemand Nachrichten bringt? Sieht er nicht die Handlungen der
Menschen? Ist er nicht hingegangen und hat Johanna gerufen, damit sie zu ihm
komme und geheilt werde? Was ist bei Gott unmöglich?» fragt Maria Magdalena
mit Heftigkeit.
«Es ist wahr, Frau. Doch nur
wenige besitzen deinen Glauben... und daher habe ich eine so törichte Frage
gestellt.»
«Gut. Aber jetzt komm, Meister.
Lazarus ist aufgewacht und erwartet dich ...»
Sie führt ihn einfach und
entschieden mit sich fort und verhindert so jedes weitere Gespräch und jede
weitere Frage.
545. AM BRUNNEN VON EN ROGEL
Jesus kehrt auf dem unteren Weg
nach Bethanien zurück (ich meine damit den längeren Weg, nicht den über den
Ölberg, sondern den, der über den Vorort Tophet in die Stadt führt).
Zuerst hält er sich kurz auf, um
einigen Aussätzigen zu helfen, die nichts anderes zu erbitten wissen als Brot,
und geht dann direkt auf ein viereckiges Wasserbecken zu, das fast ganz
bedeckt und nur auf einer Seite offen ist. Einen Brunnen, ein großer,
bedeckter Brunnen, der größte, den ich je gesehen habe. Er ist noch größer als
der der Samariterin und muß auch reicher an Wasser sein, denn der Boden
ringsum läßt dies erkennen und ist sehr fruchtbar im Gegensatz zum trockenen
Hinnomtal, das man im Nordwesten teilweise sieht und das mit Grabmälern
übersät ist. Nur eine Konstruktion aus massiven Steinen wie die des Brunnens
mit ihrer Überdachung hat der Feuchtigkeit des Bodens widerstehen können; und
die dunklen und mächtigen Steine, die selbst ein Unkundiger als sehr alt
erkennen kann, bieten einen guten Schutz für das kostbare Wasser.
Trotz des düsteren Tages und der
Nähe der Gräber der Aussätzigen, die der Umgebung stets einen Stempel der
Traurigkeit aufdrücken, ist der Ort selbst heiter, sei es wegen seiner großen
Fruchtbarkeit, sei es wegen der üppigen Gärten dahinter im Norden, mit ihrer
Vielzahl verschiedenartiger Bäume, die ihre dicht belaubten Wipfel in den
aschgrauen, tief über der Stadt hängenden Himmel erheben, sei es, weil sich
davor im Süden das Kedrontal, das ein gutes Stück der Straße von Bethanien
nach Jericho folgt, sich erweitert und mit seinem nun größeren Wasserreichtum
und der größeren Lichtfülle fröhlicher wirkt.
Ich sehe viel Volk: Frauen mit
Krügen, Eseltreiber mit Wasserschläuchen und Karawanen, die kommen und gehen.
Sie machen beim Brunnen halt und schöpfen Wasser. Der Boden ist in weitem
Umkreis feucht, da
38
beim Abfüllen von den Schläuchen
in andere Gefäße immer Wasser verschüttet wird.
Ruhige, wohlklingende
Frauenstimmen, trillernde Kinderstimmen, ernste, rauhe, starke Männerstimmen,
schreiende Esel und knurrende Kamele, die unter ihren Lasten kauernd warten,
bis die Kameltreiber mit dem Wasser zurückkehren. Es ist eine sehr
charakteristische Szene, in einer trüben Dämmerung mit plötzlichen,
sonderbaren und unnatürlich
gelben Flecken am Himmel, die ein
eigenartiges Licht auf alles werfen, während schwere bleierne Wolken sich
ballen und nach Westen ziehen.
Die höchsten Teile der Stadt
erscheinen geisterhaft in diesem eigenartigen Licht gegen einen bleiernen
Horizont, der mit schwefelgelben Strichen durchzogen ist.
«Alles deutet auf Wasser und
Wind...» meint Petrus und fragt: «Wo
gehen wir heute abend hin?»
«Zum Aufseher der Gärten. Morgen
gehe ich in den Tempel hinauf und...»
«Noch einmal? Gib acht, was du
tust! Nimm lieber die Einladung der Libertiner an und geh in ihre Synagoge»,
rät Simon der Zelote.
«Also, Synagoge ist gleich
Synagoge. Es gibt auch noch andere, die gezeigt haben, daß er bei ihnen
willkommen ist! Warum gerade sie?» sagt Judas von Kerioth.
«Weil sie am sichersten sind...
und den Grund weiß man, ohne daß ich ihn nenne», erwidert der Zelote.
«Sicher! Was gibt dir diese
Sicherheit?»
«Die Tatsache, daß sie treu
geblieben sind trotz allem, was sie durchgemacht haben.»
«Streitet euch nicht darüber.
Morgen gehe ich in den Tempel, wie ich gesagt habe. Jetzt bleiben wir noch ein
wenig hier. Es ist auch dies ein Ort, an dem man gut die Frohe Botschaft
verkünden kann.»
«Nicht besser als anderswo. Ich
weiß nicht, weshalb du ihn vorziehst.»
«Warum, Judas? Aus vielen
Gründen, die ich dem sagen werde, der sich mir anschließt, und aus einem
Grund, den ich nur euch mitteile. An diesem Brunnen der Quelle von En Rogel
hielten die drei Weisen aus dem
Morgenland unentschlossen und
enttäuscht an; denn hier erlosch der Stern, der sie aus fernen Landen hierher
geführt hatte. Jeder andere Mensch hätte das Vertrauen auf Gott und sein
Selbstvertrauen verloren. Sie, die allein wachten, während die Diener
schliefen, beteten bis zum
Morgengrauen bei ihren müden
Kamelen. Dann erhoben sie sich und gingen zu den Toren, ohne Rücksicht auf die
Gefahr, daß man sie für Verrückte oder Volksaufwiegler halten könnte, und ohne
sich um die Gefährdung ihres Lebens zu sorgen. Bedenkt, daß damals Herodes,
dieser Blutrünstige, herrschte. Und es hätte weit weniger als der Satz, den
die Weisen dem König sagen wollten, genügt, um sie zum Tode zu verurteilen.
Sie
39
aber suchten mich. Sie suchten
weder Ehre, noch Reichtümer, noch Ruhm. Sie suchten mich, mich allein: ein
Kind, ihren Messias, ihren Gott. Da die Suche nach Gott gut ist, bringt sie
immer die nötige Hilfe und den nötigen Mut mit sich. Befürchtungen, gemeine
Dinge, sind das Erbe derer, die von niedrigen Dingen träumen. Jene verlangten
danach, Gott zu huldigen, und waren stark in dieser ihrer Liebe. Nur wenige
Stunden darauf wurde ihre Liebe belohnt, als der Stern in der mondhellen Nacht
wieder vor ihren Augen erschien. Der Stern Gottes fehlt dem nie, der in
Gerechtigkeit und Liebe Gott sucht. Die drei Weisen! Sie hätten sich ausruhen
können bei den falschen Ehrenbezeugungen, die Herodes ihnen nach der Antwort
der höchsten Priester und Schriftgelehrten erwies. Sie waren so müde! ... Aber
sie hielten sich nicht einmal eine Nacht auf, und bevor die Stadttore
geschlossen wurden, gingen sie hinaus und blieben bis Sonnenaufgang hier.
Dann... erlebten sie nicht den Sonnenaufgang, sondern den Aufgang Gottes, der
ihnen wieder erschien, um den Weg mit seinem Silberschein zu beleuchten. Der
Stern rief sie mit seinem Licht, und sie kamen zum Licht. Selig, selig sind
sie, und selig jene, die sie nachzuahmen wissen!»
Die Apostel, Margziam und Isaak
hören, wie immer wenn Jesus von seiner Geburt erzählt, mit strahlenden
Gesichtern zu. Isaak nickt, seufzt und lächelt bei dieser Erinnerung... mit
verzücktem Gesicht, weit entfernt von Ort und Zeit. Im Geist kehrt er zurück
zu jener Nacht vor dreißig Jahren, zu jenem Stern, den er gewiß bei seinen
Schafen gesehen hat...
Andere Leute haben sich zu ihnen
gesellt und hören zu, denn viele kommen hier des Weges, und manch einer
erinnert sich noch der großartigen Karawane und der Nachricht, die sie ihnen
brachte... und auch der Folgen.
«Dies ist von jeher eine Stätte
gewesen, an der man sich zur Beratung zusammengefunden hat. Die Geschichte
wiederholt sich immer. Dies war stets eine Stätte der Prüfung, für die Guten
wie für die Bösen. Aber das ganze Leben des Menschen ist eine Prüfung im
Glauben und in der Gerechtigkeit. Ich erinnere euch an die Treue des Huschai,
des Zadok, des Abjathar, des Jonathan und des Ahimaaz, die von diesem Ort
aufbrachen, um ihren König zu retten, und von Gott beschützt wurden, weil sie
gerecht handelten.
Ich erinnere euch an ein
Ereignis, das mit diesem selben Ort zusammenhängt, aber zu keinem guten
Ergebnis führte, weil es sich um eine Gewalttat handelte, die von Gott nicht
gesegnet wurde. Bei dem Felsen von Soheleth, in der Nähe der Quelle von En
Rogel, verschwor sich Adonia gegen den Willen seines Vaters und ließ sich von
seinen Anhängern zum König ausrufen. Aber dieser Mißbrauch half ihm nichts,
denn noch bevor das Bankett zu Ende war und Jonathan, der Sohn des Abjathar,
gesprochen hatte, unterrichteten ihn die Hosannarufe in Gihon darüber, daß
Salomon König war und er, der den Thron an sich hatte reißen wollen, nur noch
auf die Barmherzigkeit Salomons hoffen konnte.
40
Gar viele wiederholen diese Tat
des Adonia und bekämpfen den wahren König oder verschwören sich gegen ihn,
indem sie der Partei folgen, die ihnen die mächtigste zu sein scheint. Gar
wenige von ihnen wissen danach, um Verzeihung zu bitten und zum Altar zu
treten im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes.
Können wir nach der Betrachtung
dieser drei Ereignisse, die sich an diesem Brunnen zugetragen haben, sagen,
daß diese Stätte guten oder schlechten Einflüssen unterworfen ist? Nein. Nicht
der Ort, nicht die Zeit oder das Ereignis, sondern der Wille des Menschen ist
es, der den Menschen auf Abwege führt. En Rogel hat die Treue der Knechte
Davids und die Sünde des Adonia gesehen, ebenso die Treue der drei Weisen. Es
ist derselbe Brunnen. Auf seine Steine haben sie sich gestützt, mit seinem
Wasser haben sie ihren Durst gelöscht: Jonathan und Ahimaaz, ebenso wie Adonia
und die Seinen, wie auch die drei Weisen. Aber dieselben Wasser und Steine
haben drei verschiedene Dinge gesehen... Treue zu König David, Verrat an König
David und Treue zu Gott und dem König der Könige. Es ist immer der Wille des
Menschen, der entweder Gutes oder Böses tun läßt. Und auf den Willen des
Menschen wirft der Wille Gottes sein Licht und der Wille Satans seine giftigen
Ausdünstungen. Am Menschen liegt es, das Licht oder das Gift aufzunehmen und
so ein Gerechter oder ein Sünder zu werden.
Bei diesem Brunnen steht ein
Wächter, damit niemand das Wasser verunreinigt. Außer diesem Hüter sorgen
Mauern und ein Dach dafür, daß der Wind keine Blätter und keinen Unrat
hineinweht, die das kostbare Wasser beschmutzen könnten. Auch dem Menschen hat
Gott einen Wächter gegeben: den intelligenten und bewußten Willen des
Menschen; und Schutzmauern: die Gebote und die Ratschläge der Engel, auf daß
der Geist des Menschen nicht wissentlich oder unwissentlich verdorben werde.
Aber wenn der Mensch sein Gewissen und seinen Verstand verdirbt, die
Eingebungen des Himmels überhört und das Gesetz mit Füßen tritt, dann ist er
wie ein Wächter, der den Brunnen unbewacht läßt, und wie ein Törichter, der
die Schutzmauern niederreißt. Er gibt das Feld den satanischen Feinden, den
Begierlichkeiten der Welt und des Fleisches preis, den Versuchungen, die, auch
wenn man ihnen nicht nachgibt, immer vorsichtig überwacht und zurückgewiesen
werden müssen.
Ihr Söhne von Jerusalem, Hebräer,
Proselyten, und Wanderer, die der Zufall hier vereint hat, die Stimme Gottes
zu vernehmen, seid Weise der wahren Wissenschaft, die darin besteht, sich
selbst vor Handlungen zu schützen, die den Menschen entehren.
Ich sehe hier auch viele Heiden.
Ihnen sage ich, daß man nicht ausschließlich Reichtümer und Waren erwerben
kann, sondern auch noch etwas anderes, nämlich das Leben für die eigene Seele;
denn der Mensch hat eine Seele in seinem Inneren, etwas Unsichtbares. Und doch
ist sie es, die
41
den Menschen lebendig macht. Sie
ist etwas Unsterbliches, das auch nach dem Tod des Leibes weiterlebt. Sie ist
etwas, das ein Recht hat, sein wahres, ewiges Leben zu leben. Aber sie kann es
nicht leben, wenn der Mensch sein wahres Ich durch schlechte Handlungen tötet.
Götzendienst und Heidentum sind
nicht unüberwindlich. Der Weise denkt nach und sagt: "Warum soll ich den
Götzen folgen und ohne Hoffnung auf ein besseres Leben leben, während ich
ewige Glückseligkeit erwerben kann, wenn ich zum wahren Gott komme?" Der
Mensch geizt mit seinen Tagen, und der Tod jagt ihm Schrecken ein. Je mehr ihn
die Finsternis falscher Religionen oder des Unglaubens umgibt, um so mehr
fürchtet er den Tod. Wer aber zum wahren Glauben kommt, verliert den Schrecken
vor dem Tod, denn er weiß, daß es jenseits des Todes ein ewiges Leben gibt, wo
die Geister sich wiederfinden und es keinen Schmerz und keine Trennung mehr
gibt. Es ist nicht schwer, den Weg des Lebens zu gehen. Es genügt, an den
einzigen wahren Gott zu glauben, den Nächsten zu lieben und Redlichkeit in
allen Handlungen zu üben.
Ihr von Israel wißt, welches die
Gebote und welches die Verbote sind. Aber ich sage denen, die mir zuhören und
meine Worte mit sich in die Ferne tragen werden, welche es sind... (und er
nennt die Zehn Gebote).
Darin besteht die wahre Religion,
nicht in vergeblichen und aufwendigen Opfern. Ihr müßt die Gebote einer
vollkommenen Moral, einer makellosen Tugend befolgen, Barmherzigkeit üben, ihr
müßt fliehen, was den Menschen entehrt, die Eitelkeiten ablegen, den
Vergöttlichung des Irrtums, den lügnerischen Auguren und den Träumen der Bösen
abschwören, und in Gerechtigkeit die Gaben Gottes benützen, die da sind:
Gesundheit, Glück, Reichtum, Verstand und Macht; ihr dürft euch nicht dem
Hochmut ergeben, der ein Zeichen der Torheit ist, da der Mensch nur lebendig,
gesund, reich, weise und mächtig ist, solange Gott es ihm gewährt; ihr dürft
keine maßlosen Wünsche hegen, die oft bis zum Verbrechen führen. Mit einem
Wort: ihr sollt, auch aus Selbstachtung, als Menschen und nicht als Unmenschen
leben.
Hinabsteigen ist leicht,
aufsteigen ist schwer. Aber wer möchte in einem stinkenden Abgrund leben, nur
weil er dort hineingefallen ist? Wer würde nicht versuchen herauszuklettern,
um auf blühenden Höhen ins Licht der Sonne zu gelangen? Wahrlich, ich sage
euch: Das Leben des Sünders spielt sich in einem Abgrund ab, und ebenso das
Leben im Irrtum. Aber die das Wort der Wahrheit aufnehmen und zur Wahrheit
kommen, steigen auf zu den Höhen, dem Licht entgegen.
Geht nun alle eurer Wege und
erinnert euch daran, daß euch die Quelle der Weisheit am Brunnen von En Rogel
ihr Wasser zu trinken gegeben hat, damit ihr weiterhin nach ihr dürstet und zu
ihr zurückkehrt.»
Jesus macht sich auf zur Stadt
und läßt das Volk mit seinen Bemerkungen, Fragen und Anworten zurück.
42
546. JESUS, DIE PHARISÄER UND DIE
EHEBRECHERIN
Ich sehe die Umfassungsmauer des
Tempels von innen, also einen der vielen Höfe, die von Säulenhallen umgeben
sind. Ich sehe auch Jesus, der ganz in den Mantel gehüllt ist, den er über
seinem Gewand trägt, das nicht weiß, sondern dunkelrot ist und aus einem
schweren wollenen Gewebe zu sein scheint. Jesus spricht von viel Volk umgeben.
Ich würde sagen, daß es ein
Wintertag ist, denn ich sehe alle in dicke Mäntel gehüllt. Es muß sehr kalt
sein, denn anstatt stillzustehen, gehen alle rasch hin und her, als wollten
sie sich auf diese Weise erwärmen. Es bläst auch ein starker Wind, der die
Mäntel bewegt und den Staub in den Höfen aufwirbelt.
Die Gruppe, die sich um Jesus
drängt und die als einzige stillsteht, während alle anderen, die sich um
diesen oder jenen Meister scharen, hin- und hergehen, teilt sich nun, um einen
kleinen Trupp heftig gestikulierender Schriftgelehrter und Pharisäer
vorbeizulassen, die giftiger sind als je zuvor. Sie sprühen Gift aus ihren
Augen, ihrer Gesichtsfarbe und ihrem Mund. Welche Vipern! Sie führen, oder
vielmehr, sie schleifen eine Frau von etwa dreißig Jahren mit wüstem Haar und
ungeordneter Kleidung mit sich, die aussieht, als sei sie mißhandelt worden,
und die jetzt weint. Vor Jesus werfen sie sie zu Boden, als wäre sie ein
Haufen Lumpen oder ein toter Balg. Dort bleibt sie zusammengekauert liegen,
das Gesicht auf den Armen, die es verbergen und gleichzeitig ein Kissen auf
dem Boden bilden.
«Meister, diese wurde auf
frischer Tat ertappt, als sie Ehebruch beging. Ihr Gemahl liebte sie und ließ
es ihr an nichts fehlen. Sie war Königin in ihrem Haus, aber sie betrog ihn,
weil sie eine undankbare, lasterhafte Sünderin ist, die ihr Haus entehrt. Eine
Ehebrecherin ist sie, und als solche muß sie gesteinigt werden. Moses hat es
befohlen. In seinem Gesetz gebietet er, daß Frauen, wie sie, wie unreine Tiere
gesteinigt werden müssen. Und unrein sind sie, denn sie mißbrauchen das
Vertrauen des Mannes, der sie liebt und für sie sorgt, und wie das immer
durstige Erdreich sind sie unersättlich in ihrem Verlangen nach Wollust.
Schlimmer als Huren sind sie, denn ohne durch die Not dazu gezwungen zu sein,
geben sie sich hin, um ihre Begierde zu sättigen. Sie sind ansteckend in ihrer
Verkommenheit und müssen zum Tode verurteilt werden. Moses hat es befohlen.
Und du, Meister, was sagst du dazu?»
Jesus hat bei der stürmischen
Ankunft der Pharisäer aufgehört zu sprechen. Er schaut die armselige Meute mit
seinen durchdringenden Augen an, senkt dann den Blick auf die zu seinen Füßen
liegende, gedemütigte Frau und schweigt.
Er beugt sich nieder, ohne sich
von seinem Sitz zu erheben, und schreibt mit einem Finger auf den vom Wind mit
Staub bedeckten Boden der Säulenhalle. Sie reden, und er schreibt.
43
«Meister, wir sprechen mit dir.
Höre uns zu. Antworte uns. Hast du nicht verstanden? Diese Frau ist beim
Ehebruch ertappt worden, in ihrem eigenen Haus, im Ehebett ihres Mannes. Sie
hat es mit ihrer Unzucht beschmutzt.»
Jesus schreibt.
«Der Mann ist blöde! Seht ihr
nicht, daß er nichts versteht und Zeichen in den Staub schreibt wie ein armer
Irrer?»
«Meister, um deines guten Namens
willen, sprich. Deine Weisheit antworte auf unsere Frage. Wir wiederholen dir:
Dieser Frau hat es an nichts gefehlt. Sie hatte Kleider, Nahrung, Liebe, und
sie hat ihren Mann betrogen ...»
Jesus schreibt.
«Sie hat ihren Mann belogen, der
ihr vertraute. Mit lügnerischem Mund hat sie ihn gegrüßt und mit einem Lächeln
zur Türe begleitet, und dann hat sie die geheime Türe geöffnet und ihren
Liebhaber eingelassen. Und während der Gatte abwesend war, um für sie zu
arbeiten, hat sie sich wie ein unreines Tier in ihrer Wollust gewälzt.»
«Meister, sie hat das Gesetz
entheiligt, nicht nur das Ehebett. Sie ist eine Rebellin, eine Schänderin,
eine Gotteslästerin.»
Jesus schreibt. Er schreibt,
verwischt das Geschriebene wieder mit seinen Sandalen und schreibt dann
daneben weiter, während er sich langsam um sich selbst dreht, um noch mehr
Platz zum Schreiben zu finden. Er gleicht einem spielenden Kind; doch das, was
er nacheinander geschrieben hat, sind nicht die Worte eines Spiels. Er hat
geschrieben: «Wucherer... Lügner... unehrerbietiger Sohn... Ehebrecher...
Mörder... Gesetzesschänder... Usurpator ... Dieb... Unzüchtiger... unwürdiger
Gatte und Vater... Gotteslästerer ... Rebell gegen Gott ...» und immer neue
Worte schreibt er, während immer neue Ankläger reden.
«Aber nun höre doch endlich,
Meister! Gib ein Urteil ab. Die Frau muß gerichtet werden. Sie darf mit der
Last ihrer Sünden nicht die Erde beflecken. Ihr Atem ist ein Gifthauch, der
die Herzen verwirrt.»
Jesus erhebt sich.
Barmherzigkeit! Welch ein Antlitz! Flammende Blitze, die auf die Ankläger
fallen. Er scheint noch stattlicher als sonst, mit hocherhobenem Haupt. Er
gleicht einem König auf seinem Thron, so streng und feierlich ist er. Sein
Mantel ist ihm von einer Schulter geglitten und bildet eine kleine Schleppe
hinter ihm. Aber er kümmert sich nicht darum.
Mit unbeweglichem Antlitz, ohne
den leisesten Schatten eines Lächelns um Mund und Augen, richtet er seinen
Blick auf die Menge, die zurückweicht wie vor zwei spitzen Klingen. Er schaut
einen nach dem anderen fest an, mit prüfender Intensität, die Furcht einflößt.
Die, die er so angesehen hat, versuchen sich in der Menge zu verbergen. So
wird der Kreis immer größer und löst sich auf, wie von einer geheimen Kraft
gesprengt.
44
Endlich spricht er: «Wer von euch
ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie.» Seine Stimme gleicht dem
Donner, begleitet von den noch lebhafteren Blitzen seiner Augen. Jesus, die
Arme vor der Brust gekreuzt, steht aufrecht da wie ein Richter, der wartet.
Sein Blick läßt ihnen keine Ruhe. Er forscht, durchdringt, klagt an.
Zuerst einer, dann zwei, dann
fünf und schließlich in Grüppchen entfernen sich die Anwesenden mit gesenktem
Haupt. Nicht nur die Schriftgelehrten und die Pharisäer, sondern auch die, die
sich schon zuvor um Jesus geschart hatten, und andere, die nähergetreten
waren, um seine Ansicht und die Verurteilung zu hören, und die zusammen mit
den übrigen die Schuldige beschimpft und ihre Steinigung gefordert hatten.
Jesus bleibt allein mit Petrus
und Johannes zurück. Die anderen Apostel sehe ich nicht.
Jesus hat wieder begonnen zu
schreiben, während die Ankläger geflohen sind, und nun schreibt er: «Pharisäer
... Nattern... Gräber voller Unrat... Lügner... Verräter... Feinde Gottes ...
Beleidiger seines Wortes...»
Als der ganze Hof sich geleert
hat und ein großes Schweigen eingetreten ist, hört man nur noch das Rauschen
des Windes und das Plätschern eines Brünnleins in einer Ecke. Da erhebt Jesus
sein Haupt und schaut sich um. Sein Antlitz ist nun ruhig, traurig, aber nicht
mehr erzürnt. Er blickt Petrus kurz an, der sich etwas entfernt und an eine
Säule gelehnt hat, und dann Johannes, der fast hinter ihm steht und ihn mit
seinen liebevollen Augen anschaut. Der Schatten eines Lächelns gleitet über
das Antlitz Jesu, als er Petrus ansieht, und als er den Blick auf Johannes
richtet, wird es lebhafter. Zwei verschiedene Lächeln.
Dann betrachtet er die Frau, die
immer noch weinend zu seinen Füßen liegt. Er beobachtet sie. Sie richtet sich
auf und bringt ihr Gewand in Ordnung, als wolle sie sich auf den Weg machen.
Jesus gibt den beiden Aposteln einen Wink, sich zum Ausgang zu begeben.
Als sie allein sind, ruft er die
Frau: «Frau, höre mir zu. Schau mich an.» Er wiederholt seinen Befehl, da sie
nicht wagt, ihr Haupt zu erheben. «Frau, wir sind allein. Schau mich an.»
Die Unglückliche erhebt ihr
Gesicht, auf das Tränen und Staub eine Maske der Demütigung gezeichnet haben.
«Frau, wo sind deine Ankläger?»
Jesus spricht leise, mit mitleidigem Ernst. Sein Antlitz und sein Körper
neigen sich leicht über dieses Elend auf dem Boden, und mit Augen voll des
Erbarmens und der Aufmunterung fragt er: «Hat dich niemand verurteilt?»
Die Frau antwortet zwischen zwei
Seufzern: «Niemand, Meister.»
«Auch ich verurteile dich nicht.
Geh und sündige nicht mehr. Geh nach Hause und bitte Gott und den Betrogenen
um Verzeihung. Mißbrauche nicht die Güte des Herrn. Geh.»
Er hilft der Frau aufzustehen,
indem er ihre Hand nimmt. Aber er
45
segnet sie nicht und sagt auch
nicht den Friedensgruß. Er sieht sie fortgehen mit geneigtem Haupt und etwas
wankend unter dem Gewicht ihrer Schande, und als sie verschwunden ist, geht
auch er mit den beiden Jüngern.
547. «DER SCHULDIGEN WEISE ICH
DEN WEG DER RETTUNG»
Jesus spricht:
«Was mich verletzt hat, war der
Mangel an Liebe und Aufrichtigkeit der Ankläger. Nicht daß ihre Anklage falsch
gewesen wäre, die Frau war wirklich schuldig. Aber sie waren unaufrichtig und
taten, als ob sie Ärgernis nähmen an einer Sünde, die sie selbst tausendmal
begangen hatten und die nur wegen ihrer größeren Schlauheit und weil sie mehr
Glück gehabt hatten, unbekannt geblieben war. Die Frau war bei ihrer ersten
Sünde weniger schlau und hatte nicht viel Glück. Aber keiner ihrer Ankläger
und Anklägerinnen – denn auch die Frauen, die zwar ihre Stimmen nicht zur
Anklage erhoben, beschuldigten sie in ihrem Herzen – war frei von Schuld.
Ehebrecher ist, wer die Tat
begeht, aber auch, wer mit seinem ganzen Sein danach verlangt. Unzucht begeht
sowohl der, der sündigt, als auch der, der zu sündigen begehrt. Es genügt
nicht, das Böse nicht zu tun, man darf auch nicht danach begehren.
Erinnere dich, Maria, des ersten
Wortes deines Meisters, als ich dir am Rande des Abgrundes, an dem du dich
befandest, zurief: "Es genügt nicht, das Böse nicht zu tun. Man darf auch
nicht danach verlangen, es zu tun."
Wer sich sinnlichen Gedanken
hingibt und sinnliche Gefühle durch Lektüre und durch vorsätzlich und aus
ungesunder Gewohnheit gesuchte Schauspiele erregt, ist ebenso unrein wie der,
der sich tatsächlich schuldig macht. Ich wage zu sagen: er ist noch
schuldiger; denn er verstößt mit seinen Gedanken gegen die Natur, nicht nur
gegen die Sittlichkeit. Ich spreche nicht von dem, der sogar wirklich
naturwidrige Akte begeht. Die einzige Entschuldigung für einen solchen wäre
eine organische oder psychische Krankheit. Wer aber diese Entschuldigung nicht
hat, steht um zehn Stufen tiefer als das schmutzigste Tier. Damit einer
gerecht urteilen kann, muß er selbst frei von Schuld sein.
Bezüglich der wichtigsten
Voraussetzungen für einen Richter, verweise ich euch auf die früheren Diktate.
Mir waren die Herzen jener
Pharisäer und Schriftgelehrten nicht unbekannt, ebenso wie die der anderen,
die sich ihnen angeschlossen hatten, um gegen die Schuldige loszuziehen.
Sünder gegen Gott und gegen den
46
Nächsten waren sie, schuldig
gegenüber der Religion, schuldig gegenüber den Eltern und den Nächsten,
schuldig vor allem auch, und am häufigsten, gegenüber ihren Frauen. Wenn ich
durch ein Wunder ihrem Blut befohlen hätte, ihre Sünden auf ihre Stirn zu
schreiben, dann hätte unter den vielen Anklagen die des tatsächlichen oder
gedanklichen Ehebrechers vorgeherrscht. Ich habe gesagt: "Was aus dem Herzen
des Menschen kommt, ist es, was den Menschen befleckt." Abgesehen von mir
selbst war dort niemand unter den Richtern, der ein reines Herz gehabt hätte.
Unaufrichtig und lieblos waren
sie. Nicht einmal ihre eigene Ähnlichkeit mit ihr in Bezug auf die
Begierlichkeit, konnte sie zur Barmherzigkeit bewegen. Ich, der ich als
einziger Abscheu hätte empfinden müssen, übte Liebe gegenüber dieser
gedemütigten Frau. Erinnert euch jedoch daran: Je besser einer ist, desto
barmherziger ist er mit den Schuldigen. Nicht die Sünde selbst entschuldigt
er, das nicht, aber er bedauert die Schwachen, die der Sünde nicht widerstehen
konnten.
Der Mensch! Oh! Leichter als ein
schwaches Rohr und eine feine Zaunwinde gibt er der Versuchung nach und
klammert sich an Dinge, von denen er Trost und Stütze erhofft.
Oft kommt es ja gerade beim
schwachen Geschlecht zur Sünde, weil man Trost zu finden sucht. Daher sage
ich, wer es seiner Frau oder auch der eigenen Tochter an Liebe fehlen läßt,
ist zu neunzig Prozent an der Sünde seiner Frau oder seiner Tochter schuld und
wird an ihrer Stelle Rechenschaft dafür ablegen müssen. Sowohl die
übertriebene Liebesbezeigung, die zur törichten Sklaverei eines Mannes
gegenüber der Frau oder eines Vaters gegenüber einer Tochter führt, als auch
die Vernachlässigung, oder schlimmer die Sünde der sinnlichen Lust, die den
Mann zu fremder Liebe treibt und die Eltern zu anderen Interessen als die der
Erziehung ihrer Kinder, sind der Ursprung der Hurerei und des Ehebruchs, und
daher verurteile ich sie. Ihr seid vernunftbegabte Wesen, die von einem
göttlichen Gesetz und von einem Sittengesetz geleitet werden. Sich zu einer
wilden oder tierischen Lebensweise zu erniedrigen, müßte eurem großen Hochmut
verabscheuenswert erscheinen. Aber den Stolz, der in diesem Falle sogar
nützlich wäre, habt ihr nur für ganz andere Dinge.
Ich habe Petrus und Johannes auf
verschiedene Art angeschaut, denn dem ersten, einem Mann, wollte ich sagen:
"Petrus, fehle auch du nicht gegen die Liebe und die Aufrichtigkeit." Außerdem
wollte ich ihm als meinem künftigen Hohenpriester sagen: "Erinnere dich dieser
Stunde und urteile in Zukunft wie dein Meister." Dem anderen hingegen, einem
Jüngling mit der Seele eines Kindes, wollte ich sagen: "Du kannst urteilen und
urteilst nicht, weil du ein Herz wie das meine hast. Danke, Geliebter, der du
so sehr mein eigen bist, daß du mein zweites Ich geworden bist." Ich habe
beide fortgeschickt, bevor ich die Frau rief, um ihre Demütigung nicht zu
vermehren durch die Anwesenheit zweier Zeugen.
47
Lernt, ihr Menschen, ohne
Barmherzigkeit: Wie schuldbeladen einer auch sein mag, soll er doch immer mit
Achtung und Liebe behandelt werden. Freut euch nicht über seine Demütigung.
Zieht nicht über ihn her, nicht einmal mit neugierigen Blicken. Erbarmen,
Erbarmen für den, der gefallen ist!
Der Schuldigen weise ich den Weg
der Rettung: Die Rückkehr nach Hause, das demütige Bitten um Verzeihung und
das Erlangen der Verzeihung durch ein rechtschaffenes Leben. Sie soll nicht
mehr den Versuchungen des Fleisches nachgeben und die Güte Gottes und der
Menschen nicht mißbrauchen, um nicht durch eine zweifache oder vielfache Sünde
noch schwerer büßen zu müssen als bisher. Gott verzeiht, und er verzeiht, weil
er die Güte ist. Aber der Mensch weiß nicht zweimal zu verzeihen, obwohl ich
gesagt habe: "Verzeih deinem Bruder siebenmal siebzigmal."
Ich gebe ihr nicht den Frieden
und den Segen, weil ich bei ihr noch nicht die entschiedene Absage an die
Sünde gefunden habe, die erforderlich ist, um Verzeihung zu erlangen. In ihrem
Fleisch und leider auch in ihrem Herzen herrscht nicht der Abscheu vor der
Sünde. Maria von Magdala hatte, als sie mein Wort begriff, Abscheu vor der
Sünde und war zu mir gekommen mit dem unbeugsamen Willen, ein anderer Mensch
zu werden. In dieser Frau jedoch schwankten die Stimmen des Fleisches und des
Geistes noch. Sie konnte in der Verwirrung der Stunde noch nicht die Axt an
den Wurzelstock des Fleisches legen und ihn ausreißen, um befreit von ihrer
Last sehnsüchtig dem Reiche Gottes entgegenzugehen; befreit von dem, was zum
Untergang führt, und bereichert mit dem, was Rettung bedeutet.
Willst du wissen, ob sie später
gerettet wurde? Nicht für alle bin ich der Erlöser gewesen. Für alle wollte
ich es sein, und doch war ich es nicht, denn nicht alle sehnten sich danach,
gerettet zu werden. Und das ist einer der furchtbarsten Pfeile gewesen, die
mein Herz durchbohrten in der Agonie von Gethsemane.
Du, geh hin in Frieden, Maria
Marias, und habe den Willen, nicht mehr zu sündigen, auch nicht in den
kleinsten Dingen. Unter dem Mantel Marias ist nur Reinheit. Erinnere dich
daran.
Eines Tages hat Maria, meine
Mutter, dir gesagt: "Ich bitte meinen Sohn unter Tränen um euch." Und ein
anderes Mal: "Ich überlasse meinem Jesus die Sorge, eure Liebe für mich zu
gewinnen... Wenn ihr mich liebt, komme ich, und mein Kommen ist Freude und
Rettung."
Die Mutter hat dich gewollt, und
ich habe dich ihr geschenkt. Ja, ich habe dich zu ihr geführt, denn ich weiß:
wozu ich euch mit meiner Autorität bringen kann, dazu bringt sie euch mit der
Liebkosung ihrer Liebe, und sie kann es noch besser als ich. Ihre Berührung
ist ein Siegel, vor dem Satan flieht. Nun hast du ihr Gewand, und wenn du die
Gebete der beiden Orden (Franziskaner und Serviten) treu erfüllst, betrachtest
du täglich das Leben unserer Mutter, ihre Freuden, ihre Schmerzen, also auch
meine Freuden und meine Schmerzen; denn von dem Augenblick an, da ich, das
Wort, Jesus wurde, habe ich mit ihr und aus denselben Gründen gejubelt und
geweint.
Du siehst, daß "Maria lieben"
auch "Jesus lieben" heißt. Und es heißt, ihn leichter lieben. Denn ich lasse
dich das Kreuz tragen und gebe dir die Last des Kreuzes, während die Mutter
48
dich stützt oder am Fuße des
Kreuzes steht, um dich an ihr Herz zu drücken, das nichts als Liebe kennt.
Auch in der Todesstunde ist der Schoß Marias süßer als eine Wiege. Wer seinen
Geist in ihr aushaucht, vernimmt nur die Stimmen der englischen Chöre, die
sich um Maria scharen. Er sieht keine Finsternis, wohl aber den sanften
lichten Strahl des Morgensternes. Er kennt kein Weinen, wohl aber ihr Lächeln.
Er fühlt keine Angst. Wer wagt es, uns, die wir es lieben, wer wagt es, eines
ihrer Kinder den Armen Marias zu entreißen?
Sage nicht "Danke" zu mir; sage
es ihr, die sich an nichts anderes erinnern wollte, als an das wenige Gute,
das du getan hast, und an die Liebe, die du mir bezeugst. Und deshalb wollte
sie dich haben, um unter ihrem Fuß das zu zähmen, was dein guter Wille nicht
zu zähmen vermochte. Rufe aus: "Es lebe Maria!" Bleibe zu ihren Füßen am Fuße
des Kreuzes, und du wirst dein Kleid schmücken mit den Rubinen meines Blutes
und den Perlen ihrer Tränen. Du wirst ein königliches Kleid tragen beim
Eintritt in mein Reich.
Geh in Frieden. Ich segne dich.»
548. UNTERWEISUNG DER APOSTEL UND
JÜNGER
Jesus hat die zehn Apostel und
die wichtigsten Jünger an den Hängen des Ölberges in der Nähe der Quelle von
Siloe getroffen. Als sie ihn eiligen Schrittes zwischen Petrus und Johannes
kommen sehen, gehen sie ihm entgegen und begegnen ihm gerade bei der Quelle.
«Steigen wir zum Weg nach
Bethanien hinauf. Ich verlasse die Stadt für
einige Zeit. Unterwegs werde ich
euch sagen, was ihr tun sollt», gebietet Jesus.
Unter den Jüngern befinden sich
auch Manaen und Timoneus, die nun beruhigt sind und ihren Platz wieder
eingenommen haben. Ich sehe auch
Stephanus und Hermas, Nikolaus,
Johannes von Ephesus und den Priester Johannes, mit einem Wort, alle die wegen
ihrer Weisheit Angesehensten und auch die Einfachen, die aber durch die Gnade
Gottes und ihren eigenen Willen zu den aktivsten Jüngern gehören.
«Du willst die Stadt verlassen?
Ist dir etwas zugestoßen?» fragen viele.
«Nein, aber es gibt noch Orte,
die auf mich warten...»
«Was hast du heute morgen getan?»
«Ich habe gesprochen... Die
Propheten... noch einmal. Aber sie hören nicht auf mich.»
«Kein Wunder, Herr?» fragt
Matthäus.
«Keines. Eine Verzeihung und eine
Verteidigung.»
«Wer war es? Wer hat angeklagt?»
«Die, die sich ohne Sünde dünken,
haben eine Sünderin angeklagt. Ich habe sie vor ihnen gerettet.»
«Aber wenn sie eine Sünderin war,
waren sie im Recht.»
«Ihr Fleisch war gewiß der Sünde
verfallen, aber ihre Seele... So vieles hätte ich zu sagen über die Seelen.
Ich würde nicht nur jene Sünder nennen, deren Schuld offenkundig ist. Auch die
begehen eine Sünde, die
49
andere zur Sünde verführen, und
eine viel listigere Sünde, denn sie sind zugleich Schlangen und Sünder.»
«Was hatte denn die Frau getan?»
«Ehebruch.»
«Ehebruch? Und du hast sie
gerettet? Das hättest du nicht tun sollen!»ruft Iskariot aus.
Jesus schaut ihn scharf an und
fragt: «Warum nicht?»
«Warum? Es kann dir schaden. Du
weißt doch, wie sehr sie dich hassen und Anklagepunkte gegen dich suchen! Und
gewiß... Eine Ehebrecherin retten bedeutet gegen das Gesetz verstoßen.»
«Ich habe nicht gesagt, daß ich
sie gerettet habe. Ich habe nur gesagt, daß, wer ohne Sünde ist, sie steinigen
solle. Doch niemand hat sie gesteinigt, weil keiner ohne Sünde war. Ich habe
also das Gesetz bestätigt, das Ehebruch mit der Steinigung bestraft, aber ich
habe auch die Frau gerettet, da sich keiner fand, der sie steinigen wollte.»
«Aber du ...»
«Meinst du, ich hätte sie
steinigen sollen? Es wäre gerecht gewesen, denn ich hätte sie steinigen
können. Aber es wäre nicht barmherzig gewesen.»
«Ah! Sie hat bereut! Sie hat dich
angefleht, und du ...»
«Nein. Sie hat nicht einmal Reue
gezeigt. Sie war gedemütigt und verängstigt.»
«Aber dann... Warum? ... Ich
verstehe dich nicht mehr! Früher konnte ich deine Verzeihung noch verstehen,
bei Maria von Magdala, bei Johannes von Endor, bei... nun, bei vielen Sü ...»
«Sag nur: bei Matthäus. Ich nehme
dir das nicht übel. Im Gegenteil. Ich bin dir dankbar, wenn du mir hilfst,
mich an die Dankbarkeit zu erinnern, die ich dem Meister schulde», sagt
Matthäus ruhig und würdevoll.
«Nun, ja, auch bei Matthäus...
Aber sie haben ihre Sünden, ihr liederliches Leben bereut. Diese hingegen! ...
Ich verstehe dich nicht mehr. Und ich bin nicht der einzige, der dich nicht
versteht ...»
«Ich weiß es, du verstehst mich
nicht... Du hast mich immer nur wenig verstanden. Und nicht nur du allein.
Aber das ändert nicht meine Handlungsweise.»
«Verzeihung kann nur erhalten,
wer darum bittet.»
«Oh, wenn Gott nur denen
verzeihen würde, die ihn darum bitten, und alle unverzüglich bestrafen müßte,
die auf die Sünde nicht sogleich die Reue folgen lassen! Hast du niemals
gefühlt, daß dir verziehen wurde, bevor du Reue empfunden hast? Kannst du
wirklich sagen, daß du bereut hast und daß dir deshalb verziehen wurde?»
«Meister, ich ...»
«Hört mir alle zu, denn viele
unter euch sind der Ansicht, daß ich gefehlt habe und daß Judas recht hat.
Hier sind Petrus und Johannes. Sie
50
haben gehört, was ich der Frau
gesagt habe, und können es euch wiederholen. Ich habe nicht törichterweise
verziehen. Ich habe nicht dasselbe gesagt, was ich anderen Seelen gesagt habe,
denen ich verziehen habe, weil sie ganz Reue waren. Ich habe dieser Seele
vielmehr Gelegenheit gegeben und Zeit gelassen, zur Reue und zur Heiligkeit zu
gelangen, wenn sie diese erreichen will. Erinnert euch daran für die Zeit, da
ihr Lehrmeister der Seelen sein werdet.
Zwei Dinge sind wesentlich, um
wahre und würdige Seelenführer zu sein. Das erste ist: ein strenges Leben
führen, um urteilen zu können und nicht heuchlerisch bei anderen zu
verurteilen, was man sich selbst verzeiht. Das zweite ist: geduldig
Barmherzigkeit üben, um den Seelen Gelegenheit zu geben, zu gesunden und zu
erstarken. Nicht alle Seelen gesunden sofort von ihren Wunden. Einigen gelingt
es nur nach und nach, langsam, und mit Rückfällen. Sie zu verjagen, zu
verurteilen oder zu verängstigen gehört nicht zur Kunst eines Seelenarztes.
Wenn ihr sie verjagt, werden sie
sich zum Ausgleich in die Arme falscher Freunde und Meister werfen. Öffnet
eure Arme und euer Herz, immer, allen kranken Seelen. Sie sollen in euch eine
wahre und heilige Vertrauensperson finden, in deren Gegenwart sie sich nicht
scheuen zu weinen. Wenn ihr sie verurteilt und sie der geistigen Hilfe
beraubt, macht ihr sie nur noch kränker und schwächer.
Wenn ihr ihnen Schrecken vor euch
und vor Gott einjagt, wie können sie dann noch die Augen zu euch und zu Gott
erheben? Der Mensch begegnet als erstem Richter dem Menschen. Nur ein im Geist
lebendes Wesen weiß zuerst Gott zu begegnen. Aber das Geschöpf, das es
erreicht hat, im Geist zu leben, fällt nicht in schwere Schuld. Sein Fleisch
kann noch Schwächen haben, aber der starke Geist wacht, und so werden aus den
Schwächen keine schweren Sünden. Wenn aber der Mensch noch sehr aus Fleisch
und Blut besteht, sündigt er und begegnet dem Menschen. Wenn nun aber der
Mensch, der ihn auf Gott hinweisen und seinen Geist formen soll, ihm Furcht
einflößt, wie kann dann der Sünder sich ihm anvertrauen? Und wie kann er
sagen: "Ich demütige mich, weil ich glaube, daß Gott gut ist und daß er
verzeiht", wenn er sieht, daß einer seinesgleichen nicht gut ist?
Ihr müßt als Vergleich dienen,
als Maß dessen, was Gott ist, so wie eine kleine Münze einen Teil eines
Talentes darstellt und seinen Wert erkennen läßt. Wenn ihr, die ihr nur ein
Teilchen des Unendlichen und seine Stellvertreter seid, grausam mit den Seelen
seid, welch unnachgiebige Strenge werden sie sich dann erst von Gott erwarten?
Judas, der du ein so strenger
Richter bist, wenn ich dir jetzt sagen würde: "Ich werde dich beim Synedrium
wegen magischer Praktiken anzeigen..."»
«Herr! Das wirst du nicht tun!
Das wäre... das wäre... Du weißt, daß es ...»
51
«Ich weiß es und weiß es nicht.
Aber du siehst, wie du sofort um Erbarmen bittest... und du weißt auch, daß
sie dich nicht verurteilen würden, weil ...»
«Was willst du sagen, Meister?
Warum sagst du das?» unterbricht Judas Jesus ganz außer sich.
Ganz ruhig, aber mit einem Blick,
der das Herz des Judas durchbohrt und gleichzeitig seinen verwirrten Apostel
zügelt, auf den die Blicke der anderen elf Apostel und vieler Jünger gerichtet
sind, sagt Jesus: «Nun, weil sie dich lieben. Du hast gute Freunde unter
ihnen. Du hast es ja selbst mehrmals gesagt.»
Mit einem Seufzer der
Erleichterung wischt sich Judas den Schweiß ab, der an diesem so kalten und
windigen Tage seltsam erscheint. Dann sagt er: «Es ist wahr. Alte Freunde.
Aber ich glaube nicht, daß sie, wenn ich sündigen würde ...»
«Und würdest du dafür um
Barmherzigkeit bitten?»
«Gewiß. Ich bin noch unvollkommen
und möchte vollkommen werden.»
«Du sagst es. Auch dieses
Geschöpf ist sehr unvollkommen, und ich habe ihm Zeit gegeben, gut zu werden,
wenn es will.»
Judas entgegnet nichts mehr.
Sie sind nun auf dem Weg nach
Bethanien, schon weit von Jerusalem entfernt. Jesus bleibt stehen und sagt:
«Und ihr, habt ihr den Armen gegeben, was ich euch für sie gegeben habe? Habt
ihr alles getan, was ich euch gesagt habe?»
«Alles, Meister», sagen die
Apostel und Jünger.
«Dann hört. Ich werde euch jetzt
segnen und entlassen. Ihr zerstreut euch wie immer über Palästina und kommt
wieder zum Passahfest hier zusammen. Da dürft ihr nicht fehlen... und in
diesen Monaten stärkt eure Herzen und die Herzen derer, die an mich glauben.
Werdet immer gerechter, selbstloser und geduldiger. Seid, was ich euch zu sein
gelehrt habe. Sucht Städte, Ortschaften und vereinzelte Gehöfte auf. Geht
niemandem aus dem Weg. Ertragt alles. Nicht euch selbst dient ihr, so wie ich
nicht mir selbst, Jesus von Nazareth, diene, sondern meinem Vater. Auch ihr
dient eurem Vater, und daher müssen euch seine, nicht eure, Interessen heilig
sein, auch wenn sie euch Leid einbringen und eure menschlichen Interessen
beeinträchtigen. Habt den Geist der Selbstverleugnung und des Gehorsams. Es
kann geschehen, daß ich euch rufe oder euch befehle, zu bleiben, wo ihr
seid... kritisiert nicht meinen Befehl. Gehorcht, wie immer er auch lauten
mag, und seid fest davon überzeugt, daß er gut ist und zu eurem Besten gegeben
wird. Seid nicht neidisch aufeinander, wenn ich einige zu mir rufe und andere
nicht... Ihr seht... einige haben sich von mir getrennt, und ich habe darunter
gelitten. Es waren jene, die nach ihrem
52
eigenen Gutdünken handeln
wollten. Der Stolz ist der Hebel, der die Geister zur Empörung führt, und der
Magnet, der sie mir entreißt. Verflucht nicht die, die mich verlassen haben.
Betet, daß sie zurückkehren. Meine Hirten sollen jeweils zu zweit in der
unmittelbaren Nähe von Jerusalem bleiben. Isaak kommt vorerst mit mir, und
auch Margziam. Liebt euch sehr. Helft euch gegenseitig, meine Freunde. Alles
andere wird euch euer Geist sagen, wenn ihr euch meiner Lehre erinnert, und
eure Engel werden es euch eingeben. Ich segne euch.»
Alle werfen sich nieder, während
Jesus den mosaischen Segen spricht. Dann drängen sie sich heran, um sich von
Jesus zu verabschieden. Endlich trennen sie sich von ihm, der mit den Zwölf,
Isaak und Margziam den Weg nach Bethanien einschlägt.
«Nun werden wir kurz anhalten, um
Lazarus zu grüßen, und dann gehen wir weiter dem Jordan zu.»
«Gehen wir nach Jericho?» fragt
Judas von Kerioth neugierig.
«Nein, nach Bethabara.»
«Aber... die Nacht...»
«Es fehlt nicht an Ortschaften
und Häusern von hier bis zum Fluß ...»
Niemand spricht mehr, und außer
dem Rauschen der Ölbäume und dem Scharren der Schritte ist kein Geräusch zu
hören.
549. IM DORF UND IM HAUS SALOMONS
Um von den Leuten nicht gesehen
zu werden, betreten sie das Dorf dort, wo das Häuschen des Salomon steht,
indem sie den Damm des Flusses hinaufgehen. Diese Vorsorge ist anscheinend
unnötig, denn im November oder Ende Oktober bricht der Abend frühzeitig
herein, und die Leute sind schon in ihren Häusern. Die Straße ist
menschenleer, und würde man nicht da und dort ein Blöken hören, so könnte man
glauben, sich in einem verlassenen Ort zu befinden.
Sie rütteln am Gittertor. Es ist
verschlossen. Gut verschlossen ist der Eingang zu dem im Halbschatten sehr
ordentlich daliegenden Gärtchen.
«Ruft ihn! Er ist in der Küche.
Ein Lichtstrahl dringt durch die Fensterläden», sagt Jesus.
Thomas übernimrnt mit seiner
mächtigen Stimme die Aufgabe, den Alten zu rufen, der sogleich die Tür öffnet
und auf den Weg schaut. Aber im schwachen Licht draußen sieht er nicht viel,
zumal er aus der Küche kommt, wo das Feuer flackert und eine Lampe brennt.
Als aber Jesus sagt: «Wird sind
es», erkennt der Alte sofort seine Stimme und ruft: «Der Meister!» Er kommt
die einfache Stufe an der Schwelle herab und eilt herbei, um zu öffnen.
53
«Mein Herr, tritt ein! Tritt ein
in dein Haus, und gesegnet sei dieser Tag, der mit deiner Ankunft endet», sagt
er, während er mit dem Torschloß hantiert. Dann erklärt er: «Ich bin allein
und verschließe gut... Die Diebe sind zu allem fähig, und es gibt einige, die
bald hier, bald da Schaden anrichten. Sie kommen aus den Bergen Galaads ins
Tal. Nicht, daß ich etwa um mein Leben fürchte; aber ich habe etwas für dich
vorbereitet und... So, Meister, komm. Der Abend ist feucht, deine Haare sind
naß vom Tau ...»
«Und du bist emsiger als die
Braut im Hohenlied, Vater. Bereitet es dir nicht zu viele Unannehmlichkeiten,
den Pilger aufzunehmen?» fragt Jesus lächelnd.
«Unannehmlichkeiten? Wie lange
ist mir diese Zeit vorgekommen! Ein Tag nach dem anderen, einer nach dem
anderen. Ich hatte euren Samen ausgestreut und sah das Gemüse wachsen. Ich
sagte mir: "Wenn er käme, würde es ihm sicher schmecken." Aber alles ist zur
Reife gelangt, und du bist nicht gekommen... Und ich habe gesehen, wie die
Früchte auf den Bäumen sich färbten, und habe sie mit Wehmut gegessen, weil du
nicht davon gegessen hast. Dieses Schaf hat mir ein ganz weißes Lämmlein
geboren, und lange habe ich es aufbewahrt, um es mit dir zu essen. Ich hoffte,
dich vor dem Laubhüttenfest zu sehen. Dann... ein Lämmlein ganz für mich
allein... das ist zu viel! Ich habe es getauscht gegen ein junges Schaf, und
sie waren gut zu mir und schauten nicht auf den Preisunterschied. Aber von den
Früchten und vom Käse habe ich so viel ich nur konnte für dich aufbewahrt;
auch getrockneten Fisch, Hülsenfrüchte, einige Melonen und etwas Wein... Ich
trinke keinen, aber ich habe ihn für dich bereitet, für den Winter.»
Er spricht, während er den Tisch
abwischt und das Geschirr daraufstellt, das Feuer schürt, mehr Wasser in den
Kessel gießt und sich sonst noch zu schaffen macht. Er ist glücklich und
scheint nicht mehr der arme Alte von vor wenigen Monaten zu sein.
Er geht hinaus, kehrt zurück mit
Milch und entschuldigt sich: «Es ist wenig, denn nur ein Schaf gibt Milch.
Aber bald werden es zwei sein. Für dich allerdings genügt es.»
Er ist wirklich väterlich,
ergeben und väterlich zugleich. Er hat ihnen die feuchten Mäntel und die mit
Schlamm bedeckten Sandalen abgenommen und sie in einen anderen Raum getragen.
Und mit Äpfeln, Granatäpfeln, Weintrauben und einigen halbgetrockneten Feigen
ist er zurückgekehrt und erklärt: «Ich habe sie getrocknet, um sie dich einmal
kosten zu lassen. Ich dachte... ich erinnerte mich, daß sie meinem Ananias so
sehr gut schmeckten... !» Die vorher heitere Stimme wird tiefer vor
Traurigkeit, während er diese Worte spricht, und er endet: «Ich dachte, sie
müßten dir so schmecken, und während ich sie trocknete, hatte ich das Gefühl,
es noch für den Sohn meines Sohnes zu tun.» Er schüttelt den Kopf und zwingt
sich zu lächeln, während Tränen in seinen Augen glänzen.
54
Jesus, der am Tisch gesessen ist,
erhebt sich, legt ihm einen Arm um die Schultern und zieht den kleinen Alten
an sich mit den Worten: «Sie schmecken mir sehr. Es ist etwas, was mich an
meine Kindheit erinnert... und an meinen Vater. Aber du sollst nicht
meinetwegen auf so viele Dinge verzichten. Den Alten tun sie gut. Du mußt
gesund und stark bleiben, um mich immer aufnehmen zu können wie heute. Es ist
so schön, ein solches Haus zu finden mit einem Vater, der uns erwartet. Nicht
wahr, ihr, meine Freunde?»
«Gewiß ist es so! Und es ist so
schön, daß man ganz träge wird, und Ananias nicht hilft», sagt Petrus und
erhebt sich mit den Worten: «Auf! Gehen wir und richten wir unsere
Lagerstätten, während Jesus mit dem Mann spricht.»
«Oh, das braucht ihr nicht zu
tun, sie sind immer bereit. Es ist alles sauber und in Ordnung... Nur... sie
reichen nicht für alle! Ihr seid mehr als zwölf. Aber ich werde im Heu
schlafen und...»
«Das kommt nicht in Frage, Vater!
Ich werde dort schlafen», sagt Johannes.
«Nein, ich», sagen Andreas und
andere einstimmig.
«Das ist nicht nötig. Ich schlafe
hier auf diesem Tisch. Er ist sicher nicht härter als der Boden meiner Barke.
Und Margziam...» sagt Petrus.
«Schläft bei mir», unterbricht
ihn Jesus.
«Oder bei mir, wenn du willst...
Wie der kleine Ananias es tat», sagt der Alte mit bittenden Augen.
«Ja, Meister. Du hast mich auch
später noch. Er... ich schlafe bei ihm», sagt Margziam.
Jesus liebkost ihn voller
Verständnis für seine Geste.
«Man ist nach Pfingsten mehrmals
gekommen und hat dich gesucht; danach aber nicht mehr», sagt das Väterchen
dann.
«Wer hat ihn gesucht?»
«Pharisäer! Und andere wie sie.
Sie wollten dich ausfragen. Aber ich habe ihnen gesagt: "Geht in sein Dorf. Er
ist nicht hier und ich weiß nicht, wann er kommen wird..." Das entsprach der
Wahrheit. Schließlich haben sie es aufgegeben, hierher zu kommen. Aber sie
suchten auch einen anderen, einen gewissen Johannes, von dem sie sagten, daß
er bei dir sei, und vielleicht glaubten, daß er hier verborgen sei. Ich habe
gesagt: "Aber das ist doch sein Apostel, und er wird bei ihm sein." Sie haben
entgegnet: "Ist sein Apostel vielleicht einäugig? Ein alter, kranker Mann, der
dem Tod nah ist?" Ich habe verstanden, daß nicht du gemeint warst, und habe
geantwortet: "Ich kenne nur den Apostel Johannes, einen Jüngling, liebevoller
als ein Kind und gesund an Leib und Seele." Da haben sie mir gedroht. Aber was
konnte ich anderes sagen? Dies ist die Wahrheit ...»
«Ja, es ist die Wahrheit. Sei
immer aufrichtig, auch wenn es mir schaden könnte, Vater. Lüge nie!»
«Herr, meine Haare sind weiß
geworden, während ich mich bemüht
55
habe, immer dem Herrn zu
gehorchen. Und zu seinen Geboten gehört auch, daß man nie die Unwahrheit sagen
darf. Aber... warum suchen sie dich denn, Herr? Ich war blind. Deshalb ging
ich nicht nach Jerusalem. Jetzt bin ich wieder dort gewesen, nur zum Ritus;
denn ich wollte hier sein, um dich zu erwarten... Und ich habe dich von Haß
und Liebe umgeben gesehen. Aber es kam mir vor, als gäbe es mehr Haß als Liebe
unter den Vorstehern des Volkes. Ich war an jenem Morgen im Tempel, als sie
dich angreifen wollten... und ich, traurig, bin geflohen, um dich hier zu
erwarten und zu weinen. Warum sind die Menschen so schlecht!?»
«Weil sie ihren Geist getötet
haben und mit ihm die Fähigkeit, Gewissensbisse wegen ihres eigenen Unrechts
zu empfinden.»
«Das ist wahr... Und suchen sie
dich, um dir Böses zuzufügen?»
«Ja.»
«Ja?! Israel will seinem König
schaden? Schrecklich! Israel verurteilt sich selbst zu den prophezeiten
Strafen! ... Oh, jetzt bin ich froh, daß mein Sohn gestorben ist... Und auch
ich möchte sterben, um die Sünde Israels nicht mehr erleben zu müssen...»
Es entsteht eine große Stille.
Nur das Holz im Feuer knistert weiter.
«Aber sprechen wir doch von etwas
anderem! Immer wird nur von Tod, Haß und Verrat gesprochen! Genug, genug! Ich
kann es nicht mehr hören!» sagt Iskariot nervös, finster, unruhig und
aufgeregt, während er in der Küche herumläuft und alles an ihm in Bewegung
ist, Beine, Arme, seine ganze Person.
«Judas hat recht», sagen viele.
«Aber nichts hören wollen, nützt
nichts. Nützlich ist nur, nicht zuzustimmen», sagt Jesus und streckt in einer
Geste der Ergebung seine nach oben geöffneten Hände über den rauhen Tisch.
«Was willst du damit sagen?
Zustimmen? Wer könnte dem zustimmen?» Judas fuchtelt mit den Händen vor Jesu
Antlitz, über den Tisch gebeugt, um dem Meister näher zu sein.
«Wer? Alle, die schon davon
träumen, mich in meinem Blute sterben zu sehen. Blut! Blut deines Messias!
Blut über dich, du Erde, die du deinen Herrn nicht annehmen willst! Blut,
leuchtender als diese Flammen! Blut, Feuer in der eisigen Kälte und Finsternis
einer verbrecherischen Welt! Sie hoffen, das Licht zu töten, indem sie ihm das
Blut nehmen. Aber Licht ist der Geist, Blut ist noch Materie. Die Materie
beschwert den Geist. Blut auf einer Glimmerscheibe schwächt das Licht ab. Ist
das etwa nicht wahr? Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wie dieses Holz nicht
leuchtete, bis es zur Flamme wurde und sein Harz sich entzündete und in Glanz
verwandelte, so wie sie nun ein glühendes Leuchten sind, ebenso wird mein
Geist, wenn alles vollbracht ist und Fleisch und Blut im Opfer verzehrt sind,
mehr denn je in der Welt als Feuer erstrahlen – so wie das Feuer dort, das nun
alles in Licht verwandelt hat – und ich werde mehr
56
denn je Licht sein. Ein Licht,
das für immer die Hasser des Lichtes, seine Mörder, blenden wird. Ein so
starkes Licht, daß die goldenen Pforten des Himmels, die der Menschheit seit
so vielen Jahrhunderten verschlossen sind, schmelzen werden und der Himmel
sich den Gerechten öffnen wird. Ein Licht, das die Felsblöcke, die das Gewölbe
des Abgrundes bilden, durchdringen wird und das schreckliche Feuer der Hölle
unter den Blitzen meiner Strahlen noch schrecklicher werden läßt. Wehe, wehe
dann denen, die dem Licht nachgestellt haben! Blut und Licht! Diese beiden
Dinge werden immer vor ihren Augen sein und sie zum Wahnsinn und zur
Verzweiflung treiben. Dämonen!»
Jesus, der sich bei dem Wort
"wahrlich" erhoben und allen Furcht eingeflößt hat mit seiner stattlichen, von
den Flammen erleuchteten Gestalt in der niedrigen Küche mit ihren dunklen
Wänden, setzt sich wieder und schweigt. -
Alle schauen sich gegenseitig an.
Alle, mit Ausnahme des Judas, der wie hypnotisiert ins Feuer blickt...
hypnotisiert und entsetzt. Ein Entsetzen, das sein Gesicht in eine gräßliche
Maske verwandelt, auf deren grünlicher Blässe das rötliche Licht der Flammen
spielt. Es erinnert mich an sein entsetzliches Gesicht am Karfreitag. Dann
wendet er sich forsch um und schreit: «Aber hör doch auf! Schweige! Warum
quälst du uns», und geht hinaus und schlägt heftig die Türe zu...
«Es ist seine Art, das ist wahr.
Aber er liebt dich sehr... Er leidet, wenn er gewisse Worte hört», sagt Thomas
und fügt hinzu: «Sie tun auch uns so weh! Aber wir sind weniger... eigenartig,
ja, sagen wir: eigenartig...»
Niemand sagt ein Wort. Selbst
Jesus schweigt ...
«Das Gemüse ist gar, und die
Milch ist warm ...» flüstert der Alte, der ganz eingeschüchtert ist und nach
diesem Zwischenfall kaum noch von so gewöhnlichen Dingen zu sprechen wagt...
«Ruft Judas und laßt uns zu Abend
essen», befiehlt Jesus.
Johannes geht hinaus, um den
Gefährten zu rufen. Sie kommen zurück... Judas hat ein gequältes Aussehen. Es
muß eine Qual sein, die ihm keinen Augenblick Frieden gewährt. Er setzt sich
aber an den Tisch und erhebt sich wie die anderen, als Jesus opfert und
segnet, und sieht verstohlen zu, wie Jesus die Stücke verteilt und für sich
das letzte nimmt.
Alle möchten gern die im Raum
herrschende Traurigkeit vertreiben. Niemandem gelingt es, bis Jesus selbst
sich an den kleinen Alten wendet und sich erkundigt, ob die Leute im Dorfe und
in den Nachbarorten das Wort des Herrn aufgenommen haben.
«Ja, ja, Meister, und sogar sehr
gut. Ich würde sagen, besser als die am anderen Ufer. Weißt du... hier ist das
Andenken an den Täufer sehr lebendig, und seine Jünger, die nun die deinen
sind, halten es wach, und auf der Grundlage seiner Worte sprechen sie von dir.
Und dann... hier... in Peräa und in der Dekapolis sind nur wenige Pharisäer,
und daher...»
57
550. JESUS UND SIMON DES JONAS
Ich weiß nicht, wo sie sind;
sicher nicht mehr im Jordantal, sondern schon in den Bergen, die es
flankieren, denn ich sehe das grüne Tal und den schönen blauen Fluß tief
unten, während hohe Bergkämme hinter der weiten Hochebene, die sich östlich
des Jordans erstreckt, auftauchen.
Ich sehe Petrus, der allein auf
einer kleinen Anhöhe scharf nach Nordosten schaut und traurig seufzt. Zu
seinen Füßen liegen Holzstücke, die er wohl in den Wäldern auf diesen Hügeln
gesammelt hat. Ein kleines Dorf ist ins Grün eingebettet. Petrus ist wirklich
sehr niedergeschlagen. Schließlich setzt er sich auf sein Bündel und stützt
den Kopf in die Hände, ganz zusammengekauert. Er sitzt da, vergißt die Zeit
und alles andere und ist so in sich versunken, daß er nicht einmal aufwacht,
als einige Kinder hinter ihren hüpfenden Ziegen vorüberkommen. Die Kinder
betrachten ihn und laufen dann hinter den Ziegen her dem Dörflein zu. Die
Sonne sinkt langsam nieder, und Petrus sitzt immer noch reglos da.
Auf dem Pfad, der vom Dörflein
auf den Hügel führt, kommt Jesus herauf. Er geht vorsichtig, um Geräusche zu
vermeiden. So erreicht er die Stelle, an der Petrus sitzt, stellt sich gerade
vor ihn hin und ruft: «Simon!»
«Meister!» Petrus fährt auf und
erhebt sein verstörtes Gesicht, während er es sagt.
«Was tust du hier, Simon? Deine
Gefährten sind alle zurückgekehrt. Du allein bist nicht gekommen, und wir
haben uns Gedanken gemacht. So sehr, daß dein Bruder und die Söhne des
Zebedäus zusammen mit Thomas und Judas dich auf den Bergen gesucht haben,
während meine Brüder mit Isaak und Margziam zur Ebene hinabgestiegen sind.
«Es tut mir leid... Es tut mir
leid, daß ich euch Sorge und Mühe bereitet habe.»
«Sie haben dich gern, deine
Kameraden... Es war gerade Judas, der sich als erster Sorgen gemacht und
Margziam getadelt hat, weil er dich allein hat gehen lassen.»
«Hm...»
«Simon, was hast du?»
«Nichts, Meister.»
«Was hast du hier getan auf
diesem Hügel, so allein, während der Abend hereinbricht?»
«Ich habe herumgeschaut ...»
«Du wirst herumgeschaut haben,
Simon. Aber jetzt hast du nicht mehr geschaut... Kinder sind bei dir
vorübergekommen und haben fast Angst bekommen, daß du gestorben bist, so
zusammengekauert warst du. Sie sind zur Hürde gelaufen, wo wir Unterschlupf
gefunden haben, und haben es mir erzählt. Also bin ich gekommen... Was hast du
angeschaut, Simon?»
58
«Ich habe geschaut... in Richtung
Ramot Galaad, Gerasa, Bozrah, Arbeia... Die Reise vom vergangenen Jahr war so
schön, so... Die Mutter war bei uns! Die Jüngerinnen... Johannes von Endor...
Der Kaufmann... Selbst er war gut und hat uns zu einer guten Reise
verholfen... Wie vieles hat sich geändert! Wie verschieden ist alles... Und
wieviel Schmerz! Das ist es, was ich betrachtet habe: die Vergangenheit.»
«Und die Zukunft, mein Simon.»
Jesus setzt sich an der Seite des Petrus auf das Bündel, legt ihm einen Arm um
die Schultern und spricht zu
ihm: «Du hast den Horizont
angeschaut... und die Traurigkeit hat ihn dir verdüstert. Die Gegenwart hat
wie ein Wirbelwind furchterregende Wolken aufgehäuft, die heiteren
Erinnerungen voller Versprechungen und Hoffnungen verhüllt und dir Furcht
eingejagt. Simon, du durchlebst eine jener Stunden der Traurigkeit und des
Verdrusses, denen unsere menschliche Natur auf ihrer Wanderschaft begegnet.
Kein Mensch ist davon ausgenommen. Denn der Urheber dieser Stunden ist der,
der den Menschen haßt. Und je mehr der Mensch Gott dient, um so mehr versucht
Satan,
ihm Angst einzujagen und ihn zu
ermüden, um ihn von seiner Aufgabe abzubringen. Außerdem erliegst du einer
Stunde der Müdigkeit... Das
ständige Hämmern der Verfolgung
auf deinen Meister ermüdet dich. Und schließlich – du weißt nicht, daß nicht
du es bist, der da spricht, sondern der Versucher – hörst du auf eine Stimme,
die dir zuflüstert: "Und morgen? ... Was wird morgen sein?..."»
«Herr, das ist wahr. Du liest in
meinem Herzen. Aber du siehst auch, daß ich mich das frage, nicht weil ich für
mich selbst fürchte, sondern weil... Ich könnte es nicht mitansehen, wenn du
gequält würdest... Du sprichst oft von Verbrechen, von Verrat. Ich... Oh, ich
bin nicht der einzige! Wie viele, besonders von den Alten, haben dich gebeten,
sterben zu dürfen, um nicht zu sehen, wie ihr König beleidigt wird! Und ich...
Du weißt es... du bist alles für mich. Nichts, was nicht du bist, interessiert
mich. Es ist nicht, wie Judas sagt, Heimweh nach dem Boot und der Frau...
Schau: Du siehst, ob ich die Wahrheit sage. Ich habe so darauf
gedrungen, Margziam zu bekommen.
Mein menschliches Gefühl wollte wenigstens einen Adoptivsohn haben anstelle
der Kinder, die mir meine
Frau nicht schenken konnte, was
mich als Mann, der sich fortpflanzen wollte, beschämte. Aber jetzt, heute...
ich liebe ihn, ja. Doch wenn du ihn mir nehmen wolltest, würde ich keinen
Widerstand leisten. Ich würde dir
nur sagen... Aber nein! Ich würde
nichts sagen!»
«Du würdest mir nur sagen ... ?
Vollende.»
«Es ist nutzlos, Meister.»
«Sprich!»
«Ich würde sagen: "Gib ihn dem,
der ihn besser als ich zu einem Gerechten erziehen kann." Mehr nicht! Und
auch... und das sage ich und weine über sein Schicksal, über mein eigenes, das
meines Bruders, das des
59
Johannes und des Jakobus ... auch
über das der anderen... aber wir, wir sind deine ersten gewesen ...» Petrus
kniet nieder und lehnt sich an die Knie Jesu, die Hände erhoben, die
Handflächen nach oben gewendet, flehend und mit Tränen auf den Wangen, die
sich in seinem Bart verlieren... «... Ich sage es unseretwegen: Laß uns
sterben, nimm uns fort, bevor wir... Oh! Ich habe gedacht, ich denke seit
Monaten immer daran, und du siehst, daß es ein Gedanke ist, der an mir nagt
und mich altern läßt... Es ist eine beständige Furcht, die mir keine Ruhe
läßt, nicht einmal im Schlaf. Ich denke, wenn es wirklich so geschehen wird,
wie du sagst, dann könnte auch ich der Verräter sein, oder Andreas, oder
Johannes, oder Jakobus, oder Margziam... Und wenn es auch nicht so weit käme,
dann doch einer von denen, von denen du vor drei Tagen bei Ananias gesprochen
hast; einer von denen, die soweit gehen, dein Blut zu fordern, oder auch einer
von denen, die sich aus Feigheit nicht widersetzen wollen und dem Bösen
zustimmen aus Furcht vor dem Bösen... Ich... Wenn ich auch nur durch
Tatenlosigkeit und aus Furcht zustimmen würde... Meister, oh! Mein Meister,
dann würde ich mir das Leben nehmen, um mich zu strafen, oder... ich würde
deine Mörder töten, wenn ich ihnen begegnete. Ich... Wenn du das nicht willst,
laß mich vorher sterben, sofort, hier... Das Leben ist nichts... aber gegen
die Liebe zu dir zu fehlen... einer von denen zu sein... zu sehen und
nicht...» Er ist so erregt, daß ihm sogar die Worte fehlen. Er legt sein
Antlitz unter herben Tränen auf die Knie Jesu und weint, wie nur ein etwas
rauher, alter und wenig an das Weinen gewöhnter Mann weinen kann, der von
allzu vielen Gefühlen überwältigt wird.
Jesus legt ihm die Hände aufs
Haupt, wie um diesen Schmerz zu mildern und die finsteren Gedanken zu
zerstreuen, und tröstet: «Mein Freund, und du glaubst, daß der gerechte Herr,
wenn du dich auch in jener Stunde nicht als vollkommen erweisen solltest,
deine jetzige Liebe und dein jetziges Wollen nicht gegen deinen Fehler
aufwiegen würde? Und fürchtest du, daß dieses goldene Lieben und Wollen
weniger wiegen könnte als deine momentane Unvollkommenheit, daß es ungenügend
wäre, um dir die Verzeihung Gottes zu erlangen und mit der Verzeihung alle
Hilfe, um dich, meinen geliebten Petrus, wieder auf den rechten Weg zu
bringen?»
«Laß mich sterben! Rette mich!
Ich habe Angst!»
«Du bist mein Fels, Simon. Kann
ich den Fels zerbröckeln, auf dem ich gründen werde, was mich auf Erden
verewigen soll?»
«Ich bin dessen unwürdig, ich
fühle es. Ich bin ein armer unwissender Mensch, ein Sünder. Alle schlechten
Neigungen sind in mir. Ich bin nicht würdig, ich bin nicht würdig! Ich werde
ein Verruchter sein, ein Mörder, von allem das Schlimmste... Laß mich sterben.
Verstehe, daß wenn ich entdecken sollte, wer dich haßt ...»
60
«Es ist eine ganze Welt, die mich
haßt ' Simon. Man muß verzeihen ...»
«Ich spreche vom Hauptschuldigen.
Einen Hauptschuldigen wird es geben und...»
«Es wird viele dieser Art geben,
und alle werden ihre vorrangige Aufgabe haben ...»
«Welche Aufgabe? Jene... Oh! Laß
es mich nicht aussprechen! Aber ich ...»
«Aber du mußt verzeihen wie ich
und mit mir. Warum erregst du dich so und überlegst, was du tun könntest, um
zu strafen? Überlaß dem Herrn diese Aufgabe. Du, liebe und verzeihe; habe
Mitleid und verzeihe.
Sie, alle die, die deinem Jesus
gegenüber schuldig sein werden, bedürfen so sehr der Hilfe, um Verzeihung zu
erlangen!»
«Es gibt keine Verzeihung für
sie.»
«Oh! Wie streng bist du mit den
Brüdern, Simon! Ja, es gibt Verzeihung auch für sie, wenn sie sich bessern.
Wehe, wenn all denen, die mich beleidigen, nicht verziehen werden könnte! Auf,
steh auf, Simon. Sicherlich machen sich deine Gefährten noch größere Sorgen,
da sie sehen, daß
auch ich nicht mehr in der Hürde
bin. Doch auch wenn wir sie noch eine Weile leiden lassen, wollen wir beten,
bevor wir zu ihnen zurückkehren.
Beten wir zusammen. Es gibt kein
anderes Mittel, um Frieden, geistige Kraft, Liebe und Barmherzigkeit
wiederzufinden... auch für uns selbst. Das Gebet vertreibt die Phantome
Satans, läßt uns Gottes Nähe fühlen,
und mit Gott an der Seite kann
man alles in Gerechtigkeit und mit Verdienst bewältigen und ertragen. Beten
wir also, ich und du zusammen, hier auf diesem Berg, von dem aus man einen so
großen Teil unseres Vaterlandes überblicken kann, so wie sich vor Moses auf
dem Nebo das Gelobte Land ausbreitete. Wir sind glücklicher als er, denn wir
können diesem Lande, das das Land des Gesalbten sein wird, das Wort und das
Heil bringen. Ich zuerst, und dann du. Schau. Im letzten Licht des Abends
sieht man noch die Berge von Judäa. Aber jenseits von ihnen liegt die Ebene,
das Meer, dann andere Länder, die Welt... Sie, sie alle warten auf dich,
Petrus. Sie erwarten dich, um zu erfahren, daß es einen wahren Gott gibt:
einen Gott, der den Seelen, die im Dunkel des Heidentums und des
Götzendienstes umhertaumeln, das wahre Licht gibt. Schau, das irdische Licht
schwindet. Wie können sich die Wanderer in einer Nacht ohne Licht
orientieren? Sieh, dort ist der
Polarstern. Er steigt schon herauf, um die Wanderer zu führen. Meine Religion
wird der Stern sein, der die geistig
Wandernden auf dem Weg zum Himmel
führt. Und du wirst so eins sein mit ihr, daß du ein Licht mit mir und meiner
Lehre sein wirst, o mein Petrus, o mein gesegneter Fels. Beten wir für die
Stunde, in der die Menschen gerettet werden durch meinen Namen. "Vater unser,
der du bist im Himmel..."»
Er betet langsam das Vaterunser,
während er Petrus an der Hand hält;
61
und es scheint, als ob er ihn dem
Vater empfehle, als er die Arme und die Hände erhebt und dabei in seiner
Rechten die Linke des Petrus hält.
«Und nun steigen wir hinab und
lassen die unnütze Traurigkeit und die unnützen Sorgen über die Zukunft hier
zurück. Zusammen mit dem täglichen Brot wird uns der Vater morgen und alle
Tage seine Hilfe erweisen. Bist du davon überzeugt, Simon?»
«Ja, Meister, ich glaube es»,
sagt Petrus fest. Sein Antlitz ist jetzt nicht mehr verwirrt, sondern ernst,
wie es seit wenigen Monaten immer ist, so daß er ein anderer zu sein scheint.
Er ist nicht mehr der rauhe, widerspenstige Fischer, der er in den ersten zwei
Jahren war.
Sie gehen hinunter, Jesus voran,
Petrus mit seinem Bündel hinterher, und schon fast beim ersten Haus der
Ortschaft treffen sie die aufgeregten Apostel.
«Aber wo bist du denn
hingegangen?» rufen sie Petrus zu.
«Wir wären schon längst hier
gewesen, aber ich habe mich mit ihm im Gespräch aufgehalten, während wir nach
Gerasa blickten ...» antwortet Jesus für ihn.
Sie biegen rechts ab zu einem
halb verfallenen Schafstall. Hinter einem ebenfalls halb eingefallenen und im
übrigen wackeligen, morschen Bretterzaun steht ein schlecht gedecktes
Schutzdach, das auf drei Seiten von einer groben Mauer getragen wird und auf
der vierten mit einer Bretterwand nur mangelhaft verschlossen ist. Drinnen ist
nichts als etwas Stroh am Boden und eine einfache Feuerstätte in einer Ecke.
Ich vermute, daß man sie im Dorf
nicht aufgenommen hat und sie sich deshalb hierher geflüchtet haben.
551. JESUS SPRICHT MIT THADDÄUS
UND
JAKOBUS DES ZEBEDÄUS
«Aber willst du wirklich diesen
Weg einschlagen? Das scheint mir aus vielen Gründen unklug zu sein ...» wendet
Iskariot ein.
«Warum? Sind sie nicht aus dieser
Gegend bis nach Kapharnaum zu mir gekommen, um Heilung und Weisheit zu
erlangen? Sind nicht auch sie Geschöpfe Gottes?»
«Ja... aber... es ist nicht
ratsam für dich, so nahe an die Burg Machaerus heranzukommen. Es ist ein für
die Feinde des Herodes gefährliches Gebiet.»
«Machaerus ist noch weit entfernt
und ich habe keine Zeit, bis dorthin zu gehen. Ich möchte nach Petra und noch
weiter... Aber ich werde nur halb so weit kommen, oder noch weniger. Aber
gehen wir auf jeden Fall ...»
62
«Joseph hat dir geraten ...»
«Auf bewachten Straßen zu
bleiben. Dies ist gerade der Weg von Transjordanien, den die Römer stark
bewachen. Ich bin nicht feige, Judas, und auch nicht unklug.»
«Ich würde mich nicht hintrauen
und mich auch nicht von Jerusalem entfernen. Ich ...»
«Aber laß ihn doch machen, den
Meister. Er ist der Meister, und wir sind seine Jünger. Wann hat man je
gesehen, daß der Schüler dem Meister
einen Rat erteilt?» sagt Jakobus
des Zebedäus.
«Wann? Es ist noch nicht lange
her, daß dein Bruder dem Meister gesagt hat, nicht nach Achor zu gehen, und er
hat ihm Gehör geschenkt. Jetzt möge er auch mich anhören.»
«Du bist eifersüchtig und
anmaßend. Wenn mein Bruder gesprochen hat und angehört wurde, so ist das ein
Zeichen dafür, daß seine Worte gerechtfertigt waren und es verdienten,
angehört zu werden. Es genügte,
Johannes damals anzusehen, um zu
wissen, daß es richtig war, auf ihn zu hören.»
«Oh! Bei all seiner Weisheit war
er nie imstande ihn zu verteidigen, und er wird es auch nie können. Hingegen
ist es noch nicht lange her, daß ich es getan habe, als ich nach Jerusalem
kam.»
«Da hast du nur deine Pflicht
getan. Auch mein Bruder hätte es getan, und anders, denn er kann nicht einmal
zu einem guten Zweck lügen, und darüber bin ich froh ...»
«Du beleidigst mich! Du nennst
mich einen Lügner.»
«Soll ich dich vielleicht
aufrichtig nennen, weil du geschickt gelogen hast und ohne die Farbe zu
wechseln?»
«Ich habe es getan ...»
«Ja, ich weiß. Ich weiß! Um den
Meister zu retten. Aber so etwas gilt bei mir nicht, und bei keinem von uns.
Uns gefällt die einfache Antwort des Alten besser. Wir ziehen es vor, zu
schweigen, töricht genannt und auch mißhandelt zu werden, als zu lügen; denn
man beginnt damit zu einem guten Zweck und endet mit einem üblen Zweck.»
«Ein schlechter Mensch, ja. Ich
nicht. Einer, der töricht ist. Ich nicht.»
«Nun ist's genug! Obwohl jeder
recht hat, endet ihr damit, im Unrecht zu sein; auf andere Art, als ihr es
euch gegenseitig vorwerft, denn euer Unrecht besteht darin, daß ihr gegen die
Liebe fehlt... Was ich über die Aufrichtigkeit denke, wißt ihr alle. Was ich
von eurer Liebe fordere, wißt ihr auch. Gehen wir. Diese eure Streitereien
sind mir unangenehmer als die Schmähungen der Feinde.»
Jesus, offensichtlich beunruhigt,
beginnt schnell und allein vorauszugehen auf einer Straße, die man, auch ohne
Archäologe zu sein, als von den Römern gebaut erkennt. Sie führt nach Süden,
fast geradeaus, soweit das Auge reicht, zwischen zwei recht ansehnlichen
Bergketten. Es ist eine
63
eintönige und wegen der Wälder,
die sie säumen und den Horizont verbergen, düstere Straße, aber sie ist in
gutem Zustand. Von Zeit zu Zeit führt eine römische Brücke über Bergbäche oder
Flüßchen, die gewiß dem Jordan oder dem Toten Meer zu fließen. Ich kann es
nicht genau sagen, denn die Berge hindern mich, nach Westen zu schauen, wo der
Fluß und das Meer liegen müssen. Auf der Straße die eine oder andere Karawane,
die vielleicht vom Roten Meer heraufkommt und wer weiß wohin zieht mit vielen
Kamelen, Kameltreibern und Kaufleuten offensichtlich anderer Rasse als der
hebräischen.
Jesus geht immer allein voraus.
Hinter ihm, in zwei Gruppen, die Apostel, die sich miteinander unterhalten.
Als erste die Galiläer, dahinter die Judäer mit Andreas, Johannes und zwei
Jüngern, die sich ihnen angeschlossen haben. Von den beiden Gruppen versucht
die eine Jakobus zu trösten, der ziemlich niedergeschlagen ist wegen des
Tadels des Meisters. Die andere versucht Judas dazuzubringen, nicht immer so
eigensinnig und angriffslustig zu sein. Und beide Gruppen sind sich darin
einig, daß sie den beiden Getadelten raten, zum Meister zu gehen und Frieden
mit ihm zu schließen.
«Ich? Ich gehe sofort. Ich weiß,
daß ich recht habe. Ich weiß, was ich tue. Nicht ich war es, der etwas Böses
angedeutet hat. Ich gehe», sagt Iskariot. Keck, unverschämt, würde ich sagen.
Er beschleunigt den Schritt, um Jesus einzuholen. Ich frage mich wieder
einmal, ob er schon damals bereit war, Jesus zu verraten, und sich bereits mit
seinen Feinden verschworen hatte...
Jakobus hingegen, im Grund der
weniger Schuldige, ist so niedergeschlagen darüber, dem Meister Schmerz
bereitet zu haben, daß er nicht den Mut hat, zu ihm nach vorne zu gehen. Er
schaut ihn an, seinen Meister, der nun mit Judas spricht... Er betrachtet ihn,
und auf seinem Antlitz ist das Verlangen nach einem Wort der Verzeihung zu
lesen. Aber gerade seine aufrichtige, beständige, starke Liebe läßt ihm seinen
Fehler unverzeihlich erscheinen.
Jetzt haben sich die beiden
Gruppen zusammengeschart, und auch Simon der Zelote, Andreas, Thomas und
Jakobus sagen: «Aber geh doch! Als ob du ihn nicht kennen würdest! Er hat dir
ja schon verziehen!» Und mit viel Scharfsinn legt der alte, weise Bartholomäus
die Hand auf die Schulter des Jakobus und sagt: «Ich sage dir: um keinen neuen
Sturm zu entfachen, hat er euch beide gleicherweise getadelt. Aber in seinem
Herzen hat er nur Judas gemeint.»
«So ist es, Tholmai! Mein Bruder
bringt übermenschliche Geduld auf im Ertragen dieses Menschen, den er auf den
rechten Weg zurückführen will, und er wird nie müde, uns überzeugen zu wollen,
daß Judas so ist... wie wir sind. Er ist der Meister, und ich... bin ich...
Aber wenn ich er wäre, oh, dann wäre der Mann von Kerioth nicht bei uns», sagt
Thaddäus, und seine herrlichen Augen, die an die des Herrn erinnern, blitzen.
64
«Glaubst du? Hast du einen
Verdacht? Welchen?» sagen mehrere.
«Nichts. Nichts Bestimmtes. Aber
dieser Mann gefällt mir nicht.»
«Er hat dir nie gefallen, Bruder.
Eine unbegründete Abneigung, die von der ersten Begegnung herstammt. Du hast
es mir einmal gestanden. Das ist gegen die Liebe. Du solltest sie überwinden,
wenn auch nur, um Jesus eine Freude zu bereiten», sagt ruhig und überzeugend
Jakobus des Alphäus.
«Du hast recht, aber... es
gelingt mir nicht. Komm, Jakobus, gehen wir zusammen zu meinem Bruder.» Und
Judas des Alphäus nimmt Jakobus des Zebedäus energisch am Arm und zieht ihn
mit sich.
Judas hört sie kommen, dreht sich
um und sagt etwas zu Jesus. Jesus bleibt stehen und erwartet sie. Judas
betrachtet den gedemütigten Apostel mit boshaftem Blick.
«Entschuldige, laß uns einen
Augenblick allein. Ich muß mit meinem Bruder sprechen», sagt Thaddäus höflich,
aber in sehr trockenem Ton.
Iskariot lächelt ein wenig und
entfernt sich dann mit einem Achselzucken, um sich den anderen anzuschließen.
«Jesus, wir sind Sünder ...» sagt
Judas Thaddäus.
«Ich bin ein Sünder, nicht du»,
murmelt Jakobus mit geneigtem Haupt.
«Wir sind Sünder, Jakobus, denn
was du getan hast, habe ich gedacht und dir in meinem Herzen zugestimmt. Daher
bin auch ich ein Sünder. Denn meinem Herzen entspringt das Urteil gegen Judas,
das meine Liebe befleckt... deshalb habe auch ich gesündigt... Jesus, sagst du
deinen Jüngern, die ihre Sünde bekennen, nichts?»
«Was soll ich sagen, was ihr
nicht schon wißt? Ändern meine Worte etwa euer Benehmen gegenüber eurem
Kameraden?»
«Nein, wie auch er sich nicht
ändert durch die Worte, die du ihm sagst», antwortet er aufrichtig für sich
und im Namen der anderen seinem Vetter.
«Laß sein, Judas, laß sein! Ich
habe gefehlt. Um mich geht es, und um mich muß ich mich kümmern, nicht um
andere. Meister, beunruhige dich nicht meinetwegen ...»
«Jakobus, ich möchte von dir und
von allen nur eines. Ich leide so viel wegen der Verständnislosigkeit, der ich
begegne... wegen so viel hartnäckigen Widerstandes. Ihr seht es ja... Für
jeden Ort, der mir Freude bereitet, stehen drei, die es nicht tun und mich wie
einen Übeltäter vertreiben. Aber dieses Verständnis und diese Anhänglichkeit,
die die anderen mir nicht entgegenbringen, möchte ich wenigstens von euch
erfahren. Daß die Welt mich nicht liebt, daß ich das Gefühl habe zu ersticken
bei all diesem Haß, dieser Abneigung, dieser Feindseligkeit und diesen
Verdächtigungen, die mich umgeben, bei den Häßlichkeiten aller Art, der
Selbstsucht und all dem, was nur meine unendliche Liebe zum Menschen mich
ertragen läßt, ist schmerzlich; aber ich kann es noch mit Duldsamkeit
65
ertragen. Ich bin gekommen, dies
zu erleiden von denen, die das Heil hassen. Aber ihr! Nein, das ertrage ich
nicht! Daß ihr unfähig seid, einander zu lieben und mich zu verstehen. Daß ihr
meinen Geist nicht annehmt und euch nicht bemüht zu tun, was ich tue.
Glaubt ihr denn, könnt ihr
wirklich alle glauben, daß ich die Fehler des Judas nicht sehe, daß mir irgend
etwas von ihm unbekannt ist? Oh! Seid überzeugt, daß es nicht so ist. Doch
wenn ich im Geiste vollkommene Wesen um mich haben wollte, hätte ich die Engel
Fleisch annehmen lassen und mich mit ihnen umgeben. Ich hätte es tun können.
Wäre das aber wirklich gut gewesen? Nein. Es wäre Selbstsucht und Verachtung
meinerseits gewesen. Ich wäre dem Schmerz entgangen, den mir eure
Unvollkommenheiten bereiten, und ich hätte die Menschen verachtet, die mein
Vater erschaffen und so sehr geliebt hat, daß er mich gesandt hat, um sie zu
retten. Was die Menschen angeht, wäre es ein Schaden für die Zukunft gewesen.
Wenn ich nach Vollendung meiner Sendung mit meinen Engeln wieder in den Himmel
zurückgekehrt wäre, was und wer wäre dann auf Erden zurückgeblieben, um meine
Mission fortzusetzen? Welcher Mensch hätte die Kraft besessen, das zu tun, was
ich sage, wenn nur ein Gott und Engel das Beispiel eines neuen, vom Geiste
geleiteten Lebens gegeben hätten? Es war notwendig, daß ich mich in Fleisch
kleide, um den Menschen zu überzeugen, daß er, wenn er will, in jeder Weise
keusch und heilig sein kann. Und ich mußte Menschen wählen, die mit ihrem
Geist dem Aufruf meines Geistes Folge leisten, ohne Rücksicht darauf, ob sie
nun reich oder arm, gelehrt oder unwissend, Städter oder Dorfbewohner waren.
Ich mußte sie nehmen, so wie ich sie fand, und mit Hilfe meines und ihres
Willens langsam Meister für andere Menschen aus ihnen machen.
Der Mensch kann dem Menschen
glauben, dem Menschen, den er sieht. Denn für den Menschen, der so tief
gefallen ist, ist es schwierig, einem Gott zu glauben, den er nicht sieht. Die
Blitze auf dem Sinai hatten noch nicht aufgehört zu leuchten, und schon frönte
man am Fuße des Berges dem Götzendienst... Moses, dessen Antlitz man nicht
anzuschauen vermochte, war noch nicht gestorben, und schon sündigte man gegen
das Gesetz. Aber wenn ihr einst, in Meister umgewandelt, als Beispiel, als
Zeugnis, als Sauerteig unter den Menschen sein werdet, dann können sie nicht
mehr sagen: "Das sind zu den Menschen herabgestiegene Wesen, und wir können
sie nicht nachahmen." Sie werden sagen müssen: "Das sind Menschen wie wir. Sie
unterliegen denselben Instinkten und Trieben wie wir, aber sie wissen diesen
Instinkten und Trieben zu widerstehen und sie reagieren ganz anders als wir in
unserer Roheit." Und sie werden sich überzeugen, daß der Mensch sich
vergöttlichen kann, wenn er nur den Willen hat, auf den Wegen Gottes zu
wandeln. Beobachtet die Heiden und die Götzendiener. Ihr ganzer Olymp und all
ihre Götzen, machen sie
66
sie etwa besser? Nein. Denn wenn
sie ungläubig sind, sagen sie, daß ihre Götter Hirngespinste sind, und wenn
sie gläubig sind, denken sie: "Sie sind Götter, und wir sind Menschen! Und sie
geben sich keine Mühe, sie nachzuahmen. Ihr aber sollt euch bemühen, so zu
werden, wie ich bin. Habt keine Eile. Der Mensch entwickelt sich langsam vom
vernunftbegabten Lebewesen zum geistigen Wesen. Habt Verständnis und Nachsicht
füreinander! Niemand, außer Gott, ist vollkommen.
Nun ist alles vorbei, nicht wahr?
Arbeitet mit festem Willen an euch und tut es Simon des Jonas nach, der in
weniger als einem Jahr Riesenfortschritte gemacht hat. Und doch... Wer von
euch war mehr Mensch als Simon mit allen Mängeln einer an das Irdische
gebundenen Menschlichkeit?»
«Es ist wahr, Jesus. Dieser Mann
ist Gegenstand meines beständigen Studiums und meiner Bewunderung», bekennt
Thaddäus.
«Ja, ich bin seit unserer
Kindheit mit ihm zusammen. Ich kenne ihn, als ob er mein Bruder wäre. Aber
jetzt habe ich einen ganz neuen Simon vor mir. Ich muß gestehen, daß ich
damals, und nicht nur ich allein, als du ihn zu unserem Haupt ernannt hast,
sehr verblüfft war. Er schien mir der am wenigsten Geeignete von allen zu
sein. Simon, im Vergleich zum anderen Simon und zu Nathanael! Simon, im
Vergleich zu meinem Bruder und zu deinen Brüdern! Vor allem diese fünf. Er
schien mir wirklich ein Fehlgriff zu sein... Jetzt bekenne ich, daß du recht
gehabt hast.»
«Und ihr seht nur die Oberfläche
des Simon, ich aber sehe in die Tiefe. Um vollkommen zu sein, hat er noch viel
zu tun und zu leiden. Doch wie glücklich wäre ich, wenn ihr alle seinen guten
Willen hättet, seine Einfachheit, seine Demut und seine Liebe ...»
Jesus schaut vor sich hin. Er
scheint irgend etwas zu sehen, wer weiß was. In Gedanken versunken lächelt er
bei dem, was er sieht. Dann senkt er seinen Blick auf Jakobus und lächelt ihm
zu.
«Also... Hast du mir verziehen?»
«Ich wollte, ich könnte allen so
verzeihen wie dir... Schau, diese Stadt muß wohl Hesbon sein. Der Mann hat
gesagt: "Nach der Brücke mit den drei Bögen kommt die Stadt." Warten wir auf
die anderen, damit wir alle zusammen die Stadt betreten können.»
552. JESUS UND DER MANN AUS PETRA
BEI HESBON
Ich sehe die Stadt Hesbon nicht.
Jesus und die Seinen verlassen sie bereits, und in den Gesichtern der Apostel
lese ich, daß es ein Mißerfolg gewesen ist. In einer Entfernung von einigen
Metern folgt ihnen, oder vielmehr, werden sie verfolgt von einer schreienden,
drohenden Schar...
67
«Diese Orte um das Salzmeer herum
sind verflucht wie das Meer selbst», sagt Petrus.
«Dieser Ort ist genauso wie zur
Zeit Moses, und du bist viel zu gut, um ihn zu bestrafen, wie es damals
geschah. Aber hier wäre es am Platz. Man sollte sie durch die Mächte des
Himmels und der Erde unterjochen, alle, bis zum letzten Mann und zum letzten
Ort», sagt Nathanael aufgeregt und mit einem Blitzen des Unmuts in seinen
tiefliegenden Augen. Die jüdische Rasse macht sich stark bemerkbar bei dem
hageren, alten Apostel in seinem heftigen Unwillen. In diesem Augenblick
ähnelt er vielen der Rabbis und Pharisäer, die Jesus immer widersprechen.
Dieser wendet sich um und erhebt
seine Hand mit den Worten: «Friede! Friede! Auch sie werden noch von der
Wahrheit angezogen werden. Aber dazu gehört Friede. Mitleid muß man mit ihnen
haben. Wir sind noch nie hierher gekommen, und sie kennen uns nicht. Auch
andere Orte waren das erste Mal so und haben sich dann geändert.»
«Es kommt daher, daß es Orte sind
wie Masada. Sie sind verkauft! Kehren wir zum Jordan zurück», drängt Petrus.
Aber Jesus geht auf der
Militärstraße, die sie nun wieder eingeschlagen haben, weiter nach Süden. Die
am meisten gegen ihn Aufgebrachten verfolgen ihn immer noch und lenken die
Aufmerksamkeit der Vorüberziehenden auf sich.
Ein reicher Kaufmann, oder doch
wenigstens einer, der für einen Kaufmann arbeitet und eine lange, nach Norden
ziehende Karawane anführt, beobachtet erstaunt die Szene und hält sein Kamel
an. Und mit dem seinen bleiben auch alle anderen stehen. Er schaut Jesus an,
schaut die Apostel an, die so wehrlos und gutartig aussehen, dann schaut er
die schreienden, drohenden Menschen, die ihnen folgen, an und befragt die
letzteren neugierig. Seine Worte höre ich nicht, aber das als Antwort
geheulte: «Es ist der verfluchte Nazarener, der Verrückte, der Besessene. Wir
wollen ihn nicht in unseren Mauern haben!»
Der Mann fragt nicht weiter,
wendet sein Kamel um, ruft einem der Seinen, der ihm nahe gefolgt ist, etwas
zu und treibt sein Tier an, das in wenigen Sätzen die Apostel erreicht. «Im
Namen eures Gottes, wer von euch ist Jesus von Nazareth?» fragt er die Apostel
Matthäus, Philippus, Simon den Zeloten und Isaak, die das letzte Grüppchen
bilden.
«Warum fragst du das? Willst auch
du ihn belästigen? Genügt es nicht, wenn es schon seine Landsleute tun? Willst
auch du dich noch einmischen?» fragt Philippus ziemlich beunruhigt.
«Ich bin besser als sie. Und
bitte um Gnade. Weist mich nicht ab. Ich bitte euch im Namen eures Gottes.»
Irgend etwas in der Stimme des
Mannes überzeugt die vier, und Simon antwortet: «Der erste ganz vorne zwischen
den beiden jüngeren Männern.»
68
Der Mann treibt erneut sein Tier
an, denn Jesus, der vorher schon vorausgegangen ist, hat während des kurzen
Gespräches, das er nicht gehört hat, wieder ein gutes Stück Weg zurückgelegt.
«Herr, höre einen Unglücklichen
an...» sagt er, als er ihn erreicht hat.
Jesus, Johannes und Margziam
wenden sich verwundert um.
«Was willst du?»
«Ich bin aus Petra, Herr. Und
bringe für Rechnung anderer Waren, die vom Roten Meer kommen, nach Damaskus.
Ich bin nicht arm, aber es ist mir, als wäre ich es. Ich habe zwei Kinder,
Herr, die an einem Augenleiden
erkrankt und nun erblindet sind.
Eines, das erste, das erkrankte, ist vollständig blind, und das andere wird es
auch bald sein, denn sein Augenlicht ist schon sehr schwach. Die Ärzte wirken
keine Wunder, aber du wohl.»
«Woher weißt du das?»
«Ich kenne einen reichen
Kaufmann, der dich kennt. Er macht immer bei mir halt. Manchmal arbeite ich
auch für ihn. Als er meine Kinder sah, sagte er: "Nur Jesus von Nazareth
könnte sie heilen. Suche ihn auf" Ich hätte dich gesucht, aber ich habe wenig
Zeit und muß mich an die für die Transporte geeignetsten Wege halten.»
«Wann hast du Alexander gesehen?»
«Zwischen euren beiden Festen im
Frühling. Seither habe ich noch zwei weitere Reisen unternommen, aber ich bin
dir nie begegnet. Herr, habe Erbarmen mit mir!»
«Mann, ich kann nicht nach Petra
gehen, und du kannst die Karawane nicht alleinlassen ...»
«Doch, ich kann es. Arisa ist
zuverlässig. Ich schicke ihn langsam voraus und eile selbst nach Petra. Mein
Kamel ist schneller als der Wüstenwind und geschmeidiger als eine Gazelle. Ich
hole die Kinder und einen anderen treuen Diener und bin gleich wieder bei dir.
Du heilst sie... Oh,
gib ihren schwarzen Augensternen,
die nun von dichten Nebeln verdunkelt sind, das Licht wieder! Ich will dann
weiterreisen, während sie zur Mutter zurückkehren. Ich sehe, daß du
weitergehst, Herr. Wohin führt dich deine Reise?»
«Ich bin auf dem Weg nach Dibon
...»
«Geh nicht dorthin. Es ist voll
von ... von denen aus Machaerus. Ver-
fluchte Orte, Herr. Verweigere
dich nicht den Unglücklichen, Herr, um dich den Verfluchten zu geben.»
«Genau das, was ich gesagt habe»,
brummt Bartholomäus in seinen Bart, und viele geben ihm recht.
Sie haben sich nun alle um Jesus
und den Mann aus Petra versammelt. Die Bewohner von Hesbon hingegen treten den
Rückzug an, da sie sehen,
daß die Karawane den Verfolgten
wohlgesinnt ist. Die Karawane selbst steht still und wartet auf das Ergebnis
der Unterredung und auf einen Befehl.
69
«Mann, wenn ich die Städte im
Süden nicht besuchen kann, gehe ich wieder nach Norden. Und es ist nicht
gesagt, daß ich dich erhöre.»
«Ich weiß, daß ich für euch von
Israel ein Verworfener bin. Ich bin ein Unbeschnittener und verdiene keine
Erhörung. Aber du bist der König der Welt, und in der Welt sind auch wir.»
«Das ist es nicht. Es ist... wie
kannst du glauben, daß mir gelingt, was den Ärzten nicht gelungen ist?»
«Weil du der Messias Gottes und
sie nur Menschen sind. Du bist der Sohn Gottes. Misaze hat es mir gesagt, und
ich glaube ihm... Du kannst alles tun, auch für einen Armen wie ich es bin.»
Aus seiner Antwort klingt volle Überzeugung, und der Mann bestätigt sie
dadurch, daß er zu Boden gleitet, ohne das Kamel niederknien zu lassen, und
sich vor Jesus in den Staub wirft.
«Dein Glaube ist größer als der
Glaube vieler. Geh hin. Weißt du, wo der Berg Nebo ist?»
«Ja, Herr. Der Berg dort ist der
Nebo. Auch wir kennen Moses. Er ist groß. Zu groß, um uns nicht bekannt zu
sein. Aber du bist größer. Im Vergleich zu Moses bist du wie ein Berg
gegenüber einem Felsen.»
«Geh nach Petra. Ich werde dich
auf dem Nebo erwarten ...»
«Am Fuße des Berges ist ein Dorf
für die Besucher des Nebo mit Herbergen... In spätestens zehn Tagen kann ich
dort sein. Ich werde das Tier zur Eile antreiben, und wenn der, der dich
sendet, mich beschützt, werde ich nicht in einen Sturm geraten.»
«Geh und kehre so schnell als
möglich zurück. Ich muß noch anderswohin gehen ...»
«Herr, ich ... bin nicht
beschnitten. Mein Segen ist für dich eine Schmach, doch der eines Vaters ist
es nie. Ich segne dich und gehe.»
Er nimmt ein silbernes Pfeifchen
und pfeift dreimal. Der Mann an der Spitze der Karawane kommt im Galopp
herbei. Sie sprechen miteinander und verabschieden sich. Dann kehrt der Mann
zur Karawane zurück, die sich nun in Bewegung setzt. Der andere besteigt
wieder sein Kamel und reitet im Galopp nach Süden. Jesus und die Seinen setzen
ihren Weg fort.
«Gehen wir wirklich zum Nebo?»
«Ja. Wir werden statt der Städte
die Hänge der Abarim-Berge aufsuchen. Dort sind viele Hirten. Sie werden uns
den Weg zum Berg Nebo zeigen können, und wir weisen ihnen den Weg zum Berg
Gottes. Dann bleiben wir dort einige Tage, wie wir es auf den Bergen von
Arbela und beim Kerith gemacht haben.»
«Oh, das wird schön sein! Dort
werden wir besser werden. Immer, wenn wir solche Orte verlassen haben, sind
wir danach stärker und besser geworden», sagt Johannes.
«Und du wirst uns von all dem
erzählen, woran der Nebo erinnert. Bruder, weißt du noch, als wir noch Kinder
waren und du eines Tages Moses
70
spieltest, der vor seinem Tode
Israel segnete?» sagt Judas des Alphäus. «Ja, und deine Mutter erschrak, als
sie dich auf dem Boden ausgestreckt sah wie einen Toten! Jetzt gehen wir
wirklich zum Nebo», sagt Jakobus des Alphäus.
«Und du wirst Israel segnen, du,
der wahre Führer des Gottesvolkes!»ruft Nathanael aus.
«Aber du stirbst uns nicht. Du
wirst nie sterben, nicht wahr, Meister?»fragt Judas von Kerioth mit einem
eigenartigen Lächeln.
«Ich werde sterben und
auferstehen, wie es geschrieben steht. Viele Menschen werden tot sein an jenem
Tag, ohne gestorben zu sein. Und während die Gerechten auferstehen werden,
auch wenn sie schon seit Jahren tot sind, werden die nur im Fleische Lebenden,
im Geiste aber an jenem Tag endgültig Toten, nicht auferstehen. Hüte dich
davor, nicht zu diesen zu gehören.»
«Und du, hüte dich davor, andere
hören zu lassen, daß du auferstehen wirst. Man hält es für eine
Gotteslästerung», erwidert Judas Iskariot.
«Es ist die Wahrheit. Und ich
sage sie.»
«Was für einen Glauben hat jener
Mann! Und dieser Misaze!» sagt der Zelote, um sie auf ein anderes Thema zu
bringen.
«Aber wer ist denn Misaze?»
fragen die, die im vergangenen Jahr nicht an der Reise nach Transjordanien
teilgenommen haben. Dann entfernen sie sich im Gespräch über diese Dinge,
während Jesus, Margziam und Johannes das zuvor unterbrochene Gespräch wieder
aufnehmen.
553. DER ABSTIEG VOM BERG NEBO
«Ich werde immer mit Sehnsucht an
diesen Berg und diesen Frieden im Herrn denken», sagt Petrus, während sie auf
einer ziemlich unwegsamen Seite des Berges ins Tal hinabsteigen.
Sie befinden sich in einer sehr
hohen Bergkette. Gegen Osten, jenseits des Tales und auch im Süden erheben
sich weitere Berge, und im Norden noch höhere. Im Nordwesten sehe ich das
grüne Tal des Jordan, der ins Tote Meer mündet. Im Westen zunächst das dunkle
Meer, und dann die unfruchtbare Felswüste, nur von der herrlichen Oase Engedi
unterbrochen, und die Berge von Judäa. Ein beeindruckendes, weit ausgedehntes
Panorama. Das Auge kann hinschauen, wo es will, und beim Anblick von so viel
üppiger Vegetation, die man bewohnt weiß oder vermutet, den düsteren, selbst
in der Sonne dunklen Asphaltsee, ohne Segel, ohne Leben, mit seiner traurigen
flachen, langen Halbinsel, die sich vom Ostufer bis fast in die Mitte des Sees
erstreckt vergessen. Aber was für Pfade führen ins Tal! Nur wilde Tiere können
sich auf diesen Pfaden wohlfühlen. Und
71
wenn man sich nicht an Ästen und
Büschen festhalten könnte, wäre es unmöglich, vom Gipfel hinabzusteigen, was
Iskariot zum Spotten veranlaßt.
«Und doch würde ich gerne wieder
einmal hierher zurückkommen», erwidert Petrus.
«Dann hast du einen besonderen
Geschmack. Dieser Ort hier ist noch schlimmer als der erste und der zweite.»
«Aber nicht schlimmer als der
Ort, an dem sich unser Meister auf die Verkündigung der Frohen Botschaft
vorbereitet hat», entgegnet Johannes.
«Ja, für dich ist immer alles
schön... !»
«Ja. Alles, was meinen Meister
umgibt, ist schön und gut, und ich liebe es.»
«Paß auf, zu diesem Alles gehöre
auch ich... und oft sind zudem Pharisäer, Sadduzäer, Schriftgelehrte und
Herodianer da... Liebst du auch sie?»
«Er liebt sie.»
«Und du, ha, ha, ha! Du machst es
wohl wie er? Doch er ist er, und du bist du. Ich weiß nicht, ob du immer
lieben können wirst, du, der du schon bleich wirst, wenn du nur von Verrat und
Tod reden hörst oder jemanden siehst, der so etwas tun will.»
«Ein Zeichen, daß ich noch sehr
unvollkommen bin, wenn ich mich aufrege aus Angst um ihn und aus Unwillen über
die Bösewichter.»
«Ah! Du regst dich also auch aus
Unwillen auf? Das hätte ich nicht gedacht... Wenn du nun eines Tages sehen
müßtest, daß jemand wirklich dem Meister schadet, was würdest du dann tun?»
«Ich? Das fragst du mich? Im
Gesetz steht: "Auge um Auge, Zahn um Zahn." Meine Hände würden sich wie eine
Zange um seinen Hals legen.»
«Oh, oh! Er sagt, man müsse
verzeihen! Ist dies das Ergebnis deiner Betrachtung?»
«Laß mich in Ruhe, du
Störenfried! Warum versuchst und verwirrst du mich? Was hast du in deinem
Herzen? Ich wollte, ich könnte darin lesen ...»
«Wer die Wasser des Toten Meeres
erforscht, dem eröffnet sich nicht das Geheimnis ihrer Tiefen. Diese Wasser
sind wie ein Grabstein über der Verwesung, die sie unter sich begraben haben»,
sagt hinter ihrem Rücken Bartholomäus, der hinter allen anderen
zurückgeblieben ist. Diese gehen mehr oder weniger voraus und haben nichts
gehört. Bartholomäus hingegen hat sie gehört und mischt sich mit einem
mahnenden Blick in das Gespräch der beiden ein.
«Oh, der weise Tholmai! Aber du
willst doch wohl nicht sagen, daß ich dem Salzmeer gleiche?»
«Ich habe nicht mit dir, sondern
mit Johannes gesprochen. Komm mit mir, Sohn des Zebedäus. Ich werde dich nicht
verwirren», und er nimmt
72
Johannes am Arm, wie um Halt zu
suchen, er, der Alte, bei dem behenden jungen Gefährten.
Judas bleibt allein zurück und
macht hinter ihrem Rücken eine häßliche Gebärde des Zornes. Es scheint, als ob
er sich selbst etwas schwöre oder drohe...
«Was wollte Judas sagen, und was
wolltest du sagen?» fragt Johannes den schon alten Nathanael.
«Denke nicht daran, mein Freund.
Denken wir lieber an all das, was uns der Meister in diesen Tagen erklärt hat.
Wie gut wir nun Israel verstehen!»
«Das ist wahr. Aber ich begreife
nicht, daß die Welt ihn nicht versteht.»
«Nicht einmal wir verstehen ihn
vollständig, Johannes. Wir wollen ihn nicht verstehen. Siehst du nicht, wie
schwer wir uns tun, seine messianische Idee anzunehmen?»
«Ja, in allem glauben wir ihm
blindlings, nur in diesem Punkt nicht. Du, der du gelehrt bist, kannst du mir
den Grund dafür angeben? Wir,
die wir die Rabbis für
begriffsstutzig halten, was Christus betrifft, warum gelangen nicht einmal wir
zu dieser vollkommenen Idee vom geistigen Königtum des Messias?»
«Ich habe es mich oft selbst
gefragt; denn ich möchte zu dem gelangen,
was du eine vollkommene Idee
nennst. Und ich glaube mich damit zufriedengeben zu können, daß ich mir selbst
sage, daß das, was sich in uns wehrt – die wir doch bereit sind, ihm nicht nur
in Person und in seiner Lehre, sondern auch geistig zu folgen – diese Idee zu
akzeptieren, all die Jahrhunderte sind, die wir hinter uns haben... und die in
uns stecken. In
uns. Verstehst du? Schau nach
Osten, Süden und Westen. Jeder Stein ist mit einer Erinnerung verbunden und
hat einen Namen. Jeder Fels, jede Quelle, jeder Pfad, jedes Dorf oder Schloß,
jede Stadt, jeder Fluß und jeder Berg, woran erinnern sie uns? Was wollen sie
uns mitteilen? Das Versprechen eines Erlösers. Die Barmherzigkeit Gottes gegen
sein Volk. Wie Öltropfen aus einem löcherigen Schlauch, so breitete sich mit
Abraham die ursprünglich kleine Gruppe, der Kern des künftigen Volkes Israel
über die Welt bis zum fernen Ägypten aus. Dann kehrte sie, immer zahlreicher
geworden und mit dem Reichtum immer umfassenderer und sichererer Versprechen
und Zeichen der Väterlichkeit Gottes, in das Land des Stammvaters Abraham
zurück. Es wurde ein wahres Volk, denn es war ausgestattet mit einem Gesetz,
heilig wie kein anderes. Aber was ist dann
geschehen? Das, was mit dem
Gipfel dort geschehen ist, der noch vor kurzem in der Sonne erglänzte. Schau
ihn jetzt an. Er ist in Wolken gehüllt, die sein Aussehen völlig verändern.
Wenn man nicht wüßte, daß es derselbe Gipfel ist und daß man sich nach ihm
richten muß, um den rechten Weg zu finden, würden wir ihn noch erkennen,
jetzt, da Wolken ihn umgeben, die Bergrücken und Jochen gleichen? In uns ist
dasselbe geschehen. Der
73
Messias ist, was Gott unseren
Vätern und den Patriarchen und Propheten gesagt hat. Unwandelbar. Aber das,
was wir von dem Unsrigen hinzugefügt haben, um... ihn uns zu erklären mit
unserer armseligen menschlichen Weisheit, das ist es, was uns einen Messias,
eine so falsche ideelle Gestalt des Messias, geschaffen hat, daß wir den
wahren Messias nicht mehr erkennen. Wir, mit den Jahrhunderten und
Geschlechtern, die uns vorausgegangen sind, glauben an einen Messias, den wir
uns selbst geschaffen haben, an einen Rächer, einen menschlichen, sehr
menschlichen König, und es gelingt uns nicht, obwohl wir behaupten zu glauben,
den Messias und König zu verstehen, wie er wirklich ist, wie ihn Gott versteht
und gewollt hat. Das ist es, mein Freund!»
«Aber wird es uns dann nie
gelingen, uns, wenigstens uns, den wahren Messias zu sehen, an ihn zu glauben
und ihn zu wollen?»
«Es wird uns gelingen. Wenn wir
das nicht erreichen könnten, hätte er uns nicht erwählt. Und wenn die
Menschheit es nie fertigbrächte, aus dem Kommen des Messias Nutzen zu ziehen,
hätte ihn der Allerhöchste nicht gesandt.»
«Aber er wird die Schuld
wiedergutmachen auch ohne die Hilfe der Menschheit. Durch sein alleiniges
Verdienst.»
«Mein Freund, schon die Erlösung
von der Erbschuld wäre großartig. Aber nicht komplett. Denn des Menschen Seele
ist nicht nur von der Erbsünde, sondern auch von individuellen Sünden
befleckt. Und diese bedürfen, um abgewaschen zu werden, eines Erlösers und des
Glaubens dessen, der zu ihm seine Zuflucht nimmt als zu seinem Heiland. Ich
denke mir, daß die Erlösung fortdauern wird bis ans Ende der Zeiten. Christus
wird keinen Augenblick untätig sein, nachdem er der Erlöser geworden ist und
der Menschheit das Leben gegeben hat, das in ihm ist... so wie eine Quelle
beständig jedem zu trinken gibt, der Durst hat, Tag für Tag, Monat für Monat,
Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert. Und die Menschheit wird immer des
Lebens bedürfen. Er kann nicht aufhören, es dem zu geben, der auf ihn hofft
und an ihn glaubt mit Weisheit und Gerechtigkeit.»
«Du bist gelehrt, Nathanael. Ich
bin ein armer ungebildeter Junge.»
«Du verwirklichst durch deinen
geistigen Instinkt, was mir nur durch mühsame Gedankenarbeit gelingt: die
Umwandlung von uns Israeliten in Christen. Aber du wirst schneller am Ziele
sein, denn du liebst mehr als du nachdenkst, und es ist die Liebe, die dich
führt und formt.
«Du bist gut, Nathanael. Wären
wir doch alle wie du!» Johannes seufzt laut.
«Denk nicht daran, Johannes!
Beten wir für Judas», sagt der alte Apostel, der den Seufzer des Johannes
verstanden hat...
«Oh! Auch ihr seid da! Wir haben
euch kommen sehen. Was habt ihr so viel miteinander zu reden?» fragt Thomas
lächelnd.
74
«Wir haben vom alten Israel
gesprochen. Wo ist der Meister?»
«Er ist mit den Brüdern und Isaak
vorausgegangen zu einem kranken Hirten. Er hat uns gesagt, wir sollen auf
dieser Straße weitergehen bis zum Pfad, der auf den Gipfel führt.»
«Gehen wir also.»
Sie steigen nun auf einem weniger
halsbrecherischen Weg hinab zu einem Saumpfad, der auf den Nebo führt. Einige
Häuser stehen im Wald
verstreut. Etwas tiefer, fast im
Tal, liegt ein wirkliches Dorf, strahlend weiß auf dem schon fast in die Ebene
übergehenden Hang. Von dem Sträßchen, auf dem sie sich befinden, sehen sie
Leute ins Dorf gehen.
«Sollen wir dort den Mann aus
Petra erwarten?» fragt Petrus.
«Ja, das ist die Ortschaft.
Hoffen wir, daß er schon angekommen ist. In diesem Fall setzen wir morgen den
Weg zum Jordan fort. Ich weiß nicht, aber ich fühle mich hier gar nicht
sicher», sagt Matthäus.
«Der Meister hat gesagt, daß wir
noch viel weiter gehen», sagt Iskariot.
«Ja, aber ich hoffe, daß er sich
vom Gegenteil überzeugen wird.»
«Aber wovor fürchtest du dich
denn? Vor Herodes? Vor seinen Schergen?»
«Schergen gibt es nicht nur bei
Herodes. Oh, da kommt der Meister!
Die Hirten sind zahlreich und
glücklich. Sie sind gewonnen. Es sind Nomaden. Sie werden hingehen und die
gute Nachricht verbreiten, daß der Messias in seinem Lande ist», sagt wiederum
Matthäus.
Jesus ist mit einem Gefolge von
Hirten und Herden bei ihnen angelangt.
«Gehen wir. Wir werden den Ort
gerade noch im letzten Licht erreichen. Diese hier werden für Herberge sorgen.
Sie sind bekannt.» Jesus ist glücklich, unter einfachen Menschen zu sein, die
an den Herrn zu glauben wissen.
554. «DIE FINSTERNIS WEIST DAS
LICHT AB»
Es ist ein schöner Herbstmorgen.
Abgesehen von den gelben und roten
Blättern, die den Boden bedecken
und an die Jahreszeit erinnern, ist das Gras so grün mit seinen Blümlein, die
durch den Oktoberregen aus den wiedererwachten Wurzelstöcken hervorgesproßt
sind, und die Luft, die
durch die teils schon entlaubten
Ästen zieht, ist so ruhig, daß man auf den Gedanken kommen könnte, der
Frühling sei angebrochen. Um so mehr,
als die immergrünen Bäume
zwischen den anderen mit jährlich sich erneuernden Blättern, mit ihren jungen
smaragdgrünen Blättchen an den Spitzen der Zweige eine fröhliche Note auch in
die kahlen Äste der übrigen Bäume bringen und es aussieht, als ob diese die
ersten Blättchen treiben
würden. Die Schafe kommen aus
ihren Hürden und machen sich blökend mit den Lämmlein des Herbstwurfes auf den
Weg zu den Weiden. Das Wasser des Brunnens am Eingang des Dorfes glänzt wie
flüssiger Diamant unter dem Kuß der Sonne und erzeugt bei seinem Fall in das
dunkle Becken ein vielfarbiges Glitzern vor einer im Laufe der Zeit
geschwärzten Hauswand.
Jesus setzt sich auf ein
Mäuerchen, das auf der einen Seite den Weg begrenzt, und wartet. Die Seinen
und die Bewohner des Dorfes stehen um ihn herum, während die Hirten mit ihren
Herden, um sich nicht zu weit zu entfernen, anstatt weiter hinaufzugehen sich
auf beiden Seiten des Weges der Ebene verteilen.
Auf dem Weg, der vom Tal zum Nebo
führt, kommt im Augenblick niemand.
«Wird er auch wirklich kommen?»
fragen die Apostel.
«Er wird kommen, und wir werden
auf ihn warten. Ich will nicht eine erwachende Hoffnung enttäuschen und einen
künftigen Glauben zerstören», antwortet Jesus.
«Gefällt es euch nicht bei uns?
Wir haben euch das Beste gegeben, was wir hatten», sagt ein Alter, der sich in
der Sonne wärmt.
«Besser als anderswo, Vater. Und
eure Güte wird von Gott belohnt werden», antwortet ihm Jesus.
«Dann sprich noch zu uns.
Bisweilen kommen eifernde Pharisäer und hochmütige Schriftgelehrte hierher.
Aber sie würdigen uns keines Wortes. Es ist recht so. Sie sind in ihrer
Erhabenheit getrennt von... allem, und sie sind weise. Aber wir... Dürfen wir
denn gar nichts wissen, weil das Schicksal uns hier hat zur Welt kommen
lassen?»
«Im Haus meines Vaters gibt es
weder Trennungen noch Unterschiede für jene, die zum Glauben an ihn gelangen
und sein Gesetz befolgen. Dieses ist der Kodex seines Willens, damit der
Mensch als Gerechter lebe und den ewigen Lohn in seinem Reich verdiene.
«Hört! Ein Vater hatte viele
Söhne. Einige lebten in beständigem engem Kontakt mit ihm, andere lebten aus
verschiedenen Gründen etwas weiter vom Vater entfernt. Da sie jedoch die
Wünsche des Vaters kannten, konnten sie trotz der Entfernung, die sie von ihm
trennte, so handeln, als wäre er zugegen. Wieder andere waren noch weiter
entfernt und vom Tag ihrer Geburt an von Knechten, die andere Sprachen
sprachen und andere Sitten hatten, aufgezogen worden; aber sie bemühten sich,
dem Vater zu dienen, entsprechend dem Wenigen, das sie, mehr instinktiv als
bewußt, als ihm wohlgefällig erachteten. Der Vater, der gar wohl wußte, daß
seine Knechte sich trotz seiner Anordnungen nicht bemüht hatten, diesen
entfernt lebenden Kindern seine Wünsche bekanntzumachen, da sie sie in ihrem
Hochmut für minderwertig und ungeliebt hielten, nur weil sie nicht beim Vater
wohnten, wollte eines Tages seine ganze Nachkommenschaft
76
um sich versammeln und rief sie
zu sich. Glaubt ihr nun, daß er nach den Richtlinien des menschlichen Rechtes
urteilte und seine Güter nur an die
verteilte, die immer in seinem
Haus gewesen waren oder doch wenigstens so nahe bei ihm gelebt hatten, daß die
Entfernung sie nicht hinderte, seine Befehle und Wünsche kennenzulernen? Nein,
er ging nach ganz anderen Grundsätzen vor und berücksichtigte die Taten derer,
die aus Liebe zum Vater gerecht gewesen waren; dieses Vaters, den sie nur dem
Namen nach kannten, den sie aber durch all ihre Handlungen geehrt hatten. Er
ließ sie zu sich kommen und sprach: "Doppelt groß ist euer Verdienst, denn ihr
seid einzig und allein durch euren guten Willen und ohne jegliche Hilfe
gerecht gewesen. Kommt und schart euch um mich: es ist euer gutes Recht! Die
Ersteren haben mich immer bei sich gehabt, und jede ihrer
Handlungen wurde geleitet von
meinem Rat und belohnt mit meinem Lächeln. Ihr mußtet einzig im Glauben und in
der Liebe handeln. Kommt, denn in meinem Haus ist euer Platz bereit. Seit
langem ist er bereit, und
in meinen Augen besteht kein
Unterschied zwischen denen, die immer in meinem Haus waren, und denen, die
weit entfernt lebten. Unterschiedlich sind nur die Handlungen meiner Söhne, ob
nahe oder fern von mir."
Dies ist das Gleichnis. Und die
Auslegung ist folgende: Es könnte sein, daß die Schriftgelehrten und
Pharisäer, die jetzt nahe beim Tempel leben, einst in der Ewigkeit nicht im
Haus Gottes wohnen, und daß viele, die so weit entfernt leben, daß sie die
Dinge Gottes nur in großen Zügen kennen,
einst in seinem Schoße sein
werden. Denn was das Reich erlangen läßt, ist der gute Wille des Menschen, der
nach dem Gehorsam gegenüber Gott strebt, und nicht die Unzahl von Praktiken
und Weisheiten.
Tut daher, was ich euch gestern
gesagt habe. Tut es ohne übermäßige, lähmende Furcht, und tut es ohne den
berechnenden Hintergedanken, daß ihr dadurch der Strafe entgeht. Tut alles nur
aus Liebe zu Gott, der euch erschaffen hat, um euch zu lieben und von euch
geliebt zu werden; dann werdet ihr einen Platz im Haus des Vaters haben.»
«Oh, sprich noch weiter zu uns!»
«Was soll ich euch sagen?»
«Gestern hast du gesagt, daß es
Opfer gibt, die Gott wohlgefälliger sind als die Lämmer und Widder, und daß es
einen Aussatz gibt, der abscheulicher ist als der des Fleisches. Ich habe
deine Gedanken nicht richtig verstanden», sagt ein Hirte und schließt mit den
Worten: «Weißt du,
wie viele Opfer man bringen muß,
bevor ein Lämmlein ein Jahr alt und das schönste der Herde ist, ohne Fehl und
Makel, und weißt du, wie viele Versuchungen man überwinden muß, um es nicht
zum Leithammel zu machen oder es als solchen zu verkaufen? Wenn man nun ein
ganzes Jahr
solchen Versuchungen widersteht,
sich um das Tier sorgt und mit dem Herzen an dieser Perle der Herde hängt,
weißt du, welch ein Opfer und wie schmerzlich es dann ist, es darzubringen,
und überdies keinen direkten
77
Nutzen davon zu haben? Kann man
dem Herrn ein größeres Opfer darbringen?»
«Lieber Mann, ich sage dir: Das
Opfer besteht nicht in dem geopferten Tier, sondern in der Überwindung, die es
dich gekostet hat, es aufzuziehen, um es zu opfern. Wahrlich, ich sage dir,
der Tag wird kommen, an dem geschieht, was das eingegebene Wort verkündet, und
Gott wird sagen: "Ich bedarf nicht der Opfer der Lämmer und der Böcke", und er
wird ein einziges und vollkommenes Opfer verlangen. Von jener Stunde an wird
jedes Opfer geistiger Art sein. Aber schon seit Jahrhunderten sagt Gott,
weiches Opfer ihm am wohlgefälligsten ist. David ruft seufzend aus: "All die
Opfer erfreuen dich nicht; wollte ich Brandopfer bringen, du nimmst sie nicht
an. Mein Opfer, o Gott, ist ein reuiger Sinn (und ich füge hinzu: ein
gehorsames und liebevolles Herz; denn man kann auch Opfer des Lobes, der
Freude und der Liebe bringen, nicht nur Sühneopfer). Mein Opfer, o Gott, ist
ein reuiger Sinn; ein Herz voll Demut und Reue wirst du, o Gott, nicht
verschmähen." Nein, er verschmäht nicht einmal ein Herz, das gesündigt und
bereut hat, dieser euer Vater. Wie wird er dann erst das Opfer eines reinen
und gerechten Herzens, das ihn liebt, annehmen. Dieses ist das ihm
wohlgefälligste Opfer: das tägliche Opfer, das der menschliche Wille dem
göttlichen darbringt, der sich kundgibt im Gesetz, in den Eingebungen und in
den täglichen Ereignissen. So ist nicht der Aussatz des Fleisches der
beschämendste, der den Kontakt mit Menschen und heiligen Orten ausschließt,
sondern der Aussatz der Sünde. Es ist wahr, daß die Menschen diesen letzteren
oft übersehen. Aber lebt ihr für die Menschen oder für den Herrn? Endet alles
hier auf Erden oder geht es weiter nach dem Tode? Ihr wißt es. Seid also
heilig, um nicht Aussätzige zu sein in den Augen Gottes, der in die Herzen der
Menschen schaut, und bewahrt die Reinheit des Geistes, um dereinst zu leben in
Ewigkeit.»
«Und wenn jemand schwer gesündigt
hat?»
«Dann soll er es nicht wie Kain
machen, oder wie Adam und Eva. Er eile vielmehr zu Füßen Gottes, und bitte ihn
in aufrichtiger Reue um Verzeihung. Ein Kranker, ein Verwundeter begibt sich
zum Arzt, um geheilt zu werden. Ein Sünder gehe zu Gott, um Verzeihung zu
erlangen. Ich ...»
«Du hier, Meister?» ruft einer,
der auf dem Weg heraufkommt und ganz in seinen Mantel gehüllt und von vielen
anderen umgeben ist.
Jesus wendet sich um und schaut
ihn an.
«Erkennst du mich nicht? Ich bin
Rabbi Sadok. Hier und da begegnen wir uns.»
«Die Welt ist immer klein, wenn
Gott die Menschen einander begegnen lassen will. Wir werden uns nochmals
begegnen. Indes, der Friede sei mit dir.»
Der andere erwidert den
Friedensgruß nicht, sondern fragt: «Was tust du hier?»
78
«Das, was du zu tun gedenkst,
habe ich getan. Ist dir dieser Berg nicht heilig?
«Du sagst es. Und ich komme mit
meinen Schülern hierher. Aber ich bin ein Schriftgelehrter.»
«Und ich bin ein Sohn des
Gesetzes. Daher verehre ich Moses, wie du ihn verehrst.»
«Das ist eine Lüge. Du hebst sein
Wort durch das deinige auf und verlangst, daß man deinem Wort gehorche und
nicht mehr dem unseren.»
«Dem euren nicht; denn es ist
euer Wort, und es ist unnötig.»
«Unnötig? Entsetzlich!»
«Nein. Ebenso unnötig wie die
vielen wallenden Zizith, die dein Gewand zieren, überflüssig sind, um dich vor
der Herbstluft zu schützen. Es
ist nämlich das Gewand, das dich
schützt. So nehme ich von den vielen Worten, die gelehrt werden, nur die
notwendigen, heiligen, die mosaischen an und um die anderen kümmere ich mich
nicht.»
«Samariter! Du glaubst nicht an
die Propheten.»
«Die Propheten achtet ihr selbst
nicht. Wenn ihr auf sie hören würdet, würdet ihr mich nicht einen Samariter
nennen.»
«Aber laß ihn doch in Ruhe,
Sadok. Willst du mit einem Dämon sprechen?» sagt einer der Pilger, der mit
anderen Leuten hinzugekommen ist.
Dann läßt er seinen strengen
Blick über die Gruppe um Jesus schweifen, sieht Judas von Kerioth und grüßt
ihn spöttisch.
Vielleicht wäre es zu einem
unangenehmen Zwischenfall gekommen, denn die Dorfbewohner wollen Jesus
verteidigen, doch da drängt sich, gefolgt von einem Diener, der Mann aus Petra
schreiend durch die Menge. Sowohl er als auch sein Knecht haben ein Kind in
den Armen. «Laßt mich durch! Herr, habe ich dich zu lange warten lassen?»
«Nein, Mann. Komm zu mir.»
Die Leute bilden eine Gasse, um
ihn durchzulassen. Er kommt zu Jesus, kniet nieder und legt ein Mädchen auf
die Erde, dessen Köpfchen in Linnen gehüllt ist. Der Diener tut das gleiche
mit einem Knaben, der trübe Augen hat.
«Meine Kinder, Meister und Herr!»
sagt er, und in diesen wenigen Worten liegt der ganze Schmerz und die ganze
Hoffnung eines Vaters.
«Du hast einen großen Glauben,
Mann. Und wenn ich dich enttäuscht hätte? Wenn du mich nicht gefunden hättest?
Wenn ich dir sagen würde, daß ich sie nicht heilen kann?»
«Ich würde dir nicht glauben. Und
ich würde mich auch nicht mit der Tatsache abfinden, dich nicht anzutreffen.
Ich würde sagen, daß du dich verborgen hast, um meinen Glauben zu prüfen, und
würde dich suchen, bis ich dich gefunden hätte.»
«Und die Karawane? Und dein
Verdienst?»
79
«Oh, die! Was sind sie im
Vergleich zu dir, der du meine Kinder heilen und mir einen starken Glauben an
dich schenken kannst?»
«Enthülle das Antlitz des
Mädchens», gebietet Jesus.
«Ich halte es bedeckt, weil es
sehr unter dem Licht leidet.»
«Es wird nur ein kurzer Schmerz
sein», sagt Jesus.
Aber die Kleine fängt an, ganz
verzweifelt zu weinen und will nicht, daß man ihr die Binde abnimmt.
«Sie tut es, weil sie glaubt, daß
du sie mit Feuer quälen willst wie die Ärzte», erklärt der Vater, der sich
bemüht, die Händchen des Kindes von den Binden zu nehmen.
«Oh, fürchte dich nicht, mein
Kind. Wie heißt du?»
Die Kleine weint und antwortet
nicht. Der Vater antwortet für sie. «Tamar, nach dem Ort ihrer Geburt; und der
Junge Fara.»
«Weine nicht, Tamar. Ich tue dir
nicht weh. Fühle meine Hände. Sie haben nichts in den Fingern. Komm auf meinen
Schoß. Inzwischen will ich deinen Bruder heilen.. und er wird dir sagen, was
er empfunden hat. Komm hierher, Knabe.»
Der Diener schiebt ihm den
kleinen Blinden vor die Füße. Jesus streichelt seinen Kopf und fragt ihn:
«Weißt du, wer ich bin?»
«Jesus von Nazareth, der Rabbi
von Israel, der Sohn Gottes.»
«Willst du an mich glauben?»
«Ja.»
Jesus legt ihm eine Hand auf die
Augen und bedeckt so mehr als die Hälfte seines Gesichtes. Er sagt: «Ich will!
Und das Licht der Pupillen möge den Weg zum Licht des Glaubens öffnen.» Dann
nimmt er seine Hand weg.
Das Kind stößt einen Schrei aus,
hebt die Hände zu den Augen und sagt dann: «Vater, ich sehe!» Aber es eilt
nicht zum Vater. In seiner kindlichen Unbefangenheit hängt es sich an den Hals
Jesu, küßt ihn auf die Wangen und bleibt so, an seinem Hals, das Köpfchen an
die Schulter Jesu gelehnt, um die Augen langsam wieder an das Sonnenlicht zu
gewöhnen.
Die Menge drückt ihr Staunen über
das Wunder aus, während der Vater den Knaben vom Hals Jesu lösen möchte.
«Laß ihn nur. Er stört mich
nicht. Nun, Fara, sage deiner Schwester, was ich dir getan habe.»
«Eine Liebkosung, Tamar. Es war,
als wäre es die Hand der Mutter gewesen. Oh, werde auch du gesund, dann können
wir wieder zusammen spielen!»
Das Mädchen läßt sich mit noch
einigem Widerstreben auf die Knie Jesu setzen, der es heilen will, ohne auch
nur die Binde zu berühren. Aber die Schriftgelehrten und ihre Begleiter
schreien: «Das ist ein Betrug. Das Mädchen kann sehen. Es ist eine
Verschwörung, um euren guten Glauben zu täuschen, Bewohner dieser Ortschaft.»
80
«Meine Tochter ist krank. Ich
...»
«Laß sie nur! Du, Tamar, bist
jetzt brav und läßt mich die Binden entfernen.»
Das Mädchen, nunmehr überzeugt,
läßt ihn gewähren. Welch ein Anblick, als auch das letzte Linnentuch gefallen
ist! Zwei rote, verkrustete und geschwollene Wunden anstelle der Augen, aus
denen Tränen und Eiter tropfen. Durch das Volk geht ein Flüstern des
Schauderns und des Mitleids, während das Kind seine Händchen vors Gesicht
hält, um sich vor dem Licht zu schützen, unter dem es offensichtlich furchtbar
leidet.
Die roten Schläfen zeugen von
frischen Brandwunden.
Jesus entfernt die Händchen,
berührt sanft diese elenden Augen, legt eine Hand darauf und spricht dabei:
«Vater, der du das Licht geschaffen hast zur Freude der Lebenden und selbst
der Mücke Augen gegeben hast,
gib diesem deinem Geschöpf das
Augenlicht wieder, damit es dich sehe und an dich glaube und aus dem Licht der
Erde durch den Glauben eingehe in das Licht deines Reiches.» Dann nimmt er
seine Hand weg...
«Oh!» rufen alle aus.
Es sind keine Wunden mehr zu
sehen. Aber die Kleine hält die Augen noch geschlossen.
«Öffne sie, Tamar. Fürchte dich
nicht. Das Licht wird dir nicht mehr wehtun.»
Das Kind gehorcht etwas ängstlich
und hebt Lider über den lebhaften schwarzen Äuglein.
«Mein Vater! Ich sehe dich!» Und
auch sie lehnt ihr Köpfchen an die
Schulter Jesu, um sich langsam an
das Licht zu gewöhnen.
Die Menge ist außer sich vor
Begeisterung, während der Mann aus Petra sich vor Freude schluchzend zu Füßen
Jesu wirft.
«Dein Glaube hat seinen Lohn
erhalten. Von nun an möge deine Dankbarkeit deinen Glauben an den Menschensohn
in die höchste Sphäre tragen: in die des wahren Gottes... Erhebe dich und laß
uns gehen.»
Jesus stellt das Mädchen, das
glücklich lächelt, auf den Boden, löst sich aus den Armen des Knaben und steht
auf. Er liebkost die Kinder noch einmal und will durch den Kreis der Menschen
gehen, die sich um ihn drängen, um die geheilten Augen zu sehen.
«Auch du solltest um Heilung für
deine verschleierten Augen bitten», sagt ein Jünger zu einem Alten, der an der
Hand geführt wird, da er fast nichts mehr sieht.
«Ich?! Ich?! Ich will nicht das
Licht von einem Dämon erhalten. Vielmehr rufe ich zu dir, o ewiger Gott! Höre
mich! Vollständige Finsternis gib mir, damit ich nicht das Antlitz des Dämons,
dieses Dämons, dieses Gotteslästerers, dieses Anmaßenden, Frevlers und
Gottesmörders sehen muß. Möge die Finsternis für immer auf meine Augen
herabsteigen. Die Finsternis, die Finsternis, um ihn niemals sehen zu müssen,
niemals!» Er
81
selbst scheint ein Dämon zu sein!
In seiner Erregung schlägt er sich auf die Augen, als wolle er sie
zerschlagen.
«Fürchte dich nicht! Du wirst
mich nicht sehen. Die Finsternis scheut das Licht, und das Licht drängt sich
dem, der es abweist, nicht auf. Ich gehe, alter Mann. Auf Erden wirst du mich
nicht mehr sehen. Aber du wirst mich dennoch sehen, an einem anderen Ort.»
Und in großer Betrübnis, die der
leicht nach vorne geneigte Gang sehr großer Leute noch betont, macht sich
Jesus auf den Weg hinunter. So betrübt ist er, daß er schon dem Verurteilten
gleicht, der, beladen mit dem Kreuz, den Moriah hinabsteigt. Und das Gebrüll
der Feinde, aufgestachelt von dem wütenden Alten, gleicht sehr dem Toben der
Menschenmenge von Jerusalem am Karfreitag.
Der Mann aus Petra, das ängstlich
weinende Kind in den Armen, flüstert bestürzt: «Wegen mir, Herr! Durch meine
Schuld! So viel Gutes tust du mir! Und ich! Im Gepäck auf dem Kamel sind
einige Sachen für dich. Aber was ist das im Verhältnis zu den Beleidigungen,
die ich dir eingebracht habe. Ich schäme mich, zu dir gekommen zu sein ...»
«Nein, Mann. Das ist mein
bitteres tägliches Brot, und du bist der Honig, der es versüßt. Das Brot ist
immer reichlicher als der Honig. Aber ein Tropfen Honig genügt, um viel Brot
zu versüßen.»
«Du bist gut... Aber sage mir
wenigstens: was muß ich tun, um diese Wunden zu lindern?»
«Bewahre den Glauben an mich. Für
den Augenblick, wie und soweit du kannst. Bald... Ja, bald werden meine Jünger
bis Petra und noch weiter kommen. Dann befolge ihre Lehre, denn ich werde
durch sie sprechen. Vorerst sprich du zu den Leuten von Petra von dem, was ich
für dich getan habe, damit, wenn die Meinen, die mich jetzt umgeben, und
andere in meinem Namen kommen, mein Name ihnen nicht unbekannt sei.»
Am Ende des Abstiegs, auf der
römischen Straße, stehen drei Kamele. Eines nur mit einem Sattel, die anderen
mit Baldachinen. Ein Diener bewacht sie. Der Mann holt unter einem Baldachin
einige Bündel hervor: «Nimm», sagt er und bietet sie Jesus an, «sie werden dir
nützlich sein. Danke mir nicht. Ich kann dir nicht genügend vergelten, was du
mir gegeben hast. Wenn du es bei Unbeschnittenen tun kannst, segne mich und
meine Kinder, o Herr!» Und er kniet mit seinen Kindern und den Dienern nieder.
Jesus breitet die Hände aus und
betet leise mit zum Himmel erhobenen Augen: «Geh, sei ein Gerechter, und du
wirst Gott auf deinem Weg finden und ihm folgen, ohne ihn je wieder zu
verlieren. Lebe wohl, Tamar! Lebe wohl, Fara!» Er liebkost sie, bevor jedes
zusammen mit einem Diener ein Kamel besteigt.
Die Tiere erheben sich auf das
Krrr-Krrr der Kameltreiber hin, wenden sich um und beginnen in Richtung Süden
zu traben. Zwei braune
82
Händchen erscheinen zwischen den
Vorhängen und zwei Stimmchen rufen: «Leb wohl, Herr Jesus! Auf Wiedersehen,
Vater!»
Der Mann schickt sich an,
seinerseits aufzusteigen. Er neigt sich zu Boden und küßt das Gewand Jesu.
Dann steigt er in den Sattel und reitet nach Norden.
«Und nun, gehen wir», sagt Jesus
und schlägt ebenfalls den Weg nach Norden ein.
«Wie, gehst du nicht mehr, wohin
du gehen wolltest?» fragen die Jünger.
«Nein, wir können nicht mehr
hingehen. Die Stimmen der Welt hatten recht! ... Und dies, weil die Welt
verschlagen ist und die Werke Satans kennt ... Wir gehen nach Jericho ...»
Wie traurig ist Jesus! ... Alle
folgen ihm niedergeschlagen und wortlos, beladen mit den Bündeln, die ihnen
der Mann gegeben hat...
555. JESUS ERMUTIGT SEINE APOSTEL
Soeben haben sie die Furt von
Bethabara durchwatet. Jenseits des blauen Flusses, der durch die vom
herbstlichen Regen gespeisten Zuflüsse ziemlich angeschwollen ist, sieht man
das andere Ufer, das Ostufer, mit vielen gestikulierenden Menschen. Am
westlichen Ufer hingegen, wo sich Jesus mit den Seinen befindet, ist nur ein
Hirte mit seiner im Grün des Ufers weidenden Herde.
Petrus setzt sich auf einen
Mauerrest und trocknet sich nicht einmal die noch von der Furt nassen Beine
ab. In dieser Gegend benützt man zwar Fähren; aber um sie in den seichten
Gewässern nicht auf Grund laufen zu lassen, benützt man sie nur an den
tiefsten Stellen und setzt die Reisenden ab, wenn der Bug des Bootes auf die
von Wasser bedeckten Gräser auffährt. Also müssen die Übergesetzten jeweils
ein Stück durch das Wasser waten.
«Was hast du? Fühlst du dich
nicht gut?» fragen seine Gefährten.
«Nein. Aber ich kann nicht mehr.
Auf dem Nebo dieser heftige Zusammenstoß, vorher in Hesbon, und in Jerusalem
und in Kapharnaum, und nach dem Nebo in Callirrhoe und jetzt in Bethabara...
Oh! ...» Er verbirgt den Kopf in seinen Händen und weint.
«Laß dich nicht entmutigen,
Simon. Nimm mir nicht auch noch deinen und euren Mut!» sagt Jesus, während er
zu ihm geht und eine Hand auf das schwere, graue Gewand des Apostels legt.
«Ich kann es nicht mehr
mitansehen! Ich kann es nicht sehen, daß man dich so schlecht behandelt. Wenn
du mich wenigstens eingreifen ließest ... Vielleicht könnte ich... Aber so...
Wenn ich mich zusammennehmen ...
83
und die Beleidigungen mitansehen
muß, und wie du leidest wie ein wehrloses Kind... dann zerreißt es mir das
Herz und ich fühle mich so elend... Aber schaut ihn euch doch an. Er sieht aus
wie ein Kranker, als hätte er Fieber... wie ein verfolgter Verbrecher, der
nicht einmal Zeit findet, auch nur einen Bissen Brot zu sich zu nehmen, einen
Schluck zu trinken oder einen Stein zu suchen, um sich ein wenig auszuruhen!
Diese Hyäne vom Nebo! Diese Schlangen von Callirhoe! Und dieser Wahnsinnige,
der immer noch dort steht (er zeigt auf das andere Ufer). Weniger teuflisch
war der von Callirhoe, obwohl es erst der zweite ist, von dem du gesagt hast,
daß er von Beelzebub besessen sei. Ich fürchte mich vor Besessenen. Ich denke
mir, wenn Satan sie so gefangenhält, müssen sie wohl sehr schlecht gewesen
sein... Aber... der Mensch kann auch fallen ohne den ausdrücklichen Willen,
Böses zu tun. Die, die ohne besessen zu sein, aus ganz freiem Willen so
handeln! ... Oh! Wirst du sie niemals besiegen, da du sie ja nicht bestrafen
willst? ... Und sie... sie werden dich besiegen? ...» Das Weinen des treuen
Apostels, das in der Hitze des Unwillens etwas versiegt war, beginnt erneut...
«Mein Petrus, glaubst du
vielleicht, sie seien nicht besessen? Glaubst du, um besessen zu sein, müsse
man sich benehmen wie der Mann von Callirhoe und andere, denen wir begegnet
sind? Glaubst du, daß die Besessenheit sich nur äußert in wildem Geschrei,
Sprüngen, Wutanfällen, in der Manie, in Höhlen zu hausen, in Stummheit, im
Verlust der Beherrschung der Gliedmaßen oder in Umnebelung des Verstandes, so
daß der Besessene nur unbewußt spricht und handelt? Nein. Es gibt auch eine
Besessenheit feinerer und mächtigerer Art, die viel gefährlicher ist, weil sie
den Verstand nicht stört und schwächt und ihn nicht hindert, Gutes zu tun,
sondern ihn sogar entwickelt und stärkt, damit er dem, der ihn in Besitz
genommen hat, besser dienen kann. Wenn Gott von einem Verstand Besitz ergreift
und ihn für seine Zwecke benützt, dann ergießt er in ihn für die Zeit, in der
er im Dienste Gottes steht, ein übernatürliches Erkenntnisvermögen, das die
natürliche Intelligenz des Menschen um vieles übersteigt. Glaubt ihr z.B., daß
wenn andere die Prophezeiungen aufgezeichnet und Isaias, Ezechiel, Daniel und
die übrigen Propheten sie hätten lesen und auslegen müssen, ihr Sinn für sie
nicht genauso dunkel und unverständlich gewesen wäre wie für unsere
Zeitgenossen? Und doch sage ich euch, daß sie sie, als sie ihnen eingegeben
wurden, vollkommen verstanden... Schau, Simon. Nehmen wir diese Blume, die zu
deinen Füßen blüht. Was siehst du im Schatten, der auf ihrem Kelch liegt?
Nichts. Du siehst einen tiefen Kelch und eine kleine Öffnung und weiter
nichts. Aber sieh sie jetzt an, wenn ich sie pflücke und in die Sonne halte.
Was siehst du jetzt?»
«Ich sehe Blütenstempel,
Blütenstaub und eine kleine Krone aus Härchen, die die Stempel wie Wimpern
umgeben. Ich sehe zarte, mit Härchen
84
versehene Linien, die das große
und die beiden kleineren Blütenblätter schmücken... Ich sehe ein kleines
Tautröpfchen im Innern des Kelches... und... oh! eine kleine Mücke, die
hineingeschlüpft ist, um zu trinken, und im Gewirr der Härchen hängengeblieben
ist und sich nicht mehr daraus befreien kann... Aber laß mich genauer
hinsehen. Oh, die Härchen sind ja wie mit Honig bestrichen, sie kleben... Ich
habe verstanden! Gott hat es so eingerichtet, entweder damit die Pflanze sich
nährt oder damit die Vöglein die Mücken herauspicken können, oder aber damit
auf diese Weise die Luft von ihnen gereinigt wird... Welch ein Wunder!»
«Ohne das starke Sonnenlicht
hättest du aber nichts gesehen.»
«Nein, wirklich nicht!»
«Ähnlich ist es bei der
Inbesitznahme durch Gott. Das Geschöpf, das von sich aus nur seinen guten
Willen einsetzt, um seinen Gott vollkommen und vorbehaltlos zu lieben, sich
ganz seinem Willen überläßt, die Tugenden übt und die Leidenschaften
beherrscht, geht so in Gott, im Licht, das Gott ist, und in der Weisheit, die
Gott ist, auf, daß es alles sieht und versteht. Später, wenn die eigentliche
Einwirkung des Übernatürlichen endet, geht das Geschöpf in einen Zustand über,
in dem das Empfangene zur Norm für das Leben und die Heiligung wird, sich
jedoch wieder verdunkelt, oder vielmehr: was vorher so klar war, erscheint nun
in einem Dämmerlicht. Der Dämon, der immerwährende Affe Gottes, ruft bei den
geistig Besessenen eine ähnliche Wirkung hervor, wenngleich sie begrenzt ist,
da nur Gott unendlich ist. Denen, die sich ihm freiwillig ergeben, um zu
triumphieren, gewährt er eine höhere Intelligenz, die aber einzig auf das Böse
ausgerichtet ist, um Gott zu beleidigen und dem Menschen zu schaden. Die
satanische Einwirkung, die, da sie in der Seele Zustimmung findet,
kontinuierlich ist, führt stufenweise bis zur totalen Wissenschaft des Bösen.
Das ist die schlimmste Art der Besessenheit. Da äußerlich nichts zu bemerken
ist, werden diese Besessenen auch nicht gemieden; aber sie sind da. Wie ich
schon mehrmals gesagt habe, wird der Menschensohn von den in dieser Weise
Besessenen besiegt werden.»
«Aber könnte Gott nicht die Hölle
besiegen?» fragt Philippus.
«Er könnte es, denn er ist der
Stärkere.»
«Und warum tut er es nicht, um
dich zu verteidigen?»
«Die Absichten Gottes werden erst
im Himmel bekannt sein. Auf, gehen wir. Und laßt euch nicht entmutigen.»
Der Hirte, der zugehört hat, ohne
es sich anmerken zu lassen, fragt: «Weißt du, wo du Unterkunft finden kannst?
Wirst du erwartet?»
«Nein, Mann. Ich müßte über
Jericho hinausgehen; aber ich werde nirgends erwartet.»
«Und bist du sehr müde, Rabbi?»
«Müde, ja. Man hat uns keinen
Aufenthalt gegönnt und keine Unterkunft angeboten, seit wir den Berg Nebo
verlassen haben.»
85
«Dann... Ich wollte dir sagen...
Ich wohne in der Nähe von Alt-Beth Hagla... Ich habe einen blinden Vater und
kann nicht weit weggehen, um ihn nicht zu lange allein zu lassen. Aber das
Herz und die Herde leiden darunter. Wenn du möchtest... Ich könnte dir
Unterkunft gewähren. Es ist nicht weit von hier. Der Alte glaubt fest an
dich... Joseph, der Sohn des Joseph, deines Jüngers, kennt ihn.»
«Gehen wir.»
Der Mann läßt sich das nicht
zweimal sagen. Er sammelt die Herde und treibt sie der Ortschaft zu, die
nordwestlich von ihrem jetzigen Standpunkt liegen muß. Jesus geht mit den
Seinen hinter der Herde her.
«Meister», sagt Iskariot nach
einiger Zeit, «in Beth Hagla gibt es sicher niemanden, der die Geschenke jenes
Mannes erwerben könnte...»
«Wenn wir nach Jericho gehen, um
Nike zu besuchen, werden wir sie verkaufen.»
«Ich meine nur... Der Mann ist
arm, und wir werden ihm etwas geben müssen. Ich habe keinen Pfennig mehr.»
«Lebensmittel haben wir genug,
auch für einige Bettler. Mehr brauchen wir jetzt nicht.»
«Wie du willst. Aber es wäre
besser, du würdest mich vorausschicken. Ich könnte...»
«Es ist nicht nötig.»
«Meister, das ist Mißtrauen!
Warum schickst du uns nicht mehr wie früher zu zweien aus?»
«Weil ich euch liebe und an euer
Wohl denke.»
«Es ist nicht gut, daß wir so
unbekannt bleiben. Man wird denken, daß wir unwürdig und unfähig sind...
Früher hast du uns gehen lassen, und wir haben gepredigt, Wunder gewirkt und
waren bekannt...»
«Bedauerst du, es nicht mehr tun
zu können? Hat es dir gefallen, ohne mich zu gehen? Du bist der einzige, der
sich darüber beklagt, nicht allein gehen zu können... Judas!»
«Meister, du weißt, daß ich dich
liebe!» sagt Judas selbstsicher.
«Ich weiß es. Und damit dein
Geist nicht verdorben wird, behalte ich dich bei mir. Du bist ja schon der,
der sammelt und verteilt, der verkauft oder tauscht für die Armen. Das genügt.
Ja, es ist schon zu viel. Betrachte deine Gefährten. Kein einziger bittet um
das, was du verlangst.»
«Aber den Jüngern hast du es
erlaubt... Dieser Unterschied ist ungerecht.»
«Judas, du bist der einzige, der
mich ungerecht nennt... Aber ich verzeihe dir. Geh nach vorn und schicke mir
Andreas.»
Und Jesus verlangsamt seinen
Schritt, um auf Andreas zu warten und mit ihm allein zu sprechen. Ich weiß
nicht, was er ihm sagt. Ich weiß, daß Andreas in seiner gewohnten Art sanft
lächelt, sich verneigt, um die Hände des Meisters zu küssen, und dann wieder
nach vorn geht.
86
Jesus bleibt allein hinter allen
zurück... Er geht mit tief geneigtem Haupt und wischt sich oft mit dem Zipfel
seines Gewandes das Antlitz ab, als würde er schwitzen. Aber es sind Tränen
und keine Schweißtropfen, die über seine hageren, bleichen Wangen rollen.
556. DIE FRAU DES SADDUZÄISCHEN
NEKROMANTEN
immer noch wandert Jesus
unermüdlich auf den Wegen Palästinas. Der Fluß ist noch zu seiner Rechten, und
er folgt dem Lauf des schönen blauen Wassers, das unter dem Kuß der Sonne
glitzert und an den Ufern das dunkle Laub der Bäume blaugrün widerspiegelt.
Jesus ist von seinen Jüngern
umgeben. Ich höre, wie Bartholomäus ihn fragt: «Gehen wir jetzt wirklich nach
Jericho? Fürchtest du keine Nachstellungen?»
«Nein. Ich werde zum Passahfest
auf einem anderen Weg nach Jerusalem kommen, und sie werden enttäuscht sein
und nicht mehr wissen, wo sie mich gefangen nehmen sollen, ohne bei der Menge
zu großes Aufsehen zu erregen. Glaube mir, Bartholomäus, in einer volkreichen
Stadt bin ich weniger in Gefahr als auf einsamen Pfaden. Das Volk ist gut und
aufrichtig. Aber es kann auch heftig sein und würde sich gegen meine Festnahme
auflehnen, solange ich unter ihm bin, um zu lehren und zu heilen. Die
Schlangen arbeiten in der Einsamkeit und im Verborgenen. Außerdem... habe ich
noch heute, morgen und viele Tage zu arbeiten... Dann... wird die Stunde des
Teufels kommen, und ihr werdet mich verlieren... um mich kurz darauf
wiederzufinden. Glaubt daran. Und glaubt auch dann daran, wenn die Ereignisse
meinen Worten mehr denn je zu widersprechen scheinen.»
Die Apostel seufzen
niedergeschlagen und schauen ihn mit liebevollen, schmerzerfüllten Blicken an.
Johannes stößt einen Seufzer aus: «Nein!»Petrus legt seine kurzen, starken
Arme um Jesus, als wolle er ihn beschützen, und sagt: «O mein Herr und
Meister!» Mehr sagt er nicht. Aber es liegt so viel in diesen wenigen Worten.
«So ist es, Freunde. Dazu bin ich
gekommen. Seid stark. Seht, wie sicher ich meinem Ziel entgegengehe; wie
einer, der der Sonne entgegengeht und ihr, die ihn auf die Stirn küßt,
zulächelt. Mein Opfer wird eine Sonne für die Welt sein. Das Licht der Gnade
wird in die Herzen hinabsteigen, der Friede mit Gott wird sie fruchtbar
machen, und die Verdienste meines Martyriums werden die Menschen befähigen,
sich den Himmel zu verdienen. Was will ich anderes als dies? Eure Hände will
ich in die Hände des Ewigen, meines und eures Vaters, legen und sagen: "Sieh,
ich führe dir diese deine Söhne wieder zu. Sieh, Vater, sie sind rein. Sie
können zu dir zurückkehren." Ich will sehen, wie er euch umarmt, und sagen:
87
"Liebt euch endlich, denn sowohl
der Eine hat sich danach gesehnt als auch ihr anderen, und ihr habt stark
darunter gelitten, daß ihr euch nicht lieben konntet." Seht, das ist meine
Freude, und jeder Tag, der mich der Vollendung dieser Rückkehr, dieser
Verzeihung, dieser Vereinigung näherbringt, vermehrt meine Sehnsucht, das
Opfer zu vollbringen, um euch Gott und sein Reich zu schenken.»
Jesus ist feierlich und fast
ekstatisch bei diesen Worten. Er wandelt aufrecht einher in seinem blauen
Gewand und seinem etwas dunkleren Mantel, mit unbedecktem Haupt, in dieser
noch frischen Morgenstunde. Er scheint irgendeiner Vision zuzulächeln, die
seine Augen im Blau des heiteren Himmels schauen. Die Sonne, die seine linke
Wange streichelt, läßt seinen strahlenden Blick noch stärker leuchten und
goldene Funken in seinem vom Gehen und einem sanften Wind bewegten Haar
aufblitzen. Sie betont noch das Rot der in einem Lächeln leicht geöffneten
Lippen und scheint das ganze Antlitz in einer Freude aufleuchten zu lassen,
die aber in Wirklichkeit aus dem Inneren seines anbetungswürdigen, in Liebe zu
uns Menschen glühenden Herzens strömt.
«Meister, darf ich dir etwas
sagen?» fragt Thomas.
«Was denn?»
«Vorgestern hast du gesagt, daß
der Erlöser, also du, einen Verräter haben wird. Wie kann ein Mensch dich, den
Sohn Gottes, verraten?»
«Ein Mensch könnte den Sohn
Gottes, der Gott ist wie der Vater, tatsächlich nicht verraten. Aber jener
wird kein Mensch sein. Er wird ein Dämon sein mit dem Leib eines Menschen. Es
wird der am meisten besessene und rasendste aller Menschen sein. Maria von
Magdala hatte sieben Dämonen, und der Besessene vor einigen Tagen war
beherrscht von Beelzebub. Aber in diesem wird Beelzebub sein mit seinem ganzen
dämonischen Hof... O wahrlich, die Hölle wird in diesem Herzen sein, um ihm
die Kühnheit zu verleihen, den Sohn Gottes seinen Feinden auszuliefern, wie
ein Lamm dem Schlächter.»
«Hat Satan jetzt schon von diesem
Menschen Besitz ergriffen?»
«Nein, Judas. Aber er neigt dazu,
Satan zu folgen; und wer dazu neigt, setzt sich der Gefahr aus, ganz in Satans
Gewalt zu geraten.» (Jesus spricht mit Iskariot.)
«Und warum kommt er nicht zu dir,
um sich von seiner Neigung heilen zu lassen? Weiß er, daß er sie hat oder weiß
er es nicht?»
«Wenn er es nicht wüßte, wäre er
nicht schuldig, wie er es ist; denn er weiß, daß er zum Bösen neigt und sich
nicht an seine Vorsätze hält, sich davon zu befreien. Wenn er sich daran
halten würde, käme er zu mir... Aber er kommt nicht... Das Gift dringt ein,
und meine Nähe reinigt ihn nicht, weil sie nicht gewünscht ist, sondern
gemieden wird... Das ist euer Fehler, o Menschen. Ihr flieht vor mir, wenn ihr
meiner am meisten bedürft.» (Jesus hat Andreas geantwortet.)
88
«Aber ist er schon einmal zu dir
gekommen? Kennst du ihn? Und wir, kennen wir ihn?»
«Matthäus, ich kenne die
Menschen, noch bevor sie mich kennenlernen. Du weißt es, und ihr anderen wißt
es auch. Ich bin es, der euch berufen hat, da ich euch kannte.»
«Aber kennen wir ihn?» drängt
Matthäus.
«Kann euch einer unbekannt
bleiben, der zu eurem Meister kommt? Ihr seid meine Freunde und teilt mit mir
Brot, Ruhe und Mühen. Selbst mein Haus habe ich euch geöffnet, das Haus meiner
heiligen Mutter. Ich bringe euch zu ihr, damit die heilige Atmosphäre des
Hauses euch befähige, den Himmel mit seinen Stimmen und Geboten zu verstehen.
Ich führe euch zu ihr, wie ein Arzt seine Kranken, die eben eine Reihe
schwerer Krankheiten überwunden haben, zu einer Heilquelle bringt, um sie zu
stärken und die Reste der Krankheiten zu beseitigen, die sich immer noch
schädlich auswirken können. Es bleibt euch also niemand von denen unbekannt,
die zu mir kommen.»
«In welcher Stadt bist du ihm
begegnet?»
«Petrus, Petrus!»
«Es ist wahr, Meister, ich bin
schlimmer als eine geschwätzige Frau. Verzeih mir. Aber es ist Liebe, weißt du
...»
«Ich weiß es, und deshalb sage
ich dir, daß mir dein Fehler nicht zuwider ist. Aber befreie dich auch von
ihm.»
«Ja, mein Herr.»
Der Pfad wird schmaler und
verläuft zwischen einer Reihe von Bäumen und einem kleinen Wassergraben, und
die Gruppe löst sich auf. Jesus spricht gerade mit Iskariot, dem er
Anordnungen bezüglich der Käufe und Almosen gibt. Ihnen folgen, jeweils zu
zweit, die anderen. Der letzte ist Petrus, allein und nachdenklich. Mit
geneigtem Haupt geht er so in Gedanken vertieft, daß er gar nicht merkt, daß
der Abstand zwischen ihm und den anderen immer größer wird.
«He du, Mann!» ruft ihm jemand
zu, der zu Pferd vorbeikommt. «Gehörst du zum Nazarener?»
«Ja, warum?»
«Geht ihr nach Jericho?»
«Drängt es dich, das zu wissen?
Ich weiß nichts. Ich gehe hinter dem Meister her und frage nicht. Wohin auch
immer er geht, es ist mir recht. Der Weg führt zwar nach Jericho; aber wir
könnten auch in die Dekapolis zurückkehren. Wer weiß! Wenn du mehr wissen
willst, weiter vorn ist der Meister.»
Der Mann gibt dem Pferd die
Sporen, und Petrus schneidet eine komische Grimasse und murmelt: «Ich traue
dir riecht, mein schöner Herr. Ihr seid alle eine Rotte von Schurken! Ich will
nicht der Verräter sein und schwöre mir selbst: "Dieser Mund wird verschlossen
bleiben." Petrus
89
macht ein Zeichen über die
Lippen, als ob er sie mit einem Vorlegeschloß verschließen wollte.
Der Reiter hat Jesus erreicht und
stellt ihm Fragen. So kommt es, daß Petrus die anderen einholt. Als der Mann
weiterreitet, grüßt er noch Iskariot. Niemand bemerkt es außer Petrus, der als
letzter kommt und dem der Gruß nicht zu gefallen scheint. Er faßt Judas am
Ärmel und fragt ihn: «Wer war das? Kennst du ihn? Woher?»
«Nur vom Sehen. Er ist ein
reicher Mann aus Jerusalem.»
«Du hast Freundschaften in
hochgestellten Kreisen! Gut... vorausgesetzt, daß es zu etwas gut ist. Sag
einmal: Ist dieses Fuchsgesicht, das dir so viele Dinge sagt ... ?»
«Welche Dinge?»
«Nun, das, was du über den
Meister zu wissen vorgibst.»
«Ich?»
«Ja, du! Erinnerst du dich nicht
an den Abend im Regen und im Schlamm? Zur Zeit des Hochwassers ...»
«Ah! Nein, nein! Denkst du denn
noch immer an Worte, die ich in einem Augenblick schlechter Laune gesagt
habe?»
«Ich denke an alles, was Jesus
schaden kann: Dinge, Personen, Freunde, Feinde... Und ich bin immer bereit,
die Versprechen zu halten, die ich denen gebe, die Jesus schaden wollen... Leb
wohl.»
Judas folgt ihm mit einem
eigenartigen Blick. Staunen, Schmerz und Ärger, ich würde sogar sagen: Zorn
liegen darin.
Petrus holt Jesus ein und ruft
ihn.
«Oh, Petrus! Komm her!» Jesus
legt ihm den Arm um die Schultern.
«Wer war dieser borstige Jude?»
«Borstig, Petrus ? Er war doch
ganz geschniegelt und parfümiert!»
«Aber er hatte ein borstiges
Gewissen. Mißtraue ihm, Jesus 1»
«Ich habe dir doch gesagt, daß
meine Stunde noch nicht gekommen ist. Und wenn sie da ist, wird kein Mißtrauen
mich retten... wenn ich mich retten wollte. Selbst die Steine würden schreien
und mich umringen, wenn ich mich retten wollte.»
«Mag sein... Aber traue ihnen
nicht... Meister!»
«Petrus, was hast du?»
«Meister... ich muß dir etwas
sagen, denn ich habe eine Last auf dem Herzen.»
«Du mußt mir etwas sagen und hast
eine Last?»
«Ja. Die Last ist eine Sünde. Das
Etwas ist ein Rat.»
«Beginne mit der Sünde.»
«Meister... ich... ich hasse...
besser gesagt, ich empfinde Abscheu für einen unter uns, denn du willst ja
nicht, daß wir hassen. Ich glaube in der Nähe einer Höhle zu sein, aus der
Gestank brünstiger Schlangen dringt... und ich möchte nicht, daß sie
herauskommen und dir schaden. Dieser
90
Mensch ist eine Schlangenhöhle,
und er selbst ist in Brunst mit dem Teufel.»
«Wie kommst du darauf?»
«Bah! ... Ich weiß es nicht. Ich
bin grob und ungebildet, aber dumm bin ich nicht. Ich bin gewohnt, aus Wind
und
habe ich auch einen Blick für die
Herzen. Jesus... Ich habe Angst.»
«Urteile nicht, Petrus, schöpfe
keinen Verdacht, denn Verdacht schafft Hirngespinste. Man sieht Dinge, die
nicht existieren.»
«Der Ewige gebe, daß es nichts
sei. Aber ich bin nicht sicher.»
«Wen meinst du, Petrus?»
«Judas von Kerioth. Er rühmt
sich, Freundschaften in hochstehenden Kreisen zu haben, und gerade eben noch
hat dieser häßliche Kerl ihn gegrüßt, wie man einen guten Bekannten grüßt.
Früher hatte er diese Bekanntschaften nicht.»
«Judas ist derjenige, der Gaben
entgegennimmt und verteilt. Er hat Gelegenheit, sich den reichen Leuten zu
nähern, und weiß mit ihnen umzugehen.»
«Ja, er weiß mit ihnen
umzugehen... Meister, sage mir die Wahrheit. Hast du keinen Verdacht?»
«Petrus, du bist mir so teuer
wegen deines Herzens. Aber ich will dich vollkommen wissen. Nicht vollkommen
ist einer, der nicht gehorcht. Ich habe dir gesagt: Urteile nicht und
verdächtige niemanden.»
«Aber du sagst mir nicht...»
«Bald werden wir in der Nähe von
Jericho sein und haltmachen, um auf eine Frau zu warten, die uns nicht in
ihrem Haus empfangen kann ...»
«Warum? Ist sie eine Sünderin?»
«Nein, sie ist eine Unglückliche.
Dieser Reiter, der dich so sehr stört, ist gekommen, um mich zu bitten, dort
auf sie zu warten. Ich werde es tun, obwohl ich weiß, daß ich nichts für sie
tun kann. Weißt du, wer sie und den Reiter auf meine Spur gebracht hat? Judas.
Du siehst, daß die Bekanntschaft mit diesem Juden gerechtfertigt ist.»
Petrus senkt den Kopf und
schweigt beschämt. Vielleicht ist er nicht überzeugt und neugierig. Doch er
schweigt.
Jesus bleibt vor der Stadtmauer
stehen und setzt sich müde unter eine Baumgruppe, die einer Quelle Schatten
spendet, in deren Nähe Tiere an Tränke stehen. Auch die Jünger setzen sich und
warten. Es muß ein recht unbedeutender Stadtteil sein, denn außer diesen
Pferden und Eseln, die gewiß reisenden Kaufleuten gehören, ist niemand zu
sehen,
Eine ganz in einen schweren,
dunklen Mantel gehüllte und verschleierte Frau tritt vor. Der dichte, dunkle
Schleier bedeckt ihr Gesicht gut zur Hälfte. Neben ihr der Reiter von vorher,
jetzt zu Fuß, und drei andere pompös gekleidete Männer.
«Wir grüßen dich, Meister.»
91
«Der Friede sei mit euch.»
«Dies ist die Frau. Höre sie an
und erfülle ihren Wunsch.»
«Wenn es mir möglich ist.»
«Du kannst alles.»
«Glaubst du das als Sadduzäer?»
Der Sadduzäer ist der, der vorher zu Pferd war.
«Ich glaube an das, was ich
sehe.»
«Hast du gesehen, daß ich es
kann?»
«Ich habe es gesehen.»
«Und warum ich es kann, weißt du
das auch?» Schweigen. «Darf ich wissen, weshalb du glaubst, daß ich es kann?»
Schweigen.
Jesus kümmert sich nicht mehr um
ihn und um die anderen. Er spricht zu der Frau: «Was willst du?»
«Meister... Meister ...»
«Sprich nur ohne Furcht.»
Die Frau wirft einen schiefen
Blick auf ihre Begleiter, die ihn auf ihre Art auslegen.
«Die Frau hat einen kranken Mann
und bittet dich, ihn zu heilen. Er ist eine einflußreiche Persönlichkeit am
Hofe des Herodes, und es lohnt sich für dich, sie zu erhören.»
«Nicht weil er einflußreich ist,
sondern weil sie unglücklich ist, werde ich sie erhören, wenn ich kann. Ich
habe es schon gesagt. Was hat dein Gemahl? Und warum ist er nicht gekommen?
Warum willst du nicht, daß ich zu ihm gehe?»
Wiederum Schweigen, und ein
weiterer schiefer Blick.
«Willst du ohne Zeugen mit mir
sprechen? Komm.» Sie entfernen sich einige Schritte. «Sprich.»
«Meister... Ich glaube an dich.
So sehr, daß ich sicher bin, daß du alles über ihn, über mich und über unser
unglückliches Leben weißt... Aber er glaubt nicht... Er haßt dich sogar... Und
er ...»
«Aber er kann nicht geheilt
werden, weil er nicht glaubt. Nicht nur an mich glaubt er nicht, sondern nicht
einmal an den wahren Gott.»
«Ah! Du weißt es!» Die Frau weint
verzweifelt. «Mein Haus ist eine Hölle. Eine Hölle! Du befreist die
Besessenen. Du weißt daher, was ein Dämon ist. Aber kennst du auch diesen
raffinierten, intelligenten, falschen und gebildeten Dämon? Weißt du, zu
welcher Perversion er führt? Weißt du, zu welchen Sünden? Weißt du, welches
Verderben er um sich herum verursacht? Mein Haus? Ist es ein Haus? Nein. Es
ist die Schwelle der Hölle. Und mein Gemahl? Ist er mein Gemahl? Jetzt ist er
krank und kümmert sich nicht um mich. Aber auch als er noch stark war und nach
Liebe verlangte, war es da ein Mensch, der mich umarmte, der mich hielt, der
mich besaß? Nein, ich war in den Klauen eines Dämons, ich spürte den Atem und
die Schlüpfrigkeit eines Dämons. Ich habe ihn so sehr
92
geliebt, und ich liebe ihn noch
immer. Ich bin seine Frau, und er hat mir meine Jungfräulichkeit genommen, als
ich noch fast ein Kind war. Ich war kaum vierzehn Jahre alt. Aber auch wenn
mich der Augenblick zurückführte zu jener ersten Stunde und mir die zarten
Gefühle der ersten Umarmung, die mich zur Frau gemacht hatte, wiedergab,
fühlte ich mich zunächst mit dem edelsten Teil meines Wesens und dann auch mit
Fleisch und Blut abgestoßen; ich schauderte vor Entsetzen, wenn ich daran
dachte, daß er sich mit der Beschwörung der Geister beschmutzt hatte. Es
schien mir, daß nicht mein Mann, sondern die Toten, die er beschwor, sich
meiner bemächtigt hatten und sich mit mir vergnügten... Selbst jetzt, jetzt,
wenn ich nur sehe, wie er dahinstirbt und immer noch dieser Magie ergeben ist,
empfinde ich Abscheu. Nicht ihn sehe ich... Satan sehe ich. Oh, welch ein
Schmerz! Nicht einmal in der Todesstunde werde ich bei ihm sein, denn das
Gesetz verbietet es. Rette ihn, Meister. Ich bitte dich, heile ihn, damit er
Zeit hat, sich zu bekehren.» Die Frau weint verzweifelt.
«Arme Frau! Ich kann ihn nicht
heilen.»
«Warum nicht, Herr?»
«Weil er nicht will.»
«Doch. Er hat Angst vor dem Tode,
und er will.»
«Er will nicht. Er ist kein
Wahnsinniger und kein Besessener, der seinen eigenen Zustand nicht erkennt und
nicht um Befreiung bittet, weil er keine Gedankenfreiheit besitzt. Sein Wille
ist nicht behindert. Er ist einer, der so sein will. Er weiß, daß, was er tut,
verboten ist. Er weiß, daß der Gott Israels ihn verflucht hat, und dennoch
verharrt er in seiner Sünde. Auch wenn ich ihn heilen und bei seiner Seele
beginnen würde, würde er wieder zurückkehren zu seiner satanischen Ergötzung.
Sein Wille ist verderbt. Er ist ein Widersacher. Ich kann nichts tun.»
Die Frau weint noch stärker. Ihre
Begleiter nähern sich. «Wirst du sie nicht zufriedenstellen, Meister?»
«Ich kann nicht.»
«Habe ich es euch nicht gesagt?
Und die Gründe?»
«Du, Sadduzäer, fragst mich?
Denke an das Buch der Könige. Lies nach, was Samuel zu Saul und Elias zu
Ochozias gesagt hat. Der Geist des Propheten tadelt den König, da er ihn im
Reich der Toten gestört hat. Es ist nicht erlaubt, dies zu tun. Lies das Buch
Leviticus, wenn du dich nicht des Wortes Gottes, des Schöpfers und Herrn des
Universums, des Beschützers der Lebendigen und der Toten, erinnerst. Lebendige
und Tote sind in der Hand Gottes, und es ist nicht erlaubt, sie ihr zu
entreißen. Weder aus eitler Neugierde, noch mit gotteslästerlicher Gewalt,
noch aus verfluchtem Unglauben. Was wollt ihr wissen? Ob es eine ewige Zukunft
gibt? Und ihr behauptet, daß ihr an Gott glaubt. Wenn es einen Gott gibt, wird
er auch einen Hof haben. Und was für ein Hof kann das sein, wenn nicht einer,
der ewig ist wie er, einer aus ewigen Geistern? Wenn ihr sagt,
93
daß ihr an Gott glaubt, warum
glaubt ihr dann nicht an sein Wort? Heißt es nicht: "Ihr dürft keine
Wahrsagerei betreiben und nicht in den Träumen lesen"? Heißt es nicht: "Gegen
jeden, der sich an Totenbeschwörer und Wahrsager wendet und mit ihnen Unzucht
treibt, werde ich mein Angesicht richten und ihn aus der Mitte seines Volkes
austilgen"? Heißt es nicht: "Ihr sollt euch kein geschnitztes Bildnis machen"?
Und was seid ihr: Samariter und Verlorene oder Söhne Israels? Was seid ihr:
Törichte oder vernunftbegabte Wesen? Und wenn ihr logisch denkt und die
Unsterblichkeit der Seele leugnet, warum ruft ihr dann die Toten? Wenn sie
nicht unsterblich sind, diese immateriellen Bestandteile, die den Körper
beleben, was bleibt dann noch übrig von einem Menschen nach dem Tode?
Verwestes Fleisch und Gebein, kalkhaltige Knochen in einem Haufen Würmer. Und
wenn ihr nicht an Gott glaubt, sondern zu Götzen und Zeichen eure Zuflucht
nehmt, um Heilung, Geld und Antworten zu erhalten, wie der, dessen Heilung ihr
erbittet, warum macht ihr euch dann Götzenbilder und glaubt, daß sie euch
Worte sagen können, die mehr Wahrheit enthalten, die heiliger und göttlicher
sind als die Worte, die Gott euch sagt? Und nun gebe ich euch dieselbe
Antwort, die Elias dem Ochozias gab: "Weil du Boten gesandt hast, um
Baal-Sebub, den Gott von Ekron zu befragen, als ob es keinen Gott in Israel
gäbe, den man befragen könnte; darum wirst du von dem Lager, das du bestiegen
hast, nicht wieder herabsteigen, sondern du sollst in deiner Sünde sterben."»
«Du bist immer der, der
beschimpft und uns angreift. Ich mache dich' darauf aufmerksam. Wir kommen dir
entgegen, um ...»
«Um mich in eine Falle zu locken.
Aber ich lese in euren Herzen. Herunter mit der Maske, ihr an den Feind
Israels verkauften Herodianer! Herunter mit der Maske, ihr falschen und
grausamen Pharisäer! Herunter mit der Maske, ihr Sadduzäer, ihr wahren
Samariter! Herunter mit der Maske, ihr Schriftgelehrten, deren Taten der
Schrift entgegenstehen! Herunter mit der Maske ihr alle, die ihr das Gesetz
Gottes brecht, ihr Feinde der Wahrheit und Helfer des Bösen! Nieder mit den
Schändern des Hauses Gottes! Nieder mit euch, ihr Aufwiegler schwacher
Gewissen! Fort, ihr Schakale, die ihr euer Opfer im Wind aufspürt, der es
gestreift hat, und seiner Spur folgt, es belauert und die günstigste
Gelegenheit abwartet, um es zu töten. Schon leckt ihr euch die Lippen im
Vorgeschmack des Blutes und träumt von dieser Stunde! ... O ihr Betrüger und
Ehebrecher, die ihr für weniger als eine Handvoll Linsen euer Erstgeburtsrecht
unter den Völkern verkauft. Kein Segen ruht mehr auf euch, und andere Völker
werden sich bekleiden mit dem Vlies des Gotteslammes; und die wahren Gesalbten
werden erscheinen vor den Augen des Allerhöchsten, der den Wohlgeruch seines
Christus an ihnen wahrnehmen und sagen wird: "Dies ist der Duft meines Sohnes,
gleich dem Duft eines blühenden, von Gott gesegneten Ackers. Über euch sei der
Tau des Himmels: die Gnade. Für
94
euch die Fülle der Erde: die
Frucht meines Blutes. Für euch der Überfluß an Korn und Wein: mein Leib und
mein Blut, die ich für das Leben der Menschen und zum Andenken an mich
hingeben werde. Euch sollen die Völker dienen, vor euch sich verneigen die
Menschen, denn dort, wo das Zeichen meines göttlichen Lammes sein wird, wird
auch der Himmel sein. Und die Erde ist dem Himmel untertan. Seid Herrscher
über eure Brüder, denn die Nachfolger meines Christus werden die Könige des
Geistes sein, da sie das Licht besitzen; und auf dieses Licht werden die
anderen ihren Blick richten und von ihm werden sie Hilfe erwarten. Es sollen
sich vor euch die Söhne eurer Mutter, der Erde, verneigen. Ja, alle Erdensöhne
werden sich einst vor meinem Zeichen verneigen. Verflucht sei, wer euch
verflucht, und gesegnet, wer euch segnet; denn Segen und Fluch, die euch
zuteil werden, gelten mir, eurem Vater und Gott." Dies wird er sagen. Dies, o
ihr Ehebrecher, die ihr als geliebte Braut der Seele den wahren Glauben haben
könntet und mit Satan und seinen falschen Lehren Unzucht treibt. Dies wird er
sagen, ihr Mörder. Mörder der Gewissen und Mörder der Leiber.
Hier sind zwei eurer Opfer. Aber
wenn auch zwei Herzen ermordet worden sind, einen Leib werdet ihr nicht länger
als für die Zeit des Jonas haben. Und dann wird er, verbunden mit seiner
unsterblichen Wesenheit, euch richten.»
Jesus ist furchtbar bei dieser
Anklagerede. Ich glaube, daß er am Tag des Jüngsten Gerichtes ungefähr so sein
wird.
«Und wo sind die Ermordeten? Du
phantasierst! Du lebst im Konkubinat mit Beelzebub. Du treibst Unzucht mit ihm
und wirkst in seinem Namen Wunder. Aber in diesem Fall vermagst du es nicht,
da wir die Freundschaft Gottes besitzen.»
«Satan vertreibt sich nicht
selbst. Ich vertreibe die Dämonen. Im Namen wessen also?» ... Schweigen ...
«Antwortet mir!»
«Es ist doch gar nicht der Mühe
wert, sich mit diesem Besessenen abzugeben. Ich habe es euch ja gesagt, und
ihr habt mir nicht geglaubt. Jetzt hört es von ihm selbst. Antworte, du
verrückter Nazarener. Kennst du den Schemhamphorasch (der "unaussprechliche"
Name Gottes)?»
«Ich bedarf seiner nicht!»
«Hört ihr? Noch eine Frage. Bist
du nicht in Ägypten gewesen?»
«Ja.»
«Seht ihr? Wer ist der
Totenbeschwörer, der Satan? Schrecklich! Komm, Frau. Dein Mann ist ein
Heiliger im Vergleich zu diesem hier. Komm! ... Du wirst dich reinigen müssen.
Du hast Satan berührt! ...»Und sie gehen und schleppen die weinende Frau mit
lebhaften Gesten des Abscheus mit sich.
Jesus steht mit verschränkten
Armen da und verfolgt sie mit den Blitzen seiner Augen.
95
«Meister... Meister...» Die
Apostel sind erschrocken sowohl über die Heftigkeit Jesu als auch über die
Worte der Judäer.
Petrus fragt, und er steht bei
diesen Worten sehr gebeugt da: «Was haben sie sagen wollen mit ihren letzten
Fragen? Was war das?»
«Was meinst du? Der
Schemhamphorasch?»
«Ja, was ist das?»
«Denke nicht daran. Sie
verwechseln die Wahrheit mit der Lüge, Gott mit Satan, und in ihrem
satanischen Hochmut glauben sie, daß Gott, damit er sich dem Willen der
Menschen beugt, mit seinem Tetragrammaton beschworen werden muß. Der Sohn
spricht mit dem Vater die wahre Sprache, und dadurch, durch die gegenseitige
Liebe des Vaters und des Sohnes, kommen Wunder zustande.»
«Aber warum haben sie gefragt, ob
du in Ägypten gewesen bist?»
«Weil der Böse sich der
unschuldigsten Dinge bedient, um daraus eine Anklage gegen sein Opfer zu
machen. Mein Aufenthalt in Ägypten als Kind wird einer der Anklagepunkte sein
in der Stunde ihrer Rache. Ihr und eure Nachfolger sollt wissen, daß man dem
verschlagenen Satan und seinen Helfershelfern gegenüber doppelt klug sein muß.
Deshalb habe ich gesagt: "Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die
Tauben." Dies, um den Dämonen nur so wenig Waffen als möglich in die Hände zu
geben. Und doch nützt es nichts. Laßt uns gehen.»
«Wohin, Meister? Nach Jericho?»
«Nein. Wir werden ein Boot nehmen
und den Jordan wieder an der Dekapolis vorbei bis Ennon hinauffahren. Dort
steigen wir aus und nehmen dann am Ufer des Sees von Genesareth ein anderes
Boot, mit dem wir nach Tiberias übersetzen. Von dort gehen wir nach Kana und
Nazareth. Ich bedarf meiner Mutter, und auch ihr. Was Christus mit seinem Wort
nicht erreicht, gelingt ihr mit ihrem Schweigen. Was meiner Macht nicht
gelingt, vermag ihre Reinheit. Oh! Meine Mutter!»
«Weinst du, Meister? Du weinst?
Oh nein! Wir werden dich verteidigen. Wir lieben dich!»
«Ich weine nicht aus Furcht vor
denen, die mir Böses antun wollen. Ich weine, weil die Herzen härter sind als
Jaspis und ich bei so vielen von ihnen nichts erreiche. Kommt, Freunde.»
Sie gehen zum Flußufer hinab und
fahren mit dem Boot irgendeines Mannes stromaufwärts. So endet alles.
96
557. «EIN GEBET KANN EUCH MIT
GOTT VERBINDEN,
NICHT EINE MAGISCHE FORMEL»
Jesus sagt: «Die Welt – und unter
Welt verstehe ich nicht nur die Laien – leugnet das Übernatürliche; aber dann,
wenn sie mit göttlichen Offenbarungen und Kundgebungen konfrontiert wird, ist
sie schnell dabei, nicht das Übernatürliche, sondern das Okkulte aufs Tapet zu
bringen. Man verwechselt das eine mit dem anderen. Und nun hört: Übernatürlich
ist, was von Gott kommt. Okkult ist, was einer außerirdischen Quelle
entspringt, nicht aber auf Gott zurückzuführen ist.
Wahrlich, ich sage euch, die
Geister können zu euch kommen. Aber wie? Auf zweifache Art und Weise: Auf
Befehl Gottes oder durch menschliche Gewalt. Auf Befehl Gottes kommen die
Engel, die Seligen, die Geister, die bereits im Lichte Gottes sind. Durch den
Eingriff des Menschen können Geister erscheinen, denen auch ein Mensch
befehlen kann, weil sie in einem tieferen Schlamm stecken als die menschlichen
Seelen, in denen noch eine Erinnerung an die Gnade lebt, wenn auch die Gnade
nicht mehr wirksam ist. Erstere kommen spontan auf einen einzigen Befehl hin,
den meinen, und bringen die Wahrheit mit sich, die ihr, weil ich es will,
kennenlernen sollt. Die anderen kommen durch eine Kombination von Kräften,
Kräften des Götzendienst treibenden Menschen und Kräften des Götzen Satan.
Können sie auch Wahres vermitteln? Nein, nie, in keinem Fall! Kann eine
Formel, auch wenn sie von Satan gelehrt wird, Gott dem Willen des Menschen
unterwerfen? Nein. Gott kommt immer freiwillig. Ein Gebet kann euch mit ihm
verbinden, nicht eine magische Formel.
Und wenn jemand einwendet:
"Samuel erschien dem Saul" sage ich: "Nicht durch die Macht der Hexe, sondern
durch meinen Willen und zu dem Zweck, den König aufzurütteln, der sich gegen
mein Gesetz auflehnte." Einige werden sagen: "Und die Propheten?" Die
Propheten verkünden die Wahrheit aus einer Erkenntnis, die ihnen direkt
eingegeben oder durch einen Engel vermittelt wird. Andere werden entgegnen:
"Und die schreibende Hand beim Gastmahls des Königs Belsazar?" Diese mögen die
Antwort Daniels lesen: "Auch du hast dich gegen den Herrn des Himmels
erhoben... du hast die Götter aus Silber, Bronze, Erz, Gold, Holz und Stein
gepriesen, die nichts sehen und nichts hören und keinen Verstand haben; aber
den Gott, in dessen Hand dein Atem ist und bei dem alle deine Wege sind, hast
du nicht verehrt. Daher wurde von ihm die Hand gesandt, die diese Schrift
geschrieben hat. (Er schickte sie von sich aus, während du, törichter König
und törichter Mensch, nicht daran dachtest und nur darum besorgt warst, deinen
Magen zu füllen und deinem Geist zu schmeicheln.)"
Bisweilen ermahnt euch Gott durch
Kundgebungen, die ihr "medial"
97
nennt und die in Wirklichkeit
Akte der Barmherzigkeit einer göttlichen Liebe sind, die euch retten will. Ihr
dürft sie jedoch nicht selbst hervorzurufen suchen, denn die von euch
hervorgerufenen sind nie echt und auch nie nützlich und bringen euch nichts
Gutes. Macht euch nicht zu Sklaven dessen, was euch ins Verderben stürzt.
Haltet euch nicht für intelligenter als die Demütigen, die sich der seit
Jahrhunderten von meiner Kirche anerkannten Wahrheit beugen. Ihr seid nicht
intelligenter, nur weil ihr hochmütig seid und in eurem Ungehorsam Freiheit
für eure unerlaubten Gelüste sucht. Geht in euch und bleibt der seit vielen
Jahrhunderten geltenden Lehre treu. Von Moses bis Christus, von Christus bis
zu euch, und von euch bis zum letzten Tage ist dies die Lehre, und keine
andere.
Kommt sie von euch, diese Lehre?
Nein, die Wahrheit ist in mir und in meiner Lehre, und die Weisheit des
Menschen besteht darin, mir zu gehorchen. Ist die Neugierde gefahrlos? Nein,
sie steckt euch an, und ihr habt dann die Folgen zu tragen. Weg von Satan,
wenn ihr Christus haben wollt. Ich bin der Gute. Ich und der Geist des Bösen,
wir haben nichts gemeinsam. Entweder ich oder er. Wählt.»
«0 mein "Sprachrohr": Sage dies
denen, die es angeht. Es ist das letzte Mal, daß ich zu ihnen spreche. Du aber
und dein Seelenführer, seid vorsichtig. Die Beweise werden zu Gegenbeweisen in
der Hand des Feindes und der Feinde meiner Freunde. Nehmt euch in acht. Geht
hin in meinem Frieden.»
558. «DIE, DIE MICH LIEBEN, GEHEN
FORT»
«Erhebt euch und laßt uns
aufbrechen. Gehen wir wieder zum Fluß und suchen wir ein Boot. Geh du, Petrus,
mit Jakobus. Man soll uns bis in die Nähe von Bethabara bringen. Wir werden
einen Tag bei Salomon bleiben und dann ...»
«Aber willst du denn nicht nach
Nazareth gehen?»
«Nein. Heute nacht habe ich mich
entschlossen. Es tut mir leid für euch, aber ich muß zurückkehren.»
«Ich bin glücklich darüber!» ruft
Margziam. «So werde ich länger bei dir sein!»
«Ja; obgleich du, armer Junge,
gar traurige Tage an meiner Seite verlebst!»
«Gerade deswegen möchte ich bei
dir bleiben, um dich meine Liebe fühlen zu lassen. Das allein will ich, sonst
verlange ich nichts.»
Jesus küßt ihn auf die Stirn.
«Gehen wir also wieder über
Bethabara?» fragt Matthäus.
«Nein. Wir überqueren den Fluß
mit irgendeinem Fischerboot.»
98
Petrus kommt mit Jakobus zurück.
«Bis heute abend, Meister, ist kein Boot zu haben... Und... soll ich es
sagen?»
«Sage es.»
«Einige sind hier
vorbeigekommen... Sie müssen entweder gut bezahlt oder stark gedroht haben...
Ich glaube nicht, daß du am Abend wirklich ein Boot finden wirst... Sie sind
erbarmungslos ...» seufzt Petrus.
«Das macht nichts. Gehen wir...
und der Herr wird uns helfen.»
Die Jahreszeit ist ungünstig, es
regnet und der Weg ist aufgeweicht. Zum Regen kommt noch der Tau der Nacht,
der auf dem Damm am Flußufer sehr reichlich fällt. Dennoch gehen sie auf
diesem schmalen, erhöhten und der Straße entlang verlaufenden Weg, der weniger
schlammig und weniger dem ununterbrochenen Geriesel des feinen Regens
ausgesetzt ist durch eine Reihe von Pappeln, die einigermaßen Schutz gewähren,
wenn nicht gerade ein Windstoß alle Tropfen auf einmal herunterschüttelt, die
die Zweige zurückgehalten haben.
«Ja, es ist eben jetzt die Zeit»,
sagt Thomas philosophisch, indem er den Kragen seines Gewandes hochklappt.
«Ja, es ist seine Zeit»,
bestätigt Bartholomäus mit einem Seufzer.
«Wir werden schon irgendwo unsere
Kleider trocknen können... Es werden doch nicht alle gegen uns aufgebracht
sein», sagt Petrus.
«Es kann immer noch sein, daß wir
ein Boot finden... Wer weiß!» fügt Jakobus des Alphäus hinzu.
«Wenn wir viel Geld hätten,
würden wir alles finden; aber er hat mich ja nicht nach Jericho gehen lassen,
um die Sachen zu verkaufen!» sagt Judas von Kerioth.
«Schweig! Ich bitte dich. Der
Meister ist so betrübt. Schweig!» fleht Johannes.
«Ich schweige. Ja, ich freue mich
sogar über seinen Befehl. So kann man nicht sagen, daß ich diese Sadduzäer
beigeschickt habe», und er schaut dabei Petrus an. Aber Petrus ist in Gedanken
versunken, sieht nichts und antwortet nichts.
Sie gehen weiter und weiter unter
dem Regen, der so fein wie Nebel durch den grauen Tag rieselt. Von Zeit zu
Zeit sprechen sie miteinander, aber es scheinen eher Selbstgespräche zu sein,
so sehr gleichen ihre Worte Schlüssen aus einem Dialog mit einem unsichtbaren
Gesprächspartner.
«Wir werden doch schließlich
irgendwo anhalten müssen.»
«Alle Orte sind gleich, denn
überall kommen sie hin.»
«Ob wir verfolgt werden oder
nicht, besser ist es doch, in einer Stadt zu sein. Wenigstens wird man dort
nicht naß.»
«Aber was wollen sie denn
eigentlich erreichen?»
«Arme Maria! Wenn sie wüßte!»
«Großer Gott, beschütze deine
Diener!» usw. ... Dann stecken sie alle die Köpfe zusammen und diskutieren
leise miteinander.
99
Jesus geht voran, allein...
Allein! Bis Margziam ihn mit dem Zeloten einholt.
«Die anderen sind zum Ufer
hinuntergestiegen, um zu sehen, ob ein Boot zu haben ist... Dann würde es
schneller gehen. Dürfen wir zu dir kommen?»
«Kommt! Worüber habt ihr vorhin
gesprochen?»
«Über dein Leiden.»
«Und über den Haß der Menschen.
Was können wir tun, um dein Leiden zu lindern und den Haß zu zügeln?» fragt
der Zelote.
«Mein Schmerz wird durch eure
Liebe gelindert... Für den Haß... gibt es nichts anderes, als ihn zu
ertragen... Das ist etwas, was mit dem Leben auf Erden aufhört, und dieser
Gedanke gibt Geduld und Kraft, ihn zu ertragen. Margziam! Junge! Warum bist du
so betrübt?»
«Weil mich das an Doras
erinnert.»
«Du hast recht. Es wird Zeit, daß
ich dich nach Hause schicke ...»
«Nein, Jesus! Nein! Warum willst
du mich für etwas Böses bestrafen, das ich nicht getan habe?»
«Nicht zur Strafe, sondern um
dich zu behüten... Ich will nicht, daß du an Doras denkst. Was fühlst du bei
dieser Erinnerung? Antworte mir...»
Margziam weint mit gesenktem
Kopf; dann erhebt er sein Gesicht und sagt: «Du hast recht. Mein Geist ist
nicht imstande zu verstehen und zu verzeihen, noch nicht. Aber warum willst du
mich fortschicken? Wenn du leidest, habe ich einen Grund mehr, in deiner Nähe
zu sein. Du hast mich doch auch immer getröstet! Ich bin nicht mehr das
törichte Kind, das dir im vergangenen Jahr gesagt hat: "Laß mich deinen
Schmerz nicht schauen." Ich bin jetzt wirklich erwachsen. Laß mich bei dir
bleiben, Herr... Sag du es ihm, Simon.»
«Der Meister weiß, was gut für
uns ist. Und vielleicht... will er dir einen Auftrag geben... Ich weiß
nicht... Es ist nur so ein Gedanke von mir.»
«Du hast recht. Ich hätte ihn
gern bei mir behalten bis nach dem Lichterfest. Aber... meine Mutter ist
allein. Man redet so viel über den Haß meiner Feinde, und sie könnte
Schlimmeres befürchten, als wirklich ist. Meine Mutter ist allein, und
sicherlich weint sie. Du wirst zu ihr gehen und ihr ausrichten, daß ich sie
grüßen lasse und sie nach dem Lichterfest erwarte. Sonst sollst du ihr nichts
sagen, Margziam.»
«Aber wenn sie mich fragt?»
«Oh, du kannst sagen ohne zu
lügen... daß das Leben ihres Jesus wie dieser Himmel des Etanim ist: Wolken
und Regen, teilweise Sturm. Aber es fehlen auch nicht die Sonnentage, wie
gestern, wie vielleicht auch morgen. Schweigen ist nicht lügen. Du kannst ihr
von den Wundern erzählen, die du gesehen hast. Du kannst ihr sagen, daß Elisa
bei mir ist; daß Ananias mich wie ein Vater aufgenommen hat; daß ich in Nob im
Haus eines
100
guten Israeliten bin... Über den
Rest bewahre Schweigen. Dann gehst du zu Porphyria und bleibst dort, bis ich
dich rufe.»
Margziam weint noch stärker.
«Warum weinst du so? Gehst du
nicht gern zu Maria? Gestern warst du noch ...» sagt Simon.
«Ja, gestern, weil wir alle
zusammen zu ihr gehen wollten. Ich weine auch aus Angst, dich nicht mehr zu
sehen... Oh, Herr! Herr! Nie mehr wird es für mich so glückliche Tage geben,
wie es die letzten waren!»
«Wir werden uns noch wiedersehen,
Margziam. Ich verspreche es dir.»
«Wann? Nicht vor dem Passahfest.
Das ist eine lange Zeit.» Jesus schweigt. «Willst du mich wirklich nicht vor
Passah bei dir haben?»
Jesus legt einen Arm um seine
noch schmalen Schultern und zieht ihn an sich. «Warum willst du die Zukunft
kennen? Heute sind wir noch. Morgen sind wir nicht mehr. Auch der reichste und
mächtigste Mann kann seinem Leben keinen Tag hinzufügen. Sein Leben und die
ganze Zukunft liegt in der Hand Gottes ...»
«Aber zum Passahfest muß ich ja
in den Tempel kommen. Ich bin Israelit. Du kannst mich nicht sündigen lassen!»
«Du wirst nicht sündigen. Und die
erste Sünde, von der du mir versprechen mußt, daß du sie nie begehst, ist die
des Ungehorsams. Du sollst gehorchen. Immer. Jetzt mir, und später dem, der in
meinem Namen zu dir sprechen wird. Versprichst du mir das? Denk daran, daß
ich, dein Meister und Gott, meinem Vater gehorcht habe und ihm gehorchen werde
bis zum Ende meiner Tage.» Jesu Stimme wird feierlich bei diesen letzten
Worten.
Margziam sagt fast mit
Begeisterung: «Ich werde gehorchen. Ich schwöre es vor dir und dem ewigen
Gott.»
Es folgt ein Schweigen.
Dann fragt der Zelote: «Geht er
allein zu ihr?»
«Nein, gewiß nicht. Mit einigen
Jüngern. Wir werden noch andere finden außer Isaak.»
«Schickst du auch Isaak nach
Galiläa?»
«Ja, er wird mit meiner Mutter
zurückkehren.»
Man ruft sie vom Fluß. Die drei
überqueren den Weg und gehen ans Wasser hinunter.
«Schau, Meister, wir haben etwas
gefunden. Und sie wollen keine Bezahlung. Es sind Verwandte eines wunderbar
Geheilten. Sie bringen Sand zum Dorf, also müssen wir bis dorthin zu Fuß
gehen. Dann nehmen sie uns mit.»
«Gott vergelte es ihnen. So
können wir gegen Abend bei Ananias sein.»
Petrus kommt sehr zufrieden
wieder zum Weg herauf und sieht das traurige Gesicht des Margziam. «Was hast
du? Was hat er getan?»
«Nichts Böses, Simon. Ich habe
ihm gesagt, daß ich ihn nach Hause
101
schicken werde, sobald wir
irgendwo Jünger antreffen. Und deshalb ist er traurig.»
«Nach Hause... Ja... das ist
richtig... Die Jahreszeit...» Petrus überlegt. Dann schaut er Jesus an und
zieht ihn am Ärmel, damit er sich zu seinem Mund herunterneigt, und flüstert
ihm ins Ohr: «Meister, aber warum schickst du ihn fort, ohne abzuwarten ...»
«Wegen der Jahreszeit, du hast es
selbst gesagt.»
«Und außerdem?»
«Simon, ich will dir nichts
vormachen. Auch, weil es nicht gut ist, daß Margziam sich das Herz
vergiftet...»
«Du hast recht, Meister.
Vergiftung des Herzens... Das ist es. Genau dazu würde es schließlich kommen.»
Dann sagt er laut: «Der Meister hat wirklich recht. Du wirst gehen und... wir
sehen uns dann an Passah wieder. Schließlich ist es ja nicht mehr lange bis
dahin. Der Kislew ist vorüber... Oh, bald kommt der schöne Nisan. Ja, gewiß,
er hat recht...» Die Stimme des Petrus wird unsicher. Er wiederholt behutsam
und traurig: «Er hat recht ...» Und zu sich selbst sagt er: «Was wird wohl
alles passieren bis zum Nisan?» Er schlägt verzweifelt mit der Hand auf die
Stirn.
Weiter und weiter gehen sie in
der Nässe des Tages. Es regnet nicht mehr, bis sie, an die Knie mit Schlamm
bedeckt, in fünf kleine, feuchte, sandige Kähne steigen, die mit der Strömung
flußabwärts fahren. Dann beginnt es wieder zu regnen. Die Tropfen klatschen
auf das stille Wasser des Flusses, das den wolkenverhangenen Himmel
widerspiegelt, und bilden sich immer wieder auflösende Kreise in einem Spiel
von perlmutternen Facetten.
Es scheint eine ganz verlassene
Gegend zu sein. An den Ufern, in den winzigen Dörfchen, ist keine Seele zu
sehen. Wegen des Regens sind die Häuser verschlossen und die Wege verlassen,
so daß sie bei der Landung in der beginnenden Abenddämmerung nahe dem kleinen
Dorf Salomons den Weg still und leer vorfinden und zum Haus gelangen, ohne von
jemandem gesehen zu werden. Sie klopfen an. Sie rufen. Nichts. Nur das Gurren
der Tauben, das Blöken der Schäflein und das Rauschen des Regens.
«Es ist niemand da. Was machen
wir?»
«Geht zu den Häusern des Dorfes.
Zuerst zu dem des kleinen Michael», gebietet Jesus.
Während die jüngeren Apostel
eilig weitergehen, bleiben Jesus und die älteren in der Nähe des Hauses und
beobachten und besprechen die Lage.
«Alles ist verschlossen... Auch
das Gittertor ist gut zugebunden und gesichert. Schau! Da ist sogar ein großer
Nagel. Die Fenster sind verschlossen wie bei Nacht. Wie traurig es aussieht!
Und dann dieses Jammern der Schafe und Tauben! Ob er wohl krank ist? Was
meinst du, Meister?»
Jesus schüttelt den Kopf. Er ist
müde und traurig...
102
Die Apostel kehren im Laufschritt
zurück. Andreas kommt als erster bei ihnen an und ruft ihnen schon aus einigen
Metern Entfernung zu: «Er ist tot... Ananias ist gestorben... Man darf nicht
ins Haus, weil es noch nicht gereinigt ist... Erst seit einigen Stunden ist er
im Grab... Wären wir doch gestern schon gekommen... Gleich kommt die Frau, die
Mutter Michaels.»
«Aber was verfolgt uns denn so?!»
platzt Bartholomäus heraus.
«Armer Alter! Er war so
glücklich! Es ging ihm so gut! Wie kam es denn? Wann ist er krank geworden?»
Alle reden auf einmal.
Da kommt die Frau. Aus einer
gewissen Entfernung sagt sie: «Herr, der Friede sei mit dir! Mein Haus steht
dir offen. Aber... ich weiß nicht, ob... Ich habe den Toten hergerichtet.
Deswegen nähere ich mich dir nicht. Doch kann ich dir die Häuser angeben, die
euch aufnehmen werden.»
«Ja, Frau. Gott möge es dir
vergelten und mit dir all jenen, die den Wanderern Barmherzigkeit erweisen.
Aber wie ist der Mann denn gestorben?»
«Oh, ich weiß es nicht. Er war
nicht krank. Vorgestern ging es ihm noch gut. Ja, gewiß, es ging ihm gut.
Michael war am Morgen gekommen, um die beiden Schafe zu holen und sie zu den
unsrigen zu bringen. So war es abgemacht. Ich hatte ihm um die sechste Stunde
die Kleidungsstücke gebracht, die ich ihm gewaschen hatte. Er saß am Tisch und
aß. Ganz gesund. Am Abend hatte Michael noch die Schafe zurückgebracht und
zwei Krüge Wasser für ihn geholt. Er hatte ihm zwei Brötchen geschenkt, die er
sich gemacht hatte. Gestern morgen kam mein Sohn wegen der Schafe. Alles war
verschlossen wie jetzt, und niemand antwortete auf die Rufe des Knaben. Er
versuchte die Gartentür aufzustoßen, aber es gelang ihm nicht, sie zu öffnen.
Sie war verschlossen. Da erschrak Michael und kam zu mir gelaufen. Ich, mein
Mann und andere liefen hin. Wir öffneten die Gartentür und klopften an die
Küchentür... Dann brachen wir die Tür auf. Er saß noch neben der Feuerstätte
mit über den Tisch geneigtem Haupt. Die Lampe stand noch in der Nähe; aber sie
war erloschen wie er. Ein Messerchen lag zu seinen Füßen und ein
halbgeschnitzter Holzteller... Der Tod hat ihn so überrascht... Er lächelte...
Er war im Frieden... Oh, welch schönes Antlitz eines Gerechten. Er schien noch
schöner als sonst... Ich... Erst seit kurzem habe ich mich seiner
angenommen... Aber ich war ihm sehr zugetan... und weine ...»
«Er ist im Frieden. Du selbst
hast es gesagt. Weine nicht! Wo habt ihr ihn begraben?»
«Wir haben gewußt, daß du ihn
sehr liebst, und daher haben wir ihn in das Grab gelegt, das Levi sich vor
kurzem hat errichten lassen. Ein einzelnes Grab, denn Levi ist reich. Wir sind
nicht reich. Dort hinten, jenseits des Weges. Wenn du willst, werden wir jetzt
alles reinigen und ...»
103
«Ja. Nimm du die Schafe und die
Tauben, und den Rest bewahrt für mich und die Meinen, damit ich mich dort
manchmal aufhalten kann. Gott segne dich, Frau. Gehen wir zum Grab.»
«Willst du ihn auferwecken?»
fragt Thomas erstaunt.
«Nein, das wäre keine Freude für
ihn. Dort, wo er ist, ist er glücklicher. Er hat sich ja danach gesehnt ...»
Aber Jesus ist sehr
niedergeschlagen. Es scheint, als ob alles sich verschworen hätte, seine
Traurigkeit zu vermehren. Aus den Haustüren schauen Frauen, grüßen und machen
ihre Bemerkungen.
Bald ist die Grabstätte erreicht:
ein kleiner, erst kürzlich gebauter Würfel. Jesus bleibt in der Nähe stehen
und betet. Dann wendet er sich um mit tränennassen Augen und spricht – «Gehen
wir... in die Häuser des Dorfes. In unserem Häuschen ist niemand mehr, der uns
erwartet, um uns zu segnen... Mein Vater! Einsamkeit umgibt deinen Sohn. Die
Leere wird immer größer und trüber. Die mich lieben, gehen fort, und es
bleiben die, die mich hassen... Vater, dein Wille geschehe und sei gepriesen
allezeit... !»
Sie kehren ins Dorf zurück. Zwei
hier, drei dort, betreten sie die Häuser derer, die den Toten nicht berührt
haben, um Unterkunft und Erquickung zu finden.
559. DAS GLEICHNIS VOM
UNGERECHTEN RICHTER
Jesus ist wieder in Jerusalem, in
einem windigen, düsteren, winterlichen Jerusalem. Margziam ist noch bei Jesus,
ebenso Isaak. Die Jünger sprechen miteinander, sie sind auf dem Weg zum
Tempel.
Mit den Zwölf sind auch Joseph
und Nikodemus. Mehr als mit den anderen sprechen sie mit dem Zeloten und mit
Thomas. Aber dann verlassen sie diese und gehen grüßend an Jesus vorüber, ohne
sich bei ihm aufzuhalten.
«Sie wollen ihre Freundschaft mit
dem Meister nicht offen bekennen. Das wäre gefährlich», zischt Iskariot
Andreas zu.
«Ich glaube, sie tun es aus einem
vernünftigen Grund, nicht aus Feigheit», verteidigt sie Andreas.
«Im übrigen sind sie ja keine
Jünger und deshalb frei. Sie sind es nie gewesen», sagt der Zelote.
«Nicht?! Mir schien es aber ...»
«Nicht einmal Lazarus ist ein
Jünger, und nicht einmal ...»
«Aber wenn du ausschließt und
ausschließt, wer bleibt dann noch?»
«Wer? Die, die die Sendung eines
Jüngers haben.»
«Und die anderen, was sind dann
die?»
«Freunde, nicht mehr als Freunde.
Verlassen sie etwa ihre Häuser, ihre Geschäfte, um Jesus zu folgen?»
104
«Nein. Aber sie hören ihn gern,
helfen ihm und...»
«Wenn es nur das ist! Auch die
Heiden tun das. Du siehst, daß wir auch bei Nike jemanden gefunden haben, der
an ihn gedacht hatte. Und diese Frauen waren gewiß keine Jünger.»
«Erhitze dich nicht! Ich habe nur
so gesagt. Legst du so viel Wert darauf, daß deine Freunde keine Jünger sind?
Mir scheint, du solltest das Gegenteil wünschen.»
«Ich erhitze mich nicht und will
auch gar nichts. Nicht einmal, daß du ihnen schadest, indem du sie als seine
Jünger bezeichnest.»
«Aber wem sollte ich das denn
sagen? Ich bin doch immer bei euch ...»
Simon der Zelote sieht ihn so
streng an, daß das Lächeln auf den Lippen des Judas erstirbt und dieser es für
angebracht hält, das Thema zu wechseln und fragt: «Was wollten sie heute, daß
sie mit euch beiden so viel geredet haben?»
«Sie haben das Haus für Nike
gefunden, bei den Gärten, nahe am Stadttor. Joseph kannte den Eigentümer und
wußte, daß er es für einen guten Gewinn verkaufen würde. Wir werden es Nike
mitteilen.»
«Wozu so das Geld hinauswerfen?»
«Sie hat es und kann damit tun,
was sie will. Sie will in der Nähe des Meisters sein. Sie gehorcht damit dem
Willen ihres Mannes und ihrem eigenen Herzen.»
«Nur meine Mutter ist fern...»
seufzt Jakobus des Alphäus.
«Und meine», sagt der andere
Jakobus.
«Aber nur für kurze Zeit. Hast du
gehört, was Jesus zu Isaak, Johannes und Matthias gesagt hat? "Wenn ihr zum
Neumond des Schebat zurückkehrt, dann bringt außer meiner Mutter auch die
Jüngerinnen mit."»
«Ich weiß nicht, weshalb er nicht
will, daß Margziam mit ihnen kommt, denn er hat zu ihm gesagt: "Du wirst
kommen, wenn ich dich rufe."»
«Vielleicht, damit Porphyria
nicht ohne Hilfe bleibt... Wenn keiner fischen geht da oben, gibt es auch
nichts zu essen. Wir tun es nicht, also muß Margziam gehen. Der Feigenbaum,
der Bienenstock, die wenigen Ölbäume und die beiden Schafe reichen gewiß nicht
aus, um eine Frau zu kleiden und zu ernähren ...» bemerkt Andreas.
Jesus, der vor der
Umfassungsmauer des Tempels stehengeblieben ist, schaut sie an, während sie
herankommen. Bei ihm sind Petrus, Margziam und Judas des Alphäus. Einige Arme
erheben sich von ihren Steinlagern am Weg, der zum Tempel führt – der Weg von
Sion zum Moriah, nicht der von Ophel zum Tempel – und gehen Jesus jammernd und
um Almosen bittend entgegen. Niemand bittet um Heilung. Jesus beauftragt
Judas, ihnen Geldstücke zu geben. Dann betritt er den Tempel.
Es ist nicht viel Volk da. Nach
dem großen Zustrom an den Festtagen kommen keine Pilger mehr. Nur wer wegen
wichtiger Geschäfte gezwungen
105
ist, nach Jerusalem zu kommen,
oder wer in der Stadt selbst wohnt, geht zum Tempel hinauf. Daher sind die
Vorhöfe und Säulengänge, wenn auch nicht ganz verlassen, so doch weniger
belebt, und sie erscheinen viel geräumiger und heiliger, da weniger
geräuschvoll. Auch die Wechsler und Verkäufer von Tauben und anderen Tieren
sind weniger zahlreich. Sie lehnen sich an die von der Sonne beschienenen
Mauern – einer blassen Sonne, die durch die grauen Wolken dringt.
Nach dem Gebet im Vorhof der
Israeliten kehrt Jesus zurück und lehnt sich an eine Säule, so daß er
beobachten kann... aber auch beobachtet wird.
Er sieht einen Mann und eine
Frau, die gewiß vom Vorhof der Hebräer zurückkehren und zwar nicht offen
weinen, deren Gesichter aber auch ohne Tränen einen großen Schmerz erkennen
lassen. Der Mann versucht die Frau zu trösten, obwohl man sieht, daß auch er
sehr betrübt ist.
Jesus verläßt die Säule und geht
ihnen entgegen. «Was schmerzt euch?» fragt er sie mitleidig.
Der Mann schaut ihn an, erstaunt
über diese Anteilnahme. Vielleicht kommt er ihm sogar aufdringlich vor. Aber
der Blick Jesu ist so sanft, daß er ihn entwaffnet. Und bevor er ihm seinen
Schmerz erzählt, fragt er: «Wie kommt es, daß ein Rabbi sich um das Leid eines
einfachen Gläubigen kümmert?»
«Weil der Rabbi dein Bruder ist,
o Mensch, dein Bruder im Herrn, und er liebt dich, wie das Gebot es
vorschreibt.»
«Dein Bruder? Ich bin ein armer
Bauer der Saronebene bei Dora, du aber bist ein Rabbi.»
«Ein Rabbi fühlt den Schmerz wie
alle anderen. Ich weiß, was Schmerz ist, und möchte dich trösten.»
Die Frau hebt ein wenig den
Schleier, um Jesus anzuschauen, und flüstert ihrem Gatten zu: «Sag es ihm.
Vielleicht kann er uns helfen ...»
«Rabbi, wir hatten eine Tochter,
wir haben sie noch. Noch haben wir sie... Und wir haben sie, wie es sich
geziemt, einem jungen Mann zur Frau gegeben, von dem uns ein gemeinsamer
Freund versichert hatte, daß es ein Ehemann würde. Sie sind seit sechs Jahren
verheiratet und haben zwei Kinder; nur zwei... denn danach schwand die Liebe,
so daß der Gatte nunmehr die Scheidung verlangt. Unsere Tochter weint und
verzehrt sich vor Gram; deshalb haben wir gesagt, daß wir sie noch haben. Denn
bald wird sie vor Schmerz sterben. Wir haben alles versucht, ihren Gatten zu
überreden. Und wir haben so inbrünstig zum Allerhöchsten gebetet. Aber keiner
von beiden hat uns erhört. Daher haben wir eine Pilgerfahrt hierher
unternommen und sind einen ganzen Monat lang hiergeblieben. Alle Tage sind wir
in den Tempel gegangen, ich an meinen Platz, die Frau an den ihren. Heute früh
ist ein Diener meiner Tochter mit der Nachricht gekommen, daß der Gatte nach
Caesarea gegangen sei, um ihr von dort den
106
Scheidebrief zu schicken. Das ist
die Antwort, die unsere Gebete erhalten haben ...»
«Sprich nicht so, Jakob», fleht
die Frau mit leiser Stimme. «Der Rabbi wird uns als Gotteslästerer
verfluchen... Und Gott wird uns strafen. Dies ist unser Schmerz, und er kommt
von Gott... und wenn er uns geschlagen hat, dann geschah es, weil wir es
verdient haben», schließt
Schluchzen.
«Nein, Frau. Ich verfluche euch
nicht, und Gott wird euch nicht bestrafen. Ich sage es euch, so wie ich euch
auch sage, daß nicht Gott es ist, der euch diesen Schmerz bereitet, sondern
der Mensch. Gott läßt es geschehen, um euch zu prüfen und um den Mann eurer
Tochter zu prüfen. Verliert nicht das Vertrauen, und der Herr wird euch
erhören.»
«Es ist zu spät. Unsere Tochter
ist nun verstoßen und entehrt und wird sterben», sagt der Mann.
«Es ist nie zu spät für den
Allerhöchsten. In einem Augenblick und durch Ausdauer im Gebet kann er den
Lauf der Ereignisse ändern. Zwischen dem Kelch und den Lippen bleibt dem Tod
immer noch Zeit, mit seinem Dolch zuzustoßen und zu verhindern, daß der sich
dem Mund nähernde Kelch getrunken werden muß. Und dies geschieht durch das
Eingreifen Gottes. Ich sage es euch. Kehrt zurück zu euren Gebetsplätzen,
verharrt heute, morgen und übermorgen noch im Gebet. Habt Glauben und
Vertrauen, und ihr werdet das Wunder erleben.»
«Rabbi, du willst uns trösten;
aber in diesem Augenblick... Du weißt, daß man einen Scheidebrief, wenn er der
Verstoßenen einmal übergeben worden ist, nicht mehr rückgängig machen kann»,
sagt der Mann.
«Hab Vertrauen, sage ich dir. Es
ist wahr, man kann ihn nicht rückgängig machen. Aber weißt du, ob deine
Tochter ihn erhalten hat?»
«Von Dora nach Caesarea ist kein
weiter Weg. Während der Diener hierher kam, ist Jakob gewiß nach Hause
zurückgekehrt und hat Maria verjagt.»«Der Weg ist zwar nicht weit, aber bist
du sicher, daß er ihn zurückgelegt hat? Sollte ein über dem Menschen stehender
Wille einen Mann nicht aufhalten können, wenn Josua mit Gottes Hilfe die Sonne
zum Stillstand brachte? Ist euer inständiges, vertrauensvolles Beten in guter
Absicht nicht etwa ein heiliges Wollen, das sich dem bösen Willen des Menschen
entgegenstellt? Und da ihr um etwas Gutes bittet, sollte euch da nicht Gott,
der doch euer Vater ist, helfen, dem Wahnsinnigen Einhalt zu gebieten? Hat er
euch vielleicht nicht schon geholfen? Selbst wenn der Mann noch darauf
bestehen würde zu gehen, könnte er ihm nicht Einhalt gebieten, wenn ihr ebenso
beständig den Vater um eine gerechte Sache bittet? Ich sage euch: Geht hin und
betet heute, morgen und übermorgen, und ihr werdet das Wunder erleben.»
«Oh, gehen wir, Jakob! Der Rabbi
muß es wissen. Und wenn er uns auffordert zu beten, ist dies ein Zeichen, daß
es das Richtige ist. Hab
107
Vertrauen, mein Gatte. Ich fühle
in mir einen großen Frieden, eine große Hoffnung aufsteigen, während ich
vorher so großen Schmerz empfand. Gott lohne es dir, o Rabbi, der du so gut
bist, und er möge dich erhören. Bete auch du für uns. Komm, Jakob, komm.» Und
es gelingt ihr, ihren Mann zu überzeugen, der ihr folgt, nachdem sie sich von
Jesus mit dem üblichen hebräischen Gruß verabschiedet haben: «Der Friede sei
mit dir», den Jesus mit denselben Worten beantwortet.
«Warum hast du ihm nicht gesagt,
wer du bist? Sie hätten dann mit größerem Frieden im Herzen gebetet», sagen
die Apostel, und Philippus fügt hinzu: «Ich gehe und sage es ihm.»
Aber Jesus hält ihn zurück mit
den Worten: «Ich will es nicht. Er würde wirklich mit Frieden beten, aber mit
weniger Verdienst. So wird ihr Glaube vollkommen sein und belohnt werden.»
«Wirklich?»
«Glaubt ihr vielleicht, daß ich
lüge und zwei Unglückliche betrüge?»
Er schaut auf das Volk, das sich
versammelt hat, an die hundert Menschen, und spricht: «Hört dieses Gleichnis,
das euch den Wert des ausdauernden Gebetes erklären wird!
Ihr wißt, was das Deuteronomium
über die Richter und Beamten sagt. Sie müssen gerecht und barmherzig sein und
ohne Voreingenommenheit alle anhören, welche sich an sie wenden. Sie sollen
deren Angelegenheiten so behandeln, als wären es ihre eigenen, keine Geschenke
annehmen, nicht auf Drohungen achten, schuldig gewordene Freunde nicht
begünstigen und solche, die mit den Freunden des Richters verfeindet sind,
nicht benachteiligen. Und wenn auch die Worte des Gesetzes gerecht sind, so
sind es doch die Menschen, die dem Gesetz nicht zu gehorchen wissen, nicht
immer. Man sieht also, daß die menschliche Gerechtigkeit oft unvollkommen ist;
denn selten sind die Richter, die sich nicht durch Bestechlichkeit beflecken,
die barmherzig und geduldig sind sowohl mit den Reichen als auch mit den
Armen, mit den Witwen und Waisen, wie auch mit denen, die dies nicht sind.
In einer Stadt lebte ein seines
Amtes, das er nur durch mächtige Verwandte erlangt hatte, sehr unwürdiger
Richter. Er war äußerst ungerecht in seinen Urteilen und immer geneigt, den
Reichen und Mächtigen, den von Reichen und Mächtigen Empfohlenen, und auch
denen, die ihn mit reichen Geschenken bestachen, recht zu geben. Er fürchtete
Gott nicht und lachte über die Klagen der Armen und Schwachen, die keinen
mächtigen Verteidiger hatten. Wenn er jemanden nicht anhören wollte, der so
überzeugende Beweise gegen einen Reichen vorbrachte, daß er ihm in keiner
Weise Unrecht geben konnte, ließ er ihn von sich jagen und drohte ihm mit
Kerker. Die meisten ertrugen seine Gewaltakte stillschweigend, zogen sich
geschlagen zurück und akzeptierten ihre Niederlage, noch bevor ihr Fall vor
Gericht erörtert worden war.
108
In dieser Stadt lebte auch eine
Witwe mit vielen Kindern, der ein reicher, einflußreicher Herr eine große
Sunime für Arbeiten, die ihr verstorbener Gatte für diesen Mächtigen
ausgeführt hatte, schuldig geblieben war. Getrieben von Not und mütterlicher
Liebe hatte sie sich bemüht, die Summe zu erhalten, die es ihr ermöglicht
hätte, ihre Kinder zu ernähren und sie für den kommenden Winter mit Kleidung
zu versehen. Aber all ihr Drängen und Flehen war erfolglos geblieben, und so
wandte sie sich all den Richter.
Der Richter war ein Freund dieses
Reichen, und letzterer hatte zu ihm gesagt: "Wenn du mir recht gibst, gehört
ein Drittel der Summe dir." Daher war der Richter taub gegenüber den Worten
der Witwe, die ihn bat: "Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher. Du
siehst, wie sehr ich des Geldes bedarf. Alle können dir bestätigen, daß ich
ein Anrecht auf diese Summe habe." Der Richter aber blieb taub und ließ sie
von seinen Dienern fortjagen. Doch die Frau kehrte ein-, zwei-, zehnmal
zurück, am Morgen, zur sechsten und neunten Stunde, am Abend, unermüdlich. Sie
lief ihm nach auf der Straße und rief ihm zu: "Schaffe mir Recht. Meine Kinder
haben Hunger und frieren, und ich habe kein Geld, um Mehl und Kleider zu
kaufen." Sie war an der Schwelle seines Hauses, wenn er heimkehrte, um sich
mit seinen Kindern zu Tisch zu setzen. Und der Schrei der Witwe: "Schaffe mir
Recht, denn ich leide zusammen mit meinen Kindern Hunger und Kälte", drang bis
ins Haus, bis in den Speisesaal und in das Schlafgemach während der Nacht,
durchdringend wie das Geschrei eines Wiedehopfs: "Erweise mir Gerechtigkeit,
wenn du nicht willst, daß Gott dich bestrafe! Erweise mir Gerechtigkeit!
Bedenke, daß die Witwen und 'Waisen Gott heilig sind, und wehe dem, der sie
bedrückt. Erweise mir Gerechtigkeit, wenn du nicht eines Tages erleiden
willst, was wir jetzt leiden. Hunger leiden und frieren, wie wir jetzt, wirst
du im anderen Leben, wenn du nicht Gerechtigkeit walten läßt, du Elender!"
Der Richter fürchtete weder Gott
noch den Nächsten. Doch er hatte es satt, von der Hartnäckigkeit der Witwe
beständig verfolgt und zum Gegenstand des Spottes und auch des Tadels der
ganzen Stadt zu werden. Daher sagte er eines Tages zu sich selbst: "Wenn ich
auch weder Gott noch die Drohungen der Frau oder das Urteil der Mitbürger
fürchte, so will ich doch all diesen Belästigungen ein Ende setzen und der
Witwe Gehör schenken. Ich werde Gerechtigkeit walten lassen und den Reichen
verpflichten zu zahlen, damit sie mich nicht mehr verfolgt und mich in Ruhe
läßt." So rief er denn den reichen Freund zu sich und sagte ihm: "Mein Freund,
es ist mir nicht länger möglich, dich zufriedenzustellen. Tue deine Pflicht
und zahle, denn ich ertrage es nicht länger, deinetwegen belästigt zu werden."
So mußte der Reiche die Sunime zahlen, wie es die Gerechtigkeit wollte.
Das ist das Gleichnis. Nun ist es
an euch, es anzuwenden.
109
Ihr habt die Worte eines
Ungerechten gehört: "Um den vielen Belästigungen ein Ende zu setzen, will ich
der Frau Gehör schenken." Er war ein Ungerechter! Sollte etwa Gott, der
gütigste Vater, weniger gut sein als der schlechte Richter? Wird er nicht
diesen seinen Kindern Gerechtigkeit erweisen, die ihn Tag und Nacht anrufen?
Wird er sie so lange auf die Gnade warten lassen, bis ihr niedergeschlagenes
Herz aufhört zu beten? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich Gerechtigkeit
widerfahren lassen, damit ihre Seele nicht den Glauben verliere. Man muß aber
auch zu beten wissen und nicht gleich nach den ersten Gebeten ermüden, und man
muß um Gutes zu bitten wissen. Auch muß man sich Gott anvertrauen und sagen:
"Es möge jedoch geschehen, was deine Weisheit für uns als das Beste erachtet."
Habt Vertrauen! Wißt zu beten im
Vertrauen auf das Gebet und auf Gott, euren Vater, und er wird euch
Gerechtigkeit erweisen gegenüber euren Bedrückern, mögen sie nun Menschen oder
Dämonen, Krankheiten oder andere Unglücksfälle sein. Das beharrliche Gebet
öffnet den Himmel, und das Vertrauen rettet die Seele, in welcher Weise auch
immer das Gebet gehört und erhört wird. Laßt uns gehen!»
Er geht auf den Ausgang zu. Und
als er beim Hinausgehen sein Haupt erhebt und sieht, wie wenige ihm folgen und
wie viele ihm gleichgültig und feindselig von weitem nachschauen, ruft er
traurig aus: «Wenn der Menschensohn wiederkehrt, wird er dann noch Glauben
finden auf Erden?» Und seufzend hüllt er sich enger in seinen Mantel und
begibt sich mit langen Schritten zur Vorstadt Ophel.
560. «ICH BIN DAS LICHT DER WELT»
Jesus ist noch in Jerusalem, aber
nicht in einem der Vorhöfe des Tempels. Er befindet sich in einem großen,
schön geschmückten Raum, in einem der zahlreichen Räume innerhalb eines
Bezirkes, der die Ausdehnung eines ganzen Dorfes hat.
Er ist gerade erst eingetreten
und geht noch an der Seite dessen, der ihn eingeladen hat hereinzukommen,
vielleicht um ihm Schutz zu bieten vor dem kalten Wind, der auf dem Moriah
weht. Die Apostel und einige Jünger folgen ihm. Ich sage einige, denn außer
Isaak und Margziam sehe ich Jonathan, und unter dem Volk, das ebenfalls hinter
dem Meister hereinkommt, ist der Levit Zacharias, der wenige Tage zuvor gesagt
hatte, er wolle ein Jünger Jesu werden. Ferner sind noch zwei andere da, die
ich schon unter den Jüngern gesehen habe, deren Namen ich aber nicht kenne.
Neben diesen Gutgesinnten fehlen natürlich auch nicht die üblichen,
unvermeidlichen, unverbesserlichen Pharisäer. Sie bleiben nahe der Tür
110
stehen, als hielten sie sich
zufällig dort auf, um Geschäfte zu besprechen; in Wirklichkeit aber sind sie
da, um zu horchen. Die Anwesenden warten alle auf das Wort des Herrn.
Jesus schaut auf diese
Versammlung von Menschen, die sichtlich aus verschiedenen Nationen stammen,
nicht alle aus Palästina sind, wohl aber alle der jüdischen Religion
angehören. Er betrachtet diese Leute, die vielleicht schon morgen in die
verschiedenen Regionen zurückkehren, aus denen sie gekommen sind, und dort
verkünden werden: «Wir haben den Mann gesehen, der unser Messias sein soll.»
Und er spricht zu ihnen nicht von dem ihnen schon bekannten Gesetz, wie er es
oft tut, wenn er sich vor unwissenden und im Glauben erschütterten Menschen
befindet, sondern vielmehr von sich selbst, damit sie ihn kennenlernen.
Er sagt: «Ich bin das Licht der
Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht im Finstern wandeln, sondern das Licht des
Lebens haben.» Dann schweigt er, nachdem er das Thema angekündigt hat, wie er
es gewöhnlich tut, wenn er eine große Predigt halten will. Er schweigt, um den
Leuten Zeit zu lassen zu entscheiden, ob sie das Thema mehr oder weniger
interessiert, und um auch denen, die an dem angekündigten Thema kein Interesse
haben, Zeit zum Weggehen zu lassen. Aber niemand von den Anwesenden entfernt
sich. Und die Pharisäer, die in ein vorgebliches und geflissentliches Gespräch
vertieft an der Tür gestanden sind, beim ersten Wort Jesu sogleich geschwiegen
und sich dem Inneren der Synagoge zugewandt haben, kommen nun sogar herein und
machen sich mit ihrer immer gleichbleibenden Anmaßung breit.
Sobald der Lärm sich gelegt hat,
wiederholt Jesus den eben gesagten Satz mit noch mächtigerer Stimme und fährt
dann fort: «Ich bin das Licht der Welt, da ich der Sohn des Vaters bin, der da
ist der Vater des Lichtes. Der Sohn gleicht immer dem Vater, der ihn gezeugt
hat und dessen Natur er besitzt. Ebenso gleiche ich dem und besitze ich die
Natur dessen, der mich gezeugt hat. Gott, der Allerhöchste, der vollkommene
und unendliche Geist, ist Licht der Liebe, Licht der Weisheit, Licht der
Macht, Licht der Güte, Licht der Schönheit. Er ist der Vater der Lichter, und
wer aus ihm und in ihm lebt, sieht, denn er ist im Licht, so wie es auch das
Verlangen Gottes ist, daß seine Geschöpfe sehen. Er hat den Menschen Verstand
und Herz gegeben, damit sie das Licht, d.h. ihn selbst sehen, verstehen und
lieben können; und er hat den Menschen Augen gegeben, damit sie das Schönste
unter den geschaffenen Dingen sehen können, die Vollkommenheit der Elemente,
durch die die Schöpfung sichtbar wird, die zu den ersten Werken des Schöpfer
Gottes gehört und das sichtbarste Zeichen dessen trägt, der es geschaffen hat:
das Licht, das körperlose, leuchtende, beseligende und tröstende Licht, das so
notwendig ist, wie es der Vater aller ist: der ewige und allerhöchste Gott.
Durch einen Befehl seines
Gedankens schuf er das Firmament und die
111
Erde, d.h. die Masse der
Atmosphäre und die Masse des Staubes, das Körperlose und das Körperliche, das
Leichte und das Schwere, aber beides noch arm und leer und formlos, da in
Finsternis gehüllt, ohne Himmelskörper und ohne Leben. Und um der Erde und dem
Firmament ihr wahres Aussehen zu geben und etwas Schönes, Nutzbringendes und
zur Fortsetzung des Schöpfungswerkes Geeignetes aus ihnen zu machen, rief der
Geist Gottes, der über den Wassern schwebte und eins war mit dem Schöpfer, der
erschuf, und mit der schöpferischen Kraft, die zum Erschaffen trieb, um nicht
nur sich selbst lieben zu können im Vater und im Sohne, sondern auch eine
unendliche Zahl von Geschöpfen, die da genannt werden: Gestirne, Planeten,
Gewässer, Meere, Wälder, Pflanzen, Blumen und Tiere, die fliegen, schnellen,
schleichen, laufen, springen und klettern, und schließlich den Menschen, das
vollkommenste unter den geschaffenen Dingen, vollkommener als die Sonne, da er
aus Materie und Seele besteht, aus Instinkt und Verstand, aus Gesetzmäßigkeit
und freiem Willen... den Menschen, der Gott ähnlich ist durch seinen Geist,
dem Tier ähnlich durch seinen Körper, den Halbgott, der göttlich wird durch
die Gnade Gottes und den eigenen Willen; das Menschenwesen, das durch sein
Wollen zum Engel werden kann, das geliebteste der sinnlich wahrnehmbaren
Geschöpfe, für das Gott trotz seiner Sündhaftigkeit vor dem Anfang der Zeiten
den Erlöser, das Opfer, bereitet hat in der Person des von ihm unendlich
geliebten Wesens, im Sohn, dem Wort, für das alles geschaffen wurde – um also,
wie ich sagte, der Erde und dem Firmament ihr wahres Aussehen zu geben, rief
der im Kosmos schwebende Geist Gottes aus, und hier manifestiert sich zum
ersten Mal das Wort: "Es werde Licht", und es ward Licht, gut, wohltuend und
mächtig am Tag, mild in der Nacht, aber unvergänglich, solange die Zeit dauern
wird. Dem Ozean der Wunderdinge, der da ist der Thron Gottes, der Schoß
Gottes, entnahm Gott die schönste Perle. Sie ist das Licht und geht dem
vollkommensten Juwel, der Erschaffung des Menschen, voraus, in dem sich nicht
nur ein Edelstein Gottes befindet, sondern Gott selbst, der dem Staub seinen
Odem einhauchte, um daraus ein Fleisch und ein Leben zu bilden, seinen Erben
im himmlischen Paradies, wo er die Gerechten, die Söhne erwartet, um sich an
ihnen zu erfreuen und ihnen die Freude der Glückseligkeit in Gott zu schenken.
Wenn Gott zu Beginn der Schöpfung
über seinen Werken das Licht wollte, wenn er sich des Wortes bediente, um das
Licht zu erschaffen, wenn er denen, die er am meisten liebt, das schenkt, was
ihm am ähnlichsten ist: das Licht, das irdische, freudige und körperlose, das
geistige, weise und heiligende Licht, sollte er dann dem Sohn seiner Liebe
versagt haben, was er selbst ist? Wahrlich, dem, in dem er sich von Ewigkeit
her wohlgefällt, hat der Höchste alles gegeben; und von diesem Alles zuerst
und vor allem das Licht, damit die Menschen nicht auf ihren Eintritt
112
ins Himmelreich warten müssen, um
das Wunder der Dreifaltigkeit zu erkennen, das die Himmel in seligen Chören
besingen, besingen in der Harmonie der bewundernden Freude, die den Engeln aus
der Anschauung des Lichtes, Gottes, erwächst, des Lichtes, das das Paradies
erfüllt und beseligt in all seinen Bewohnern.
Ich bin das Licht der Welt. Wer
mir nachfolgt, wird nicht im Finstern wandeln, sondern das Licht des Lebens
haben! Wie das Licht auf der gestaltlosen Erde das Leben der Tiere und
Pflanzen möglich machte, so macht mein Licht das ewige Leben für die Seelen
möglich. Ich, das Licht, schaffe in euch das Leben, erhalte es und vermehre
es; ich schaffe euch neu in ihm, forme euch um und bringe euch zur Wohnstatt
Gottes auf den Wegen der Weisheit, der Liebe und der Heiligung. Wer das Licht
in sich hat, hat Gott in sich; denn das Licht ist eins mit der Liebe, und wer
die Liebe hat, hat Gott. Wer in sich das Licht hat, hat in sich das Leben;
denn Gott ist dort, wo sein geliebter Sohn aufgenommen wird.»
«Du redest unvernünftig. Wer hat
je gesehen, was Gott ist? Nicht einmal Moses hat Gott gesehen, denn sobald er
auf dem Horeb erkannte, wer aus dem brennenden Dornbusch sprach, verhüllte er
sein Antlitz; und auch die anderen Male konnte er ihn nicht sehen unter den
blendenden Blitzen. Und du behauptest, gesehen zu haben? Auf dem Antlitz des
Moses, der ihn nur sprechen hörte, blieb ein Glanz zurück. Aber du, wo ist das
Licht auf deinem Gesicht? Du bist ein armer Galiläer mit einem bleichen
Gesicht, wie die meisten von euch. Ein Kranker bist du, müde und mager.
Wahrlich, wenn du Gott gesehen hättest und er dich lieben würde, sähest du
nicht aus wie einer, der dem Tode nahe ist. Du willst das Leben geben, du, der
du es nicht einmal für dich selbst hast?» Und sie schütteln die Köpfe mit
mitleidiger Ironie.
«Gott ist Licht, und ich weiß,
welches sein Licht ist, denn die Söhne kennen ihren Vater und jeder kennt sich
selbst. Ich kenne meinen Vater und ich weiß, wer ich bin. Ich bin das Licht
der Welt. Ich bin das Licht, weil mein Vater Licht ist, mich gezeugt und mir
seine Natur gegeben hat. Das Wort ist den Gedanken nicht unähnlich, denn das
Wort drückt aus, was der Verstand denkt. Und übrigens, kennt ihr die Propheten
nicht mehr? Erinnert ihr euch nicht an Ezechiel und vor allem an Daniel? In
seiner Beschreibung Gottes, den er in seiner Schau auf dem Wagen der vier
Tiere sah, sagt der Erstere: "Auf dem Thron war einer, der das Aussehen eines
Menschen hatte. Und ich sah etwas, wie den Anblick des Glanzes, wie das
Aussehen des Feuers inwendig, und von seinen Lenden an aufwärts und abwärts
sah ich etwas wie Feuer, das ringsum erstrahlte. Wie der Anblick des Bogens,
der in den Wolken steht an einem Regentag, so war der Anblick des Glanzes
ringsum." Und Daniel sagt: "Ich sah, wie Throne aufgestellt wurden, und ein
Hochbetagter setzte sich. Sein Gewand war weiß wie Schnee, sein Haupthaar wie
reine Wolle. Sein Thron
113
war von Flammen und seine Räder
von Feuerbränden. Ein Feuerstrom floß und ging von ihm aus." So ist Gott, und
so werde ich sein, wenn ich komme, um euch zu richten.»
«Dein Zeugnis ist nicht gültig.
Du legst Zeugnis von dir selbst ab. Welchen Wert kann daher dein Zeugnis
haben? Für uns ist es nicht wahr.»
«Obwohl ich von mir selbst
Zeugnis ablege, ist mein Zeugnis wahr; denn ich weiß, woher ich gekommen bin
und wohin ich gehe. Ihr aber wißt weder woher ich komme, noch wohin ich gehe.
Ihr kennt nur das, was ihr seht. Ich hingegen kenne alles, was dem Menschen
unbekannt ist, und ich bin gekommen, damit auch ihr es wißt. Daher habe ich
gesagt, daß ich das Licht bin; denn das Licht läßt erkennen, was im Schatten
verborgen war. Im Himmel ist Licht, während auf Erden vielfach Finsternis
herrscht und den Geistern die Wahrheit verbirgt; denn die Finsternis haßt die
Menschenseelen und will nicht, daß sie die Wahrheit erkennen, durch die sie
sich heiligen können. Deshalb bin ich gekommen, damit ihr das Licht habt und
damit das Leben. Aber ihr wollt mich nicht aufnehmen. Ihr wollt beurteilen,
was ihr nicht kennt, und ihr könnt darüber nicht urteilen, weil es so hoch
über euch steht und dem unbegreiflich bleibt, der es nicht mit den Augen des
Geistes betrachtet, mit demütigem und von Glauben genährtem Geist. Ihr urteilt
nach dem Fleisch, daher könnt ihr nicht wahrheitsgemäß urteilen. Ich hingegen
urteile über niemanden, wenn immer ich mich eines Urteils enthalten kann. Voll
Mitleid schaue ich euch an und bete für euch, damit ihr euch dem Licht öffnet.
Aber wenn ich urteilen muß, dann ist mein Urteil wahr, da ich nicht allein,
sondern in meinem Vater bin, der mich gesandt hat, und er sieht von seiner
Herrlichkeit aus ins Innere der Herzen. Und so wie er das eure sieht, sieht er
auch das meine. Wenn er in meinem Herzen ein ungerechtes Urteil sehen würde,
würde er mich aus Liebe zu mir und zur Ehre seiner Gerechtigkeit darauf
hinweisen. Aber ich und der Vater, wir urteilen auf gleiche Weise, und daher
sind wir zwei und nicht nur einer beim Urteilen und Zeugnisablegen. In eurem
Gesetz steht geschrieben, daß das Zeugnis zweier Zeugen, die das Gleiche
aussagen, als wahr und gültig angenommen werden, muß. Ich lege also Zeugnis ab
von meiner Natur, und mit mir bezeugt der Vater, der mich gesandt hat,
dasselbe. Daher ist das, was ich sage, wahr.»
«Wir hören die Stimme des
Allerhöchsten nicht. Du behauptest, daß er dein Vater ist ...»
«Er hat am Jordan von mir
gesprochen ...»
«Nun gut. Aber du warst nicht
allein am Jordan. Da war auch Johannes, und Gott kannte ihn, meinen... Er war
ein großer Prophet.»
«Mit euren eigenen Lippen
verurteilt ihr euch. Sagt mir: Wer spricht durch den Mund der Propheten?»
«Der Geist Gottes.»
«Und war Johannes für euch ein
Prophet?»
114
«Einer der Größten, wenn nicht
der Größte.»
«Warum habt ihr dann seinen
Worten nicht geglaubt? Und warum glaubt ihr nicht an sie? Er hat mich das Lamm
Gottes genannt, das gekommen ist, die Sünden der Welt zu tilgen. Wer ihn
fragte, ob er der Christus sei, dem antwortete er: "Ich bin nicht der
Christus, sondern der, der ihm vorangeht. Und nach mir kommt einer, der mir in
Wirklichkeit voraus ist, weil er vor mir war. Auch ich kannte ihn nicht. Aber
der, der mich aus dem Schoß meiner Mutter geholt, mich in der Wüste berufen
und mir befohlen hat zu taufen, hat zu mir gesagt: 'Auf wen du den Geist
herabsteigen siehst, dieser ist es, der mit dem Heiligen Geist und dem Feuer
tauft."' Erinnert ihr euch nicht daran? Und doch waren viele von euch
zugegen... Warum glaubt ihr also dem Propheten nicht, der auf mich hingewiesen
hat, nachdem er die Worte des Himmels vernommen hatte? Soll ich meinem Vater
sagen, daß sein Volk den Propheten nicht mehr glaubt?»
«Wo ist denn dein Vater? Joseph,
der Zimmermann, ruht seit Jahren im Grab. Du hast keinen Vater mehr.»
«Ihr kennt weder mich noch meinen
Vater; aber wenn ihr mich erkennen wolltet, würdet ihr auch meinen wahren
Vater kennen.»
«Du bist ein Besessener und ein
Lügner. Du bist ein Gotteslästerer, da du behauptest, daß der Allerhöchste
dein Vater ist. Du hättest es verdient, nach dem Gesetz abgeurteilt zu
werden.»
Die Pharisäer und andere vom
Tempel erheben drohend ihre Stimmen, während das Volk sie finster anblickt und
bereit ist, Christus zu verteidigen.
Jesus schaut sie an, ohne ein
Wort hinzuzufügen, und verläßt dann den Raum durch eine Seitentür, die zu
einer Säulenhalle führt.
561. «WIR SIND NACHKOMMEN
ABRAHAMS»
Jesus betritt mit den Aposteln
und den Jüngern wieder den Tempel. Einige Apostel, und nicht nur sie, geben
ihm zu bedenken, daß dies nicht klug ist. Er aber antwortet: «Mit weichem
Recht könnten sie mir den Eintritt verwehren? Bin ich etwa verurteilt worden?
Nein, bis jetzt wenigstens noch nicht. Ich steige also zum Altar Gottes hinauf
wie jeder gottesfürchtige Israelit.»
«Aber du hast die Absicht zu
sprechen ...»
«Ist dies etwa nicht der Ort, an
dem die Rabbis sich versammeln, um zu sprechen? Es ist eher die Ausnahme, daß
ein Rabbi außerhalb des Tempels spricht und lehrt, vielleicht dann, wenn er
sich etwas Ruhe gönnen will, oder aus persönlichen Gründen. Aber der Ort, an
dem jeder für
115
gewöhnlich seinen Jüngern
Unterricht erteilt, ist dieser hier. Seht ihr nicht, wie sich um die berühmten
Rabbis Menschen aller Nationen scharen, um wenigstens einmal Gelegenheit zu
haben, ihr Wort zu hören? Und wenn es nur darum ist, daß sie bei ihrer
Rückkehr in die Heimat sagen können: "Wir haben einen Meister, einen
Philosophen reden gehört nach der Art Israels." Meister nennen sie sie, wenn
sie schon Juden sind oder es werden wollen, Philosophen sind sie für die
eigentlichen wahren Heiden. Und die Rabbis halten es nicht für unter ihrer
Würde, auch letztere als Zuhörer zu haben, weil sie hoffen, Proselyten aus
ihnen machen zu können. Ohne diese Hoffnung, die ich, wenn sie demütig wäre,
heilig nennen würde, würden sie sich nicht im Vorhof der Heiden aufhalten. Sie
würden vielmehr verlangen, im Vorhof der Israeliten und, wenn möglich, sogar
im Allerheiligsten reden zu dürfen; denn sie halten sich für so heilig, daß
nur Gott ihnen überlegen ist... Und ich, der Meister, spreche dort, wo die
Meister sprechen. Aber fürchtet euch nicht! Ihre Stunde ist noch nicht
gekommen. Wenn sie kommt, werde ich es euch sagen, um eure Herzen zu stärken.»
«Du wirst es uns nicht sagen»,
entgegnet Iskariot.
«Warum?»
«Weil du es nicht wissen kannst.
Kein Anzeichen wird es dich wissen lassen. Es gibt kein Anzeichen. Ich bin
jetzt schon fast drei Jahre bei dir und habe dich immer bedroht und verfolgt
gesehen. Anfangs warst du noch allein. Jetzt hast du das Volk hinter dir, das
dich liebt und das die Pharisäer fürchten. Du bist also stärker. Woran willst
du den Augenblick erkennen?»
«An dem, was ich in den Herzen
der Menschen lese.»
Judas ist einen Augenblick
sprachlos. Dann sagt er: «Und du wirst es auch nicht sagen, weil... Du wirst
uns schonen, weil du an unserem Mut zweifelst.»
«Um uns nicht zu betrüben, wird
er schweigen», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Auch das. Aber sicher wirst du
es uns nicht sagen.»
«Ich werde es euch sagen, aber
solange ich es euch nicht sage – mögen Haß und Wut um mich herum noch so
heftig toben – laßt euch nicht schrecken. Dies wird keine Folgen haben. Geht
jetzt voraus. Ich bleibe hier und warte auf Manaen und Margziam.»
Nur ungern gehen die Zwölf und
die anderen mit ihnen weiter.
Jesus begibt sich zum Tor, um die
beiden zu erwarten, und er geht sogar auf die Straße hinaus und in Richtung
der Burg Antonia.
Die Legionäre, die bei der
Festung herumstehen, zeigen auf ihn und reden miteinander. Es scheint, daß sie
etwas verschiedener Meinung sind, und schließlich sagt einer mit lauter
Stimme: «Ich werde ihn fragen», und geht auf Jesus zu.
116
«Salve, Meister! Sprichst du auch
heute da drinnen?»
«Das Licht möge dich erleuchten.
Ja, ich werde sprechen.»
«Dann nimm dich in acht. Einer,
der es weiß, hat uns gewarnt, und eine, die dich bewundert, hat uns befohlen,
zu wachen. Wir werden beim Untergeschoß an der Ostseite sein. Kennst du den
Eingang?»
«Ich kenne ihn. Aber er ist auf
beiden Seiten verschlossen.»
«Meinst du?» Der Legionär lacht
kurz und im Schatten seines Helmes blitzen Augen und Zähne auf und lassen ihn
jünger erscheinen. Dann
grüßt er stramm: «Salve, Meister.
Erinnere dich des Quintus Felix.»
«Ich werde mich deiner erinnern.
Das Licht erleuchte dich.»
Jesus geht weiter, und der
Legionär kehrt an seinen vorigen Platz zurück und spricht mit seinen
Waffenbrüdern.
«Meister, haben wir zu lange
gebraucht? Es waren so viele Aussätzige
da!» sagen gleichzeitig der
einfach in Dunkelbraun gekleidete Manaen und Margziam.
«Nein, ihr seid schnell gewesen.
Aber gehen wir, denn die anderen warten auf uns. Manaen, bist du es gewesen,
der die Römer benachrichtigt hat?»
«Worüber, Herr? Ich habe mit
niemandem gesprochen, und ich wüßte
nicht... Die Römerinnen sind
nicht in Jerusalem.»
Sie sind wieder am Tor der
Umfassungsmauer, und wie durch Zufall befindet sich dort der Levit Zacharias.
«Der Friede sei mit dir, Meister.
Ich will dir sagen... Ich werde mich bemühen, immer dort zu sein, wo du bist,
solange du dich im Tempel aufhältst. Und du, verliere mich nicht aus den
Augen. Wenn es einen Aufruhr
gibt und du siehst, daß ich
fortgehe, versuche mir immer zu folgen. Sie hassen dich so sehr! Mehr kann ich
nicht tun... Verstehe mich ...»
«Gott vergelte es dir und segne
dich für deine Treue gegenüber seinem Wort. Ich werde tun, wie du sagst. Und
sei nicht besorgt, daß jemand deine Liebe zu mir erkennen wird.»
Sie trennen sich.
«Vielleicht ist er es gewesen,
der mit den Römern gesprochen hat. Vielleicht hat er drinnen etwas erfahren»,
flüstert Manaen.
Sie gehen zum Gebet durch das
Volk, das sie mit unterschiedlichen Gefühlen anschaut und sich dann hinter
Jesus versammelt, als er nach Beendigung des Gebets in den Vorhof der Hebräer
zurückkehrt.
Außerhalb der zweiten
Umfassungsmauer will Jesus stehenbleiben, als ihn eine gemischte Gruppe aus
Schriftgelehrten, Pharisäern und Priestern umringt. Einer der Vertreter des
Tempels spricht für alle.
«Bist du noch immer hier?
Verstehst du denn nicht, daß wir dich nicht haben wollen? Denkst du auch nicht
an die Gefahr, die dir hier droht?
Geh. Es ist schon viel, daß wir
dich überhaupt zum Gebet hereinlassen, aber wir erlauben dir nicht, deine
Lehren vorzutragen.»
117
«Ja, fort mit dir! Fort, du
Gotteslästerer!»
«Ja, ich werde gehen, wie ihr
wollt. Aber nicht nur diese Mauern werde ich verlassen. Ich bin schon im
Begriff fortzugehen, viel weiter fort, dorthin, wo ihr mich nicht mehr
erreichen könnt. Und es werden Stunden kommen, da auch ihr mich sucht, und
nicht nur, um mich zu verfolgen, sondern aus abergläubischer Furcht vor einer
Strafe dafür, daß ihr mich vertrieben habt; in dem abergläubischen und
brennenden Wunsch, Verzeihung für eure Sünde und Barmherzigkeit zu erlangen.
Aber ich sage euch: Dies ist die Stunde der Barmherzigkeit. Dies ist die
Stunde, sich den Allerhöchsten zum Freund zu machen. Ist diese Gelegenheit
vorüber, gibt es keine Abhilfe mehr. Ihr werdet mich nicht mehr bei euch haben
und in euren Sünden sterben. Selbst wenn ihr die ganze Erde durcheilen würdet
und zu den Sternen und Planeten gelangen könntet, nirgends würdet ihr mich
mehr finden; denn wohin ich gehe, dahin könnt ihr mir nicht folgen. Ich habe
es euch schon gesagt. Gott kommt und geht vorüber. Der Weise nimmt ihn bei
seinem Vorübergehen auf mit seinen Gaben. Der Törichte läßt ihn vorüberziehen
und findet ihn niemals wieder. Ihr seid von hier unten. Ich bin von dort oben.
Ihr seid von dieser Welt. Ich bin nicht von dieser Welt. Wenn ich daher in die
Wohnung meines Vaters außerhalb dieser eurer Welt zurückgekehrt bin, werdet
ihr mich nicht mehr finden und in euren Sünden sterben, denn ihr werdet mich
nicht einmal im Geist durch den Glauben zu erreichen wissen.»
«Willst du dich selbst umbringen,
du von Satan Besessener? Gewiß, in die Hölle, in die die Gewalttätigen
hinabsteigen, werden wir dir nicht folgen können, denn die Hölle ist für die
Verdammten, für die Verfluchten, und wir sind die gesegneten Söhne des
Allerhöchsten», sagen einige.
Andere stimmen zu mit den Worten:
«Sicher will er sich umbringen, da er sagt, wohin er geht, dorthin könnten wir
ihm nicht folgen. Er hat eingesehen, daß seine Pläne aufgedeckt sind, sein
Versuch mißlungen ist und will sich selbst umbringen und nicht erst warten,
bis ihn dasselbe Schicksal ereilt wie den anderen falschen Christus aus
Galiläa.»
Wieder andere, die Jesus
wohlgesinnt sind, wenden ein: «Wenn er aber doch der Christus ist und wirklich
zu dem zurückkehrt, der ihn gesandt hat?»
«Wohin? In den Himmel? Abraham
ist nicht dort, und du willst, daß er dorthin gehe? Vorher muß der Messias
kommen.»
«Aber Elias wurde auf einem
feurigen Wagen in den Himmel entrückt.»
«Auf einem Wagen, ja. Aber in den
Himmel? ... Wer kann das beweisen?» und der Streit geht weiter, während
Pharisäer, Schriftgelehrte, Beamte, Priester und den Priestern servil ergebene
Judäer Christus durch die weiten Säulengänge hinausdrängen, wie eine Meute von
Hunden ein aufgespürtes Wild bedrängt.
118
Aber einige, die Guten in dieser
feindseligen Menge, bahnen sich, getrieben von ehrlichem Verlangen, einen Weg
zu Jesus und stellen ihm die ängstliche Frage, die ihm schon so oft, sei es
aus Liebe, sei es aus Haß, gestellt wurde: «Wer bist du? Sage es uns, damit
wir uns danach richten können. Sage die Wahrheit im Namen des Allerhöchsten.»
«Ich bin die Wahrheit selbst und
bediene mich nie der Lüge. Ich bin der, der ich immer erklärt habe zu sein, an
allen Orten Palästinas und vom ersten Tag an, da ich zum Volk gesprochen habe.
Ich bin der, der ich erklärt habe zu sein, immer wieder, hier, ganz nahe beim
Allerheiligsten, dessen strafende Blitze ich nicht fürchte, da ich die
Wahrheit sage. Ich habe noch vieles zu sagen und über vieles zu urteilen an
meinem Tag, was dieses Volk betrifft, und obwohl es scheinen mag, daß mein
Abend schon herannaht, weiß ich, daß ich alles sagen und über alles urteilen
werde, denn so hat es mir der versprochen, der mich gesandt hat und der
wahrhaftig ist. In einer ewigen Umarmung der Liebe hat er zu mir gesprochen
und mir alle seine Gedanken mitgeteilt, damit ich sie durch mein Wort der Welt
mitteile, und ich kann nicht schweigen und niemand kann mich zum Schweigen
bringen, bis ich der Welt alles verkündet habe, was ich von meinem Vater
gehört habe.»
«Immer noch lästerst du Gott? Du
fährst fort, dich Sohn Gottes zu nennen? Wer soll dir das denn glauben? Wer
soll in dir den Sohn Gottes sehen?» schreien seine Feinde und fuchteln, außer
sich vor Haß, mit ihren Fäusten beinahe vor seinem Gesicht herum.
Die Apostel, die Jünger und die
Wohlgesinnten drängen sie zurück und bilden ein Schutzwall für den Meister.
Der Levit Zacharias nähert sich Jesus, der von Manaen und den Söhnen des
Alphäus umgeben ist, ganz sachte und mit vorsichtigen Bewegungen, um die
Aufmerksamkeit der Wutschnaubenden nicht auf sich zu lenken.
Sie sind nun am Ende des Vorhofes
der Heiden angelangt, denn man kommt bei den sich in die entgegengesetzte
Richtung schiebenden Menschenströmen nur langsam vorwärts, und Jesus bleibt an
der gewohnten Stelle, an der letzten Säule auf der Ostseite stehen. Von diesem
Platz, an dem auch die Heiden verweilen dürfen, können sie keinen wahren
Israeliten vertreiben, ohne das Volk zu erregen, und dies wollen diese
Arglistigen ja vermeiden.
Von dort aus beginnt Jesus nun
seinen Widersachern und auch allen anderen bei ihnen zu antworten: «Wenn ihr
den Menschensohn erhöht habt ...»
Da schreien die Pharisäer und die
Schriftgelehrten: «Wer will dich denn erhöhen? Arm wäre das Land, das einen
törichten Schwätzer und einen Gott mißfälligen Gotteslästerer wie dich als
König hätte. Niemand wird dich erhöhen, dessen kannst du sicher sein. Und der
Rest an Verstand, der dir geblieben ist, hat dich das rechtzeitig erkennen
lassen, als
119
du versucht warst... Du weißt,
daß wir dich niemals zu unserem König machen können!»
«Ich weiß es. Ihr werdet mich
nicht auf einen Thron erheben, und dennoch werdet ihr mich erhöhen. Ihr werdet
glauben, mich zu erniedrigen, indem ihr mich erhöht. Aber gerade dann, wenn
ihr glaubt, mich gedemütigt zu haben, werde ich erhöht werden. Nicht nur über
Palästina, nicht nur über das über die ganze Welt zerstreute Israel, sondern
über die ganze Welt, und sogar über die heidnischen Nationen und über die
Gegenden, die den Gelehrten der Welt noch unbekannt sind. Und ich werde es
nicht nur ein Menschenleben lang sein, sondern solange die Erde dauert. Und
immer weiter wird sich der Schatten meines Thronhimmels über die Erde
ausbreiten, bis sie ganz davon bedeckt ist. Dann erst werde ich wiederkommen,
und ihr werdet mich sehen. Oh, ihr werdet mich sehen!»
«Aber hört doch, welch tolle
Reden das sind: Wir werden ihn erhöhen, indem wir ihn erniedrigen, und wir
werden ihn erniedrigen, indem wir ihn erhöhen! Ein Narr! Ein Verrückter! Und
der Schatten seines Thrones soll die ganze Erde bedecken! Größer als Cyrus!
Größer als Alexander! Größer als Caesar! Was wirst du mit Caesar tun? Glaubst
du, er wird dir das römische Reich überlassen? Und er wird auf dem Thron
sitzen, solange die Welt dauert! Ha, ha, ha!» Beißend ist ihr Spott, wie
Geißelhiebe ihre Ironie!
Aber Jesus läßt sie reden. Dann
erhebt er seine Stimme, um gehört zu werden im Geschrei derer, die ihn
verlachen oder verteidigen und den Platz mit Lärm erfüllen wie ein tosendes
Meer.
«Wenn ihr den Menschensohn erhöht
habt, dann werdet ihr verstehen, wer ich bin und daß ich nichts aus mir selbst
tue, sondern nur das sage, was mein Vater mich gelehrt hat, und nur das tue,
was er will. Und er, der mich gesandt hat, läßt mich nicht allein, er ist
vielmehr bei mir; so wie der Schatten dem Körper folgt, so ist mein Vater
hinter mir, wachsam und gegenwärtig, wenn auch unsichtbar. Er ist hinter mir,
stärkt mich, hilft mir und entfernt sich nicht von mir, denn ich tue immer,
was ihm wohlgefällig ist. Gott entfernt sich hingegen, wenn seine Söhne seinen
Gesetzen und seinen Eingebungen nicht gehorchen. Dann geht er und läßt den
Menschen allein. Deshalb sündigen so viele in Israel; denn der Mensch, der
sich selbst überlassen ist, bleibt schwerlich gerecht und fällt leicht in die
Fänge der Schlange. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wegen eures sündhaften
Widerstandes gegen das Licht und die Barmherzigkeit Gottes entfernt sich Gott
von euch und wird diesen Ort und eure Herzen leer zurücklassen. Was Jeremias
beweint hat in seinen Prophezeiungen und Klageliedern, wird sich genau
erfüllen. Denkt nach über diese prophetischen Worte, zittert und geht in euch
in guter Gesinnung. Nicht Drohungen hört ihr, sondern die Güte des Vaters, der
seine Söhne mahnt, solange es ihnen noch möglich ist, zu sühnen und sich zu
retten. Erkennt Gott in den Worten
120
und Tatsachen, und wenn ihr
meinen Worten nicht glauben wollt, weil ihr im alten Israel erstickt, so
glaubt wenigstens dem alten Israel. In ihm verkünden die Propheten mit lauter
Stimme die Gefahren und das Unheil, die über die heilige Stadt und unser
ganzes Vaterland kommen werden, wenn es sich nicht zum Herrn, seinem Gott,
bekehrt und dem Erlöser nicht folgt. Auf diesem Volk lastete die Hand Gottes
schon in den vergangenen Jahrhunderten. Aber ein Nichts sind Vergangenheit und
Gegenwart im Vergleich zu der furchtbaren Zukunft, die es erwartet, weil es
den Gesandten Gottes nicht annehmen wollte. Weder hinsichtlich der Strenge
noch hinsichtlich der Dauer ist das, was Israel erwartet, das den Gesalbten
verstoßen hat, mit irgendetwas zu vergleichen. Ich sage es euch, da die
kommenden Jahrhunderte offen vor meinen Blicken liegen: Wie einem entwurzelten
und über einen reißenden Strom gestürzten Baum, so wird es dem vom göttlichen
Bannstrahl getroffenen hebräischen Volk ergehen. Zäh wird es sich da und dort
an die Ufer zu klammern suchen, und zahlreich wie es ist, wird es Schößlinge
hervorbringen und Wurzeln schlagen. Aber wenn es glaubt, eine neue Heimat
gefunden zu haben, wird die Heftigkeit des Stromes es ergreifen und es wieder
entwurzeln, wird sowohl seine Wurzeln als auch seine Sprosse zerbrechen, und
es wird weitergetrieben werden, um zu leiden, Wurzel zu fassen und erneut
entwurzelt und zerstreut zu werden. Und nichts wird ihm Frieden geben können,
denn die Flut, die sich über Israel ergießt, wird der Zorn Gottes und die
Verachtung der Völker sein. Nur wenn es sich in ein Meer lebendigen und
heiligenden Blutes stürzen würde, könnte es Frieden finden. Aber es wird vor
diesem Blut fliehen; denn obwohl es noch immer seine einladende Stimme
vernimmt, wird es ihm scheinen, die Stimme des Blutes Abels zu hören, die es
ruft: den Kain des himmlischen Abel.»
Wieder entsteht beträchtlicher
Lärm auf dem großen Platz, wie das Tosen von Wellen. Aber in diesem Lärm
fehlen die rauhen Stimmen der Pharisäer, der Schriftgelehrten und der ihnen
ergebenen Juden.
Jesus will die Gelegenheit
benützen und versucht den Ort zu verlassen. Aber einige, die in einer gewissen
Entfernung von ihm gestanden sind, nähern sich und sagen: «Meister, höre uns
zu. Wir sind nicht alle wie diese (und sie deuten auf die Feinde), aber es
fällt uns schwer, dir zu folgen, auch weil deiner Stimme hundert und tausend
Stimmen gegenüberstehen, die das Gegenteil von dem sagen, was du sagst. Und
was sie sagen, das haben wir seit unserer Kindheit von unseren Vätern
vernommen. Doch deine Worte führen uns zum Glauben. Aber was sollen wir tun,
um vollständig glauben und das Leben besitzen zu können? Wir sind wie gebunden
durch die Denkweise der Vergangenheit...»
«Wenn ihr euch gefestigt habt in
meinem Wort, als wäret ihr eben erneut geboren worden, werdet ihr auch
vollständig glauben und meine Jünger werden. Aber ihr müßt eure Vergangenheit
abstreifen und meine
121
Lehre annehmen. Sie löscht nicht
eure gesamte Vergangenheit aus. Im Gegenteil, sie erhält und stärkt, was
heilig und übernatürlich war in der Vergangenheit, und entfernt das
Menschlich-Überflüssige, indem sie die Vollkommenheit meiner Lehre an die
Stelle der immer unvollkommenen menschlichen Lehren setzt. Wenn ihr zu mir
kommt, werdet ihr die Wahrheit kennenlernen, und die Wahrheit wird euch frei
machen.»
«Meister, wir haben dir zwar
gesagt, daß wir wie gebunden sind durch die Vergangenheit. Aber diese Bindung
bedeutet weder Gefangenschaft noch Sklaverei. Wir sind Nachkommen Abrahams in
den Dingen des Geistes. Denn Nachkommenschaft Abrahams bedeutet, wenn wir
nicht irren, geistige Nachkommenschaft im Gegensatz zu jener der Hagar, die
eine Nachkommenschaft von Sklaven ist. Wie kannst du also sagen, daß wir frei
sein werden?»
«Ich möchte euch darauf
aufmerksam machen, daß auch Ismael und seine Kinder zur Nachkommenschaft
Abrahams gehören, denn Abraham war der Vater des Isaak und des Ismael.»
«Aber seine Nachkommenschaft ist
unrein, denn er war der Sohn einer ägyptischen Sklavin.»
«Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch, es gibt nur eine Sklaverei: die der Sünde. Nur wer Sünden begeht, ist
ein Sklave. Und es ist eine Sklaverei, aus der Geld nicht loskaufen kann und
die an einen unerbittlich grausamen Herrn kettet. Durch sie verliert man
jegliches Recht auf die freie Souveränität des Himmelreiches. Der Sklave, der
Mensch, der durch einen Krieg oder ein Unglück zum Sklaven geworden ist, kann
auch der Besitz eines guten Herrn werden. Aber sein Schicksal ist immer
ungewiß, da der Besitzer ihn an einen anderen grausamen Herrn verkaufen kann.
Er ist eine Ware und nicht mehr. Bisweilen dient er auch als Ersatz für Geld,
um eine Schuld zu tilgen. Und er hat nicht einmal das Recht zu weinen. Der
Diener hingegen lebt im Haus des Herrn, solange ihn dieser nicht entläßt. Der
Sohn aber bleibt immer im Haus des Vaters, und der Vater denkt nicht daran,
ihn zu verjagen. Nur aus eigenem freien Willen könnte er es verlassen. Und
darin besteht der Unterschied zwischen Sklaverei und Knechtschaft, zwischen
Knechtschaft und Kindschaft. Die Sklaverei legt den Menschen in Ketten. Die
Knechtschaft stellt ihn in den Dienst eines Herrn. Die Kindschaft schenkt ihm
für immer einen Platz im Haus des Vaters, in dem er lebt wie der Vater. Die
Sklaverei vernichtet den Menschen, die Knechtschaft macht ihn zum
Untergebenen, die Kindschaft aber macht ihn frei und glücklich. Die Sünde
macht den Menschen zum Sklaven des grausamsten und unumschränktesten Herrn:
Satan. Die Knechtschaft, in diesem Fall das alte Gesetz, flößt dem Menschen
Furcht vor einem unduldsamen Gott ein. Die Kindschaft hingegen, d.h. der Weg
zu Gott zusammen mit seinem Erstgeborenen, mit mir, macht den Menschen frei
und glücklich, da er den Vater kennt und Vertrauen hat zu seiner
122
Liebe. Die Annahme meiner Lehre
ist ein Hingehen zu Gott zusammen mit mir, dem Erstgeborenen vieler geliebter
Kinder. Ich werde eure Ketten zerreißen, wenn ihr nur zu mir kommt, damit ich
sie zerreiße; und ihr werdet wahrhaft frei und zusammen mit mir Miterben des
Himmelreiches sein. Ich weiß, daß ihr die Nachkommenschaft Abrahams seid. Wer
unter euch mich aber zu töten versucht, ehrt nicht mehr Abraham, sondern
Satan, und dient ihm als treuer Sklave. Warum? Weil er mein Wort zurückweist
und es bei so vielen von euch nicht eindringen kann. Gott zwingt den Menschen
nicht zu glauben. Er zwingt ihn nicht, mich anzunehmen. Aber er schickt mich,
damit ich euch seinen Willen verkünde. Und ich sage euch das, was ich bei
meinem Vater gesehen und gehört habe, und tue das, was er will. Diejenigen
aber unter euch, die mich verfolgen, tun das, was sie von ihrem Vater gelernt
haben und was er ihnen eingibt.»
Wie ein Paroxysmus, der einen
Augenblick nachgelassen hat und nun wieder heftig wird, so bricht der Zorn der
Juden, Pharisäer und Schriftgelehrten, der sich etwas beruhigt zu haben
schien, erneut aus. Sie drängen sich wie ein Keil in den dichten Kreis um
Jesus und versuchen, sich ihm zu nähern. Die Menge gleicht einem hin- und
herwogenden Meer, entsprechend den gegensätzlichen Gefühlen der Herzen. Die
Juden brüllen grün vor Zorn und Haß: «Unser Vater ist Abraham. Wir haben
keinen anderen Vater.»
«Der Vater der Menschen ist Gott.
Abraham selbst ist auch ein Sohn des universellen Vaters. Aber viele
verschmähen den wahren Vater zugunsten eines, der nicht ihr Vater ist, den sie
sich aber als solchen erwählen, weil er mächtiger zu sein scheint und bereit
ist, ihre unmäßigen Wünsche zu erfüllen. Die Söhne tun die Werke, die sie
ihren Vater tun sehen. Wenn ihr doch Söhne Abrahams seid, warum tut ihr dann
nicht die Werke Abrahams? Kennt ihr sie nicht? Muß ich sie euch aufzählen in
ihrer Natur und Symbolkraft? Abraham gehorchte und ging in das Land, das Gott
ihm anwies. Er war das Vorbild des Menschen, der bereit sein muß, alles zu
verlassen, um dorthin zu gehen, wohin Gott ihn schickt. Abraham war großmütig
mit dem Sohn seines Bruders und ließ ihn die Gegend auswählen, die er
wünschte; er war ein Vorbild des Respekts vor der Handlungsfreiheit des
Nächsten und der Nächstenliebe. Abraham blieb demütig, auch nachdem Gott ihn
auserwählt hatte, und er ehrte ihn in Mamre bei Hebron, da er sich stets als
ein Nichts fühlte im Vergleich zum Allerhöchsten, der zu ihm gesprochen hatte.
So war er auch ein Vorbild für die ehrfurchtsvolle Liebe, die der Mensch Gott
gegenüber immer empfinden soll. Abraham glaubte und gehorchte Gott auch in den
Dingen, die am schwersten zu glauben waren und deren Ausführung schmerzte. Und
um sich sicher zu fühlen, hütete er sich vor der Selbstsucht und betete für
Sodom. Abraham handelte nicht mit dem Herrn um den Lohn für seinen
123
Gehorsam; vielmehr, um ihn bis
zum letzten zu ehren, opferte er ihm sogar seinen vielgeliebten Sohn...»
«Er opferte ihn nicht.»
«Er opferte ihm den geliebten
Sohn, da sein Herz ihn bereits auf dem Weg geopfert hatte durch seinen Willen
zum Gehorsam. Als der Engel ihn zurückhielt, war das Herz des Vaters schon
zerrissen, da er eben das Herz des Sohnes durchbohren wollte. Er wollte seinen
Sohn töten, um Gott zu ehren. Ihr tötet den Sohn Gottes, um Satan zu ehren.
Tut ihr also die Werke dessen, den ihr euren Vater nennt? Nein, das tut ihr
nicht. Ihr sucht mich zu töten, weil ich euch die Wahrheit sage, so wie ich
sie von Gott gehört habe. Abraham handelte nicht wie ihr. Er versuchte nicht
die Stimme zu ersticken, die vom Himmel kam, sondern gehorchte ihr. Nein, ihr
tut nicht die Werke Abrahams, sondern die, die euch euer Vater angibt.»
«Wir sind nicht von einer Hure
geboren. Bastarde sind wir nicht. Du hast gesagt, du selbst, daß der Vater der
Menschen Gott ist, und wir sind außerdem das auserwählte Volk und gehören zu
den auserwählten Kasten dieses Volkes. Daher haben wir Gott als einzigen
Vater.»
«Wenn ihr Gott als Vater im Geist
und in der Wahrheit anerkennen würdet, würdet ihr mich lieben, da ich von Gott
komme; denn ich komme nicht von mir selbst, sondern er ist es, der mich
gesandt hat. Wenn ihr daher wirklich den Vater kennen würdet, müßtet ihr auch
mich kennen, seinen Sohn, euren Bruder und Erlöser. Sollten Brüder sich nicht
gegenseitig erkennen? Sollten die Söhne eines Einzigen nicht die Sprache
kennen, die im Haus des einzigen Vaters gesprochen wird? Warum also versteht
ihr meine Sprache nicht und ertragt nicht meine Worte? Weil ich von Gott komme
und ihr nicht. Ihr habt das Vaterhaus verlassen und die Sprache und das
Antlitz dessen vergessen, der darin wohnt. Ihr seid freiwillig in die Fremde
gegangen, in andere Wohnungen, wo ein anderer herrscht, der nicht Gott ist,
und wo man eine andere Sprache spricht. Und der dort herrscht verlangt, daß
man sein Sohn wird und ihm gehorcht, um eingelassen zu werden. Ihr habt es
getan und tut es. Ihr habt dein Vater Gott abgeschworen und ihn verleugnet, um
euch einen anderen Vater zu erwählen, und dieser ist Satan. Ihr habt den
Teufel zum Vater und wollt tun, was er euch einflüstert. Die Wünsche des
Teufels aber sind Sünde und Gewalttat, und ihr habt sie euch zu eigen gemacht.
Von Anfang an war er ein Menschenmörder, und er beharrte nicht in der
Wahrheit, da er, der sich gegen die Wahrheit empörte, nicht die Liebe zur
Wahrheit in sich haben kann. Wenn er spricht, spricht er so, wie er ist, d.h.
als Lügner und Geschöpf der Finsternis, denn er ist wahrhaft ein Lügner und
hat die Sünde gezeugt und geboren, nachdem er sie mit dem Hochmut befruchtet
und mit der Auflehnung genährt hat. Alle Begierlichkeit ist in seinem. Schoß,
er speit sie aus und impft sie den Geschöpfen ein, um sie zu vergiften. Er ist
das Wesen der Finsternis, der Spötter, die verfluchte schleichende
124
Schlange, die Abscheulichkeit,
die Schändlichkeit selbst. Seit Jahrhunderten quält er die Menschen mit seinen
Machenschaften, deren Kennzeichen und Früchte den Menschen wohl bekannt sind.
Und doch schenkt ihr dem Gehör, der lügt und zugrunderichtet, während ihr mir
nicht glaubt und mich einen Sünder nennt, wenn ich spreche und euch die
Wahrheit und das Gute verkünde. Aber wer von den vielen, die sich mir mit Haß
oder Liebe genähert haben, kann sagen, daß er mich sündigen gesehen hat? Wer
kann es in Wahrheit sagen? Wo sind die Beweise, die mich und jene, die an mich
glauben, davon überzeugen können, daß ich ein Sünder bin? Gegen welches der
Zehn Gebote habe ich je gesündigt? Wer kann vor dem Altar Gottes beschwören,
daß er mich gegen das Gesetz und die Bräuche, die Vorschriften, die
Überlieferungen, die Gebete verstoßen gesehen hätte? Wer unter allen Menschen
wird mich beschämen können durch sichere Beweise, die mich der Sünde
überführen? Niemand vermag es. Niemand unter den Menschen und niemand unter
den Engeln. Gott ruft in den Herzen der Menschen: "Er ist unschuldig." Davon
seid ihr alle überzeugt, und gerade ihr, die ihr mich anklagt, mehr als die
anderen, die noch im Ungewissen darüber sind, wer von uns recht hat. Aber nur
wer von Gott ist, hört auf die Worte Gottes. Ihr hört nicht auf sie, und wenn
sie auch Tag und Nacht in euren Seelen widerhallen. Ihr hört nicht auf sie, da
ihr nicht von Gott seid.»
«Wir, die wir für das Gesetz und
unter genauester Beachtung der Vorschriften leben, um den Höchster. zu ehren,
wir sind nicht von Gott? Und du wagst es, das zu sagen? Ah!» Sie scheinen zu
ersticken vor Abscheu, als hätten sie einen Strick um den Hals. «Und da sollen
wir nicht sagen, daß du ein Besessener und ein Samariter bist?»
«Ich bin weder das eine noch das
andere, sondern ich ehre meinen Vater, auch wenn ihr es leugnet, um mich zu
schmähen. Aber eure Schmähungen schmerzen mich nicht. Ich suche nicht meine
Ehre. Es ist einer, der sie sucht und richtet. Das sage ich euch, die ihr mich
kränken wollt. Wer guten Willens ist, dem sage ich: Wer mein Wort aufnimmt
oder es schon aufgenommen hat und es bewahrt, der wird in Ewigkeit den Tod
nicht schauen.»
«Ah! Jetzt sehen wir klar, daß
von deinen Lippen der Dämon redet, der dich in Besitz genommen hat! Du selbst
hast es gesagt: "Er spricht als Lügner." Was du gesagt hast, sind Worte der
Lüge, und daher die Worte eines Dämons. Abraham ist tot. Gestorben sind auch
die Propheten, und du sagst, daß wer dein Wort bewahrt, in Ewigkeit den Tod
nicht schauen wird. Du selbst wirst also auch nicht sterben?»
«Ich werde nur als Mensch
sterben, um zur Zeit der Gnade wieder aufzuerstehen, aber als das Wort werde
ich nicht sterben. Das Wort ist Leben und stirbt nicht, und wer das Wort in
sich aufnimmt, der wird das Leben
125
in sich haben und in Ewigkeit
nicht sterben, sondern auferstehen in Gott, weil ich ihn auferwecken werde.»
«Gotteslästerer! Verrückter!
Dämon! Bist du mehr als unser Vater Abraham, der gestorben ist, und mehr als
die Propheten? Was bildest du dir ein zu sein?»
«Der Anfang, der zu euch
spricht.»
Es entsteht ein Höllenlärm, in
dessen Verlauf der Levit Zacharias mit Hilfe der Söhne des Alphäus und einiger
anderer, die vielleicht gar nicht recht wissen, was sie tun, Jesus unauffällig
in eine Ecke des Vorhofs schiebt.
Als Jesus die Mauer im Rücken und
seine Getreuesten als Schutzwall vor sich hat und auch die Aufregung im Hof
sich etwas legt, sagt er mit seiner eindrucksvollen und schönen, auch in den
Augenblicken größter Verwirrung immer ruhigen Stimme: «Wenn ich mich selbst
ehrte, wäre meine Ehre nichts. Jeder kann von sich sagen, was er will. Aber
wer mich ehrt, ist mein Vater, von dem ihr sagt, daß er euer Gott sei, obwohl
er so wenig euer ist, daß ihr ihn nicht kennt, nie gekannt habt und auch nicht
durch mich kennenlernen wollt, der ich zu euch von ihm spreche, da ich ihn
kenne. Wenn ich sagen würde, daß ich ihn nicht kenne, um euren Haß gegen mich
zu besänftigen, wäre ich ein Lügner wie ihr, die ihr behauptet, ihn zu kennen.
Ich weiß, daß ich unter keinen Umständen lügen darf. Der Menschensohn darf
nicht lügen, auch wenn die Wahrheit die Ursache seines Todes sein sollte. Denn
wenn der Menschensohn lügen würde, wäre er wahrlich nicht mehr der Sohn der
Wahrheit, und die Wahrheit würde ihn von sich stoßen. Ich kenne Gott, sowohl
als Gott als auch als Mensch. Und als Gott und als Mensch bewahre ich sein
Wort und befolge es. Israel, besinne dich: Hier erfüllt sich die Verheißung.
In mir erfüllt sie sich. Erkenne mich als das, was ich bin. Abraham, euer
Vater, sehnte sich danach, meinen Tag zu schauen. Er sah ihn mit prophetischem
Blick durch die Gnade Gottes, und er jubelte darüber. Und ihr, die ihr ihn
tatsächlich seht...»
«Schweige! Du bist noch keine
fünfzig Jahre alt, und du willst sagen, daß Abraham dich gesehen hat und daß
du ihn gesehen hast?» Und ihr höhnisches Gelächter verbreitet sich wie eine
Giftwelle oder wie ätzende Säure.
«Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: Ehe Abraham geboren wurde, bin ich.»
«"Bin ich." Nur Gott kann das
sagen, da er ewig ist. Du nicht, du Gotteslästerer! "Bin ich"! Anathema! Bist
du etwa Gott? Du, der du so sprichst?» schreit ihn einer an, der eine
einflußreiche Persönlichkeit sein muß; denn obwohl er erst gerade erschienen
ist, ist er schon. nahe bei Jesus, da alle bei seinem Kommen fast mit
Schrecken zur Seite treten.
«Du sagst es», entgegnet Jesus
mit donnernder Stimme.
126
Alles wird zur Waffe in der Hand
dessen, der von Haß erfüllt ist. Während der letzte, der den Meister befragt
hat, alle Schattierungen von Empörung und Entsetzen in seinem Mienenspiel zur
Schau stellt, sich die Kopfbedeckung vom Haupt reißt, Haupt- und Barthaar
rauft und die Schnallen öffnet, die sein Gewand am Hals zusammenhalten, als
sei er nahe daran, vor Abscheu die Sinne zu verlieren, werfen die wütenden
Menschen Erde und Steine – die die Verkäufer von Tauben und anderen Tieren
benützen, um die Seile ihrer Einfriedungen straff zu halten, und die
Wechsler... in vorausschauender Sorge um ihre Geldschreine, die sie mehr hüten
als ihr Leben – auf den Meister. Sie fallen natürlich auf die Menge selbst, da
Jesus zu weit hinten im Säulengang ist, um getroffen zu werden, und die Leute
fluchen und jammern.
Zacharias, der Levit, gibt nun
Jesus einen gewaltigen Stoß, das einzige Mittel, ihn zu einem niedrigen
Türchen zu bringen, das in der Mauer des Säulenganges versteckt und nur
angelehnt ist. Er drängt ihn zusammen mit den beiden Söhnen des Alphäus,
Johannes, Manaen und Thomas hindurch. Die anderen bleiben draußen im Tumult,
dessen Geräusch stark abgeschwächt in den unterirdischen Gang in den mächtigen
Steinmauern dringt, deren architektonische Bezeichnung mir nicht bekannt ist.
Die Steine sind so aneinandergefügt, daß jeweils auf einen großen Stein ein
kleiner folgt, und darüber auf den kleinen Steinen ein großer liegt und
umgekehrt. Ich weiß nicht, ob ich das richtig erkläre. Dunkel, mächtig und nur
grob behauen, sind sie im Halbdunkel kaum zu erkennen. Durch in regelmäßigen
Abständen in der Decke angebrachte schmale Spalte dringt Luft und etwas Licht
herein, da es sonst völlig dunkel wäre. Es ist ein schmaler Gang und ich weiß
nicht, wozu er dient, aber ich habe den Eindruck, daß dieser Gang um den
ganzen Vorhof herum verläuft. Vielleicht hat man ihn zum Schutz gebaut, als
Zuflucht, oder um die Mauern doppelt und dadurch widerstandsfähiger zu machen,
diese Mauern der Vorhöfe, die ebenso viele Ringmauern um den wahren und
eigentlichen Tempel, um das Allerheiligste, darstellen. Ich weiß nicht. Ich
sage, was ich sehe. Es riecht nach Feuchtigkeit, nach dieser Feuchtigkeit, von
der man nicht sagen kann, ob sie kalt oder warm ist, wie in manchen Kellern.
«Was machen wir hier?» fragt
Thomas.
«Schweige! Zacharias hat mir
gesagt, daß er kommen wird und daß wir still sein sollen und hierbleiben»,
antwortet Thaddäus.
«Aber... kann man ihm trauen?»
«Ich hoffe es.»
«Fürchtet euch nicht. Der Mann
ist gut», versichert Jesus.
Draußen entfernt sich der Tumult.
Einige Zeit vergeht. Dann dumpfe Schritte und ein kleines zitterndes Licht,
das sich aus der finsteren Tiefe nähert. «Bist du dort, Meister?» fragt eine
Stimme, die gehört werden will, aber auch fürchtet, gehört zu werden.
127
«Ja, Zacharias.»
«Gott sei Lob und Dank! Habe ich
auf mich warten lassen? Ich mußte warten, bis alle zu den anderen Ausgängen
gelaufen waren. Komm, Meister... Deine Apostel... Es ist mir gelungen, Simon
zu sagen, daß sie alle nach Bethesda gehen und dort warten sollen. Hier geht
es hinunter... Wenig Licht, aber der Weg ist sicher. Er wird nicht immer zu
guten Zwecken gebraucht. Aber diesmal wohl... und das heiligt ihn ...»
Sie steigen immer tiefer hinunter
in der Dunkelheit, die nur von dem flackernden Flämmchen erhellt wird, bis
weit vorne ein anderer heller Schein sichtbar wird... und dahinter das
Leuchten von fernem Grün... Ein Gitter, fast eine Tür, so massiv und dick ist
es, befindet sich am Ende des Tunnels.
«Meister, ich habe dich gerettet.
Du kannst nun gehen. Aber höre mich an. Komm einige Zeit nicht hierher. Ich
könnte dir nicht immer dienen, ohne bemerkt zu werden. Und... vergiß; vergeßt
alle diesen Weg und mich, der ich ihn euch gewiesen habe», sagt Zacharias,
während er einen Mechanismus in Bewegung setzt und das schwere Gitter so weit
öffnet, daß ein Mensch hinausschlüpfen kann. Dann wiederholt er: «Vergeßt
alles, mit Rücksicht auf mich.»
«Fürchte nichts. Keiner von uns
wird darüber sprechen, und Gott sei mit dir für deine Liebe.» Jesus hebt die
Hand und legt sie auf das geneigte Haupt des Jünglings.
Er tritt ins Freie, gefolgt von
seinen Vettern und den übrigen. Sie befinden sich gegenüber dem Ölberg, auf
einem von Brombeersträuchern umwucherten kleinen Platz, der kaum alle fassen
kann. Ein Ziegenpfad führt zwischen dem Dornengestrüpp hinunter zum Bach.
«Gehen wir. Wir werden wieder zum
Schaftor hinaufsteigen, und ich gehe mit den Brüdern zu Joseph, während ihr
nach Bethesda geht, die anderen holt und zu mir kommt. Morgen abend werden wir
uns nach Sonnenuntergang nach Nob begeben.»
562. IM HAUS DES JOSEPH VON
SEPHORIS
Das Haus des Joseph ist nicht das
des Joseph von Arimathäa, sondern das eines alten Galiläers von Sephoris,
eines Freundes der Söhne des Alphäus. Und er ist einer der ältesten, denn er
war ein Freund, vielleicht auch ein entfernter Verwandter des alten und nun
verstorbenen Alphäus. Und wenn ich nicht irre, unterhielt er auch eine enge
Beziehung zu den Söhnen des Zebedäus wegen des Handels mit getrocknetem Fisch,
der vom See Genesareth in die Hauptstadt gebracht wird, zusammen mit anderen
Erzeugnissen aus Galiläa, die den Galiläern, die sich in Jerusa ein
128
etwas fremd fühlen, lieb sind.
Dergleichen erfahre ich aus den Gesprächen, die die beiden Söhne des Alphäus
und Johannes mit Thomas führen.
Jesus hingegen ist mit Manaen
etwas zurückgeblieben, dem er den Auftrag gibt, zu Joseph von Arimathäa und zu
Nikodemus zu gehen, um sie zu ihm einzuladen. Manaen macht sich sogleich auf
den Weg. Jesus schließt sich noch einen Augenblick den dreien an und ermahnt
sie, vorsichtig zu sein im Reden, «dem Leviten zuliebe, der sie gerettet hat».
Dann trennt er sich von ihnen und geht mit großen Schritten auf einem
Landsträßchen weiter...
Aber bald gesellt sich Johannes
zu ihm.
«Warum bist du gekommen?»
«Wir konnten dich nicht so
alleinlassen... also bin ich gekommen.»
«Und glaubst du, du allein
könntest mich gegen so viele verteidigen?»
«Das weiß ich nicht sicher. Aber
ich würde wenigstens vor dir sterben, und das würde mir genügen.»
«Du wirst erst lange Zeit nach
mir sterben, Johannes. Aber das soll dich nicht betrüben. Wenn der
Allerhöchste dich noch in der Welt läßt, geschieht es, damit du ihm und seinem
Wort dienst.»
«Aber danach...»
«Danach wirst du mir dienen. Wie
lange müßtest du leben, um mir zu dienen, wie unsere beiden Herzen es sich
wünschen. Aber auch nach deinem Tod wirst du mir noch dienen.»
«Wie werde ich das machen, mein
Meister? Wenn ich bei dir im Himmel bin, werde ich dich anbeten. Aber ich
werde dir nicht auf der Erde dienen können, wenn ich sie verlassen habe...»
«Glaubst du das wirklich? Nun
gut, ich sage dir, daß du mir bis zu meiner erneuten und letzten Ankunft
dienen wirst. Viele Dinge werden verdorren vor der Endzeit, wie die Flüsse,
die austrocknen und sich von einem schönen blauen und wohltuenden Wasserlauf
in ein staubiges und steiniges Flußbett verwandeln. Aber du wirst auch dann
noch ein rauschender Fluß sein, in dem mein Wort widerhallt und sich mein
Licht widerspiegelt. Du wirst das erhabene Licht sein, das bleibt, um an
Christus zu erinnern; denn du wirst ein ganz geistiges Licht sein, und die
Endzeit wird ein Kampf der Finsternis gegen das Licht und des Fleisches gegen
den Geist sein. Wer dann im Glauben auszuharren versteht, wird Kraft, Hoffnung
und Trost finden in dem, was du hinterlassen hast und was immer noch du selbst
sein wirst... und was vor allem ich sein werde, weil wir, du und ich, uns
lieben und weil ich bin, wo du bist, und du bist, wo ich bin. Ich habe Petrus
versprochen, daß die Kirche, die meinen Fels als Grundlage und Oberhaupt hat,
nicht von der Hölle und ihren wiederholten und immer stärker werdenden
Angriffen überwältigt werden wird. Aber nun sage ich dir, daß das, was immer
noch ich sein werde und was du
129
als Licht zurücklassen wirst für
den, der das Licht sucht, nicht zerstört werden wird, obwohl es die Hölle mit
allen Mitteln zu vernichten suchen wird. Ja noch mehr! Selbst die, deren
Glauben an mich nur unvollkommen ist, da sie zwar mich aufnehmen, aber meinen
Petrus nicht annehmen, werden sich immer zu deinem Leuchtturm flüchten wie
Schifflein ohne Kapitän und ohne Kompaß, die inmitten ihrer Stürme auf ein
Licht zusteuern, weil Licht immer auch Rettung bedeutet.»
«Aber was kann ich hinterlassen,
mein Herr? Ich bin... arm... unwissend... Ich habe nichts als Liebe ...»
«Das ist es: du wirst Liebe
hinterlassen. Und die Liebe zu deinem Jesus wird dein Wort sein. Und viele,
sehr viele, auch unter denen, die nicht zu meiner Kirche gehören, die zu
keiner Kirche gehören, aber ein Licht und einen Trost suchen wegen des
Stachels in ihrem unbefriedigten Geist und ein Bedürfnis nach Mitleid haben in
ihrem Schmerz, werden zu dir kommen und mich finden.»
«Ich wünschte, die ersten, die zu
dir finden, wären diese grausamen Juden, diese Pharisäer und Schriftgelehrten
... Aber ich bin zu so etwas nicht fähig ...»
«Dort, wo schon alles übervoll
ist, kann nichts mehr eindringen. Aber du sollst dich nicht entmutigen
lassen... Sieh, wir sind schon bei Joseph. Klopfe an, und dann laß uns
eintreten.»
Es ist ein schmales, hohes Haus
mit einem niedrigen, vollgestopften Warenlager an einer Seite; daneben ein
wegen der hohen Mauern, die ihn umgeben, finsterer Hof, ein Hof, der auch eine
Herberge sein könnte, wie sie damals üblich waren: Säulenhallen für die Waren,
Stallungen für die Lasttiere und Zimmerchen oder größere Räume für die Gäste.
Dies hier ist ein schlecht gepflasterter Hof mit einer Tränke, zwei niedrigen,
dunklen Ställen, einem einfachen Wetterdach, das den Vorhof ersetzt und sich
an das Haus lehnt, und einem abgenützten Tor, das zum Warenlager führt.
Daneben steht das bereits erwähnte alte, dunkle Haus mit einer schmalen, hohen
Tür, zu der drei ausgetretene Stufen führen.
Johannes klopft an die Tür und
wartet, bis sich ein Guckloch öffnet und eine runzlige Alte forschend aus dem
Halbschatten hervorblickt. «Oh, Johannes, ich öffne sofort! Gott sei mit dir»,
sagt der Mund, der zu diesem runzligen Gesicht gehört, und die Tür öffnet
sich, nachdem man sie mit viel Lärm entriegelt hat.
«Ich bin nicht allein, Maria; ich
habe den Meister bei mir.»
«Der Friede sei auch mit ihm, der
Ehre Galiläas, und selig der Tag, der den Heiligen in das Haus eines wahren
Israeliten führt. Tritt ein, Herr. Ich werde Joseph gleich benachrichtigen. Er
erledigt gerade die letzten Auslieferungen, denn der Abend bricht im traurigen
Etanim schnell herein ...»
«Halte ihn nicht von seiner
Arbeit ab, Frau. Wir bleiben bis morgen hier.»
130
«Das ist uns eine große Freude.
Schon lange haben wir dich erwartet. Und vor einigen Tagen hat dein Bruder
Joseph jemanden geschickt, um Nachricht von dir zu erhalten. Aber mein Mann
kann es dir besser erzählen. Sieh, hier kannst du bleiben... Und nun verlasse
ich dich, Herr, damit ich mit dem Brot fertigwerde, denn vor Sonnenuntergang
sollte es gebacken sein. Wenn du irgendetwas brauchst, weiß Johannes, wo ich
bin.»
«Geh in Frieden. Wir brauchen
nichts als eine Unterkunft.»
Sie bleiben geraume Zeit allein.
Dann schaut plötzlich ein braunes Gesichtchen furchtsam und neugierig zugleich
hinter einem Vorhang hervor, der das Zimmer vom Hausgang trennt.
«Wer ist dieser Junge»? fragt
Jesus Johannes.
«Ich weiß es nicht, Herr. Er war
sonst nicht hier. Allerdings seit ich bei dir bin, bin ich nie mehr im Auftrag
meines Vaters hierher gekommen. Komm her, Junge.»
Das Kind kommt mit kleinen
Schritten näher.
«Wer bist du?»
«Das sage ich dir nicht.»
«Warum nicht»?
«Ich will nicht, daß man mir
häßliche Worte sagt. Wenn du sie sagst, antworte ich dir, und Joseph will es
nicht.»
«Das ist etwas ganz Neues.
Meister, was sagst du dazu?» und Johannes lacht über die Begründung des
kleinen Mannes.
Auch Jesus lächelt, legt ihm aber
eine Hand auf die Schulter und betrachtet ihn. Schließlich sagt er: «Und weißt
du, wer ich bin ... ?»
«Ja, ich weiß es. Du bist der
Messias, der die Welt sein eigen machen wird, und dann wird man keine
schlechten Worte mehr zu den Kindern wie mir sagen.»
«Du bist kein Israelit, nicht
wahr?»
«Ich bin beschnitten ... und das
hat sehr wehgetan... Aber auch der Hunger hat wehgetan... und keine Mutter
mehr zu haben... niemand... Aber es tut auch weh zu hören, daß man... daß
uns...» Er weint, denn nun hat er seine ganze vorherige Kühnheit eingebüßt.
«Er muß ein fremdes Waisenkind
sein, Johannes. Joseph wird ihn wohl aus Erbarmen aufgenommen haben und hat
ihn beschneiden lassen...»erklärt Jesus Johannes, der über die Worte des
Knaben und seine Tränen erstaunt ist. Jesus hebt den ziemlich schweren Jungen
hoch und setzt ihn auf seine Knie.
«Sage mir, wie du heißt, Kind.
Ich habe dich lieb. Jesus liebt alle Kinder, und besonders die Waisenkinder.
Auch ich habe eines und sein Name ist Margziam ...»
«Auch mich... auch mich... denn
ich bin ein Römer», flüstert der Knabe mit kaum vernehmlicher Stimme.
«Ich habe es dir ja gesagt. Du
bist ein Waisenkind, nicht wahr?»
131
«Ja... An meinen Vater erinnere
ich mich nicht, an meine Mutter wohl. Sie ist gestorben, als ich schon größer
war ... und ich bin allein geblieben und niemand wollte mich haben. Von
Caesarea aus bin ich dann hinter Reisenden hergelaufen, als der Hausherr
wieder in die Ferne gezogen war. So viel Hunger habe ich gelitten! Und wenn
ich meinen Namen sagte, gab es Prügel... Denn man hat aus dem Namen seine
Schlüsse gezogen! Dann bin ich an einem Festtag hierher gekommen und hatte
Hunger. Mit einer Karawane bin ich in die Stallungen geschlüpft und habe mich
im Stroh versteckt, um den Hafer und das Johannisbrot der Esel zu essen. Ein
Esel hat mich gebissen. Da habe ich geschrien, und man ist herbeigelaufen und
wollte mich schlagen. Aber Joseph hat gesagt: "Nein. Er hat es getan, und er
sagt, daß man tun soll, was er tut. Und ich werde den Jungen zu mir nehmen und
einen Israeliten aus ihm machen." Dann hat er mich aufgenommen und gepflegt,
zusammen mit Maria, und er hat mir einen anderen Namen gegeben, weil der
meine... Aber meine Mutter nannte mich Martial...» Und die Tränen beginnen
wieder zu fließen.
«Und ich werde dich Martial
nennen wie die Mutter. Joseph ist sehr gut zu dir gewesen, und du mußt ihn
sehr liebhaben.»
«Ja, aber dich noch mehr. Er
selbst sagt es. Er sagt immer: "Wenn du eines Tages Jesus von Nazareth, dem
Messias, begegnest, dann liebe ihn von ganzem Herzen; denn du hast es ihm zu
verdanken, wenn du vom Irrtum errettet worden bist." Maria hat drüben der
Dienerin gesagt, daß der Messias im Haus ist, und so bin ich gekommen, um zu
sehen, wer mich gerettet hat.»
«Ich hätte das Joseph nicht
zugetraut. Er war so ... geizig... Nie hätte ich geglaubt, daß er... Armer
Joseph! Geizig und von seinen Söhnen enttäuscht. Sie haben sein weißes Haar
nicht geachtet.»
«Ich weiß es. Aber siehst du?
Vielleicht lebt er an der Seite dieses Knaben wieder auf und vergißt. So
vergilt ihm Gott das gute Werk, das er an dem Knaben getan hat. Wie heißt du
denn jetzt?»
«Ich habe einen häßlichen Namen.
Er gefällt mir nur, weil er beginnt wie der meine: Manasse heiße ich! ... Aber
Maria versteht mich und nenn mich einfach "Man".» Der Junge sagt das mit einem
so trostlosen Gesichtchen, daß Jesus und Johannes sich eines Lächelns nicht
enthalten können.
Um ihn zu trösten, erklärt ihm
Jesus: «Manasse ist ein Name, der für uns eine schöne Bedeutung hat, nämlich:
Der Herr läßt mich jede Schmerz vergessen. Joseph hat ihn dir gegeben, weil er
damit sagen wollte, daß du ihn all seinen Schmerz vergessen lassen wirst. Und
du wirst es tun, mein Kind, um dich ihm dankbar zu erweisen. Du selbst sollst
die durch deinen neuen Namen sagen lassen, daß der Herr dich so sehr geliebt
hat, daß er dir einen neuen Vater, eine neue Mutter und ein neue Zuhause
gegeben hat. Ist es nicht so?»
132
«Ja. Wenn du es so erklärst,
ja... Aber Joseph sagt, ich soll auch mein Haus vergessen. Ich will aber meine
Mutter nicht vergessen!»
Jesus schaut Johannes an und
Johannes den Meister, und über dem braunen Köpfchen findet ein ganzes Gespräch
mit Blicken statt...
«Eine Mutter kann man nicht
vergessen, Kind. Joseph hat sich nicht Klar ausgedrückt, oder vielleicht hast
du ihn nicht recht verstanden. Sicher wollte er dir sagen, daß du allen
Schmerz der Vergangenheit vergessen sollst, weil du jetzt dieses Zuhause hast
und darüber glücklich sein sollst.»
«O ja! Und Maria ist gut und
macht mich glücklich. Auch jetzt macht sie mir Pfannkuchen. Ich gehe
nachschauen, ob sie schon gebacken sind, und dann bringe ich dir davon.» Und
er gleitet von den Knien Jesu und läuft aus dem Zimmer. Das Geräusch der
nackten Füßchen verliert sich in dem langen Hausgang.
«Immer diese Neigung zur Härte,
auch bei den Besten unter uns. Immer Unmögliches verlangen! Strenger als ihr
Gott sind die Söhne seines Volkes! Armer Junge! Kann man denn verlangen, daß
ein Kind seine Mutter vergißt, weil es jetzt beschnitten ist? Ich werde es
Joseph sagen.»
«Ich wußte nichts von der ganzen
Geschichte. Mein Vater kommt, wie viele Galiläer, zu den Festtagen hierher. Er
hat mir nie davon erzählt, als ob er nichts gewußt hätte... Aber ich höre die
Stimme Josephs.»
Jesus erhebt sich und Johannes
ebenfalls, bereit, mit den geziemenden Ehrenbezeugungen den Hausherrn zu
begrüßen, der nun eintritt, sich seinerseits tief verbeugt und schließlich zu
Füßen Jesu niederkniet.
«Steh auf, Joseph! Ich bin
gekommen, wie du siehst.»
«Verzeih, wenn ich dich habe
warten lassen. Der Freitag ist immer ein strenger Tag! Sei auch du gegrüßt,
Johannes. Hast du Nachrichten von Zebedäus?»
«Nein. Seit dem Laubhüttenfest
habe ich ihn nicht mehr gesehen.»
«Dann sollst du wissen, daß es
ihm gut geht, und auch Salome. Ich habe neueste Nachrichten, die heute morgen
mit der letzten Ladung Fische gekommen sind. Auch dir, Meister, kann ich
sagen, daß es deinen Verwandten in Nazareth gut geht. Am Tag nach dem Sabbat
wird der Überbringer wieder abreisen, und wenn ihr ihm Nachrichten mitgeben
wollt ... Seid ihr allein?»
«Nein. Bald werden auch die
anderen hier sein...»
«Gut! Hier ist Platz für alle.
Dies ist ein treues Haus. Es tut mir leid, daß Maria mit Brotbacken
beschäftigt gewesen ist und ich mit den Verkäufen. Man hat euch ganz allein
gelassen... Wir haben dir nicht die nötige Ehre erwiesen und Gesellschaft
geleistet, wie es sich für einen so hohen Gast geziemt.»
«Ein Kind Gottes, wie du, Joseph
und alle, die das Gesetz Gottes befolgen.»
133
«Aber nein! Du bist du! Ich bin
nicht so töricht wie diese Judäer. Du bist der Messias!»
«Nach göttlichem Willen. Aber
nach meinen Wünschen und Pflichten bin ich ein Sohn des Gesetzes wie du.»
«Die dich verleumden, sprechen
und handeln nicht, wie du jetzt sprichst und handelst!»
«Du hingegen tust viel von dem,
was ich lehre. Ich habe den Knaben gesehen, Joseph...»
«Ah! Du hast ihn gesehen? Er ist
gekommen! Er weiß, daß ich das nicht will! Bei dir... freut es mich. Aber es
hätte ja auch jemand anders sein können...»
«Und? Was wäre dann geschehen?»
«Es gefällt mir nicht, das ist
es!»
«Warum, Joseph? Um nicht dafür
gelobt zu werden? Deine Absicht ist lobenswert. Aber der Knabe könnte denken,
daß du dich schämst, ihn zu zeigen ...»
«Und es ist wahr.»
«Es ist wahr? Erkläre mir das.»
«Sieh, der Knabe ist kein Kind
von Hebräern, nicht einmal von Proselyten oder von einer hebräischen Frau und
einem heidnischen Mann, sondern der Sohn zweier römischer Freigelassener aus
dem Haus eines Römers in Caesarea am Meer. Der Knabe war dort, solange dieser
dort war... Nach seiner Abreise kümmerte sich niemand mehr um ihn, und er
blieb allein. Die Hebräer nahmen ihn natürlich nicht auf... Wie die Römer
sind, weißt du... und erst die Römer von Caesarea! Der Knabe ging betteln.»
«Ja, ich weiß es. Er kam hierher,
und du hast ihn aufgenommen. Gott hat diese Tat im Himmel aufgezeichnet.»
«Ich habe aus ihm einen
Beschnittenen gemacht und ihm einen neuen Namen gegeben, da der seine
heidnisch war, der Name eines Götzendieners. Aber ich will nicht, daß er sich
sehen läßt und sich an seine Vergangenheit erinnert.»
«Warum, Joseph?» fragt Jesus
sanft und fährt fort: «Der Knabe leidet darunter. Er denkt an seine Mutter,
und das ist begreiflich.»
«Begreiflich ist aber auch mein
Wunsch, nicht kritisiert zu werden, weil ich einen aufgenommen habe ...»
«Einen Unschuldigen. Nicht mehr
als das, Joseph. Warum fürchtest du das Urteil der Menschen, wenn ein höheres
Urteil, das göttliche, die Heiligkeit deiner Tat bestätigt? Warum schämst du
dich aus menschlicher Rücksichtnahme oder aus Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen
einer guten Tat? Warum willst du dem Kind ein Beispiel von Unehrlichkeit
geben, indem du es aus Furcht vor Schaden dazu zwingst, seinen Namen zu
wechseln und seine Vergangenheit zu verheimlichen? Warum willst du
134
dem Kind Verachtung gegenüber
Vater und Mutter einflößen? Schau, Joseph, du hast eine lobenswerte Tat
vollbracht, aber du bedeckst sie mit Staub durch diese... unvollkommenen
Ideen. Du hast meine Handlungsweise nachgeahmt und meine Worte aufgenommen,
und das ist gut. Aber warum vollendest du nicht meine Nachfolge, indem du
deine Tat offen bekennst und sagst: "Ja, das Kind war ein Römer; aber ich habe
keinen Abscheu empfunden, denn es ist ein Sohn des Schöpfers wie ihr alle. Ich
wollte nur, daß es nach unserem Gesetz lebe, und habe es daher beschneiden
lassen." Wahrlich... die wahre Beschneidung wird noch kommen; sie wird an den
Herzen der Menschen vorgenommen, und die würgende Fessel der dreifachen
Begierlichkeit wird entfernt werden. Wenn daher der Knabe ein Unschuldiger
geblieben wäre bis zu dieser Zeit... Aber ich will dir dafür keinen Vorwurf
machen. Du, als Jude, hast gut daran getan, ihn zum Juden zu machen. Lasse ihm
aber seinen Namen. Oh! Wie viele wird es in Zukunft geben, die den Namen
Martial, Cajus, Felix, Cornelius oder Claudius tragen und dennoch Christus und
dem Himmel gehören. Auch er kann einer von ihnen sein, dieser Knabe, der weder
vom Judentum noch vom Heidentum etwas weiß. Er wird großjährig werden, wenn
das wahre und neue Gesetz mit dem neuen Tempel und den neuen Priestern
gegründet ist; und nicht so, wie du es dir vorstellst, sondern wie es von Gott
geprüft und seines neuen Tempels würdig befunden wurde. Laß ihm den Namen, den
ihm seine Mutter gegeben hat, er ist für ihn eine mütterliche Liebkosung. Ich
verstehe, was du hast sagen wollen mit dem Namen Manasse. Aber laß ihm den
Namen Martial. Wer dich fragt, dem antworte: "Ja, er heißt Martial. Fast wie
der Jünger Christi, dem Maria diesen Namen gegeben hat." Habe Mut zum Guten,
Joseph, und du wirst groß, wirklich groß sein.»
«Meister... wie du willst. Ich
will dir nicht mißfallen. Und glaubst du, daß ich auch als Mensch gut
gehandelt habe?»
«Du hast gut gehandelt. Dein
Schmerz hat dich gut gemacht; daher ist alles gut, was du getan hast, und auch
diese Tat ist gut.»
Ein Klopfen an der Tür zur Straße
unterbricht die Unterredung.
563. DER ALTE PRIESTER MATHAN
(ODER NATHAN)
Petrus tritt ein. Mit einer
ebenso niedergeschlagenen Bewegung wie nach dem Durchwaten des Jordan bei
Bethabara wirft er sich erschöpft auf den ersten Stuhl, den er findet, und
stützt den Kopf in die Hände. Die anderen sind zwar nicht so niedergeschlagen,
aber verärgert; bleich und verstört sind sie mehr oder weniger alle. Die Söhne
des Alphäus, Jakobus des Zebedäus und Andreas erwidern kaum den Gruß des
Joseph von
135
Sephoris und seiner Frau, die mit
einer alten Dienerin erscheint und warmes Brot und andere Speisen bringt.
Auf Margziams Gesicht sieht man
noch Spuren von Tränen. Isaak eilt auf Jesus zu, ergreift seine Hand,
streichelt sie und flüstert: «Wie in jener furchtbaren Nacht ... und wieder
einmal, noch einmal, gut davongekommen. Oh, mein Herr, wie lange noch? Wie
lange noch wirst du dich retten können?»
Das ist der Ausruf, der alle
Zungen löst. Alle sprechen nun durcheinander und erzählen von den
Mißhandlungen, Drohungen, der Angst...
Erneut ein Klopfen an der Tür.
«0 weh! Man wird uns doch nicht
gefolgt sein?! Ich habe ihnen gesagt, sie sollen alle einzeln kommen!» sagt
Iskariot.
«Ja, es wäre besser gewesen. Wir
haben sie immer auf den Fersen. Aber nun ...» sagt Bartholomäus.
Wenn auch ungern, geht Joseph
persönlich durch das Guckloch nachschauen, während seine Frau sagt: «Von der
Terrasse könnt ihr auf die Stallungen steigen und von dort in den hinteren
Garten gelangen. Ich werde es euch zeigen ...» Aber als sie gerade gehen will,
ruft ihr Gatte: «.Joseph vom Ältestenrat. Welche Ehre!» Und er öffnet die Tür,
um Joseph von Arimathäa einzulassen.
«Der Friede sei mit dir, Meister.
Ich war dort und habe alles gesehen... Manaen ist mir begegnet, als ich
unendlich angewidert den Tempel verließ. Ach, nicht dazwischentreten zu
können, nichts unternehmen zu können, um dir nützlicher zu sein ... Oh, bist
auch du hier, Judas von Kerioth? Du, der du so viele Freunde hast, du könntest
etwas tun! Fühlst du dich als sein Apostel nicht dazu verpflichtet?»
«Du bist sein Jünger ...»
«Nein. Wenn ich es wäre, würde
ich zu seinem Gefolge gehören wie so manche andere. Ich bin sein Freund.»
«Das ist dasselbe.»
«Nein. Auch Lazarus ist sein
Freund, aber du wirst doch nicht sagen wollen, daß er sein Jünger ist...»
«In der Seele doch.»
«Alle, die nicht zu Satan halten,
sind Jünger seines Wortes, denn sie erkennen es als Wort der Weisheit.»
Der kleine Wortstreit zwischen
Joseph und Judas von Kerioth endet, während Joseph von Sephoris, der erst
jetzt begreift, daß etwas Schlimmes vorgefallen ist, diesem und jenem mit
Interesse und mit dem Ausdruck des Bedauerns Fragen stellt. «Das muß man
Joseph des Alphäus sagen. Man muß es sagen. Und ich werde den Auftrag geben...
Was willst du von mir, Joseph?» fragt er und wendet sich an den Ältesten, der
ihm auf die Schulter tippt, als wolle er ihm eine Frage stellen.
«Nichts. Ich wollte dich nur
beglückwünschen wegen deiner guten
136
Verfassung. Das ist ein guter
Israelit, treu und gerecht in allem. Ja, ich weiß es. Von ihm kann man sagen,
daß Gott ihn geprüft und als gut erkannt hat...»
Ein erneutes Klopfen an der Tür.
Die beiden Josephs begeben sich miteinander zum Tor um zu öffnen, und ich
sehe, wie Joseph von Arimathäa sich dem anderen zuneigt und ihm etwas ins Ohr
flüstert, worauf dieser sich mit allen Anzeichen großer Überraschung umdreht
und einen Augenblick die Apostel anschaut. Dann öffnet er die Tür.
Nikodemus und Manaen treten ein,
gefolgt von allen Hirten-Jüngern, die sich in Jerusalem aufhalten, also
Jonathan und die früheren Jünger des Täufers. Bei ihnen sind auch der Priester
Johannes mit einem anderen greisen Priester und Nikolaus. Den Schluß bilden
Nike mit dem Mädchen, das Jesus ihr anvertraut hat, und Annalia mit ihrer
Mutter. Sie heben die Schleier, die ihre Gesichter verhüllen, und scheinen
sehr besorgt zu sein.
«Meister, was ist dir denn
zugestoßen? Ich habe erfahren... Zuerst von den Leuten und dann von Manaen...
Die ganze Stadt redet und summt wie ein Bienenstock. Und wer dich liebt, läuft
und sucht dich, wo er dich vermutet. Sicherlich sind sie auch zu deinem Haus
gekommen, Joseph... Ich selbst bin zu den Häusern des Lazarus gegangen... Es
ist schlimm! Wie bist du denn davongekommen?»
«Die Vorsehung hat über mich
gewacht. Die Jüngerinnen sollen nicht weinen, sondern den Ewigen preisen und
sich ein Herz fassen. Euch allen möchte ich danken und euch meinen Segen
geben. Die Liebe und die Gerechtigkeit sind in Israel noch nicht ganz
erstorben, und das tröstet mich.»
«Ja, aber geh nicht mehr in den
Tempel, Meister. Für längere Zeit, geh nicht mehr hin!» Die Anwesenden sind
sich alle einig und ihr besorgtes: «Geh nicht hin» hallt warnend und flehend
von den starken Mauern des alten Hauses wider.
Der kleine Martial, der sich
irgendwo versteckt hatte, hört den Lärm, läuft neugierig herbei und steckt
sein Köpfchen durch die Vorhänge. Als er Maria sieht, flüchtet er sich in ihre
Arme aus Furcht vor dem Tadel des Joseph von Sephoris. Aber Joseph ist zu
aufgeregt und zu sehr damit beschäftigt, diesem und jenem zuzuhören,
Ratschläge zu erteilen, zuzustimmen usw., als daß er auf ihn achten könnte. Er
bemerkt den Knaben erst, als dieser, nachdem die alte Maria ihm etwas
zugeflüstert hat, zu Jesus geht, ihn küßt und ihm die Arme um den Hals legt.
Jesus zieht ihn mit einem Arm an sich, während er all denen antwortet, die ihm
vorschlagen, was ihrer Meinung nach am besten zu tun sei.
«Nein, ich gehe nicht fort von
hier. Geht ihr zu Lazarus, der mich erwartet, und sagt ihm, daß ich nicht
kommen kann. Als Galiläer und langjähriger Freund der Familie bleibe ich bis
zum morgigen Sonnenuntergang hier. Dann werde ich sehen, wo ich hingehe...»
137
«Das sagst du immer, und dann
kehrst du doch wieder dorthin zurück. Aber wir lassen dich nicht mehr
hingehen. Ich wenigstens. Ich habe dich wirklich verloren geglaubt...» sagt
Petrus, und zwei Tränen bilden sich wieder in den Winkeln seiner vorstehenden
Augen.
«Noch nie habe ich so etwas
gesehen. Das genügt. Dies hat mich zu einem Entschluß gebracht. Wenn du mich
nicht abweist... Ich bin jetzt zu alt für den Altar, aber ich tauge noch dazu,
für dich zu sterben. Und ich bin bereit zu sterben, wenn es nötig ist,
zwischen dem Vorhof und dem Altar, wie der weise Zacharias oder wie Onias, der
Verteidiger des Tempels und des Schatzes. Ich werde außerhalb des heiligen
Bezirks, dem ich mein Leben geweiht habe, sterben. Aber du wirst mir das Tor
zu einem heiligeren Ort öffnen! Oh! Ich kann diesen Greuel nicht mehr
mitansehen. Warum müssen meine alten Augen dies noch sehen? Der vom Prophet
geschaute Greuel ist schon in den Mauern und schwillt an wie eine Wasserflut,
die bei ihrem Ansteigen eine Stadt verschlingt. Sie steigt und steigt und
überschwemmt Höfe und Säulengänge, überflutet die Stufen und breitet sich
weiter aus. Sie steigt und hat schon das Allerheiligste erreicht. Die
schlammigen Wellen bespülen bereits die Steine, mit denen der heilige Ort
gepflastert ist, und verdunkeln ihre schönen Farben! Der Fuß des Priesters
wird durch sie beschmutzt! Sein Gewand durch sie benetzt. Das Ephod in den
Schlamm getaucht. Die Steine des Brustschildes sind getrübt, und die Namen auf
ihnen nicht mehr lesbar. Oh! Oh! Die Wellen des Greuels steigen bis zum
Antlitz des Hohenpriesters und besudeln es. Eine Schmutzkruste bedeckt die
Heiligkeit des Herrn, und die Tiara gleicht einem Tuch, das in einen
schlammigen Tümpel gefallen ist. Schlamm! Schmutz! Dringt er von außen ein
oder fließt er von der Höhe des Moriah über die Stadt und über ganz Israel?
Vater Abraham! Vater Abraham! Wolltest du nicht dort das Opferfeuer entzünden,
damit das Ganzopfer des getreuen Herzens erstrahle? Nun sprudelt dort Schlamm
hervor, wo heiliges Feuer sein sollte. Isaak ist unter uns, und das Volk
opfert ihn. Aber selbst wenn das Opfer rein ist... wenn es auch rein ist... so
sind doch die Opfernden unrein. Fluch über uns! Auf dem Berg wird der Herr den
Greuel seines Volkes sehen! ... Ach!» Und der Greis, der mit dem Priester
Johannes gekommen ist, sinkt zu Boden, bedeckt sein Gesicht mit den Händen und
weint in der trostlosen Art der alten Leute.
«Ich habe ihn zu dir geführt...
Schon so lange wünschte er es. Aber heute, nachdem er das gesehen hat, konnte
ihn niemand mehr zurückhalten... Der alte Mathan (oder Nathan) besitzt oft
prophetischen Geist, und wenn sich die Pupillen seiner Augen auch mehr und
mehr verschleiern, so sieht doch sein Geist um so klarer. Nimm meinen Freund
an, Herr», sagt der Priester Johannes.
«Ich weise niemanden zurück.
Erhebe dich, Priester, und erhebe deinen
138
Geist. In der Höhe gibt es keinen
Schmutz, und der Schmutz berührt den nicht, der sich zu erheben weiß.»
Der Greis steht auf; doch zuvor
ergreift er den äußersten Zipfel des Gewandes Jesu und küßt ihn
ehrfurchtsvoll.
Die Frauen, besonders Annalia,
weinen noch ergriffen hinter ihren Schleiern, und die Worte des Greises
vermehren ihr Schluchzen. Jesus ruft die Frauen zu sich, und sie kommen mit
geneigtem Haupt aus ihrem Winkel auf den Meister zu. Wenn es Nike und der
Mutter der Annalia auch gelingt, ihr Weinen zu unterdrücken und fast zu
verbergen, so schluchzt doch die jugendliche Jüngerin laut und ohne auf jene
zu achten, die sie mit unterschiedlichen Gefühlen betrachten.
«Verzeih ihr, Meister! Sie
verdankt dir ihr Leben und liebt dich. Sie kann es nicht verstehen, daß man
dir Böses zufügen will. Und außerdem ist sie so ... allein... und so traurig,
seit...» sagt die Mutter.
«Oh, das ist es nicht! Nein, das
ist es nicht! Herr! Meister! Mein Erlöser! Ich ... ich ...» Annalia vermag
nicht weiterzusprechen, teils wegen des Schluchzens, teils aus Schamgefühl
oder aus sonst einem Grund.
«Sie hat Vergeltungsmaßnahmen
befürchtet, weil sie eine Jüngerin ist. Sicher ist es deshalb. Viele gehen aus
diesem Grund fort ...» sagt Iskariot.
«0 nein! Aus diesem Grund am
allerwenigsten! Du, Mann, verstehst überhaupt nichts oder unterschiebst
anderen deine Gedanken. Aber du, o Herr, du weißt, warum ich weine. Ich hielt
dich für tot und glaubte, daß du dich deines Versprechens nicht erinnert
hättest ...» Und sie seufzt, nachdem sie die ersten Worte mit Nachdruck gesagt
hat, um sich gegen die Verdächtigung des Judas zu wehren.
Jesus antwortet ihr: «Nie
vergesse ich ein Versprechen. Fürchte nicht. Geh beruhigt nach Hause und
erwarte die Stunde meines Triumphes und deines Friedens. Geh hin. Der Tag
neigt sich seinem Ende zu. Zieht euch nun zurück, ihr Frauen, und der Friede
sei mit euch.»
«Herr, ich möchte dich nicht
verlassen ...» sagt Nike.
«Gehorsam ist Liebe.»
«Das ist wahr, Meister. Aber
warum darf ich nicht bleiben wie Elisa?»
«Weil du mir hier nützlich bist,
wie sie in Nob. Geh nun, Nike, geh! Einige Männer sollen die Frauen begleiten,
damit sie nicht belästigt werden.»
Manaen und Jonathan schicken sich
an, der Aufforderung nachzukommen. Aber Jesus hält Jonathan zurück und fragt
ihn: «Du kehrst also nach Galiläa zurück?»
«Ja, Meister, am Tag nach dem
Sabbat. Der Gutsherr will es.»
«Hast du noch Platz auf dem
Wagen?»
«Ich bin allein, Meister.»
«Dann wirst du Margziam und Isaak
mitnehmen. Du, Isaak, weißt, was du tun mußt. Und auch du, Margziam ...»
139
«Ja, Meister», antworten beide,
Isaak mit seinem sanften Lächeln und Margziam mit weinerlicher Stimme und
zitternden Lippen.
Jesus streichelt ihn, und
Margziam, der nun jegliche Zurückhaltung vergißt, wirft sich an seine Brust
und sagt: «Dich verlassen... jetzt, da alle dich verfolgen! Oh, mein Meister!
Ich werde dich nie mehr wiedersehen ... Du bist mein ganzes Glück gewesen. In
dir habe ich alles gefunden ... ! Warum schickst du mich fort? Laß mich mit
dir sterben! Was kümmert mich mein Leben noch, wenn ich dich nicht mehr habe?»
«Ich sage dir, was ich Nike
gesagt habe: Gehorsam ist Liebe.»
«Ich gehe! Segne mich, Jesus!»
Jonathan geht mit Manaen, Nike
und den anderen drei Frauen fort. Auch die übrigen Jünger entfernen sich in
Grüppchen.
Erst als der zuvor überfüllte
Raum fast leer ist, bemerkt man das Fehlen des Judas von Kerioth. Und viele
sind erstaunt darüber, denn eben war er noch da und hat keinen Auftrag
erhalten.
«Er wird wohl fortgegangen sein,
um etwas für uns einzukaufen», sagt Jesus, um Bemerkungen zu verhindern. Dann
spricht er weiter mit Joseph von Arimathäa und Nikodemus, die als einzige
geblieben sind außer den elf Aposteln und Margziam, der neben Jesus sitzt und
sich in diesen letzten Stunden noch an ihm erfreuen will. Jesus sitzt also
zwischen Margziam, dem Jüngling, und Martial, dem Knaben, beide braun, schmal,
gleich unglücklich in ihrer Kindheit und gleicherweise aufgenommen im Namen
Jesu von zwei guten Israeliten.
Joseph von Sephoris und seine
Frau haben sich klugerweise zurückgezogen, um dem Meister Freiheit zu lassen.
Nikodemus fragt: «Aber wer ist
denn dieser Knabe?»
«Es ist Martial, ein Knabe, den
Joseph als Sohn in sein Haus aufgenommen hat».
«Das wußte ich nicht.»
«Niemand, oder fast niemand weiß
es.»
«Sehr demütig ist dieser Mann.
Ein anderer hätte sich damit gebrüstet», bemerkt Joseph.
«Meinst du? ... Geh, Martial, und
zeige Margziam das Haus...» sagt Jesus. Als die beiden gegangen sind, fährt er
fort: «Du täuschest dich, Joseph. Wie schwierig ist es doch, gerecht zu
urteilen!»
«Aber, Herr! Einen Waisenknaben
zu sich zu nehmen – denn sicher ist er einer – und sich dessen nicht zu
rühmen, ist zweifellos ein Akt der Demut.»
«Der Knabe ist, wie sein Name
besagt, nicht aus Israel...»
«Ah! Jetzt verstehe ich! Dann ist
es gut, wenn er ihn versteckt hält.»
«Er ist allerdings schon
beschnitten ...»
«Das spielt keine Rolle. Du
weißt... auch Johannes von Endor war es, und dennoch wurdest du seinetwegen
getadelt. Joseph, der dazu noch ein
140
Galiläer ist, könnte sich trotz
der Beschneidung Unannehmlichkeiten zuziehen. Es gibt so viele Waisen auch in
Israel ... Gewiß, mit diesem Namen ... und mit diesem Äußeren...»
«Wie seid ihr doch alle "Israel"
' auch die Besten! Selbst wenn ihr Gutes tut, versteht ihr nicht und wißt
nicht vollkommen zu sein! Begreift ihr denn immer noch nicht, daß es nur einen
Vater im Himmel gibt und daß jeder Mensch ein Kind Gottes ist? Versteht ihr
immer noch nicht, daß der Mensch nur einen wahren Lohn oder eine wahre Strafe
erhalten kann, die wirklich Lohn und Strafe sind? Warum macht ihr euch zu
Sklaven der Menschenfurcht? Aber das ist die Frucht der Entstellung des
göttlichen Gesetzes! Dieses ist so sehr bearbeitet und mit menschlichen
Zusatzgeboten versehen worden, daß es selbst die Gedanken des Gerechten, der
danach handelt, verdunkelt und trübt. Im mosaischen, also im göttlichen
Gesetz, im vormosaischen und ausschließlich auf der Moral basierenden Gesetz,
das ihr durch himmlische Eingebung erhalten habt, steht da etwa geschrieben,
daß alle, die nicht Israel gehören, nicht zu Israeliten werden können? Steht
nicht in der Genesis: "Mit acht Tagen soll alles Männliche bei euch
beschnitten werden in euren Geschlechtern, sowohl der Hausgeborene als auch
der um Geld von einem Fremden Erkaufte, der nicht von deinem Stamm ist." So
steht es geschrieben, und jeder andere Zusatz stammt von euch. Ich habe es
Joseph gesagt, und auch euch sage ich es. Bald wird die althergebrachte
Beschneidung keine übermäßige Bedeutung mehr haben. Eine neue und
wahrhaftigere wird an ihre Stelle treten und einen erhabeneren Teil des
Menschen betreffen. Aber solange der alte Brauch währt und ihr in der Treue
zum Herrn die Beschneidung vornehmt an den aus euch geborenen oder von euch
adoptierten Kindern, schämt euch nicht, sie auch am Fleisch von anderer
Abstammung vorgenommen zu haben. Das Fleisch ist des Grabes, die Seele gehört
Gott. Man beschneidet das Fleisch, da man nicht beschneiden kann, was geistig
ist. Aber das heilige Zeichen erstrahlt über dem Geist, und der Geist ist vom
Vater aller Menschen. Denkt darüber nach.»
Es folgt ein Schweigen. Dann
erhebt sich Joseph von Arimathäa und sagt: «Ich gehe, Meister. Komm morgen zu
mir.»
«Nein, es ist besser, wenn ich
nicht komme.»
«Dann komm in mein Haus am Weg
zwischen dem Ölberg und Bethanien. Dort herrscht Friede und...»
«Auch nicht. Ich werde in den
Ölgarten gehen, um zu beten. Denn mein Geist verlangt nach Einsamkeit.
Entschuldigt mich.»
«Wie du willst, Meister. Und...
geh nicht zum Tempel. Der Friede sei mit dir.»
«Der Friede sei mit euch.»
Die beiden gehen...
«Ich möchte wissen, wohin Judas
gegangen ist!» ruft Jakobus des
141
Zebedäus aus. «Ich würde sagen:
zu den Armen; aber hier ist der Geldbeutel!»
«Macht euch keine Sorgen
darüber... Er wird kommen...»
Maria des Joseph kehrt mit Lampen
zurück, denn das Tageslicht dringt nicht mehr durch die dicke Glimmerscheibe,
die zur Erhellung des großen Raumes dient. Auch die beiden Knaben kommen
wieder.
«Ich freue mich, dich bei
jemandem zu lassen, der beinahe meinen Namen trägt. Wenn du ihn rufst, wirst
du dich meiner erinnern», sagt Margziam.
Jesus zieht ihn an sich.
Nun tritt auch Judas ein, dem die
Dienerin geöffnet hat, kühn, lächelnd, unbefangen.
«Meister, ich wollte nachsehen...
Der Sturm hat sich gelegt. Und ich habe auch die Frauen begleitet ... Diese
Jungfrau ist so furchtsam! Ich habe dir nichts gesagt, denn sonst hättest du
mich zurückgehalten, und ich wollte sehen, ob Gefahr für dich besteht. Aber
niemand denkt mehr daran. Am Sabbat sind die Straßen menschenleer.»
«Nun gut. Also können wir hier in
Frieden verweilen, und morgen...»
«Du willst doch nicht etwa in den
Tempel gehen!» schreien die Apostel erregt.
«Nein, in unsere Synagoge, als
gute, treue Galiläer.»
564. HEILUNG DES BLINDGEBORENEN
Jesus verläßt mit seinen Aposteln
und Joseph von Sephoris das Haus in Richtung der Synagoge. Der klare, heitere
Tag erfreut die Herzen wie ein Frühlingsversprechen nach so vielen Tagen
windigen Wetters mit winterlichen Wolken. Viele Bewohner Jerusalems sind daher
auf den Straßen, die einen auf dem Weg zu den Synagogen, die anderen auf dem
Rückweg von dort oder von anderen Orten. Wieder andere verlassen mit ihrer
Familie die Stadt in der Absicht, die Sonne im Freien zu genießen. Durch das
Herodestor, das man vom Haus des Joseph von Sephoris aus sieht, strömt das
Volk zu fröhlichen Vergnügungen außerhalb der Stadtmauern. Ein Sprung ins
Grüne und Weite, ins Freie, heraus aus den engen Straßen zwischen den hohen
Häusern. Ich glaube, daß die Bürger, die die Sabbatvorschriften mit dem
Verlangen nach Luft und Sonne auf den Wegen vereinbaren und sich nicht mit den
Balkonen ihrer Häuser begnügen wollen, ganz spontan diesen ländlichen Gürtel
um Jerusalem aufsuchen.
Jesus aber geht nicht zum
Herodestor, sondern kehrt ihm vielmehr den Rücken und begibt sich ins Innere
der Stadt. Aber kaum hat er einige Schritte zurückgelegt auf der breiteren
Straße, in die der Weg mündet, an
142
dem das Haus des Joseph von
Sephoris liegt, lenkt Judas von Kerioth seine Aufmerksamkeit auf einen
Jüngling, der auf sie zukommt und dabei mit nach oben gerichtetem Gesicht, in
dem die Augen fehlen, die Mauer mit einem Stab abtastet in der für die Blinden
typischen Haltung. Sein Gewand ist ärmlich, aber sauber. Er muß eine in
Jerusalem bekannte Gestalt sein, denn mehr als einer zeigt auf ihn. Einige
gehen sogar auf ihn zu mit den Worten: «Mann, heute hast du den Weg verfehlt.
Die Wege zum Moriah liegen hinter dir. Du bist bereits in Bezetha.»
«Ich bitte heute nicht um ein
Almosen in Geld», entgegnet der Blinde mit einem Lächeln, entfernt sich immer
noch lächelnd in nördlicher Richtung.
«Meister, schau ihn dir an. Seine
Augenlider sind zugewachsen. Ich würde fast sagen, daß er gar keine hat. Die
Stirn geht in die Wangen über ohne jegliche Vertiefung, und es scheint, als ob
darunter keine Augäpfel wären. So ist er zur Welt gekommen, der Unglückliche,
und so wird er sterben, ohne je das Licht der Sonne oder das Antlitz eines
Menschen gesehen zu haben. Nun sage mir, Meister: wenn einer so sehr gestraft
wurde, muß er sicherlich viel gesündigt haben. Aber wenn er blind geboren
wurde, was sicher der Fall ist, wie kann er dann vor seiner Geburt gesündigt
haben? Haben vielleicht seine Eltern gesündigt und Gott hat sie gestraft,
indem er ihn in diesem Zustand zur Welt kommen ließ?»
Auch die anderen Apostel, Isaak
und Margziam drängen sich heran, um Jesu Antwort zu hören. Und, wie angezogen
von der Größe Jesu, der die Menge überragt, eilen zwei ordentlich aussehende
Bürger von Jerusalem herbei, die in geringer Entfernung dem Blinden gefolgt
sind. Ich sehe auch Joseph von Arimathäa, der aber nicht näher kommt, sondern
sich an ein durch zwei Stufen etwas erhöht liegendes Haustor lehnt, den Blick
über die Gesichter schweifen läßt und alle beobachtet.
Jesus antwortet, und seine Worte
sind deutlich zu hören in dem plötzlich eingetretenen Schweigen: «Weder er
noch seine Eltern haben mehr gesündigt als jeder andere Mensch; vielleicht
sogar weniger, denn Armut verhindert oft manche Sünden. Er ist so geboren,
damit an ihm noch einmal die machtvollen Werke Gottes offenbar werden. Ich bin
das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit alle in der Welt, die Gott
vergessen oder sein geistiges Ebenbild zerstört haben, sehen und sich
erinnern, und damit alle, die Gott suchen oder schon die Seinen sind, in ihrem
Glauben und in ihrer Liebe gefestigt werden. Der Vater hat mich gesandt, damit
ich in der Zeit, die Israel noch zugestanden wird, das Wissen um Gott in
Israel und in der Welt vervollkommne. Seht, daher muß ich die Werke dessen
tun, der mich gesandt hat, um Zeugnis davon abzulegen, daß ich vermag, was er
vermag, da ich eins bin mit ihm. Die Welt soll wissen und sehen, daß der Sohn
dem Vater nicht ungleich ist, und an mich glauben um dessentwillen, was ich
bin. Danach wird die Nacht kommen, in der niemand
143
mehr wirken kann, die Finsternis,
und wer sich nicht mit meinem Zeichen bezeichnet und im Glauben an mich
gefestigt hat, der wird es nicht mehr tun können in der Finsternis und der
Verwirrung, im Schmerz, in der Trostlosigkeit und im Verderben, die über diese
Orte kommen und die Seelen mit schrecklichen Ängsten erfüllen werden. Aber
solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht und das Zeugnis, das Wort, der
Weg und das Leben, die Weisheit, die Macht und die Barmherzigkeit. Geh daher
hin, hole den Blindgeborenen und führe ihn zu mir.»
«Geh du, Andreas. Ich möchte
hierbleiben und sehen, was der Meister tut», antwortet Judas und weist auf
Jesus, der zur staubigen Erde gebeugt, auf ein Erdhäufchen gespieen und mit
dem Finger den Staub mit dem Speichel vermengt hat, um ein Schlammkügelchen zu
bilden, während der immer gefällige Andreas geht und den Blinden holt, der
gerade in das Sträßlein einbiegt, das zum Haus des Joseph von Sephoris führt.
Jesus bestreicht sich beide Zeigefinger mit dem erdigen Speichel und hält die
Hände dann so, wie der Priester sie bei der hl. Messe beim Evangelium oder bei
der Epistel hält. Judas zieht sich von seinem Posten zurück und sagt zu
Matthäus und Petrus: «Kommt hierher, ihr seid kleiner. So könnt ihr besser
sehen.» Er stellt sich hinter alle anderen, fast versteckt hinter den Söhnen
des Alphäus und Bartholomäus, die ziemlich groß sind.
Andreas kommt zurück mit dem
Blinden an der Hand, der immer wieder sagt: «Ich will kein Geld. Laß mich
gehen. Ich weiß, wo der ist, der Jesus genannt wird. Ich gehe, um ihn zu
bitten ...»
«Der jetzt vor dir steht, ist
Jesus», sagt Andreas und bleibt vor dem Meister stehen.
Gegen seine sonstige Gewohnheit
stellt Jesus keine Fragen an den Mann. Er bestreicht sofort die geschlossenen
Augenlider des Blinden mit dem Schlamm an seinen Zeigefingern und befiehlt:
«Und jetzt geh, so schnell du kannst, zum Teich von Siloe, ohne
stehenzubleiben und ohne mit jemandem zu sprechen.»
Der Blinde bleibt mit seinem mit
Schlamm beschmierten Gesicht einen Augenblick verwirrt stehen und öffnet die
Lippen, um zu sprechen. Dann schließt er sie wieder und gehorcht. Die ersten
Schritte sind langsam, wie die eines nachdenklichen oder enttäuschten
Menschen. Dann aber beschleunigt er seinen Gang und berührt dabei die Mauer
mit seinem Stab. Er läuft immer schneller, soweit ein Blinder dies vermag, und
vielleicht auch, weil er sich geführt fühlt...
Die beiden Bürger von Jerusalem
lachen höhnisch und gehen kopfschüttelnd weiter. Joseph von Arimathäa folgt
ihnen zu meinem Erstau neu, ohne den Meister auch nur zu grüßen. Er kehrt auf
dem Weg zurück auf dem er gekommen ist, und geht also auf den Tempel zu. So
entfernen sich sowohl der Blinde als auch die beiden zuvor Erwähnten und
Joseph von Arimathäa in Richtung Süden, während Jesus nach Westen geht. Ich
144
verliere ihn aus den Augen, denn
der Wille des Herrn läßt mich dem Blinden folgen und denen, die ihm
nachlaufen.
Nachdem sie Bezetha hinter sich
gelassen haben, gehen sie alle in das Tal, das zwischen dem Moriah und Sion
liegt. Mir scheint, daß ich es andere Male Tyropoeon nennen gehört habe. Sie
durcheilen es bis zum Stadtteil Ophel, gehen an ihm vorüber und kommen auf die
Straße, die zum Teich Siloe hinunterführt, immer in derselben Reihenfolge:
zuerst der Blinde, der in diesem Stadtteil des einfachen Volkes bekannt sein
muß, darin die beiden Bürger von Jerusalem, und zuletzt, in einiger
Entfernung, Joseph von Arimathäa.
Joseph bleibt bei einer
armseligen Hütte stehen, die halb versteckt hinter einer Buchsbaumhecke liegt,
die den Garten des kleinen Häuschens umgibt. Die beiden Erwähnten gehen direkt
zum Teich und beobachten den Blinden, der sich vorsichtig dem großen Becken
nähert, die feuchte Mauer abtastet und eine Hand ins Wasser taucht. Mit einer
Hand voll Wasser wäscht er sich dann ein-, zwei-, dreimal die Augen. Beim
dritten Mal drückt er auch die andere Hand auf das Gesicht, läßt er seinen
Stock fallen und stößt etwas wie einen Schmerzensschrei aus. Dann nimmt er
behutsam die Hände vom Gesicht, und sein Schmerzensschrei verwandelt sich in
jauchzende Freude: «Oh! Allerhöchster! Ich sehe!» Er wirft sich zu Boden wie
überwältigt von innerer Erregung. Um seine Augen zu schützen und trotz des ihn
blendenden Lichtes sehen zu können, preßt er die Hände an die Schläfen und
wiederholt: «Ich sehe! Ich sehe! Das also ist die Erde! Das ist das Licht! Und
das ist das Gras, das ich nur von seiner Frische her kannte.» Dann erhebt er
sich und geht noch gebeugt, wie von einer Last niedergedrückt, von der Last
der Freude, zu dem Bächlein, das das aus dem Becken überfließende Wasser
bildet. Er sieht es fröhlich glitzernd dahinfließen und flüstert: «Und das ist
das Wasser... Ja, so habe ich es zwischen den Fingern gefühlt (er taucht eine
Hand ein). Es war kalt und man konnte es nicht festhalten. Aber ich kannte es
doch nicht... Ach, wie schön, wie schön ist alles!» Er erhebt die Augen und
sieht einen Baum... Er geht an ihn heran, berührt ihn, streckt eine Hand aus
und zieht ein Zweiglein an sich, schaut es an und lacht, lacht. Und die Hand
über die Augen haltend schaut er zum Himmel, zur Sonne, und zwei Tränen fallen
von den jungen Lidern, die sich geöffnet haben, um die Welt zu betrachten...
Dann senkt er den Blick wieder auf das Gras, wo eine Blume sich auf ihrem
Stiel wiegt, und sieht sich selbst im Spiegel des Baches und betrachtet sich
und sagt: «Und das bin ich!» Staunend beobachtet er eine Turteltaube, die in
geringer Entfernung trinkt, eine Ziege, die die letzten Blätter eines wilden
Rosenstrauches abreißt, und eine Frau, die mit ihrem Söhnlein an der Brust zum
Teich kommt. Diese Frau erinnert ihn an seine Mutter, an seine Mutter, deren
Antlitz er nie gesehen hat, und mit zum Himmel erhobenen Händen ruft er aus:
«Sei gesegnet,
145
du Allerhöchster, für das Licht,
für die Mutter und für Jesus!» Dann läuft er fort, und läßt seinen nun
nutzlosen Stab am Boden liegen...
Die beiden Männer aus Jerusalem
haben diese letzten Szenen nicht abgewartet. Sobald sie bemerkt haben, daß der
Mann sehen kann, sind sie in die Stadt gelaufen.
Joseph hingegen bleibt bis zum
Ende, und als der von seiner Blindheit Geheilte nun an ihm vorbeieilt und im
Wirrwarr der Gassen des volksreichen Ophel verschwindet, verläßt auch er den
Ort und kehrt sehr nachdenklich in die Stadt zurück.
Der eigentlich immer recht
geräuschvolle Vorort Ophel ist nun geradezu in Aufruhr. Alles rennt hin und
her. Fragen, Antworten.
«Aber ihr werdet ihn mit einem
anderen verwechselt haben...»
«Nein, ich sage es dir. Ich habe
mit ihm gesprochen und gesagt: "Aber bist du wirklich Sidonias mit dem
Beinamen Bartholmai?" Und er hat mir geantwortet: "Ich bin es." Ich wollte ihn
fragen, wie es sich ereignet hat, aber er ist fortgelaufen.»
«Wo ist er jetzt?»
«Sicher bei der Mutter.»
«Wer? Wer hat ihn gesehen?»
fragen neu Hinzugekommene.
«Ich, ich», geben verschiedene
zur Antwort.
«Aber wie ist es geschehen?»
«Ich habe ihn daherrennen sehen,
ohne Stock, mit zwei Augen im Gesicht, und habe gesagt: Schaut! So würde
Bartholmai aussehen, wenn ...»
«Ich sage dir: Ich zittere
förmlich. Beim Eintreten hat er geschrieen: "Mutter, ich sehe dich!"»
«Eine große Freude für die
Eltern! Jetzt kann er seinem Vater helfen und sich selbst seinen Unterhalt
verdienen ...»
«Die arme Frau! Es ist ihr vor
lauter Freude übel geworden. Oh, so etwas! So etwas! Ich war hingegangen, um
mir etwas Salz zu holen, und...»
«Laufen wir zu ihm und hören wir
ihn selbst...»
Joseph von Arimathäa befindet
sich mitten in diesem Trubel, und ich weiß nicht, ob aus Neugierde oder aus
dem Instinkt der Nachahmung: er folgt dem Strom und gelangt in eine Sackgasse,
die am Kedron enden würde, wenn sie weiterführte. Dort drängt sich die Menge
und übertönt mit ihrem Gerede das Rauschen des durch den Herbstregen
angeschwollenen Baches.
Joseph kommt gerade dort an, als
aus einer anderen Gasse die beiden Männer aus Jerusalem von zuvor mit drei
weiteren Männern auftauchen: einem Schriftgelehrten, einem Priester und einem
dritten, den ich an seiner Kleidung nicht identifizieren kann. Anmaßend bahnen
sie sich einen Weg und versuchen, in das mit Menschen überfüllte Haus zu
gelangen. Das Haus besteht aus einer großen Küche, die schwarz ist wie Teer.
In einem durch eine einfache Bretterwand abgeteilten Winkel, befindet sich
146
ein Lager und eine Tür, durch die
man in ein anderes Zimmer mit einem größeren Bett gelangt. Durch eine offene
Tür in der gegenüberliegenden Wand sieht man einen nur wenige Quadratmeter
großen Garten. Das ist alles.
Der geheilte Blinde spricht, an
den Tisch gelehnt, und beantwortet die Fragen; alles arme Leute wie er selbst,
niederes Volk von Jerusalem, aus diesem Stadtteil, der vielleicht der ärmste
von allen ist. Seine Mutter steht neben ihm, schaut ihn an und weint und
trocknet sich die Augen mit ihrem Schleier. Der Vater, ein von der Arbeit
verbrauchter Mann, fährt sich mit der zitternden Hand durch den Bart.
In das Haus hineinzukommen, ist
selbst der jüdischen und gelehrten Anmaßung unmöglich, und die fünf müssen
sich die Worte des Geheilten von draußen anhören.
«Wie sie sich geöffnet haben? Der
Mann, der sich Jesus nennt, hat meine Augen mit feuchter Erde bestrichen und
mir gesagt: "Geh und wasche dich am Teich Siloe." Und ich bin hingegangen,
habe mich gewaschen, und meine Augen haben sich geöffnet, und ich konnte
sehen.»
«Aber wie hast du es geschafft,
den Rabbi zu finden? Du bist immer unglücklich darüber gewesen, daß er dir nie
begegnet ist, nicht einmal damals, als er immer hier vorüberkam, um zu Jonas
nach Gethsemane zu gehen. Und heute, da niemand weiß, wo er sich aufhält...»
«Gestern abend kam einer seiner
Jünger, gab mir zwei Münzen und sagte: "Warum versuchst du nicht, das
Augenlicht zu erlangen?" Ich habe ihm geantwortet: "Ich habe es versucht, aber
ich finde diesen Jesus, der Wunder wirkt, nie. Ich suche ihn, seit er Annalia
geheilt hat, die aus demselben Vorort stammt, aber wenn ich ihn hier suche,
ist er dort..." Und er hat mir gesagt: "Ich bin einer seiner Apostel, und was
ich will, das tut er. Komm morgen nach Bezetha und suche das Haus des Joseph
des Galiläers. Der, der getrockneten Fisch verkauft, Joseph von Sephoris. Es
liegt beim Herodestor, nahe dem Bogen auf der Ostseite des Platzes, und du
wirst sehen, daß er früher oder später dort vorbeigeht oder in das Haus geht.
Ich werde dich dem Meister vorstellen." Ich habe gesagt: "Aber morgen ist
Sabbat." Ich wollte damit sagen, daß er am Sabbat nichts tun würde. Er aber
sprach zu mir: "Wenn du geheilt werden willst, ist das der Tag, denn danach
verlassen wir die Stadt, und du weißt nicht, ob du ihm noch einmal begegnen
wirst." Ich habe noch gesagt: "Ich weiß, daß sie ihn verfolgen. Ich habe es
gehört an den Toren der Tempelmauer, wo ich zum Betteln hingehe. Und da sie
ihn so verfolgen, will er jetzt wohl nicht mehr so verfolgt werden und wird am
Sabbat nicht heilen." Er aber: "Tue, was ich dir sage, und du wirst am Sabbat
die Sonne sehen." Darauf bin ich hingegangen. Wer wäre nicht gegangen? Wenn es
einer seiner Apostel Sagt! Er hat mir auch gesagt: "Ich bin der, auf den er am
meisten hört, und ich komme absichtlich, weil ich Mitleid mit dir habe und
weil ich will,
147
daß seine Macht erstrahle,
nachdem man ihn geschmäht hat. Du, der Blindgeborene, wirst sie erstrahlen
lassen. Ich weiß, was ich sage. Komm, und du wirst sehen." Ich ging und war
noch nicht beim Haus des Joseph angelangt, als ein Mann zu mir kam und mich an
der Hand nahm; doch der Stimme nach war es nicht der von gestern. Er sagte zu
mir: "Komm mit mir, Bruder." Ich wollte ihm nicht folgen, denn ich glaubte, er
wolle mir Brot und Geld geben, vielleicht auch Kleider. Ich sagte, er solle
mich gehen lassen, weil ich erfahren hatte, wo ich den finden könnte, den sie
Jesus nennen. Und der Mann hat mir geantwortet: "Dieser hier ist Jesus, er
steht vor dir." Aber ich habe nichts gesehen, weil ich blind war. Ich habe
gefühlt, wie mich zwei mit feuchter Erde bedeckte Finger hier und hier berührt
haben, und eine Stimme hat gesagt: "Geh sogleich zum Teich von Siloe, wasche
dich und sprich mit niemandem." Und ich habe es getan. Aber ich war traurig,
weil ich gehofft hatte, sofort sehen zu können, und glaubte beinahe, es handle
sich um einen herzlosen Bubenstreich. Fast wäre ich nicht zum Teich gegangen.
Aber dann hörte ich so etwas wie eine innere Stimme: "Hoffe und gehorche." So
bin ich zum Teich gelaufen, habe mich gewaschen und das Augenlicht erlangt.»
Der Jüngling schweigt verzückt im Gedanken an die Freude des ersten
Augenblicks, da er plötzlich sehen konnte...
«Laßt den Mann heraus! Wir wollen
ihn befragen», schreien die fünf.
Der Jüngling schafft sich Platz
und kommt heraus auf die Schwelle.
«Wo ist der, der dich geheilt
hat?»
«Ich weiß es nicht», sagt der
Jüngling, dem ein Freund zugeflüstert hat: «Es sind Schriftgelehrte und
Priester.»
«Wieso weißt du das nicht? Du
hast doch gerade gesagt, du wüßtest es. Belüge nicht die Gesetzeslehrer und
Priester! Wehe dem, der versucht, die Vorsteher des Volkes zu betrügen!»
«Ich betrüge niemanden. Der
Jünger hat mir gesagt: "Er ist in jene
Haus." Und es war wahr, denn ich
war schon in der Nähe, als man mich anhielt und zu ihm führte. Aber wo er
jetzt ist, weiß ich nicht. Der Jünger sagte mir, daß sie fortgehen würden. Er
könnte also schon die Stadt verlassen haben.»
«Aber wohin ist er gegangen?»
«Wie soll ich das wissen? ... Er
wird nach Galiläa gegangen sein ... nach dem, wie er hier behandelt wurde...
!»
«Du törichter und ungezogener
Mensch! Gib acht, wie du sprichst, du Auswurf des Volkes! Ich habe dich
gefragt, welchen Weg er eingeschlagen hat.»
«Aber wie soll ich das wissen, da
ich doch blind war? Kann ein Blinde sagen, wohin ein anderer geht?»
«Nun gut, folge uns!»
«Wohin wollt ihr mich bringen?»
148
«Zu den obersten der Pharisäer.»
«Warum? Was haben diese mit mir
zu tun? Haben sie mich etwa geheilt, daß ich mich bei ihnen bedanken müßte?
Als ich blind war und bettelte, hat meine Hand niemals eine Münze von ihnen
empfangen. Aus ihrem Munde vernahm ich niemals Worte des Mitleids, und mein
Herz hat niemals ihre Liebe gefühlt. Was soll ich ihnen sagen? Ich kenne nur
einen, dem ich "Danke" sagen muß, außer meinem Vater und meiner Mutter, die
mich Unglücklichen so viele Jahre hindurch geliebt haben. Und es ist dieser
Jesus, der mich geheilt hat, da er mich mit seinem Herzen liebte, wie meine
Eltern mit dem ihrigen. Ich gehe nicht zu den Pharisäern. Ich bleibe bei
meiner Mutter und meinem Vater und will mich daran erfreuen, ihr Antlitz zu
sehen, so wie sie sich an meinen Augen erfreuen, die jetzt erst geboren
wurden, so viele Lenze nachdem ich geboren wurde, aber das Licht nicht sah.»
«Mach nicht so viele Worte. Komm
und folge uns!»
«Nein! Ich komme nicht! Habt ihr
etwa jemals meiner über mein Unglück verzweifelten Mutter eine Träne
abgewischt, oder meinem von der Arbeit erschöpften Vater den Schweiß? Jetzt,
da es mein Anblick zu tun vermag, sollte ich sie alleinlassen und euch
folgen?»
«Wir befehlen es dir. Nicht du
hast zu befehlen, sondern der Tempel und die Führer des Volkes. Wenn der
Stolz, geheilt zu sein, dir den Verstand umnebelt und dich vergessen läßt, daß
wir hier befehlen, so erinnern wir dich daran. Vorwärts! Marsch!»
«Aber warum soll ich denn kommen?
Was wollt ihr von mir?»
«Du sollst als Zeuge aussagen. Es
ist Sabbat. Hier ist am Sabbat Arbeit getan worden. Das wird als Sünde
aufgezeichnet. Als deine Sünde und als Sünde dieses Satans.»
«Ihr selbst seid die Teufel! Ihr
selbst seid Sünder! Und ich sollte Zeugnis ablegen gegen den, der mir Gutes
getan hat? Ihr seid wohl betrunken! Zum Tempel werde ich gehen, um dem Herrn
zu danken. Und sonst nichts. So viele Jahre habe ich im Dunkel der Blindheit
gelebt. Aber die verschlossenen Lider haben mir nur die Augen verdunkelt. Der
Verstand ist trotzdem durch die Gnade Gottes erleuchtet gewesen, und er sagt
mir, daß ich dem einzigen Heiligen in Israel keinen Schaden zufügen darf.»
«Mann, jetzt ist es aber genug.
Weißt du nicht, daß es Strafen gibt für die, die sich der Obrigkeit
widersetzen?»
«Ich weiß nichts. Hier bin ich
und hier bleibe ich. Und ich rate euch nicht, mir etwas anzutun. Seht ihr denn
nicht, daß ganz Ophel auf meiner Seite steht?»
«Ja, ja! Laßt ihn in Ruhe, ihr
Schakale! Er wird von Gott beschützt! Rührt ihn nicht an! Gott ist mit den
Armen! Gott ist mit uns, ihr Blutsauger und Heuchler!» Das Volk schreit und
droht in einer dieser spontanen Ausbrüche, die explosionsartig den Unwillen
der Bedrückten gegenüber
149
ihren Bedrückern oder die Liebe
zu ihren Beschützern zum Ausdruck bringen. Die Leute rufen: «Wehe, wenn ihr
unseren Retter angreift! Den Freund der Armen, den Messias, den dreimal
Heiligen! Wehe euch! Wir haben weder den Zorn des Herodes noch den des
Prokonsuls gefürchtet, wenn es nötig war. Wir fürchten auch den euren nicht,
ihr alten zahnlosen Hyänen! Ihr Schakale mit beschnittenen Krallen! Ihr
unfähigen Anmaßenden! Rom will keine Tumulte und belästigt den Rabbi nicht, da
er der Friede ist. Aber sie kennt euch. Fort von hier! Verlaßt die Stadtteile
derer, die ihr mit einem Zehnten bedrückt, der ihre Kräfte übersteigt, damit
ihr Geld habt, um eure Gelüste zu stillen und dunkle Geschäfte zu betreiben.
Ihr Abkömmlinge eines Jason, eines Simon! Ihr Peiniger eines wahren Eleazar,
eines heiligen Onias. Ihr Widersacher der Propheten! Fort, fort!» Der Tumult
entflammt sich immer mehr.
Joseph von Arimathäa, der sich
bislang als untätiger, wenn auch aufmerksamer Zuschauer an ein Mäuerchen
gedrückt hat, springt mit einer für einen alten Mann unerwarteten Behendigkeit
und noch dazu in Mantel und Gewand gehüllt auf eben dieses Mäuerchen und ruft
mit lauter Stimme: «Schweigt, ihr Bürger! Hört auf Joseph vom Hohen Rat!»
Einer, zwei, zehn Köpfe blicken
in Richtung des Rufes. Sie sehen Joseph und rufen seinen Namen. Er muß sehr
bekannt sein, der Herr von Arimathäa, und auch die Gunst des Volkes besitzen,
denn die Schreie der Verachtung verwandeln sich in Zurufe der Freude: «Joseph
vom Synedrium! Er lebe hoch! Friede und langes Leben dem Gerechten! Friede und
Segen dem Wohltäter der Elenden! Ruhe, denn Joseph will sprechen! Ruhe!»
Nur langsam legt sich der Lärm,
und für einige Minuten hört man das Rauschen des Kedron jenseits der Gasse.
Alle Köpfe sind Joseph zugewandt und alle haben vergessen, was sie zuvor in
der entgegengesetzten Richtung beschäftigt hat: die fünf unglückseligen,
unvorsichtigen Männer, die den Tumult heraufbeschworen haben.
«Bewohner von Jerusalem, Leute
von Ophel, warum wollt ihr euch blenden lassen durch Verdacht und Zorn? Warum
wollt ihr euch verfehlen gegen die Ehrfurcht und die guten Sitten, ihr, die
ihr immer den Gesetzen der Väter so treu ergeben wart? Was befürchtet ihr
denn? Daß der Tempel ein Moloch ist, der nicht zurückgibt, was er aufnimmt?
Daß eure Richter lauter Blinde sind, blinder als euer Freund, blind im Herzen
und taub gegenüber der Gerechtigkeit? Ist es nicht Brauch, daß ein wunderbares
Geschehnis zu Protokoll gegeben, niedergeschrieben und aufbewahrt wird von
denen, die den Auftrag haben, die Chronik Israels zu führen? Laßt daher zu,
daß, auch zur Ehre des Rabbi, den ihr liebt, der wunderbar Geheilte hingehe
und bezeuge, was Jesus an ihm getan hat. «Zögert ihr noch? Nun gut, ich werde
dafür bürgen, daß eurem Bartholmai nichts Böses zustößt. Ihr wißt, daß ich
euch nicht betrüge. Wie einen mir teuren
150
Sohn werde ich ihn dorthin
geleiten, und ich werde ihn dann auch wieder zu euch zurückführen. Glaubt mir,
und macht aus dem Sabbat nicht einen Tag der Sünde durch einen Aufstand gegen
eure Oberhäupter.»
«Er hat recht! Das dürfen wir
nicht. Ihm können wir glauben, denn er ist ein Gerechter. Wenn gute
Entscheidungen im Synedrium gefällt werden, ist immer seine Stimme dabei.» Die
Leute tauschen ihre Meinungen aus und rufen schließlich: «Dir ja! Dir können
wir unseren Freund anvertrauen», und dem Jüngling zugewandt: «Geh! Fürchte
dich nicht. Bei Joseph von Arimathäa bist du in Sicherheit, mehr als bei
deinem Vater.»Und sie machen Platz, damit der Jüngling zu Joseph gelangen
kann, der von seinem improvisierten Rednerpult herabgestiegen ist, und rufen
ihm im Vorbeigehen zu: «Keine Angst! Wir kommen mit.»
Joseph, in seinem prächtigen
Gewand aus wundervoller Wolle, legt dem Jüngling die Hand auf die Schulter und
macht sich mit ihm auf den Weg. Die graue, abgetragene Tunika des Jünglings
und sein kurzer Mantel streifen das faltenreiche, dunkelrote Gewand und den
noch dunkleren, prunkvollen Mantel des alten Mitglieds des Hohen Rates. Hinter
ihnen gehen die fünf, und dann noch viele, sehr viele Bewohner von Ophel...
Nun sind sie schon beim Tempel
angekommen, nachdem sie die Straßen der Innenstadt überquert und die
Aufmerksamkeit vieler auf sich gelenkt haben, die auf den Blindgeborenen
zeigen und sagen: «Aber das ist doch der blindgeborene Bettler! Und jetzt hat
er Augen! Vielleicht ist es einer, der ihm gleicht... Nein! Er ist es sicher,
und sie führen ihn zum Tempel. Gehen wir, um zu hören», und der Schwarm wird
immer größer, bis die Tempelmauern sie alle miteinander aufnehmen.
Joseph führt den Jüngling in
einen Saal. Es ist nicht der Sitzungssaal des Synedriums, aber viele Pharisäer
und Schriftgelehrte sind dort versammelt. Joseph tritt ein, und mit ihm
Bartholmai und die fünf. Die einfachen Leute von Ophel werden in den Vorhof
zurückgedrängt.
«Hier ist der Mann. Ich selbst
bringe ihn euch, denn ich habe, ohne bemerkt zu werden, die Begegnung mit dem
Rabbi und seine Heilung miterlebt und kann euch bezeugen, daß das
Zusammentreffen nicht von dem Rabbi geplant war. Der Mann, ihr werdet es
selbst hören, wurde von Judas von Kerioth, der euch bekannt ist, gebracht oder
vielmehr aufgefordert, zur Wohnung des Rabbi zu kommen. Und ich habe gehört,
ebenso wie diese beiden hier bei mir gehört haben, da sie dort waren, wie
Judas Jesus von Nazareth veranlaßt hat, das Wunder zu wirken. Ich bezeuge
hiermit, daß wenn jemand bestraft werden muß, dies weder der Blinde noch der
Rabbi, sondern der Mann von Kerioth ist. Er ist – und Gott sieht, ob ich lüge,
wenn ich sage, was ich denke – der alleinige Urheber der Sache, die er
absichtlich und arglistig herbeigeführt hat. Ich habe gesprochen.»
«Deine Aussage befreit den Rabbi
nicht von Schuld. Wenn auch einer
151
seiner Jünger sündigt, so darf
doch der Meister nicht sündigen. Und er hat gesündigt, weil er am Sabbat
geheilt hat. Er hat knechtliche Arbeit getan.»
«Auf die Erde spucken ist keine
knechtliche Arbeit. Die Augen eines anderen berühren, ist auch keine
knechtliche Arbeit. Auch ich berühre den Mann und glaube nicht, dadurch zu
sündigen.»
«Er hat am Sabbat ein Wunder
gewirkt. Darin liegt die Sünde.»
«Die Ehrung des Sabbat durch ein
Wunder ist Ausdruck der Gnade und der Güte Gottes. Der Sabbat ist der Tag des
Herrn. Und kann der Allmächtige ihn nicht feiern durch ein Wunder, das seine
Macht erstrahlen läßt?»
«Wir sind nicht hier, um dich
anzuhören. Du bist nicht beschuldigt worden. Den Mann hier wollen wir
befragen. Antworte du. Wie hast du das Augenlicht erhalten?»
«Ich habe es schon gesagt, und
alle diese hier haben mich gehört. Der Jünger dieses Jesus hat mir gestern
gesagt: "Komm, und ich werde dich heilen lassen." Da bin ich hingegangen. Ich
habe gefühlt, daß mir feuchte Erde hier ins Gesicht gestrichen wurde, und eine
Stimme hat mir befohlen, zum Teich von Siloe zu gehen und mich zu waschen. Ich
habe es getan, und jetzt sehe ich.»
«Aber weißt du, wer dich geheilt
hat?»
«Gewiß weiß ich es! Jesus. Ich
habe es euch schon gesagt.»
«Aber weißt du denn genau, wer
Jesus ist?»
«Ich weiß überhaupt nichts. Ich
bin arm und unwissend, und bis vor kurzem war ich blind. Das weiß ich. Und ich
weiß, daß er mich geheilt hat. Und wenn er es tun konnte, ist Gott gewiß mit
ihm.»
«Lästere nicht! Gott kann nicht
mit dem sein, der das Sabbatgebot nicht beachtet», brüllen einige.
Doch Joseph und die Pharisäer
Eleazar, Johannes und Joachim bemerken: «Ein Sünder kann aber auch nicht
solche Wunder wirken.»
«Hat euch dieser Besessene etwa
auch schon verführt?»
«Nein. Wir sind gerecht. Und wir
sagen: Wenn Gott nicht mit dem sein kann, der am Sabbat arbeitet, so kann doch
auch ein Mann nicht ohne Gott bewirken, daß ein Blindgeborener sehend wird»,
sagt Eleazar ruhig. Und die anderen nicken zustimmend.
«Und den Teufel, wohin tut ihr
den?» schreien aufgeregt die Übelwollenden.
«Ich kann nicht glauben, und auch
ihr glaubt es nicht, daß der Teufel Werke tut, für die man den Herrn lobt»,
sagt der Pharisäer Johannes.
«Und wer lobt ihn?»
«Der Jüngling, seine Eltern, ganz
Ophel und ich mit ihnen, und mit mir alle, die gerecht sind und Gott in
heiliger Weise Gott fürchten», entgegnet Joseph.
152
Die beschämten Bösen, die nicht
mehr wissen, was sie entgegnen sollen, wenden sich nun an Sidonias, genannt
Bartholmai: «Und du, was sagst du von dem, der dir die Augen geöffnet hat?»
«Für mich ist er ein Prophet. Und
größer als Elias mit dem Sohn der Witwe von Sarepta. Denn Elias ließ nur die
Seele in den Knaben zurückkehren. Dieser Jesus hingegen hat mir gegeben, was
ich nie verloren habe, da ich es nie besessen habe: das Augenlicht. Und wenn
er mir in so kurzer Zeit aus Nichts, außer mit ein wenig Erde, Augen gemacht
hat, während meine Mutter sie mir in neun Monaten nicht mit ihrem Fleisch und
Blut geben konnte, muß er groß sein wie Gott, der aus Erde den Menschen
erschaffen hat.»
«Fort mit dir! Fort mit dir! Du
Gotteslästerer! Du Lügner! Du Bestochener!» Und sie jagen den Mann hinaus, als
wäre er ein Verdammter.
«Der Mann lügt. Das kann nicht
wahr sein. Alle können bestätigen, daß ein Blindgeborener unheilbar ist. Es
wird einer sein, der dem Bartholmai ähnlich sieht und den der Nazarener
bezahlt hat... oder... Bartholmai ist niemals blind gewesen.»
Angesichts dieser überraschenden
Behauptung fährt Joseph von Arimathäa auf: «Daß der Haß verblendet, ist
bekannt seit den Zeiten Kains. Aber daß er auch töricht macht, das ist neu.
Könnt ihr euch denn vorstellen, daß sich einer bis zum Jünglingsalter blind
stellt, um ein mögliches aufsehenerregendes Ereignis in ferner Zukunft
abzuwarten. Oder daß die Eltern des Bartholmai ihren Sohn nicht kennen oder
sich für eine solche Lüge hergeben?»
«Das Geld vermag alles. Und sie
sind arm.»
«Der Nazarener ist noch ärmer als
sie.»
«Du lügst. Der Reichtum eines
Satrapen geht durch seine Hände.»
«Aber er bleibt dort keinen
Augenblick. Diese Summen sind für die Armen. Sie werden für gute Zwecke
verwendet, nicht für Betrug!»
«Wie sehr du ihn verteidigst! Und
dabei gehörst du zum Hohen Rat.»
«Joseph hat recht. Die Wahrheit
muß gesagt werden, welches auch immer das Amt eines Mannes sei», sagt Eleazar.
«Lauft und ruft den Blinden
zurück. Bringt ihn wieder hierher. Andere sollen zu den Eltern gehen und sie
herbringen», schreit Elchias und reißt die Tür auf. Und sein Mund ist fast
ganz bedeckt von Geifer, so sehr hat ihn der Zorn gepackt.
Der eine läuft hierhin, der
andere dorthin. Der erste, der zurückkehrt, ist der erstaunte und ärgerliche
Sidonias, genannt Bartholmai. Sie stellen ihn in eine Ecke und beobachten ihn,
wie eine Meute Hunde ein Wild umstellt.
Dann, nach einer guten Weile,
kommen auch seine Eltern, umgeben von einer Menschenmenge.
«Kommt herein, ihr zwei. Und die
anderen, hinaus!»
153
Die beiden treten erschrocken ein
und sehen ihren Sohn dort hinten in der Ecke, gesund, aber wie einen
Gefangenen. Die Mutter stöhnt: «Mein Sohn! Und das hätte doch ein Festtag für
uns sein sollen!»
«Hört zu. Ist dieser Mann euer
Sohn?» fragt ein Pharisäer grob.
«Gewiß ist er unser Sohn. Wer
sonst sollte es denn sein?»
«Seid ihr dessen wirklich
sicher?»
Vater und Mutter sind so erstaunt
über diese Frage, daß sie einander zuerst einmal anschauen, bevor sie
antworten.
«Antwortet!»
«Edler Pharisäer, kannst du dir
vorstellen, daß ein Vater und eine Mutter ihr eigenes Kind mit einem anderen
verwechseln könnten?» fragt der Vater bescheiden.
«Aber... könnt ihr beschwören,
daß... Ja. Daß man nicht für Geld von euch verlangt hat, daß ihr diesen für
euren Sohn ausgebt, während er vielleicht einer ist, der ihm ähnlich sieht?»
«Wer soll das von uns verlangt
haben? Schwören? Tausendmal, sowohl beim Altar, als auch beim Namen Gottes,
wenn du willst!» Und ihre Aussage ist so überzeugend, daß sie auch den
Eigensinnigsten entwaffnen würde.
Doch die Pharisäer sind nicht
entwaffnet. Sie fragen: «Ist euer Sohn denn nicht blind zur Welt gekommen?»
«Ja, so ist es. Mit
verschlossenen Lidern ist er zur Welt gekommen, und darunter war nichts...»
«Und wie kann er denn jetzt auf
einmal sehen? Er hat Augen und darüber offene Lider. Ihr wollt doch nicht
behaupten, daß die Augen wachsen können wie die Blumen im Frühling und daß die
Lider sich öffnen wie der Kelch einer Blume... !» sagt ein anderer Pharisäer
mit sarkastischem Lachen.
«Wir wissen, daß dieser Mann seit
fast dreißig Jahren wirklich unser Sohn ist und daß er blind geboren wurde.
Aber wie er jetzt auf einmal sehen kann, das wissen wir nicht, noch wissen
wir, wer ihm die Augen geöffnet hat. Im übrigen fragt ihn doch selbst. Er ist
kein Dummkopf und auch kein Kind mehr. Er ist alt genug, fragt ihn, und er
wird euch antworten.»
«Ihr lügt! Er hat in eurem Haus
erzählt, wie er geheilt wurde und von wem. Warum sagt ihr, daß ihr es nicht
wißt?» schreit einer von den beiden, die dem Blinden die ganze Zeit gefolgt
sind.
«Wir waren wie betäubt von der
Überraschung, so daß wir ihn gar nicht gehört haben», entschuldigen sich die
beiden.
Die Pharisäer wenden sich nun an
Sidonias, genannt Bartholmai: «Tritt vor und erweise Gott die gebührende Ehre,
wenn es dir gelingt! Weißt du nicht, daß der, der deine Augen berührt hat, ein
Sünder ist? Du weißt es nicht? Nun, dann sollst du es jetzt wissen. Wir, die
wir es wissen, sagen es dir.»
154
«Bah 1 Mag sein, daß es ist, wie
ihr sagt. Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich vorher
blind war und jetzt sehe, und sehr klar.»
«Aber was hat er mit dir gemacht?
Wie hat er dir die Augen geöffnet?»
«Ich habe es euch schon gesagt,
und ihr habt mir zugehört. Jetzt wollt ihr es noch einmal hören? Warum? Wollt
ihr vielleicht seine Jünger werden?»
«Du Dummkopf! Sei du nur ein
Jünger dieses Mannes. Wir sind Jünger des Moses. Und über Moses wissen wir
alles, auch daß Gott zu ihm gesprochen hat. Aber von diesem Menschen wissen
wir nichts, weder woher er kommt, noch wer er ist, und kein Zeichen vom Himmel
weist darauf hin, daß er ein Prophet ist.»
«Das ist ja gerade das
Wunderbare! Ihr wißt nicht, woher er kommt und wer er ist, und ihr sagt, daß
kein Zeichen vom Himmel darauf hinweist, daß er ein Gerechter ist. Aber er hat
mir die Augen geöffnet, und keiner von uns in Israel hätte das fertiggebracht,
nicht einmal die Liebe einer Mutter und die Opfer meines Vaters. Eines aber
wissen wir alle, sowohl ich als auch ihr: Gott erhört nicht den Sünder,
sondern den, der Gottesfurcht besitzt und seinen Willen tut. Niemals hat man
gehört, daß irgend jemand auf der Welt die Augen eines Blindgeborenen geöffnet
hätte, aber dieser Jesus hat es getan. Wenn er nicht von Gott wäre, hätte er
es nicht tun können.»
«Du bist ganz in der Sünde
geboren, und dein Geist ist noch mißgestalteter als es dein Körper war, und du
nimmst dir heraus, uns zu belehren? Fort mit dir, verfluchte Mißgeburt! Und
werde ein Satan zusammen mit deinem Verführer. Fort! Fort, ihr alle, törichtes
und sündhaftes Volk.» Und sie werfen den Sohn, den Vater und die Mutter
hinaus, als wären sie drei Aussätzige.
Die drei eilen davon, gefolgt von
ihren Freunden. Sobald sie außerhalb der Tempelmauer sind, dreht Sidonias sich
um und spricht: «Bleibt, wo ihr seid, und sagt, was ihr wollt! Die Wahrheit
ist, daß ich jetzt sehe und Gott dafür preise. Ihr seid wohl die Satane, und
nicht der Gute, der mich geheilt hat.»
«Schweige, Sohn! Schweige! Daß
man uns nur nichts Böses antut...»stöhnt die Mutter.
«Oh, meine Mutter! Die Luft jenes
Raumes hat deine Seele vergiftet. In meinem Schmerz hast du mich gelehrt, Gott
zu preisen, und jetzt, in der Freude, bist du nicht imstande, ihm zu danken,
und hast Furcht vor den Menschen?»
«Der Sohn hat recht, Frau. Laßt
uns in unsere Synagoge gehen und dort den Herrn preisen, da man uns aus dem
Tempel vertrieben hat. Beeilen wir uns, bevor der Sabbat zu Ende ist...»
Und sie beschleunigen ihre
Schritte und entschwinden auf dem Weg ins Tal.
155
565. IN NOB; JUDAS VON KERIOTH
LÜGT
Jesus befindet sich in Nob. Er
kann noch nicht lange dort sein, denn er ist dabei, die Zwölf in drei Gruppen
von je vier Personen aufzuteilen, um sie in den verschiedenen Häusern
unterzubringen. Bei sich behält er Petrus, Johannes, Judas Iskariot und Simon
den Zeloten, während Jakobus des Zebedäus die Gruppe mit Matthäus, Judas des
Alphäus und Philippus anführt. Der dritten Gruppe ist Bartholomäus vorgesetzt,
und zu ihr gehören Jakobus des Alphäus, Andreas und Thomas.
«Geht nun in die Häuser, wo man
sich angeboten hat, euch nach der Abendmahlzeit aufzunehmen. Morgen kehrt ihr
hierher zurück, und dann werde ich euch sagen, was zu tun ist. Bei den
Mahlzeiten werden wir beisammen sein. Erinnert euch an das, was ich euch schon
oft gesagt habe: Ihr sollt meine Lehre auch durch eure Lebensweise predigen,
in eurem Umgang untereinander und mit denen, die euch aufgenommen haben. Seid
daher einfach, geduldig und aufrichtig im Reden, im Handeln und in eurem
ganzen Gebaren, so daß Gerechtigkeit von euch ausströmt wie ein Wohlgeruch.
Ihr seht, daß die Augen der Welt stets auf uns gerichtet sind, um uns zu
verleumden oder zu prüfen, aber auch um uns zu ehren. Aber die uns ehren sind
in der Minderheit unter den vielen, die uns beobachten. Und gerade diesen
wenigen müssen wir uns mit größter Sorgfalt widmen; denn auf ihren Glauben
richtet sich das Augenmerk der Welt, um ihn zu erschüttern, und alles dient
ihr als Waffe, um die Liebe der Guten zu mir und demzufolge auch zu euch zu
zerstören. Helft also nicht der Welt durch eine unheilige Lebensweise und
vermehrt nicht die Last derer, die ihren Glauben verteidigen müssen gegen die
Nachstellungen meiner Gegner, indem ihr für sie zum Stein des Anstoßes werdet.
Der Anstoß verwirrt die Seelen, er vertreibt und schwächt sie. Wehe dem
Apostel, der bei den Seelen Anstoß erregt. Er sündigt gegen seinen Meister und
gegen seinen Nächsten, gegen Gott und gegen die Herde Gottes. Ich verlasse
mich auf euch. Fügt nicht ihr zu meinem schon so großen Schmerz noch einen
neuen hinzu.»
«Sei unbesorgt, Meister. Von uns
soll dir kein Schmerz kommen, es sei denn, Satan würde uns alle verführen»,
sagt Bartholomäus.
Anastasica, die mit Elisa in der
Küche gearbeitet hat, tritt ein und sagt: «Das Abendessen ist bereit, Meister.
Geh hinunter, solange die Speisen noch warm sind. Das wird dich stärken.»
«Gehen wir.»
Jesus erhebt sich und geht hinter
der Frau die Treppe hinunter, die vom oberen Raum, in dem schon die Nachtlager
vorbereitet sind, zum Gärtchen führt, und gelangt von dort in die von einem
flackernden Feuer erhellte Küche.
Der alte Johannes steht neben der
Feuerstelle, während Elisa noch
156
Speisen anrichtet. Sie wendet
sich mit einem mütterlichen Lächeln dem eintretenden Jesus zu und beeilt sich,
die in Milch gekochte Gerste oder den Weizen in eine große Schüssel zu
schütten. Dasselbe Gericht hat Maria des Alphäus in Nazareth vor der Abreise
des Johannes und der Syntyche bereitet.
«So 1 Ich habe mich immer daran
erinnert, daß Maria des Kleophas mir gesagt hat, daß dir dieses Gericht
schmeckt. Und ich habe auch den besten Honig aufbewahrt, um es für Margziam zu
kochen... Es tut mir leid, daß der Knabe nicht gekommen ist...»
«Nike und Isaak haben ihn bei
sich behalten, da sie morgen sehr früh abreisen. Die Frau wird die Gelegenheit
benützen und mit dem Wagen bis Jericho fahren, um dort den Auftrag
auszuführen, den du kennst ...»
«Was für ein Auftrag, Meister?»
fragt Iskariot neugierig.
«Eine ganz frauliche Aufgabe: ein
Kind aufzuziehen. Nur bedarf das Kind nicht der Milch, sondern des Glaubens,
denn es ist ein Kind im Geist. Aber jede Frau ist Mutter und weiß, wie man
solche Dinge angeht. Wenn sie einmal verstanden hat, worum es geht... dann ist
sie dazu ebenso fähig wie ein Mann. Und überdies kann sie sich der Macht ihrer
mütterlichen Sanftheit bedienen.»
«Du bist so gut zu uns, Meister!»
sagt Elisa und liebkost ihn mit einem Lächeln.
«Ich sage nur die Wahrheit,
Elisa. Wir in Israel, und nicht nur wir, sind es gewöhnt, die Frau als ein
niedrigeres Wesen zu betrachten. Nein. Wenn sie auch dem Mann unterworfen ist,
wie es recht und billig ist; wenn sie auch wegen der Sünde Evas unter einer
größeren Strafe zu leiden hat; wenn sie auch dazu bestimmt ist, ihre Aufgaben
hinter Schleiern und im Halbschatten zu erfüllen, ohne große Worte und
aufsehenerregende Taten; wenn sich auch all ihr Tun hinter einem Vorhang
abspielt, so ist sie doch deshalb nicht weniger stark und weniger fähig als
der Mann. Auch ohne an die großen Frauen Israels zu erinnern, sage ich euch,
daß sich viel Kraft im Herzen der Frau findet. Im Herzen, wie bei uns Männern
im Verstand. Ich sage euch, daß sich die Stellung der Frau hinsichtlich der
Bräuche und auch sonst in vieler Beziehung ändern wird. Und es wird recht
sein, denn so wie ich für alle Menschen, so wird eine Frau besonders für die
Frauen Gnade und Erlösung erlangen.»
«Eine Frau? Und wie soll eine
Frau erlösen?» fragt Judas von Kerioth lachend.
«Wahrlich, ich sage dir: Sie
erlöst schon. Weißt du, was das heißt: Erlösen?»
«Gewiß weiß ich das! Es heißt,
von der Sünde befreien.»
«Ja. Doch das Befreien von der
Sünde würde nicht viel nützen, da der Feind ewig ist und neue Nachstellungen
bereiten würde. Aus dein irdischen Paradies erklang eine Stimme, die Stimme
Gottes: "Feindschaft
157
will ich setzen zwischen dir und
der Frau ... Sie wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihrer Ferse
nachstellen." Nicht mehr als eine Nachstellung, denn die Frau wird in sich
haben, was den Gegner besiegt. Und daher erlöst sie, seit sie ist. Eine
tatsächliche, wenn auch verborgene Erlösung. Aber bald wird alle Welt sie
erkennen, und die Frauen werden sich durch sie gestärkt fühlen.»
«Daß du erlösest ... gut. Aber
daß eine Frau es vermag... das anerkenne ich nicht, Meister.»
«Erinnerst du dich nicht an
Tobias? An seinen Gesang?»
«Ja, aber er spricht von
Jerusalem.»
«Hat Jerusalem etwa noch ein
Zelt, in dem Gott wohnt? Kann Gott aus seiner Herrlichkeit herabblicken auf
die Sünden, die in den Mauern des Tempels begangen werden? Ein anderes Zelt
war nötig, ein heiliges, ein Stern, der die Irrenden zum Allerhöchsten
zurückführt. Und dies habt ihr in der Miterlöserin, die sich durch alle
Jahrhunderte hindurch freuen wird, die Mutter der Erlösten zu sein. "Du wirst
in herrlichstem Licht erstrahlen. Alle Völker der Erde werden dir huldigen.
Sie werden von ferne zu dir kommen, Geschenke bringen und in dir den Herrn
anbeten... Sie werden deinen erhabenen Namen anrufen... Verflucht sei, wer
dich haßt, gesegnet alle, die dich lieben in Ewigkeit. Dann freue dich und
frohlocke über die Söhne der Gerechten, denn sie werden versammelt und preisen
den Herrn." Das ist der wahre Hochgesang der Miterlöserin. Und die Engel im
Himmel, die sehen, singen ihn schon... Das neue, himmlische Jerusalem beginnt
in ihr. O ja, das ist die Wahrheit! Die Welt kennt sie nicht, und auch die im
Geist verfinsterten Rabbis von Israel kennen sie nicht...» Jesus versenkt sich
in seine Gedanken...
«Aber von wem spricht er denn?»
fragt Iskariot Philippus, der neben ihm steht.
Noch bevor dieser antworten kann,
sagt Elisa, die gerade Käse und schwarze Oliven auf den Tisch stellt, mit
einer gewissen Härte: «Von seiner Mutter spricht er. Begreifst du denn nicht?»
«Aber ich habe nicht gewußt, daß
sie von den Propheten als Märtyrerin bezeichnet wird... Man spricht nur von
einem Erlöser, und ...»
«Glaubst du, es gäbe nur
körperliche Qual? Weißt du nicht, daß diese nichts ist im Vergleich zur Qual
einer Mutter, die ihren Sohn sterben sehen muß? Dein Verstand – ich spreche
nicht von deinem Herzen, denn ich weiß nicht, wie es schlägt – sagt dir dein
Verstand, dessen du dich so rühmst, denn nicht, daß sich eine Mutter
hundertmal der Qual und selbst dem Tod überliefern würde, nur um nicht das
Stöhnen ihres Sohnes hören zu müssen? Du bist ein Mann und hast Verstand. Ich
kann nur Frau und Mutter sein. Aber ich sage dir, du bist viel unwissender als
ich, weil du nicht einmal das Herz deiner Mutter kennst ...»
«Oh, du beleidigst mich!»
158
«Nein, ich bin eine alte Frau und
gebe dir nur einen Rat. Laß dein Herz weise werden, und du wirst Tränen und
Strafen vermeiden. Tue es, wenn du kannst.»
Die Apostel, besonders Judas des
Alphäus, Jakobus des Zebedäus, Bartholomäus und der Zelote blinzeln einander
heimlich zu. Sie neigen den Kopf, um das leichte Lächeln zu verbergen, das um
ihre Lippen spielt wegen der aufrichtigen Worte Elisas an den Apostel, der
sich immer so vollkommen glaubt. Jesus, der noch in seine Gedanken versunken
ist, bemerkt nichts.
Elisa wendet sich an Anastasica
und sagt: «Komm! Während sie die Mahlzeit beenden, richten wir noch zwei
weitere Betten her, denn drei sind zu wenig», und sie schickt sich an
hinauszugehen.
«Elisa, ihr gebt doch nicht das
eurige her!» ruft Petrus aus. «Das geht nicht. Ich und Johannes können auf den
Brettern schlafen. Wir sind daran gewöhnt.»
«Nein, Simon. Wir haben noch
Rohrflechtwerk und Strohmatten. Aber sie sind weggeräumt. Wir legen sie jetzt
auf die Gestelle.» Dann geht sie mit der anderen Frau hinaus.
Die müden Apostel nicken in der
Wärme der Küche etwas ein. Jesus denkt nach, den Ellbogen auf den Tisch und
das Kinn in die Hand gestützt.
Da klopft es an die Tür, und
Thomas, der ihr am nächsten ist, erhebt sich, um zu öffnen und ruft aus: «Du,
Joseph? Und mit Nikodemus? Tretet ein! Tretet ein!»
«Der Friede sei mit dir, Meister,
und mit allen in diesem Haus. Wir gehen nach Rama, Meister. Nikodemus hat mich
dorthin eingeladen. Beim Vorübergehen haben wir uns gesagt: "Machen wir kurz
halt, um den Meister zu begrüßen." Wir wollten wissen, ob ... ob du wieder
belästigt worden bist, da sie dich bei Joseph gesucht haben. Sie haben dich
überall gesucht, seit du den Blinden geheilt hast. Aus den Mauern der Stadt
sind sie allerdings nicht gegangen. Keinen Stuhl haben sie verrückt, um den
Sabbat nicht zu entheiligen, und halten sich deshalb für rein. Aber um dich zu
suchen und Bartholmai zu folgen, oh, da haben sie weit mehr getan als erlaubt
ist.»
«Und wie haben sie davon
erfahren, da der Meister doch nichts getan hat auf der Straße?» fragt
Matthäus.
«Ja, nicht einmal wir wußten, ob
er geheilt worden war. Wir sind in die Synagoge gegangen, und dann haben wir
Nike gegrüßt und Isaak und Margziam, die bei ihr geblieben sind. Bei
Sonnenuntergang sind wir schließlich schnell hierher gekommen», sagt Petrus.
«Ihr habt es nicht gewußt; aber
die Abgesandten der Pharisäer haben es gewußt. Ihr habt sie nicht gesehen,
aber ich habe sie beobachtet. Zwei von ihnen waren zugegen, als der Meister
die Augen des Blinden berührte. Stundenlang hatten sie auf ihn gewartet.»
159
«Wieso das?» fragt Judas von
Kerioth mit unschuldiger Miene.
«Mich fragst du das?»
«Es ist doch seltsam, deshalb
frage ich.»
«Noch eigentümlicher ist es, daß
seit einiger Zeit immer gerade dort, wo sich der Meister befindet, Spione
auftauchen.»
«Die Geier sind dort, wo es Beute
gibt, und die Wölfe in der Nähe der Herde.»
«Und die Räuber sind dort, wo
ihnen von einem Komplizen die Karawane gemeldet wird. Das hast du gut gesagt!»
«Was willst du andeuten?»
«Nichts. Ich vervollständige nur
dein Sprichwort, indem ich es auf die Menschen anwende. Denn Jesus ist ein
Mensch, und Menschen sind die, die ihm Nachstellungen bereiten.»
«Erzähle Joseph, erzähle ...»
sagen viele.
«Wenn der Meister damit
einverstanden ist... Ich bin gekommen, um es zu berichten.»
«Sprich!» sagt Jesus.
Joseph erzählt nun in allen
Einzelheiten, was er gesehen hat, verschweigt jedoch, daß es Judas gewesen
ist, der dem Blinden den Aufenthaltsort Jesu mitgeteilt hat. Die Bemerkungen
dazu sind zahlreich, voller Groll oder Bedauern, je nach der Gemütsverfassung
des einzelnen. Judas von Kerioth ist anscheinend am meisten besorgt und
erregt. Er ist gegen alle aufgebracht, besonders aber gegen den unklugen
Blinden, der ausgerechnet am Sabbat den Weg Jesu gekreuzt hat, im Vertrauen
auf die bekannte Güte des Meisters ...
«Oh, du bist es doch gewesen, der
den Meister auf ihn hingewiesen hat! Ich war doch neben dir und habe es
gehört», sagt Philippus erstaunt.
«Hinweisen bedeutet nicht, etwas
zu tun befehlen.»
«Oh, ich glaube dir wohl, daß du
nie gewagt hättest, dem Meister Befehle zu erteilen...» sagt Thaddäus.
«Ich? Aber ganz im Gegenteil. Ich
habe ihn nur auf den Mann aufmerksam gemacht, weil ich einige Erklärungen
haben wollte.»
«Ja. Aber ein Hinweis kann
manchmal einer Versuchung gleichkommen, und das war hier der Fall», erwidert
Thaddäus.
«Das sagst du, aber es ist nicht
so», versichert Judas unverschämt.
«Ist es wirklich nicht so? Bist
du dessen gewiß? Bist du absolut sicher, daß du dem Blinden nichts von Jesus
gesagt hast, daß du ihn nicht aufgefordert hast, sich an Jesus zu wenden, und
daß du ihn nicht sogar angespornt hast, es sofort zu tun, bevor Jesus die
Stadt verläßt?» fragt Joseph von Arimathäa.
«Ganz sicher! Wer hat überhaupt
je mit diesem Mann gesprochen? Ich bestimmt nicht. Tag und Nacht bin ich beim
Meister, und wenn ich nicht bei ihm bin, bin ich bei den Gefährten...»
160
«Ich dachte, du hättest es
gestern getan, als du mit den Frauen fortgegangen bist», sagt Bartholomäus.
«Gestern? Ich habe weniger Zeit
dazu gebraucht, als eine Schwalbe gebraucht hätte, um hin- und
zurückzufliegen. Wie hätte ich in so kurzer Zeit den Blinden suchen, finden
und mit ihm sprechen können?»
«Du hättest ihm begegnen
können...»
«Ich habe ihn nie gesehen.»
«Dann ist dieser Mann ein Lügner;
denn er hat versichert, du hättest ihm gesagt, wohin er gehen und wie er es
anstellen soll; und du hättest ihm sogar garantiert, daß Jesus dich erhören
würde und ...» sagt Joseph von Arimathäa.
Judas unterbricht ihn heftig:
«Schluß! Genug! Er verdient es, wieder blind zu werden für all die Lügen, die
er gesagt hat. Ich – das kann ich aufs Heiligtum beschwören – ich kenne ihn
nur vom Sehen und habe nie mit ihm gesprochen.»
«Nun ist es wirklich genug. Ist
deine Seele schon so weit, o Judas von Kerioth, daß du Gott nicht fürchtest
und deine Handlungen für heilig hältst! Du... Glücklicher, der du nichts
fürchtest», sagt Joseph und blickt ihn streng und mit durchbohrenden Augen an.
«Ich fürchte nichts, nein, weil
ich ohne Sünde bin.»
«Wir alle sündigen, Judas. Und es
ist nur wenig, wenn wir nach den ersten Sünden bereuen können und uns nicht
mit immer größerer und schlimmerer Schuld beladen», sagt Nikodemus, der bisher
geschwiegen hat. Dann wendet er sich an den Meister: «Es ist bedauerlich, daß
man Joseph von Sephoris mit dem Ausschluß aus der Synagoge gedroht hat, falls
er dich noch einmal aufnehmen sollte; und Bartholmai haben sie schon aus ihr
verjagt. Er war mit dem Vater und der Mutter hingegangen, wurde aber von den
Pharisäern in seiner Synagoge erwartet, und sie verwehrten ihm den Eintritt
und verfluchten ihn.»
«Das ist zuviel! Wie lange soll
das noch weitergehen, Herr?» rufen viele.
«Friede! Friede! Das ist nichts.
Bartholmai ist auf dem Weg zum Reich Gottes. Was hat er also verloren? Er ist
im Licht. Ist er also nicht noch mehr Sohn Gottes als zuvor? Oh! Verwechselt
nicht die Werte! Friede! Friede! Wir werden auch nicht mehr zu Joseph gehen.
Es ist bedauerlich, daß Isaak nun meine Mutter und Maria des Alphäus dorthin
bringt... Aber es wäre doch nur für einige Stunden gewesen, denn es ist ja
schon jemand da, der vorgesorgt hat.» Er wendet sich an Johannes von Nob:
«Vater, fürchtest du dich vor dem Hohen Rat? Du siehst, wie teuer man dafür
bezahlt, wenn man den Menschensohn aufnimmt... Du bist alt. Du bist ein treuer
Israelit. Du könntest noch an deinen letzten Sabbaten aus der Synagoge
vertrieben werden. Würdest du das ertragen? Sage es ehrlich. Wenn du Angst
hast, gehe ich fort. Es wird sich immer noch eine Höhle in den Bergen von
Israel für den Menschensohn finden...»
161
«Ich, Herr? Aber wen soll ich
fürchten, wenn nicht Gott? Ich fürchte das offene Grab nicht. Ich betrachte es
vielmehr als einen Freund. Sollte ich da die Zungen der Menschen fürchten? Ich
würde nur das Gericht Gottes fürchten, wenn ich aus Menschenfurcht Jesus, den
Gesalbten des Herrn, von mir jagen würde!»
«Gut. Du bist ein Gerechter...
Ich werde also hier bleiben... wenn ich nicht Nachbarstädte aufsuche, wie ich
es noch einmal tun möchte.»
«Komm zu mir nach Rama, Herr»,
sagt Nikodemus.
«Und wenn dir das schadet?»
«Laden dich die Pharisäer nicht
etwa in böser Absicht ein? Könnte ich nicht dasselbe tun, um deine Gesinnung
besser kennenzulernen?»
«Ja, Meister, gehen wir nach
Rama. Mein Vater wird sehr glücklich darüber sein, wenn er zu Hause ist. Und
wenn er nicht dort sein sollte, wie es oft der Fall ist, wird er bei seiner
Rückkehr deinen Segen vorfinden», sagt Thomas flehentlich.
«Wir werden zuerst nach Rama
gehen. Morgen...»
«Meister, wir verlassen dich. Wir
haben unsere Reittiere draußen und werden vor dem Ende der zweiten Nachtwache
in Rama sein. Der Mond erhellt die Wege wie eine blasse Sonne. Leb wohl,
Meister! Der Friede sei mit dir», sagt Nikodemus.
«Der Friede sei mit dir,
Meister... und höre auf einen guten Rat des Ältesten Joseph. Sei ein wenig
schlau. Schau dich um. Halte die Augen offen und die Lippen verschlossen.
Handle, und sage nie im voraus, was du vorhast... komm für einige Zeit nicht
nach Jerusalem, und wenn du kommst, halte dich nur die Zeit im Tempel auf, die
du zum Beten brauchst. Verstehst du mich? Leb wohl, Meister. Der Friede sei
mit dir.» Joseph hat die letzten Sätze mit großem Nachdruck gesprochen und
dabei Jesus fest angeschaut. Schon seine Blicke sind eine Warnung.
Sie treten in den mondhellen
Garten hinaus und binden zwei kräftige Esel vom Stamm eines Nußbaumes los,
steigen in den Sattel und reiten davon auf der verlassenen, mondhellen Straße.
Jesus kehrt mit den Seinen in die Küche zurück.
«Was hat er eigentlich sagen
wollen?»
«Und wie haben die das wohl
erfahren?»
«Was werden sie Joseph von
Sephoris noch antun?»
«Nichts. Worte. Nur leeres
Gerede. Denkt nicht mehr daran. Das sind Dinge, die der Vergangenheit
angehören und keine Folgen haben werden. Gehen wir. Laßt uns jetzt das Gebet
sprechen, und dann trennen wir uns für heute Nacht. "Vater unser..."»
Er segnet sie und schaut ihnen
nach, während sie fortgehen. Dann steigt er mit den vieren, die er bei sich
behalten hat, in das Zimmer mit den Betten hinauf.
162
566. JESUS IN DEN RUINEN EINES
ZERSTÖRTEN DORFES
Ich weiß nicht, wo Jesus ist. Auf
jeden Fall zwischen Bergen und in einem verlassenen Ort, dessen Häuser durch
eine Naturkatastrophe oder einen Krieg zerstört worden sind. Ich möchte das
letztere annehmen, denn die Ruinen der Häuser weisen an den vor dem Regen
geschützten Stellen und unter dem Wirrwarr von Dornen, Efeu und sonstigen
Kletter- oder Schmarotzerpflanzen, die überall gewachsen sind, noch Spuren
eines Brandes auf. Die langen, haarigen Blätter einer Pflanze, deren Namen ich
nicht kenne, die ich aber auch in Italien schon gesehen habe, bedecken zur
Gänze eine Ruine, die wie ein kleiner abschüssiger Hügel aussieht. Kapern und
andere Gewächse überwuchern die Mauer dahinter, die allein noch
stehengeblieben ist und traurig die Reste des eingestürzten Hauses zu
betrachten scheint, und von der durchbrochenen Brustwehr einer einstigen
Terrasse läßt eine Waldrebe ihre Ranken wie gelöstes Haar im Wind wehen. Ein
anderes eingestürztes Haus, dessen Außenmauern jedoch noch stehen, sieht aus
wie eine riesige Blumenvase, in der anstelle von Blumen Bäume stehen, die
dort, wo früher die Zimmer waren, spontan gewachsen sind... Ein anderes,
teilweise und stufenartig stehengebliebenes Haus gleicht einem irgendeinen
Ritus hergerichteten und ganz mit Grün geschmückten Altar. Ganz oben auf der
Ruine steht eine Pappel, schlank und gerade wie ein Schwert, die den Himmel
nach dem Warum dieses Unheils zu fragen scheint. Die hartnäckigen,
verwilderten Obstbäume zwischen Häusern und Trümmern, die von der übrigen
Vegetation überwuchert werden oder sie selbst überwuchern, gleichen einem
verhexten Wald; denn diese Vegetation, die aus zu Boden gefallenen Früchten
entstanden ist, wächst nun krumm und gerade, kriecht und sprießt aus
Mauerritzen und vertrockneten Brunnen. Tauben und andere Vögel fliegen aus den
Mauerspalten und stürzen sich gierig auf die Nahrung im Feld, das früher gewiß
gepflügtes Ackerland war und wo jetzt nur noch ein Gestrüpp von zähen Wicken
zu finden ist. Sie sind ausgetrocknet von der Sonne und öffnen ihre Hülsen, um
die Samen fallenzulassen und dann im Frühling als Unkraut wieder zu erwachen
und aufzublühen. Die Tauben verjagen mit wildem Flügelschlag die kleineren
Vögel, die ein Körnchen Hirse oder Hanf zu erhaschen suchen, das aus wer weiß
woher gekommenem Samen gewachsen ist und sich Jahr um Jahr auf den
brachliegenden Feldern selbst neu ausgesät hat. Jetzt rächen sich die kleinen
Vögel, besonders die streitsüchtigen Spatzen, indem sie die seltenen und am
wenigsten verkümmerten Ähren abreißen, um sie in ihr Nest zu tragen. Nur
mühsam und ganz schief fliegen sie mit der Last dieser kleinen Kölbchen davon.
Jesus hat nicht nur die Apostel,
sondern auch noch eine ansehnliche Gruppe von Jüngern um sich, unter ihnen
Kleophas und Hermas von
163
Emmaus, die Söhne des alten
Synagogenvorstehers Kleophas, und Stephanus. Auch andere Männer und Frauen
sind dabei. Es scheint, als wären sie aus irgendeinem Dorf gekommen, um Jesus
zu sich einzuladen, oder als wären sie ihm gefolgt, nachdem er bei ihnen
gewesen ist. Jesus geht durch den zerstörten Ort, bleibt oft stehen und schaut
und macht schließlich endgültig halt, als er die höchste Stelle erreicht hat,
von der aus man das ganze Gewirr von Trümmern und Gestrüpp überblicken kann.
Nur noch Tauben erinnern an das Leben, das diesen Ort einst erfüllte. Damals
waren sie sicher sanft und zahm, während sie nun verwildert und angriffslustig
sind. Jesus betrachtet alles mit über der Brust gekreuzten Armen und leicht
geneigtem Haupt, und je länger er schaut, desto blasser und trauriger wird er.
«Warum bleibst du hier, Meister?
Dieser Ort stimmt dich offensichtlich traurig. Bleib nicht stehen, um ihn zu
betrachten. Ich bereue es nun, dich hierdurch geführt zu haben, aber es ist
der kürzeste Weg», sagt Kleophas von Emmaus.
«Oh, ich sehe nicht das, was ihr
seht!»
«Was dann, Herr? Vielleicht
siehst du, was sich in der Vergangenheit hier abgespielt hat? Es war sicher
furchtbar. Aber das ist nun einmal die Art der Römer ...» sagt der andere von
Emmaus.
«Und das sollte euch nachdenklich
stimmen. Ihr seht es alle. Hier war einmal eine Stadt, nicht groß, aber schön.
Sie bestand mehr aus herrschaftlichen Häusern als aus Hütten. Reichen also
gehörte diese Gegend, die nun eine Wildnis ist. Reichen Menschen gehörten
diese nun unfruchtbaren und von Brombeeren, Unkraut und Nesseln überwucherten
Felder... Damals waren es üppige Obstgärten und Felder, die ansehnliche Ernten
einbrachten. Die Häuser waren schön, umgeben von blumenreichen Gärten, mit
Brunnen und Wasserbecken, in denen Tauben badeten und an denen Kinder
spielten. Alle Bewohner dieses Ortes waren glücklich, aber das Glück machte
sie nicht zu Gerechten. Sie vergaßen den Herrn und seine Worte... Und nun
seht!
Keine Häuser mehr, keine Blumen,
keine Brunnen, keine Ernten und keine Früchte. Nur die Tauben sind geblieben,
aber auch sie sind nicht glücklich wie einst. Anstatt sich wie früher an
blondem Weizen und an Kümmel gütlich zu tun, müssen sie sich nun um trockene
Wicken und bittere Kräuter zanken. Es ist ein Fest für sie, wenn sie noch eine
Gerstenähre unter den Dornen finden! ... Und wenn ich um mich schaue, sehe ich
nicht einmal mehr die Tauben ... sondern Gesichter und wieder Gesichter... von
denen viele noch nicht geboren sind... und ich sehe Ruinen über Ruinen,
Dornengestrüpp, wilden Wein und Waldreben, die die Erde meines Vaterlandes
bedecken... Und all das, weil man den Herrn nicht aufnehmen wollte. Ich höre
das Jammern sterbender Kinder, die noch unglücklicher sind als diese Vögel,
für die Gott immer noch sorgt mit einem Minimum
164
an Nahrung, während diese Kleinen
jegliche Hilfe entbehren, da auch sie die allgemeine Strafe trifft und sie an
der vertrockneten Brust ihrer an Hunger, Schmerz und namenlosen Entsetzen
sterbenden Mütter dahinwelken. Und ich höre die Klagen der Mütter über die auf
ihrem Schoß verhungerten Kinder. Ich höre die Klagen der Bräute, die ihren
Bräutigam verloren haben, die Klagen der gefangenen Jungfrauen, die der Lust
der Sieger ausgeliefert sind, die Klagen der in Ketten fortgeführten Männer,
die im Krieg jegliche Erniedrigung erlitten haben, und das Jammern der Alten,
die leben mußten bis zur Erfüllung der Weissagung des Propheten Daniel. Ich
höre die unermüdliche Stimme des Isaias im Säuseln des Windes in den Ruinen,
im Klagen der Tauben in den Trümmern: "In unverständlicher, fremder Sprache
wird der Herr sprechen zu diesem Volk, zu dem er gesprochen hat: 'Das ist die
Ruhe: Gönnt Ruhe dem Müden. Und das ist die Erholung."
Aber sie wollten nicht hören.
Nein, sie haben nicht gewollt, und der Herr kann keine Ruhe bei seinem Volk
finden. Er ist ermattet und müde, nachdem er durch das Land gewandert ist, um
zu lehren, zu heilen, zu bekehren und zu trösten, und statt Erquickung zu
finden, begegnet er Verfolgung, statt Erholung Hinterlist und Verrat. Ganz
eins ist der Sohn mit dem Vater. Und wenn die Wahrheit euch gelehrt hat, daß
selbst ein Glas Wasser, das ihr eurem Nächsten reicht, belohnt werden wird, da
man jeden Akt der Barmherzigkeit, den man dem Bruder erweist, Gott selbst
erweist, welche Strafe wird dann jene erwarten, die dem Menschensohn nicht
einmal den Stein am Weg als Kopfkissen gönnen; die ihm den Bergquell streitig
machen, der durch die Güte des Schöpfers entsprang, und die an dem Ast
vergessene oder verschmähte, unreife oder kranke Frucht, und die den Tauben
genommene Ähre, die ihre Schlinge bereithalten, um ihm die Luft zum Atmen zu
nehmen, und mit der Luft das Leben? Oh, elendes Israel, verloren hast du die
Gerechtigkeit, verloren die Barmherzigkeit Gottes!
Seht, noch einmal ertönt die
Stimme des Propheten Isaias im Abendwind, furchtbarer als der Schrei des
Todesvogels, furchtbar fast wie die Stimme, die im irdischen Paradiese ertönte
und die beiden Sündigen verdammte. Und – oh, wie furchtbar – diese Stimme des
Propheten ist nicht verbunden mit dem Versprechen der Verzeihung wie damals,
wie damals! Nein. Es gibt keine Verzeihung für die Gotteslästerer, die da
sagen: "Wir haben einen Bund mit dem Tod geschlossen, und mit der Hölle einen
Vertrag gemacht. Saust die verwüstende Geißel heran, sie wird uns nicht
treffen. Denn wir haben die Lüge zu unserer Burg gemacht und uns im Trug
geborgen." Seht, Isaias wiederholt, was er vom Herrn gehört hat: "Siehe, ich
lege in Sion einen Grundstein, einen herrlichen Stein, einen kostbaren
Eckstein... Ich mache zur Richtschnur das Recht und zum Senkblei die
Gerechtigkeit. Hagel wird die Lügenburg vernichten und Wasser schwemmt
165
den Zufluchtsort hinweg. Euer
Bund mit dem Tod wird vernichtet und euer Vertrag mit der Unterwelt wird nicht
halten. Wenn die geschwungene Geißel daherfährt, werdet ihr von ihr zermalmt
werden. Sooft sie heransaust, wird sie euch treffen. Morgen für Morgen fährt
sie heran, bei Tag und bei Nacht. Dann deutet mit Schaudern ihr die
Offenbarung."
Armes Israel! Wie diese Felder,
auf denen nur trockene Wicken und bitteres Kraut Bestand haben, aber kein
Weizen mehr wächst, so wird Israel sein, und die Erde, die den Herrn
verschmäht, wird kein Brot mehr hervorbringen für ihre Kinder. Und die Söhne,
die den Müden nicht aufnehmen wollten, werden geschlagen werden und
verwahrlosen. Galeerensträflinge am Ruder werden sie sein und Sklaven derer,
die sie jetzt als minderwertig verachten. Gott wird sein hochmütiges Volk
wahrhaft zermalmen unter dem Gewicht seiner Gerechtigkeit, und mit dem
Mühlstein seines Urteils wird er es zerschmettern...
All das sehe ich in diesen
Ruinen. Ruinen! Überall Ruinen! Im Norden, im Süden, im Osten und im Westen,
und vor allem im Zentrum, im Herzen, wo sich die schuldbeladene Stadt in eine
Grube der Fäulnis verwandeln wird...»
Langsam rollen Tränen über das
bleiche Antlitz Jesu, der den Mantel hebt, um sein Antlitz zu verbergen, und
nur die in dieser schmerzlichen Schauung weit geöffneten Augen freiläßt.
Dann macht er sich wieder auf den
Weg, während seine Begleiter kaum zu flüstern wagen und vor Schreck wie
erstarrt sind...
567. JESUS SPRICHT ZU EMMAUS IM
GEBIRGE
Der Platz von Ernmaus ist voll
von Menschen, sehr voll. Mitten auf dem Platz steht Jesus, der sich kaum
bewegen kann wegen der vielen Leute, die ihn umgeben, bedrängen und belagern.
Er befindet sich zwischen dem Sohn des Synagogenvorstehers und dem anderen
Jünger; und um ihn herum, wahrscheinlich in der Absicht ihn zu schützen,
stehen die Apostel und die Jünger. Und zwischen ihnen sind Kinder und noch
mehr Kinder, die überall durchschlüpfen, wie kleine Eidechsen durch das Gewirr
einer dichten Hecke.
Es ist erstaunlich, welche
Anziehungskraft Jesus auf die Kleinen ausübt! An allen Orten, mag er dort
bekannt sein oder nicht, ist er sofort von Kindern umgeben, die glücklich
sind, wenn sie sich an sein Gewand hängen können. Noch glücklicher sind sie,
wenn seine Hand sie leicht berührt und voll Liebe streichelt, obwohl er
vielleicht gleichzeitig den Erwachsenen eine strenge Rüge erteilt. Am
glücklichsten sind sie natürlich, wenn er sich auf einen Stuhl, ein Mäuerchen,
einen Stein, einen Baumstumpf oder
166
gar ins Gras setzt, denn dann
haben sie ihn auf ihrer eigenen Höhe, können ihn umarmen, ihre Köpfchen auf
seine Schulter oder sein Knie legen oder sich unter seinem Mantel verstecken,
um sich in seinen Armen wiederzufinden wie Küchlein, die den liebevollsten und
sichersten Schutz gefunden haben. Immer verteidigt Jesus sie gegenüber den
Erwachsenen und gegen deren unvollkommene Hochachtung vor ihm, die sich, da
sie aus so vielen und schwerwiegenderen Gründen so unvollkommen ist, eifrig
zeigen will, in dem sie die Kleinen vom Meister fernhält.
Auch jetzt ertönen die gewohnten
Worte Jesu zur Verteidigung seiner kleinen Freunde: «Laßt sie nur gewähren!
Sie belästigen mich nicht. Nicht die Kinder sind es, die mir zur Last fallen
und mir Schmerz bereiten!»
Jesus neigt sich über diese
Kinder mit einem strahlenden Lächeln, das ihn verjüngt und ihm beinahe das
Aussehen eines älteren Bruders, eines wohlwollenden Komplizen bei einer ihrer
unschuldigen Vergnügungen gibt. Dann flüstert er: «Seid brav und ruhig, ganz
still, dann schicken sie euch nicht fort, und wir können noch eine Weile
zusammenbleiben.»
«Und erzählst du uns auch ein
schönes Gleichnis?» fragt der Kühnste unter ihnen.
«Ja. Eines das ganz für euch ist.
Danach spreche ich zu euren Eltern. Hört alle zu. Denn, was für die Kleinen
gut ist, kann auch den Erwachsenen nützen.
Ein Mann wurde eines Tages von
einem großen König zu sich gerufen, der zu ihm sagte: "Ich habe erfahren, daß
du eine Belohnung verdienst, denn du bist weise und gereicht der ganzen Stadt
zur Ehre mit deiner Arbeit und deinem Wissen. Nun, ich werde dir nicht
irgendetwas geben, sondern dich in meine Schatzkammer führen; dort wirst du
dir auswählen, was du haben willst, und ich werde es dir geben. Auf diese
Weise kann ich auch beurteilen, ob du wirklich so bist, wie man sagt."
Hierbei begab sich der König auf
die Terrasse seiner Vorhalle. Er warf einen Blick auf den Platz vor seinem
Palast und sah einen kleinen Knaben in ärmlichen Kleidern vorübergehen, gewiß
das Kind einer sehr armen Familie, vielleicht auch eine Waise oder ein
Bettelkind. Er wandte sich an seine Diener und sprach: "Geht zu diesem Knaben
und bringt ihn zu mir."
Die Diener gingen hinaus und
kehrten mit dem Knäblein zurück, das erzitterte, als es sich vor dem König
stehen sah. Die Würdenträger des Hofes forderten es auf: "Verneige dich und
begrüße den König, sage: Ehre und Herrlichkeit sei dir, o mein König. Ich
beuge mein Knie vor dir, du Mächtiger, den die Erde erhöht hat als ein Wesen,
das seinesgleichen nicht hat." Aber der Knabe wollte sich weder verneigen noch
diese Worte nachsagen. Darüber waren die Würdenträger verärgert, tadelten ihn
heftig und sprachen: "0 König, dieser Knabe ist ungezogen und schmutzig, er
ist
167
eine Schande für deinen Palast.
Erlaube, daß wir ihn hinauswerfen auf die Straße. Wenn du an deiner Seite
einen Knaben zu haben wünschst und wenn dich die unsrigen langweilen, werden
wir dir einen auswählen unter den Reichen der Stadt und ihn dir bringen. Aber
verjage diesen Schmutzfink, der nicht einmal imstande ist zu grüßen..."
Der reiche, weise Mann, der sich
zuvor in unzähligen tiefen Verbeugungen gedemütigt hatte, als ob er vor einem
Altar stünde, sagte: "Deine Würdenträger haben recht. Die Erhabenheit deiner
Krone läßt es nicht zu, daß man deiner geheiligten Person die Ehre verweigert,
die dir zusteht", und während er dies sagte, warf er sich wiederum zu Boden
und küßte sogar einen Fuß des Königs.
Doch der König erwiderte: "Nein.
Ich will diesen Knaben bei mir haben. Und nicht nur das. Ich will auch ihn in
meine Schatzkammer führen, damit er sich aussucht, was er will, und ich werde
es ihm geben. Ist es mir etwa nicht erlaubt, einen armen Knaben glücklich zu
machen, da ich doch König bin? Ist er nicht einer meiner Untertanen wie ihr
alle? Ist es etwa seine Schuld, daß er unglücklich ist? Nein. Bei Gott, ich
will, daß er wenigstens einmal in seinem Leben glücklich sei. Komm, Junge.
Fürchte dich nicht vor mir." Und er reichte ihm die Hand, die der Knabe
unbefangen ergriff und küßte. Der König lächelte. Zwischen zwei Reihen seiner
Würdenträger, die sich ehrfurchtsvoll verneigten, schritt er auf Teppichen von
Purpur und mit goldenen Blumen zur Schatzkammer, zu seiner Rechten den
reichen, weisen Mann und zu seiner Linken den unwissenden, armen Knaben. Der
königliche Mantel bildete einen krassen Gegensatz zu dem ausgefransten
Kleidchen und den nackten Füßen des armen Kindes.
Sie traten in die Schatzkammer,
deren Tür zwei Große des Hofes geöffnet hatten, und erblickten einen hohen,
runden Saal ohne Fenster. Doch viel Licht fiel durch die Decke, die aus einer
einzigen großen Glimmerscheibe bestand. Ein mildes Licht, das aber dennoch die
Goldbeschläge der Schatztruhen und die Purpurbänder der zahlreichen Buchrollen
auf den hohen, geschmückten Pulten aufleuchten ließ. Es waren prunkvolle
Rollen mit kostbaren Stäben und Verschlüssen, geschmückt mit strahlenden
Edelsteinen: seltene Dinge, die nur ein König besitzen kann. Achtlos auf einem
schmucklosen, dunklen, niedrigen Pult lag eine kleine Rolle. Sie war um ein
weißes Hölzchen gerollt, mit einer groben Schnur zusammengebunden und
verstaubt, als hätte man sie vergessen.
Der König sprach, während er auf
die Wände wies: "Seht, hier findet ihr alle Schätze der Erde und andere, die
noch größer als die irdischen sind. Denn hier sind alle Werke des menschlichen
Geistes und auch solche, die aus übermenschlichen Quellen stammen. Geht und
nehmt, was ihr wollt." Dann stellte er sich mit verschränkten Armen in die
Mitte des Raumes und beobachtete.
Der reiche, gelehrte Mann ging
zuerst zu den Schatztruhen. Er hob die
168
Deckel mit immer wachsender
Erregung. Gold in Stäben und goldene Geschmeide, Silber, Perlen, Saphire,
Rubine, Smaragde, Opale... es funkelte aus allen Truhen... Rufe der
Bewunderung bei jedem geöffneten Schrein... Dann begab er sich zu den Pulten.
Beim Lesen der Titel auf den Buchrollen, erneute Rufe der Bewunderung... und
schließlich wandte sich der Mann glühend vor Begeisterung an den König und
sagte: "Du hast ja einen Schatz ohnegleichen. Die Edelsteine sind so wertvoll
wie die Buchrollen, und die einen so wertvoll wie die anderen! Darf ich
wirklich frei wählen?"
"Ich habe es dir gesagt. Tue, als
ob alles dir gehörte."
Der Mann warf sich mit dem
Antlitz zu Boden und sprach: "Ich bete dich an, o großer König!" Dann erhob er
sich und lief zuerst zu den Truhen und danach zu den Pulten, und nahm vom
einen und vom anderen das Beste, was er fand.
Der König, der ein erstes Mal in
seinen Bart hineingelächelt hatte, als er sah, mit welch fieberhafter
Aufregung der Mann von Truhe zu Truhe lief, und ein zweites Mal, als er sah,
wie er sich huldigend zu Boden warf, lächelte nun zum dritten Mal, als er
beobachten konnte, mit weicher Gier und mit welchem Kennerblick er Juwelen und
Schriftrollen aussuchte. Dann wandte er sich dem Kind zu, das an seiner Seite
stand, und sagte zu ihm: "Willst nicht auch du hingehen und dir schöne Steine
und wertvolle Schriftrollen aussuchen?"
Das Kind schüttelte den Kopf.
"Und warum nicht?"
"Die Schriftrollen kann ich nicht
lesen... und den Wert der Steine kenne ich nicht. Für mich sind sie nicht mehr
als die Steinchen auf der Straße."
"Aber sie würden dich reich
machen..."
"Ich habe weder Vater noch Mutter
noch Brüder. Was würde es mir nützen in meinem Schlupfwinkel, wenn ich einen
Schatz im Schoß hätte?"
"Aber du könntest dir damit ein
Haus kaufen."
"Dann würde ich ganz allein darin
wohnen."
"Oder Kleider."
"Ich würde trotzdem immer
frieren, da mir die Liebe der Eltern fehlt."
"Nahrung."
"Ich könnte mich nicht an den
Küssen der Mutter sättigen, noch sie um irgendeinen Preis kaufen."
"Du könntest dir Lehrer nehmen
und lesen lernen..."
"Das würde mir besser gefallen.
Aber was soll ich dann lesen?"
"Die Werke der Dichter, der
Philosophen, der Weisen... und alte Sprüche und die Geschichte der Völker."
"Unnütze, eitle und vergangene
Dinge... Ist nicht der Mühe wert."
"Was für ein dummer Junge!" rief
der Mann aus, der seine Arme mit
169
Schriftrollen beladen und den
Gürtel und die Tunika über der Brust mit Edelsteinen vollgestopft hatte.
Der König lächelte wieder in
seinen Bart. Dann nahm er den Knaben auf den Arm und trug ihn zu den
Schatztruhen. Er griff mit der Hand in die Perlen, Rubine, Topase und
Amethyste und ließ sie wie einen glitzernden Regen fallen, um ihn zu
versuchen.
"Nein, o König! Davon will ich
nichts. Ich möchte etwas anderes..."
Der König brachte ihn zu den
Pulten und las ihm Gedichte, Szenen aus Heldenepen und Beschreibungen von
Ländern vor.
"Oh! Lesen ist viel schöner. Aber
es ist nicht das, was ich gern hätte..."
"Was willst du also? Sprich, und
ich werde es dir geben, Kind."
"Oh! Ich glaube nicht, o König,
daß du das kannst, trotz deiner Macht. Es ist nicht etwas von dieser Erde..."
"Ach, du willst Werke, die nicht
von dieser Erde sind! Dann schau. Hier sind die Werke, die Gott seinen
Knechten diktiert hat. Höre." Und er las vom Herrn eingegebene Schriften vor.
"Das ist viel schöner! Aber um
das zu verstehen, muß man zuvor gut die Sprache Gottes lernen. Gibt es kein
Buch, das sie lehrt, das uns begreifen läßt, was Gott ist?"
Der König machte eine Gebärde des
Staunens und lachte nicht mehr, sondern drückte den Knaben an sein Herz.
Der Mann hingegen lachte
spöttisch und sagte: "Nicht einmal die Weisesten wissen, was Gott ist, und du,
unwissender Junge, willst es wissen? Willst du etwa damit reich werden ... ?"
Der König schaute ihn streng an,
während der Kleine antwortete: "Ich suche keine Reichtümer. Ich suche Liebe,
und man sagte mir einmal, daß Gott die Liebe ist."
Nun trug ihn der König zu dem
schmucklosen Pult, auf dem die kleine Schriftrolle lag, die mit einer
einfachen Schnur zusammengebunden und ganz verstaubt war. Er nahm sie, öffnete
sie und las die ersten Zeilen: "Wer klein ist, der komme zu mir, und ich,
Gott, werde ihn die Wissenschaft der Liebe lehren... In diesem Buch ist sie,
und ich..."
"Oh! Das will ich! So werde ich
Gott kennenlernen, und wenn ich ihn habe, werde ich alles haben. Gib mir diese
Buchrolle, o König, und ich werde glücklich sein."
"Aber sie hat doch keinen
Geldwert! Dieser Knabe ist wirklich töricht! Er kann nicht lesen und nimmt
sich ein Buch! Er ist nicht gebildet und will sich nicht unterrichten lassen.
Er ist arm und nimmt keine Schätze."
"Ich werde mich bemühen, die
Liebe zu besitzen, und dieses Buch wird mich darin unterweisen. Sei gesegnet,
o König, denn du gibst mir etwas, womit ich mich nicht mehr als arme Waise
fühle!"
"Dann bete den König wenigstens
an, wie ich es getan habe, wenn du glaubst, daß du durch seine Hilfe glücklich
geworden bist!"
170
"Ich bete keinen Menschen an, nur
Gott, der ihn so gut gemacht hat." "Dieser Knabe ist der wahre Weise in meinem
Reich. Du, Mann, der du zu Unrecht den Ruf eines Weisen erworben hast, bist
trunken vor Hochmut und Habgier bis zu dem Punkt, daß du das Geschöpf statt
den Schöpfer anbetest. Und dies, nur weil dir das Geschöpf Edelsteine und
menschliche Werke angeboten hat. Du hast nie daran gedacht, daß die
Edelsteine, die du nun hast und die ich hatte, von Gott erschaffen wurden, und
daß die seltenen Bücher große Gedanken beinhalten, weil Gott dem Menschen den
Verstand gegeben hat. Dieser Kleine, der Hunger und Kälte leidet, der
verlassen ist und alles Leid dieser Welt kennt, er hätte einen entschuldbaren
Grund gehabt, vor so vielen Reichtümern den Kopf zu verlieren. Doch siehe, er
hat es verstanden, Gott gerechten Dank zu zollen dafür, daß er mein Herz gut
gemacht hat, und er sucht nur das einzig Notwendige: Gott zu lieben und die
Liebe kennenzulernen, um hier und im Jenseits die wahren Reichtümer zu
besitzen. Mann, ich habe dir versprochen, daß ich dir geben würde, was du
ausgewählt hast. Das Wort des Königs ist heilig. Geh nun mit deinen Steinen
und Schriftrollen, den bunten Kieseln und dem Stroh menschlicher Gedanken. Und
lebe in Angst vor Dieben und Motten, den Feinden der Edelsteine und des
Pergaments. Laß dich blenden vom täuschenden Glanz dieser Splitter und
anwidern vom süßlichen Geschmack menschlicher Weisheit, die nur den Gaumen
kitzelt, aber nicht nährt. Geh! Dieser Knabe bleibt an meiner Seite, und
zusammen werden wir uns bemühen, das Buch zu lesen, das Liebe ist, also Gott.
Wir werden uns weder mit dem täuschenden Glanz kalter Steine, noch mit dem
süßlichen Strohgeschmack der Werke menschlichen Wissens begnügen, sondern das
Feuer des ewigen Geistes wird uns schon hier auf Erden das Entzücken des
Paradieses schenken, und wir werden die Weisheit besitzen, die stärkender als
Wein und nahrhafter als Honig ist. Komm, Knabe, der dir die Weisheit ihr
wahres Antlitz gezeigt hat, auf daß du sie zu deiner Braut erwählst."
Nachdem er den Mann weggeschickt
hatte, nahm er den Knaben zu sich und unterrichtete ihn in der göttlichen
Weisheit, auf daß er sowohl ein Gerechter als auch ein der heiligen Salbung
auf Erden würdiger König werde, und ein Bürger des Reiches Gottes im anderen
Leben.
Das ist das Gleichnis, das ich
den Kindern versprochen und den Erwachsenen angeboten habe.
Erinnert ihr euch an Baruch? Er
sagt: "Wie kommt es, Israel, daß du im Feindeslande weilst, daß du
dahinsiechst in fremdem Land und daß du, wie Leichen, als unrein giltst? Denen
beigezählt wirst, die ins Grab gesunken?" Und antwortet: "Den Quell der
Weisheit hast du verlassen. Wärst du gewandelt auf Gottes Wegen, du weiltest
daheim in Frieden für immer."
Oh, hört, ihr, die ihr euch zu
oft beklagt, im Exil zu leben, obwohl ihr
171
doch in eurem Vaterland seid,
weil das Vaterland nicht mehr uns, sondern dem fremden Herrscher gehört. Ihr
beklagt euch darüber und wißt nicht, daß dies im Vergleich zu dem, was euch in
der Zukunft erwartet, wie ein Tropfen Galle im Vergleich zu dem betäubenden
Kelch ist, den man den Verurteilten reicht und der, wie ihr wißt, bitter wie
kein anderer Trank auf Erden ist. Das Volk Gottes leidet, weil es die Weisheit
verlassen hat. Wie könnt ihr Klugheit, Stärke und Einsicht besitzen, wie könnt
ihr überhaupt wissen, wo sie zu finden sind, um dann wenigstens die geringeren
Dinge zu erfahren, wenn ihr euch nicht bemüht, an den Quellen der Weisheit zu
schöpfen?
Sein Reich ist nicht von dieser
Welt. Aber die Barmherzigkeit Gottes gewährt euch die Quelle. Sie ist in Gott.
Sie ist Gott selbst. Aber Gott öffnet seinen Schoß, damit sie zu euch
hinabsteige. Nun, hat Israel etwa noch seinen Schatz, den es besitzt oder
besessen hat? In seinem törichten Hochmut über die Wunder, die es vergeudet
hat, glaubt es ihn noch zu besitzen. Es hält sich noch für reich und verlangt
daher Ehren, während es doch nur Mitleid und Spott erntet. Noch einmal:
Besitzt Israel, das Reichtümer, Eroberungen und Ehren besitzt oder besessen
hat, wenigstens noch seinen einzigen Schatz? Nein. Und es verliert auch die
anderen, denn, wer die Weisheit verliert, verliert auch die Fähigkeit, groß zu
sein. Wer die Weisheit nicht kennt, fällt von einem Irrtum in den anderen.
Israel kennt gar viele Dinge, allzu viele, aber die Weisheit nicht mehr.
Mit Recht sagt daher Baruch: "Die
Jungen dieses Volkes sahen das Licht, und wohnten auf Erden, doch auch sie
erkannten nicht den Weg zur Weisheit, und wußten nichts von ihren Pfaden. Auch
ihre Söhne nahmen sie nicht an, dem Weg zu ihr blieben sie fern."
Weit weg von ihr! Die Söhne
nahmen sie nicht an! Prophetische Worte! Ich bin die Weisheit, die zu euch
spricht, und drei Viertel von Israel nimmt mich nicht auf. Die Weisheit
entfernt sich und wird sich immer weiter entfernen, und Israel wird allein
sein... Was werden dann jene tun, die sich für Riesen halten und daher
glauben, den Herrn zwingen zu können, ihnen zu helfen und ihnen zu dienen?
Sind diese Riesen Gott denn von Nutzen bei der Errichtung seines Reiches?
Nein. Mit Baruch sage ich: "Um das wahre Reich Gottes zu gründen, wird sich
Gott nicht die Stolzen erwählen. Er wird sie vielmehr umkommen lassen in ihrer
Torheit", da sie seine Wege verfehlt haben. Denn um mit dem Geist zum Himmel
aufzusteigen und die Lehren der Weisheit zu verstehen, braucht man einen
demütigen und gehorsamen Geist und vor allem Liebe. Denn die Weisheit spricht
ihre eigene Sprache, die Sprache der Liebe, da sie selbst Liebe ist. Um ihre
Wege zu erkennen, ist ein klarer, ein demütiger Blick erforderlich, der frei
ist von der dreifachen Begierlichkeit. Um die Weisheit zu besitzen, muß man
sie mit lebenden Münzen erkaufen: den Tugenden.
Dies fehlt Israel, und ich bin
gekommen, um die Weisheit zu lehren,
172
euch ihre Wege zu weisen und in
eure Herzen die Tugenden zu säen. Denn ich kenne alles, weiß alles, und bin
gekommen, um es Jakob, meinen Knecht, und Israel, meine Geliebte, zu lehren.
Ich bin auf die Welt gekommen, um mit den Menschen zu reden, ich, das Wort des
Vaters, um die Menschensöhne an der Hand zu nehmen, ich, der Sohn Gottes und
der Menschensohn, der Weg des Lebens. Ich bin gekommen, um euch in die Kammer
der ewigen Schätze zu führen, ich, dem alles von meinem Vater übergeben wurde.
Ich bin gekommen, ich, der ewig Liebende, um meine Braut zu holen, die
Menschheit, die ich auf meinen Thron erheben und in mein Brautgemach führen
will, damit sie bei mir sei im Himmel. Ich will sie in meinen Weinkeller
führen, auf daß sie trunken werde vom wahren Weinstock, von dem die Reben ihr
Leben empfangen. Aber Israel ist die träge Braut, die sich nicht vom Lager
erhebt, um dem zu öffnen, der zu ihr kommt. Und so geht der Bräutigam fort. Er
wird vorübergehen. Er ist schon im Begriff vorüberzugehen. Später wird Israel
ihn vergebens suchen, und es wird nicht die barmherzige Liebe seines Erlösers
finden, sondern die Streitwagen seiner Beherrscher; und es wird zerschmettert
werden und Hochmut und Leben verlieren, nachdem es versucht hat, sich sogar
den barmherzigen Willen Gottes zu unterwerfen.
0 Israel, Israel! Du verlierst
das wahre Leben, um dir eine trügerische Illusion von Macht zu bewahren! O
Israel, du glaubst dich zu retten und willst dich retten abseits von den Wegen
der Weisheit und gehst zugrunde, da du dich der Lüge und dem Verbrechen
verkaufst. Schiffbrüchiges Israel, du willst dich nicht am sicheren Ankertau
festhalten, das dir zu deiner Rettung zugeworfen wird, und klammerst dich an
das Wrack deiner Vergangenheit. So trägt dich der Sturm fort, auf das weite,
furchterregende, lichtlose Meer hinaus. O Israel, was nützt es dir, dein Leben
zu retten oder es retten zu wollen für eine Stunde, ein Jahr, ein, zwei oder
drei Jahrzehnte auf Kosten eines Verbrechens, wenn du dann für alle Ewigkeit
zugrundegehst? Das Leben, der Ruhm, die Macht, was sind sie? Eine schmutzige
Wasserblase an der Oberfläche eines Tümpels, der zum Wäschewaschen benützt
wird und irisiert, nicht von Edelsteinen, sondern vom fettigen Schmutz, der
mit dem Salpeter hohle Blasen bildet, die bald zerplatzen, so daß nichts mehr
bleibt als ein Ring in dem von menschlichem Schweiß verschmutzten Wasser. Nur
eines ist notwendig, o Israel: der Besitz der Weisheit. Sogar um den Preis des
Lebens. Denn das Leben ist nicht das Kostbarste auf Erden. Und besser ist es,
hundert Leben zu verlieren als die eigene Seele.»
Jesus hat in einem bewundernden
Schweigen geendet. Er versucht, sich einen Weg zu bahnen und fortzugehen...
Aber die Kinder wollen noch einen Kuß von seinen Lippen, und die Erwachsenen
seinen Segen. Erst danach, nachdem er noch Kleophas und Hermas von Emmaus
gegrüßt hat, kann er gehen.
173
568. JESUS IN BETH HORON
Jesus ist noch in den Bergen.
Außer den Aposteln und Jüngern folgt ihm viel Volk, und darunter befinden sich
auch Jünger, die früher Hirten waren und die sie vielleicht in einem Dörflein,
durch das sie gekommen sind, getroffen haben. Jesus steigt durch ein Tal zu
einem Berg hinauf, auf einer Straße, die mit ihren Windungen dem Fuß des
Hanges folgt und gewiß von den Römern gebaut wurde – den unverwechselbaren
Steinplatten und dem guten Zustand nach zu schließen, die man nur bei
römischen Straßen vorfindet. Leute kommen und gehen, ins Tal hinunter oder vom
Tal hinauf zu der Bergkette, deren Höhen von Dörfern und Städten gekrönt sind.
Manch einer der Vorübergehenden sieht Jesus, fragt, wer er sei, und schließt
sich an. Andere betrachten ihn nur, wieder andere schütteln den Kopf und
grinsen.
Ein Trupp römischer Soldaten holt
sie ein mit schwerem Schritt und Klirren von Waffen und Panzern. Sie wenden
sich um und schauen Jesus an, der gerade die römische Straße verläßt und in
einen... jüdischen Weg einbiegt, der zu einem Dorf auf dem Bergkamm führt. Es
ist ein holpriger, schlammiger Weg, denn es hat geregnet, und entweder gleitet
der Fuß auf den Steinen aus oder er tritt in eine Pfütze. Die Soldaten, die
wohl in die gleiche Stadt gehen wollen, setzen sich nach einem kurzen Halt
wieder in Bewegung, und das Volk ist gezwungen, sich an den Rand des sehr
schmalen Weges zu drücken, um den Trupp vorüberzulassen, der in strenger
Formation marschiert. Die eine oder andere beleidigende Bemerkung wird laut,
aber die Disziplin in der Kolonne verbietet es den Soldaten, entsprechend zu
antworten.
Jetzt sind sie wieder in der Nähe
Jesu, der etwas zur Seite gegangen ist, um sie vorübermarschieren zu lassen,
und sie mit seinem sanften Blick anschaut, und das Leuchten seiner
saphirblauen Augen scheint zu segnen und zu liebkosen. Die verschlossenen
Gesichter der Soldaten hellen sich auf und ihr kaum merkliches Lächeln bringt
nicht Hohn, sondern vielmehr einen respektvollen Gruß zum Ausdruck.
Sie gehen vorüber. Das Volk folgt
wieder dem Rabbi, der allein vorausgeht. Ein Jüngling löst sich aus der Menge,
holt den Meister ein und grüßt ihn ehrfurchtsvoll. Jesus erwidert den Gruß.
«Ich möchte dich etwas fragen,
Meister.»
«Sprich.»
«Ich habe dir zufällig einmal –
es war an einem Morgen nach dem Passahfest – bei den Schluchten von Kerith
zugehört. Seitdem habe ich mir gedacht... daß auch ich einer von denen sein
könnte, die du berufst. Aber zuvor wollte ich genau wissen, was man tun muß
und was man nicht tun darf, und jedesmal, wenn ich deine Jünger getroffen
habe, habe ich sie befragt. Der eine sagte dies, der andere das. Und ich war
verwirrt, fast
174
erschreckt, denn in einem
stimmten sie alle mit mehr oder weniger Strenge überein, nämlich in der
Verpflichtung, vollkommen zu werden... Ich bin aber ein armer Mensch, Herr,
und vollkommen ist nur Gott... Ich habe dich ein zweites Mal gehört, und da
hast du selbst gesagt: "Seid vollkommen." Das hat mich entmutigt. Ein drittes
Mal habe ich dich vor wenigen Tagen im Tempel gehört. Und so streng du auch
warst, schien es mir doch nicht mehr ganz unmöglich, vollkommen zu werden,
denn... Ich weiß nicht einmal warum, wie ich es mir erklären soll und wie ich
es dir erklären soll. Aber ich dachte mir, wenn es unmöglich oder gar
gefährlich wäre, es werden zu wollen, da es ja fast bedeutet, Gott gleichen zu
wollen, dann hättest du, der du uns retten willst, es nicht von uns verlangt.
Denn Anmaßung ist Sünde, und Gott gleich sein zu wollen, ist die Sünde
Luzifers... Aber vielleicht gibt es eine Art es zu werden, ohne dabei zu
sündigen. Gewiß muß man dazu deine Lehre befolgen, die uns zum Heil gereicht.
Ist das richtig?»
«Sehr richtig. Und dann?»
«Dann habe ich weiterhin diesen
und jenen befragt, und als ich erfuhr, daß du in Rama bist, bin ich
hingegangen. Seither bin ich dir, mit Erlaubnis meines Vaters, gefolgt. Sieh,
ich würde dir gern immer weiter folgen...»
«So komm. Was fürchtest du?»
«Ich weiß nicht... Ich weiß es
selbst nicht... Ich frage und frage... Aber immer wenn ich dich höre, scheint
es mir leicht zu sein, und ich entschließe mich zu kommen; und wenn ich dann
später über deine Worte nachdenke, oder noch schlimmer, wenn ich den einen
oder anderen nach seiner Meinung frage, scheint es mir zu schwer zu sein.»
«Ich sage dir, woher das kommt:
es ist eine Nachstellung des Teufels, der dich davon abhalten will, zu mir zu
kommen. Er erschreckt dich mit Trugbildern und verwirrt dich. Er läßt dich
Leute fragen, die selbst, wie du, des Lichtes bedürfen... Warum bist du nicht
direkt zu mir gekommen?»
«Weil... ich hatte zwar keine
Furcht, aber... Unsere Priester und Rabbis sind so hart und hochmütig! Und
du... Ich wagte es nicht, mich dir zu nähern. Aber gestern in Emmaus! ... Oh,
ich glaube verstanden zu haben, daß ich keine Angst zu haben brauche. Und
jetzt bin ich hier, um dich zu fragen, was ich wissen will. Einer deiner
Apostel hat mir kürzlich gesagt: "Geh und fürchte dich nicht. Er ist gut, auch
zu den Sündern." Und ein anderer: "Mach ihn glücklich durch dein Vertrauen.
Wer Vertrauen in ihn hat, der findet ihn sanfter als eine Mutter." Wieder ein
anderer: "Ich weiß nicht, ob ich mich irre, aber ich glaube, daß er dir sagen
wird, daß die Vollkommenheit in der Liebe ist." Sieh, so haben deine Apostel
gesprochen, einige wenigstens, die sanftesten unter deinen Jüngern. Aber nicht
alle; denn unter den Aposteln sind einige, die ein Echo deiner Stimme zu sein
scheinen; aber es sind deren zu wenige... Einige sind darunter, die
175
einem armen Menschen wie mir
Furcht einflößen. Einer hat mir mit einem unschönen Lächeln gesagt: "Du willst
vollkommen werden? Nicht einmal wir, seine Apostel, sind es, und du willst es
sein? Das ist unmöglich." Wenn ich nicht mit den anderen gesprochen hätte,
wäre ich ganz entmutigt geflohen. Aber jetzt mache ich den letzten Versuch...
und wenn auch du mir sagst, daß es unmöglich ist, dann...»
«Mein Sohn, kann ich gekommen
sein, um den Menschen Unmögliches aufzutragen? Wer, glaubst du, hat in dein
Herz dieses Verlangen nach Vollkommenheit gelegt? Dein eigenes Herz?»
«Nein, Herr. Ich denke, daß du es
mit deinen Worten gewesen bist.»
«Du bist nicht weit von der
Wahrheit entfernt. Aber antworte mir weiter. Was für Worte sind meine Worte
für dich?»
«Gerechte Worte.»
«Nun gut. Aber ich will sagen:
Waren es Menschenworte oder mehr als Menschenworte?»
«Oh, du sprichst wie die Weisheit
selbst, und noch viel sanfter und klarer. Ich sage daher, daß deine Worte mehr
sind als Menschenworte, und glaube mich nicht zu irren, wenn ich das richtig
verstanden habe, was du im Tempel gesagt hast. Denn es schien mir, du hättest
damals gesagt, daß du das Wort Gottes selbst bist und daß daher Gott aus dir
spricht.»
«Du hast es richtig verstanden
und gut gesagt. Nun also, wer hat dir das Verlangen nach Vollkommenheit ins
Herz gelegt?»
«Gott hat es mir gegeben durch
dich, sein Wort.»
«Also ist Gott es gewesen. Nun
überlege: Wenn Gott, der die Fähigkeiten der Menschen kennt, euch sagt: "Kommt
zu mir und seid vollkommen!", so heißt das, daß der Mensch, wenn er will, es
auch werden kann. Es ist ein uraltes Wort und erging zum ersten Mal an Abraham
als eine Offenbarung, ein Befehl, eine Einladung: "Ich bin Gott, der
Allmächtige. Wandle in meiner Gegenwart. Sei vollkommen." Gott offenbart sich,
damit der Patriarch nicht zweifle an der Heiligkeit des Befehls und an der
Echtheit der Einladung. Er befiehlt ihm, in seiner Gegenwart zu wandeln, denn
wer in der Überzeugung lebt, im Angesicht Gottes zu wandeln, der begeht keine
schlechte Tat und wird somit imstande sein, vollkommen zu werden, wie Gott es
von ihm verlangt.»
«Das ist wahr! Das ist wirklich
wahr! Wenn Gott es verlangt hat, so deshalb, weil man es tun kann. Oh,
Meister! Wie ist doch alles so gut verständlich, wenn du sprichst! Warum aber
malen uns dann deine Jünger und auch dieser Apostel ein so furchterregendes
Bild von der Heiligkeit? Halten sie vielleicht diese Worte und auch die deinen
nicht für wahr? Oder verstehen sie nicht in der Gegenwart Gottes zu wandeln?»
«Denke nicht an das was ist, und
urteile nicht. Schau, mein Sohn 1 Gerade ihr Verlangen, vollkommen zu sein,
und ihre Demut flößen ihnen vielleicht bisweilen die Furcht ein, es nie werden
zu können.»
176
«Aber sind denn das Verlangen
nach Vollkommenheit und die Demut dem Streben nach Vollkommenheit hinderlich?»
«Nein, mein Sohn, das Verlangen
danach und die Demut sind keine Hindernisse. Man muß sich vielmehr recht tief
davon durchdringen lassen, aber in geordneter Weise. Und das ist dann der
Fall, wenn es nicht verbunden ist mit unbesonnener Hast, mit unbegründeter
Niedergeschlagenheit, Zweifeln und Mißtrauen, die uns z.B. glauben lassen, der
Mensch sei angesichts seiner Unvollkommenheit nicht fähig, vollkommen zu
werden. Alle Tugenden sind notwendig, insbesonders der lebhafte Wunsch, ein
Gerechter zu werden.»
«Ja, das haben mir auch die
gesagt, die ich befragt habe. Sie sagten mir, daß es notwendig sei, Tugenden
zu besitzen. Jedoch bezeichnete mir der eine diese der andere jene als
besonders notwendig. Alle betonten die absolute Notwendigkeit, die zu
besitzen, die sie für die wichtigste hielten, um heilig zu werden. Und das hat
mich verängstigt. Denn wie kann man alle Tugenden in vollkommener Weise
besitzen, sie alle zusammen aufblühen lassen wie einen Strauß verschiedener
Blumen? Dazu braucht es Zeit... und das Leben ist so kurz. Meister, erkläre
mir du, welche Tugend unentbehrlich ist.»
«Es ist die Liebe. Wenn du
liebst, wirst du heilig sein, denn der Liebe zum Allerhöchsten und zum
Nächsten entspringen alle Tugenden und guten Werke.»
«Ja? So erscheint mir alles viel
leichter. Die Heiligkeit ist also Liebe. Wenn ich die Liebe habe, habe ich
alles... Darin besteht die Heiligkeit.»
«Aus dieser und aus den anderen
Tugenden. Denn die Heiligkeit bedeutet nicht, nur demütig, nur klug oder nur
keusch usw. zu sein, sondern man muß tugendhaft sein. Sieh, mein Sohn, wenn
ein Reicher ein Gastmahl geben will, läßt er dann nur eine einzige Speise
auftischen? Weiter: Wenn jemand einen Blumenstrauß binden will, um einen
anderen zu ehren, nimmt er dann etwa nur eine einzige Blume? Nein, nicht wahr?
Denn wenn er von derselben Speise auch noch so viele Schüsseln auf die Tische
stellen würde, würden die Geladenen ihn für einen unfähigen Gastgeber halten,
der nur darum besorgt ist zu zeigen, daß er viel einkaufen kann, nicht aber
das Taktgefühl besitzt, auf den unterschiedlichen Geschmack seiner Gäste
einzugehen und sie nicht nur mit reichlicher Speise zu sättigen, sondern sie
überdies zu erfreuen. Dasselbe gilt für den Blumenstrauß. Eine einzige Blume,
und sei sie auch noch so groß, ist noch kein Blumenstrauß. Viele Blumen
zusammen bilden ihn, und die verschiedenen Farben und Düfte ergötzen das Auge
und den Geruchsinn und lassen uns den Herrn loben. Die Heiligkeit, die wir
betrachten sollen als einen Blumenstrauß, den wir dem Herrn anbieten, muß aus
allen Tugenden zusammengesetzt sein. In der einen Seele wird die Demut
vorherrschen, in der anderen der Starkmut, wieder in einer anderen der
Opfergeist oder die
177
Bußgesinnung, alles Blumen, die
im Schatten der königlichen, duftenden Pflanze der Liebe, deren Blüten stets
im Strauß vorherrschen werden, aufgesprossen sind, aber alle Tugenden zusammen
stellen erst die Heiligkeit dar.»
«Und welche Tugend muß mit
besonderer Sorgfalt gepflegt werden?»
«Die Liebe. Ich habe es dir schon
gesagt.»
«Und dann?»
«Es gibt keine besondere Methode,
mein Sohn. Wenn du den Herrn liebst, wird er dir seine Gaben schenken, d.h. er
wird sich dir mitteilen, und dann werden die Tugenden, in denen du dich zu
festigen suchst, unter der Sonne der Gnade heranwachsen.»
«Mit anderen Worten: Es ist Gott,
der in der liebenden Seele hauptsächlich wirkt?»
«Ja, mein Sohn. Gott ist es, der
hauptsächlich wirkt und es dabei dem Menschen überläßt, seinerseits mit seinem
freien Willen nach der Vollkommenheit zu streben und sich zu bemühen, den
Versuchungen zu widerstehen, um seinem Vorsatz treu zu bleiben im Kampf gegen
das Fleisch, die Welt und den Teufel, die ihn angreifen. Das geschieht, damit
sein Sohn eigene Verdienste erwirbt auf dem Weg zur Heiligkeit.»
«Ah! Also ist es sehr richtig zu
sagen, daß der Mensch geschaffen ist, um vollkommen zu sein, wie Gott es will.
Danke, Meister. Jetzt weiß ich es, nun werde ich handeln. Du aber bete für
mich.»
«Ich werde dich in meinem Herzen
bewahren. Geh und fürchte nicht, daß Gott dich ohne Hilfe lassen könnte.»
Der Jüngling verabschiedet sich
zufrieden von Jesus...
Sie sind nun in der Nähe der
Ortschaft. Bartholomäus und Stephanus kommen zu Jesus, um ihm zu erzählen, daß
während seines Gespräches mit dem Jüngling ein Mann von Beth Horon, ein
Verwandter des Pharisäers Elchias, gekommen ist, um sie zu bitten, den Meister
sofort zu seiner sterbenden Frau zu bringen.
«So laßt uns gehen. Ich werde
dann später sprechen. Wißt ihr, wo sie wohnt?»
«Der Mann hat einen Diener bei
uns zurückgelassen. Dieser folgt uns mit den anderen.»
«Geht ihn holen, und beeilen wir
uns.»
Der Diener eilt herbei. Ein
kräftiger, aber bestürzter Alter. Er grüßt und betrachtet Jesus dabei
verstohlen; dieser lächelt ihm zu und fragt: «Woran stirbt deine Herrin?»
«An... Sie sollte ein Kind
gebären. Aber es ist ihr im Schoß gestorben, und ihr Blut ist vergiftet. Sie
redet irre und liegt im Sterben. Man hat ihr die Adern geöffnet, um das Fieber
zu senken. Aber ihr Blut ist ganz vergiftet, und sie muß sterben. Man hat sie
in den Brunnen hinabgelassen, um die Glut zu löschen. Das Fieber sinkt, wenn
sie im kalten Wasser ist.
178
Danach aber steigt es höher als
zuvor. Sie hustet und hustet ... und muß sterben.»
«Das glaube ich gern, bei solchen
Kuren!» brummt Matthäus zwischen den Zähnen.
«Seit wann ist sie krank?»
Der Diener will gerade antworten,
als der Führer der römischen Manipel den Hang heruntergelaufen kommt. Er
bleibt vor Jesus stehen.
«Salve! Du bist der Nazarener?»
«Ich bin es. Was willst du von
mir?»
Die Anhänger Jesu eilen herbei in
der Annahme, es sei weiß Gott was geschehen...
«Eines Tages hatte eines unserer
Pferde einen hebräischen Knaben getreten, und du hattest ihn geheilt, um zu
verhindern, daß sich die Hebräer gegen uns auflehnten. Jetzt haben die Steine
der Juden einen unserer Soldaten verletzt, und er liegt mit einem gebrochenen
Bein da. Ich kann mich nicht aufhalten, denn ich bin im Dienst. Niemand im
Dorf will ihn aufnehmen. Gehen kann er nicht, und ich kann ihn mit dem
gebrochenen Bein nicht mitschleppen. Ich weiß, daß du uns nicht verachtest,
wie alle anderen Juden es tun...»
«Du möchtest also, daß ich den
Soldaten heile?»
«Ja. Du hast auch den Diener des
Centurio geheilt und das Kind der Valeria. Du hast Alexander geschützt vor dem
Zorn deiner Landsleute.
Diese Dinge sind überall
bekannt.»
«Gehen wir zu dem Soldaten.»
«Und meine Herrin?» fragt der
Knecht unzufrieden.
«Später.» Jesus folgt dem
Offizier, der in größter Eile voranschreitet mit seinen langen nervigen
Beinen, die nicht von lästigen Gewändern behindert werden.
Aber wenngleich er allen
vorauseilt, findet er doch Gelegenheit, ein Wort an Jesus zu richten, der
gleich hinter ihm geht: «Ich war früher einmal mit Alexander zusammen. Er...
Er sprach von dir. Der Zufall hat mich in diesem Augenblick zu dir geführt.»
«Der Zufall'? Warum sagst du
nicht Gott, der wahre Gott?»
Der Soldat schweigt einen
Augenblick. Dann sagt er leise, so daß nur Jesus ihn hören kann: «Der wahre
Gott wäre der Gott der Hebräer... Aber es ist nicht leicht, ihn zu lieben,
wenn er so ist wie die Hebräer! Nicht einmal mit einem Verwundeten haben sie
Mitleid...»
«Der wahre Gott ist der Gott der
Hebräer und der Römer, der Griechen, der Araber, der Parther, der Skythen, der
Iberer, der Gallier, der Kelten, der Libyer und der Nordländer. Es gibt nur
einen Gott! Aber viele kennen ihn nicht, und andere kennen ihn nicht richtig.
Wenn alle ihn gut
kennen würden, wären sie
untereinander wie Brüder, und es gäbe weder Gewalt noch Haß, noch Verleumdung,
Rache, Ausschweifungen,
179
Diebstähle, Morde, Ehebrüche und
Lügen. Ich kenne den wahren Gott und bin gekommen, damit man ihn kennenlernt.»
«Man sagt... Wir müssen immer die
Ohren offenhalten und den Centurionen Bericht erstatten, und diese dann dem
Prokonsul. Man sagt, du seist Gott. Ist das wahr?» fragt der Soldat sehr
unruhig, schaut Jesus aus dem Schatten seines Helmes an und scheint fast Angst
zu haben.
«Ich bin es.»
«Beim Jupiter! So ist es also
wahr, daß die Götter herabsteigen, um mit den Menschen zu sprechen? Ich habe
unter den Feldzeichen die ganze Welt durchstreift, und nun, da ich schon alt
bin, komme ich hierher und finde einen Gott!»
«Den Gott, den einzigen Gott,
nicht einen Gott», verbessert Jesus.
Aber der Soldat ist völlig außer
Fassung bei dem Gedanken, vor einem Gott herzuschreiten... Er spricht nicht
mehr... Er denkt nach. Er denkt nach, bis sie am Eingang des Dorfes den Trupp
Soldaten stehen sehen, der den auf der Erde liegenden, klagenden Verwundeten
umgibt.
«Sieh», sagt der Offizier kurz
und bündig.
Jesus schafft sich Platz und
nähert sich. Das Bein ist mehrfach gebrochen, der Fuß ist nach innen gedreht
und schon blau und geschwollen. Der Mann muß große Schmerzen haben, und als er
sieht, daß Jesus die Hand ausstreckt, fleht er: «Tue mir nicht weh!»
Jesus lächelt, berührt mit den
Fingerspitzen nur leicht die Stelle, an der ein bläulicher Kreis auf den Bruch
hinweist, und sagt dann: «Erhebe dich!»
«Aber er hat einen zweiten Bruch,
weiter oben, nahe der Hüfte», erklärt der Offizier und will damit sicher
sagen: «Berührst du nicht auch diese Stelle?»
In diesem Augenblick erscheint
ein Bürger von Beth Horon: «Meister, Meister, du verlierst Zeit mit den
Heiden, und meine Frau stirbt!»
«Geh und bringe sie zu mir.»
«Das kann ich nicht. Sie ist
nicht mehr bei Sinnen!»
«Geh und bringe sie zu mir, wenn
du Vertrauen in mich hast.»
«Meister, man kann sie nicht
bändigen. Sie ist nackt, und man kann sie nicht ankleiden. Sie ist wahnsinnig
und zerreißt sich die Kleider. Sie liegt im Sterben und kann nicht gehen.»
«Geh und bringe sie zu mir, wenn
dein Glaube nicht geringer ist als der dieser Heiden.»
Der Mann geht unzufrieden fort.
Jesus schaut auf den zu seinen
Füßen liegenden Römer: «Und du, kannst du glauben?»
«Ich ja! Was soll ich tun?»
«Erhebe dich!»
«Gib acht, Camillus ...» sagt
sogleich der Offizier. Aber der Soldat steht schon auf den Füßen, munter und
geheilt.
180
Die Israeliten rufen nicht
Hosanna; der Geheilte ist ja kein Hebräer. Vielmehr scheinen sie unzufrieden
zu sein, oder wenigstens machen sie Gesichter, die ihr Mißfallen über Jesu
Handlungsweise zeigen. Ganz anders die Soldaten. Sie ziehen ihre kurzen,
breiten Schwerter aus der Scheide und schwingen sie in der aschgrauen Luft,
nachdem sie damit auf die Schilde geschlagen haben, als wollten sie einen
festlichen Lärm erzeugen. Jesus befindet sich inmitten eines Kreises blanker
Schwerter.
Der Offizier schaut ihn an. Er
weiß nicht, was er sagen oder tun soll, er, der Mensch neben einem Gott, er,
der Heide neben Gott... Er denkt nach und findet, daß er vor Gott wenigstens
das tun muß, was er vor Caesar tun würde, und befiehlt den dem Kaiser
gebührenden militärischen Gruß. (Wenigstens glaube ich, daß es das ist, denn
ich höre ein mächtiges «Ave!», während die mit gestrecktem Arm fast horizontal
hochgehaltenen Klingen blitzen.) Noch nicht zufrieden damit sagt der Offizier
leise: «Geh ruhig deines Weges, auch zur Nachtzeit. Die Straßen sind alle
bewacht. Zum Schutz gegen Diebe. Du kannst in Sicherheit gehen. Ich ...»Dann
stockt er und weiß nicht mehr, was er sagen soll.
Jesus lächelt ihm zu und spricht:
«Danke. Geh und sei gut. Sei auch menschlich gegenüber Dieben. Sei treu in
deinem Dienst, aber nicht grausam. Es sind unglückliche Menschen, und sie
werden vor Gott für ihre Taten Rechenschaft ablegen müssen.»
«Ich werde es sein. Salve! Ich
würde dich gerne einmal wiedersehen...»
Jesus schaut ihm tief in die
Augen und sagt dann: «Wir werden uns wiedersehen. Auf einem anderen Berg.»
Abermals wiederholt er: «Seid gut. Lebt wohl.»
Die Soldaten marschieren weiter.
Jesus geht ins Dorf. Schon nach einigen Metern sehen er und seine Begleiter
eine zahlreiche schreiende Menge auf sich zukommen. Aus der Gruppe lösen sich
ein Mann und eine Frau – der Mann zuerst – und verneigen sich vor Jesus: die
Frau fällt auf die Knie, während der Mann sich nur verbeugt.
«Richtet euch auf und preist den
Herrn. Aber dir, o Mann, muß ich sagen, daß dein Gewissen nicht rein ist. Du
hast dich aus Selbstsucht an mich gewandt und nicht aus Liebe zu mir und weil
du an mich glaubst. Du hast an meinem Wort gezweifelt, obwohl du weißt, wer
ich bin. Dann hast du böse Gedanken gehegt, weil ich mich aufgehalten habe, um
einen Heiden zu heilen. Das ganze Dorf hat schlecht gehandelt, da es einen
Verwundeten abgewiesen hat. Im Übermaß meiner Barmherzigkeit und uni zu
versuchen, dein Herz zum Guten zu wandeln, habe ich deine Frau geheilt, ohne
zu dir zu kommen. Du hättest es nicht verdient, ich aber habe es getan, um dir
zu zeigen, daß ich dazu nicht zu dir kommen muß. Mein Wille genügt. Aber in
Wahrheit sage ich euch allen: die ihr verachtet, sind besser als ihr. Sie
haben einen größeren Glauben an meine Macht als ihr. Erhebe dich, Frau. Du
bist nicht schuldig, denn du konntest deinen Verstand nicht
181
gebrauchen. Geh hin und wisse von
nun an zu glauben aus Dankbarkeit gegenüber dem Herrn.»
Die Mienen der Dorfbewohner sind
bei den Vorwürfen Jesu kalt und hochmütig geworden. Die Leute folgen ihm
verdrossen bis zum Platz, wo er stehenbleibt um zu reden, da der Vorsteher ihn
nicht einlädt, die Synagoge zu betreten, und kein Haus sich dem Meister
öffnet.
«Wenn Gott mit den Menschen ist,
vermögen die Menschen alles gegen das Unglück, wie immer es auch heißen mag.
Wenn Gott jedoch nicht mit den Menschen ist, vermögen sie nichts gegen das
Unglück. Die Geschichte dieser Stadt erinnert mehr als einmal an diese
Tatsache. Gott war mit Josua, und Josua schlug die kananäischen Könige, und
auf dieser Straße half Gott ihm, die Feinde Israels zu vernichten, "indem er
vom Himmel gewaltige Hagelsteine auf sie warf, und mehr kamen von ihnen unter
den Hagelsteinen als unter der Schärfe des Schwertes um", wie es im Buch Josua
heißt. Gott war mit Judas Makkabäus, der auf diesem Hügel mit seinem kleinen
Heer erschien, um das mächtige Heer des Seron, des Befehlshabers der syrischen
Streitmacht, zu beobachten. Und Gott bekräftigte die Worte des Führers Israels
mit einem glänzenden Sieg. Aber die notwendige Bedingung, um Gott auf seiner
Seite zu haben, ist immer, daß man für eine gerechte Sache kämpft. "Nicht von
der Größe des Heeres hängt der Erfolg im Krieg ab, sondern von der Kraft, die
vom Himmel kommt, sagt der Makkabäer. In allen Angelegenheiten des Lebens
hängt das Wohl nicht ab vom Geld, von der Macht oder sonst etwas, sondern vom
Beistand, der vom Himmel kommt; und er kommt, weil er für eine gute Sache
erbeten wird. Für unser Leben und für unsere Gesetze, sagt weiterhin der
Makkabäer. Wo man sich aber an Gott wendet um eines schlechten oder unsauberen
Zieles willen, da ruft man seine Hilfe vergebens an; dann antwortet Gott
nicht, oder aber mit Züchtigungen anstatt mit Segnungen.
Diese Wahrheit hat man in Israel
jetzt allzu sehr vergessen. Man will Gottes Hilfe und ruft ihn an für üble
Zwecke. Die Tugenden werden nicht geübt und die Gebote nicht wahrhaft
gehalten, d.h., man beachtet nur das, was von den Menschen gesehen und gelobt
werden kann. Aber hinter dem Schein sind oft ganz andere Dinge verborgen.
Ich komme euch zu sagen: Seid
aufrichtig in eurem Handeln, denn Gott sieht alles, und vergeblich sind alle
Opfer, unnütz die Gebete, wenn man sie nur verrichtet, damit man gesehen wird,
während das Herz voll Sünde ist, voll Haß und bösen Begierden.
Beth Horon, tue nicht in deinen
Bewohnern, was Obadias von Edom sagt. Edom glaubte sicher zu sein und nahm
sich heraus, Jakob zu bedrücken und sich über seine Niederlage zu freuen.
Nicht so, du Priesterstadt. Nimm und betrachte das Buch Obadias. Betrachte und
ändere deine Wege. Folge der Gerechtigkeit, wenn du nicht Tage des Schreckens
erleben willst. Es wird dich dann nicht retten, daß du auf dieser Höhe
182
liegst, noch daß du scheinbar
abseits des Kriegsschauplatzes liegst. Ich sehe viele in dir, die nicht mit
Gott sind und von Gott nichts wissen wollen. Ihr murrt? Ich sage euch die
Wahrheit. Ich bin bis hierher heraufgestiegen, um es euch zu sagen. Um euch
noch zu retten.
Hattet ihr nicht einen einzigen
Namen? War nicht alles Israel? Weshalb ist es nun geteilt und hat zwei Namen?
Oh, wahrlich, das erinnert mich an die Ehe des Hoseas mit dem buhlerischen
Weib und an die Söhne, die aus ihr hervorgingen, die gebuhlt hat. Was aber
sagt der Prophet darüber: "Die Zahl der Kinder Israels wird sein wie Sand am
Meer... und anstatt ihnen zu sagen: 'Ihr seid nicht mein Volk' ' wird man zu
ihnen sagen: 'Ihr seid Kinder des lebendigen Gottes" und dann werden sich die
Söhne Judas und Israels zusammenschließen und über sich ein gemeinsames
Oberhaupt setzen und aus dem Land ziehen. Denn groß ist der Tag Jisreels."
Warum tadelt ihr den, der alles wiedervereinigen und ein einziges Volk
schaffen soll, ein großes und einziges, wie Gott ein einziger ist, der alle
Menschenkinder liebt, da alle Kinder Gottes sind; und der auch jene zu Söhnen
des lebendigen Gottes machen soll, die jetzt tot zu sein scheinen? Könnt ihr
denn meine Handlungen beurteilen, ihre und eure Herzen? Woher kommt euch das
Licht? Das Licht kommt von Gott. Aber wenn Gott mich schickt mit dem Auftrag,
alle unter einem Szepter zu vereinen, wie könnt ihr dann ein Licht haben, das
wahrhaft göttlich ist, da es euch die Dinge anders erscheinen läßt, als sie in
den Augen Gottes sind? Und doch seht ihr sie ganz anders, als Gott sie sieht.
Murrt nicht. Das ist die
Wahrheit. Ihr lebt nicht in Gerechtigkeit. Und viele unter euch gibt es, die
euch zur Ungerechtigkeit verführen, und diese werden doppelt bestraft werden.
Ihr klagt mich an, daß ich mit dem Feind, mit dem Beherrscher Unzucht treibe.
Ich lese in euren Herzen. Aber ihr, treibt ihr nicht Unzucht mit Satan, da ihr
denen folgt, die den Menschensohn bekämpfen, den Gesalbten Gottes? Seht, ihr
haßt mich. Aber ich kenne das Antlitz dessen, der euch den Haß einträufelt. So
wie es bei Hoseas heißt, bin ich gekommen mit den Händen voller Geschenke und
dem Herzen voller Liebe. Ich habe versucht, euch sanft an mich zu ziehen, um
eure Liebe zu gewinnen. Ich habe zu meinem Volk gesprochen wie ein Bräutigam
zu seiner Braut und habe ihm ewige Liebe, Friede, Barmherzigkeit und
Gerechtigkeit angeboten. Eine Stunde bleibt noch um zu verhindern, daß das
Volk, das mich verwirft, daß seine Häupter, die es aufwiegeln – ich kenne sie
– ohne König, Fürsten, Opfer und Altar gelassen wird. Aber in ihrer Höhle, wo
der Haß am stärksten ist und die Strafe am schrecklichsten sein wird, seht, da
wird gearbeitet, um die Gewissen zu erkaufen und sie auf den Weg des
Verderbens zu führen... Oh, in Wahrheit sage ich euch, daß jene, die vom
rechten Weg abbringen und die Gewissen verderben, siebenmal siebenmal strenger
bestraft werden als die von ihnen Verführten.
183
Gehen wir. Ich bin gekommen, habe
ein Wunder gewirkt und euch die Wahrheit gepredigt, um euch davon zu
überzeugen, wer ich bin. Nun gehe ich. Und wenn unter euch auch nur ein
einziger Gerechter ist, so möge er mir folgen, denn traurig ist die Zukunft
dieses Ortes, wo Schlangen der Verführung und des Verrates ihre Nester haben.»
Jesus wendet sich um und begibt
sich wieder zu der Straße, auf der er gekommen ist.
«Meister, warum hast du so zu
ihnen gesprochen? Sie werden dich nun hassen», fragen die Apostel.
«Ich suche nicht durch Lüge und
Schacher Liebe zu gewinnen.»
«Aber wäre es dann nicht besser
gewesen, überhaupt nicht hinzugehen?»
«Nein. Es ist notwendig, ihnen
keinerlei Zweifel zu lassen.»
«Und wen hast du überzeugt?»
«Niemanden. Vorerst niemanden.
Aber bald wird einer sagen: "Wir können niemanden verfluchen, denn wir wurden
gewarnt und haben nichts getan." Und wenn sie Gott vorwerfen, daß er sie
geschlagen hat, so wird ihr Vorwurf wie eine Gotteslästerung sein.»
«Aber auf wen hast du angespielt
mit den Worten ...»
«Fragt Judas von Kerioth. Er
kennt viele aus diesem Ort, und er kennt auch ihre Verschlagenheit.»
Alle Apostel schauen Judas an.
«Ja. Dieser Ort ist Elchias fast
untertan... aber... ich glaube nicht, daß Elchias ...» Die Worte ersterben auf
den Lippen des Judas, als er seine Augen von seinem Gürtel erhebt, den er sich
gerade zurecht gerückt hat, UM Haltung zu bewahren, und dem Blick Jesu
begegnet. Dieser Blick ist so flammend und durchdringend, daß er fast
hypnotisiert. Judas senkt den Kopf und schließt mit den Worten: «Gewiß ist es
ein stolzes und geiziges Dorf und verdient den, der es beherrscht. Jeder
bekommt, was er verdient. Sie haben Elchias. Wir haben Jesus. Der Meister hat
gut daran getan, sehr gut sogar, sie wissen zu lassen, daß er Bescheid weiß.»
«Schlecht sind sie bestimmt! Habt
ihr gesehen? Nicht einmal ein Gruß nach dem Wunder! Nicht einmal ein Almosen!
Nichts!» bemerkt Philippus.
«Ich habe aber immer Angst, wenn
der Meister sie so bloßstellt», seufzt Andreas.
«Ob er es tut oder nicht, es ist
dasselbe. Sie werden ihn gleichwohl hassen. Ich würde gern nach Galiläa
zurückkehren», sagt Johannes.
«Nach Galiläa, ja!» seufzt Petrus
und senkt nachdenklich das Haupt.
Jene, die Jesus nicht verlassen
haben und ihm weiterhin folgen, tauschen untereinander und mit den Jüngern
ihre Gedanken aus.
184
569. NACH GIBEON
Nur kurze Zeit kann Jesus seinen
Gedanken nachgehen. Johannes und sein Vetter Jakobus, zusammen mit Petrus und
Simon dem Zeloten, holen ihn ein und lenken seine Aufmerksamkeit auf die
Aussicht, die man von der Höhe des Hügels hat. Vielleicht um ihn zu
zerstreuen, denn er ist sichtlich sehr traurig, rufen sie Ereignisse in
Erinnerung, die sich in dieser Gegend, die vor ihnen liegt, zugetragen haben:
die Reise nach Askalon... das Haus der Bauern in der Saron-Ebene, wo Jesus dem
alten Vater des Gamala und Jakob das Augenlicht wieder gegeben hat... die
Zurückgezogenheit Jesu und Jakobus auf dem Karmel... Caesarea am Meer und das
Mädchen Aurea Galla... die Begegnung mit Syntyche... die Heiden von Joppe...
die Räuber bei Modin... das Erntewunder im Haus des Joseph von Arimathäa...
die alte Ährenleserin... Ja, alles Ereignisse, die aufheitern sollten, mit
denen sich aber auch für alle oder für ihn allein schmerzliche Erinnerungen
verknüpfen. Die Apostel selbst bemerken es und flüstern: «In allen Dingen
dieser Welt findet sich ein Schmerz. Die Erde ist ein Ort der Sühne ...»
Auch Andreas, der sich zusammen
mit Jakobus des Zebedäus der Gruppe angeschlossen hat, bemerkt richtig: «Dies
ist ein gerechtes Gesetz für uns Sünder. Aber warum so viel Schmerz für ihn?»
Es entsteht eine wohlwollende
Diskussion, und sie bleibt auch wohlwollend, als alle anderen, angezogen von
den Stimmen der ersteren, sich der Gruppe anschließen. Alle außer Judas
Iskariot, der sich wichtig macht bei den einfachen Menschen und sie belehrt,
indem er den Meister nachahmt in seiner Stimme, seinen Gesten und seinen
Worten. Aber es ist ein theatralisches, pompöses Nachäffen. Es fehlt ihm Jesu
Wärme und Überzeugungskraft, und seine Zuhörer sagen es ihm auch ohne
Umschweife. Judas regt sich auf und schilt sie begriffsstutzig, weil sie ihn
nicht verstehen. Zudem erklärt er, daß er sich nicht weiter mit ihnen abgibt,
da er die Perlen der Weisheit nicht den Schweinen vorwerfen will. Dann aber
bleibt er bei ihnen, weil die einfachen und gedemütigten Leute ihn bitten,
Geduld mit ihnen zu haben, und bekennen, daß sie «ihm gegenüber so gering sind
wie ein Tier gegenüber einem Menschen ...»
Jesus hört nicht auf das, was die
elf Apostel um ihn herum sagen, um den Worten des Judas zu lauschen. Was er
hört, erfreut ihn durchaus nicht... Er seufzt und schweigt, bis ihn
schließlich Bartholomäus direkt ins Gespräch zieht und ihm die verschiedenen
Ansichten vorlegt über den Grund, weshalb er, auf dem keine Sündenschuld
lastet, so viel leiden muß.
Bartholomäus sagt: «Ich bin der
Ansicht, daß es so ist, weil der Mensch den haßt, der gut ist. Ich spreche von
schuldbeladenen Menschen, also von der Mehrheit. Diese Menschen fühlen, daß
ihre Schuld
185
und Lasterhaftigkeit im Vergleich
mit dem Schuldlosen noch klarer und deutlicher hervortreten, und aus Ärger
darüber rächen sie sich, indem sie dem Guten Leid zufügen.»
«Ich hingegen bin der Meinung,
daß du leidest unter dem Gegensatz zwischen deiner Vollkommenheit und unserer
Schwäche. Auch wenn dich niemand kränken würde, würdest du dennoch leiden,
denn deine Vollkommenheit muß schmerzlichen Abscheu vor den Sünden der
Menschen empfinden», sagt Judas Thaddäus.
«Ich hingegen vertrete die
Ansicht, daß du, da du auch ein Mensch bist, unter der Mühe leidest, das
Aufbegehren deiner menschlichen Natur gegen deine Feinde durch deine
übermenschliche Natur zu beherrschen», sagt Matthäus.
«Ich täusche mich gewiß, da ich
ein törichter Mensch bin, aber ich glaube, daß du leidest, weil deine Liebe
zurückgewiesen wird. Du leidest nicht, weil du nicht bestrafen kannst, wie es
deine menschliche Natur wünschen könnte, sondern weil du nicht wohltun kannst,
wie du es gern tun würdest», sagt Andreas.
«Ich schließlich glaube, daß du
leidest, weil du alles Leid ertragen mußt, um uns von allem Leid zu erlösen.
Da in dir nicht die eine oder andere Natur überwiegt, sondern beide Naturen in
vollkommenem Gleichgewicht in dir sind, um das vollkommene Opfer zu bilden.
Dieses Opfer ist so übernatürlich, daß es die Beleidigung Gottes durch den
Menschen wiedergutmachen kann, und andererseits so menschlich, daß es die
ganze Menschheit vertritt und sie zur Unversehrtheit des ersten Adam
zurückführt, das Vergangene tilgt und eine neue Menschheit begründet. Eine
neue Menschheit soll jetzt geschaffen werden, nach der Absicht Gottes, d.h.
eine Menschheit, die wahrhaft ein Ebenbild und Gleichnis Gottes ist und die
der Bestimmung des Menschen entgegengeht: der Besitz, die Möglichkeit des
Strebens nach dem Besitz Gottes in seinem Reich. Du mußt auf übernatürliche
Weise leiden, und du leidest wegen allem, was du siehst und was dich umgibt,
ich würde sagen, unter der fortwährenden Beleidigung Gottes. Du mußt auf
menschliche Weise leiden und leidest auch, um die Sinnenlust unseres von Satan
vergifteten Fleisches zu ersticken. Mit dem Leiden deiner beiden vollkommenen
Naturen wirst du die Beleidigung Gottes, die Schuld des Menschen in
vollkommener Weise wiedergutmachen», sagt der Zelote.
Die anderen schweigen, und Jesus
fragt: «Und ihr sagt nichts? Welche ist eurer Meinung nach die treffendste
Erklärung?»
Der eine sagt dies, der andere
das. Nur Jakobus des Alphäus und Johannes schweigen.
«Und ihr zwei? Seid ihr mit
keiner einverstanden?» spornt Jesus sie an.
«Nein. Wir erkennen in allen
etwas Wahres oder sogar viel Wahres. Aber wir fühlen auch, daß die eigentliche
Wahrheit noch fehlt.»
186
«Und ihr könnt sie nicht finden?»
«Vielleicht haben Johannes und
ich sie gefunden. Aber es scheint uns fast eine Gotteslästerung, sie
auszusprechen, denn... Wir sind gute Israeliten und fürchten Gott so sehr, daß
wir kaum seinen Namen auszusprechen wagen. Wenn man nun bedenkt, daß ein
Mensch aus dem auserwählten Volk, ein Sohn Gottes, den gepriesenen Namen
Gottes fast nicht aussprechen kann und ihn durch andere Worte ersetzt, um
seinen Gott zu nennen, so scheint es doch ein gotteslästerlicher Gedanke zu
sein, daß Satan es wagen könnte, Gott zu schaden. Und doch fühlen wir, daß der
Schmerz dir keine Ruhe läßt, da du Gott bist und Satan dich haßt. Er haßt dich
wie keinen anderen. Du begegnest Haß, mein Bruder, weil du Gott bist», sagt
Jakobus.
«Ja. Du findest Haß, weil du die
Liebe bist. Es sind nicht die Pharisäer oder die Rabbis, es ist nicht der eine
oder der andere, der dir aus diesem oder jenem Grund Schmerz bereitet. Es ist
der Haß, der die Menschen durchdringt und sie gegen dich aufhetzt in blindem
Haß, weil du mit deiner Liebe dem Haß zu große Beute entreißt», sagt Johannes.
«Es fehlt noch etwas bei diesen
zahlreichen Erklärungen. Sucht den eigentlichen Grund, um dessentwillen
ich...» sagt Jesus ermutigend.
Aber niemand findet ihn. Sie
überlegen und überlegen. Schließlich geben sie auf und sagen: «Wir finden ihn
nicht...»
«Es ist so einfach. Ihr habt ihn
immer vor euch. Er ist zu erkennen in den Worten unserer heiligen Bücher, in
den Gestalten unserer Geschichte... Auf, sucht! In all euren Erklärungen ist
etwas Wahres, aber der wichtigste Grund fehlt. Sucht ihn nicht im Heute,
sondern in der entferntesten Vergangenheit, noch vor den Propheten, den
Patriarchen und vor der Erschaffung des Weltalls...»
Die Apostel denken nach... finden
aber keine Antwort.
Jesus lächelt. Schließlich sagt
er: «Und doch, wenn ihr euch an meine Worte erinnern würdet, müßtet ihr den
Grund finden. Aber ihr könnt noch nicht alles behalten. Eines Tages werdet ihr
es können. So hört. Gehen wir zurück durch die Jahrhunderte bis vor den Beginn
der Zeit. Wer hat den Geist des Menschen verdorben? Ihr wißt es: Satan, die
Schlange, der Widersacher, der Feind, der Haß. Nennt ihn, wie ihr wollt. Aber
weshalb hat er ihn verdorben? Aus großem Neid. Weil der Mensch für den Himmel
bestimmt war, aus dem er selbst verstoßen worden war. So wünschte er auch dem
Menschen die Verbannung, unter der er selbst litt. Weshalb verjagt? Weil er
sich gegen Gott empörte, ihr wißt es. Aber wie? Durch seinen Ungehorsam. Am
Anfang des Schmerzes steht der Ungehorsam. Ist es dann nicht notwendig und
logisch, daß, um die Ordnung, die immer Freude ist, wiederherzustellen,
vollkommener Gehorsam erforderlich ist? Gehorchen ist nicht leicht, vor allem
in schwerwiegenden Dingen. Das Schwierige schmerzt den, der es vollbringt.
Bedenkt nun, ob
187
ich, den die Liebe gefragt hat,
ob er den Gotteskindern die Freude wiederbringen will, nicht unendlich viel
leiden muß, um den Gedanken Gottes Gehorsam zu leisten. Ich muß also leiden,
um nicht nur eine oder tausend Sünden zu tilgen, zu besiegen, sondern die
Sünde an sich und im wahrsten Sinn des Wortes, die im Geist Luzifers, des
Engels, und im Geist, der Adam belebte, die Sünde des Ungehorsams gegen Gott
war und es immer sein wird, bis zum letzten Menschen.
Ihr Menschen müßt nur beschränkt
dem Wenigen gehorchen – er scheint euch viel zu sein, aber es ist nur so wenig
– was Gott von euch verlangt. In seiner Gerechtigkeit verlangt er nur das, was
ihr geben könnt. Ihr wißt von den Wünschen Gottes nur, was ihr erfüllen könnt.
Aber ich kenne alle seine Pläne in den größten und kleinsten Dingen. Mir sind
keine Grenzen im Erkennen und im Handeln gesetzt. Der voll Liebe Opfernde, der
göttliche Abraham, verschont nicht sein Opferlamm, seinen eigenen Sohn. Die
unbefriedigte, beleidigte Liebe verlangt nach Wiedergutmachung und Opfer. Und
wenn ich tausend und abertausend Jahre leben würde, es wäre alles nichts, wenn
ich nicht den Menschen bis zum Letzten überwinden würde. Ebenso wäre alles
nichts, wenn ich nicht von Ewigkeit her dem Vater mein Ja gegeben hätte und
bereit gewesen wäre zu gehorchen, sowohl als Gottessohn als auch als Mensch,
zu dem von meinem Vater bestimmten richtigen Zeitpunkt. Der Gehorsam ist
Schmerz und Herrlichkeit. Der Gehorsam, wie der Geist, stirbt nie. Wahrlich,
ich sage euch, die wahrhaft Gehorsamen werden Götter sein, aber erst nach
einem ausdauernden Kampf gegen sich selbst" die Welt und Satan. Der Gehorsam
ist Licht. Je gehorsamer man ist, um so klarer sieht man. Der Gehorsam ist
Geduld. Je gehorsamer man ist, um so leichter erträgt man Dinge und Personen.
Der Gehorsam ist Demut. Je gehorsamer man ist, um so demütiger ist man dem
Nächsten gegenüber. Der Gehorsam ist Liebe, da er ein Akt der Liebe ist. Je
gehorsamer man ist, um so zahlreicher und vollkommener sind unsere Akte der
Liebe. Gehorsam ist Heldenhaftigkeit. Der Held des Geistes ist der Heilige,
der Bürger des Himmels, der vergöttlichte Mensch. Wenn die Liebe die Tugend
ist, in der man den einen und dreieinigen Gott wiederfindet, so ist der
Gehorsam die Tugend, in der man mich findet, euren Meister. Sorgt dafür, daß
die Welt euch als meine Jünger erkenne an eurem absoluten Gehorsam allem
gegenüber, was heilig ist. Ruft Judas. Ich habe auch ihm etwas zu sagen .»
Judas eilt herbei. Jesus weist
auf den Ausblick, der sich immer mehr verengt, je weiter sie hinabsteigen, und
sagt: «Ein kleines Gleichnis für euch, die künftigen Geisteslehrer. Je weiter
ihr auf dem steilen, mühevollen Weg der Vollkommenheit hinaufsteigt, um so
mehr werdet ihr sehen. Wir haben zuerst die beiden Ebenen gesehen, die der
Philister und die von Saron mit den zahlreichen Dörfern, Feldern und
Obstgärten, und sogar das ferne Blau des großen Meeres und den grünen Karmel
im Hintergrund.
188
Jetzt sehen wir nur noch wenig.
Der Horizont hat sich verengt und wird sich immer mehr verengen, bis er im
Talgrund gänzlich verschwindet. Dasselbe geschieht dein, der geistig absteigt
anstatt emporzusteigen: immer geringer werden seine Tugend und seine Weisheit,
immer beschränkter wird seine Urteilsfähigkeit, bis er sie völlig verliert.
Dann ist ein Meister des Geistes seiner Sendung verlorengegangen. Er
unterscheidet nicht mehr und kann nicht mehr Führer sein. Er ist ein Leichnam
und kann nur verderben, so wie er selbst verdorben ist. Das Abgleiten erfolgt
vielleicht unfreiwillig, sogar fast immer, denn seine Ursache ist die
Befriedigung der Sinne. Auch wir steigen hinab ins Tal, um Ruhe und Nahrung zu
finden. Aber wenn wir dies auch für unseren Körper brauchen, so ist es deshalb
noch lange nicht notwendig, der sinnlichen Begierlichkeit und der Trägheit des
Geistes nachzugeben und in die Auen moralischer und seelischer Weichlichkeit
hinabzusteigen. Nur ein einziges 'Tal darf man betreten, das Tal der Demut,
und dies, weil Gott selbst in dieses Tal hinabsteigt, um den Geist des
Demütigen an sich zu ziehen und ihn zu sich emporzuheben. Wer sich erniedrigt,
wird erhöht werden. Jedes andere Tal ist tödlich, weil es vom Himmel
entfernt.»
«Deswegen hast du mich gerufen,
Meister?»
«Deswegen. Du hast viel mit denen
gesprochen, die dich befragt haben.»
«Ja, und es war nicht der Mühe
wert. Sie sind sturer als Maulesel.»
«Und ich wollte etwas zu denken
geben, wo alles entschwunden ist. Damit du deinen Geist nähren kannst.»
Judas schaut ihn ganz verblüfft
an. Er weiß nicht, ob es ein Lob oder ein Vorwurf ist. Die anderen, die die
Gespräche des Iskariots mit den ihnen folgenden Leuten nicht gehört haben,
begreifen nicht, daß Jesus Judas wegen seines Hochmuts tadelt.
Judas zieht es vor, das
Gesprächsthema zu wechseln und fragt: «Meister, was meinst du? Können diese
Römer oder der Mann von Petra jemals deine Lehre annehmen, da sie nur so wenig
mit dir zusammengekommen sind? Und dieser Alexander? Er ist fortgegangen...
Wir werden ihn nie mehr zu Gesicht bekommen. Man könnte glauben, daß sie
instinktiv die Wahrheit suchen, daß sie aber bis zum Hals in ihr Heidentum
versunken sind. Werden sie es jemals zu etwas Gutem bringen?»
«Meinst du damit, ob sie jemals
die Wahrheit finden werden?»
«Ja, Meister.»
«Und warum sollte es ihnen nicht
gelingen?»
«Weil sie Sünder sind.»
«Sind nur sie allein Sünder? Sind
unter uns denn keine?»
«Viele, das gebe ich zu. Aber
gerade deshalb sage ich, daß wenn wir, die wir schon seit Jahrhunderten von
der Weisheit und der Wahrheit genährt werden, Sünder sind und es uns nicht
gelingt, gerecht und Nachfolger
189
dieser Wahrheit zu werden, die du
darstellst, wie können sie es dann schaffen, die so sehr von Unreinheit
durchdrungen sind?»
«Jeder Mensch kann zur Wahrheit
gelangen, sie erkennen und besitzen, und mit ihr Gott, von wo auch immer er
aufbricht zu ihrer Erlangung. Wenn bei ihm nicht geistiger Hochmut und
fleischliche Verderbtheit vorherrschen, sondern aufrichtiges Verlangen nach
Wahrheit und Licht, Reinheit der Absicht und Sehnsucht nach Gott, dann ist ein
Geschöpf ganz sicher auf dem Weg zu Gott.»
«Hochmut des Geistes...
Verderbtheit des Fleisches... Meister... dann...»
«Vollende den Gedanken, er ist
gut.»
Judas zögert erst und sagt dann:
«Also können sie nicht zu Gott gelangen, weil sie verderbt sind.»
«Das ist es nicht, was du sagen
wolltest, Judas. Warum hast du deine Gedanken und dein Gewissen geknebelt? Oh!
Wie schwierig ist es für den Menschen, zu Gott emporzusteigen! Und das
Haupthindernis steckt in ihm selbst, da er seine Fehler nicht bekennen und
nicht über sich selbst nachdenken will. Wahrlich, auch Satan ist oft
verleumdet worden, indem man ihm alle Schuld an der geistigen Verderbnis
zugeschrieben hat. Noch mehr wird Gott selbst verleumdet, indem man ihm alle
Ereignisse zuschreibt. Gott verletzt die Freiheit des Menschen nicht. Satan
vermag nichts über einen im Guten gefestigten Willen. Wahrlich, ich sage euch:
siebzig von hundert Menschen sündigen aus eigenem freiem Willen. Und man
bedenkt dies nicht, aber es ist so: Der Mensch erhebt sich nicht aus der
Sünde, weil er der Selbstprüfung entgehen will, und auch wenn das Gewissen
sich ganz unerwartet wehrt und ihm die Wahrheit zuschreit, über die er nicht
nachdenken wollte, erstickt er diesen Aufschrei, verscheucht die strenge und
trauernde Gestalt, die sich vor seinem Geist erhebt, verdrängt mit Gewalt den
von der anschuldigenden Stimme erweckten Gedanken und will z.B. nicht zugeben:
"Dann können wir, ich, nicht zur Wahrheit gelangen, weil wir geistigen Stolz
und fleischliche Verderbnis nähren." Wahrlich, wir sind nicht auf dem Weg zu
Gott, weil geistiger Hochmut und Verderbnis des Fleisches unter uns herrschen.
Ein Hochmut, der mit dem Satans wetteifert, so sehr, daß wir die Handlungen
Gottes bemängeln und ihnen Hindernisse in den Weg legen, wenn sie den
Interessen der Menschen und Parteien zuwider sind. Und diese Sünde macht aus
vielen in Israel auf ewig Verdammte.»
«Wir sind aber nicht alle so.»
«Nein. Menschen guten Geistes
gibt es noch, und in allen Schichten. Zahlreicher sind sie jedoch bei den
Niedrigen des Volkes als bei den Gelehrten und Reichen. Aber es gibt sie. Doch
wie viele sind es? Wie viele im Verhältnis zu diesem Volk von Palästina, das
ich seit fast drei Jahren belehre und mit Wohltaten überhäufe und für das ich
mich verzehre. Es gibt
190
mehr Sterne an einem bewölkten
Nachthimmel als Seelen in Israel, die gewillt sind, in mein Reich zu kommen.»
«Und die Heiden, diese Heiden,
werden sie hineinkommen?»
«Nicht alle, aber viele. Auch
unter meinen eigenen Jüngern werden nicht alle ausharren bis ans Ende. Aber
sorgen wir uns nicht um die Früchte, die verfault vom Baum fallen. Versuchen
wir, solange wir können, ihre Fäulnis zu verhindern durch Sanftheit und
Festigkeit, durch Ermahnung und Verzeihung, durch Geduld und Liebe. Wenn sie
dann "Nein" sagen zu Gott und zu den Brüdern, die sie retten wollen, wenn sie
sich in die Arme des Todes und Satans werfen und unbußfertig sterben, dann
neigen wir das Haupt und opfern Gott unseren Schmerz auf, weil es uns nicht
gelungen ist, ihn durch die Rettung dieser Seelen zu erfreuen. Jeder Lehrer
kennt solche Niederlagen, und auch sie sind zu etwas gut. Sie können dazu
dienen, den Hochmut des Seelenführers zu ertöten und seine Beharrlichkeit im
Dienst der Seelen zu prüfen. Die Niederlage darf jedoch nicht den Willen des
geistigen Erziehers erlahmen lassen, sondern sie sollte ihn anspornen, in
Zukunft mehr und besser zu arbeiten.»
«Warum hast du dem Decurio
gesagt, daß du ihn auf einem Berg wiedersehen würdest? Wie kannst du das
wissen?»
Jesus schaut Judas mit einem
eindringlichen, eigenartigen Blick an, gleichzeitig traurig und lächelnd, und
sagt: «Er wird zugegen sein bei meiner Erhöhung und dem großen Lehrer Israels
ein strenges Wort der Wahrheit sagen. Und von diesem Zeitpunkt an wird er sich
auf dem sicheren Weg zum Licht befinden. Aber hier ist Gibeon. Petrus soll mit
sieben anderen vorausgehen und mich ankündigen. Ich werde sogleich sprechen,
damit ich die, die mir aus den benachbarten Dörfern gefolgt sind, entlassen
kann. Die übrigen werden bis nach dem Sabbat bei mir bleiben. Du, Judas,
bleibe bei Matthäus, Simon und Bartholomäus.»
(Bei der Kreuzigung habe ich
keinen Soldaten entdeckt, der diesem Decurio geglichen hätte. Ich muß aber
auch sagen, daß ich wegen der aufmerksamen Betrachtung meines Jesus nicht sehr
auf sie geachtet habe. Sie waren für mich einfach eine Gruppe diensttuender
Soldaten. Mehr nicht. Und wenn ich sie auch besser hätte beobachten können als
"alles vollbracht war", so war das Licht doch so schwach, daß ich nur sehr
bekannte Gesichter erkennen konnte. Ich glaube aber, daß es nach den Worten
Jesu jener Soldat gewesen sein muß der einige Worte zu Gamaliel sagte, deren
ich mich jetzt nicht mehr entsinne, und die ich auch nicht nachsehen kann, da
ich allein bin und mir niemand das Heft mit der Passion geben kann.)
191
570. IN GIBEON
Im Frühling, Sommer und Herbst
muß Gibeon eine angenehme und luftige Stadt sein mit einem herrlichen
Ausblick. Sie liegt auf der Anhöhe eines einzelnen lieblichen, niedrigen
Hügels in einer sehr fruchtbaren Ebene. Ihre weißen Häuser verstecken sich
fast zwischen den immergrünen Bäumen jeglicher Art, unter die sich zu dieser
Jahreszeit auch kahle Bäume mischen, die dann wohl im Frühling den Hügel in
eine Wolke leichter Blütenblätter verwandeln und später in ein Füllhorn von
Früchten. Jetzt, im Grau des Winters, zeigt er seine Hänge mit ihren Reihen
kahler Weinstöcke und silbergrauer Ölbäume, und dazwischen die dunklen Stämme
entlaubter Obstbäume. Dennoch ist diese Anhöhe schön und luftig, und das Auge
ruht sich aus beim Anblick der Hänge und der gepflügten Ebene.
Jesus begibt sich zu einer großen
Zisterne oder einem Brunnen, der mich ein wenig an den der Samariterin, an En
Rogel und mehr noch an die Wasserbehälter von Hebron erinnert.
Viele Leute sind dort. Menschen,
die noch schnell reichlich Wasser schöpfen für den nahenden Sabbat. Leute, die
ihre letzten geschäftlichen Angelegenheiten erledigen oder sich nach
vollendeter Arbeit schon der Sabbatruhe hingeben.
Mitten unter ihnen sind die acht
Apostel, die den Meister ankündigen und schon einigen Erfolg gehabt haben,
denn ich sehe, daß Kranke herbeigebracht werden, Bettler sich versammeln und
auch andere Leute aus den Häusern kommen.
Als Jesus den Platz betritt, auf
dem sich das Wasserbecken befindet, entsteht ein Flüstern, das schließlich in
den einstimmigen Ruf übergeht: «Hosanna! Hosanna! Der Sohn Davids ist unter
uns. Gesegnet sei die Weisheit, die dorthin kommt, wo sie angerufen wurde!»
«Gesegnet seid ihr, die ihr sie
aufnehmt. Friede! Friede und Segen!»Dann begibt sich Jesus sogleich zu den
Kranken, zu den durch Unglücksfälle oder Krankheiten Verkrüppelten und den nie
fehlenden Blinden oder schon beinahe Blinden, und heilt sie.
Sehr schön ist die wunderbare
Heilung eines stummen Kindes, das eine Mutter ihm weinend darreicht. Jesus
heilt es mit einem Kuß auf den Mund, und das Kind gebraucht die ihm vom Wort
verliehene Sprache dazu, die beiden schönsten Namen auszurufen: «Jesus!
Mutter!» Aus den Armen der Mutter, die es hoch über die Menge gehalten hat,
wirft sich das Knäblein in die Arme Jesu und hängt sich an seinen Hals, bis
dieser es der glücklichen Mutter wiedergibt. Die Frau erklärt Jesus, wie ihr
Erstgeborener in den Herzen der Eltern schon vor seiner Geburt zum Leviten
bestimmt war und es nun werden kann, da er ohne Gebrechen ist. «Nicht für mich
hatte ich zusammen mit meinem Mann Joachim seine
192
Heilung vom Herrn erbeten,
sondern auf daß er dem Herrn diene. Nicht damit er mich Mutter nenne und mir
sage, daß er mich liebt, habe ich für ihn die Sprache erbeten. Schon seine
Augen und seine Küsse sagten mir das. Ich habe vielmehr darum gebeten, damit
er als makelloses Lamm ganz dem Herrn dargebracht werden könne, um seinen
Namen zu preisen.»
Darauf antwortet Jesus: «Der Herr
hat das Wort deiner Seele vernommen, denn wie eine Mutter läßt er Gefühlen
Worte und Taten folgen. Gut war dein Begehren, und der Allerhöchste hat dich
erhört. Nun erziehe deinen Sohn zum vollkommenen Lob, damit er vollkommen
werde im Dienst seines Herrn.»
«Ja, Rabbi. Aber sage du mir, was
ich tun soll.»
«Sorge dafür, daß er den Herrn,
seinen Gott, mit seinem ganzen Sein liebt; dann wird in seinem Herzen von
selbst das vollkommene Lob erblühen, und vollkommen wird er sein im Dienst
seines Herrn.»
«Das hast du gut, gesagt, Rabbi.
Die Weisheit ist auf deinen Lippen. Sprich zu uns allen, ich bitte dich
darum», sagt ein würdevoller Gibeoniter, der sich einen Weg zu Jesus gebahnt
hat und ihn nun in die Synagoge einlädt. Es ist sicher der Synagogenvorsteher.
Jesus begibt sich dorthin,
gefolgt von allen anderen. Und da unmöglich alle aus der Stadt und aus dem
Gefolge Jesu darin Platz finden, geht Jesus auf den Vorschlag des Vorstehers
ein, auf der Terrasse seines Hauses neben der Synagoge zu sprechen. Ein
niedriges, breites Haus, das auf zwei Seiten vom dauerhaften Grün eines
Jasmin-Spaliers bewachsen ist.
Die mächtige, harmonische Stimme
Jesu ertönt in der ruhigen Luft des hereinbrechenden Abends über den Platz und
die drei Wege, die dort münden, während ein kleines Meer von Köpfen mit
erhobenen Gesichtern dasteht, um ihm zuzuhören.
«Die Frau aus eurer Stadt, die
die Sprache für ihr Kind erbeten hat, nicht weil sie von den Lippen ihres
Sohnes süße Worte hören wollte, sondern damit er zum Dienst Gottes befähigt
sei, erinnert mich an ein anderes früheres Wort aus dem Mund eines großen
Mannes eben dieser Stadt. Auf dieses wie auf das Wort eurer Mitbürgerin hat
Gott mit einem "Ja" geantwortet, weil er in beiden eine Bitte der
Gerechtigkeit sah; einer Gerechtigkeit, die in allen Bittgebeten vorhanden
sein sollte, damit sie Aufnahme und Gnade bei Gott finden. Was ist nötig im
Leben, um einst den ewigen Lohn zu empfangen, das wahre und ewige Leben in
einer Glückseligkeit ohne Ende? Man muß Gott lieben mit seinem ganzen Wesen
und den Nächsten wie sich selbst. Das ist das Allerwichtigste, um Gott zum
Freund zu haben und von ihm Gnaden und Segen zu erlangen. Als Salomon nach dem
Tode Davids König wurde, begab er sich in diese Stadt, wo er große Opfergaben
darbrachte, Und in derselben Nacht erschien ihm der Höchste und sprach zu ihm:
"Verlange, was ich dir geben soll!" Ein
193
Zeichen großer Güte Gottes, und
eine große Prüfung für den Menschen. Denn jede Gabe bringt eine große
Verantwortung für den Empfänger mit sich, eine um so größere Verantwortung, je
größer Gottes Gabe ist. Und sie ist auch eine Prüfung für den Bildungsgrad des
Geistes. Wenn eine von Gott begnadete Seele, anstatt sich zu vervollkommnen,
hinabsteigt Zum Materiellen, dann hat sie die Prüfung nicht bestanden und
beweist dadurch ihre fehlende oder mangelhafte Bildung. Zwei Dinge sind es,
die den geistigen Wert des Menschen anzeigen: die Art, wie er sich in der
Freude, und die Art, wie er sich im Schmerz verhält. Nur der in der
Gerechtigkeit Fortgeschrittene wird demütig bleiben bei Ehrungen, treu in der
Freude, dankbar und beständig, auch nachdem er sein Begehren erfüllt sieht und
ihm nichts mehr zu wünschen übrigbleibt. Aber er versteht es auch, geduldig
und beharrlich in der Liebe zu seinem Gott zu bleiben, wenn das Leid ihn
erbarmungslos trifft, wenn er wirklich heilig ist.»
«Meister, darf ich dich etwas
fragen?» sagt einer von Gibeon.
«Sprich.»
«Alles ist wahr, was du sagst.
Und wenn ich es richtig verstanden habe, willst du sagen, daß Salomon seine
Prüfung gut bestanden hat. Aber später hat er doch gesündigt. Nun sage mir:
Warum hat Gott ihm solche Wohltaten erwiesen, da er doch später sündigen
sollte. Sicher kannte der Herr die künftige Sünde des Königs. Warum hat er
dennoch zu ihm gesagt: "Verlange, was du willst." War das gut oder schlecht?»
«Es war auf jeden Fall gut, denn
Gott tut nichts Schlechtes.»
«Aber du hast doch gesagt, daß
jedes Geschenk eine Verantwortung mit sich bringt. Nun aber hatte Salomon um
Weisheit gebeten und sie auch erlangt...»
«Er hatte die Verantwortung,
weise zu sein, und er war es nicht, willst du sagen. Das ist wahr. Und ich
sage dir, daß dieses Fehlen gegen die Weisheit bestraft wurde, und zurecht.
Aber die Tatsache, daß Gott ihm die Weisheit gewährte, war gut, und gut war es
auch, daß Salomon um Weisheit bat und nicht um andere Dinge. Da Gott Vater und
zugleich auch Gerechtigkeit ist, hat er ihm im Augenblick seiner Verwirrung
einen großen Teil seiner Fehler verziehen, da er bedachte, daß der Sünder
früher einmal die Weisheit mehr geliebt hat als alles andere in der Welt. Das
eine hat das andere abgeschwächt. Das Gute, das vor der Sünde vollbracht
wurde, bleibt und fällt ins Gewicht bei der Verzeihung, wenn der Sünder seine
Sünden bereut. Daher sage ich euch: Laßt die Gelegenheit, Gutes zu tun, nicht
vorübergehen, damit es wie Münzen gegen eure Sünden aufgerechnet werden kann,
wenn ihr euch mit der Gnade Gottes reumütig bekehrt.
Auch wenn die guten Taten der
Vergangenheit anzugehören scheinen und man daher irrtümlich annehmen könnte,
daß sie nicht mehr in uns wirken und keine neuen Anreize und Kräfte zum Guten
erwecken, sind sie dennoch immer aktiv, und sei es nur durch die Erinnerung,
die in der
194
gefallenen Seele aufsteigt und
eine schmerzliche Sehnsucht nach der Zeit, als man noch gut war, weckt. Und
das Bedauern ist oft der erste Schritt auf dem Weg der Rückkehr zur
Gerechtigkeit. Ich habe gesagt, daß auch ein Becher Wasser, den man mit Liebe
dem Dürstenden reicht, nicht unbelohnt bleibt. Ein Schluck Wasser ist nichts,
wenn man nur den materiellen Wert betrachtet, aber etwas Großes macht aus ihm
die Liebe, so daß er nicht ohne Belohnung bleibt. Bisweilen besteht der Lohn
in der Rückkehr zum Guten durch die Erinnerung an diese Tat, an die Worte des
durstenden Bruders und an die Gefühle des Herzens von damals, des Herzens, das
im Namen Gottes und aus Liebe Wasser reichte. Und dann, als Folge einer Reihe
von Erinnerungen, kehrt Gott zurück und leuchtet am Horizont eines armen
Herzens, das ihn verloren hatte, wie die Sonne nach der finsteren Nacht erneut
aufsteigt. Und der Mensch, bezaubert von seiner unaussprechlichen Gegenwart,
demütigt sich und ruft: "Vater, ich habe gesündigt! Verzeihe mir! Ich liebe
dich wieder."
Die Liebe zu Gott ist Weisheit.
Sie ist die Weisheit aller Weisheiten, denn wer liebt, kennt alles und besitzt
alles. Da der Abend herniedersinkt und der Abendwind die Menschen in ihren
Kleidern frösteln und die Fackeln, die ihr angezündet habt, flackern läßt,
will ich nicht länger bleiben, um euch zu sagen, was ihr schon kennt: die
Stellen im Buche der Weisheit, wo geschrieben steht, wie Salomon die Weisheit
erwarb und welches Gebet er sprach, um sie zu erlangen. Aber zur Erinnerung an
mich und damit ihr einen sicheren Weg und ein Licht, das euch führt, habt,
fordere ich euch auf, mit eurem Synagogenvorsteher diese Seiten zu betrachten.
Das Buch der Weisheit sollte ein Gesetzbuch des geistigen Lebens sein. Wie
eine mütterliche Hand sollte es euch leiten und einführen in die vollkommene
Erkenntnis der Tugenden und meiner Lehre. Denn die Weisheit bereitet mir die
Wege und macht aus den kurzlebigen Menschen, die unfähig sind, Recht und
Gesetz Gottes zu verstehen, Knechte und Söhne der Mägde Gottes, Götter des
göttlichen Paradieses.
Sucht vor allem die Weisheit, um
den Herrn zu ehren und um ihn am Tag der Ewigkeit sagen zu hören: "Weil du vor
allem nach ihr gesucht hast und nicht nach Reichtümern, Gütern, Ehre, langem
Leben und Sieg über deine Feinde, sei dir die Weisheit zugestanden.", d.h.
Gott selbst. Denn der Geist der Weisheit ist der Geist Gottes. Sucht vor allem
die heilige Weisheit, und ich sage euch, alles andere wird euch hinzugegeben
werden, und so, wie kein Großer der Welt es erlangen kann. Liebt Gott! Bemüht
euch nur darum, ihn zu lieben. Liebt euren Nächsten, um Gott zu ehren. Weiht
euch dem Dienst Gottes, seinem Triumph in den Herzen. Bekehrt alle zum Herrn,
die noch nicht Freunde Gottes sind. Seid heilig. Häuft heilige Werke an zu
eurer Verteidigung gegen die möglichen Schwächen des Geschöpfes. Seid dem
Herrn treu. Kritisiert weder die Lebenden noch die Toten. Bemüht euch
vielmehr, die Guten nachzuahmen. Und nicht zu
195
eurer irdischen Freude, sondern
zur Freude Gottes bittet den Herrn um Gnaden, und sie werden euch gegeben
werden.
Laßt uns gehen. Morgen werden wir
zusammen beten, und Gott wird mit uns sein.»
Dann segnet sie Jesus und entläßt
sie.
571. ZURÜCK NACH JERUSALEM
Ein kalter, feuchter Wind weht
über die Bäume des Hügels und treibt am Himmel graue Wolkenmassen vor sich
her. Ganz in ihre schweren Mäntel gehüllt, steigen Jesus und die Zwölf mit
Stephanus von Gibeon zu dem Weg hinab, der in die Ebene führt. Sie sprechen
miteinander, während Jesus, wie so oft, schweigt und weit weg ist von allem,
was ihn umgibt. Er schweigt, bis sie auf halber Höhe oder vielmehr schon fast
am Fuß des Hügels an eine Wegkreuzung gelangen; dann sagt er: «Nehmen wir
diesen Weg und gehen wir nach Nob.»
«Wie? Kehrst du nicht nach
Jerusalem zurück?» fragt Iskariot.
«Nob und Jerusalem ist fast das
Gleiche für den, der das viele Wandern gewohnt ist. Aber ich ziehe es vor, in
Nob zu bleiben. Mißfällt dir das?»
«Oh, Meister! Hier oder dort, für
mich ist es dasselbe... Es mißfällt mir vielmehr, daß du in einem Ort, der dir
so zugetan ist, so wenig Bedeutendes getan hast. In Beth Horon hast du viel
länger gesprochen, obwohl es dir gewiß nicht gerade freundlich gesinnt war.
Mir scheint, du solltest das Gegenteil tun. Du solltest versuchen, immer mehr
die Städte an dich zu ziehen, die du dir gewogen weißt, und daraus...
Stützpunkte machen gegen die Städte, die von deinen Feinden beherrscht werden.
Weißt du, wie wichtig es ist, die Städte in der Nähe Jerusalems auf deiner
Seite zu haben? Schließlich ist ja Jerusalem nicht alles. Auch die anderen
Orte können eine Bedeutung haben und einen entscheidenden Einfluß auf
Jerusalem ausüben. Für gewöhnlich werden die Könige in den treuesten Städten
ausgerufen, und die anderen fügen sich dann den Tatsachen."
«Wenn sie nicht rebellieren, denn
dann gibt es einen Bürgerkrieg. Aber ich glaube nicht, daß der Messias sein
Reich mit einem Bürgerkrieg beginnen will», sagt Philippus.
«Ich möchte nur eins: daß mein
Reich in euch mit einer klaren, richtigen Auffassung beginne. Wann werdet ihr
mich endlich verstehen?»
Da Judas Iskariot merkt, daß
wahrscheinlich ein Tadel im Anzug ist, fragt er weiter: «Warum hast du also
hier in Gibeon nur so kurz gesprochen ?»
«Ich habe es vorgezogen,
zuzuhören und auszuruhen. Versteht ihr nicht, daß auch ich der Ruhe bedarf?»
196
«Wir hätten dort einige Zeit
bleiben und sie glücklich machen können. wenn du so müde bist, warum hast du
dich dann wieder auf den Weg gemacht?» fragt Bartholomäus ganz betrübt.
«Meine Glieder sind nicht müde.
Ich brauche keinen Aufenthalt, um ihnen Ruhe zu gönnen. Mein Herz ist es, das
müde ist und Ruhe braucht; und Ruhe finde ich, wo ich Liebe finde. Glaubt ihr
vielleicht, ich sei unempfindlich gegenüber so viel Haß, und die Abweisung
würde mich nicht schmerzen? Glaubt ihr, daß die Verschwörungen gegen mich mir
nicht eine Last sind? Daß ich den Verrat derer, die sich als Freunde ausgeben
und in Wirklichkeit Späher meiner Feinde sind, die man mir geschickt hat ...»
«Da sei Gott vor, Herr! Du darfst
nicht einmal einen solchen Verdacht haben. Wenn du so sprichst, beleidigst du
uns», protestiert Iskariot und übertrifft mit seiner tief bekümmerten
Entrüstung alle anderen, obgleich alle protestieren und sagen: «Meister, du
betrübst uns mit diesen Worten. Du zweifelst an uns!» Jakobus des Zebedäus
ruft impulsiv aus: «Ich verabschiede mich von dir, Meister, und kehre mit
gebrochenem Herzen nach Kapharnaum zurück. Aber ich gehe fort, und wenn
Kapharnaum nicht weit genug ist, fahre ich mit den Fischern von Tyrus und
Sidon nach Citium. So weit fort, daß du unmöglich mehr denken kannst, daß ich
dich verrate. Gib mir deinen Segen für die Reise!»
Jesus umarmt ihn mit den Worten:
«Friede, mein Apostel. Es gibt so viele, die sich meine Freunde nennen, nicht
nur ihr allein. Dich und euch alle schmerzen meine Worte, aber welchen Herzen
soll ich meine Traurigkeit mitteilen und wo soll ich Trost suchen, wenn nicht
bei meinen Aposteln und treuen Jüngern? Ich suche bei euch etwas von der
Vereinigung mit meinem Vater im Himmel, den ich verlassen habe, um die
Menschen zu vereinigen; und einen Tropfen der Liebe meiner Mutter, die ich aus
Liebe zu den Menschen verlassen habe. Ich suche sie zu meiner Stärkung. Oh!
Die bittere Welle, die unmenschliche Last überfluten und bedrücken mein Herz,
das Herz des Menschensohnes! ... Meine Passion, meine Stunde rückt immer
näher... Helft mir, sie zu ertragen, sie zu erfüllen... denn sie ist so
schmerzlich.»
Die Apostel schauen sich an,
zutiefst gerührt von dem tiefen Schmerz, der aus den Worten des Meisters
spricht, und sie wissen nichts anderes zu tun, als sich an ihn zu hängen, ihn
zu liebkosen und zu küssen... Judas und Johannes küssen ihn gleichzeitig auf
die rechte und die linke Wange, und Jesus senkt die Lider, um seine Augen zu
verbergen, während Judas Iskariot und Johannes ihn küssen...
Sie gehen wieder weiter, und
Jesus kann seinen unterbrochenen Gedankengang vollenden: «In dieser großen
Betrübnis sucht mein Herz nach Orten, wo es Liebe und Ruhe findet. Wo es nicht
zu harten Steinen, listigen Schlangen oder flatternden Schmetterlingen
spricht, sondern die Worte
197
anderer Herzen hören und in ihrer
Aufrichtigkeit, Liebe und Gerechtigkeit Trost finden kann. Gibeon ist einer
dieser Orte. Ich war bisher noch nie dort. Aber ich habe ein von guten
Arbeitern Gottes gepflügtes und besätes Feld vorgefunden. Der
Synagogenvorsteher! Er ist zum Licht gekommen, aber sein Geist war schon
erleuchtet. Wieviel Gutes vermag ein guter Diener Gottes zu wirken! Auch
Gibeon ist sicherlich den Machenschaften derer ausgesetzt, die mich hassen.
Böse Andeutungen und Verderbnis werden auch dort einzudringen suchen. Aber im
Ort ist ein Synagogenvorsteher, der ein Gerechter ist, und das Gift des Bösen
verliert dort seine Wirkung. Glaubt ihr, es sei mir angenehm, immer
verbessern, verbieten und sogar tadeln zu müssen? Viel lieber ist es mir, wenn
ich sagen kann: "Du hast die Weisheit verstanden. Fahre fort auf deinem Weg
und sei heilig", wie ich es dem Vorsteher von Gibeon gesagt habe.»
«Werden wir also dorthin
zurückkehren?»
«Wenn der Vater mich einen Ort
des Friedens finden läßt, freue ich mich und preise meinen Vater. Aber ich bin
nicht dazu gekommen. Ich bin gekommen, um die schuldbeladenen Orte zu
bekehren, die fern vom Herrn sind. Ihr seht, ich könnte in Bethanien sein,
aber ich bin es nicht.»
«Auch um Lazarus nicht zu
schaden?»
«Nein, Judas des Simon. Selbst
die Steine wissen, daß Lazarus mein Freund ist. Es wäre also unnütz, wenn ich
aus diesem Grund mein Verlangen nach Tröstung unterdrücken würde. Es ist
vielmehr wegen...»
«Wegen der Schwestern des
Lazarus, besonders wegen Maria.»
«Auch das nicht, Judas des Simon.
Selbst die Steine wissen, daß die Wollust des Fleisches mich nicht anficht.
Bedenke, daß unter den zahlreichen Anklagen, die man gegen mich vorgebracht
hat, die erste, die zusammen gebrochen ist, gerade diese war. Denn auch meine
verbissensten Gegner haben begriffen, daß die Aufrechterhaltung dieser Anklage
ihre Lügenhaftigkeit entlarvt hätte. Keiner unter den ehrenhaften Menschen
hätte geglaubt, daß ich ein sinnlicher Mensch bin. Die Sinnlichkeit kann nur
jene anziehen, die sich nicht vom Übernatürlichen nähren und vor dem Opfer
zurückschrecken. Aber wie sollte eine Stunde des Genusses Anziehungskraft für
den besitzen, der sich dem Opfer geweiht hat und selbst ein Opfer ist? Die
Freude der Opferseelen liegt ausschließlich im Geist, und wenn sie auch ein
Fleisch umkleidet, so bleibt dieses eben nur eine Bekleidung. Meinst du, daß
die Gewänder, die wir tragen, Gefühle haben? Ebenso ist das Fleisch für die,
die im Geist leben, ein Kleid und nichts weiter. Der geistige Mensch ist der
wahre Übermensch, da er nicht Sklave der Sinne ist, während der rein auf die
Materie ausgerichtete Mensch ein UnWert ist, was die wahre Würde des Menschen
betrifft, da er mit dem unvernünftigen Tier gar zu viele Gelüste gemeinsam
hat. Er steht sogar noch
unter ihm und übertrifft es
insofern, als er aus dem tierischen Instinkt ein erniedrigendes Laster macht.»
198
Judas beißt sich verwirrt auf die
Lippen und sagt schließlich: «Ja, und außerdem könntest du Lazarus nicht mehr
schaden. Bald wird ihn der Tod von jeglicher Gefahr eines Racheaktes
befreien... Warum also gehst du nicht häufiger nach Bethanien?»
«Weil ich nicht gekommen bin, um
das Leben zu genießen, sondern um zu bekehren. Ich habe es dir schon gesagt.»
«Aber... du freust dich doch,
wenn du deine Brüder bei dir hast.»
«Ja. Aber es ist auch wahr, daß
ich nicht parteiisch bin, was sie betrifft. Wenn es heißt sich aufzuteilen, um
in den Häusern Platz zu finden, bleiben sie gewöhnlich nicht bei mir, sondern
ihr. Und dies, um euch zu zeigen, daß in den Augen und in den Gedanken dessen,
der sich der Erlösung widmet, Fleisch und Blut nicht zählen, sondern nur die
Bildung der Seelen und ihre Erlösung. Jetzt gehen wir nach Nob, und auch dort
werden wir uns für die Nacht trennen und ich werde wieder dich bei mir
behalten, und Matthäus, Philippus und Bartholomäus.»
«Sind wir vielleicht die am
wenigsten Fortgeschrittenen? Besonders ich, da du mich immer bei dir haben
willst?»
«Ja, so ist es, Judas des Simon.»
«Danke, Meister. Ich habe es mir
gedacht», sagt Iskariot mit schlecht verborgenem Zorn.
«Wenn du es dir gedacht hast,
warum gibst du dir dann keine Mühe, dich zu bessern? Glaubst du etwa, ich
würde lügen, um dir eine Demütigung zu ersparen? Übrigens sind wir unter
Brüdern, und die Fehlerhaftigkeit von einem unter euch sollte weder der
Gegenstand des Spottes noch der Niedergeschlagenheit sein, wenn jemand vor den
anderen, die die Schwächen jedes einzelnen Bruders schon kennen,
zurechtgewiesen wird. Niemand ist vollkommen, ich sage es euch. Aber die
allseitigen Unvollkommenheiten, so peinlich sie auch anzusehen und zu ertragen
sind, müssen ein Grund zur Besserung sein, damit sie nicht das gegenseitige
Mißbehagen vermehren. Und glaube mir, Judas, auch wenn ich dich erkenne als
das, was du bist: niemand, nicht einmal deine Mutter, liebt dich, wie ich dich
liebe, und bemüht sich so sehr, dich gut zu machen, wie dein Jesus.»
«Und doch tadelst und demütigst
du mich, selbst in Gegenwart eines Jüngers.»
«Ist es das erste Mal, daß ich
dich zur Gerechtigkeit aufrufe?» Judas schweigt. «Antworte mir!» sagt Jesus
gebieterisch.
«Nein.»
«Und wie oft habe ich es
öffentlich getan? Kannst du behaupten, daß ich dich beschämt habe? Oder mußt
du nicht zugeben, daß ich dich in Schutz genommen und verteidigt habe?
Sprich!»
«Du hast mich verteidigt, das ist
wahr. Aber jetzt ...»
«Aber jetzt ist es zu deinem
Besten. Wer einen schuldbeladenen Sohn liebkost, wird später seine Wunden
verbinden müssen, sagt das
199
Sprichwort; und ein anderes sagt,
daß ein ungezähmtes Pferd unbrauchbar ist und der sich selbst überlassene Sohn
auf Abwege gerät.»
«Aber bin ich denn dein Sohn?»
fragt Judas, während sein Gesicht sich entspannt und die Bosheit sich in
Zerknirschung wandelt.
«Wenn ich dich gezeugt hätte,
könntest du es nicht mehr sein. Und ich würde mir das Herz herausreißen
lassen, um es dir zu geben und dich nach meinen Wünschen formen zu können...»
Judas hat nun wieder einen seiner
Momente der Umkehr... Er wirft sich aufrichtig, wahrhaft aufrichtig in die
Arme Jesu und ruft: «Oh, ich bin deiner nicht wert! Ich bin ein Dämon und bin
deiner nicht würdig! Du bist zu gut! Rette mich, Jesus!» Er weint, weint
wirklich in der Erregung eines von bösen Dingen aufgewühlten Herzens und auch
aus Reue darüber, den betrübt zu haben, der ihn liebt.
572. ICH BIN DER GUTE HIRTE
Jesus, der die Stadt durch das
Herodestor betreten hat, durchquert sie nun in Richtung des Tyropoeon und des
Vorortes Ophel.
«Gehen wir zum Tempel?» fragt
Iskariot.
«Ja.»
«Gib acht auf das, was du tust!»
mahnen mehrere.
«Ich werde mich nur zum Gebet
dort aufhalten.»
«Sie werden dich festnehmen.»
«Nein. Wir werden den Tempel
durch die nördlichen Tore betreten und ihn durch die südlichen verlassen, und
sie werden keine Zeit haben, sich zu organisieren, um mir zu schaden. Es sei
denn, einer wäre beständig hinter mir her und würde mich anzeigen.»
Niemand erwidert etwas, und Jesus
geht dem Tempel zu, der nun schon erscheint auf seinem Hügel, fast
gespenstisch im grünlichgelben Licht des düsteren Wintermorgens, an dem die
blasse aufgehende Sonne sich bemüht, die schweren Wolkenmassen zu durchdringen
und ihren Platz zu behaupten. Vergebliche Mühe! Der heitere Glanz der
Morgenröte beschränkt sich auf einen blassen Widerschein von unwirklichem
Gelb, der auch nicht gleichmäßig, sondern mit grauen und grünlichen Tönen
vermischt ist. In diesem Licht erscheinen Marmor und Gold des Tempels farblos
und traurig, ich möchte fast sagen unheimlich, wie Ruinen über den Trümmern
einer toten Stadt.
Jesus betrachtet ihn aufmerksam
beim Aufstieg zur Umfassungsmauer. Er betrachtet auch die Gesichter der
morgendlichen Wanderer. Zum größten Teil niedriges Volk: Gärtner, Hirten mit
Schlachtvieh, Knechte oder Hausfrauen, die sich zum Markt begeben. Alle gehen
sie schweigsam
200
ihres Weges, in Mäntel gehüllt
und etwas gebeugt, um sich gegen den Morgenwind zu schützen. Auch die
Gesichter scheinen blasser zu sein, als sie es gewöhnlich bei den Menschen
dieser Rasse sind. Es ist das eigenartige Licht, das sie so grünlich oder
beinahe perlgrau erscheinen läßt, und die farbigen Mäntel mit ihrem Grün,
ihrem leuchtenden Violett und ihrem grellen Gelb tragen sicher nicht dazu bei,
den Gesichtern eine gesunde Hautfarbe zu verleihen. Der eine oder andere grüßt
den Meister, bleibt jedoch nicht stehen. Die Stunde ist nicht günstig. Bettler
sind noch keine da, die ihre jammernden Rufe an den Straßenkreuzungen und
unter den großen Bögen, die sich hier und da über die Straßen wölben, ertönen
lassen. Die Stunde und die Jahreszeit tragen das Ihrige dazu bei, daß Jesus
ohne Hindernisse vorwärtskommt.
Als sie bei der Umfassungsmauer
des Tempels ankommen, gehen sie in den Vorhof der Israeliten. Sie beten,
während Trompetenstöße – ich würde sagen, silberne Trompeten der Klangfarbe
nach – über den ganzen Hügel erschallen und ein sicher wichtiges Ereignis
ankündigen, und Weihrauchduft jeden anderen weniger angenehmen Geruch
vertreibt, der sich hier auf dem Moriah bemerkbar machen könnte: also der
ständige, fast schon natürliche Geruch der geschlachteten Tiere und ihres vom
Feuer verzehrten Fleisches, des verbrannten Mehls und des brennenden Öls, der
dort oben wegen der immerwährenden Brandopfer dauernd mehr oder weniger stark
die Luft erfüllt.
Sie entfernen sich in eine andere
Richtung, und allmählich werden die ersten Besucher des Tempels, einige, die
zum Tempel gehören, und die Wechsler und Händler, die ihre Bänke und
Einfriedungen aufstellen, auf sie aufmerksam. Aber es sind noch zu wenige, und
die Überraschung ist so groß, daß sie nicht wissen, was sie tun sollen. Sie
wechseln einige erstaunte Worte: «Er ist wieder zurückgekehrt!»
«Er ist also nicht nach Galiläa
gegangen, wie es geheißen hat.»
«Aber wo war er denn versteckt,
daß man ihn nirgends gefunden hat?»
«Er will sie offensichtlich
herausfordern.»
«Wie töricht!»
«Wie heilig!» usw., je nach der
Gesinnung der einzelnen.
Jesus ist schon außerhalb des
Tempels und steigt den Weg nach Ophel hinunter, als er an der Kreuzung mit
Wegen, die zum Sion hinaufführen, dem Blindgeborenen begegnet, den er vor
kurzem geheilt hat. Er ist mit Körben voll duftender Äpfel beladen, geht
frohen Mutes dahin und scherzt mit gleichaltrigen Jünglingen, die ebenfalls
schwer beladen sind und in die entgegensetzte Richtung gehen.
Vielleicht würde der Jüngling
nichtsahnend vorübergehen, da er ja weder das Antlitz Jesu noch das der
Apostel kennt. Doch Jesus entgeht das Gesicht des wunderbar Geheilten nicht,
und er ruft ihn. Sidonias, genannt Bartholmai, dreht sich um und schaut den
trotz seiner einfachen
201
Kleidung majestätischen Mann, der
ihn beim Namen ruft und dabei auf ein kleines Gäßchen zugeht, fragend an.
«Komm hierher!» gebietet Jesus.
Der Jüngling nähert sich, ohne
seine Bürde abzustellen. Er blickt Jesus an, und in der Meinung, dieser wolle
seine Äpfel erwerben, sagt er: «Mein Herr hat diese schon verkauft, aber er
hat noch andere, wenn du welche willst. Sie sind schön und gut. Gestern sind
sie uns von den Obstgärten der Saronebene gebracht worden. Und wenn du viele
kaufst, bekommst du einen großen Preisnachlaß, denn...»
Jesus lächelt, erhebt seine
Rechte, um der Gesprächigkeit des Jünglings Einhalt zu gebieten, und sagt:
«Ich habe dich nicht gerufen, um Apfel zu kaufen, sondern um mich mit dir zu
freuen und den Höchsten zu preisen, der dir Gnade erwiesen hat.»
«Ja! Ich tue es immerzu, sowohl
für das Licht, das ich sehe, als auch für die Arbeit, die ich verrichten kann
und durch die ich meinem Vater und meiner Mutter endlich helfen kann. Ich habe
einen guten Herrn gefunden. Er ist kein Jude, aber er ist gut. Die Hebräer
wollten mich nicht haben, weil... sie wissen, daß ich aus der Synagoge
ausgestoßen worden bin», sagt der Jüngling, während er seine Körbe auf den
Boden stellt.
«Sie haben dich ausgestoßen?
Warum? Was hast du denn getan?»
«Nichts. Ich versichere es dir.
Gott hat es getan. Er hat mich am Sabbat diesen Menschen finden lassen, von
dem man sagt, daß er der Messias sei; und er hat mich geheilt, wie du siehst,
und deshalb haben sie mich ausgestoßen.»
«Dann hat dir also der, der dich
geheilt hat, nicht ausschließlich einen guten Dienst erwiesen», sagt Jesus
prüfend.
«Sage das nicht! Es gleicht einer
Gotteslästerung! Er hat mir vor allem gezeigt, daß Gott mich liebt, und
außerdem hat er mir das Augenlicht geschenkt... Du weißt nicht, was das
bedeutet, weil du immer gesehen hast. Aber einer, der noch nie gesehen hat!
Oh! Es ist... alles hat man, wenn man das Augenlicht besitzt. Ich sage dir,
als ich zum ersten Mal gesehen habe, dort beim Siloe-Teich, da habe ich
gelacht und geweint, aber aus Freude. Verstehst du? Ich habe geweint, wie ich
nie zuvor in meinem Unglück geweint habe, denn ich habe verstanden, wie
wundervoll das Augenlicht und wie gut der Allerhöchste ist. Nun kann ich mir
den Lebensunterhalt verdienen durch ehrenwerte Arbeit. Und außerdem – das ist
mein größter Wunsch nach dem Wunder – hoffe ich, dem Menschen zu begegnen, der
der Messias genannt wird, und dem Jünger, der mich...»
«Und was würdest du dann tun?»
«Ich würde ihn lobpreisen, ihn
und seinen Jünger. Und ich würde den Meister, der wirklich von Gott kommen
muß, bitten, mich als seinen Diener anzunehmen.»
«Wie? Seinetwegen bist du
verflucht worden, nur mit Mühe findest du
202
Arbeit, du könntest auch noch
schwerer bestraft werden, und dennoch willst du ihm dienen? Weißt du nicht,
daß alle verfolgt werden, die dem nachfolgen, der dich geheilt hat?»
«O ja, ich weiß es. Aber er ist
der Sohn Gottes, so sagen wir unter uns. Obgleich die dort oben (er weist auf
den Tempel) nicht wollen, daß man es sagt. Verdient er es nicht, daß man alles
verläßt, um ihm zu dienen?»
«Glaubst du also an den Sohn
Gottes und an seine Gegenwart in Palästina ?»
«Ich glaube an ihn. Aber ich
möchte ihn kennenlernen, um nicht nur in Gedanken an ihn zu glauben, sondern
mit meinem ganzen Wesen. Wenn du ihn kennst und weißt, wo er ist, sage es mir,
damit ich zu ihm gehen, ihn sehen, an ihn glauben, vollkommen glauben, und ihm
dienen kann.»
«Du hast ihn schon gesehen und
brauchst nicht zu ihm zu gehen. Der, den du vor dir siehst und der zu dir
spricht, ist der Sohn Gottes.»
Ich könnte es nicht mit
Sicherheit sagen, aber mir scheint, als sei Jesus bei diesen Worten für einen
Augenblick fast verklärt gewesen und überaus schön, ja strahlend geworden. Ich
würde sagen, um seinen demütigen Glauben zu belohnen und ihn in seinem Glauben
zu bestärken, hat er dem Jüngling für die Dauer eines Blitzes die künftige
Schönheit enthüllt, die er nach der Auferstehung besitzen und im Himmel
bewahren wird, die Schönheit seiner verherrlichten menschlichen Natur, des
verklärten Leibes, verbunden mit der unaussprechlichen Schönheit der ihm
eigenen Vollkommenheit. Es war ein Augenblick, ein Blitz. Aber der halbdunkle
Winkel unter dem Gewölbe des Gäßchens, in den sie sich zurückgezogen haben, um
miteinander zu reden, wurde erhellt von einem eigenartigen, wunderschönen
Licht, das von Jesus ausstrahlte.
Dann ist alles wieder wie zuvor.
Nur der Jüngling liegt nun am Boden, das Gesicht im Staub und betet Jesus an
mit den Worten: «Mein Herr und mein Gott, ich glaube!»
«Erhebe dich. Ich bin in die Welt
gekommen, um das Licht und die Erkenntnis Gottes zu bringen, um die Menschen
zu prüfen und sie zu richten. Diese meine Zeit ist eine Zeit der Auslese, der
Wahl und der Auswahl. Ich bin gekommen, damit alle, die reinen Herzens sind,
die Aufrichtigen, die Demütigen und die Sanftmütigen, die Gerechtigkeit,
Barmherzigkeit und Frieden lieben, damit alle, die weinen, und alle, die den
verschiedenen Schätzen ihren wahren Wert beizumessen verstehen und die
geistigen allen materiellen Reichtümern vorziehen, finden wonach ihr Geist
sich sehnt; damit alle sehen, die blind waren, weil die Menschen dicke Mauern
vor ihren Augen errichtet haben, um das Licht, d.h. die Erkenntnis Gottes,
nicht zu ihnen dringen zu lassen; damit alle, die zu sehen glauben, blind
werden ...»
«Dann haßest du einen Großteil
der Menschen und bist nicht so gut, wie du behauptest. Wenn du es wärest,
würdest du dich darum bemühen, daß
203
alle sehen und wer sehend ist,
nicht blind werde», unterbrechen. ihn einige Pharisäer, die von der
Hauptstraße gekommen sind und sich mit anderen vorsichtig von hinten der
Gruppe der Apostel genähert haben.
Jesus wendet sich um und schaut
sie an. Jetzt ist er ganz gewiß nicht mehr verklärt in sanfter Schönheit,
sondern ein gar strenger Jesus, der seine Saphirblicke auf seine Verfolger
richtet. Seine Stimme hat nicht mehr den goldenen Ton der Freude, sondern hart
und schneidend wie Bronze klingt seine Antwort: «Nicht ich will, daß die, die
sie gegenwärtig bekämpfen, die Wahrheit nicht sehen. Sie selbst schließen die
Augen, um nicht zu sehen. Und sie sind blind aus eigenem freiem Willen. Denn
der Vater hat mich gesandt, damit die Scheidung stattfinde und sich zeige, wer
zu den Kindern des Lichtes und wer zu den Kindern der Finsternis gehört, wer
sehen will und wer blind sein will.»
«Sind vielleicht auch wir unter
diesen Blinden?»
«Wenn ihr unter ihnen wäret und
versuchen würdet zu sehen, wäret ihr nicht schuldig. Aber ihr sündigt, weil
ihr sagt: "Wir sehen", und dann wollt ihr doch nicht sehen. Eure Sünde bleibt
bestehen, weil ihr in eurer Blindheit nicht zu sehen sucht.»
«Was müssen wir denn sehen?»
«Den Weg, die Wahrheit und das
Leben. Ein Blindgeborener, wie dieser es war, kann mit seinem Stab immer die
Tür seines Hauses finden und sich darin bewegen, weil er es kennt. Wenn man
ihn aber an einen anderen Ort führen würde, könnte er nicht durch die Tür das
neue Haus betreten, weil er nicht wüßte, wo er sich befindet, und er würde
gegen die Mauer stoßen.
Die Zeit des neuen Gesetzes ist
gekommen. Alles wird erneuert, und eine neue Welt, ein neues Volk und ein
neues Reich erstehen. Die Menschen aus der vergangenen Zeit kennen all dies
nicht. Sie kennen nur ihre Zeit. Sie sind wie Blinde, die man in eine neue
Stadt führt, in der sich der Palast des Vaters befindet, dessen Standort sie
aber nicht kennen.
Ich bin gekommen, um sie zu
führen und hineinzuführen, und damit sie sehen. Aber ich selbst bin die
Pforte, durch die man in das Vaterhaus, in das Reich Gottes, zum Licht, zum
Weg, zur Wahrheit und zum Leben gelangt. Ich bin auch der, der gekommen ist,
die führerlose Herde zu sammeln und sie in einen einzigen Schafstall zu
führen: in den des Vaters. Ich bin das Tor des Schafstalles, denn ich bin
zugleich das Tor und der Hirte. Ich gehe ein und aus, wie und wann ich will.
Ich betrete ihn frei und durch das Tor, denn ich bin der wahre Hirte.
Wenn jemand kommt und den Schafen
Gottes andere Weisungen gibt oder versucht sie irrezuleiten, sie auf andere
Wege und an andere Orte zu führen, dann ist er kein guter, sondern ein
götzendienerischer Hirte. Und wenn er den Schafstall nicht durch das Tor
betritt, sondern versucht, anderswo einzudringen und über den Zaun zeigt, so
ist er kein Hirte, sondern
204
ein Dieb und ein Mörder, der dort
erscheint in der Absicht zu rauben und auch zu morden, damit die geraubten
Schafe durch ihr Schreien nicht die Aufmerksamkeit der Wächter und des Hirten
auf sich lenken. Auch bei den Schafen der Herde Israels versuchen sich falsche
Hirten einzuschleichen, um sie von den Weiden fortzuführen, fern vom wahren
Hirten. Und sie sind auch bereit, sie mit Gewalt aus der Herde zu holen und
sie sogar auf mannigfache Weise zu töten und zu schlagen, damit sie den Hirten
nicht auf die Tücke der falschen Hirten aufmerksam machen und nicht zu Gott um
Schutz vor ihrem und ihres Hirten Feind rufen.
Ich bin der Gute Hirte und meine
Schafe kennen mich, und es kennen mich jene, die in Ewigkeit die Wächter des
wahren Schafstalles sind. Sie haben mich kennengelernt und meinen Namen
verkündet, damit er in Israel bekannt werde. Sie haben über mich berichtet und
meine Wege bereitet; und als meine Stimme erklungen ist, da hat der letzte von
ihnen mir das Tor geöffnet. Er hat zu der Herde, die in Erwartung des wahren
Hirten um seinen Stab versammelt war, gesagt: "Seht, das ist der, von dem ich
gesagt habe, daß er nach mir kommen würde. Er ging mir voraus, denn er war
schon vor mir, und ich kannte ihn nicht. Aber damit ihr bereit seid, ihn
aufzunehmen, bin ich gekommen, um mit Wasser zu taufen, auf daß Israel ihn
erkenne." Und die guten Schafe haben meine Stimme gehört, und als ich sie beim
Namen rief, sind sie zu mir geeilt. Ich habe sie mit mir geführt wie ein guter
Hirte, den die Schafe kennen und an der Stimme erkennen und dem sie folgen,
wohin er auch immer geht. Wenn er sie alle vereinigt hat, geht er vor ihnen
her, und sie folgen ihm, denn sie lieben die Stimme des Hirten. Einem
Fremdling dagegen folgen sie nicht, sie fliehen ihn vielmehr, da sie ihn nicht
kennen und ihn fürchten. Auch ich wandle vor den Schafen, um ihnen den Weg zu
weisen, um als erster den Gefahren zu begegnen und die Herde zu warnen, denn
ich will sie sicher in mein Reich führen.»
«Ist Israel etwa nicht mehr das
Reich Gottes?»
«Israel ist der Ort, von dem sich
das Volk Gottes zum wahren Jerusalern und zum Reich Gottes erheben muß.»
«Und der versprochene Messias?
Dieser Messias, der du zu sein behauptest? Soll er denn Israel nicht zum Sieg
führen und es zum glorreichen Herrn über die ganze Welt machen, der seinem
Szepter alle Völker unterwirft und sich rächt, gewaltig rächt an all denen,
die es unterjocht haben, seit es ein Volk ist? Ist also nichts wahr von all
dem? Leugnest du die Propheten? Du nennst unsere Rabbis töricht? Du...»
«Das Reich des Messias ist nicht
von dieser Welt. Es ist das Reich Gottes, das auf Liebe gegründet ist, und
nichts anderes. Der Messias ist kein König der Völker und Heere, sondern ein
König der Seelen. Aus dem auserwählten Volk wird der Messias hervorgehen, aus
königlichem Geschlecht, und vor allem aus Gott, der ihn gezeugt und gesandt
hat. Im
205
Volk Israel hat die Gründung des
Gottesreiches begonnen, die Verkündigung des Gesetzes der Liebe und die
Verkündigung der Frohen Botschaft, von der der Prophet spricht. Aber der
Messias wird der König der Welt sein, der König der Könige, und seinem Reich
werden zeitlich und räumlich kein Ende und keine Grenzen gesetzt sein. Öffnet
die Augen und nehmt die Wahrheit an.»
«Wir haben nichts verstanden von
deinen irren Reden. Du sagst Worte, die keinen Sinn ergeben. Rede und antworte
ohne Gleichnisse. Bist du der Messias oder bist du es nicht?»
«Habt ihr denn immer noch nicht
verstanden? Ich habe euch gesagt, daß ich die Pforte und der Hirte bin. Bisher
hat keiner in das Reich Gottes eingehen können, da es verschlossen und ohne
Eingang war. Nun aber bin ich gekommen, und das Eingangstor ist da.»
«Oh! Schon andere haben gesagt,
sie seien der Messias, und später wurden sie als Empörer und Diebe entlarvt,
und menschliche Gerechtigkeit hat ihre Frechheit bestraft. Wer gibt uns die
Gewißheit, daß du nicht einer von ihnen bist? Wir sind es müde zu leiden und
das Volk die Strenge Roms verspüren zu lassen als Folge der Lügen derer, die
sich zum König erklären und das Volk zum Aufstand aufwiegeln!»
«Nein, was ihr da sagt, ist
ungenau. Ihr wollt nicht leiden, das ist wahr. Aber daß das Volk leidet,
schmerzt euch nicht. Ihr geht sogar so weit, daß ihr zur Strenge eurer
Beherrscher noch eure eigene Härte hinzufügt und mit eurem übertriebenen
Zehnten und vielem anderen das niedere Volk bedrückt. Was gibt euch die
Gewißheit, daß ich kein Betrüger bin? Meine Handlungen. Nicht ich werde der
Anlaß sein, daß Roms Hand schwerer auf euch lastet. Vielmehr, wenn überhaupt
etwas, erleichtere ich eure Last, da ich den Herrschern und den Beherrschten
zu Geduld und Menschlichkeit rate. Wenigstens dies.»
Inzwischen hat sich viel Volk
angesammelt, das immer zahlreicher wird, so daß es den Verkehr auf der großen
Straße behindert und alle in das Seitengäßchen ausweichen, unter dessen
Gewölben die zustimmenden Rufe lautstark widerhallen: «Was du vom Zehnten
gesagt hast, ist richtig! Es ist wahr, er empfiehlt uns Unterwerfung und den
Römern Barmherzigkeit.»
Wie immer werden die Pharisäer
durch die Zustimmung des Volkes nur noch giftiger und beißender im Ton, in dem
sie sich an Christus wenden: «Antworte, ohne so viele Worte zu verlieren, und
beweise uns, daß du der Messias bist.»
«Wahrlich, wahrlich ich sage
euch, ich bin es. Ich, ich allein bin das Tor zum Schafstall der Himmel. Wer
nicht durch mich hindurchgeht, kann nicht in das Himmelreich eingehen. Es ist
wahr, daß falsche Messiasse gekommen sind, und andere werden noch kommen. Aber
der einzige und wahre Messias bin ich. Alle, die bisher gekommen sind und sich
so
206
genannt haben, waren es nicht.
Sie waren lediglich Diebe und Räuber. Und das gilt nicht nur für jene, die
sich von wenigen Gleichgesinnten Messias nennen ließen, sondern auch für die,
die ohne diesen Namen anzunehmen eine Anbetung verlangen, die nicht einmal dem
wahren Messias zuteil wird. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Aber nun gebt
acht. Weder den falschen Messiassen noch den falschen Hirten und Meistern
haben die Schafe Gehör geschenkt, denn die Seelen fühlten die Falschheit ihrer
Stimmen, die sanft erscheinen wollten, in Wirklichkeit aber grausam waren. Nur
die Böcke sind ihnen gefolgt, um bei ihren Schurkereien mitzuwirken. Wilde,
ungezähmte Böcke, die nicht in den Schafstall Gottes, unter das Szepter des
wahren Königs und Hirten kommen wollen. Denn dieser ist nunmehr in Israel. Und
er, der König der Könige, wird zum Hirten der Herde, während früher einmal
einer, der der Hirte der Herden war, König wurde; und der eine wie der andere
entspringen einer einzigen Wurzel, der Wurzel Jesse, wie es geschrieben steht
in den Verheißungen und Prophezeiungen. Die falschen Hirten sprachen weder
aufrichtige Worte noch vollbrachten sie Werke des Trostes. Sie haben die Herde
zerstreut und gequält, sie den Wölfen überlassen oder sie sogar getötet, sie
ausgenützt und verkauft, um ihres eigenen Lebens sicher zu sein. Oder sie
haben ihr die Weide entzogen, um daraus Stätten des Vergnügens und Götzenhaine
zu machen.
Wißt ihr, wer die Wölfe sind? Es
sind die bösen Leidenschaften, die Laster, die die falschen Hirten die Herde
gelehrt haben und denen sie als Erste frönten. Und wißt ihr, was ich mit den
Götzenhainen meine? Es ist die Eigensucht, die allzu viele mit Weihrauch
beräuchern. Die anderen beiden Dinge bedürfen der Erklärung nicht, denn sie
ergibt sich klar genug aus dem schon Gesagten. Aber daß die falschen Hirten so
handeln ist logisch. Sie sind nichts als Räuber, die kommen um zu rauben, zu
töten und zu zerstören, um die Schafe aus dem Stall auf trügerische Weiden
oder in falsche Schafställe zu führen, die nichts anderes sind als
Schlachthäuser. Die dagegen, die zu mir kommen, sind in Sicherheit. Sie können
hinausgehen auf meine Weide oder wieder hereinkommen zu meinen Ruhestätten, um
sich dort durch heilige und gesunde Nahrung zu stärken. Denn dazu bin ich
gekommen. Meine Schafe, die bisher mager und betrübt waren, sollen nun das
Leben haben, überreiches Leben, Leben des Friedens und der Freude. Und so sehr
wünsche ich dies, daß ich gekommen bin, um mein eigenes Leben hinzugeben, auf
daß meine Schafe das vollkommene, überreiche Leben der Kinder Gottes haben.
Ich bin der gute Hirte. Ein guter
Hirte gibt sein Leben hin, um seine Herde gegen Wölfe und Räuber zu
verteidigen, während der Mietling, der nicht die Schafe, sondern das Geld
liebt, das er für seine Arbeit erhält, nur sich selbst und das Geld in seiner
Tasche retten will. Wenn er den Wolf oder den Räuber sieht, flieht er und
bringt sich in Sicherheit; und erst
207
später kehrt er zurück, um das
eine oder andere Schaf, das der Wolf halbtot zurückgelassen hat oder das dem
Räuber entgangen ist, an sich zu nehmen. Das erstere wird er schlachten, um es
zu verzehren, während er das andere verkaufen wird, als ob es sein eigenes
wäre. Damit erhöht er seinen Tagelohn und dem Besitzer wird er dann unter
lügenhaften Tränen berichten, daß kein einziges der Schafe gerettet werden
konnte. Was kümmert es den Mietling, wenn der Wolf die Schafe zerreißt und
zerstreut oder der Räuber viele Tiere erbeutet, um sie zur Schlachtbank zu
führen? Hat er etwa über sie gewacht, als sie heranwuchsen, und sich um sie
bemüht, damit sie gesund und kräftig werden? Der Besitzer hingegen, der den
Wert eines Schäfleins kennt und weiß, wie viele Mühen, Nachtwachen und Opfer
es ihn gekostet hat, liebt seine Schafe und kümmert sich um sie, denn sie sind
sein Reichtum. Aber ich bin mehr als ein Besitzer. Ich bin der Retter meiner
Herde. Ich weiß, wieviel die Rettung selbst einer einzigen Seele kostet, und
bin deshalb zu allem bereit, um eine Seele zu retten. Sie ist mir von meinem
Vater anvertraut worden. Alle Seelen sind mir anvertraut worden mit dem
Auftrag, sie in überaus großer Zahl zu retten. Je mehr Seelen ich dem Tod des
Geistes zu entreißen vermag, um so größer wird der Ruhm meines Vaters sein.
Daher kämpfe ich, um sie von allen ihren Feinden zu befreien, d.h. von ihrem
Ich, der Welt, dem Fleisch, dem Teufel und von meinen Gegnern, die sie mir
streitig machen wollen, um mir weh zu tun. Ich tue dies, weil ich die Gedanken
meines Vaters kenne. Und mein Vater hat mich gesandt, dies zu tun, weil er
meine Liebe zu ihm und zu den Seelen kennt. Auch die Schafe meiner Herde
kennen mich und meine Liebe, und sie fühlen, daß ich bereit bin, mein Leben
hinzugeben, um ihnen die Glückseligkeit zu schenken
Ich habe noch andere Schafe, aber
sie sind nicht aus diesem Schafstall. Daher erkennen sie mich nicht als das,
was ich bin, und viele wissen nicht, daß ich bin und wer ich bin. Es sind
Schafe, die vielen von uns schlimmer zu sein scheinen als wilde Ziegen, so daß
sie nicht für würdig befunden werden, die Wahrheit kennenzulernen und das
Leben und das Reich zu besitzen. Doch dem ist nicht so. Der Vater will auch
diese, und daher muß ich auch zu ihnen gehen, mich ihnen zu erkennen geben,
ihnen die Frohe Botschaft verkündigen, sie auf meine Weiden führen und sie
dort versammeln. Auch sie werden auf meine Stimme hören und sie schließlich
lieben. Und es wird nur eine Herde und einen Hirten geben, und das Reich
Gottes wird errichtet auf Erden und bereit sein, in das Himmelreich
aufgenommen zu werden unter meinem Szepter, meinem Zeichen und meinem wahren
Namen.
Mein wahrer Name! Er ist nur mir
bekannt. Aber wenn die Zahl der Auserwählten voll ist und sie unter
Jubelhymnen an der großen Hochzeitstafel des Bräutigams und der Braut sitzen,
dann wird mein Name allen meinen Auserwählten bekannt sein, die sich in Treue
zu ihm geheiligt
208
haben, obwohl sie nicht die ganze
Weite und Tiefe dessen begriffen hatten, was es heißt, mit meinem Namen
bezeichnet zu sein und für ihre Liebe zu ihm belohnt zu werden, noch was ihr
Lohn sein würde... Das will ich meinen treuen Schafen schenken: das, was meine
eigene Freude ist...»
Jesus läßt den unter Tränen der
Verzückung leuchtenden Blick über die Anwesenden schweifen und ein Lächeln
bebt auf seinen Lippen, ein so vergeistigtes Lächeln auf seinem vergeistigten
Antlitz, daß die Menge von einem Schauer ergriffen wird. Sie ahnt die
Verzückung Christi in einer beseligenden Schauung und sein Liebesverlangen,
sie verwirklicht zu sehen. Dann faßt er sich wieder. Einen Augenblick schließt
er die Augen und verhüllt das Geheimnis, das sein Geist schaut und sein Blick
zu sehr verraten könnte, und fährt fort:
«Dafür liebt mich der Vater, o
mein Volk, o meine Herde! Denn für dich, für dein ewiges Glück gebe ich mein
Leben hin. Später werde ich wieder ins Leben zurückkehren. Aber zuerst werde
ich es hingeben, damit du das Leben habest und deinen Erlöser besitzest. Ich
werde es hingeben auf eine Weise, daß du dich davon nähren kannst, und werde
mich vom Hirten in Weide und Quelle verwandeln, die dir Speise und Trank geben
werden, nicht nur vierzig Jahre lang, wie den Hebräern in der Wüste, sondern
für die ganze Zeit deines Exils in den Wüsteneien der Erde. Niemand nimmt mir
in Wirklichkeit das Leben. Weder jene, die es ihrer großen Liebe wegen zu mir
verdienen, daß ich mich für sie aufopfere, noch jene, die mich töten aus
maßlosem Haß und törichter Furcht. Niemand könnte es mir nehmen, wenn ich
nicht selbst zustimmen und mein Vater es nicht zulassen würde, da uns beide
eine unaussprechliche Liebe für die schuldbeladene Menschheit erfüllt. Aus
eigenem freien Willen gebe ich mein Leben hin. Und ich habe die Macht, es mir
wieder zu nehmen, wann ich will, denn es geziemt sich nicht, daß der Tod über
das Leben herrsche. Daher hat der Vater mir diese Macht verliehen. Ja, der
Vater hat mir sogar diesen Auftrag gegeben. Und durch die Aufopferung meines
Lebens werden die Völker ein Volk werden: das meinige, das himmlische Volk der
Kinder Gottes. In den Völkern werden sich die Schafe von den Böcken scheiden,
und die Schafe werden dem Hirten in das Reich des ewigen Lebens folgen.»
Jesus, der bis dahin laut
gesprochen hat, wendet sich nun mit gedämpfter Stimme an Sidonias, genannt
Bartholmai, der die ganze Zeit mit seinem Korb duftender Äpfel vor ihm
gestanden hat, und sagt zu ihm: «Du hast meinetwegen alles andere vergessen.
Jetzt wirst du gewiß bestraft werden und deine Arbeit verlieren. Siehst du?
Ich mache dir immer Kummer. Meinetwegen bist du aus der Synagoge gejagt
worden, und nun wirst du auch noch deinen Dienstherrn verlieren...»
«Was kümmert mich all das, wenn
ich dich habe? Du allein bedeutest mir etwas. Gerne lasse ich alles zurück, um
dir zu folgen, wenn du es mir
209
erlaubst. Laß mich nur noch diese
Früchte dem bringen, der sie gekauft hat, und dann bin ich bei dir.»
«Gehen wir zusammen. Danach gehen
wir zu deinem Vater, denn du hast einen Vater und mußt ihn ehren und seinen
Segen erbitten.»
«Ja, Herr. Alles was du willst.
Doch du wirst mich vieles lehren müssen, denn ich weiß nichts, wirklich
nichts. Ich kann nicht einmal lesen und schreiben, weil ich blind war.»
«Sorge dich nicht darum. Der gute
Wille wird dein Lehrer sein.»
Dann macht er sich auf den Weg
und kehrt auf die Hauptstraße zurück, während die Menge ihre Bemerkungen
macht, diskutiert, sich sogar zankt und immer noch schwankt zwischen den
beiden Ansichten, die nach wie vor dieselben sind: Ist Jesus von Nazareth ein
Besessener oder ein Heiliger? Die Leute diskutieren und streiten weiter, als
Jesus sich entfernt.
573. AUF DEM WEG NACH BETHANIEN;
IM HAUS DES LAZARUS
Jesus entläßt die Jünger Levi,
Joseph, Matthias und Johannes, die er, ich weiß nicht wo, getroffen und denen
er den neuen Jünger Sidonias, genannt Bartholmai, anvertraut hat. Das
geschieht bei den ersten Häusern von Bethanien. Die Hirten-Jünger gehen mit
dem neu Angekommenen und sieben anderen Männern, die schon bei ihnen waren,
weg. Jesus blickt ihnen nach, dann schaut er die Apostel an und sagt: «Und
jetzt warten wir hier auf Judas des Simon ...»
«Ah! Du hast also bemerkt, daß er
fortgegangen ist!» sagen die anderen erstaunt. «Wir dachten, du hättest es
nicht beachtet, denn so viel Volk war da. Und du hast immer gesprochen, zuerst
mit dem Jüngling und dann mit den Hirten...»
«Ich habe sofort bemerkt, daß er
sich entfernt hat. Nichts entgeht mir. Deshalb bin ich in die Häuser der
Freunde gegangen und habe dort gesagt, man solle Judas nach Bethanien
schicken, wenn er nach mir fragt...»
«Wollte Gott, daß er es nicht
tut», knurrt der andere Judas grantig.
Jesus blickt ihn an, scheint
jedoch dem Satz keine Bedeutung beizumessen und spricht weiter zu allen, da er
sieht, daß alle der Ansicht des Thaddäus sind – manchmal drücken Gesichter
mehr aus als Worte -: «Diese Ruhe in Erwartung seiner Rückkehr wird gut sein
und uns bekommen. Dann werden wir nach Thekoa gehen. Es ist recht frisch, aber
der Himmel heitert sich auf. Ich will in dieser Stadt die Frohe Botschaft
verkünden, und danach werden wir wieder an Jericho vorbei hinaufsteigen
210
und den Fluß überqueren. Die
Hirten haben mir gesagt, daß viele Kranke mich suchen, und ich habe ihnen
sagen lassen, daß sie nicht die Mühen der Reise auf sich nehmen, sondern mich
in den Orten dort erwarten sollen.»
«Gehen wir also», seufzt Petrus.
«Gehst du nicht gern zu Lazarus?»
fragt Thomas.
«Doch, ich gehe gern.»
«Du sagst das in so eigenartigem
Ton.»
«Nicht wegen Lazarus, sondern
wegen Judas...»
«Du bist ein Sünder, Petrus»,
mahnt Jesus.
«Ich bin es. Aber er... Judas von
Kerioth, der einfach fortläuft, der unverschämt ist, eine Qual für uns alle,
oder etwa nicht?» fährt der unruhige Petrus auf, der sich nicht mehr
beherrschen kann.
«Es ist wahr. Aber wenn er es
ist, sollst du es nicht auch sein. Keiner von uns soll so sein. Erinnert euch
daran, daß Gott einst Rechenschaft von uns fordern wird – ich sage uns, da der
Vater diesen Menschen noch vor euch vor allem mir anvertraut hat – was wir zu
seiner Rettung getan haben.»
«Und du hast Hoffnung auf Erfolg,
Bruder? Ich kann es nicht glauben. Du, das glaube ich sicher, kennst die
Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Daher kannst du dich nicht
täuschen in deinem Urteil über diesen Menschen. Und... Aber es ist besser,
wenn ich den Rest nicht sage.»
«Wahrlich, schweigen zu können,
ist eine große Tugend. Wisse jedoch, daß die mehr oder weniger genaue Kenntnis
der Zukunft eines Herzens niemanden der Verpflichtung enthebt, sich bis
zuletzt für seine Rettung einzusetzen. Verfalle nicht auch du dem Fatalismus
der Pharisäer, die die Ansicht vertreten, daß das, was bestimmt ist, sich
erfüllen muß und nichts das Vorherbestimmte verhindern kann. Mit diesem
Argument rechtfertigen sie selbst ihre Sünden, und auch das letzte Werk ihres
Hasses gegen mich werden sie damit rechtfertigen. Oft wartet Gott auf das
Opfer eines Herzens, das seinen Abscheu und seinen Widerwillen, seine
berechtigte Abneigung überwindet, um eine Seele dem Sumpf zu entreißen, in dem
sie versinkt. Ja, ich sage es euch. Oft wartet Gott, der Allmächtige, der
alles ist, ab, ob ein Geschöpf, ein Nichts, ein Opfer bringt oder nicht, ein
Gebet verrichtet oder nicht, um die Verdammung einer Seele zu besiegeln oder
nicht. Es ist nie spät, nie zu spät, um zu hoffen und zu versuchen, eine Seele
zu retten. Und ich werde euch Beweise dafür geben. Selbst an der Schwelle des
Todes, wenn sowohl der Sünder als auch der um ihn besorgte Gerechte im Begriff
sind, die Erde zu verlassen, um vor das erste Gericht Gottes zu treten, kann
man immer noch retten oder gerettet werden. Zwischen dem Becher und den
Lippen, sagt das Sprichwort, ist immer noch Raum für den Tod. Ich hingegen
sage: Zwischen dem sich
211
seinem Ende nähernden Todeskampf
und dem Tod ist immer noch Zeit, Verzeihung zu erlangen für uns selbst oder
für die, die wir retten wollen.»
Keiner hat etwas zu entgegnen.
Jesus ist nun an dem schweren
Gartentor angelangt. Er ruft einen Diener herbei, um sich öffnen zu lassen,
geht hinein und fragt nach Lazarus.
«0 Herr! Siehst du? Ich habe
gerade Lorbeerblätter, Kampfer, Beeren von Zypressen, andere Blätter und
duftende Früchte gepflückt, um sie mit Wein und Harz zu kochen und ein Bad für
den Hausherrn zu bereiten. Sein Fleisch verfällt, und der Gestank ist
unausstehlich. Du bist gekommen, aber ich weiß nicht, ob man dich zu ihm
hineinlassen wird...» Aus Furcht, daß selbst die Luft Ohren haben könnte,
flüstert der Diener ganz leise: «Jetzt, da es sich nicht mehr verheimlichen
läßt, daß Wunden vorhanden sind, weisen die Herrinnen alle ab... aus Furcht...
Du weißt... Lazarus ist nur bei wenigen beliebt und viele würden sich aus
mancherlei Gründen freuen, wenn... Oh! Laß mich nicht an das denken, was die
Angst des ganzen Hauses ist.»
«Sie tun gut daran. Aber fürchtet
euch nicht. Dieses Unglück wird euch nicht treffen.»
«Aber... kann er gesund werden?
Durch ein Wunder von dir?...»
«Er wird nicht geheilt werden.
Aber dies wird zur Verherrlichung des Herrn dienen.»
Der Diener ist enttäuscht...
Jesus, der alle heilt, tut hier nichts! ... Aber er äußert seine Gedanken nur
durch einen Seufzer. Dann sagt er: «Ich gehe zu den Herrinnen und kündige dich
an.»
Die Apostel umgeben Jesus. Sie
interessieren sich für das Befinden des Lazarus und sind niedergeschlagen, als
Jesus sie aufklärt. Aber da kommen schon die beiden Schwestern. Ihre blühende
und verschiedenartige Schönheit scheint beeinträchtigt durch den Schmerz und
die Mühen der langen Nachtwachen. Bleich, niedergeschlagen, abgemagert, mit
erloschenen Augen, die doch bei beiden einst wie Sterne glänzten, ohne Ringe
und Armbänder und in dunkle, aschgraue Gewänder gekleidet, scheinen sie eher
Dienerinnen als Herrinnen zu sein. Sie knien in einer gewissen Entfernung von
Jesus nieder und bieten ihm als einzigen Gruß ihre Tränen an. Es ist ein
ergebenes, stummes Weinen, das wie aus einer inneren Quelle aufsteigt, die
nicht versiegen kann.
Jesus nähert sich ihnen, doch
Martha streckt die Hände aus und flüstert: «Bleib stehen, Herr! Wir fürchten
wahrhaftig, schon gegen das Gesetz über den Aussatz verstoßen zu haben. Aber
wir können nicht, o Gott, wir können nicht zulassen, daß man mit Lazarus
entsprechend den Vorschriften dieses Gesetzes verfährt. Du jedoch nähere dich
nicht, denn wir sind unrein, da wir nur noch Wunden berühren. Wir allein. Alle
anderen halten wir von ihm fern und alles, was wir brauchen, legt man uns auf
die Schwelle, und wir nehmen es und wachen und verbrennen dann alles
212
im Raum neben dem unseres
Bruders. Siehst du unsere Hände? Sie sind verbrannt von dem ungelöschten Kalk,
den wir für die Gefäße verwenden, die wir den Dienern zurückgeben. Dadurch
glauben wir, weniger schuldig zu sein.» Und sie weint.
Maria von Magdala, die bisher
geschwiegen hat, seufzt nun ihrerseits schwer: «Wir sollten den Priester
rufen. Aber... Ich, ich bin die Schuldigere von beiden, denn ich will es
nicht, weil ich glaube, daß es nicht die schreckliche, von Israel verfluchte
Krankheit ist. Sie ist es nicht, nein! Aber so viele hassen uns, und sie
würden es so nennen. Wegen viel weniger wurde Simon, dein Apostel, für
aussätzig erklärt.»
«Du bist weder Priester noch
Arzt», schluchzt Martha.
«Ich bin es nicht. Aber du weißt,
was ich getan habe, um sicher zu sein, was ich sage. Herr, ich bin durch das
ganze Hinnom-Tal, ganz Siloe, zu allen Gräbern bei En Rogel gegangen, als Magd
gekleidet, verschleiert, im ersten Licht des Morgens, mit Lebensmitteln,
Arzneien, Verbänden und Kleidung bepackt. Und ich habe gegeben, gegeben... Ich
sagte, es sei ein Gelübde für den, den ich liebe. Und es war wahr. Ich wollte
nur die Wunden der Aussätzigen sehen. Sie müssen mich für verrückt gehalten
haben... Wer will denn schon etwas so Entsetzliches sehen?! Aber nachdem ich
meine Gaben am Fuß des Hanges niedergelegt hatte, bat ich sie, ihre Wunden
sehen zu dürfen. Und ich habe geschaut, sie oben, ich unten, sie voll
Verwunderung, ich erfüllt von Ekel; und sie weinten und ich weinte, aber ich
schaute, schaute, schaute. Ich schaute die Körper an mit ihren Schuppen,
Krusten, Wunden, die zerfressenen Gesichter, die weißen, borstigen Haare, die
verfaulten Löcher der Augen, die Wangen, durch die man die Zähne sah, die
nackten Schädel auf lebendigen Körpern, die Klauenhände von Ungeheuern, die
Füße wie knotige Äste, den Gestank, das Entsetzen, die Fäulnis. Oh! Wenn ich
gesündigt habe durch die Anbetung des Fleisches, wenn ich mit Augen, Geruch,
Gehör und Gefühl genossen habe, was schön, duftend, harmonisch weich und glatt
ist, oh, ich versichere dir, meine Sinne sind nun geläutert durch das Grauen
dieses Anblicks. Meine Augen haben beim Betrachten dieser Ungeheuer die
verführerische Schönheit des Mannes vergessen, meine Ohren haben beim Hören
dieser rauhen, schon nicht mehr menschlichen Stimmen für meine frühere Freude
an der Stimme des Mannes gebüßt, mein Fleisch hat geschaudert, mein Geruchsinn
war angewidert... und jeglicher Überrest des Kultes meiner selbst ist
erstorben; denn ich habe gesehen, was wir nach dem Tod sind... Doch ich habe
nun die Gewißheit, daß Lazarus nicht aussätzig ist. Seine Stimme ist nicht
gebrochen, sein Haar ist gesund und seine Wunden sind anders! Er ist nicht
aussätzig! Nein! Aber Martha betrübt mich, weil sie mir nicht glaubt und
Lazarus nicht ermutigt, indem sie ihn überzeugt, daß er nicht unrein ist.
Siehst du? Er will dich nicht sehen, obwohl er weiß, daß du hier bist, um dich
nicht zu verunreinigen.
213
Die törichten Befürchtungen
meiner Schwester berauben ihn auch deines Trostes... !»
Ihre ungestüme Natur läßt sie
zornig werden. Doch als sie sieht, daß ihre Schwester in ein untröstliches
Weinen ausbricht, beherrscht sie sich sofort. Sie umarmt Martha und küßt sie
mit den Worten: «Oh, Martha, verzeih, verzeih mir! Es ist der Schmerz, der
mich so ungerecht werden läßt. Meine Liebe zu dir und zu Lazarus möchte euch
überzeugen. Meine arme Schwester! Was sind wir doch für arme Frauen!»
«Auf! Weint nicht so! Ihr habt
Frieden und gegenseitiges Vertrauen nötig, für euch selbst und für ihn.
Lazarus ist übrigens nicht aussätzig, ich sage es euch.»
«Oh, dann komm zu ihm, Herr. Wer
kann es besser beurteilen als du, ob er aussätzig ist?» fleht Martha.
«Habe ich dir nicht schon gesagt,
daß er es nicht ist?»
«Aber wie kannst du das sagen,
wenn du ihn nicht siehst?»
«Oh, Martha, Martha! Gott
verzeiht dir, weil du leidest und fast von Sinnen bist! Ich habe Mitleid mit
dir und werde zu Lazarus gehen. Ich werde seine Wunden aufdecken und ...»
«Und ihn heilen!» schreit Martha
und springt auf.
«Ich habe dir schon andere Male
gesagt, daß ich es nicht tun kann... Aber ich werde euch den Frieden geben zu
wissen, daß ihr nicht gegen das Gesetz über die Aussätzigen verstoßen habt.
Gehen wir ...»
Und er geht als erster auf das
Haus zu, wobei er den Aposteln ein Zeichen gibt, ihm nicht zu folgen.
Martha eilt voraus, öffnet eine
Tür, läuft durch einen Korridor, öffnet eine zweite Tür zu einem kleinen
inneren Hof, macht noch einige Schritte und betritt dann ein halbdunkles
Zimmer voller Schüsseln, Gefäße, Krüge und Verbandzeug... Ein Gemisch von
duftenden Aromen und Verwesungsgeruch dringt in die Nase. Maria öffnet eine
weitere Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes und ruft mit einer
Stimme, die hell und freudig klingen möchte: «Der Meister ist da! Er kommt,
dir zu sagen, daß ich recht habe, mein Bruder. Auf! Freue dich, denn unsere
Liebe und unser Friede kommt!» Und sie neigt sich über den Bruder, richtet ihn
auf seinen Kissen auf und küßt ihn, ohne auf den Geruch zu achten, der ihr
trotz aller Gegenmittel von diesem Körper voller Wunden entgegenströmt.
Während sie noch über ihn gebeugt ist und ihn zurechtmacht, erklingt schon der
liebevolle Gruß Jesu in dem dunklen Raum, der sich durch die Gegenwart des
erhabenen Sohnes Gottes zu erhellen scheint.
«Meister, hast du keine Angst?
Ich bin ...»
«Krank! Nicht mehr als das.
Lazarus, die so umfassenden und strengen Vorschriften sind gegeben worden aus
verständlicher Klugheit. Es ist besser, zu vorsichtig als zu unvorsichtig zu
sein in gewissen Fällen, z.B. bei ansteckenden Krankheiten. Aber deine
Krankheit ist nicht ansteckend,
214
mein armer Freund. Du bist nicht
unrein, so daß ich nicht gegen die Vorsicht im Interesse der Brüder fehle,
wenn ich dich umarme und küsse.»Und er nimmt seinen abgemagerten Körper in die
Arme und küßt ihn.
«Du bist wahrhaft der Friede!
Aber du hast mich noch nicht gesehen. Maria, decke diesen Graus auf. Ich bin
schon ein Toter, Herr. Ich weiß nicht, wie meine Schwestern dies ertragen
können...»
Auch ich könnte es nicht
ertragen, so erschreckend und abstoßend sind die Wunden entlang den
Krampfadern der Beine. Die herrlichen Hände Marias pflegen sie behutsam,
während sie mit ihrer wunderbaren Stimme entgegnet: «Deine Wunden sind Rosen
für deine Schwestern. Dornige Rosen, nur weil du unter ihnen leidest. Siehst
du, Meister? Dies ist kein Aussatz!»
«Nein, es ist keiner. Es ist ein
böses Übel, und es verzehrt dich, aber es stellt keine Gefahr dar. Glaube
deinem Meister. Decke ihn wieder zu, Maria. Ich habe es gesehen.»
«Und... berührst du ihn wirklich
nicht?» seufzt Martha, die die Hoffnung nicht aufgibt.
«Besser nicht. Nicht aus Abscheu,
sondern um die Wunden nicht zu reizen.»
Martha neigt sich, ohne weiter zu
drängen, über ein Becken mit Wein oder wohlriechendem Essigwasser und taucht
Tücher hinein, die sie dann ihrer Schwester reicht. Stumme Tränen fallen in
die rötliche Flüssigkeit...
Maria umwickelt die wunden
Glieder und breitet wieder die Decken über die Füße, die schon steif und
gelblich sind wie die eines Toten.
«Bist du allein?»
«Nein, alle sind bei mir mit
Ausnahme des Judas von Kerioth, der in Jerusalem geblieben ist und noch kommen
wird... Wenn ich also schon fern sein sollte, so schickt ihn nach Bethabara.
Ich werde dort sein. Und er soll mich dort erwarten.»
«So gehst du gleich wieder
fort...»
«Und bald werde ich zurückkehren,
denn bald ist das Tempelweihfest. Und an diesen Tagen werde ich bei dir sein.»
«Werde ich am Lichterfest nicht
die Ehre haben, dich...»
«An diesem Tag werde ich in
Bethlehem sein. Ich möchte die Stätte meiner Geburt wiedersehen...»
«Du bist traurig... Ich weiß
es... Oh! Nichts tun zu können!»
«Ich bin nicht traurig. Ich bin
der Erlöser... Aber du bist müde. Kämpfe nicht gegen den Schlaf an, mein
Freund.»
«Ich habe es dir zu Ehren
getan...»
«Schlafe, schlafe. Wir werden uns
noch sehen ...» Und Jesus zieht sich lautlos zurück.
«Hast du gesehen, Meister?» fragt
Martha draußen im Hof.
«Ich habe gesehen. Meine armen
Jüngerinnen... Ich weine mit euch...
215
Aber in Wahrheit muß ich euch
gestehen, daß mein Herz viel mehr verwundet ist als euer Bruder. Mein Herz
wird von Schmerzen gemartert ...»Und er schaut sie mit einer so tiefen
Traurigkeit an, daß die beiden ihren eigenen Schmerz vergessen, um an dem
seinen Anteil zu nehmen. Da sie ihn als Frauen nicht umarmen können, küssen
sie seine Hände und sein Gewand und dienen ihm wie liebevolle Schwestern. Sie
bedienen ihn in einem kleinen Saal und umgeben ihn mit liebevoller
Aufmerksamkeit.
Die kräftigen Stimmen der Apostel
sind jenseits des Hofes zu hören... alle, außer der des bösen Apostels. Jesus
lauscht ihnen und seufzt... Er seufzt und wartet geduldig auf den Flüchtigen.
574. AUF DEM WEG NACH THEKOA; DER
ALTE HELI-ANNA
Sie sind noch immer zu elft, als
sie sich wieder auf den Weg machen. Elf sinnende, traurige Gesichter umgeben
Jesus, der sich von den Schwestern verabschiedet. Bevor er aber durch das
Gittertor schreitet, befiehlt er nach kurzer Überlegung Simon dem Zeloten und
Bartholomäus: «Ihr bleibt hier. Ihr könnt mich entweder in Thekoa bei Simon
oder im Haus der Nike bei Jericho oder in Bethabara erreichen, je nachdem,
wann er kommt. Und... übt Liebe an ihm. Habt ihr mich verstanden?»
«Sei beruhigt, Meister. Wir
werden in keiner Weise gegen die Nächstenliebe fehlen», versichert
Bartholomäus.
«Um welche Stunde er auch kommen
mag, ihr reist sofort ab.»
«Sofort, Meister. Und... danke
für das Vertrauen, das du in uns setzest», sagt der Zelote.
Sie küssen sich, und während ein
Diener das Gittertor schließt und Jesus sich entfernt, gehen die beiden
Zurückgebliebenen mit den Schwestern wieder ins Haus.
Jesus geht allein voraus. Hinter
ihm Petrus zwischen Matthäus und Jakobus des Alphäus. Dahinter Philippus mit
Andreas, Jakobus und Johannes des Zebedäus. Als letzte kommen, schweigend wie
die anderen, Thomas und Judas Thaddäus. Aber ich habe mich schlecht
ausgedrückt. Auch Petrus spricht nicht. Seine beiden Begleiter wechseln einige
Worte, aber er, der zwischen ihnen geht, sagt nichts. Er schreitet schweigend
und mit geneigtem Haupt voran und scheint ein stummes Gespräch mit den Steinen
und den Gräsern unter seinen Füßen zu führen.
Auch die beiden Letzten verhalten
sich fast ebenso. Thomas scheint in die Betrachtung eines Weidenzweiges
vertieft zu sein, von dem er Blatt um Blatt abrupft und dabei jedes Blatt, das
er abreißt, anschaut, so als ob er die grünliche Farbe auf der einen Seite,
die silberne auf der anderen oder die Verzweigung der Blattadern studiere.
Judas Thaddäus blickt starr
216
geradeaus. Ich weiß nicht, ob er
den Horizont betrachtet, der sich, nachdem sie über einen Höhenzug gewandert
sind, vor ihnen auftut mit seinem hellen Dunst, der in der Morgenröte über der
Ebene liegt, oder ob er einzig auf das blonde Haupt Jesu blickt, der seinen
Mantel zurückgeschlagen hat, wie um die milde Dezembersonne zu genießen.
Thomas beendet seine Beschäftigung im gleichen Augenblick wie Judas Thaddäus
seine Betrachtung des Horizontes oder des Meisters. Dieser senkt seinen Blick
und wendet sich seinem Gefährten zu, während Thomas, der nun einen blattlosen
Stiel in der Hand hält, die Augen zu Thaddäus erhebt. Ein scharfer und
zugleich gutmütiger und trauriger Blick begegnet einem ebensolchen.
«So ist es, Freund! Genau so!»
sagt Thomas, als ob er ein Gespräch beende.
«Ja, so ist es. Mein Schmerz ist
sehr groß... Bei mir spielt auch noch die Verwandtenliebe mit ...»
«Ich verstehe... dich quält dein
Herz, das an ihm hängt. Aber mich? Mich quälen Gewissensbisse. Und das ist
noch schlimmer.»
«Gewissensbisse? Du hast keinen
Grund dazu. Du bist gut und treu. Jesus ist zufrieden mit dir, und du hast uns
nie einen Grund gegeben, Anstoß an dir zu nehmen. Wie kannst du also
Gewissensbisse haben?»
«Wegen einer Erinnerung. Es ist
die Erinnerung an jenen Tag, an dem ich mich entschlossen habe, dem neuen
Rabbi zu folgen, der im Tempel erschienen war... Ich und Judas waren in der
Nähe, und wir bewunderten die Handlungen und die Worte des Meisters. Und wir
waren entschlossen, ihn aufzusuchen... Ich war noch entschlossener als Judas
und habe ihn gewissermaßen mitgezogen. Er sagt das Gegenteil, aber so war es.
Meine Gewissensbisse bestehen darin: Ich habe darauf bestanden, daß auch er
kommt... Und damit habe ich Jestis beständiges Leid verursacht. Aber Judas,
das wußte ich, war bei vielen beliebt, und ich dachte, er könnte Jesus
nützlich sein. Töricht wie alle, die nur an einen König von Israel denken, der
noch größer als David und Salomon ist, aber auf jeden Fall ein König... ein
König, wie er es nach seinen eigenen Worten nie sein wird... wollte ich
unbedingt, daß dieser, der ihm nützen könnte, unter seinen Jüngern sei. Ich
hoffte es wenigstens. Doch erst jetzt verstehe ich, immer besser verstehe ich,
wie gerecht Jesus handelte, als er ihn nicht sofort annahm und ihm sogar
verbot, ihn aufzusuchen... Das sind Gewissensbisse, sage ich dir! Dieser Mann
ist nicht gut.»
«Er ist nicht gut. Aber du
brauchst dir deshalb keine Vorwürfe zu machen. Was du getan hast, hast du
nicht in böser Absicht getan, und daher trifft dich keine Schuld. Ich sage es
dir.»
«Bist du dessen gewiß oder sagst
du es nur, um mich zu trösten?»
«Ich sage es, weil es die
Wahrheit ist. Denke nicht mehr an die Vergangenheit, Thomas, denn du kannst
sie dadurch nicht ungeschehen machen ...»
217
«Das ist richtig! Aber bedenke,
wenn der Meister durch mich ins Unglück geriete... Mein Herz ist voller Angst
und Verdacht. Ich bin ein Sünder, weil ich über den Gefährten urteile, und
nicht barmherzig urteile. Und ich bin ein Sünder, weil ich den Worten des
Meisters Glauben schenken sollte... Er entschuldigt Judas... Du... glaubst du
deinem Bruder?»
«In allem, nur nicht in diesem
Punkt. Aber sei nicht betrübt. Wir haben alle denselben Gedanken. Petrus, der
sich verzehrt in dem Bemühen, gut von diesem Menschen zu denken, Andreas, der
sanfter als ein Lämmlein ist, und auch Matthäus, der einzige unter uns, der
keinen Sünder und keine Sünderin verabscheut. Selbst der so liebevolle, reine
Johannes, der das Glück hat, weder das Böse noch das Laster fürchten zu
müssen, da er so voll Liebe und Reinheit ist, daß bei ihm das andere keinen
Platz findet, hegt diesen Gedanken. Dasselbe gilt für meinen Bruder, ich meine
Jesus. Doch gewiß hat er auch andere Gedanken, Gedanken die ihm die
Notwendigkeit anzeigen, Judas zu behalten... bis alle Möglichkeiten, ihn zu
bessern, erschöpft sind.»
«Ja, aber wie wird das alles
enden? Er hat viele... und er hat nicht... Du verstehst, was ich meine. Wie
weit wird er es treiben?»
«Ich weiß es nicht... Vielleicht
wird er sich von uns trennen... Vielleicht bleibt er und wartet ab, um zu
sehen, wer der Stärkere ist in diesem Kampf zwischen Jesus und der jüdischen
Welt ...»
«Sonst nichts? Glaubst du nicht,
daß er schon jetzt zwei Herren dient?»
«Das ist sicher.»
«Und fürchtest du nicht, daß er
schließlich nur den Zahlreicheren dienen und dadurch dem Meister endgültig
schaden könnte?»
«Nein. Ich mag ihn nicht... Aber
ich kann mir nicht vorstellen, daß er... Wenigstens jetzt nicht. Doch ich
fürchte, daß es dazu kommen könnte, wenn der Meister eines Tages die Gunst des
Volkes verlieren würde. Wenn hingegen das Volk Jesus zu seinem König und
Führer erklären würde, dann – dessen bin ich sicher – würde Judas alle für ihn
verlassen. Er ist ein Opportunist... Gott möge ihn davor bewahren und Jesus
und uns alle schützen... !»
Die beiden bemerken, daß sie ihre
Schritte verlangsamt haben und weit hinter den Kameraden zurückgeblieben sind.
Ohne weiter zu reden, beschleunigen sie ihren Gang.
«Was habt ihr denn gemacht?»
fragt Matthäus. «Der Meister wollte euch sprechen...»
Thomas und Thaddäus beeilen sich,
Jesus einzuholen.
«Worüber habt ihr gesprochen?»
fragt Jesus und schaut ihnen ins Gesicht.
Die beiden sehen sich an. Sollen
sie es sagen oder nicht? Schließlich siegt die Aufrichtigkeit: «Über Judas»,
sagen sie gleichzeitig:
218
«Ich wußte es, aber ich wollte
eure Ehrlichkeit auf die Probe stellen. Ihr hättet mich betrübt, wenn ihr
nicht die Wahrheit gesagt hättet ... Aber sprecht nicht mehr über ihn, und
erst recht nicht auf diese Weise. Es gibt so viele gute Dinge, über die man
reden kann. Warum immer zu irdischen, allzu irdischen Dingen hinabsteigen?
Isaias sagt: "Sagt euch los von dem Menschen, in dessen Nase nur ein Hauch
ist." Ich sage euch: Laßt ab davon, diesen Menschen zu analysieren, und
kümmert euch um seine Seele. Das Tier, das Untier in ihm soll eure Blicke und
Urteile nicht anziehen; laßt vielmehr Liebe walten, eine schmerzliche und
tätige Liebe für seine Seele. Befreit ihn von dem Ungeheuer, das ihn fesselt.
Ihr wißt nicht ...»
Dann wendet er sich, um die
anderen sieben zu rufen: «Kommt alle her, denn es nützt allen, was ich sage;
ihr habt ja alle dieselben Gedanken in euren Herzen... Wißt ihr nicht, daß ihr
durch Judas von Kerioth mehr lernt als durch jeden anderen Menschen? Viele
Judasse werdet ihr antreffen und sehr wenige Jesus in eurem apostolischen
Wirken. Die Jesus-Seelen werden sanft, gut, rein, treu, gehorsam, klug und
ohne Habsucht sein. Es werden sehr wenige sein... Aber wie viele, die dem
Judas Iskariot gleichen, werdet ihr und eure Anhänger und Nachfolger auf den
Wegen dieser Welt treffen! Und um Meister zu sein und zu verstehen, müßt ihr
diese Schule durchmachen... Er mit seinen Fehlern zeigt euch, wie der Mensch
ist; ich zeige euch den Menschen, wie er sein sollte. Zwei gleich notwendige
Vorbilder. Ihr, die ihr nun beide gut kennt, müßt danach trachten, den ersten
nach dem zweiten umzugestalten ... Und meine Geduld soll eure Richtschnur
sein.»
«Herr, ich bin ein großer Sünder
gewesen und werde gewiß auch ein Beispiel abgeben. Aber ich möchte, daß Judas,
der kein so großer Sünder ist wie ich es war, sich bekehrt, wie ich es getan
habe. Ist es Hochmut, das zu sagen?»
«Nein Matthäus, es ist kein
Hochmut. Du ehrst mit deinen Worten zwei Wahrheiten. Die erste ist im
Sprichwort enthalten: Der gute Wille des Menschen wirkt göttliche Wunder. Die
zweite ist, daß Gott dich unendlich geliebt hat, schon bevor du an eine
Bekehrung gedacht hast, und er hat es getan, weil er deine Fähigkeit zum
Heldenmut kannte. Du bist die Frucht zweier Kräfte: deines guten Willens und
der Liebe Gottes. Zuerst nenne ich deinen guten Willen, denn ohne diesen wäre
die Liebe Gottes nutzlos gewesen, nutzlos und unwirksam...»
«Aber könnte Gott uns nicht auch
ohne unseren Willen bekehren?» fragt Jakobus des Alphäus.
«Gewiß. Aber dann wäre doch immer
noch der Wille des Menschen erforderlich, um in der wunderbar erlangten
Bekehrung zu verharren.»
«Dann war und ist also in Judas
dieser Wille nicht vorhanden, weder bevor er dich kannte, noch jetzt ...» sagt
Philippus heftig. Einige lachen, andere seufzen.
Jesus allein verteidigt den
abwesenden Apostel: «Sag das nicht! Er hat
219
ihn gehabt und hat ihn immer
noch. Aber das sündige Gesetz des Fleisches überwältigt ihn von Zeit zu Zeit.
Er ist ein Kranker... ein armer, kranker Bruder. In jeder Familie gibt es
einen Schwachen, einen Kranken, einen, der die Last, die Trübsal und der
Kummer der Familie ist. Und doch, ist nicht gerade das schwächlichste das von
der Mutter am meisten geliebte Kind? Kümmern sich die Brüder nicht gerade am
meisten um ein unglückliches Brüderchen? Gibt der Vater nicht gerade ihm den
besten Bissen, den er auf dem Teller findet, um ihm eine Freude zu bereiten
und um ihn nicht fühlen zu lassen, daß er eine Last ist und ihm dadurch sein
Leiden noch schwerer zu machen?»
«Es ist wirklich wahr. So ist es.
Meine Zwillingsschwester war kränklich in ihrem zarten Alter. Ich hatte ihr
alle Kraft weggenommen. Aber die Liebe der ganzen Familie hat ihr so sehr
geholfen, daß sie nun eine blühende Frau und Mutter geworden ist», sagt
Thomas.
«Nun also. Tut an eurem schwachen
Bruder im Geist so, wie ihr an einem schwachen leiblichen Bruder tun würdet.
Ich werde kein Wort des Tadels für ihn haben, und ihr seid nicht mehr als ich.
Eure geduldige Liebe ist der stärkste Vorwurf, und er kann sich nicht gegen
ihn wehren. In Thekoa werde ich Matthäus und Philippus zurücklassen, damit sie
auf Judas warten... Der erstere möge sich erinnern, daß er einst ein Sünder
war, und der zweite, daß er Vater ist.»
«Ja, Meister, wir werden uns
daran erinnern.»
«In Jericho werde ich, wenn Judas
noch nicht bei uns sein sollte, Andreas und Johannes zurücklassen, und auch
sie sollen sich daran erinnern, daß nicht alle in gleichem Maße die freien
Gaben Gottes empfangen haben... Aber geht jetzt zu dem alten Bettler, der dort
auf der Straße daherwankt. Die Stadt ist nicht mehr weit, und mit dem Almosen
kann er sich Brot kaufen.»
«Herr, es geht nicht. Judas hat
die Börse bei sich ...» sagt Petrus, «und die Schwestern haben uns nichts
gegeben.»
«Du hast recht, Simon. Sie sind
wie betäubt durch den Schmerz, und wir mit ihnen. Aber es macht nichts. Wir
haben noch etwas Brot, und wir sind jung und stark. Geben wir es dem Alten,
damit er nicht auf dem Weg zusammenbricht.»
Sie suchen in den Taschen,
sammeln einige Stücke Brot und geben sie dem alten Mann, der sie erstaunt
anblickt.
«Iß, iß!» ermutigt ihn Jesus und
läßt ihn aus seiner Flasche trinken, während er ihn fragt, wohin er geht.
«Nach Thekoa. Morgen ist dort
großer Markt... Aber seit gestern habe ich nichts mehr gegessen.»
«Bist du allein?»
«Mehr als allein... Mein Sohn hat
mich verjagt...» Seine greisenhafte Stimme hat wirklich einen herzzerreißenden
Klang.
220
Barmherzigkeit glauben kannst.»
«Und an die seines Messias. Aber
mein Sohn wird keinen Messias finden, er kann den Messias nicht finden, da er
ihn so sehr haßt, daß er sogar seinen Vater haßt, weil er ihn liebt.»
«Hat er dich deshalb verjagt?»
«Deshalb, und um nicht die
Freundschaft einiger Leute zu verlieren, die den Messias verfolgen. Er hat
ihnen beweisen wollen, daß sein Haß den ihren übertrifft und ihn selbst die
Stimme des Blutes überhören läßt.»
«Schrecklich!» sagen alle.
«Es wäre schlimmer, wenn ich
dieselben Gedanken hätte wie mein Sohn», sagt der kleine Alte heftig.
«Aber wer ist er? Wenn ich recht
verstanden habe, muß er einer sein, der Macht und Einfluß hat...» sagt Thomas.
«Mann, es gibt keinen Vater, der
den Namen seines schuldigen Sohnes nennt, damit man ihn verachtet. Ich muß
sagen, daß ich Hunger leide und friere, ich, der ich durch viel Arbeit den
Wohlstand des Hauses vermehrt habe, um meinen Sohn glücklich zu machen. Mehr
aber nicht. Denke, daß ich ein Judäer bin, wie auch er ein Judäer ist; daß wir
also von gleicher Rasse, aber von verschiedener Gesinnung sind. Der Rest ist
unwichtig.»
«Und bittest du Gott um nichts,
du, der du ein Gerechter bist?» fragt Jesus sanft.
«Daß er das Herz meines Kindes
rühre und es an das glauben lasse, was ich glaube.»
«Aber für dich, für dich selbst,
bittest du um nichts?»
«Ich möchte dem begegnen, der für
mich der Sohn Gottes ist. Ich möchte ihm noch huldigen und dann sterben.»
«Aber wenn du stirbst, wirst du
ihn nicht mehr sehen. Du wirst im Limbus sein ...»
«Für kurze Zeit. Du bist ein
Rabbi, nicht wahr? Ich sehe nur sehr wenig... Das Alter... die vielen Tränen,
und auch der Hunger... Aber ich sehe die Quasten deines Gürtels... Wenn du ein
guter Rabbi bist, und es scheint mir so, dann mußt auch du fühlen, daß die
Zeit gekommen ist. Die Zeit, die Isaias vorausgesagt hat, meine ich. Und die
Stunde muß nahe sein, in der das Lamm alle Sünden der Welt auf sich nehmen
wird; in der es all unsere Sünden und Schmerzen tragen und daher durchbohrt
und geopfert werden wird, damit wir geheilt werden und mit dem Ewigen in
Frieden seien. Und dann wird es auch für die Seelen Frieden geben... Ich hoffe
es im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes.»
«Hast du den Meister noch nie
gesehen?»
«Nein. Ich habe ihn an den Festen
im Tempel sprechen gehört. Aber ich bin klein von Gestalt und noch kleiner
durch das Alter, und ich sehe auch
221
wenig, wie ich schon gesagt habe.
Wenn ich daher in einer Menschenmenge bin, sehe ich wenig wegen meiner
Vordermänner, und wenn ich weit weg stehe, sehe ich nichts wegen der
Entfernung. Oh, ich würde ihn gern sehen, wenigstens einmal!»
«Du wirst ihn sehen, Väterchen;
Gott wird es dir gewähren. Weißt du schon, wohin du in Thekoa gehen kannst?»
«Nein. Ich werde in einem
Säulengang oder unter einem Torbogen bleiben. Ich bin schon daran gewöhnt.»
«Komm mit mir. Ich kenne einen
guten Israeliten. Er wird dich aufnehmen im Namen Jesu, des Meisters von
Galiläa.»
«Auch du stammst aus Galiläa. Man
erkennt es an deiner Aussprache.»
«Ja... Bist du müde? Aber wir
sind ja schon bei den ersten Häusern. Bald wirst du dich stärken und ausruhen
können.»
Jesus neigt sich, um Petrus etwas
zu sagen, und Petrus entfernt sich und teilt den anderen die Worte des
Meisters mit. Ich verstehe sie nicht. Dann geht er mit den Söhnen des Alphäus
und Johannes voraus in die Stadt. Jesus folgt ihm mit den anderen und paßt
seinen Schritt dem des armen Alten an, der nicht mehr redet und so erschöpft
ist, daß er schließlich mit Andreas und Matthäus zurückbleibt.
Die Stadt scheint verlassen zu
sein. Es ist Mittag und viele sind in den Häusern, um Mahlzeit zu halten. Nach
wenigen Metern erscheint Petrus: «Alles in Ordnung, Herr. Simon nimmt ihn auf,
weil du ihn bringst, und er dankt dir dafür, daß du an ihn gedacht hast.»
«Preisen wir den Herrn! Es gibt
doch noch Gerechte in Israel. Dieser Alte ist einer von ihnen, und Simon ein
anderer. Ja, es gibt immer noch Gute, Barmherzige, Gott Ergebene. Und das
entschädigt mich für so manche Bitterkeiten und läßt mich hoffen, daß die
göttliche Gerechtigkeit um dieser Guten willen weniger streng sein wird.»
«Aber... daß ein Sohn den Vater
vertreiben kann, um nicht die Freundschaft einiger mächtiger Pharisäer zu
verlieren!»
«So weit kann der Haß auf dich
führen! Ich bin empört!» sagt Philippus.
«Oh, ihr werdet noch viel mehr
erleben!», entgegnet Jesus.
«Noch mehr? Was gibt es denn
Schlimmeres, als daß ein Vater verjagt wird, nur weil er dich nicht haßt?
Ungeheuerlich ist die Sünde dieses Menschen... !»
«Noch viel ungeheuerlicher wird
die Sünde des Volkes gegen seinen Gott sein... Aber warten wir auf den
Alten...»
«Wer wird wohl dieser Sohn sein?»
«Ein Pharisäer!»
«Einer vom Hohen Rat!»
«Ein Rabbi!» Die Ansichten gehen
auseinander.
«Ein Unglücksmensch. Forscht
nicht nach. Heute hat er seinen Vater
222
geschlagen. Morgen wird er mich
schlagen. Ihr seht, daß die Sünde des Judas, der wie ein ungezogener Sohn
fortgelaufen ist, nichts ist im Vergleich dazu. Und dennoch bete ich für
diesen undankbaren Sohn, für diesen Hebräer, der Gott beleidigt, auf daß er
sich besinne. Tut das gleiche... Komm, Vater. Wie heißt du?»
«Heli-Anna. Ich bin nie glücklich
gewesen. Der Vater ist mir gestorben, bevor ich zur Welt gekommen bin, und die
Mutter starb bei meiner Geburt. Die Mutter meiner Mutter, die mich aufgezogen
hat, hat mir die beiden Namen des Vaters und der Mutter zusammen gegeben.»
«Wahrlich, du bist ein Heli,
Mann, und dein Sohn gleicht jenem Pinehas», sagt Philippus, der sich nicht
beruhigen kann wegen einer solchen Sünde.
«Gott verhüte das, Mann! Pinehas
starb als Sünder, und er starb, als die Bundeslade geraubt wurde. Dies wäre
ein großes Unglück für seine Seele und für ganz Israel», antwortet der kleine
Mann.
«Höre, dieses Haus ist mir
freundlich gesinnt, und was ich vom Hausherrn erbitte, erhalte ich. Es gehört
einem gewissen Simon, einem Gerechten vor Gott und den Menschen. Er wird dich
aus Liebe zu mir aufnehmen, wenn dir das Haus recht ist», sagt Jesus, bevor er
an die Tür klopft.
«Könnte ich denn wählerisch sein?
Ich werde die Segnungen des Himmels auf den herabrufen, der mir in seiner
Barmherzigkeit Brot gibt und Unterkunft gewährt. Aber ich möchte arbeiten. Es
ist keine Schande zu dienen. Eine Schande ist es nur, zu sündigen ...»
«Wir werden es Simon sagen»,
versichert Jesus und betrachtet mit einem mitleidigen Lächeln das alte
Väterchen, das durch Entbehrung und seelischen Schmerz zu einem Nichts
geworden ist.
Die Tür öffnet sich: «Tritt ein,
Meister. Der Friede sei mit dir und mit deinen Begleitern. Wo ist denn dieser
mein Bruder, den du mir bringst? Ich möchte ihm den Friedenskuß geben und ihn
willkommen heißen», sagt ein Mann von etwa fünfzig Jahren.
«Sieh, da ist er. Der Herr möge
dir alles vergelten.»
«Das geschieht schon, denn ich
habe dich zu Gast. Wer dich aufnimmt, hat Gott in seinem Haus. Ich habe dich
nicht erwartet und kann dich daher nicht so ehren, wie ich es gerne möchte.
Aber ich höre, daß du in einigen Tagen wiederzukommen beabsichtigst. Dann
werde ich bereit sein und dich aufnehmen, wie es sich geziemt.»
Sie sind nun in einem Raum, in
dem dampfende Becken für die Waschungen bereitstehen. Der alte Mann steht
verschüchtert an der Tür, doch der Hausherr nimmt ihn bei der Hand, führt ihn
zu einem Stuhl, will ihm mit eigener Hand die Schuhe ausziehen, ihn bedienen
wie einen König und ihm dann neue Sandalen anlegen. Der Alte wehrt sich:
«Warum? Aber warum? Ich bin gekommen, um zu dienen, und du bedienst mich? Das
ist nicht recht.»
223
«Es ist recht, lieber Mann. Ich
kann dem Rabbi nicht nachfolgen, da das Haus meine Gegenwart erfordert. Aber
als letzter Jünger des heiligen Meisters befleißige ich mich, seine Worte in
die Tat umzusetzen.»
«Du kennst ihn also gut.
Wahrlich, du kennst ihn, denn du bist gut. Viele sind in Israel, die ihn
kennen. Aber wie? Mit ihren Augen und mit ihrem Haß. Daher kennen sie ihn
nicht wirklich. Eine Frau kennt man nur dann, wenn einem nichts mehr von ihr
unbekannt ist und man sie ganz besitzt. So ist es mit Jesus von Nazareth,
dessen Antlitz ich nie gesehen habe, den ich aber besser als viele andere
kenne, da ich glaube, daß in ihm die Weisheit ist. Du aber kennst ihn
wirklich, sein Aussehen und seine Lehre.»
Der Mann schaut Jesus an, sagt
aber nichts.
Der Alte fährt fort: «Ich habe zu
diesem Rabbi gesagt, daß ich arbeiten will ...»
«Ja, ja. Wir werden schon eine
Arbeit für dich finden. Jetzt aber komm zu Tisch. Meister, deine Jünger werden
gleich hier sein. Wollen wir uns schon zu Tisch begeben, oder willst du lieber
auf sie warten?»
«Ich möchte auf sie warten. Aber
wenn du noch zu tun hast...»
«Oh, Meister, du weißt, daß es
für mich eine Freude ist, auch den geringsten deiner Wünsche zu erfüllen.»
Dem alten Männlein kommt in
diesem Augenblick zum ersten Mal ein Verdacht über die Identität des Mannes,
der ihm auf dem Weg beigestanden hat. Er schaut ihn an, schaut ihn wieder an
und schaut dann seine Begleiter an... Aufmerksam prüfend geht er um sie herum.
Da treten die Söhne des Alphäus mit Johannes ein. Jesus ruft ihre Namen.
«Oh! Großer Gott! Ja, aber...
dann bist du es ja selbst!» ruft der Alte aus und wirft sich huldigend nieder.
Sein Staunen ist nicht geringer
als das der anderen. Diese Art, den Meister zu erkennen, ist so seltsam, daß
Petrus ihn fragt: «Was ist denn so besonderes an diesen in Israel so häufigen
Namen, daß du an ihnen erkannt hast, den Messias vor dir zu haben?»
«Ich kenne Judas. Er kommt immer
zu meinem Sohn und ...» Der Alte unterbricht sich plötzlich ganz verlegen,
weil er seinen Sohn genannt hat.
«Aber ich habe dich niemals
gesehen, lieber Mann», sagt Thaddäus und stellt sich etwas gebeugt vor ihn
hin, um ihm ins Gesicht zu sehen.
«Auch ich kenne dich nicht. Aber
ein Jünger des Christus mit Namen Judas kommt oft zu meinem Sohn, und ich habe
sie reden hören von einem Johannes, von einem Jakobus, von einem Simon, dem
Freund des Lazarus von Bethanien, und von vielen anderen Dingen... Drei Namen
zu hören von denen, die bekannt sind als die der engsten Freunde des Meisters!
Und er selbst, der so gut ist! ... Ich habe begriffen! Aber wo ist der andere
Judas?»
«Er ist nicht da. Aber es ist
wahr. Du hast recht. Ich bin es. Der Herr ist
224
gut, Vater. Du hast danach
verlangt, mich zu sehen, und du hast mich gesehen. Preisen wir die
Barmherzigkeit Gottes... Entferne dich nicht, Heli-Anna. Du warst an meiner
Seite, als ich für dich ein Wanderer war und nichts weiter. Warum willst du
dich jetzt von mir entfernen, da du weißt, daß ich das Ziel bin? Du weißt
nicht, wie sehr dein Herz mich getröstet hat! Du kannst es nicht wissen. Ich
bin es, der mehr empfangen hat, nicht du... Wenn Dreiviertel von Israel und
noch mehr mich hassen bis zum Verbrechen, wenn die Schwachen meinen Weg
verlassen, wenn die Trübsal der Undankbarkeit, der Mißgunst und der
Verleumdung mich von allen Seiten umgeben, wenn ich keine Erquickung finden
kann in dem Gedanken, daß mein Opfer das Heil Israels sein wird... dann ist
die Begegnung mit einem wie du es bist, o Vater, ein Ausgleich für meinen
Schmerz... Du weißt es nicht... Niemand kennt die immer größere Traurigkeit
des Menschensohnes. Ich dürste nach Liebe... Und gar zu viele Herzen sind
ausgetrocknete Quellen, denen ich mich vergeblich nähere... Aber gehen wir...»
Den Alten an seiner Seite,
betritt er den Raum, in dem die schon gedeckten Tische stehen...
575. JESUS SPRICHT IN THEKOA
Der hintere Teil des Hauses des
Simon ist nichts als ein großer Platz, dessen Seiten die beiden Flügel des
U-förmigen Hauses bilden. Ich spreche von einem Platz, denn an Markttagen wie
dem heutigen, wird an drei Stellen das stabile Gitter geöffnet, das den Hof
von einem öffentlichen, noch viel größeren Platz abtrennt. Dann findet eine
Invasion von Kaufleuten statt, die ihre Schaukästen in den Säulenhallen an den
drei Seiten des Hauses aufstellen, deren finanziellen Nutzen ich nun erkenne;
denn Simon geht als guter Hebräer zu jedem Kaufmann und verlangt von ihm eine
Abgabe für die Benützung des Platzes. Es zieht den kleinen Alten hinter sich
her, der nun ein anständiges Gewand anhat, und stellt ihn allen mit den Worten
vor: «Seht, ab heute werdet ihr diesem hier die festgesetzte Summe zahlen.»
Nachdem er die Runde der Säulenhallen gemacht hat, sagt er zu Heli-Anna: «Das
ist also deine Arbeit. Hier, drinnen in der Herberge und in den Stallungen.
Sie ist weder schwierig noch mühsam, zeigt dir jedoch, wie sehr ich dich
schätze. Ich habe einen nach dem anderen von meinen drei Gehilfen entlassen
müssen, weil sie nicht ehrlich waren. Aber du gefällst mir. Außerdem hat er
dich hergebracht, und er kennt die Herzen. Gehen wir 7U ihm und sagen wir ihm,
daß jetzt der Zeitpunkt günstig ist, wenn er sprechen will.» Dann entfernt er
sich, gefolgt von dem alten Männlein...
225
Immer mehr Volk füllt den Platz,
und der Lärm wird immer größer. Frauen, die ihre Einkäufe machen; Viehhändler;
Käufer von Pflugochsen und anderen Tieren; Bauern, gebeugt unter der Last
ihrer Obstkörbe, die ihre Ware anpreisen; Messerschmiede, die alles, was
schneidet, auf Matten ausgebreitet haben und mit höllischem Lärm Beile in
Holzklötze schlagen, um die Festigkeit der Schneide zu beweisen, oder mit
einem Hammer auf Sicheln klopfen, die an Gestellen aufgehängt sind, um die
Härte der Klinge zu demonstrieren, oder Pflugscharen hochheben und sie dann
mit beiden Händen in die Erde schlagen, um zu zeigen, daß ihren Pflugscharen
kein Erdreich widersteht; Kupferschmiede mit ihren Kannen und Eimern, Pfannen
und Lampen, die einen betäubenden Lärm erzeugen, indem sie an das klingende
Metall schlagen, um zu zeigen, wie massiv es ist, und aus voller Kehle
schreiend ihre Laternen und ein- und mehrflammigen Leuchter für die kommenden
Feste im Kislew anpreisen. Und alles übertönt das monotone, schrille Geschrei
der Bettler, ähnlich dem Gekreisch der Nachteulen, die sich an den
strategischen Punkten des Marktes postiert haben.
Jesus kommt zusammen mit Petrus
und Jakobus des Zebedäus aus dem Haus. Die anderen sehe ich nicht. Ich glaube,
daß sie durch die Stadt gehen und den Meister ankündigen, denn ich sehe, daß
das Volk ihn sofort erkennt und viele herbeieilen, während Lärm und Geschrei
langsam abnehmen. Jesus läßt einigen Bettlern Almosen geben und bleibt dann
stehen, um zwei Männer zu begrüßen, die mit ihren Dienern nach den Einkäufen
gerade den Marktplatz verlassen wollten. Jetzt bleiben auch sie stehen, um den
Meister zu hören. Jesus beginnt zu sprechen und macht das, was er sieht, zum
Gegenstand seiner Rede:
«Alles zu seiner Zeit, alles an
seinem Platz. Man hält keinen Markt am Sabbat und treibt keinen Handel in der
Synagoge. Auch arbeitet man nicht in der Nacht, sondern solange es noch Tag
ist. Nur der Sünder handelt auch am Tag des Herrn, entheiligt die zum Gebet
bestimmten Orte durch menschliche Geschäfte oder geht in der Nacht aus, um
Diebstahl und Verbrechen zu begehen. Wer ehrlich handelt, bemüht sich auch,
seinen Käufern die Güte seiner Lebensmittel oder die Haltbarkeit seiner
Werkzeuge zu beweisen; und der Käufer geht zufrieden fort mit dem guten Kauf.
Wenn es aber einem Kaufmann mit viel List gelingt, den Käufer zu betrügen, und
es sich herausstellt, daß die Werkzeuge oder Lebensmittel nicht gut sind oder
nicht dem bezahlten Preis entsprechen, wird sich dann der Käufer in Zukunft
nicht schützen, indem er zumindest nichts mehr bei diesem Händler kauft oder
gar zum Richter geht, um sein Geld zurückzuerhalten? So würde es geschehen,
und es wäre recht.
Und doch, sehen wir nicht in
Israel, wie das Volk getäuscht wird von jenen, die wertlose Ware als gute
verkaufen und den anschwärzen, der wirklich gute Ware liefert, da er der
Gerechte des Herrn ist? Ja, wir alle
226
sehen es. Gestern abend sind
viele von euch gekommen, um von den Kniffen der schlechten Kaufleute zu
berichten, und ich habe ihnen gesagt: "Laßt sie nur machen. Seid standhaft,
und Gott wird vorsorgen." Wen beleidigen die, die schlechte Ware verkaufen?
Euch? Mich? Nein, Gott selbst. Schuldig ist nicht der Betrogene, sondern der
Betrüger. Es ist nicht so sehr eine Sünde gegen den Menschen als vielmehr
gegen Gott, wenn jemand versucht, schlechte Ware zu verkaufen, damit der
Käufer die gute Ware nicht bekommt. Ich sage nicht: Lehnt euch auf. Rächt
euch. Solche Worte kommen nicht über meine Lippen. Ich sage nur: Hört auf den
wahren Klang der Worte, beobachtet gut, in hellem Licht, die Handlungen
dessen, der spricht, kostet den ersten Schluck, den ersten Bissen, der euch
angeboten wird, und wenn ihr einen rauhen Klang vernehmt, wenn euch das
Handeln des Anderen dunkel erscheint, wenn der Geschmack, der in eurem Herzen
zurückbleibt, verwirrend wirkt, dann weist, was euch angeboten wird, als
schlechte Ware ab. Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe sind niemals rauh oder
verwirrend und lieben nicht die Dunkelheit.
Ich weiß, daß mir meine Jünger
vorausgegangen sind, und ich werde euch zwei meiner Apostel hier zurücklassen.
Zudem habe ich gestern abend, mehr durch meine Werke als durch meine Worte,
Zeugnis davon gegeben, woher und mit welcher Sendung ich komme. Es sind daher
keine langen Reden erforderlich, um euch auf meinen Weg zu führen. Denkt nach
und bleibt immer auf diesem Weg. Ahmt die Gründer dieser Stadt am Rand der
trockenen Wüste nach. Bedenkt immer, daß außerhalb meiner Lehre die
Trockenheit der Wüste herrscht, während in meiner Lehre die Quellen des Lebens
fließen. Was auch immer vorfallen mag, laßt euch nicht verwirren und nehmt
keinen Anstoß daran. Erinnert euch der Worte des Herrn bei Isaias. Meine Hand
wird nie zu kurz sein, um denen Wohltaten zu erweisen, die auf meinen Wegen
wandeln, so wie die Hand des Allerhöchsten nie zu kurz sein wird, um jene zu
strafen, die mich beleidigen und mir Schmerz zufügen; denn ich bin gekommen
und habe nur wenige gefunden, die mich aufgenommen haben; ich habe gerufen,
aber nur wenige haben mir geantwortet. Und so wie jeder, der mich ehrt, auch
den Vater ehrt, der mich gesandt hat, so verachtet jeder, der mich verachtet,
auch den, der mich gesandt hat. Und nach dem alten Gesetz der Vergeltung wird
dem, der mich verstößt, Verstoßung zuteil werden.
Aber ihr, die ihr mein Wort
aufgenommen habt: fürchtet nicht die Schmähungen der Menschen, zittert nicht
vor ihren Beschimpfungen, die zuerst mich und dann euch treffen werden, weil
ihr mich liebt. Obwohl es scheinen wird, daß man mich verfolgt und schlägt,
werde ich euch trösten und beschützen. Habt keine Furcht, habt keine Furcht
vor dem sterblichen Menschen, der heute ist und morgen nur noch eine
Erinnerung und Staub sein wird. Fürchtet vielmehr den Herrn. Fürchtet ihn mit
heiliger Liebe, nicht mit Angst. Fürchtet, ihn nicht so zu lieben, wie es
seiner
227
unendlichen Liebe gebührt. Ich
sage euch nicht: Tut dies oder jenes. Was zu tun ist, wißt ihr. Ich sage euch:
Liebt. Liebt Gott und seinen Gesalbten. Liebt euren Nächsten, wie ich es euch
gelehrt habe, und ihr werdet alles richtig machen, wenn ihr zu lieben wißt.
Ich segne euch, ihr Bürger von
Thekoa, der Stadt am Rand der Wüste, die aber eine Oase des Friedens für den
verfolgten Menschensohn ist. Mein Segen sei in euren Herzen und in euren
Häusern, jetzt und immer.»
«Bleibe, Meister! Bleibe bei uns.
Die Wüste war immer gut für die Heiligen Israels!»
«Ich kann nicht. Ich habe noch
andere, die auf mich warten. Ihr seid in mir, und ich bin in euch, weil wir
uns lieben.»
Jesus bahnt sich nur mühsam einen
Weg durch die Menge, die ihm folgt und ihre Geschäfte und alles andere
vergißt. Geheilte Kranke preisen ihn immer wieder, getröstete Herzen danken
ihm, Bettler grüßen ihn: «Du lebendiges Manna Gottes... !» Das alte Männlein
geht an seiner Seite und bleibt dort, bis sie den Stadtrand erreicht haben.
Erst als Jesus Matthäus und Philippus, die in Thekoa bleiben, segnet,
entschließt er sich, seinen Retter zu verlassen, und er tut es mit Küssen auf
die nackten Füße des Meisters und unter Tränen und Worten der Dankbarkeit.
«Erhebe dich Heli-Anna, daß ich
dich küsse. Ein Kuß des Sohnes für den Vater, und er möge dir alles ersetzen.
Auf dich wende ich die Worte des Propheten an: "Du, der du weinst, wirst
nimmer weinen, da der Barmherzige Erbarmen mit dir gehabt hat." Der Herr wird
dir spärliches Brot und wenig Wasser geben. Mehr kann ich nicht für dich tun.
Denn du bist nur von einem verjagt worden, ich dagegen werde von den Mächtigen
des ganzen Volkes gejagt, und es ist schon viel, wenn ich Nahrung und
Unterkunft für mich und meine Apostel finde. Aber deine Augen haben den
gesehen, den du ersehnt hast, und deine Ohren haben meine Worte vernommen, so
wie dein Herz meine Liebe fühlen darf. Geh hin in Frieden, denn du bist ein
Märtyrer der Gerechtigkeit, ein Vorläufer all derer, die um meinetwillen
Verfolgung erleiden werden. Weine nicht, Vater!»Und er küßt ihn auf sein
weißes Haupt.
Der Alte erwidert den Kuß Jesus
auf die Wange und flüstert ihm ins Ohr: «Traue dem anderen Judas nicht, mein
Herr. Ich will meine Zunge nicht beschmutzen... aber traue ihm nicht! Er kommt
nicht mit guten Absichten zu meinem Sohn...»
«Ja. Aber denke nicht mehr an die
Vergangenheit. Bald wird alles beendet sein, und niemand wird mir mehr schaden
können. Leb wohl, Heli-Anna. Der Herr sei mit dir.»
Sie trennen sich...
«Meister, was hat der Alte dir so
leise ins Ohr gesagt?» fragt Petrus, der nur mit Mühe an der Seite Jesu geht,
denn Jesus macht große Schritte mit seinen langen Beinen, was der kleine
Petrus nicht kann.
228
«Armer Alter! Was soll er mir
sagen, was ich nicht schon wüßte», antwortet Jesus, um einer genaueren Antwort
auszuweichen.
«Er sprach wohl von seinem Sohn?
Hat er dir gesagt, wer er ist?»
«Nein, Petrus. Ich versichere es
dir. Er hat den Namen in seinem Herzen bewahrt.»
«Aber du kennst ihn?»
«Ich kenne ihn, aber ich werde
ihn dir nicht sagen.»
Es folgt ein langes Schweigen.
Dann rückt Petrus mit der erregten Frage und dem Bekenntnis heraus: «Aber
warum, wozu geht Iskariot in das Haus eines so schlechten Menschen, wie es der
Sohn des Heli-Anna ist? Ich habe keine Angst, Meister! Judas hat keine guten
Freunde. Er geht im Verborgenen dorthin und hat auch nicht die Kraft, dem
Bösen zu widerstehen. Ich habe Angst, Meister. Warum? Warum geht Judas
insgeheim zu diesem Menschen?» Das Gesicht des Petrus ist ein einziges, tief
bekümmertes Fragezeichen.
Jesus schaut ihn an und antwortet
nicht. Was sollte er auch antworten? Was sollte er sagen, ohne zu lügen oder
den treuen Petrus gegen den untreuen Judas aufzubringen. Er zieht es vor,
Petrus reden zu lassen.
«Antwortest du mir nicht? Seit
gestern, seit der Alte glaubte, unter uns Judas zu erkennen, habe ich keinen
Frieden mehr. Es ist wie an dem Tag, als du mit der Frau des Sadduzäers
gesprochen hast. Erinnerst du dich daran? Erinnerst du dich an meinen
Verdacht?»
«Ich erinnere mich. Und erinnerst
du dich an meine Worte von damals?»
«Ja, Meister.»
«Mehr brauche ich nicht zu sagen,
Petrus. Die Handlungen der Menschen erscheinen uns oft so, wie sie in
Wirklichkeit nicht sind. Aber ich in glücklich, für den Alten gesorgt zu
haben. Es ist, als ob Ananias zurückgekehrt wäre. Und wahrlich, wenn Simon von
Thekoa ihn nicht aufgenommen hätte, dann hätte ich ihn zum Haus des Salomon
geführt, um dort einen Vater zu haben, der uns immer erwartet. Aber für Heli
ist es besser so. Simon ist gut und hat viele Enkel. Heli liebt Kinder... und
Kinder lassen viele schmerzliche Dinge vergessen ...»
Wie er es immer versteht, die
Aufmerksamkeit des Gesprächspartners auf andere Themen zu lenken, wenn er
keine geeignete Antwort auf gefährliche Fragen findet, hat Jesus Petrus von
seinen Gedanken abgelenkt. Nun spricht er weiter von den Kindern, die ihnen da
und dort begegnet sind, bis er schließlich Margziam erwähnt, der vielleicht zu
dieser Stunde nach einem Fischfang auf dem schönen See von Genesareth die
Netze einzieht.
Und Petrus, der nun in Gedanken
weit entfernt von Heli und Judas ist, lächelt und fragt: «Aber nach dem
Passahfest gehen wir dorthin, nicht wahr? Es ist so schön. Oh, viel schöner
als hier. Wir Galiläer sind für die
229
Leute in Judäa Sünder... Aber
hier zu leben! Oh, ewige Barmherzigkeit! Wenn wir gestraft werden sollen, dies
hier ist gewiß keine Belohnung.»
Jesus ruft die anderen, die
zurückgeblieben sind, und geht dann mit ihnen auf dem von der Dezembersonne
erwärmten Weg weiter.
576. IN JERICHO
Jesus wird schon erwartet. Viel
Volk wartet auf den Feldern vor der Stadt. Und als ein Wachtposten von einem
hohen Nußbaum aus schreit: «Da kommt das Lamm Gottes!» erhebt sich die Menge
und eilt Jesus entgegen, der im leichten Dunst der Abenddämmerung
einherschreitet.
«Meister! Meister! Wir haben
schon so lange auf dich gewartet! Unsere Kranken! Unsere Kinder! Dein Segen!
Die Alten warten auf dich, um in Frieden entschlafen zu können. Wenn du uns
segnest, Herr, dann werden wir vor jedem Unglück bewahrt sein.» Alle reden sie
gleichzeitig, während Jesus mehrere Male die Hand zum Segen erhebt und immer
wieder sagt: «Friede! Friede! Der Friede sei mit euch allen!» Die Apostel, die
noch bei ihm sind, werden gleich in Anspruch genommen, von Jesus getrennt und
verschwinden in der Menge, und die Leute, die sich liebevoll beklagen, daß sie
so lange auf ihn warten mußten, lassen Jesus kaum vorankommen.
Der arme Zachäus kämpft
verzweifelt, um zu Jesus vorzudringen, um von ihm gehört oder wenigstens
gesehen zu werden. Aber da er so klein und weder sehr gewandt noch stark ist,
wird er von immer neu hinzukommendem Volk zurückgedrängt. Seine Rufe verlieren
sich im allgemeinen Geschrei, und er geht in dem Durcheinander von sich
bewegenden Köpfen, Armen und Kleidern unter. Vergeblich fleht und schimpft er
auch hin und wieder, aber niemand hat Mitleid mit ihm. Die Menge ist immer
egoistisch, wenn es etwas Erfreuliches gibt, und geht dann oft grausam mit den
Schwächeren um. Erschöpft und überzeugt von der Nutzlosigkeit seiner
Anstrengungen, verliert der arme Zachäus schließlich seinen Kampfeswillen und
gibt betrübt auf. Wie sollte er auch Erfolg haben, da auf allen Wegen neues
Volk herbeiströmt und die Wege Bächen gleichen, die sich alle in einen
einzigen Fluß ergießen: die Straße, auf der Jesus dahinschreitet. Jeder neue
Zustrom, jede neue Welle läßt die Menge noch dichter werden, so daß es schon
fast gefährlich ist, mitten in diesem Gedränge zu stecken, und der arme
Zachäus wird noch weiter nach hinten gestoßen.
Thaddäus sieht ihn und versucht
sich durchzukämpfen, um ihn aus dem Winkel der Straße zu befreien, in den ihn
die Menge gedrückt hat. Aber er wird von den Menschen, die von hinten drängen,
mitgerissen, und
230
der Versuch mißglückt. Thomas
versucht es ebenfalls und macht von seiner kräftigen Gestalt Gebrauch, benützt
seine Ellbogen und brüllt mit seiner mächtigen Stimme: «Macht Platz... !» Aber
es ist alles zwecklos. Das Volk bildet eine Mauer, die fest wie ein Felsen und
gleichzeitig geschmeidig wie Gummi ist. Sie gibt nach, aber sie bricht nicht.
Es ist keine Umarmung mehr, sondern eine unlösliche Kette. Und auch Thomas
gibt auf.
Zachäus verliert nun jegliche
Hoffnung, denn Didymus ist der letzte der Apostel, der von dem Strom
mitgerissen wird. Endlich ist dieser vorüber... Stoffetzen, Quasten, Fransen,
Haarnadeln von Frauen und Kleiderschnallen bleiben am Boden liegen und zeugen
von der Gewalt des Kampfes, der stattgefunden hat. Auch eine ganz zertretene
Kindersandale scheint traurig auf den kleinen Fuß zu warten, der sie verloren
hat... Zachäus folgt ganz am Ende, traurig wie das Schuhchen, das die Menge
seinem kleinen Eigentümer entrissen hat.
Jesus sieht man nicht einmal
mehr. Eine Biegung der Straße verbirgt ihn vor den Augen des armen Zachäus...
Doch als er als letzter den Platz erreicht, wo früher seine Zollbank stand,
sieht er, daß das Volk schreiend, betend und flehend stehengeblieben ist. Und
er sieht auch, daß Jesus, der auf die Stufen am Eingang eines Hauses gestiegen
ist, mit Kopf und Armen verneinende Gebärden macht und etwas sagt, was sich im
Getöse verliert. Schließlich sieht er, daß Jesus mit Mühe von seinem Piedestal
heruntersteigt, weitergeht und sich in Richtung... ja, in Richtung seines
Hauses wendet. Zachäus nimmt alle seine Kräfte zusammen. Das Volk ist
zahlreich, aber der Platz ist groß, und daher sind die Leute hier nicht so
dicht gedrängt und man kann sich durchzwängen wie durch eine nicht allzu
kompakte Hecke, wenn man den Mut dazu hat und keine Verletzungen fürchtet.
Zachäus ist ein Keil, ein Katapult, ein Widder geworden. Er stößt, pufft,
drängt, verteilt und erhält Faustschläge ins Gesicht, Ellbogenstöße in den
Magen und Fußtritte ans Schienbein. Doch er schafft sich Platz und kommt
voran... Und schon ist er auf der anderen Seite... Hier aber kommt er nicht
weiter und stößt wieder auf eine undurchdringliche Mauer. Nur wenige Schritte
trennen ihn noch von Jesus, der schon vor seinem Haus steht. Doch wenn Wüsten
und Flüsse ihn von ihm trennen würden, könnte er mehr Hoffnung haben, ihn zu
erreichen. Er regt sich auf, schimpft und drängt: «Ich muß zu meinem Haus!
Laßt mich durch! Seht ihr nicht, daß er zu mir kommen will?»
Das hätte er nicht sagen dürfen!
Das erweckt in den Leuten wieder den Wunsch, den Meister in den eigenen
Häusern aufnehmen zu können. Der eine macht sich lustig über den armen
Zachäus, der andere gibt ihm eine böse Antwort. Niemand hat Mitleid mit ihm.
Sie fangen vielmehr an, noch mehr zu schreien und zu toben, damit der Meister
ihn nicht hört und sieht. Einige rufen: «Du hast schon zuviel von ihm gehabt,
du alter Sünder!»
231
Ich glaube, daß bei so viel Unmut
auch die Erinnerung an seine frühere Steuereintreibung und Erpressung eine
Rolle spielt. Auch der mehr zum Übernatürlichen neigende Mensch bewahrt in
sich fast immer ein Eckchen, in dem die Liebe zum Geld und die Erinnerung an
den, der ihm dieses Geld abgenommen hat, sehr lebendig ist...
Aber die Zeit der Prüfung ist nun
für Zachäus vorüber, und Jesus belohnt ihn für seine Beständigkeit. Er ruft
ihn mit der ganzen Kraft seiner Stimme: «Zachäus, komm zu mir! Laßt ihn durch,
denn ich will in sein Haus einkehren.»
Der Menge bleibt nichts anderes
übrig, als zu gehorchen. Ein Gang öffnet sich, und Zachäus tritt vor, rot vor
Anstrengung und vor Freude. Er versucht, seine zerzausten Haare, das
aufgeknöpfte Gewand und den Gürtel, dessen Quasten nach hinten gerutscht sind,
in Ordnung zu bringen. Er sucht den Mantel... Wer weiß, wo der geblieben
ist... Macht nichts. Jetzt steht er vor Jesus und verbeugt sich ein wenig, um
ihn zu begrüßen. Mehr kann er nicht tun, denn es ist kaum Platz, um sich zu
verbeugen.
«Der Friede sei mit dir, Zachäus.
Komm, daß ich dir den Friedenskuß gebe. Du hast ihn wohl verdient», sagt Jesus
mit einem heiteren, jugendlichen Lächeln, das ihn wahrhaft jünger erscheinen
läßt.
«0 ja, Herr. Ich habe es wohl
verdient. Es ist so schwer, zu dir zu kommen, Herr», sagt Zachäus und reckt
sich so gut er kann, um die Hölle Jesu zu erreichen, der sich niederbeugt, um
ihn zu küssen; und dabei sieht man sein Gesicht, das aus einem Kratzer auf der
rechten Wange blutet und ein geschwollenes Auge von einem Ellbogenstoß
aufweist.
Jesus küßt ihn und sagt dann:
«Aber ich belohne dich nicht für diese Mühe, sondern für die anderen, geheimen
Mühen, die vielen unbekannt sind, die ich aber kenne. Du hast recht: Es ist
nicht leicht, zu mir zu kommen; und die Menge ist nicht das einzige und nicht
einmal das größte Hindernis auf dem Weg zu mir.
0 Volk, das du mich fast im
Triumph getragen hast, das größte und hartnäckigste Hindernis, das immer von
neuem auftaucht nach jedem Versuch, es zu zerbrechen und zu überwinden, ist
das eigene Ich. Ihr habt geglaubt, ich sähe nichts, aber ich habe alles
gesehen und alles bewertet. Und was habe ich gesehen? Ich habe den bekehrten
Sünder gesehen, einen, der früher hartherzig war und Bequemlichkeiten liebte,
der stolz, eitel, genußsüchtig und geizig war. Und ich habe gesehen, wie er
sich seines alten Ichs entäußert hat, auch in den kleineren Dingen, und wie er
seine Art und seine Vorlieben geändert hat, um zu seinem Retter zu eilen; wie
er, um bei mir zu sein, gekämpft, demütig gefleht, geduldig Hohn und Vorwürfe
ertragen, an seinem Körper die Schläge der Menge erlitten und auch in seinem
Herzen gelitten hat, da er sich auf den letzten Platz zurückgedrängt sah und
nicht einmal einen Blick von mir erhaschen
232
konnte. Und ich habe noch andere
Dinge in ihm gesehen, Dinge die auch ihr kennt, die ihr aber nicht
berücksichtigen wollt, obwohl sie euch Erleichterung verschafft haben.
Ihr werdet sagen: "Woher weißt du
das, da du doch nicht bei uns wohnst?" Ich antworte euch: Wie ich in den
Herzen der Menschen lese, so sind mir auch die Handlungen der Menschen nicht
unbekannt, und ich weiß gerecht zu sein und zu belohnen im richtigen
Verhältnis zu dem Weg, den einer zurücklegt, um zu mir gelangen; zu den Mühen,
die er auf sich genommen hat, um den Urwald zu roden, der seinen Geist
bedeckte, um ihn zu verschönern und alles zu entfernen, was nicht der Baum des
Lebens ist, um diesen zum König des eigenen Ichs zu machen und ihn zu seiner
Ehre mit den Pflanzen der Tugenden zu umgeben; zu dem Eifer, mit dem er
darüber gewacht hat, daß kein unreines Getier, kein kriechendes, verdorbenes,
schlüpfriges und müßiges Wesen – die verschiedenen bösen Leidenschaften – sich
ins Gebüsch einschleiche, sondern nur das seinen Geist bewohne, was gut ist
und Gott preist: nämlich die übernatürlichen Neigungen. Sie gleichen
Singvögeln oder sanften Lämmern, die bereit sind, sich zu opfern, die bereit
sind zum vollkommenen Lob aus Liebe zu Gott.
Und wie mir die Werke des
Zachäus, seine Gedanken und Mühen, nicht unbekannt sind, so ist mir auch nicht
unbekannt, daß in vielen Menschen dieser Stadt, die mir zugejubelt haben, mehr
eine menschliche als eine geistige Liebe herrscht. Wenn ihr mich in rechter
Weise lieben würdet, hättet ihr eurem Mitbürger Barmherzigkeit erwiesen. Ihr
hättet ihn nicht gedemütigt mit dem Hinweis auf die Vergangenheit; diese
Vergangenheit, die er vernichtet hat und an die Gott nicht mehr denkt, da er
auf die einmal gewährte Verzeihung nur dann zurückkommt, wenn der Mensch
wieder sündigt. Und er kommt darauf zurück, um ihn für die neue Sünde zu
richten, nicht wegen der bereits verziehenen. Ich sage euch nun – und ihr
sollt über meine Worte nachdenken bei euren nächtlichen Betrachtungen – daß
die wahre Liebe zu mir nicht in begeisterten Zurufen besteht, sondern im
Vollbringen dessen, was ich tue und was ich euch lehre, in der Übung der
gegenseitigen Liebe, der Demut und der Barmherzigkeit. Bedenkt, daß ihr alle
aus demselben Erdenschlamm gebildet seid, was euer irdisches Sein angeht, und
daß der Schlamm sich immer zum Sumpf hingezogen fühlt. Und wenn daher euer
Geist, der euch bisher die Kraft gegeben hat, euch über dem Sumpf zu halten,
noch keine Niederlage kennengelernt hat – und dies ist unmöglich, denn der
Mensch ist ein Sünder und nur Gott ist ohne Sünde – so könnte dieser euer
Geist schon morgen zahlreichere und schlimmere Niederlagen erleiden als die
des früheren Sünders, der in der Gnade wiedergeboren und durch sie nun
jugendlich und frisch geworden ist wie ein neugeborenes Kind. Denn er besitzt
eine Demut, die der Erinnerung an sein früheres sündhaftes Leben
233
entspringt, und außerdem den
festen Willen, in den ihm noch verbleibenden Jahren so viel Gutes zu tun, wie
man in einem ganzen langen, dem Guten gewidmeten Leben tun könnte, um in
vollem Maße alles Böse, das er getan hat, wiedergutzumachen.
Morgen werde ich wieder zu euch
sprechen. Für heute abend genügt es. Geht hin mit meiner Ermahnung und preist
Gott, der euch den Arzt geschickt hat, der eure unter dem Schleier geistiger
Gesundheit verborgene Sinnlichkeit beschneidet, die wie verborgene Krankheiten
unter dem Schleier scheinbarer Gesundheit am Leben zehren... Komm, Zachäus.»
«Ja, mein Herr. Ich habe nur noch
einen alten Diener, und öffne dir daher selbst meine Tür, und mit ihr mein
zutiefst gerührtes Herz. Oh! Wie sehr hat mich deine unendliche Güte bewegt!»
Er öffnet das Gartentor und führt
Jesus und die Apostel zum Haus durch den Garten, der zu einem Gemüsegarten
geworden ist. Auch im Haus ist kein Überfluß mehr zu sehen. Zachäus zündet
eine Lampe an und ruft den Diener.
«Sieh, der Meister ist da. Er und
die Seinen werden hier schlafen und das Abendessen mit uns einnehmen. Hast du
alles vorbereitet, wie ich es dir gesagt habe?»
«Ja. Abgesehen vom Gemüse, das
ich jetzt in das kochende Wasser werfen werde, ist alles bereit.»
«Dann wechsle dein Gewand und
sage denen, die du kennst, daß er hier ist und sie kommen sollen.»
«Ich gehe, Herr. Gepriesen seist
du, Meister, der du mich glücklich sterben läßt!» Und er geht hinaus.
«Es ist der Diener meines Vaters,
der bei mir geblieben ist. Die anderen habe ich alle entlassen. Er aber ist
mir teuer, denn er war die Stimme, die niemals schwieg, wenn ich sündigte. Und
dafür habe ich ihn oft mißhandelt. Jetzt ist er der, den ich nach dir am
meisten liebe... Kommt, Freunde. Dort ist Feuer und alles, was euren müden und
erfrorenen Gliedern Erquickung schenken kann. Du, Meister, kommst in mein
eigenes Zimmer...» Und er führt ihn in einen Raum am Ende des Korridors.
Er tritt ein, schließt die Tür,
gießt dampfendes Wasser in ein Becken, löst die Sandalen von Jesu Füßen und
bedient ihn. Bevor er ihm die Sandalen wieder anlegt, küßt er den bloßen Fuß
und legt ihn auf seinen Hals mit den Worten: «So! Zertritt den Rest des alten
Zachäus!» Dann erhebt er sich und schaut Jesus mit einem zitternden Lächeln
auf den Lippen, einem demütigen Lächeln, und Tränen in den Augen an. Er weist
mit der Hand auf die Umgebung und sagt: «Hier drinnen habe ich so viel
gesündigt. Aber ich habe alles verändert, damit ich nichts mehr vor Augen
habe, was mich daran erinnern könnte... Die Erinnerungen... Ich bin schwach...
Die leeren Wände und dieses harte Lager sollen mich nur an die Bekehrung
erinnern... Den Rest habe ich verkauft und zu
234
Geld gemacht, denn ich hatte
nichts mehr und wollte Gutes tun. Setze dich, Meister...»
Jesus setzt sich auf einen
hölzernen Hocker und Zachäus läßt sich zu seinen Füßen, halb sitzend, halb
kniend auf dem Boden nieder. Er beginnt wieder zu reden.
«Ich weiß nicht, ob ich richtig
gehandelt habe, ob du meine Handlungsweise billigen kannst. Vielleicht habe
ich dort angefangen, wo ich hätte aufhören sollen. Aber auch sie sind da. Und
nur ein alter Zöllner kann nicht Abscheu vor ihnen empfinden in Israel: Nein,
falsch. Nicht nur ein alter Zöllner, sondern auch du, der du mich ja gelehrt
hast, sie wahrhaft zu lieben. Früher waren sie meine Komplizen im Laster, aber
ich liebte sie nicht. Jetzt halte ich sie davon ab, aber ich liebe sie. Du und
ich. Der ganz Heilige und der bekehrte Sünder. Du, weil du nie gesündigt hast
und uns die Freude geben willst, die du hast, die Freude des Menschen ohne
Schuld; und ich, weil ich so viel gesündigt habe und weiß, wie süß der Friede
ist, den die Verzeihung, die Erlösung, die Erneuerung schenkt! ... Ich wollte
ihn auch für sie. Ich habe sie gesucht. Oh, es ist schwer gewesen am Anfang!
Ich wollte sie gut machen und hatte doch genug an mir selbst zu arbeiten...
Welche Mühe! Ich mußte mich überwachen, weil ich fühlte, daß sie mich
überwachten. Ein Nichts hätte genügt, und sie hätten sich von mir entfernt...
Und dann... Viele sündigten aus Notwendigkeit, aus beruflichen Zwängen. Ich
habe alles verkauft, um Geld zu haben und sie unterhalten zu können, bis sie
eine Arbeit fanden, die zwar weniger einträglich und mühsamer, aber ehrbar
war. Und es gibt immer noch einige, die zu mir kommen, teils aus Neugierde,
teils in der Absicht, ein Mensch und nicht mehr nur ein Tier zu sein. Und ich
muß sie beherbergen, bis sie sich an das neue Joch gewöhnt haben. Viele haben
sich beschneiden lassen. Der erste Schritt zum wahren Gott. Aber ich zwinge
sie nicht dazu. Ich breite die Arme aus, um alles Elend zu umfangen, ich, der
ich keinen Abscheu davor haben kann. Auch ich würde ihnen gerne geben, was du
ihnen geben möchtest: die Freude, wenigstens ohne Gewissensbisse zu leben, da
es nicht möglich ist, wie du ohne Schuld zu sein. Nun sage mir, mein Herr,
habe ich zu viel gewagt?»
«Du hast gut gehandelt, Zachäus.
Du gibst ihnen mehr, als du hoffst und glaubst, von dem, was ich den Menschen
geben will. Nicht nur die Freude, Verzeihung zu erhalten und ohne
Gewissensbisse zu leben, sondern auch die, bald Bürger meines himmlischen
Reiches zu sein. Diese deine Werke waren mir nicht unbekannt. Ich bin dir auf
deinem schweren, aber glorreichen Weg der Liebe gefolgt; denn es ist Liebe,
die reinste Art der Liebe. Du hast das Wort vom Reich verstanden. Wenige haben
es verstanden, denn in ihnen lebt noch die alte Auffassung und die
Überzeugung, sie seien schon heilig und gelehrt. Du bist nach der Entlastung
deines Herzens von der Vergangenheit leer gewesen und konntest, wolltest
235
in dein Inneres die neuen Worte
aufnehmen, das Künftige, das Ewige. Fahre fort auf diesem Weg, Zachäus, und du
wirst der Steuereinnehmer des Herrn, deines Jesus Christus sein», schließt
Jesus lächelnd und legt seine Hand auf das Haupt des Zachäus.
«Billigst du mein Tun, Herr? In
allem?»
«In allem, Zachäus. Ich habe es
auch Nike gesagt, die mir von dir gesprochen hat. Nike versteht dich. Sie hat
sich der allumfassenden Barmherzigkeit geöffnet.»
«Nike hat mir viel geholfen. Aber
jetzt sehe ich sie nur an jedem Neumond... Ich hätte ihr folgen wollen. Aber
Jericho ist ein gutes Arbeitsfeld ...»
«Sie wird nicht lange in
Jerusalem bleiben... Du würdest unnötig den Wohnort wechseln. Später wird Nike
hierher zurückkehren ...»
«Wann später, Herr?»
«Wenn mein Reich ausgerufen
worden ist.»
«Dein Reich... Ich fürchte mich
vor diesem Augenblick. Die, die sich heute deine Getreuen nennen, werden sie
es auch dann sein? Denn es wird gewiß Aufruhr geben und Kämpfe zwischen denen,
die dich lieben, und denen, die dich hassen... Du weißt, Herr, daß deine
Feinde sogar Räuber besolden, den Abschaum des Volkes, um Anhänger zu
gewinnen, die zu allem fähig sind. Ich habe es von einem meiner armen Brüder
erfahren... Oh! Ist da vielleicht ein großer Unterschied zwischen dem, der
gesetzlich raubt, der die Ehre raubt, und einem Wegelagerer? Auch ich habe
gesetzlich geraubt, bis du mich gerettet hast. Aber nicht einmal damals hätte
ich denen geholfen, die dich hassen... Der, von dem ich eben gesprochen habe,
ist ein junger Mann. Ein Räuber. Ja, ein Räuber. Eines Abends war ich bis zum
Adummim gegangen, um dort auf drei Männer meinesgleichen zu warten, die von
Ephraim mit Vieh kamen, das sie ganz billig erworben hatten. Ich fand ihn in
einer Schlucht und sprach mit ihm... Ich habe nie eine Familie gehabt, und
dennoch glaube ich, daß ich so zu meinem Sohn sprechen würde, wenn ich ihn
dazu überreden wollte, sein Leben zu ändern. Er hat mir erklärt, wie und warum
er ein Räuber geworden ist... Ach, wie oft sind die wahren Schuldigen jene,
die scheinbar nichts Böses tun! ... Ich habe ihm gesagt: "Raube nicht mehr.
Wenn du Hunger hast, werde ich auch für dich ein Brot haben. Ich werde dir
eine ehrbare Arbeit finden. Bis jetzt bist du noch kein Mörder geworden. Kehre
um! Rette dich!" Und ich habe ihn überzeugt. Er hat mir gesagt, er sei allein
geblieben, weil die anderen mit viel Geld von denen gekauft wurden, die dich
hassen. Jetzt sind sie bereit, Aufruhr zu stiften und sagen überall, sie seien
deine Jünger, um beim Volk Anstoß zu erregen. Sie halten sich in den Höhlen
des Kedrontales verborgen, in den Gräbern beim Phasael, in den Höhlen im
Norden der Stadt, zwischen den Gräbern der Könige und der Richter... Was haben
sie vor, o Herr?»
«Josua konnte die Sonne zum
Stillstand bringen; sie aber werden trotz aller Anstrengungen nichts gegen den
Willen Gottes vermögen!»
236
«Sie haben Geld, Herr! Der Tempel
ist reich. Für sie ist das dem Tempel gespendete Gold nicht Korban, wenn es
darum geht zu triumphieren.»
«Nichts haben sie. Mein ist die
Macht. Ihr Gebäude wird einstürzen, als wäre es aus im Herbstwind
vertrockneten Blättern, mit denen ein Kind ein Schloß gebaut hat. Fürchte dich
nicht, Zachäus. Dein Jesus wird wahrhaft der Retter sein.»
«Gott, möge es geben, Herr! ...
Wir werden gerufen. Laß uns gehen.»
577. PREDIGT IN JERICHO
Der Morgen ist bereits
fortgeschritten, als Jesus mit Zachäus, Petrus und Jakobus des Alphäus das
Haus verläßt. Die anderen Apostel haben sich vielleicht auf dem Land
zerstreut, um zu verkünden, daß der Messias in der Stadt ist.
Hinter der Gruppe mit Jesus,
Zachäus und den Aposteln folgt eine weitere aus Leuten sehr verschiedenartigen
Aussehens, sowohl was die Gesichter als auch das Alter und die Kleidung
betrifft. Man kann wohl mit Sicherheit sagen, daß diese Menschen verschiedenen
Rassen angehören, vielleicht sogar solchen, die einander nicht wohlgesinnt
sind. Aber die Wechselfälle des Lebens haben sie in diese Stadt Palästinas
geführt und sie zusammengeführt, damit sie aus ihrem Abgrund zum Licht
emporsteigen. Meist sind es welke Gesichter von Menschen, die das Leben gelebt
und es auch in mancherlei Weise mißbraucht haben, meist müde Augen. Bei
anderen hat die lange gewohnheitsmäßige Beschäftigung mit... der fiskalischen
Ausbeutung oder die brutale Befehlsgewalt den Blick raubgierig und hart
gemacht. Und hin und wieder erscheint dieser frühere Blick noch unter dem
feinen Schleier der Besinnung, den ihr neues Leben über sie geworfen hat. Das
geschieht besonders dann, wenn ein Bewohner von Jericho sie voll Verachtung
anschaut oder ihnen irgendeine Unverschämtheit zuruft. Gleich darauf wird der
Ausdruck ihrer Augen wieder müde und demütig, während sie niedergeschlagen die
Köpfe senken.
Jesus wendet sich zweimal um, um
sie zu beobachten, und da er sieht, daß sie ihren Schritt verlangsamen, je
näher sie dem Platz kommen, auf dem er sprechen will und der sich schon mit
Menschen füllt, verlangsamt auch er den seinen, um auf sie zu warten, und sagt
dann zu ihnen: «Geht mir nur voraus und fürchtet euch nicht. Ihr habt der Welt
getrotzt, als ihr Böses tatet; so dürft ihr sie auch jetzt nicht fürchten, da
ihr euch von eurer Vergangenheit gelöst habt. Was euch damals dazu gedient
hat, sie zu bezwingen, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Urteil der Welt, die
einzige Waffe, die sie des Urteilens müde werden läßt, macht auch jetzt davon
Gebrauch, und sie wird die Lust verlieren, sich mit euch zu beschäftigen.
237
Sie wird euch akzeptieren, wenn
auch nur langsam, und ihr werdet verschwinden in der großen anonymen Masse
dieser elenden Welt, die sich wahrlich immer zu wichtig nimmt.»
Die Männer, es sind fünfzehn an
der Zahl, gehorchen und gehen voraus.
«Meister, dort sind die Kranken
vom Land», sagt Jakobus des Zebedäus, der Jesus entgegenkommt und auf einen
sonnenbeschienenen Winkel zeigt.
«Ich komme. Und wo sind die
anderen?»
«Unter dem Volk. Aber sie haben
dich schon gesehen und werden gleich hier sein. Bei ihnen sind auch Salomon,
Joseph von Emmaus, Johannes von Ephesus und Philippus von Arbela. Sie sind auf
dem Weg zum Haus des letzteren und kommen von Joppe, Lydda und Modin. Sie
haben Männer von der Küste und Frauen bei sich. Sie haben dich sogar gesucht,
denn sie sind uneinig hinsichtlich der Verurteilung einer Frau. Aber sie
werden selbst mit dir sprechen ...»
Jesus ist in der Tat bald von den
anderen Jüngern umgeben, die ihn ehrfurchtsvoll begrüßen. Hinter diesen sind
neue Leute, die sich von der Lehre Jesu angezogen fühlen. Doch Johannes von
Ephesus ist nicht da, und Jesus fragt nach dem Grund.
«Er hält sich mit einer Frau und
deren Verwandten in einem Haus fern von der Menge auf. Man weiß nicht, ob die
Frau besessen oder ob sie eine Prophetin ist. Die Leute ihres Dorfes
behaupten, sie sage wunderbare Dinge. Aber die Schriftgelehrten, die sie
gehört haben, halten sie für besessen. Die Verwandten haben mehrmals
Exorzisten kommen lassen, aber diese konnten den aus ihr redenden Dämon nicht
vertreiben. Einer sagte schließlich dem Vater der Frau – sie ist eine in der
Familie lebende, noch jungfräuliche Witwe -: "Für deine Tochter brauchen wir
Jesus, den Messias. Er wird ihre Worte verstehen und wissen, woher sie kommen.
Ich habe versucht, dem Geist, der aus ihr spricht, zu befehlen, sie im Namen
Jesu, der Christus genannt wird, zu verlassen; denn die Geister der Finsternis
sind immer geflohen, wenn ich diesen Namen angerufen habe. Diesmal aber nicht.
Daher sage ich: entweder ist es Beelzebub selbst, der da spricht und auch
diesem Namen, den ich ausspreche, zu widerstehen vermag, oder es ist der Geist
Gottes, und dieser fürchtet sich nicht, denn er ist eins mit Christus. Ich bin
eher vom letzteren als vom ersteren überzeugt. Aber mit Sicherheit kann nur
Jesus darüber urteilen. Er wird die Worte und ihren Ursprung verstehen. Und er
wurde von den anwesenden Schriftgelehrten angegriffen, die erklärten, er sei
ebenso besessen wie die Frau und wie du. Verzeih, wenn wir dir das sagen
müssen... Die Schriftgelehrten haben uns seither nicht mehr in Ruhe gelassen.
Sie bewachen die Frau, denn sie wollen sehen, ob ihr deine Ankunft mitgeteilt
wird. Die Frau sagt nämlich, daß sie dein Antlitz und deine Stimme kennt
238
und dich unter Tausenden und
Abertausenden erkennen würde, während doch sicher ist, daß sie das Dorf nie
verlassen hat; nicht einmal ihr Haus hat sie verlassen, seit ihr Bräutigam vor
fünfzehn Jahren am Vorabend der Hochzeit gestorben ist. Es steht auch fest,
daß du nie durch ihr Dorf gekommen bist, das Beth Lechi heißt. Und die
Schriftgelehrten warten nun auf diesen letzten Beweis, um sie als besessen
bezeichnen zu können. Willst du sie sofort sehen?»
«Nein. Ich muß zum Volk sprechen.
Es wäre eine allzu aufsehenerregende Begegnung hier, mitten unter den
Volksmassen. Geh und sage Johannes von Ephesus, den Verwandten der Frau und
auch den Schriftgelehrten, daß ich sie alle bei Beginn des Sonnenunterganges
in den Wäldern am Fluß erwarte, auf dem Weg, der zur Furt führt. Geh nun.»
Nachdem Jesus Salomon, der für
alle gesprochen hat, entlassen hat, geht er zu den Kranken, die um Heilung
bitten, und heilt sie. Eine alte, durch Arthritis steif gewordene Frau, ein
Gelähmter, ein blöder Jüngling, ein anscheinend schwindsüchtiges Mädchen und
zwei Augenkranke.
Das Volk jubelt vor Freude.
Aber die Reihe der Kranken ist
noch nicht zu Ende. Eine Mutter tritt vor, entstellt von Schmerz und gestützt
von zwei Freundinnen oder Verwandten. Sie kniet nieder und spricht: «Ich habe
einen sterbenden Sohn. Er kann nicht hierher gebracht werden... Hab Erbarmen
mit mir!»
«Hast du einen unbegrenzten
Glauben?»
«Ja, mein Herr.»
«Dann geh zurück nach Hause.»
«Nach Hause? ... Ohne dich? ...»
Die Frau schaut ihn einen Augenblick traurig an. Dann geht ihr ein Licht auf.
Ihr armes Gesicht verklärt sich, und sie ruft aus: «Ich gehe, Herr. Gepriesen
seist du und der Allerhöchste, der dich geschickt hat!» Und sie läuft davon,
schneller als ihre Begleiterinnen...
Jesus wendet sich an einen Mann
von Jericho, an einen würdevollen Bürger der Stadt: «Ist diese Frau eine
Jüdin?»
«Nein. Wenigstens nicht von
Geburt. Sie kommt aus Milet. Doch ist sie mit einem der unseren verheiratet
und hat unseren Glauben angenommen.»
«Sie hat mehr Glauben als viele
Hebräer», bemerkt Jesus.
Dann steigt er auf die höchste
Stufe einer Haustreppe und breitet in seiner üblichen Geste die Arme aus, wie
immer, wenn er sprechen will und Schweigen gebietet. Als Ruhe eingetreten ist,
rafft er die Falten seines Mantels, der sich bei dieser Geste über der Brust
geöffnet hat, und hält sie mit der Linken, während er die Rechte wie zum
Schwur senkt mit den Worten: «Bürger von Jericho, hört die Gleichnisse des
Herrn, und jeder betrachte sie dann in seinem Herzen und ziehe daraus die
Lehre, um seinen Geist zu nähren. Ihr könnt es tun, denn nicht erst seit
gestern, seit einem Monat oder auch seit dem letzten Winter kennt ihr das Wort
Gottes.
239
Bevor ich der Meister wurde, hat
mein Vorläufer Johannes euch auf mein Kommen vorbereitet, und nachdem ich es
geworden war, haben meine Jünger dieses Erdreich siebenmal und abermals
siebenmal gepflügt, um allen Samen zu säen, den ich ihnen gegeben hatte. So
könnt ihr also das Wort und das Gleichnis verstehen.
Womit soll ich die vergleichen,
die sich bekehren, nachdem sie Sünder gewesen sind? Ich werde sie vergleichen
mit geheilten Kranken.
Womit soll ich die anderen
vergleichen, die nicht öffentlich gesündigt haben oder sich – was seltener
vorkommt als schwarze Perlen – niemals, nicht einmal im geheimen, schwer
verfehlt haben? Ich werde sie vergleichen mit gesunden Personen.
Die Welt besteht aus diesen
beiden Gruppen von Menschen, sei es im geistigen, sei es im körperlichen. Aber
wenn man auch diesen Vergleich machen kann, so ist doch die Art, in der die
Welt die im Fleisch geheilten Kranken behandelt, sehr verschieden von der Art,
in der sie die bekehrten Sünder, deren Seele krank war und die zum Heil
zurückkehren, behandelt.
Wir können es am Beispiel selbst
eines Aussätzigen sehen, der an der gefährlichsten aller Krankheiten leidet
und daher isoliert wird. Wenn er die Gnade der Heilung erlangt, wird er wieder
in die Gemeinschaft aufgenommen, nachdem er vom Priester untersucht und
gereinigt worden ist; die Bürger seiner Stadt feiern ihn sogar, weil er
geheilt und dem Leben, der Familie und den Kindern zurückgegeben wurde. Ein
großes Fest wird in der Familie und in der Stadt gefeiert, wenn ein
Aussätziger die Gnade der Heilung erlangt. Und die Familienmitglieder und die
Mitbürger wetteifern miteinander, ihm dies und das zu bringen oder, wenn er
allein ist und kein Haus und keine Möbel mehr besitzt, ihm ein Bett und
anderen Hausrat anzubieten. Alle sagen: "Er ist ein von Gott Bevorzugter. Der
Finger Gottes hat ihn geheilt. Erweisen wir ihm daher Ehre, denn so ehren wir
auch den, der ihn erschaffen und nun neu erschaffen hat." Es ist gerecht, so
zu handeln. Und wenn sich andererseits an jemand unglücklicherweise die ersten
Anzeichen des Aussatzes zeigen, mit welch ängstlicher Liebe überhäufen ihn
dann Verwandte und Freunde mit Zärtlichkeiten, solange es noch möglich ist. Es
scheint, als wollten sie ihm in der kurzen, noch verbleibenden Zeit den ganzen
großen Schatz ihrer Zuneigung auf einmal geben, den er sonst im Laufe vieler
Jahre erhalten hätte, damit er ihn mit in sein lebendiges Grab nehme.
Aber warum tut man nicht
dasselbe, wenn es sich um die anderen Kranken handelt? Ein Mensch beginnt zu
sündigen. Die Verwandten und besonders die Mitbürger, kümmern sie sich darum?
Warum versuchen sie nicht, ihn mit Liebe der Sünde zu entreißen? Eine Mutter,
ein Vater, eine Braut oder eine Schwester tun es vielleicht noch... Aber es
kommt schon sehr selten vor, daß es die Geschwister tun, ganz zu schweigen von
den
240
Vettern und den Kusinen. Die
Mitbürger schließlich wissen nichts anderes zu tun als zu kritisieren, zu
schmähen, zu verhöhnen, sich zu ärgern, die Sünden des Sünders zu übertreiben,
mit Fingern auf ihn zu zeigen und sich von ihm fernzuhalten wie von einem
Aussätzigen. So machen es die noch etwas Besseren, während die nicht Gerechten
seine Komplizen werden, um von ihm zu profitieren. Aber nur sehr selten findet
sich ein Mund und besonders ein Herz, das sich dem Unglücklichen mit
Festigkeit und Geduld, mit Mitleid und übernatürlicher Liebe zuwendet und
versucht, ihn von einem weiteren Abgleiten in die Sünde abzuhalten.
Und warum? Ist die Krankheit der
Seele nicht gefährlich, viel gefährlicher und wahrhaft tödlich? Beraubt sie
nicht, und für immer, des Reiches Gottes? Wäre es nicht die erste Aufgabe für
einen, der Gott und seinen Nächsten liebt, einen Sünder zu heilen zum Wohl
seiner Seele und zur Ehre Gottes?
Und wenn ein Sünder sich bekehrt,
wozu dann dieses eigensinnige
Beharren auf dem Urteil über ihn,
als ob man es fast bedaure, daß er zur Gesundheit der Seele zurückgefunden
hat? Seht ihr eure Vorhersagen über die sichere Verdammung eines eurer
Mitbürger Lügen gestraft? Ihr solltet glücklich darüber sein; denn der euch
Lügen straft, ist der barmherzige Gott, der euch ein Zeichen seiner Güte gibt
und euch ermutigt für den Fall, daß auch ihr mehr oder weniger große Schuld
auf euch geladen habt.
Und warum darauf bestehen, etwas
als schmutzig und verachtenswert zu betrachten und isolieren zu wollen, was
Gott und der gute Wille eines
Herzens in bewunderungswürdiger
Weise gereinigt und wiederhergestellt haben, so daß es wirklich die Achtung
und Bewunderung der Brüder verdient?
Ihr jubelt doch auch, wenn ein
Ochse, ein Esel, ein Kamel, ein Schaf der Herde oder eine Lieblingstaube von
einer Krankheit gesundet! Ihr jubelt, wenn ein Fremder, an dessen Namen ihr
euch kaum erinnert und von dem ihr nur gehört habt, als er wegen seines
Aussatzes fortgeschickt wurde, geheilt zurückkehrt. Warum also freut ihr euch
nicht über diese Heilungen der Seelen, über die Siege Gottes? Der Himmel
frohlockt,
wenn ein Sünder sich bekehrt. Der
Himmel: Gott und die reinsten Engel, die nicht wissen, was sündigen ist. Und
ihr, ihr Menschen, wollt strenger sein als Gott?
Macht rechtschaffen euer Herz und
erkennt die Gegenwart Gottes, nicht nur in den Weihrauchwolken und den
Gesängen des Tempels, an
dem Ort, wo die Heiligkeit des
Herrn nur durch den Hohenpriester verehrt werden darf und der heilig sein
sollte, wie sein Name besagt. Erkennt ihn auch in dem Wunder der Auferstehung
dieser Seelen, dieser wiedergeweihten Altäre, auf die die Liebe Gottes
herabsteigt mit ihrem Feuer, um das Opfer zu entzünden.»
241
Jesus wird unterbrochen durch die
Mutter von vorher, die ihm unter Segensrufen huldigen will. Jesus hört sie an
und segnet sie. Dann schickt er sie nach Hause und nimmt seine unterbrochene
Rede wieder auf.
«Und wenn ein Sünder, der euch
früher zum Ärgernis gereichte, nun ein erbauliches Beispiel für alle ist, dann
verhöhnt ihn nicht, sondern ahmt ihn nach. Denn niemand ist so vollkommen, daß
er nichts mehr von einem anderen lernen könnte. Und das Gute ist immer eine
Lehre, die man annehmen muß, auch wenn der, der es tut, früher Gegenstand der
Mißbilligung gewesen ist. Ahmt ihn nach und helft ihm, denn dadurch
verherrlicht ihr den Herrn und zeigt, daß ihr sein Wort verstanden habt. Seid
nicht wie die, die ihr in euren Herzen verurteilt, weil ihre Handlungen ihren
Worten nicht entsprechen. Bemüht euch vielmehr, daß jedes eurer guten Werke
die Krönung eines guten Wortes sei. Dann wird euch der Allerhöchste wahrhaft
mit Wohlwollen ansehen und anhören.
Und nun hört noch ein Gleichnis,
damit ihr versteht, welches die Dinge sind, die in den Augen Gottes einen Wert
haben. Es wird euch helfen, euch von einem unguten Gedanken befreien, der
viele Herzen beherrscht. Die meisten Menschen beurteilen sich selbst, und da
unter tausend Menschen nur einer wahrhaft demütig ist, kommt es, daß der
Mensch sich für vollkommen hält, während er beim Nächsten Hunderte von Fehlern
sieht.
Eines Tages gingen zwei Männer,
die auf einer Geschäftsreise nach Jerusalem gekommen waren, zum Tempel, wie es
sich für jeden guten Israeliten geziemt, wenn er die heilige Stadt betritt.
Der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der erste war gekommen, um
die Miete für einige Warenlager einzuziehen und mit seinen Verwaltern
abzurechnen, die in der Nähe der Stadt wohnten. Der andere war gekommen, um
die Steuergelder abzugeben. Er wollte auch um Barmherzigkeit bitten für eine
Witwe, die ihre Steuern für das Boot und die Netze nicht zahlen konnte, da der
Fischfang ihres ältesten Sohnes kaum ausreichte, um die vielen anderen Kinder
zu ernähren.
Bevor er zum Tempel ging, suchte
der Pharisäer die Mieter seiner Geschäfte auf. Er warf einen Blick in die
Läden und war sehr zufrieden mit sich selbst, da er sie voller Waren und
Käufer sah. Dann rief er den ersten Mieter zu sich und sagte: "Ich sehe, daß
deine Geschäfte gut gehen."
"Ja, Gott sei Dank. Ich bin
zufrieden mit meiner Arbeit. Ich habe meine Waren vermehrt und hoffe, es noch
weiter tun zu können. Ich habe den Laden verschönert, und da ich im kommenden
Jahr keine Ausgaben für Bänke und Gestelle mehr habe, wird der Gewinn größer
sein."
"Gut. Sehr gut. Das freut mich.
Wieviel bezahlst du für dieses Geschäft?"
"Hundert Doppeldrachmen im Monat.
Es ist teuer, aber die Lage ist gut..."
"Du hast es gesagt: die Lage ist
gut. Daher verdopple ich die Miete."
242
"Aber, Herr", rief der Kaufmann
aus, "auf diese Weise nimmst du mir jeden Verdienst."
"Das ist nur recht und billig.
Soll vielleicht ich dich bereichern? Und das auf meinem Boden? Schnell.
Entweder du gibst mir zweitausendvierhundert Doppeldrachmen, und zwar sofort,
oder ich jage dich fort und behalte die Ware. Der Laden gehört mir, und ich
mache damit, was ich will."
So machte er es mit dem ersten,
mit dem zweiten und mit dem dritten Mieter. Allen verdoppelte er die Miete,
taub gegen jede Bitte. Und da der dritte, der viele Kinder hatte, Widerstand
leisten wollte, rief er die Ordnungshüter und ließ die Siegel der
Beschlagnahme anbringen; den Unglücklichen aber jagte er fort.
Dann kehrte er in seinen Palast
zurück, prüfte die Register der Verwalter, schimpfte sie Faulpelze und
beschlagnahmte den Anteil, der ihnen von Rechts wegen zustand. Einer hatte
einen Sohn, der im Sterben lag, und wegen der vielen Ausgaben hatte er einen
Teil seines Öls verkaufen müssen, um die Arzneien bezahlen zu können. Er besaß
daher nichts, was er seinem habgierigen Herrn hätte geben können.
"Hab Erbarmen mit mir, Herr. Mein
armer Sohn liegt im Sterben, und ich werde später zusätzliche Arbeiten
verrichten, um dir geben zu können, was du für richtig hältst. Aber jetzt, das
wirst du verstehen, kann ich nicht."
"Du kannst nicht? Ich werde dir
zeigen, ob du kannst oder nicht." Und er ging mit dem armen Verwalter in die
Vorratskammer und nahm ihm auch noch den Rest Öl, den der Mann aufbewahrt
hatte für seine armselige Nahrung, und um die Lampe für die Nachtwachen bei
seinem Sohn unterhalten zu können.
Der Zöllner hingegen ging zu
seinem Vorgesetzten, und nachdem er die eingetriebenen Steuern abgegeben
hatte, mußte er hören: "Aber da fehlen ja dreihundertsiebzig Asses. Wie kommt
das?"
"Sieh, ich will es dir erklären.
In der Stadt lebt eine Witwe mit sieben Kindern. Nur der Erstgeborene ist
schon imstande zu arbeiten. Aber er kann sich noch nicht sehr weit vom Ufer
entfernen mit dem Boot, denn seine Arme sind zu schwach für die Ruder und das
Segel, und er kann auch keinen Schiffsjungen bezahlen. Da es in der Nähe des
Ufers wenig Fische gibt und der Fang kaum ausreicht, um acht Unglückliche zu
ernähren, habe ich es nicht übers Herz bringen können, die Steuern von ihr zu
verlangen."
"Ich verstehe. Aber Gesetz ist
Gesetz. Wehe, wenn man erführe, daß es Mitleid hat. Alle würden Ausreden
finden, um nicht zahlen zu müssen. Der Jüngling soll sich eine andere Arbeit
suchen und das Boot verkaufen, wenn sie nicht bezahlen können!"
"Aber das Boot bedeutet für sie
das tägliche Brot... und ist ein Andenken an ihren Vater."
243
"Ich verstehe. Aber man darf
nicht nachgiebig sein!'
"Nun gut. Aber ich bringe es
nicht fertig, acht Unglückliche ihres einzigen Gutes zu berauben. Dann werde
ich die dreihundertsiebzig Asses bezahlen."
Nachdem sie ihre Angelegenheiten
erledigt hatten, stiegen die beiden zum Tempel hinauf, und als sie am
Opferkasten vorüberkamen, zog der Pharisäer ostentativ einen großen Geldbeutel
aus seiner Brusttasche und schüttete den Inhalt bis zum letzten Heller in den
Tempelschatz. In dieser Geldbörse waren vor allem die Geldstücke, die er den
Kaufleuten abverlangt hatte, und der Erlös für das Öl, das er dem Verwalter
abgenommen und sofort an einen Händler verkauft hatte. Der Zöllner hingegen
warf eine Handvoll kleiner Münzen hinein und behielt so viel zurück, als er
für die Rückreise in die Heimat benötigte. Der eine wie der andere gaben
alles, was sie hatten. Scheinbar war sogar der Pharisäer der Großzügigere, da
er alles bis zum letzten Heller hergab. Aber man muß bedenken, daß er in
seinem Palast noch viel Geld hatte und außerdem Kredit bei reichen
Geldwechslern.
Dann begaben sich beide vor den
Herrn. Der Pharisäer ging nach vorn, bis zur Grenze des Atriums der Hebräer
vor dem Heiligtum. Der Zöllner blieb hinten stehen, fast unter dem Gewölbe,
das zum Vorhof der Frauen führt. Er stand da, gebeugt und niederschmettert bei
dem Gedanken an sein Elend im Vergleich zur göttlichen Vollkommenheit. Beide
beteten.
Der Pharisäer stand aufrecht,
fast anmaßend da, als ob er der Hausherr wäre, der sich herabläßt, einen
Besucher zu empfangen, und sprach: "Sieh, ich bin gekommen, um dich in dem
Haus zu verehren, das unser Ruhm ist. Ich bin gekommen, obwohl ich fühle, daß
du in mir bist, da ich ein Gerechter bin. Ich weiß, daß ich es bin. Und obwohl
ich weiß, daß ich es nur durch mein Verdienst bin, danke ich dir, wie das
Gesetz es verlangt, für das, was ich bin. Ich bin kein Räuber. Ich bin nicht
ungerecht, kein Ehebrecher und kein Sünder wie jener Zöllner dort, der fast
gleichzeitig mit mir eine Handvoll Kupfermünzen in den Schatz geworfen hat.
Ich, du hast es gesehen, habe dir alles gegeben, was ich bei mir hatte. Dieser
Geizhals dagegen hat zwei Teile gemacht und dir den kleineren gegeben. Den
anderen Teil wird er wohl für Schwelgereien und für Frauen behalten haben. Ich
bin rein. Ich beflecke mich nicht. Ich bin rein und gerecht, faste zweimal in
der Woche und bezahle den Zehnten von allem, was ich besitze. Ja, ich bin
rein, gerecht und gesegnet, weil ich heilig bin. Erinnere dich daran, Herr."
Der Zöllner in seinem entfernten
Winkel wagte kaum, die Augen zu den kostbaren Pforten des Heiligtums zu
erheben. Er schlug an seine Brust und betete so: "Herr, ich bin nicht würdig,
an diesem Ort zu stehen. Aber du bist gerecht und heilig, und du gestattest es
mir, weil du weißt, daß der Mensch ein Sünder ist und ein Teufel wird, wenn er
nicht zu dir kommt. Oh, mein Herr, ich möchte dich ehren Tag und Nacht, aber
ich bin so viele
244
Stunden der Sklave meiner Arbeit.
Es ist eine harte Arbeit, die mich demütigt, denn ich füge meinem
unglücklichen Nächsten Schmerz zu. Aber ich muß meinen Vorgesetzten gehorchen,
um mein tägliches Brot zu verdienen. Hilf mir, o mein Gott, daß ich das
Pflichtgefühl gegenüber meinen Vorgesetzten immer mäßige durch die Liebe zu
meinen armen Brüdern, damit meine Arbeit nicht zu meiner Verdammung führe.
Jede Arbeit ist heilig, wenn sie mit Liebe getan wird. Laß deine Liebe stets
in meinem Herzen gegenwärtig sein, damit ich, armselig wie ich bin, mit meinen
Untergebenen Mitleid habe, wie du mit mir, dem großen Sünder, Mitleid hast.
Ich hätte dich gerne mehr geehrt, o Herr, du weißt es. Aber ich hielt es für
besser, mit dem für den Tempel bestimmten Geld acht unglückliche Herzen zu
trösten als es in den Opferkasten zu werfen und dann acht unschuldige und
unglückliche Menschen verzweifelt weinen zu lassen. Wenn ich jedoch gefehlt
habe, laß es mich wissen, o Herr, und ich werde dir alles bis zum letzten
Heller und sogar zu Fuß und um Brot bettelnd nach Hause zurückkehren. Laß mich
deine Gerechtigkeit erkennen. Habe Erbarmen mit mir, o Herr, denn ich bin ein
großer Sünder!'
Das ist das Gleichnis. Wahrlich,
wahrlich, ich sage euch, während der Pharisäer den Tempel verließ, nachdem er
noch eine Sünde zu den schon bevor er den Moriah erstieg begangenen
hinzugefügt hatte, ging der Zöllner gerechtfertigt hinaus, und der Segen
Gottes begleitete ihn bis zu seinem Haus und ruhte darauf. Denn er war demütig
und barmherzig, und seine Werke waren noch heiliger als seine Worte; der
Pharisäer dagegen war nur mit Worten und nach außen hin gut, in seinem Inneren
aber und mit seinem Hochmut und seiner Hartherzigkeit vollbrachte er Werke des
Teufels, weshalb er Gott verhaßt war.
Wer sich selbst erhöht, wird
immer, früher oder später, erniedrigt werden; wenn nicht in diesem, dann im
anderen Leben. Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden, besonders
droben im Himmel, wo die Handlungen der Menschen in ihrem wahren Wert
erscheinen.
Komm, Zachäus. Kommt ihr, die ihr
mit ihm seid, und ihr, meine Apostel und Jünger. Ich werde noch allein mit
euch sprechen.»
Er hüllt sich in seinen Mantel
und kehrt in das Haus des Zachäus zurück.
578. IM HAUS DES ZACHÄUS MIT DEN
BEKEHRTEN
Sie sind alle in einem weiten,
leeren Zimmer versammelt. Früher war es sicher schön. Jetzt ist es nur noch
ein großer Raum. Sie haben Stühle und Betten aus dem Speisezimmer und den
Schlafkammern gebracht und sitzen um den Meister herum, der in einem Sessel
Platz genommen hat. Dieser,
245
aus geschnitztem Holz und mit
einem gewebten Teppich bedeckt, ist das prunkvollste Möbelstück des Hauses.
Zachäus spricht von einem
Gutshof, den sie mit dem von ihnen allen zusammengelegten Geld erworben haben:
«Wir mußten etwas unternehmen! Der Müßiggang ist keine gute Medizin gegen die
Sünde. Es ist ein noch wenig fruchtbares Land, denn es wurde vernachlässigt,
wie wir, und ist, wie wir, Ödland voller Steine und Unkraut. Nike hat uns ihre
Bauern geschickt, damit sie uns zeigen, wie man die verschütteten Brunnen in
Ordnung bringt, die Felder säubert, die wenigen Bäume beschneidet und neue
anpflanzt. Wir kannten viele Dinge... aber nicht die heiligen Werke des
Menschen. Nun, bei dieser Arbeit, die so neu für uns ist, finden wir auch zu
einem neuen Leben. Nichts um uns herum erinnert an die Vergangenheit. Nur das
Gewissen erinnert uns noch daran. Und das ist gut... Wir sind ja Sünder...
Wirst du dir das Landgut anschauen?»
«Wir werden zusammen von hier
aufbrechen und zum Jordan gehen, und ich werde dort bei euch haltmachen. Du
hast ja gesagt, daß es sich auf dem Weg zum Fluß befindet...»
«Ja, Meister. Aber es ist nicht
schön. Das Haus ist in einem sehr schlechten Zustand und ohne Möbel. Wir haben
nicht Geld für alles gehabt... nachdem wir, soweit es möglich war, unsere
Vergehen am Nächsten wiedergutgemacht hatten. Diese, Herr, haben sich aus Heu
Lager bereitet, mit Ausnahme von Demetrios, Valens und Levi, die schon zu alt
sind für solche Entbehrungen und hier schlafen.»
«Ich habe oft nicht einmal das.
Auch ich werde auf dem Heu schlafen, Zachäus. Ich habe die ersten Stunden
meines Lebens darauf verbracht, und es waren süße Stunden, denn die Liebe
wachte über meinen Schlaf. Auch diesmal wird mein Schlaf erquickend und ruhig
sein, denn ich befinde mich unter Menschen, in denen der gute Wille zu neuem
Leben erstanden ist.»
Jesus liebkost diese Erstlinge
der Erlösung aus allen Ländern mit seinem Blick. Und sie schauen ihn an... Es
sind keine Männer, die leicht weinen. Wer weiß, wie viele Tränen sie
verschuldet haben? Ihre Gesichter sind ebenso viele Bücher, in denen ihre
unglückliche Vergangenheit geschrieben steht, und wenn das neue Leben die
Härte der darin geschriebenen Worte nun auch verschleiert, so sind sie doch
immer noch deutlich genug, um zu verraten, aus welchen Abgründen diese Männer
zum Licht emporgestiegen sind. Und doch hellen sich ihre Gesichter auf, ihre
Blicke werden frei und erstrahlen in einer übernatürlichen Hoffnung und
inneren Genugtuung, als der Meister sagt, daß ihr guter Wille zu neuem Leben
erstanden ist.
Zachäus sagt: «Billigst du also
alles, was ich getan habe? Schau, Meister, ich habe dir damals gesagt: "Ich
will dir nachfolgen." Und ich wollte dir auch tatsächlich im wahrsten Sinne
des Wortes folgen. Aber ausgerechnet an jenem Abend kam Demetrios zu mir wegen
eines dieser... wegen
246
eines seiner schamlosen
Geschäfte... und brauchte Geld. Er kam aus Jerusalem ... diese Stadt wird zwar
heilig genannt, aber alles Schamlose ist in ihr zu finden, und die ersten, die
diese Schamlosigkeiten wollen, sind gerade die, die uns dann wie Aussätzige
mit Steinen bewerfen... Aber ich muß ja unsere Sünden aufzählen, nicht die
ihren. Ich hatte kein Geld mehr, denn ich hatte alles dir gegeben. Auch das,
was ich noch im Haus hatte, war eigentlich schon vergeben, denn ich hatte es
bereits aufgeteilt, um es denen zu geben, denen ich einst durch Wucher
geschadet hatte. Also sagte ich zu ihm: "Ich habe kein Geld. Aber ich habe
mehr als alle Schätze." Und ich habe ihm von meiner Bekehrung erzählt, von
deinen Worten und dem inneren Frieden, den ich gefunden hatte... Ich habe
gesprochen, so lange, bis das Licht des neuen Tages hereinkam, uns ins Gesicht
schien und die Lampen überflüssig wurden, und ich sprach immer noch. Was ich
im einzelnen sagte, weiß ich nicht mehr; ich weiß nur, daß er mit der Faust
auf den Tisch schlug, an dem wir saßen, und ausrief: "Merkur hat einen
Gefolgsmann verloren und die Satyre einen Kameraden. Nimm auch dieses Geld,
das nicht ausreicht für das Verbrechen, mit dem man aber Brot für einen
Bettler kaufen kann, und laß mich mit dir kommen. Ich will einen Wohlgeruch
kennenlernen nach so viel Gestank." Und er ist geblieben. Wir sind zusammen
nach Jerusalem gegangen, ich, um Gegenstände zu verkaufen, er, um sich aus
allen Verpflichtungen zu lösen. Und bei der Rückkehr habe ich gesagt – ich
hatte im Tempel nach langer Zeit wieder mit dem reinen und friedvollen Herzen
eines Kindes gebetet – ich habe mir also gesagt: "Heißt es nicht auch dem
Meister nachfolgen, und vielleicht noch besser nachfolgen, wenn ich in Jericho
bleibe, wo meine unglücklichen Freunde sind, die Zöllner, wie ich einer war,
die Spielhölleninhaber, die Zuhälter und die Wucherer, die, nachdem sie als
Aufseher von Galeerensträflingen, Gefangenen und Sklaven alle Elenden dieser
Welt gequält haben, und als gesetz- und mitleidlose Soldaten, die, nachdem sie
versucht haben, ihre Gewissensbisse in Schwelgerei und Trunkenheit zu
ersticken, zu mir kommen, um ihre verfluchten Gelder anzulegen, mir Geschäfte
vorzuschlagen oder mich zu Gastmählern und anderem elenden Schmutz einladen?
Die Stadt verachtet mich. Die Hebräer werden mich immer als einen Sünder
betrachten. Sie aber nicht. Sie sind wie ich. Sie sind Unrat, aber sie können
etwas in sich haben, was sie zum Guten drängt, und dann finden sie niemanden,
der ihnen eine Hand reicht und ihnen hilft. Ich habe ihnen im Bösen geholfen.
Vielleicht haben sie manchmal auch durch meine Ratschläge und meine
Forderungen gesündigt. Ich habe die Pflicht, ihnen zum Guten zu verhelfen. So
wie ich die entschädigt habe, die ich geschädigt hatte, so wie ich meinen
Mitbürgern Wiedergutmachung gezahlt, ebenso habe ich auch bei ihnen etwas
wiedergutzumachen." Also bin ich hiergeblieben. Bald der eine, bald der
andere, sind sie von dieser oder jener Stadt gekommen, und ich habe mit
247
ihnen gesprochen. Nicht alle
waren wie Demetrios. Einige sind für immer verschwunden, nachdem sie mich
verspottet hatten. Andere haben gezögert. Manche sind eine Weile bei mir
geblieben, aber nach einiger Zeit sind sie dann wieder in ihre Hölle
zurückgekehrt. Diese hier sind geblieben. Und nun fühle ich, daß ich dir auf
diese Weise nachfolgen muß; daß wir dir nachfolgen müssen, indem wir mit uns
selbst kämpfen und die Verachtung der Welt ertragen, die nicht verzeihen kann.
Unsere Herzen vergießen viele Tränen, wenn wir sehen, daß die Welt nicht
verzeihen will... wenn die Erinnerungen wiederkehren... und sie sind so
zahlreich und schmerzlich... In manchen von uns sind sie ...»
«Die schreckliche Nemesis, die
uns unsere Verbrechen vorhält und mit der Rache nach dem Tod droht», sagt
einer.
«Es sind die Klagen jener, die
völlig erschöpft waren und die ich geschlagen habe, um sie zur Arbeit
anzutreiben.»
«Es sind die Verwünschungen
derer, die ich zu Sklaven gemacht habe, nachdem ich ihnen durch Wucher alles
genommen hatte.»
«Es sind die flehentlichen Bitten
der Witwen und Waisen, die nicht bezahlen konnten und denen ich im Namen des
Gesetzes die letzte Habe beschlagnahmt habe.»
«Es sind die Greueltaten an
unbewaffneten, durch die Niederlage verängstigten Menschen in den eroberten
Ländern.»
«Es sind die Tränen meiner
Mutter, meiner Frau und meiner Tochter, die an Entbehrungen gestorben sind,
während ich alles bei festlichen Gelagen verpraßte.»
«Es sind... Oh, mein Verbrechen
ist unsagbar! Herr, an meinen Händen klebt kein Blut, ich habe kein Geld
geraubt, ich habe keinen übermäßigen Zoll erhoben, keinen Wucherzins gefordert
und keine Besiegten mißhandelt, aber ich habe alles Elend ausgenützt und mit
den unschuldigen Mädchen der Besiegten und den Waisen, die ich wie Ware für
ihr tägliches Brot verkauft habe, Geld verdient. Ich bin in der Welt
umhergezogen und habe solche Gelegenheiten gesucht, hinter siegenden Heeren,
dort, wo Hungersnot herrschte, wo eine Überschwemmung die Menschen der Nahrung
beraubt oder ein Massensterben junge, schutzlose Leben übriggelassen hatte.
Ich habe Menschen zur Ware, abscheulicher und doch unschuldiger Ware, gemacht!
Abscheulich, weil sie mir Geld einbrachte, unschuldig, weil sie das Entsetzen
noch nicht kannte. Herr, an meinen Händen klebt die verlorene Jungfräulichkeit
entehrter Mädchen und die Ehre junger Frauen aus eroberten Städten. Meine
Handelshäuser... und meine Freudenhäuser waren berühmt, Herr... Verfluche mich
nicht jetzt, da du weißt...»
Die Apostel sind unwillkürlich
von dem letzten Sprecher weggerückt. Jesus erhebt sich, geht zu ihm. Er legt
ihm die Hand auf die Schulter und sagt: «Es ist wahr. Dein Verbrechen ist
groß. Du hast vieles
248
wiedergutzumachen. Aber ich, der
ich die Barmherzigkeit bin, sage dir: Auch wenn du der Dämon selbst wärest und
alle Verbrechen der Erde auf dir lasten würden, kannst du alles
wiedergutmachen, wenn du nur willst, und Gott, der wahre, große, väterliche
Gott, wird dir verzeihen. Vereinige deinen Willen mit dem meinen. Auch ich
will, daß dir verziehen wird. Vereinige dich mit mir. Gib mir deine arme,
entehrte, verdorbene Seele, die voller Narben und Mutlosigkeit ist, nachdem du
dich von der Sünde abgewendet hast. Ich lege sie in mein Herz, dorthin, wo ich
die größten Sünder lege, und werde sie mit mir nehmen im Opfer der Erlösung.
Das heiligste Blut, das Blut meines Herzens, das letzte Blut des für die
Menschen Dahingegebenen wird diese Trümmer besprengen und sie erneuern.
Vorerst hege Hoffnung. Eine Hoffnung, größer als dein unermeßliches
Verbrechen, Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes; denn sie ist grenzenlos, o
Mensch, für den, der auf sie vertraut.»
Der Mann würde gerne die auf
seiner Schulter ruhende Hand nehmen und sie küssen-, diese bleiche, magere
Hand auf dem braunen Gewand und der kräftigen Schulter. Aber er wagt es nicht.
Jesus versteht ihn und reicht ihm die Hand mit den Worten: «Küsse die
Handfläche, Mann. Ich werde diesen Kuß wiederfinden als Medizin für eine
Wunde. Geküßte Hand, verwundete Hand. Geküßt aus Liebe, verwundet aus Liebe.
Oh, wenn doch alle das große Sühnopfer küssen wollten und es in seinem Gewand
aus Wunden sterben würde in dem Bewußtsein, daß auf jeder Wunde der Kuß und
die Liebe jedes erlösten Menschen ruht!» Und er hält seine Handfläche auf die
rasierten Lippen des Mannes, der allem Anschein nach ein Römer ist. Und er
läßt sie dort, bis der Mann sich von ihr löst wie gesättigt, nachdem er die
Glut seines bösen Gewissens gelöscht und die Barmherzigkeit des Herrn aus der
Höhlung der göttlichen Hand getrunken hat.
Jesus kehrt an seinen Platz
zurück und legt im Vorübergehen die Hand auf das krause Haar eines sehr jungen
Mannes. Ich glaube, daß er kaum zwanzig Jahr alt und Jude ist. Er hat bisher
noch nicht gesprochen. Jesus fragt ihn: «Und du, mein Sohn, sagst du nichts zu
deinem Erlöser?»
Der Jüngling erhebt das Haupt und
schaut ihn an... Eine ganze Geschichte kann man aus diesem Blick herauslesen.
Eine Geschichte des Schmerzes, des Hasses, der Reue und der Liebe.
Jesus neigt sich etwas über ihn,
schaut ihm in die Augen, liest eine stumme Geschichte und sagt dann: «Deshalb
nenne ich dich Sohn. Du bist nicht mehr allein. Verzeih allen deinen
Verwandten und den Fremden, wie Gott dir verzeiht. Und liebe die Liebe, die
dich gerettet hat. Komm einen Augenblick mit mir. Ich will mit dir allein
sprechen.»
Der Jüngling erhebt sich und
folgt ihm. Als sie allein sind, sagt Jesus: «Ich will dir folgendes sagen,
mein Sohn. Der Herr hat dich sehr geliebt, obwohl es nicht so scheinen mag bei
oberflächlicher Betrachtung. Das
249
Leben hat dich sehr geprüft. Die
Menschen haben dir sehr geschadet. Beides zusammen hätte aus dir ein nicht
wiederherzustellendes Wrack machen können. Dahinter war Satan, der deine Seele
begehrte. Aber über dir wachte das Auge Gottes. Und dieses gebenedeite Auge
hat deine Feinde in Schach gehalten. Seine Liebe hat Zachäus auf deinen
Lebensweg geführt. Und mit Zachäus mich, der ich zu dir spreche. Ich, der ich
zu dir spreche, sage dir, daß du in dieser Liebe alles finden mußt, was du
bisher nicht gehabt hast. Du mußt alles vergessen, was dich verbittert hat,
und du mußt verzeihen. Verzeihe deiner Mutter, verzeihe dem schamlosen Herrn,
verzeihe dir selbst. Hasse dich nicht in ungeziemender Weise. Hasse die Zeit
deiner Sünde, aber nicht deinen Geist, der es verstanden hat, sich von der
Sünde abzuwenden. Deine Gedanken seien gute Freunde deiner Seele, und zusammen
mögen sie nach Vollkommenheit streben.»
«Ich vollkommen!»
«Hast du gehört, was ich diesem
Mann gesagt habe? Und doch ist er in der Tiefe des Abgrundes gewesen! ... Und
ich danke dir, mein Sohn»
«Wofür, mein Herr? Ich bin es,
der dir danken muß ...»
«Ich danke dir, daß du nicht zu
denen gehen wolltest, die Männer kaufen, um mich zu verraten.»
«0 Herr! Wie konnte ich das tun,
da ich doch wußte, daß du nicht einmal uns Räuber verachtest? Auch ich war
unter denen, die dir das Lamm nach Kerith brachten. Und einer von uns, den die
Römer jetzt gefangengenommen haben – wenigstens sagt man das; jedenfalls ist
er seit dem Laubhüttenfest nicht mehr in den Schlupfwinkeln der Räuber gesehen
worden – hat mir deine Worte in einem Tal bei Modin wiederholt... Denn ich war
damals noch nicht bei den Räubern. Ich habe mich ihnen erst am Ende des
letzten Adar angeschlossen und habe sie zu Beginn des Etanim verlassen. Aber
ich habe nichts getan, was deinen Dank rechtfertigt. Du warst gut. Und auch
ich wollte gut sein und einen deiner Freunde warnen... Kann ich Zachäus als
solchen bezeichnen?»
«Ja, das kannst du. Alle, die
mich lieben, sind meine Freunde. Auch du bist es.»
«Oh! ... Ich wollte ihn warnen,
damit du dich vorsiehst. Aber eine Warnung verdient keinen Dank...»
«Ich wiederhole dir: Weil du dich
nicht verkauft hast gegen mich, danke ich dir. Das allein hat einen Wert.»
«Und die Warnung nicht?»
«Mein Sohn, nichts wird den Haß
hindern können, sich über mich zu ergießen. Hast du schon einmal einen Fluß
gesehen, der über die Ufer tritt ?»
«Ja. Ich war bei Jabes Galaad und
habe die Verwüstung gesehen, die der Fluß angerichtet hat vor seiner Mündung
in den Jordan.»
«Und hat irgend etwas die Wasser
aufhalten können?»
250
«Nein, sie haben alles
überschwemmt und verwüstet. Selbst Häuser haben sie mitgerissen.»
«So ist der Haß. Aber er wird
mich nicht vernichten. Ich werde überflutet, aber nicht zerstört werden. In
der bittersten Stunde wird die Liebe derer, die den Unschuldigen nicht gehaßt
haben, mein Trost sein, mein Licht in der Stunde der Finsternis, meine
Süßigkeit im Kelch des mit Galle und Myrrhe gemischten Weines.»
«Du? ... Du sprichst von dir, wie
wenn... Für die Räuber ist dieser Kelch, für die zum Kreuz Verurteilten. Aber
du bist kein Räuber! Du bist schuldlos. Du bist ...»
«Der Erlöser. Gib mir einen Kuß,
mein Sohn.»
Jesus nimmt den Kopf des
Jünglings in die Hände und küßt ihn auf die Stirn; dann beugt er sich nieder,
um den Kuß des Jünglings zu empfangen: ein zaghafter Kuß, der kaum die magere
Wange berührt... Und dann wirft sich der Jüngling weinend an Jesu Brust.
«Weine nicht, mein Sohn! Ich
werde von der Liebe geopfert, und dies ist immer ein süßes Opfer, auch wenn es
qualvoll für die menschliche Natur ist.»
Er hält ihn in seinen Armen, bis
er sich beruhigt hat, und geht dann, den Jüngling an seiner Hand, an den Platz
zurück, auf dem zuvor Petrus gesessen ist.
Er beginnt wieder zu reden:
«Während wir die Mahlzeit eingenommen haben, hat einer von euch, kein
Israelit, gesagt, er wolle mich um eine Erklärung bitten. Er soll es jetzt
tun, denn wir werden bald zum Volk zurückkehren und uns dann trennen müssen.»
«Ich bin es gewesen. Aber viele
möchten es wissen. Zachäus hat es uns nicht recht erklären können und auch
sonst keiner unter uns von deinen Glaubensgenossen. Wir haben deine Jünger
gefragt, als sie hier vorbeigekommen sind. Doch auch sie haben uns keine klare
Antwort gegeben.»
«Was willst du denn wissen?»
«Wir wußten nicht einmal, daß wir
eine Seele haben. Eigentlich... hätten wir es wissen müssen, denn unsere
Vorfahren... Aber wir haben die Schriften der Alten nicht gelesen. Wir waren
wie Tiere und wußten nicht mehr, was das ist, diese Seele. Auch jetzt wissen
wir es noch nicht. Was ist die Seele? Vielleicht unser Verstand? Das glauben
wir nicht, denn in diesem Fall hätte sie uns gefehlt, und wir haben gehört,
daß es ohne Seele kein Leben gibt. Was also ist die Seele, von der man sagt,
sie habe keinen Körper, von der man sagt, sie sei unsterblich, wenn nicht der
Verstand? Der Verstand ist körperlos. Aber er ist nicht unsterblich, denn er
vergeht mit unserem Leben. Auch der weiseste Mensch denkt nicht mehr nach dem
Tod.»
«Die Seele ist nicht der Gedanke,
Mann. Die Seele ist der Geist, ist das immaterielle Prinzip des Lebens. Das
nicht fühlbare, aber wahre Prinzip,
251
das den ganzen Menschen belebt
und den Tod überlebt. Deshalb nennt man sie unsterblich. Sie ist etwas so
Erhabenes, daß selbst der größte Gedanke ein Nichts ist im Vergleich zu ihr.
Der Gedanke hat ein Ende, während die Seele zwar einen Anfang, aber kein Ende
mehr hat. Ob selig oder verdammt, sie existiert weiter. Selig jene, die sie
rein bewahren oder sie wieder zu reinigen wissen, nachdem sie sie beschmutzt
haben, um sie dem Schöpfer so wiederzugeben, wie er sie geschaffen hat, um den
Leib zu beleben.»
«Aber ist sie in uns, oder über
uns, wie das Auge Gottes?»«In uns.» «Also in uns gefangen bis zum Tod? Als
Sklavin?»
«Nein, als Königin. Im Gedanken
des Ewigen ist die Seele, der Geist das, was im geschaffenen Lebewesen, das
Mensch genannt wird, herrscht. Sie stammt vom König und Vater aller Könige und
Väter. Sie ist sein Hauch und sein Ebenbild, sein Geschenk und sein Eigentum
und hat die Aufgabe, aus dem Geschöpf, das Mensch genannt wird, einen König
des großen, ewigen Reiches zu machen, aus dem Geschöpf, das Mensch genannt
wird, einen Gott im jenseitigen Leben, einen "Lebenden" in der Wohnung des
erhabenen, einzigen Gottes. Sie ist als König geschaffen, mit der Autorität
und der Bestimmung einer Königin. Ihre Mägde sind die Tugenden und Fähigkeiten
des Menschen, ihre Dienerin ist der gute Wille des Menschen. Und ihr Knecht
ist der Gedanke, ihr Knecht und Schüler ist der Gedanke des Menschen. Aus dem
Geist schöpft der Gedanke Kraft und Wahrheit, Gerechtigkeit und Weisheit, und
so kann er zu königlicher Vollkommenheit heranwachsen. Ein Gedanke, der des
Lichtes des Geistes entbehrt, wird immer mangelhaft und unklar sein und nie
gewisse Wahrheiten begreifen, die für den, der von Gott getrennt ist und das
Königtum der Seele verloren hat, unverständliche Geheimnisse bleiben. Der
Gedanke des Menschen ist blind und töricht, wenn er des grundlegenden
Werkzeugs entbehrt, das nötig ist, um zu verstehen, um sich über das irdische
zu erheben und sich emporzuschwingen zur Höhe, zur allerhöchsten Intelligenz
und Macht, mit einem Wort, zur Gottheit. Ich spreche so zu dir, Demetrios,
weil du nicht immer nur ein Wechsler gewesen bist. Du kannst meine Worte
verstehen und sie den anderen erklären.»
«Du bist wirklich ein Seher,
Meister. Nein, ich bin nicht immer nur ein Wechsler gewesen... Das war
vielmehr die letzte Stufe meines Abstiegs... Sage mir, Meister: Wenn aber die
Seele Königin ist, weshalb herrscht sie dann nicht über den bösen Gedanken und
bezwingt das böse Fleisch des Menschen?»
«Zwang würde weder Freiheit
bedeuten noch Verdienst; es wäre Unterdrückung.»
«Aber der Gedanke und das Fleisch
überwältigen oft die Seele – ich spreche von mir, von uns – und machen sie zu
ihrer Sklavin. Daher sagte
252
ich, daß in uns die Gestalt einer
Sklavin angenommen habe. Wie kann Gott erlauben, daß sie, etwas so Erhabenes –
du selbst hast sie den Hauch Gottes und sein Ebenbild genannt – von etwas
niedrigerem gedemütigt wird?»
«Im Plan Gottes war nicht
vorgesehen, daß die Seele zur Sklavin werde. Vergißt du den Feind Gottes und
des Menschen? Die niedrigen Geister sind auch euch bekannt.»
«Ja, und sie haben alle grausame
Gelüste. Ich kann sagen, wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, daß der
Mensch, der ich geworden und dann bis an die Schwelle meines Greisenalters
geblieben bin, nur diesen niederen Geistern zuzuschreiben ist. Nun finde ich
das arme, verwirrte Kind von damals wieder. Aber kann ich so sehr Kind werden,
daß ich auch zur Reinheit von damals zurückfinde? Kann man in