Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben
Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise
kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht
verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte.
Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es
ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle
stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu
halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte
Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren
Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.
Das Werk kann man hier
in Buchform erwerben:
Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch
Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
Band VIII:
Drittes Jahr des öffentlichen Lebens Jesu (Fortsetzung)
482. In Nazareth. S. 9
483. Jesus erzählt bei der Arbeit das Gleichnis vom lackierten Holz. S. 14
484. Friedliche Sabbate in Nazareth. S. 21
485. «Bevor ich Mutter bin, bin ich Tochter und Dienerin Gottes». S. 26
486. Jesus und Maria im Gespräch. S. 31
487. Maria in Tiberias. S. 34
488. Man muss dem Wohltäter Dankbarkeit erweisen. S. 41
489. Ein weiterer Sabbat in Nazareth. S. 44
490. Abreise nach Bethlehem in Galiläa. S. 50
491. Judas Iskariot bei Maria in Nazareth. S. 59
492. Der Tod des Grossvaters von Margziam. S. 66
493. Jesus spricht zu den Aposteln über die Liebe. S. 70
494. Jesus in Tiberias. S. 78
495. Jesus kommt nach Kapharnaum. S. 90
496. Verkündigung des Evangeliums in der Gegend am See; In Kapharnaum. S. 91
497. In Magdala. S. 98
498. Episode in Kapharnaum; Jesus Beschützer der Kinder. S. 108
499. In einem Vorort von Hippos. S. 113
500. Morgendliche Predigt in der Vorstadt am See. S. 121
501. Predigt am Aufenthaltsort des Aussätzigen. S. 127
502. Jesus in Hippos. S. 137
503. Nach Gamala. S. 145
504. In Gamala. S. 151
505. Von Gamala nach Apheca. S. 164
506. Predigt in Apheca. S. 171
507. Nach Gergesa und Rückkehr nach Kapharnaum. S. 175
508. «Seid klug wie die Schlangen und sanft wie die Tauben». S. 181
509. Der Sabbat in Kapharnaum. S. 187
510. Bei Johanna des Chuza; Briefe aus Antiochia. S. 194
511. Bei den Thermen von Emmaus bei Tiberias. S. 215
512. In Tarichäa. S. 221
513. Im Landhaus des Chuza jenseits des Jordan. S. 231
514. Jesus spricht von seinem vielgeliebten Jünger. S. 246
515. In Bethsaida und Kapharnaum; Erneute Abreise. S. 250
516. Bei Judas und Anna am Meronsee. S. 259
517. Jesus erzählt das Gleichnis von der Wasserverteilung. S. 263
518. «Ich kenne keine bessere Ruhe als sagen zu können: Ich habe einen
gerettet, der zugrunde ging!». S. 273
519. Jeder Fall hat seine Vorgeschichte in der Zeit. S. 279
520. Abschied von den wenigen Gläubigen in Chorazim. S. 280
521. Jesus spricht über die Pflichten von Schwiegermutter und
Schwiegertochter. S. 282
522. Jesus spricht von seinem Reich und von seinem Gesetz. S. 287
523. Ein Urteil. S. 295
524. Jesus heilt den blindgeborenen Knaben von Sidon. S. 303
525. «Die Lehre der Schauung handelt von der Gattentreue». S. 308
526. Auf der Rückkehr aus den syro-phönizischen Grenzgebieten. S. 311
527. Auf dem Weg nach Sephoris. S. 312
528. Jesus bei den Aussätzigen Sündern von Bethlehem in Galiläa. S. 318
529. Jesus und seine Mutter im Wald des Mattathias. S. 327
530. Jesus im Gespräch mit Joseph des Alphäus. S. 336
531. In Erwartung der Bauern des Jochanan beim Turm von Jezrael. S. 345
532. Auf dem Weg nach Engannim. S. 349
533. Ankunft Jesu mit Johannes in Engannim. S. 351
534. Jesus und der samaritanische Hirte. S. 356
535. Die zehn Aussätzigen bei Ephraim. S. 363
536. Jesus in Ephraim; Das Gleichnis vom Granatapfel. S. 372
537. Jesus in Bethanien zum Laubhüttenfest. S. 377
538. Jesus beim Laubhüttenfest im Tempel; «Das Reich Gottes kommt nicht mit
Gepränge». S. 383
539. Im Tempel; «Kennt ihr mich und wisst ihr, woher ich bin?». S. 391
482. IN NAZARETH
Wer von Sephoris kommt, erreicht
Nazareth von Nordwesten her, d.h. von der höher gelegenen felsigen Gegend. Das
Amphitheater, auf dem Nazareth stufenweise erbaut ist, liegt vollständig vor
den Augen dessen, der von Sephoris kommend durch ziemlich steile Schluchten in
die Ortschaft hinabsteigt. Wenn ich mich richtig erinnere (denn seither ist
schon einige Zeit verstrichen und viele Orte im Gebirge sehen einander
ähnlich), ist die Stelle, an der sich Jesus gerade befindet, genau die, an der
seine Mitbürger ihn zu steinigen versuchten, er sie aber durch seine Macht
lähmte und mitten durch sie hindurchschritt.
Jesus bleibt stehen und schaut
auf die ihm so teure und zugleich so feindlich gesinnte Stadt, und ein
zufriedenes Lächeln läßt sein Antlitz aufleuchten. Welch ein von den
Nazarenern unbeachteter und für sie unverdienter Segen ist dieses göttliche
Lächeln doch, das sicherlich Gnaden über die Erde ergießt, die ihn als Kind
aufgenommen und heranwachsen gesehen hat und wo seine Mutter geboren und Braut
Gottes und Gottesgebärerin wurde!
Auch die beiden Vettern
betrachten ihre Stadt mit sichtlicher Freude, obwohl die des Thaddäus etwas
durch seinen strengen, zurückhaltenden Ernst gemäßigt wird, während die des
Jakobus offener und sanfter, mehr der von Jesus ähnlich ist.
Das Antlitz des Thomas leuchtet
vor Freude, obwohl es nicht seine Stadt ist, als er auf das Häuschen Marias,
aus dessen Kamin Rauch emporsteigt, zeigt und sagt: «Die Mutter ist zu Hause
und bäckt Brot...» Es scheint, als spräche er von seiner eigenen Mutter mit
der ganzen Zuneigung eines Sohnes, so viel Liebe bergen diese einfachen Worte.
Der Zelote, bedächtiger aufgrund
seines Alters und der Erziehung, die er erhalten hat, sagt lächelnd: «Ja, und
ihr Friede dringt schon in unsere Herzen.»
«Beeilen wir uns», sagt Jakobus,
«und nehmen wir diesen Pfad, auf dem wir fast keinen Nazarenern begegnen
werden. Sie würden uns aufhalten ...»
«Aber so entfernt ihr euch von
eurem Haus... Auch eure Mutter möchte euch sehen.»
«Oh, du kannst sicher sein,
Simon, daß unsere Mutter bei Maria ist. Sie ist fast immer dort ... Auch jetzt
wird sie dort sein, um beim Brotbacken zu helfen, und auch des kranken
Mädchens wegen.»
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«Ja, nehmen wir diesen Weg. Wir
werden den Garten des Alphäus hinten umgehen und direkt zur Hecke unseres
Gartens gelangen», sagt Jesus.
Sie steigen eilig den Pfad hinab,
der anfangs recht steil ist, dann aber in der Nähe sanfter abfällt. Sie
durchqueren Olivenhaine, dann kleine Felder, deren Heu schon eingesammelt
worden ist. Nun kommen sie an den ersten Gärten der Stadt vorüber, und die
hohen, dichtbelaubten Hecken, die sie umschließen und über die sich die Zweige
der fruchtbeladenen Bäume neigen, verbergen sie vor den Blicken der
Hausfrauen, die in den Gärten beschäftigt sind oder Wäsche waschen und sie auf
dem kleinen Rasen vor den Häusern ausbreiten...
Die Hecke, die auf einer Seite
den Garten Marias begrenzt, ein Dornengestrüpp im Winter, eine reiche
Blütenpracht des Weißdorn im Frühling, ein Blütenwogen im Sommer und ein
rubinartiges Aufleuchten der kleinen roten Früchte im Herbst, wird jetzt
verschönert durch einen üppig wachsenden Jasmin und Blumenkelche, deren Name
mir unbekannt ist und die sich mit ihren Zweigen vom Innern des Gartens her
über die Hecke neigen, um sie noch dichter und schöner erscheinen zu lassen.
Eine Grasmücke singt in diesem Dickicht, und drinnen gurren die Turteltauben.
«Auch der Garteneingang ist über
und über mit blühenden Zweigen bedeckt», sagt Jakobus, der vorausgelaufen ist,
um nach dem einfachen Gittertor auf der Rückseite des Gartens zu sehen, das
nach jahrelangem unnützen Dasein schließlich dazu gedient hatte, den von
Petrus für Johannes und Syntyche vorbereiteten Wagen ein- und ausfahren zu
lassen.
«Wir werden durch das kleine
Gäßchen gehen und an die Türe klopfen. Meiner Mutter würde es leid tun, wenn
wir diesen Schutz beschädigen», entgegnet ihm Jesus.
«Ihr verschlossener Garten!» ruft
Judas des Alphäus aus.
«Ja, sie ist die Rose darin»,
sagt Thomas.
«Die Lilie unter den Dornen»,
sagt Jakobus.
«Die versiegelte Quelle», sagt
der Zelote.
«Besser noch: der Urquell
lebendigen Wassers, das stürmisch hervorquillt aus dem schönen Berg, der Erde
das Wasser des Lebens gibt und mit seiner duftenden Schönheit zum Himmel
aufsteigt», sagt Jesus.
«In Kürze wird sie glückselig
sein, dich wiederzusehen», sagt Jakobus.
«Mein Bruder, kläre mich über
etwas auf, was ich seit langer Zeit gerne wüßte. Als was betrachtest du Maria?
Als Mutter oder als Untergebene? Sie ist dir Mutter, aber sie ist eine Frau,
und du bist Gott ...» sagt Thaddäus.
«Als Schwester und Braut, als
Wonne und Friede Gottes und als Trost des Menschen. Alles sehe und finde ich
in Maria als Gott und als Mensch. Sie, die die Wonne der zweiten Person der
Dreieinigkeit im Himmel, die Wonne des Wortes und des Vaters und des Heiligen
Geistes war, ist die
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Wonne des fleischgewordenen
Gottes und wird es auch des verherrlichten Gottmenschen sein.»
«Welch ein Geheimnis! Gott hat
also in zweifacher Weise seinem Wohlgefallen entsagt: in dir und in Maria, und
hat euch der Erde geschenkt...»erwägt der Zelote...
«Welch eine Liebe, mußt du sagen!
Die Liebe drängte die Dreieinigkeit, Maria und Jesus der Erde zu schenken»,
sagt Jakobus.
«Nicht dich, der du Gott bist,
sondern seine Rose betreffend, möchte ich dich etwas fragen: war Gott nicht
besorgt, als er sie den Menschen anvertraute, die doch alle unwürdig sind, sie
zu behüten?» fragt Thomas.
«Thomas, die Antwort findest du
im Hohenlied: Der Friedfertige hatte einen Weinberg und vertraute ihn den
Winzern an, die als vom Schänder angespornte Schänder große Summen geboten
hätten, ihn zu besitzen, also alle Verführungskünste anwandten, ihn zu
verführen; aber der schöne Weinberg des Herrn schützte sich selbst und wollte
seine Früchte niemand anderem geben als dem Herrn. Ihm allein wollte er sich
öffnen, um den unbezahlbaren Schatz zu gebären: den Erlöser.»
Nun sind sie an der Haustür
angelangt. Judas des Alphäus bemerkt, während Jesus an die verschlossene Türe
klopft: «Jetzt wäre es angebracht, zu sagen: ... Öffne mir, Schwester, meine
Braut, Geliebte, Taube, Unbefleckte...»
Aber als sich die Tür öffnet und
das liebliche Antlitz der Jungfrau erscheint, sagt Jesus, indem er die Arme
ausbreitet, nur das eine süßeste Wort: «Mutter!»
«Oh! Mein Sohn! Gesegneter! Tritt
ein! Der Friede und die Liebe seien mit dir!»
«Und mit meiner Mutter, dem Haus
und denen, die darin verweilen», sagt Jesus und tritt ein, gefolgt von den
anderen.
«Da drüben ist eure Mutter; die
beiden Jüngerinnen sind mit Backen und Waschen beschäftigt...» erklärt Maria
nach der gegenseitigen Begrüßung mit den Aposteln und Neffen. Letztere ziehen
sich rücksichtsvoll zurück, um die Mutter mit ihrem Sohn alleinzulassen.
«Sieh, nun bin ich wieder bei
dir, meine Mutter. Wir werden ein wenig zusammensein... Wie süß ist die
Rückkehr... das Haus und besonders du, o Mutter, nach einem so langen
Verweilen unter den Menschen ...»
«Die dich immer besser
kennenlernen und sich durch diese Kenntnis in zwei Gruppen spalten: die, die
dich lieben... und die, die dich hassen... und die größere Gruppe ist letztere
...» -
«Der Böse fühlt, daß er nahe
daran ist, besiegt zu werden. Er ist wutentbrannt... und stachelt auch die
anderen an... Wie geht es dem Mädchen ?»
«Etwas besser... Es war dem Tode
nahe... Aber seine Worte gleichen noch jetzt, trotz seiner Zurückhaltung,
denen, die es im Fieberwahn
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ausgesprochen hat. Es hieße,
nicht die Wahrheit sagen, wenn wir behaupten würden, nicht ihre
Lebensgeschichte daraus abgelesen zu haben... Die Unglückliche!»
«Ja, aber die Vorsehung hat über
sie gewacht.»
«Und nun? ...»
«Und nun... Ich weiß es nicht.
Aurea gehört mir nicht als Mensch. Ihre Seele ist mein, doch ihr Körper gehört
Valeria. Vorerst wird sie hierbleiben, um zu vergessen...»
«Myrtha möchte sie haben.»
«Ich weiß es... Doch ich habe
nicht das Recht, ohne die Erlaubnis der Römerin zu handeln. Ich weiß nicht
einmal, ob sie das Mädchen mit Geld erworben oder nur die Waffe der
Versprechungen benützt hat. Wenn es die Römerin wieder anfordert...»
«Ich werde für dich hingehen,
mein Sohn. Es wäre nicht gut, wenn du selbst hingingst... Überlasse dies
deiner Mutter. Wir Frauen... die niedrigsten Wesen in den Augen Israels,
werden nicht so sehr beobachtet, wenn wir mit Heidinnen sprechen gehen, und
zudem ist deine Mutter der Welt so unbekannt! Niemand wird auf eine Jüdin aus
dem einfachen Volk achten, die in ihren Mantel gehüllt durch die Straßen von
Tiberias geht und an die Haustür einer römischen Dame klopft...»
«Du könntest zum Haus der Johanna
gehen... und dort mit der Dame sprechen...»
«So werde ich es machen, mein
Sohn! Dein Herz sei erleichtert, o mein Jesus! Du bist so sehr betrübt... Ich
verstehe es ... und ich würde gerne so viel für dich tun...»
«Du tust schon sehr viel für
mich, Mutter. Ich danke dir für alles, was du tust...»
«Oh, ich bin dir nur eine geringe
Hilfe, mein Sohn! Denn es gelingt mir nicht, die Menschen dazuzubringen, dich
zu lieben, dir... Freude zu bereiten... solange es dir noch gewährt ist, ein
wenig Liebe und Freude zu erfahren... Was bin ich dir also? Eine gar armselige
Jüngerin...»
«Mutter! Mutter! Sprich nicht so!
Meine Kraft kommt mir aus deinen Gebeten. Mein Geist ruht sich aus im Gedanken
an dich, und nun findet mein Herz Trost, indem ich mein Haupt an dein
gesegnetes Herz lege... Oh, meine Mutter! ...» Jesus hat seine Mutter an sich
gezogen, die neben ihm steht, während er auf einer an der Wand stehenden Truhe
sitzt. Er lehnt seine Stirn an ihre Brust, und sie streichelt ihm sanft das
Haar...
Eine Pause voll der Liebe.
Dann erhebt Jesus sein Haupt,
steht auf und sagt: «Gehen wir zu den anderen und zu dem Mädchen», und er
begibt sich mit der Mutter in den Garten. Die drei Jüngerinnen stehen auf der
Schwelle des Zimmers, in dem das kranke Mädchen liegt, und sprechen leise mit
den Aposteln. Doch als sie Jesus erblicken, schweigen sie und knien nieder.
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«Der Friede sei mit dir, Maria
des Alphäus, und mit euch, Myrtha und Noemi. Schläft das Mädchen?»
«Ja. Das Fieber dauert an,
verwirrt es und verzehrt seine Kräfte. Wenn es so weitergeht, wird das Mädchen
bald sterben. Sein zarter Körper widersteht der Krankheit nicht mehr, und sein
Geist wird durch Erinnerungen erregt», sagt Maria des Alphäus.
«Ja... sie spricht auf nichts an
und sagt nur, daß sie sterben möchte, um keinen Römer mehr zu sehen»,
bestätigt Myrtha.
«Ein Schmerz für uns, die wir sie
schon liebgewonnen haben ...» sagt Noemi.
«Keine Sorge!» erwidert Jesus,
der bis zur Schwelle des Kämmerleins geht und den Vorhang aufhebt...
In dem kleinen Bett an der Wand,
gegenüber der Tür, erscheint das abgemagerte Gesichtchen, mit hochroten
Wangen, sonst schneeweiß und im langen, goldfarbenen Haar begraben. Das
Mädchen schläft unruhig und von Angst gequält, unverständliche Worte murmelnd,
und macht mit den auf der Decke liegenden Händen von Zeit zu Zeit eine
Bewegung, als wolle es etwas von sich weisen.
Jesus nähert sich ihr nicht
weiter. Er betrachtet sie mit mitleidigen Augen und ruft dann laut: «Aurea!
Komm! Dein Retter ist da.»
Das Mädchen richtet sich
plötzlich in seinem Bettchen auf, sieht ihn, steht mit einem Schrei auf und
läuft barfuß in seiner langen Tunika auf Jesus zu. Es wirft sich ihm zu Füßen
mit den Worten: «Herr! Jetzt hast du mich befreit!»
«Sie ist geheilt. Seht ihr? Sie
konnte nicht sterben, denn vorher muß sie die Wahrheit kennenlernen.» Dann
sagt er zu dem Mädchen, das seine Füße küßt: «Steh auf und lebe in Frieden»,
und legt die Hände auf sein Haupt, das nun nicht mehr fiebert.
Aurea in ihrem langen
Linnengewand, vielleicht eines von Maria, der Jungfrau, da es so lang ist, daß
sie es auf dem Boden nachschleift, die Haare aufgelöst, so daß sie ihre zarte
Gestalt wie ein Mantel bedecken, die graublauen Augen noch glänzend von dem
eben entschwundenen Fieber und der Freude, die sie nun erfüllt, gleicht einem
Engel.
«Bis nachher. Wir ziehen uns in
die Werkstatt zurück, während ihr euch um das Mädchen und das Haus kümmert...»
sagt der Meister und, gefolgt von den vier Aposteln, betritt er die Werkstatt
Josephs und setzt sich mit ihnen auf die nicht benutzten Arbeitstische...
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483. JESUS ERZÄHLT BEI DER ARBEIT
DAS GLEICHNIS VOM LACKIERTEN HOLZ
Die einfache Feuerstätte in der
Werkstatt wird nach langer Zeit wieder benützt und der Geruch des Leimes, der
in einem Behälter kocht, vermischt sich mit dem so charakteristischen des
Sägemehls und der frischen Späne, die in immer neuen Schichten den Boden unter
der Hobelbank bedecken.
Jesus arbeitet mit Ausdauer an
Holzbrettern, die er mit Hilfe der Säge und des Hobels in Stuhlbeine, Laden
usw. verwandelt. Schlichte Möbelstücke, die Möbel des Häuschens von Nazareth
sind in die Werkstatt gebracht worden. Der Backtrog ist auszubessern, außerdem
einer der Webstühle Marias, zwei Hocker, eine Gartenleiter, eine kleine
Sitztruhe und die Backofentür, deren unterer Teil vielleicht die Mäuse
angenagt haben.
Jesus ist damit beschäftigt, all
das wieder in Ordnung zu bringen, was der Gebrauch und die Zeit verschlissen
haben.
Thomas hingegen arbeitet mit
Geschick an Silberfolien. Er hat die kleinen Goldschmiedeinstrumente wohl
seiner Tasche entnommen, die auf dem Bett liegt, das man, wie jenes des
Zeloten, gegen die Wand gerückt hat. Das Klopfen seines Hämmerchens auf den
Grabstichel erzeugt einen silbernen Ton, der sich unter das dumpfe Geräusch
der Werkzeuge Jesu mischt.
Von Zeit zu Zeit wechseln sie
einige Worte, und Thomas ist so glücklich, dort beim Meister und bei seiner
Arbeit als Goldschmied zu sein und zeigt es auch, indem er in den
Gesprächspausen leise vor sich hinpfeift. Bisweilen erhebt er die Augen und
denkt nach, wobei er die rauchigen Wände des Raumes betrachtet.
Jesus bemerkt es und sagt: «Läßt
du dich von dieser schwarzen Wand inspirieren, Thomas? Ja, sie ist durch die
langjährige Arbeit eines Gerechten so geworden; doch glaube ich nicht, daß sie
einem Goldschmied Ideen für seine Arbeit eingeben könnte...»
«Nein, Meister. Ein Goldschmied
kann wahrlich mit dem kostbaren Metall nicht die Poesie der heiligen Armut
wiedergeben... doch kann er mit seinem Metall schöne Dinge der Natur nachahmen
und so Gold und Silber veredeln, indem er damit Blumen und Blätter nachbildet,
wie man sie in der Schöpfung findet. Ich denke an diese Blumen, diese Blätter,
und um mich genau an ihr Aussehen zu erinnern, fixiere ich die Wand; aber in
Wirklichkeit sehe ich die Wälder und Felder unseres Heimatlandes, die leichten
Blätter, die Blumen, die Kelchen und Sternen gleichen, die Haltung der Stiele
und des Laubwerks...»
«Dann bist du ein Dichter, der
mit dem Metall das besingt, was ein anderer mit Tinte auf seinem Pergament
ausdrückt.»
«Ja. Tatsächlich ist der
Goldschmied ein Dichter, der mit dem Metall
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die Schönheiten der Natur
beschreibt. Aber unsere Arbeit, obwohl künstlerisch und schön, hat nicht den
Wert der deinen, die so demütig und heilig ist; denn die unsrige dient der
Eitelkeit der Reichen, während die deinige der Heiligkeit des Hauses und zum
Nutzen der Armen dient.»
«Gut gesagt, Thomas», wirft der
Zelote ein, der vom Garten kommend auf der Türschwelle erschienen ist mit
aufgeschürztem Gewand und aufgekrempelten Ärmeln. Er hat eine alte Schürze
umgebunden und hält einen Farbtopf in der Hand.
Jesus und Thomas drehen sich um
und schauen ihn lächelnd an. Thomas antwortet: «Ja, ich habe recht. Aber ich
möchte, daß die Arbeit des Goldschmiedes wenigstens einmal dazu dient,
etwas... Gutes, Heiliges zu schmücken...»
«Was sagst du da?»
«Das ist mein Geheimnis. Schon
seit langer Zeit spiele ich mit diesem Gedanken, und seit wir in Rama waren,
trage ich eine kleine Goldschmiedetasche bei mir, immer in der Erwartung
dieses Augenblicks... Und deine Arbeit, Simon?»
«Oh, ich bin kein vollkommener
Künstler wie du, Thomas. Es ist das erste Mal, daß ich einen Pinsel in der
Hand halte, und mein Anstrich ist noch ungleichmäßig, obwohl ich all meinen
guten Willen hineinlege. Deswegen habe ich mit den einfachsten Teilen
begonnen... um mich zu üben... und ich versichere dir, meine
Ungeschicklichkeit brachte das Mädchen herzlich zum Lachen. Aber das freut
mich. Sie kehrt stündlich mehr und mehr zu einem heiteren, ruhigen Leben
zurück, und das ist notwendig, um die Vergangenheit auszulöschen und einen
neuen Menschen aus ihr für dich zu machen, Meister.»
«Ja... aber vielleicht wird
Valeria sie zurückverlangen...» sagt Thomas.
«Ach! Was kann die schon für ein
Interesse an ihr haben? Wenn sie die Kleine bei sich behalten hat, so nur, um
sie nicht in der Welt verkommen zu lassen. Und sicher wäre es gut, das Mädchen
für immer und in jeder Beziehung zu retten, besonders was ihre Seele betrifft.
Ist es nicht so, Meister ?»
«So ist es. Wir müssen viel darum
beten. Das Kind ist einfach und wirklich gut, und in der Wahrheit erzogen,
könnte es gute Früchte bringen. Es strebt von sich aus zum Licht.»
«Das will ich meinen! Sie hat
keinen Trost auf Erden und sucht ihn im Himmel, die Arme! Ich glaube, daß,
wenn deine Frohe Botschaft einst auf der ganzen Welt verkündet werden kann, es
gerade die Sklaven sein werden, die sie als erste und in besonders großer Zahl
annehmen; jene, die des menschlichen Trostes entbehren und ihn in deinen
Versprechungen suchen und finden werden... Und ich versichere dir, wenn mir
die Ehre zuteil werden sollte, über dich zu predigen, dann werde ich eine ganz
besondere Vorliebe für diese Unglücklichen zeigen ...»
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«Und du wirst gut daran tun,
Thomas», sagt Jesus.
«Ja, aber wie wirst du an sie
herankommen?»
«Oh! Ich werde Goldschmied für
die Damen sein und... Meister für ihre Sklaven. Ein Goldschmied kommt in die
Häuser, oder die Diener der Reichen kommen in sein Haus... und so werde ich
zwei Metalle bearbeiten: die der Erde für die Reichen... die des Geistes für
die Sklaven...»
«Gott segne dich für diese
Vorsätze, Thomas. Harre aus...»
«Ja, Meister.»
«Gut. Nun, da du Thomas
geantwortet hast, komm mit mir, Meister. Schau dir meine Arbeit an und sage
mir, was ich noch anstreichen soll. Vertraue mir nur einfache Arbeiten an,
denn ich bin noch ein sehr ungeschickter Lehrling.»
«Gehen wir, Simon ...» Jesus legt
seine Werkzeuge nieder und geht mit dem Zeloten hinaus...
Nach einiger Zeit kehren sie
zurück, und Jesus weist auf die Gartenleiter: «Streiche diese an. Die Ölfarbe
macht das Holz wasserdicht und haltbarer, ganz abgesehen davon, daß sie es
auch verschönert. Sie wirkt wie die Tugenden, die das Menschenherz schützen
und es verschönern. Dieses Herz mag ungebildet und roh sein... doch wenn es
die Tugenden bekleiden, wird es anmutiger und freundlicher. Schau, um einen
schönen Anstrich zu erzielen und einen wirklichen Nutzen davon zu haben, muß
man auf mehreres achten: Erstens muß man mit Sorgfalt all das zusammensuchen,
was zur Herstellung der Farbe notwendig ist. Also ein Gefäß, das frei von
Schmutz und Überresten alter Farben ist, gutes Öl und gute Farben. Dann muß
mit Geduld gemischt und gerührt werden, um eine Flüssigkeit herzustellen, die
weder zu dick und noch zu dünn ist; und man darf nicht aufhören zu rühren, bis
auch das kleinste Klümpchen sich aufgelöst hat. Ist die Farbe bereit, so nimmt
man einen Pinsel, der keine Borsten verliert, und achtet darauf, daß diese
nicht zu hart und nicht zu weich sind. Den Pinsel muß man von jeder vorher
benützten Farbe gründlich säubern. Doch bevor man mit dem Anstrich beginnt,
heißt es noch, alle rauhen Stellen, alle Farbkrusten und allen sonstigen
Schmutz vom Holz zu entfernen. Alsdann fährt man mit sicherer Hand stets in
derselben Richtung über den Gegenstand, der bemalt werden soll, und trägt die
Farbe mit viel Geduld auf, denn dasselbe Stück Holz kann mehrere Härten
aufweisen. Auf den Knoten z.B. bleibt die Farbe zwar glatt, doch haftet sie
dort schlecht, als ob das Holz sie abstoßen würde. Andererseits haftet die
Farbe an den weicheren Holzteilen sofort gut; aber diese sind meistens nicht
so ebenmäßig, und daher können sich Blasen oder Streifen bilden... Man muß
also nachhelfen, indem man die Farbe mit beständiger Handbewegung aufträgt.
Ferner gibt es bei alten
Möbeln oder Gegenständen neuere
Teile. So hat diese Gartenleiter neue
Sprossen, die durch einen neuen
Anstrich den älteren angepaßt werden
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müssen... Schau, so!» Jesus
arbeitet, während er spricht, am unteren Teil der Leiter.
Thomas, der seinen Stichel
niedergelegt hat, um näherzukommen und zuzusehen, fragt: «Warum hast du unten
angefangen statt oben? Wäre es nicht besser gewesen, umgekehrt vorzugehen?»
«Es könnte besser scheinen, ist
aber nicht so. Denn der unterste Teil wird am meisten in Anspruch genommen und
nützt sich zudem ab, da er auf den Boden aufgesetzt wird. Deswegen muß er
mehrmals gestrichen werden, einmal, zweimal, vielleicht, wenn nötig, auch
dreimal... Um nicht müßig zu sein, bis er zu einem zweiten Anstrich bereit
ist, streiche ich inzwischen die oberen und die mittleren Sprossen.»
«Aber dabei können die Kleider
schmutzig und die bereits getane Arbeit zunichte gemacht werden.»
«Wenn man gut achtgibt,
beschmutzt man sich nicht und beschädigt auch nichts. Siehst du? So macht man
es. Man rafft die Kleider zusammen und hält sich in einem gewissen Abstand von
der Leiter; nicht aus Ekel vor der Farbe, sondern um die zarte, frisch
aufgetragene Farbschicht nicht zu beschädigen», und Jesus bemalt mit
hochgestrecktem Arm den oberen Teil der Leiter.
Dann fährt er fort: «So macht man
es auch mit den Seelen. Ich habe anfangs gesagt, daß der Farbanstrich mit der
Verschönerung des Menschenherzens durch die Tugenden zu vergleichen ist. Er
bedeutet für das Holz Verschönerung und Schutz gegen Holzwürmer, Regen und
große Hitze. Wehe dem Hausherrn, der sich nicht um den Neuanstrich der
hölzernen Teile kümmert und sie verkommen läßt. Wenn man sieht, daß die Farbe
vom Holz abblättert, darf man nicht lange zögern, sie aufzufrischen... Auch
die Tugenden können nach einem ersten großen Eifer wieder nachlassen oder
gänzlich entschwinden, wenn der Mensch nicht über sie wacht; und Fleisch und
Geist, die dann schutzlos der Witterung und den Parasiten ausgesetzt sind,
d.h. den Leidenschaften und der Zügellosigkeit, können, von diesen
angegriffen, gänzlich ihr schönes Kleid verlieren und schließlich nur noch für
das Feuer taugen.
Wenn wir daher bei uns oder
unseren geliebten Jüngern den Zerfall oder die Schwächung der Tugenden, die
unser Ich wie ein Gewand umkleiden und schützen sollen, wahrnehmen, müssen wir
uns unentwegt darum bemühen, sie zu erneuern, auf daß wir und sie einst mit
der glorreichen Auferstehung würdigem Fleisch und ebensolcher Seele dem Tod
entgegengehen können.
Damit die Tugenden wahr und echt
seien, muß man sie mit reinem und mutigem Herzen zu üben beginnen, d.h. alle
Reste und allen Schmutz entfernen und keine Unvollkommenheit bei ihrer
Heranbildung sich einschleichen lassen. Man vermeide einerseits allzugroße
Härte, andererseits übertriebene Weichlichkeit; beides schadet nur.
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Nun zum Pinsel, dem Willen. Er
muß frei sein von früheren menschlichen Gewohnheiten, die die geistige Färbung
beeinträchtigen könnten. Man muß sich selbst oder andere durch eine wenn auch
mühevolle aber zweckmäßige und notwendige Arbeit vorbereiten, um das alte Ich
von seinen früheren schlechten Gewohnheiten zu befreien und es zur Aufnahme
der Tugenden zu befähigen. Denn man kann nicht Neues mit Altem vermischen.
Dann kann mit Sorgfalt und
Bedachtsamkeit die eigentliche Arbeit beginnen. Man darf nicht ohne ernsten
Grund hin- und herspringen, einmal in die eine Richtung und dann wieder in die
andere. Das wäre vielleicht weniger ermüdend, aber der Strich würde
unregelmäßig werden. So geschieht es auch bei den ungeordneten Seelen. Sie
haben ihre guten Seiten, aber daneben auch Entgleisungen: andere Farbtöne...
Es gibt Stellen, die Knoten, die dem Anstrich Widerstand leisten, Wirrwarr der
Materie oder ungeordnete Leidenschaften, abgetötet durch den Willen, ja, wie
das Holz durch den Hobel geglättet wird, die jedoch wie ein abgesägter, aber
nicht ganz entfernter Knoten Widerstand leisten. Oftmals können sie täuschen,
indem sie schon von Tugend umkleidet zu sein scheinen, während doch nur ein
leichter Schleier sie bedeckt, der plötzlich fällt. Achtet auf die Knoten der
Begierlichkeit. Sie müssen regelmäßig mit Tugend bedeckt werden, um nicht
wieder aufzuleben und das neue Ich zu verderben, so wie auch die weichen
Teile, die mit allzu großer Nachgiebigkeit Färbungen annehmen, aber nach ihrem
Gutdünken, mit Bläschen und Rissen. Sie müssen mit Fischhaut immer und immer
wieder geglättet werden, um für einen oder zwei Anstriche vorbereitet zu sein,
bis ihre Oberfläche wie starkes Email vollkommen glatt ist. Ferner muß man
darauf achten, nicht übermäßig Farbe aufzutragen. Ein Übermaß an Ansprüchen an
die Tugend bewirkt die Auflehnung des Geschöpfes, das sich beim ersten
Konflikt wiederum verfehlt. Nein, weder zu viel noch zu wenig. Gerechtigkeit
bei der Bearbeitung seiner selbst und der Geschöpfe, die aus Leib und Seele
bestehen.
Und wenn dann, wie es meistens
geschieht – denn Menschen wie Aurea sind eine Ausnahme, nicht die Regel –
Neues mit Altem vermischt wird, wie das der Fall ist bei den Juden, die sich
von Moses zu Christus bekehren und auch bei den Heiden mit ihrem Mosaik
religiöser Bräuche, die sich nicht mit einem Schlag beseitigen lassen, sondern
immer wieder mit Sehnsüchten und Erinnerungen auftauchen, zumindest in den
reinsten Dingen, dann sind noch mehr Augenmerk und Takt geboten, und man muß
solange arbeiten, bis das Alte im Neuen aufgegangen ist, indem man schon zuvor
bestehende Dinge durch die neuen Tugenden vervollständigt. So spielen z.B. bei
den Römern Vaterlandsliebe und Mannesmut eine große Rolle. Diese sind beinahe
zum Mythos geworden. Zerstört sie nicht, sondern prägt dem vaterländischen
Geist einen neuen Geist ein, d.h. die
18
Überzeugung, daß Rom auch geistig
groß werden muß als Mittelpunkt des Christentums, und benützt die römische
Männlichkeit dazu, jene im Glauben stark zu machen, die es auch in der
Schlacht sind. Ein anderes Beispiel: Aurea. Der Abscheu vor einer brutalen
Offenbarung treibt sie dazu, das zu lieben, was rein ist. Gut, benützt dies,
um sie zu einer vollkommenen Reinheit zu führen, indem ihr sie lehrt, die
Verderbtheit zu verabscheuen, als ob sie der brutale Römer wäre.
Versteht ihr mich? Macht aus den
Gewohnheiten der Menschen Mittel, um in sie einzudringen und sie zu
überzeugen. Zerstört nichts brutal. Ihr hättet dann nicht sofort etwas bereit,
was euch zum Aufbau dienen kann. Ersetzt ganz langsam mit Liebe, Geduld und
Ausdauer das, was im Bekehrten nicht zurückbleiben darf. Da jedoch das
Materielle besonders bei den Heiden stets die Überhand behält und sich diese,
obwohl bekehrt, immer noch auf die heidnische Welt stützen, in der sie leben,
so besteht besonders auf der Enthaltsamkeit. Hinter der Sinnlichkeit drängt
sich nämlich alles übrige herein. Überwacht bei den Heiden die übermäßige
Sinnlichkeit, aber auch bei uns, wo sie – bekennen wir es – ebenfalls sehr
lebendig ist. Wenn ihr dann bemerkt, daß die Berührung mit der Welt die
schützende Farbschicht abblättern läßt, dann fahret nicht fort, den oberen
Teil zu bemalen, sondern kehrt zurück zum unteren Teil, indem ihr das
Gleichgewicht zwischen Geist und Fleisch, zwischen hoch und tief, beibehaltet.
Aber beginnt immer beim Fleisch, beim materiellen Laster, um den Menschen
darauf vorzubereiten, den Gast zu empfangen, der sich nicht in unreinen
Körpern mit Seelen, die nach fleischlicher Verderbnis stinken, niederläßt ...
Versteht ihr mich?
Fürchtet euch nicht vor der
Berührung eures Gewandes mit den unteren Teilen der Leiter bei den
Bekehrungsversuchen an den noch nicht Bekehrten. Klug sei euer Vorgehen, damit
ihr nicht zerstört, anstatt aufzubauen. Lebt gesammelt in eurem von Gott
genährten Ich, im Schutz der Tugend, und geht mit Zartgefühl vor, besonders
wenn ihr euch mit dem so empfindlichen seelischen Ich anderer beschäftigt;
dann wird es euch sicher gelingen, auch aus den verderbtesten Menschen des
Himmels würdige Wesen zu machen.»
«Welch schönes Gleichnis hast du
uns da erzählt! Ich will es für Margziam niederschreiben», sagt der Zelote.
«Und für mich, die ich noch ganz
für den Herrn geschmückt werden muß», sagt langsam, nach Worten suchend, Aurea,
die schon seit einiger Zeit barfuß auf der Schwelle der Tür zum Garten steht.
«Oh! Aurea! Hast du uns
zugehört?» fragt Jesus.
«Ich habe dir zugehört. Es ist so
schön. Habe ich nicht gut daran getan ?»
«Nein, Kind. Bist du schon
längere Zeit hier?»
«Nein. Und es tut mir leid, daß
ich nicht weiß, was du vorher gesagt
19
hast, Deine Mutter hat mich
geschickt, dir zu sagen, daß es Zeit ist, sich zu Tisch zu begeben. Das Brot
wird gleich aus dem Ofen geholt. Ich habe schon gelernt, Brot zu backen... Wie
schön! Ich habe ebenfalls gelernt, Leinwand zu bleichen. Bei der Arbeit mit
dem Brot und der Leinwand hat mir deine Mutter zwei andere Gleichnisse
erzählt.»
«Ja? Was hat sie denn gesagt?»
«Daß ich noch wie Mehl im
Mehlsieb bin, daß aber deine Güte mich reinigen, deine Gnade mich kneten, dein
Apostolat mich formen und deine Liebe mich backen wird. Wenn ich mich von dir
reinigen und bearbeiten lasse, wird aus dem unreinen, mit Kleie vermischten
Mehl, wie ich es bin, ein Hostienmehl und ein Brot werden, die des Altares
würdig sind. Bezüglich der Leinwand, die dunkel, ölig und rauh war, aber durch
Seifenkraut und Schlagen rein und weich geworden ist und nun in der Sonne noch
strahlend weiß werden wird, hat sie mir gesagt, daß die Sonne Gottes auch mit
mir so verfahren wird, wenn ich immer unter ihren Strahlen bleibe und die
Waschungen und auch die Abtötungen annehme, um des Königs der Könige, Deiner,
meines Herrn, würdig zu werden. Welch schöne Dinge lerne ich jetzt... Es
scheint mir ein Traum zu sein... ein schöner, wunderschöner Traum! Alles ist
schön hier... Schicke mich nicht fort, Herr!»
«Würdest du nicht gern zu Myrtha
und Noemi gehen?»
«Ich würde lieber hierbleiben...
Aber... auch bei ihnen... Nur nicht bei Römern, Herr. Nein, das nicht!»
«Bete, Kind!» sagt Jesus, indem
er seine Hand auf ihr honigblondes Haar legt. «Hast du schon beten gelernt?»
«O ja! Es ist so schön zu sagen:
"Vater unser" und an den Himmel zu denken... Aber... der Wille Gottes macht
mir etwas Angst, denn ich weiß nicht, ob Gott will, was ich will...»
«Gott will nur dein Bestes.»
«Ja? Du sagst es? Dann habe ich
keine Angst mehr... Ich fühle, daß ich in Israel bleiben werde, um immer mehr
diesen meinen Vater kennenzulernen... und... um die erste Jüngerin aus Gallien
zu sein, o mein Herr!»
«Deine Hoffnung wird in Erfüllung
gehen, weil sie gut ist. Gehen wir ...»
Alle gehen hinaus, um sich am
Becken unter der Quelle zu waschen, während Aurea zu Maria läuft; und man hört
die beiden Frauenstimmen, wortgewandt die Marias, unsicher die andere, und hin
und wieder ein fröhliches Lachen wegen eines sprachlichen Fehlers, den Maria
liebevoll verbessert.
«Das Mädchen lernt schnell und
gut», bemerkt Thomas.
«Ja, es ist gut und willig.»
«Und dann: Deine Mutter als
Lehrerin zu haben 1 ... Nicht einmal Satan könnte ihr widerstehen! ...» sagt
der Zelote.
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Jesus seufzt, ohne ein Wort zu
sagen.
«Warum seufzest du so, Meister?
Habe ich etwas Unrechtes gesagt?»
«Du hast ganz richtig gesprochen.
Aber es gibt Menschen, die hartnäckiger sind als Satan, der wenigstens vor dem
Anblick Marias flieht. Es gibt Menschen, die in ihrer Nähe sind und sich,
obwohl von ihr belehrt, nicht zum Guten ändern...»
«Aber wir doch nicht, wie?»
«Ihr nicht... Gehen wir...»
Sie gehen ins Haus, und alles ist
zu Ende.
484. FRIEDLICHE SABBATE IN
NAZARETH
Der Sabbat ist der Tag der Ruhe,
das wissen wir schon. Es ruhen die Menschen und die Werkzeuge. Letztere
zugedeckt oder ordentlich an ihrem Platz aufgehoben.
Nun, da der rötliche
Sonnenuntergang eines sommerlichen Freitags seinem Ende zugeht, sieht man
Maria, die im Schatten eines großen Apfelbaumes an ihrem kleinen Webstuhl
sitzt, sich erheben. Sie bedeckt ihr Gerät und bringt es mit Hilfe des Thomas
ins Haus an seinen Platz. Darin bittet sie Aurea, die, zu ihren Füßen auf
einem Hocker sitzend, noch etwas ungeschickt die Kleider zusammennäht, die sie
von den Römerinnen erhalten und die Maria ihrer Statur angepaßt hat, die
Stoffe zusammenzufalten, alles einzusammeln und es geordnet auf die Konsole
ihres Zimmerchens zu legen. Während Aurea tut, was ihr aufgetragen worden ist,
begibt sich Maria mit Thomas in die Werkstatt, wo Jesus und der Zelote damit
beschäftigt sind, Sägen, Hobel, Bohrer, Hämmer und Farb- und Leimtöpfe an
ihren Platz zu stellen und Hobelspäne und Sägemehl vom Arbeitstisch und vom
Boden zu kehren. Von der getanen Arbeit bleiben nur zwei Bretter, die an der
Verbindungsstelle im Schraubstock zusammengepreßt sind, damit der Leim in den
Einschnitten gut trocknen kann (vielleicht ist es eine Schublade), und ein
Stuhl, der zur Hälfte angestrichen ist und noch stark nach frischer Farbe
riecht.
Nun tritt auch Aurea ein, beugt
sich über die Silberarbeit des Thomas, bewundert sie und fragt neugierig, wozu
sie dient und ob sie ihr gut stehen würde.
«Sie würde dir gut stehen, aber
noch besser steht es dir an, brav zu sein. Das sind Schmucksachen, die mir den
Körper schmücken, dem Geist aber nichts nützen. Vielmehr schaden sie dem
Geist, da sie nur die Eitelkeit wecken.»
«Wenn das so ist, warum machst du
sie dann?» fragt das Mädchen logischerweise. «Willst du denn einer Seele Böses
zufügen?»
21
Der immer gutmütige Thomas
lächelt über diese Bemerkung und sagt
«Schaden bewirkt der Überfluß bei
einem schwachen Geist. Bei einem starken Geist bleibt das Schmuckstück nur
das, was es ist: eine Schnalle, die notwendig ist, um das Kleid in Ordnung zu
halten.»
«Für wen machst du sie? Für deine
Braut?» «Ich habe keine Braut und werde auch nie eine haben.»«Dann für deine
Schwester.» «Sie hat mehr, als sie braucht.» «Dann für deine Mutter.» «Die
arme alte Frau, was soll sie damit anfangen?» «Aber es ist für eine
Frau...»«Ja, aber nicht für dich.»
«Oh! Ich denke nicht einmal
daran... und da du gesagt hast, daß diese Dinge einem schwachen Geist schaden,
möchte ich sie auch nicht haben. Ich werde auch diese Borten von den Kleidern
entfernen. Ich will dem nichts Böses antun, was meines Erlösers ist!»
«Du bist ein braves Kind. Sieh,
du hast mit diesem deinem guten Willen ein schöneres Werk geschaffen als ich.»
«Oh! Das sagst du, weil du gut
bist! ...»
«Ich sage es, weil es wahr ist.
Siehst du: Ich habe diesen silbernen Block genommen, habe Blättchen daraus
gemacht und diese dann mit dem Werkzeug, vielmehr mit vielen Werkzeugen so
gebogen. Aber ich muß sie noch mehr biegen. Ich muß die verschiedenen Teile
auf ganz natürliche Weise miteinander verbinden. Vollendet sind vorläufig nur
die beiden Blätter mit ihren Blümchen», und Thomas nimmt zwischen seine großen
Finger den feinen Stengel eines Maiglöckchens, das in ein Blatt gehüllt ist,
das in vollendeter Weise die natürliche Form nachahmt. Es macht einen gewissen
Eindruck, dieses glitzernde Schmuckstück aus reinem Silber zwischen den
starken, gebräunten Fingern des Goldschmiedes zu sehen.
«Oh, schön! Es gab so viele davon
auf der Insel, und wir durften sie sammeln, bevor die Sonne aufging. Denn wir
Blonden durften nie an die Sonne gehen, um wertvoller zu sein. Die Brünetten
hingegen ließ man draußen unter der Sonne, bis sie sich übel fühlten, um sie
noch brauner werden zu lassen... Sie... Wie sagt man, wenn einer etwas
verkauft und behauptet, es sei eine bestimmte Ware, während es etwas anderes
ist ... ?»
«Nun... es handelt sich um eine
Lüge, einen Betrug... Ich weiß nicht.»
«Ja, sie betrogen die Mädchen,
indem sie ihnen sagten, sie seien aus Arabien oder aus dem Gebiet des oberen
Nils, dort, wo er entspringt. Eine haben sie verkauft als Abkömmling der
Königin von Saba.»
«Nichts weniger! Aber sie haben
nicht die Mädchen, sondern die Käufer betrogen. Welch eine Brut! Wie werden
die Käufer überrascht gewesen sein, zu sehen, daß ihre Äthiopierinnen mit der
Zeit immer hellhäutiger
22
wurden! Hörst du, Meister? Wie
viele Dinge, von denen wir nichts wissen! ...»
«Ich höre. Aber das Traurigste
dabei ist nicht der Betrug des Käufers, sondern das Schicksal dieser
Mädchen...»
«Das ist wahr. Sie sind ein für
allemal entweihte, verlorene Seelen...»
«Nein. Gott kann immer
eingreifen...»
«Bei mir hat er es getan. Du hast
mich gerettet! ...» sagt Aurea, indem sie ihren klaren, heiteren Blick auf den
Herrn richtet, und sie schließt mit den Worten: «Ich bin so glücklich!» Da sie
jedoch nicht hingehen kann, um Jesus zu umarmen, umfaßt sie Maria mit einem
Arm und legt ihr blondes Haupt auf die Schulter der Jungfrau zum Zeichen ihrer
vertrauensvollen Liebe.
Die beiden blonden Köpfe in ihren
verschiedenen Tönungen heben sich gegen die dunkle Wand ab: ein allerliebstes
Bild. Aber Maria denkt an die Mahlzeit, und sie trennen sich und gehen hinaus.
«Darf man eintreten?» sagt an der
Tür, die von dem großen Raum zur Straße führt, die etwas rauhe Stimme des
Petrus.
«Simon! Öffnet ihm!»
«Simon! Er hat es nicht
ausgehalten, länger fernzubleiben», sagt Thomas lachend, während er zur Tür
läuft, um zu öffnen.
«Simon, das war vorauszusehen...»
sagt der Zelote lächelnd.
Aber es ist nicht nur das Gesicht
des Petrus, das nun in der Türöffnung erscheint. Es sind alle Apostel vom See,
alle mit Ausnahme von Bartholomäus und Iskariot... und bei ihnen sind auch
schon Judas und Jakobus, die Söhne des Alphäus.
«Der Friede sei mit euch! Aber
warum seid ihr in dieser Hitze gekommen?»
«Weil... wir nicht länger fern
von dir bleiben konnten. Es sind schon zweieinhalb Wochen, weißt du?
Zweieinhalb Wochen, daß wir dich nicht sehen!» Es scheint fast, als wolle
Petrus sagen: «Zwei Jahrhunderte! Eine Ewigkeit!»
«Aber ich habe euch doch gesagt,
ihr sollt Judas jeden Sabbat erwarten.»
«Ja, aber an zwei Sabbaten ist er
nicht gekommen... und am dritten kommen nun wir. Nur Nathanael, der nicht ganz
wohl ist, ist dort geblieben, und er wird Judas empfangen, wenn er kommen
sollte... Doch er wird sicher nicht hingehen... Benjamin und Daniel, die durch
Tiberias gekommen sind, um auf dem Weg zum Großen Hermon bei uns
vorbeizuschauen, sagten, sie hätten ihn dort gesehen... Aber das werde ich dir
später erzählen...» schließt Petrus, da ihn sein Bruder am Gewand zupft, damit
er nicht weitererzählt.
«Nun gut. Du wirst es mir später
sagen... Aber ihr habt euch doch so sehr nach Ruhe gesehnt, und jetzt, da ihr
ausruhen könnt, macht ihr solche Märsche? Wann seid ihr denn aufgebrochen 7»
23
«Gestern abend. Der See war glatt
wie ein Spiegel, und wir haben in Tarichäa angelegt, um Tiberias zu meiden...
und um nicht mit Judas zusammenzutreffen...»
«Warum?»
«Weil wir dich in Frieden
genießen wollten.»
«Ihr seid Egoisten!»
«Nein. Er hat schon seine Freuden
... Ach! Ich weiß nicht, wer ihm so viel Geld gibt, um es zu verprassen mit
... Ja, ich habe verstanden, Andreas. Aber zieh mich nicht so am Gewand. Ich
habe nur dieses, du weißt es doch. Soll ich mit einem zerrissenen Gewand von
hier wieder fortgehen?»
Andreas wird rot. Die anderen
lachen. Jesus lächelt.
«Gut. Wir sind in Tarichäa
gelandet, auch weil, tadle mich nicht... Vielleicht ist es die Hitze,
vielleicht werde ich fern von dir boshaft, oder vielleicht ist es nur, weil
ich daran dachte, daß er sich von dir getrennt hat, um sich mit ... Hör auf,
mich am Ärmel zu ziehen! Du siehst ja, daß ich rechtzeitig schweigen kann! ...
Also, Meister, es gibt so mancherlei Gründe... Ich wollte nicht sündigen, und
wenn ich Judas gesehen hätte, wäre es geschehen. Deshalb bin ich nach Tarichäa
gefahren, und im Morgengrauen haben wir uns auf den Weg gemacht.»
«Seid ihr über Kana gekommen?»
«Nein, wir wollten den Weg nicht
zu sehr verlängern... Er ist ohnehin schon sehr weit gewesen, und die Fische
sind uns ausgegangen... Wir haben sie in einem Haus zurückgelassen, um in den
heißesten Stunden eine Unterkunft zu haben. Nach der neunten Stunde sind wir
dann wieder aufgebrochen... Ein wahrer Backofen! ...»
«Das hättet ihr euch ersparen
können. Ich wäre selbst bald gekommen.»
«Wann?»
«Nach dem Austritt der Sonne aus
dem "Löwen".»
«Und du meinst, wir hätten es so
lange ohne dich ausgehalten? Tausend ähnlich heißen Tagen hätten wir getrotzt,
um zu kommen und dich zu sehen, unseren Meister! Unseren geliebten Meister!»
Und Petrus umarmt seinen wiedergefundenen Schatz.
«Wenn man bedenkt, daß ihr,
sobald wir beisammen sind, nichts anderes tut, als euch zu beklagen über das
Wetter, über die Länge des Weges...»
«Wir sind eben töricht. Wenn wir
beisammen sind, dann kommt es uns nicht zum Bewußtsein, was du für uns bist...
Aber nun sind wir hier. Wir haben schon Unterkunft gefunden: der eine bei
Maria des Alphäus, der andere bei Simon des Alphäus, wieder andere bei Ismael,
Aser oder hier in der Nachbarschaft. Jetzt werden wir uns ausruhen, und morgen
abend können wir wieder zufrieden und glücklich abreisen.»
«Vergangenen Sabbat hatten wir
Myrtha und Noemi hier. Sie kamen, um das Mädchen wiederzusehen», sagt Thomas.
24
«Siehst du? Wer nur irgendwie
kann, kommt hierher!»
«Ja, Petrus. Und was habt ihr in
dieser letzten Zeit getan?»
«Gefischt haben wir... die Barken
angestrichen... die Netze ausgebessert. Jetzt fährt Margziam oft mit den
Schiffsjungen aus. Ein Umstand, der meine Schwiegermutter etwas seltener gegen
den "Faulpelz" schimpfen läßt, "der seine Frau verhungern läßt, nachdem er ihr
auch noch einen Bastard gebracht hat". Dabei ist es Porphyria noch nie so gut
gegangen wie jetzt, da sie Margziam hat für ihr Herz... und alles andere. Aus
den drei Lämmern sind fünf geworden und bald werden es noch mehr sein... Das
will etwas bedeuten für eine kleine Familie wie die unsrige! Überdies ersetzt
mich Margziam beim Fischfang. Aber diese Frau hat eine giftige Zunge, während
ihre Tochter die einer Taube hat ... Aber auch du hast gearbeitet, wie ich
sehe ...»
«Ja, Simon. Wir alle haben
gearbeitet; meine Brüder in ihrem Haus, ich mit diesen in dem meinigen, um
unsere Mütter etwas zur Ruhe kommen zu lassen.»
«Ja, auch wir», sagen die Söhne
des Zebedäus.
«Und ich habe meiner Frau
geholfen, indem ich mich um die Bienenstöcke und den Weinberg gekümmert habe»,
sagt Philippus.
«Und du, Matthäus?»
«Ich habe niemanden, den ich
glücklich machen kann... So habe ich mich selbst glücklich gemacht, indem ich
die Dinge niedergeschrieben habe, an die ich mich am liebsten erinnere...»
«Oh! Dann werden wir dir das
Gleichnis vom Lackieren erzählen. Ich habe es als höchst unerfahrener
Anstreicher herausgefordert...» sagt der Zelote.
«Dann hast du das Handwerk aber
schnell erlernt. Schaut, wie schön er diesen Sitz gestrichen hat», sagt
Thaddäus...
Alle geben ihm recht. Jesus, der
nun einen entspannteren Gesichtsausdruck hat, seit er wieder zu Hause ist,
strahlt vor Freude, da er seine Apostel um sich hat. Aurea tritt ein und
bleibt erstaunt auf der Schwelle stehen.
«Oh! Da ist sie! Aber schau, wie
gut sie aussieht! Sie scheint wirklich eine kleine Jüdin zu sein in diesem
Gewand!»
Aurea wird purpurrot und weiß
nicht, was sie sagen soll. Aber Petrus ist so gutmütig und väterlich, daß sie
bald wieder Mut faßt und sagt: «Ich bemühe mich, es zu werden... und mit Hilfe
meiner Lehrerin hoffe ich, es bald zu sein... Meister, ich gehe deiner Mutter
sagen, daß diese hier sind», und sie zieht sich schnell zurück.
«Sie ist ein gutes Mädchen»,
erklärt der Zelote.
«Ja. Ich wollte, sie bliebe bei
uns in Israel. Bartholomäus hat eine gute Gelegenheit und eine Freude verpaßt,
als er sie zurückgewiesen hat», sagt Thomas.
25
«Bartholomäus hält sich sehr ...
an die Formeln», entschuldigt ihn Philippus.
«Sein einziger Fehler», bemerkt
Jesus.
Maria tritt ein... «Der Friede
sei mit dir, Maria», sagen die Ankömmlinge aus Kapharnaum.
«Der Friede sei mit euch... Ich
wußte nicht, daß ihr hier seid. Ich werde gleich für euch sorgen... Kommt
inzwischen ...»
«Unsere Mutter und Salome werden
von zu Hause verschiedene Speisen mitbringen. Mach dir keine Sorge, Maria»,
sagt Jakobus des Alphäus.
«Gehen wir in den Garten... Es
erhebt sich ein angenehmer Abendwind ...» sagt Jesus.
Sie betreten den Garten und
setzen sich, brüderliche Gespräche führend, da und dort hin, während die
Tauben gurren und sich um ihre abendliche Mahlzeit streiten, die Aurea ihnen
auf den Boden streut... Dann werden die blühenden Blumenbeete und die
einfachen, nützlichen und schönen Gemüsebeete begossen. Die Apostel wollen das
selbst besorgen in ihrer heiteren Art, während Maria des Alphäus, die
dazugekommen ist, mit Aurea und Maria das Essen für die Gäste bereitet. Und
der Duft der bratenden Speisen mischt sich mit dem der feuchten Erde, so wie
das Gezwitscher der Vögel, die sich um einen guten Platz in den dichtbelaubten
Bäumen des Gartens streiten, sich mit den tiefen oder hellen Stimmen der
Apostel mischt...
485. «BEVOR ICH MUTTER BIN, BIN
ICH TOCHTER
UND DIENERIN GOTTES»
Der Sabbat dauert an, der
eigentliche Sabbattag.
In dieser strahlenden
Morgenstunde, wenn die Hitze die Luft noch nicht beschwert, ist es angenehm,
in brüderlicher, friedlicher Gemeinschaft in der schattigen Laube zu sitzen
oder dort, wo der Apfelbaum zusammen mit dem Feigen- und dem Mandelbaum seinen
Schatten hinwirft und so den der Laube, unter der die Trauben heranreifen,
verlängert. Es ist auch angenehm, auf den Pfaden zwischen den Beeten hin- und
herzuwandeln, vom Bienenstock zum Taubenschlag zu gehen, von dort zur kleinen
Grotte und an den Frauen, Maria, Maria des Kleophas, ihrer Schwiegertochter
Salome des Simon und Aurea vorbei zu den vereinzelten Olivenbäumen, die vom
Hang her ihre Äste über den stillen Gemüsegarten breiten.
Dies tun Jesus und die Seinen,
Maria und die anderen Frauen. Jesus belehrt, ohne es zu beabsichtigen, und
auch Maria belehrt, ohne es zu
26
beabsichtigen. Sowohl seine
Jünger als auch ihre Jüngerinnen lauschen aufmerksam den Worten der beiden
Meister.
Aurea sitzt wie gewöhnlich
zusammengekauert auf ihrem kleinen Hocker zu Füßen Marias. Sie hat die Hände
um die Knie geschlungen, das Antlitz erhoben und blickt mit ihren weit
geöffneten Augen Maria fest an. Sie scheint ein Kind zu sein, das einer
herrlichen Fabel lauscht. Aber es ist keine Fabel. Es ist eine schöne
Wahrheit. Maria erzählt der kleinen Heidin von gestern die Geschichte Israels,
und wenn auch die anderen die vaterländischen Geschichten schon kennen, so
hören sie doch aufmerksam zu. Denn es ist immer schön, die Geschichten von
Rachel, von der Tochter des Jephtha und von Anna des Elkana zu hören, wenn sie
von ihren Lippen strömen!
Judas des Alphäus nähert sich
langsam und hört lächelnd zu. Er steht hinter Maria, die ihn deshalb nicht
sehen kann. Aber der lächelnde Blick, den Maria des Kleophas ihrem Judas
zuwirft, verrät Maria, daß jemand hinter ihrem Rücken steht, und sie wendet
sich um: «Oh! Judas? Bist du von Jesus weggelaufen, um mich arme Frau
anzuhören?»
«Ja. Einst habe ich dich
verlassen, um zu Jesus zu gehen, denn du warst meine erste Lehrmeisterin. Aber
es ist mir eine Freude, ihn bisweilen zu verlassen, um zu dir zu kommen und
wieder Kind zu werden wie damals, als ich dein Schüler war. Fahre fort, ich
bitte dich...»
«Aurea will jeden Sabbat ihren
Lohn, und ihr Lohn besteht darin, daß ich ihr erzähle, was sie am tiefsten
beeindruckt hat an unserer Geschichte, die ich ihr Tag für Tag während der
Arbeit etwas erkläre.»
Auch die anderen sind
herbeigekommen... Thaddäus sagt: «Und was gefällt dir besonders, Mädchen?»
«Alles, könnte ich sagen... Aber
ganz besonders gefallen mir Rachel und Anna des Elkana, dann Ruth... und
dann... Ah! Wie schön! Tobias und der kleine Tobias mit dem Engel, und dann
die Braut, die betet, um befreit zu werden ...»
«Und Moses nicht?»
«Vor dem habe ich Angst... Er ist
zu gewaltig... Aber von den Propheten gefällt mir Daniel, der Susanna
verteidigt.» Dann schaut sie sich um und flüstert: «Auch ich bin verteidigt
worden von meinem Daniel», und dabei blickt sie auf Jesus.
«Aber auch die Bücher des Moses
sind schön!»
«Ja, wo sie lehren, daß man
nichts Böses tun soll, und dort, wo sie vom Stern sprechen, der aus Jakob
aufgehen wird. Ich kenne jetzt seinen Namen. Früher wußte ich nichts davon,
und ich bin glücklicher als jener Prophet, denn ich sehe ihn aus der Nähe. Sie
hat mir alles gesagt, und nun weiß auch ich es», schließt sie fast
triumphierend.
«Und das Passahfest, gefällt dir
das nicht?»
«Ja... aber... auch die Kinder
der anderen sind Kinder einer Mutter.
27
Warum sie töten? Ich ziehe den
Gott, der rettet, dem Gott, der tötet, vor ...»
«Du hast recht ... Maria, hast du
ihr noch nicht von seiner Geburt erzählt?» fragt Jakobus, indem er auf den
Herrn weist, der zuhört und schweigt.
«Noch nicht. Ich will, daß sie
erst die Vergangenheit gut kennt, damit sie die Gegenwart verstehen kann, die
auf der Vergangenheit basiert. Sobald sie die Vergangenheit kennt, wird sie
auch begreifen, daß der Gott, der ihr Furcht einflößt, der Gott des Sinai,
zwar ein Gott der strengen Liebe ist, doch stets ein Gott der Liebe.»
«Oh, Mutter! Erzähl es mir doch
jetzt! Es wird mir weniger Mühe machen, die Vergangenheit zu verstehen, wenn
ich die Gegenwart kenne; denn nach dem, was ich von ihr schon weiß, ist sie
wirklich wunderbar und läßt mich Gott ohne Furcht lieben. Ich habe es so
nötig, keine Angst zu fühlen!»
«Das Mädchen hat recht. Erinnert
euch alle immer an diese Wahrheit, wenn ihr das Evangelium verkünden werdet.
Die Seelen müssen frei von Angst sein, um voller Vertrauen zu Gott gehen zu
können. Ich bin immer darum bemüht, und man muß es um so mehr sein, je mehr
sie aus Unwissenheit oder wegen ihrer Sünden der Angst vor Gott ausgeliefert
sind. Aber Gott, auch der Gott, der die Ägypter schlug und dir Furcht
einflößt, o Aurea, ist immer gut. Schau: Als er die Kinder der grausamen
Ägypter tötete, hat er Barmherzigkeit geübt an diesen Kindern, die, da sie
nicht heranwachsen konnten, keine Sünder wie ihre Eltern geworden sind; und
auch an den Eltern, indem er ihnen Zeit gab, ihre Missetaten zu bereuen. Es
handelte sich also um eine strenge Güte. Denn man muß unterscheiden können
zwischen echter Güte und Weichlichkeit in der Erziehung. Auch als ich ein
kleines Kind war, wurden viele Neugeborene sogar auf dem Schoß ihrer Mütter
getötet. Die Welt schrie auf vor Entsetzen. Aber wenn die Zeit einmal für die
einzelnen und für die ganze Menschheit abgelaufen ist, dann werdet ihr ein für
allemal begreifen, daß jene die Glücklichen, die Gesegneten in Israel, im
Israel der Zeit Christi waren, die von der großen Sünde bewahrt blieben,
mitschuldig am Tode des Erlösers zu sein, weil sie schon in ihrer Kindheit –
getötet wurden.»
«Jesus!» ruft Maria des Alphäus
entsetzt aus, indem sie aufsteht und sich umschaut, als ob sie fürchtete, die
Gottesmörder hinter den Hecken und Bäumen des Gartens auftauchen zu sehen.
«Jesus!» wiederholt sie und blickt ihn schmerzerfüllt an.
«Was ist? Erinnerst du dich nicht
mehr an die Schrift, daß du so erstaunt bist über das, was ich sage?» fragt
Jesus sie.
«Aber ... aber... es ist nicht
möglich ... Das darfst du nicht zulassen ... Deine Mutter ...»
28
«Sie ist Erlöserin wie ich, und
sie weiß es. Betrachte sie und ahme sie nach!»
Maria ist tatsächlich ernst,
königlich in ihrer tiefen Blässe. Sie sitzt unbeweglich da, die Hände im Schoß
gefaltet wie zum Gebet, das Haupt erhoben mit einem Blick, der in die Weite
schweift.
Maria des Alphäus schaut sie an;
dann wendet sie sich von neuem Jesus zu: «Sprich dennoch nicht von dieser
schrecklichen Zukunft! Du bohrst ein Schwert in ihr Herz.»
«Seit zweiunddreißig Jahren ist
dieses Schwert in ihrem Herzen.»
«Nein! Das ist nicht möglich!
Maria... immer so heiter... Maria ...»
«Frage sie selbst, wenn du nicht
glaubst, was ich dir sage.»
«Ja, ich frage sie! Ist es wahr,
Maria? Weißt du es? ...»
Da sagt Maria mit leiser, aber
fester Stimme: «Es ist wahr. Er war erst vierzig Tage alt, da wurde es mir von
einem Heiligen gesagt... Aber auch vorher schon ... Oh! Als der Engel mir
sagte, daß ich, obwohl ich Jungfrau blieb, einen Sohn gebären würde, der
seiner göttlichen Empfängnis wegen Sohn Gottes genannt werden und es
tatsächlich sein würde... als mir dies gesagt wurde, und daß sich im Schoße
der unfruchtbaren Elisabeth durch ein Wunder des Ewigen eine Frucht gebildet
hätte, da habe ich mich sofort der Worte des Isaias erinnert: "Siehe, die
Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und er wird Immanuel genannt
werden"... Alles, alles von Isaias! Dort, wo er vom Vorläufer spricht ... und
dort, wo er vom Mann der Schmerzen spricht, rot, rot von Blut, nicht mehr zu
erkennen... ein Aussätziger ... um unserer Sünden willen... Das Schwert ist
seit jener Zeit in meinem Herzen, und alles hat dazu gedient, es noch tiefer
hineinzubohren: der Gesang der Engel und die Worte Simeons, die Weisen aus dem
Morgenland und alles andere, alles ...»
«Aber was sagst du da, meine
Maria? Jesus triumphiert, Jesus wirkt Wunder ... Die Menschen, die ihm folgen,
werden immer zahlreicher ... Ist das etwa nicht wahr?» sagt Maria des Alphäus.
Maria, immer noch in derselben
Haltung, antwortet auf jede Frage: «Ja, ja, ja», ohne Besorgnis, ohne Freude;
es ist nur eine ruhige Zustimmung, denn die Dinge stehen in der Tat so.
«Nun? Welches andere "Alles"
bohrt dir dann das Schwert immer tiefer ins Herz?»
«Oh... alles ...»
«Und so ruhig bist du dabei?
Immer dieselbe, seit du vor dreiunddreißig Jahren als Braut hierher gekommen
bist; und es scheint mir gestern gewesen zu sein, so lebhaft erinnere ich mich
daran ... Aber wie bist du dazu fähig? ... Ich ... ich wäre wahnsinnig
geworden ... Ich würde... ich weiß nicht, was ich tun würde ... Ich ... Aber
nein! Es ist nicht möglich, daß eine Mutter dies weiß und dabei so ruhig
bleibt!»
«Bevor ich Mutter bin, bin ich
Tochter und Dienerin Gottes ... Meine
29
Ruhe, wie ich sie finde? Indem
ich den Willen Gottes erfülle. Meine Heiterkeit, woher mir die kommt? Aus der
Erfüllung dieses Willens. Wenn ich den Willen eines Menschen erfüllen müßte,
könnte ich vielleicht betrübt sein; denn der Wille eines Menschen, auch des
weisesten, kann sich immer auf Irrtum gründen. Aber der Wille Gottes! Wenn er
mich zur Mutter seines Christus auserkoren hat, sollte ich dann vielleicht
denken, das sei grausam, und sollte ich bei diesem Gedanken meine Heiterkeit
verlieren? Bei dem Gedanken, daß dies die Erlösung ist durch ihn und durch
mich und auch für mich, sollte ich mich verwirren lassen durch Nachdenken, was
ich tun werde, um jene Stunde zu überstehen? Oh! Sie wird furchtbar sein ...»
und Maria zuckt unwillkürlich zusammen und ringt die Hände, wie um ihr Zittern
zu bezwingen, wie um inständiger zu beten, während ihr Antlitz noch blasser
wird und die zarten Wimpern sich mit einem Anflug von Angst über die schönen,
himmelblauen Augen senken. Doch nach einem tiefen Seufzer faßt sie sich wieder
und schließt mit den Worten: «Aber der, der mir seinen Willen auferlegt hat
und dem ich mit vertrauensvoller Liebe diene, wird mir in jener Stunde die
nötige Hilfe gewähren. Mir und ihm... Denn der Vater kann niemand einen Willen
auferlegen, der über die menschlichen Kräfte hinausgeht... und er hilft...
immer... und er wird uns helfen, mein Sohn. Er wird uns helfen... Er wird uns
Kraft geben... und nur er, dem unendliche Mittel zur Verfügung stehen, wird
uns zu Hilfe kommen können.»
«Ja, Mutter. Die Liebe wird uns
beistehen, in der Liebe werden wir uns gegenseitig beistehen, und in der Liebe
werden wir erlösen ...» Jesus hat sich an die Seite seiner Mutter begeben und
legt ihr die Hand auf die Schulter. Sie erhebt ihr Antlitz, um ihn
anzublicken, ihren schönen und gesunden Jesus, der dazu bestimmt ist,
entstellt zu werden durch Martern und getötet zu werden durch tausend Wunden,
und sie sagt: «In der Liebe und im Schmerz... Ja. Und zusammen ...»
Niemand spricht mehr... Im Kreis
um die beiden Hauptpersonen der künftigen Tragödie von Golgotha stehen die
Apostel und Jüngerinnen nachdenklich und wie Statuen da...
Aurea sitzt wie versteinert auf
ihrem kleinen Hocker... Aber sie ist die erste, die sich faßt, und ohne
aufzustehen gleitet sie auf die Knie, gerade vor Maria. Sie umschlingt ihre
Knie und legt das Haupt auf ihren Schoß mit den Worten: «Auch für mich wird
all dies geschehen! ... Wieviel ich euch koste und wie sehr ich euch liebe für
das, was ich euch koste! O Mutter meines Gottes, segne mich, damit ich euch
nicht umsonst so viel koste ...»
«Ja, meine Tochter. Fürchte dich
nicht! Gott wird auch dir helfen, wenn du immer seinen Willen annimmst.» Sie
streichelt ihr Haar und ihre Wangen und fühlt, daß sie tränennaß sind. «Weine
nicht! Von Christus hast du als erstes das schmerzenreiche Los kennengelernt,
das Ende seiner
30
Mission als Mensch. Es wäre nicht
recht, wenn dir unbekannt bliebe, was in der ersten Stunde seines Lebens
geschah. Höre... Alle werden gern diese bitteren, düsteren Betrachtungen für
einen Augenblick vergessen und sich jener lieblichen Stunde erinnern, die ganz
Licht, ganz Gesang, ganz Hosanna war: der Stunde seiner Geburt ... Höre»...
Und Maria erklärt den Grund ihrer
Reise nach Bethlehem in Judäa, der Stadt, die als Geburtsstadt des Erlösers
vorhergesagt worden war, und erzählt dann voller Liebe von der Nacht der
Geburt Christi.
486. JESUS UND MARIA IM GESPRÄCH
Ich weiß nicht, ob es am Abend
desselben Sabbat ist. Ich weiß nur, daß ich Jesus und Maria sehe. Sie sitzen
auf der Steinbank vor dem Haus, nahe der Tür des Eßraumes, aus dem der
schwache Schein einer Öllampe dringt. Die Flamme hebt und senkt sich in der
Zugluft, als wäre ihre Bewegung durch regelmäßige Atemzüge geregelt. Es ist
das einzige Licht in der mondlosen Nacht, ein winziges Licht, das ein
Streifchen des Bodens vor dem Ausgang beleuchtet und schon beim ersten
Rosenstock des Blumenbeetes erstirbt. Aber dieses geringe Licht reicht aus,
die Profile der beiden im Gespräch Vertieften abzuzeichnen in dieser heiteren
Nacht, die erfüllt ist vom Duft des Jasmin und anderer Sommerblumen.
Sie unterhalten sich über die
Verwandten... über Joseph des Alphäus, der immer noch starrköpfig ist; über
Simon, der so wenig Mut hat in seinem Bekenntnis zum Glauben, da ihn nun
einmal der älteste seiner Brüder, der wie sein Vater autoritär und eigensinnig
in seinen Ansichten ist, beherrscht. Es ist der große Schmerz Marias, die alle
Neffen unter den Jüngern Jesu sehen möchte...
Jesus tröstet sie, und um den
Vetter zu entschuldigen, weist er auf seinen starken israelitischen Glauben
hin: «Das ist ein Hindernis, weißt du? Ein wahres Hindernis. Denn all die
Formeln und Vorschriften bilden eine Schranke gegen die Annahme des
messianischen Gedankens in seiner Wahrheit. Es ist viel leichter, einen Heiden
zu bekehren, vorausgesetzt daß er keine vollständig verderbte Seele hat. Der
Heide denkt nach und sieht den großen Unterschied zwischen seinem Olymp und
meinem Reich. Aber Israel, besonders was die Gebildeten angeht, tut sich
schwer, die neuen Ideen anzunehmen...»
«Und doch ist es immer jene
Idee!»
«Ja, es handelt sich immer um den
gleichen Dekalog und um die gleichen Prophezeiungen. Aber sie sind vom
Menschen entstellt worden. Er hat sie von der übernatürlichen Sphäre, in der
sie waren, heruntergeholt und auf das Niveau der Erde, in die Atmosphäre der
Welt gebracht. Er hat
31
sie mit seiner Menschlichkeit
bearbeitet und verändert ... Der Messias, der geistige König des großen
Reiches Israel, das man so nennt, weil der Messias aus Israel hervorgeht, das
man aber besser das Reich Christi nennen sollte, da Christus den besseren Teil
des heutigen und des gestrigen Israel um sich vereint und ihn veredelt in
seiner Vollkommenheit als Gottmensch ... der Messias kann für sie nicht der
demütige, arme Mensch sein, der für sich weder Macht noch Reichtum
beansprucht, der denen gehorcht, die uns als Strafe Gottes beherrschen, weil
im Gehorsam Heiligkeit liegt, solange der Gehorsam nicht das große Gesetz
verletzt. Deswegen kann man sagen, daß ihr Glaube gegen den wahren Glauben
arbeitet, und solche Starrköpfe und von ihrer Gerechtigkeit Überzeugte gibt es
viele ... in allen Gesellschaftsschichten ... selbst unter meinen Verwandten
und Aposteln. Glaube mir, o Mutter, das ist darin der Grund für ihre
Unfähigkeit, an mein Leiden zu glauben. Ihre Irrtümer in der Einschätzung der
Menschen haben hier ihren Ursprung... Auch ihre hartnäckige Widerspenstigkeit,
wenn sie in den Heiden die Götzendiener sehen wollen, indem sie nur auf das
Körperliche im Menschen schauen anstatt auf den Geist, jenen Geist, der einen
einzigen Ursprung hat und dem Gott nur eine Bestimmung geben möchte: den
Himmel. Schau Bartholomäus an... Er ist ein Beispiel dafür. Er ist gut, weise
und zu allem bereit, um mir Ehre zu erweisen und Trost zu geben... Aber
gegenüber einer Aglaia und sogar einer Syntyche, die schon eine Blume ist im
Vergleich zur armen Aglaia, die nur durch die Buße vom Schlamm zur Blume wird,
und selbst gegenüber einem armen Mädchen, dessen Schicksal bei jedem Mitleid
hervorruft und dessen instinktives Schamgefühl jedem Bewunderung entlockt,
kann er seinen Abscheu vor den Heiden nicht verleugnen. Nicht einmal mein
Beispiel kann ihn überzeugen, und auch nicht meine Lehre, daß ich für alle
gekommen bin ...»
«Du hast recht. Und gerade
Bartholomäus und Judas von Kerioth, die beiden Gelehrtesten – wenigstens
betrifft das Bartholomäus, während ich von Judas Iskariot nicht einmal weiß,
welcher Klasse ich ihn genau zuordnen soll, der aber ganz von der Atmosphäre
des Tempels durchdrungen ist – gerade sie sind die Widerspenstigsten. Jedoch
ist Bartholomäus ein guter Mensch, und sein Widerstand ist noch entschuldbar.
Judas... nicht. Du hast gehört, was Matthäus gesagt hat, der eigens nach
Tiberias gegangen ist... und Matthäus hat Erfahrung im Leben, und besonders in
diesem Leben... Richtig ist auch die Beobachtung des Jakobus des Zebedäus:
"Aber wer gibt Judas denn so viel Geld?" Denn ein solches Leben kostet nicht
wenig... Arme Maria des Simon!»
Jesus macht die gewohnte
Handbewegung, um zu sagen: «So ist es...»und seufzt. Dann sagt er: «Hast du
gehört? Die Römerinnen sind in Tiberias... Valeria hat mich nichts wissen
lassen. Aber ich muß etwas wissen, bevor ich meinen Weg fortsetze. Mutter, ich
will dich für einige Tage in
32
Kapharnaum bei mir haben... Dann
kehrst du wieder hierher zurück, und ich werde bis an die Grenzen der
Syro-Phönizier wandern und dann zurückkommen und dich besuchen, bevor ich nach
Judäa, zum störrischen Schaf Israels, gehe...»
«Sohn, morgen abend werde ich
aufbrechen... Ich werde Maria des Alphäus mit mir nehmen. Aurea wird zu Simon
des Alphäus gehen, denn die Kritik würde nicht ausbleiben, wenn sie mehrere
Tage hier mit euch zubringt... Die Welt ist eben so... Ich werde aufbrechen...
und mein erster Aufenthalt wird Kana sein. Dann werde ich im Morgengrauen von
dort weggehen und anschließend bei der Mutter der Salome des Simon verweilen.
Bei Sonnenuntergang werde ich weiterreisen, um noch bei Tageslicht nach
Tiberias zu kommen. Ich werde mich in das Haus des Jüngers Joseph begeben,
denn ich will persönlich mit Valeria sprechen; wenn ich zu Johanna ginge,
würde sie den Auftrag übernehmen wollen... Nein. Ich, als Mutter des Heilands,
werde anders aufgenommen werden als eine, die in ihren Augen nur eine Jüngerin
ist... Mir wird sie nichts abschlagen. Habe keine Sorge, mein Sohn!»
«Ich habe keine Sorge. Aber die
Mühe, die du damit auf dich nimmst, tut meinem Herzen weh.»
«Oh, um eine Seele zu retten! Was
sind schon zwanzig Meilen in dieser Jahreszeit.»
«Es wird auch psychisch mühevoll
sein. Bitten... und vielleicht gedemütigt werden...»
«Das ist wenig und geht wieder
vorüber. Aber eine Seele bleibt!»
«Du wirst wie eine verlorene
Schwalbe in diesem verkommenen Tiberias sein. Nimm Simon mit dir.»
«Nein, mein Sohn. Wir zwei
allein, zwei arme Frauen... aber zwei Mütter und zwei Jüngerinnen, die
moralisch stark sind. Ich werde mich beeilen. Laß mich gehen... Gib mir nur
noch deinen Segen.»
«Ja, Mutter, von ganzem Herzen
als Sohn und mit meiner ganzen Macht als Gott. Geh, und die Engel mögen dich
auf deinem Weg begleiten.»
«Danke, Jesus. Kehren wir also
ins Haus zurück. Ich werde schon im Morgengrauen aufstehen müssen, um alles
für die Abreisenden und die Zurückbleibenden herzurichten. Sprich das Gebet,
Sohn...»
Jesus und Maria stehen auf und
beten zusammen das "Vater unser"... Dann gehen sie ins Haus und schließen die
Tür... Das Licht wird ausgelöscht, und jede menschliche Stimme verstummt. Es
weht nur noch ein leichter Wind durch die Zweige, und das leise Plätschern des
Wassers im Brunnenbecken ist zu vernehmen.
33
487. MARIA IN TIBERIAS
Tiberias ist schon in Sicht,
während die beiden müden Pilgerinnen ihre Wanderung in der sinkenden
Abenddämmerung fortsetzen.
«Bald wird es dunkel sein... und
wir sind noch inmitten der Felder... zwei Frauen allein... und in der Nähe
einer großen Stadt voller... Uh! Welch ein Volk! Beelzebub! Beelzebub, zum
größten Teil ...» sagt Maria des Alphäus, indem sie sich ängstlich umsieht.
«Fürchte dich nicht, Maria!
Beelzebub wird uns nichts Böses antun. Er schadet nur dem, der ihn in sein
Herz aufnimmt.»
«Aber diese Heiden haben ihn! ...
«In Tiberias gibt es nicht nur
Heiden, und auch unter den Heiden gibt es Gerechte.»
«Ja aber! Sie kennen unseren Gott
nicht! ...»
Maria entgegnet nichts, denn sie
weiß, daß es nutzlos wäre. Die gute Schwägerin ist nur eine der vielen
Israelitinnen, die ausschließlich sich selbst als tugendhaft betrachten...
weil sie Israelitinnen sind.
Es folgt ein Schweigen, in dem
man nur das Geräusch der Sandalen an den müden und staubigen Füßen hört.
«Es wäre besser gewesen, wenn wir
den üblichen Weg eingeschlagen hätten... Den kennen wir gut... und dort wäre
man auch mehr Menschen begegnet. Dieser hier... zwischen den Gärten... ist so
einsam und unbekannt... Ich fürchte mich, das ist es!»
«Aber nein, Maria! Schau, die
Stadt ist gleich dort, und hier sind ruhige Gärten der Bauern von Tiberias.
Nicht weit von hier ist das Ufer. Willst du, daß wir am Ufer entlang gehen?
Dort werden wir Fischern begegnen... Wir brauchen nur diese Gärten zu
durchqueren.»
«Nein, nein. So entfernen wir uns
wieder von der Stadt. Und dann... Die Bootsleute sind fast alle Griechen,
Kreter, Araber, Ägypter, Römer ...» und es scheint, als ob sie ebensoviele
Höllennamen ausspräche. Maria, die allerheiligste Jungfrau, kann nicht umhin,
im Schutze ihres Schleiers zu lächeln.
Sie gehen weiter. Der Weg wird
zur Allee, aber noch dunkler als zuvor... und Maria des Alphäus wird noch
ängstlicher und ruft Jahwe an bei jedem ihrer Schritte, die immer langsamer
werden.
«Auf! Sei mutig! Beeile dich,
wenn du Angst hast!» spornt Maria sie an, die auf jede Anrufung: «Maran Atha!»
geantwortet hat.
Doch Maria des Alphäus bleibt nun
gänzlich stehen und fragt: «Aber warum hast du hierher kommen wollen?
Vielleicht, um mit dem Iskariot zu sprechen?»
«Nein, Maria, oder wenigstens
nicht genau aus diesem Grunde. Ich bin gekommen, um mit der Römerin Valeria zu
sprechen...»
«Barmherzigkeit! Gehen wir in ihr
Haus? O nein! Maria! Tu das nicht!
34
Ich ... werde dich nicht
hinbegleiten! Aber was willst du denn dort tun bei diesen... diesen...
Verfluchten! ...»
Die allerseligste Jungfrau
lächelt nicht mehr sanft, sondern blickt ihre Begleiterin ernst an und fragt:
«Erinnerst du dich nicht, daß es darum geht, Aurea zu retten? Mein Sohn hat
ihre Befreiung begonnen. Ich werde sie vollenden. Obst du auf solche Weise
deine Liebe zu den Seelen?»
«Aber sie ist doch nicht von
Israel ...»
«Wahrlich, du hast noch kein Wort
der Frohen Botschaft begriffen! Du bist eine sehr unvollkommene Jüngerin... Du
arbeitest nicht für deinen Meister und bereitest mir großen Schmerz.»
Maria des Alphäus senkt das
Haupt... Doch ihr Herz, das voller israelitischer Vorurteile, im Grunde aber
gut ist, gewinnt die Oberhand, und mit einem Tränenausbruch umarmt sie Maria
und sagt: «Verzeih mir! Verzeih mir! Sage mir nicht, daß ich dir Schmerz
bereite und meinem Jesus nicht ergeben bin! Ja, ja! Ich bin sehr unvollkommen
und verdiene deinen Tadel... Aber ich werde in Zukunft nicht mehr so sein...
Ich komme, ich komme! Auch in die Hölle, wenn du dahin gehen solltest, um ihr
eine Seele zu entreißen und sie Jesus zu bringen... Gib mir einen Kuß, Maria,
zum Zeichen, daß du mir verzeihst...»
Maria küßt sie, und sie setzen
rasch ihren Weg fort, wieder ermutigt durch die Liebe...
Nun sind sie in Tiberias, in der
Nähe des kleinen Fischerhafens. Sie suchen das Häuschen des Joseph, des
Jüngers und Bootsmannes... Sie finden es und klopfen an.
«Die Mutter meines Meisters!
Tritt ein, o Frau! Gott sei mit dir und mit mir, der ich dich beherbergen
darf. Tritt auch du ein, und der Friede sei mit dir, Mutter der Apostel.»
Sie treten ein, während die Frau
und die junge Tochter des Bootsmannes herbeieilen, sie zu begrüßen, gefolgt
von einer ganzen Schar kleiner Kinder...
Das karge Abendmahl ist schnell
eingenommen, und Maria des Kleophas zieht sich müde zurück, zusammen mit den
Kindern des Hauses. Die anderen bleiben auf der hohen Terrasse, von der aus
man den See sieht, dessen Wellen an das Ufer schlagen – d.h. man hört mehr als
man sieht, denn der Mond ist noch nicht aufgegangen. Anwesend sind die
allerseligste Jungfrau, der Bootsmann und seine Frau, die sich zwar bemüht,
eine gute Gesellschafterin zu sein, in Wirklichkeit aber bald den Kopf sinken
läßt und einschläft.
«Sie ist müde», entschuldigt sie
Joseph.
«Die Arme. Die Hausfrauen sind am
Abend immer müde.»
«Ja, sie arbeiten viel, und sind
nicht wie jene dort, die nur an ihr Vergnügen denken», sagt der Fährmann
verächtlich, indem er auf die Barken weist, die hell erleuchtet sind und unter
Sang und Klang vom Ufer
35
abstoßen. «Sie fahren um diese
Stunde hinaus! Für sie beginnt jetzt die Arbeit, wenn die rechtschaffenen
Leute schlafen gehen. Sie schädigen nur die Arbeiter; denn sie tun, als ob sie
fischen wollten, und zwar an den besten Plätzen, und verjagen uns, denen der
See das Brot für die Familie gibt ...»
«Wer sind diese Leute?»
«Römerinnen und ihresgleichen;
und zu letzteren rechne ich auch Herodias, ihre wollüstige Tochter und andere
Hebräerinnen... Denn Marien von Magdala haben wir viele... ich meine die Maria
vor der Bekehrung ...»
«Es sind Unglückliche...»
«Unglückliche? Die Unglücklichen
sind wir, die wir sie nicht steinigen, um Israel von diesen Verderbten zu
säubern, die den Fluch Gottes auf uns herabziehen.»
Indessen haben weitere Boote das
Ufer verlassen, und der See rötet sich von den Lichtern der Boote der
Genießer.
«Spürst du den Harzgeruch in der
Luft? Sie betäuben sich erst mit Rauch, dann tun sie den Rest bei ihren
Gelagen. Sie sind imstande zu den warmen Quellen am anderen Ufer zu fahren...
In den Thermen dort... spielen sich Höllenszenen ab. Beim Morgengrauen, im
Morgenrot oder auch später kehren sie dann zurück ... betrunken, übereinander
liegend wie Säcke, Männer und Frauen, und die Sklaven müssen sie in ihre
Häuser tragen, wo sie sich dann nach den Orgien ausschlafen. Heute abend
fahren sie wirklich alte aus, die schönen Boote! Schau nur! Schau nur! Aber
ich grolle mehr den Juden, die sich ihnen anschließen, als ihnen selbst. Sie,
das ist bekannt, sind haltlose Tiere. Aber wir! ... Frau, weißt du, daß der
Apostel Judas hier ist?»
«Ich weiß es.»
«Er gibt kein gutes Beispiel,
weißt du?»
«Warum? Geht er mit jenen? ...»
«Nein... aber er hat schlechten
Umgang... und eine Frau. Ich habe ihn nicht gesehen... Niemand von uns hat ihn
so gesehen. Aber Pharisäer haben über uns gespottet mit den Worten: "Euer
Apostel hat den Meister gewechselt. Jetzt hat er eine Frau und ist in der
guten Gesellschaft der Zöllner."»
«Urteile nicht über das, was du
nur erzählen gehört hast, Joseph. Du weißt, daß die Pharisäer euch nicht
lieben und nicht einmal den Meister loben.»
«Das ist wahr... Aber das Gerücht
geht um... und schadet... !»
«So wie es aufgekommen ist, wird
es wieder verschwinden. Aber du, sündige nicht gegen den Bruder. Wo wohnt er?
Weißt du es?»
«Ja, bei einem Freund, glaube
ich. Es ist einer, der ein Warenlager von Weinen und Gewürzen hat. Es ist das
dritte Lager auf der Ostseite des Marktes, gleich nach dem Brunnen ...»
36
«Sind alle Römerinnen gleich?»
«Oh! Mehr oder weniger! ... Auch
wenn sie sich nicht sehen lassen, tun sie Böses.»
«Gibt es solche, die sich nicht
sehen lassen?»
«Die, die am Osterfest zu Lazarus
gekommen sind. Sie führen ein zurückgezogeneres Leben... Ich will sagen, sie
nehmen nicht immer an den Gastmählern teil. Jedoch gehen sie immerhin noch oft
genug hin, daß man sagen kann, sie sind unrein.»
«Sagst du das, weil du dessen
sicher bist oder weil deine hebräische Voreingenommenheit dich so reden läßt?
Prüfe dich genau...»
«Ja... eigentlich... weiß ich es
nicht... Ich habe sie nicht mehr in den Booten der Unreinen gesehen ... aber
zur Nachtzeit gehen sie auf den See.»
«Auch du.»
«Gewiß, wenn ich fischen will!»
«Die Hitze ist sehr groß! Nur in
der Nacht auf dem See findet man etwas Erfrischung. Das sind deine eigenen
Worte, du hast dies während des Abendessens gesagt.»
«Es ist wahr.»
«Warum aber sollte man denken,
daß sie nicht aus demselben Grund auf den See hinausfahren?»
Der Mann schweigt... und fährt
dann fort: «Es ist schon spät. Die Sterne lassen mich erkennen, daß wir in der
zweiten Nachtwache sind. Ich gehe zur Ruhe, Frau. Kommst du nicht?»
«Nein. Ich bleibe hier und bete.
Ich werde morgen sehr früh ausgehen. Wundere dich nicht, wenn du mich beim
Morgengrauen nicht mehr im Haus findest.»
«Du kannst tun, was du willst.
Anna! Auf! Gehen wir zu Bett!» Er weckt seine Frau auf, die schon tief
schläft, und sie gehen.
Maria bleibt allein... Sie kniet
nieder und betet, betet... Aber sie verliert die dahinsegelnden Boote nie aus
den Augen, die Boote der Herren, die hell erleuchtet, voller Blumen, Gesang
und Weihrauch sind. Viele fahren weit und immer weiter nach Osten, werden in
der Ferne immer kleiner, und schließlich sind auch die Gesänge nicht mehr zu
hören. Ein vornehmes Boot bleibt allein auf dem vom Mond erleuchteten
Wasserspiegel des Sees vor Tiberias zurück. Es segelt langsam hin und her...
Maria beobachtet es, bis sie sieht, daß es den Bug dem Ufer zuwendet.
Nun steht Maria auf und sagt:
«Herr, hilf mir! Gib, daß sie es sind...»; dann steigt sie leichten Schrittes
die Treppe hinunter und betritt leise ein Zimmer mit angelehnter Tür... Im
hellen Mondschein ist es ihr möglich, ein einfaches Nachtlager zu sehen. Maria
beugt sich darüber und ruft: «Maria! Maria! Wach auf! Wir müssen gehen!»
Maria des Alphäus wacht auf und
fragt noch etwas schlaftrunken,
37
indem sie sich die Augen reibt:
«Ist es schon Zeit zu gehen? Wie schnell ist es doch Morgen geworden!» Sie ist
noch so schläfrig, daß sie nicht bemerkt, daß es nicht das Morgengrauen,
sondern das fahle Mondlicht ist, das durch die halboffene Tür dringt. Es wird
ihr erst bewußt, als sie draußen auf dem kleinen bebauten Acker vor dem Haus
des Fährmanns steht.
«Es ist ja noch Nacht!» ruft sie
aus.
«Ja, aber wir werden die Dinge so
schneller erledigen können und früher aus dieser Stadt kommen... Ich hoffe es
wenigstens. Komm! Hier, am Ufer entlang. Beeile dich! Bevor das Boot anlegt
...»
«Das Boot? Welches Boot?» fragt
Maria; aber sie läuft hinter der Jungfrau her, die am verlassenen Ufer entlang
zur Mole eilt, wo das Boot anlegen will.
Sie kommen atemlos einige
Augenblicke vor diesem an... Maria blickt forschend auf das Boot und ruft aus:
«Gott sei Lob! Sie sind es. Jetzt komm hinter mir her... denn wir müssen ihnen
folgen. Ich weiß nicht, wo sie wohnen...»
«Aber Maria... Gott erbarme! ...
Sie werden uns für Dirnen halten!»
Die Reinste schüttelt den Kopf
und flüstert: «Es genügt, es nicht zu sein. Komm!» und sie zieht sie in den
Halbschatten eines Hauses.
Das Boot legt an, und während des
Manövers nähert sich dem Landungsplatz eine Sänfte. Zwei Frauen steigen ein,
während zwei andere neben der Sänfte einhergehen. Die Sänfte setzt sich in
Bewegung im gleichmäßigen Schritt von vier Numidiern in ganz kurzen,
ärmellosen Tuniken, die kaum den Rumpf bedecken...
Maria folgt, trotz der leisen
Proteste der Maria des Alphäus: «Zwei Frauen allein! ... Hinter denen dort,
die halb nackt sind... Pfui! ...»
Nur wenige Meter Weges, dann
bleibt die Sänfte stehen.
Eine Frau steigt aus, während der
Anführer der Gruppe an ein großes Tor klopft.
«Vale, Lydia!»
«Vale, Valeria! Liebkose Faustina
für mich. Morgen abend werden wir wieder in Ruhe lesen, während die anderen
prassen...»
Das Tor öffnet sich, und Valeria
ist dabei, mit ihrer Sklavin oder Freigelassenen einzutreten.
Maria macht einen Schritt nach
vorn und spricht: «Domina! Nur ein Wort!»
Valeria schaut die beiden Frauen
an, die in ganz einfache jüdische Mäntel gehüllt sind und den Schleier über
das Antlitz herabgelassen haben, und hält sie für Bettlerinnen. Sie befiehlt:
«Barbara, gib ein Almosen!»
«Nein, Domina. Ich möchte kein
Geld. Ich bin die Mutter Jesu von Nazareth, und das ist eine Verwandte. Ich
komme in seinem Namen, um dir eine Bitte vorzutragen.»
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«Domina! Wird dein Sohn
vielleicht... verfolgt ...»
«Nicht mehr als gewöhnlich. Aber
er möchte...»
«Tritt ein, Domina. Es ist deiner
nicht würdig, daß du auf der Straße bleibst wie eine Bettlerin.»
«Nein, es ist schnell gesagt,
wenn du mich im geheimen anhören willst...»
«Fort, ihr alle!» befiehlt
Valeria der Sklavin oder Freigelassenen, was immer sie ist, und dem Pförtner.
«Wir sind allein. Was möchte der Meister? Ich bin nicht gekommen, um ihm in
seiner Stadt nicht zu schaden. Er, ist er vielleicht nicht gekommen, um mir
bei meinem Gatten nicht zu schaden?»
«Nein, ich habe es ihm geraten.
Mein Sohn ist vielen verhaßt, Domina.»
«Ich weiß es.»
«Trost findet er nur in seiner
Sendung.»
«Ich weiß es.»
«Er verlangt keine Ehren und
keine Soldaten. Er erstrebt weder Reiche noch Reichtümer. Er macht nur sein
Recht auf die Seelen geltend.»
«Ich weiß es.»
«Domina... Er müßte dir jenes
Mädchen zurückgeben; aber – ich möchte dich nicht kränken, indem ich das sage
– hier könnte es nicht Jesus ihre Seele schenken. Du bist besser als die
anderen, aber in deiner Umgebung ist der Schlamm der Welt zu mächtig.»
«Das ist wahr. Und?»
«Du bist Mutter... Mein Sohn hat
väterliche Gefühle für jede Seele. Würdest du nicht darunter leiden, wenn dein
Kind inmitten von Leuten aufwachsen müßte, die es verderben können?»
«Jetzt habe ich verstanden... Nun
gut... Sage deinem Sohn folgendes: "Zur Erinnerung an Faustina, die du dem
Leibe nach gerettet hast, überläßt dir Valeria Aurea, damit du sie dem Geiste
nach rettest..." Es ist wahr! Wir sind zu sehr verkommen... als daß wir bei
einem Heiligen Vertrauen erwecken könnten... Domina, bete für mich!» und sie
zieht sich unversehens zurück, noch bevor Maria ihr danken kann. Sie zieht
sich zurück unter Tränen, möchte ich sagen...
Maria des Alphäus steht wie
versteinert da.
«Gehen wir, Maria... Wir reisen
noch in der Nacht ab, und morgen abend werden wir in Nazareth sein...»
«Gehen wir... Sie hat sie
hergegeben... wie einen Gegenstand...»
«Für diese Menschen ist das
Mädchen ein Gegenstand. Für uns ist es eine Seele. Komm! Schau... Der Himmel
hellt sich schon auf. Man kann wohl sagen, daß es eigentlich keine Nacht gibt
in diesem Monat...»
Sie nehmen den Weg vor ihnen, der
nun nicht mehr im Dunkel liegt, anstatt dem, der am Ufer entlangführt. Er
verläuft hinter einer Reihe von
39
bescheidenen Häuschen ... Als sie
auf halbem Wege sind, erscheint Judas an der Ecke eines Hauses, ganz offenbar
betrunken. Ein Judas auf der Rückkehr von wer weiß welchem Fest, ungekämmt,
die Kleider zerknittert, die Augen blau umrandet.
«Judas! Du hier? In diesem
Zustand?»
Judas gelingt es nicht, so zu
tun, als würde er sie nicht kennen, und er kann auch nicht fliehen... Die
Überraschung läßt ihn zu sich kommen. Er bleibt wie angewurzelt stehen und
weiß nicht, was er tun soll.
Maria nähert sich ihm, indem sie
den Ekel überwindet, den der Anblick des Apostels in ihr hervorruft, und sagt
zu ihm: «Judas, Unglückssohn, was tust du? Denkst du nicht an Gott? An deine
Seele? An deine Mutter? Was tust du? Warum willst du ein Sünder sein? Schau
mich an, Judas! Du hast kein Recht, deine Seele zu töten ...» Sie berührt ihn
und versucht seine Hand zu ergreifen.
«Laß mich in Ruhe. Ich bin
schließlich ein Mann, und... und es steht mir frei zu tun, was alle tun. Sage
dem, der dich schickt, um mich auszuspionieren, daß ich noch nicht ganz Geist
bin und daß ich jung bin!»
«Du bist nicht frei, dich ins
Verderben zu stürzen, Judas! Habe Erbarmen mit dir selbst ... Wenn du so
weitermachst, wird deine Seele nie glücklich sein... Judas ... Er hat mich
nicht geschickt, dich auszuspionieren. Er betet für dich. Das allein, und ich
mit ihm. Im Namen deiner Mutter...»
«Laß mich in Ruhe», sagt Judas
unhöflich, und dann – vielleicht bemerkt er selbst seine Grobheit – verbessert
er sich: «Ich verdiene dein Mitleid nicht... Leb wohl...» und er macht sich
eilends davon...
«Welch ein Teufel! ... Das werde
ich Jesus sagen», ruft Maria des Alphäus aus. «Mein Judas hat recht!»
«Du wirst niemandem etwas davon
sagen. Bete für ihn. Das ja ...»
«Weinst du? Weinst du
seinetwegen? Oh! ...»
«Ich weine... Ich war so froh,
Aurea gerettet zu haben... Jetzt weine ich, weil Judas ein Sünder ist. Aber
Jesus, der schon so betrübt ist, überbringen wir nur die gute Nachricht. Durch
Gebet und Buße, wie wenn er unser Sohn wäre, Maria, werden wir Judas dem
Teufel entreißen! ... Du bist ja auch Mutter und weißt ... Für jene
unglückliche Mutter, für diese sündige Seele, für unseren Jesus ...»
«Ja, ja, ich werde beten... Aber
ich glaube nicht, daß er es verdient...»
«Maria, sag das nicht!»
«Nein, aber es ist so. Gehen wir
nicht zu Johanna?»
«Nein, wir werden sie bald mit
Jesus zusammen sehen ...»
40
488. MAN MUSS DEM WOHLTÄTER
DANKBARKEIT ERWEISEN
Die Jungfrau ist bei ihrer
Ankunft zu Hause sehr müde, aber auch sehr glücklich. Sie sucht sofort ihren
Jesus auf, der immer noch arbeitet beim letzten Licht des Tages, der zur Neige
geht. Er ist mit der Tür des Backofens beschäftigt, die er gerade wieder in
Ordnung bringt. Simon hat ihr geöffnet und sich nach der Begrüßung klugerweise
in die Werkstatt zurückgezogen. Thomas sehe ich nicht. Vielleicht ist er
außerhalb des Hauses.
Jesus legt seine Werkzeuge
beiseite, als er die Mutter sieht, und geht ihr entgegen, wobei er sich die
Hände an der Arbeitsschürze abwischt. Er war gerade dabei, die Angel und den
Riegel mit Fett zu schmieren. Ihr gegenseitiges Lächeln scheint den Garten zu
erhellen, in dem das Tageslicht zusehends abnimmt.
«Der Friede sei mit dir, Mutter.»
«Der Friede sei mit dir, mein
Sohn.»
«Wie müde du bist! Du hast dich
nicht ausgeruht ...»
«Vom Morgengrauen bis zum
Sonnenuntergang im Haus des Joseph... Wäre nicht diese große Hitze gewesen,
wäre ich sofort zurückgekehrt, um dir zu sagen, daß Aurea dein ist.»
«Ja?!» Das Antlitz Jesu verjüngt
sich sogar bei dieser freudigen Überraschung.
Es scheint das Gesicht eines
Zwanzigjährigen zu sein, und in seiner Freude verliert es fast jenen Ernst,
der gewöhnlich auf seinem Antlitz und in seinen Bewegungen liegt. So gleicht
er noch mehr seiner Mutter, die immer so jugendlich heiter in ihren Bewegungen
und ihrem Aussehen ist.
«Ja, Jesus, und ohne jede Mühe
habe ich es erreicht. Die Dame hat sofort zugesagt. Sie war ganz bewegt, als
sie zugab, daß sie, und mit ihr ihre Freundinnen, nicht imstande wären, ein
solches Kind für Gott zu erziehen. Welch ein demütiges, ehrliches
Zugeständnis, nicht wahr? Es ist nicht leicht, jemanden zu finden, der, ohne
dazu gezwungen zu sein, seine Fehlerhaftigkeit zugibt.»
«Ja, es ist nicht leicht. Viele
in Israel würden dies nicht tun. Es sind schöne Seelen, begraben unter einer
Schmutzkruste. Wenn aber dieser Schmutz einst abfällt...»
«Wird dies geschehen, mein Sohn?»
«Ich bin dessen sicher. Sie
streben instinktiv nach dem Guten und werden ihm schließlich anhängen. Was hat
sie dir gesagt?»
«Oh! Wenige Worte... Wir haben
uns sogleich verstanden. Aber es wird gut sein, sofort zu Aurea zu gehen. Wenn
du es mir gestattest, mein Sohn, möchte ich ihr die Nachricht selbst
überbringen.»
«Ja, Mutter. Wir werden Simon
schicken», und er ruft mit lauter Stimme den Zeloten, der unverzüglich
herbeieilt.
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«Simon, geh zu Simon des Alphäus
und sage ihm, daß meine Mutter zurückgekehrt ist. Dann komm mit dem Mädchen
und mit Thomas, der sicher dort ist, um die Arbeit zu vollenden, um die ihn
Salome gebeten hat, wieder hierher.»
Simon verneigt sich und geht
sofort.
«Erzähle, Mutter... von deiner
Reise... und deinem Gespräch. Arme Mutter, wie müde du bist um meinetwillen!»
«O nein, Jesus! Ich verspüre
keine Müdigkeit, wenn du glücklich bist...» und Maria erzählt von ihrer Reise
und von den Befürchtungen der Maria des Alphäus, von ihrem Aufenthalt im Haus
des Bootsmannes, von ihrer Begegnung mit Valeria und schließt: «Ich habe es
vorgezogen, sie in jener Stunde zu sehen, da der Himmel dies erlaubte. So war
sie freier, und auch ich selbst, und Maria Kleophä war schneller beruhigt;
denn sie hatte solche Furcht, weil wir zwei Frauen allein durch Tiberias
gingen, daß nur die Liebe zu dir, der Gedanke, dir zu dienen, sie überwinden
konnte», und Maria lächelt beim Gedanken an die Ängste ihrer Schwägerin...
Auch Jesus lächelt und sagt: «Die
Arme! Sie ist eine echte Israelitin, die Frau der alten Zeiten, zurückhaltend,
ganz ihrer Familie ergeben, eine starke Frau im Sinne des Buches der Sprüche.
Aber in der neuen Religion wird die Frau nicht nur im Haus stark sein... Es
wird viele geben, die eine Judith und eine Jael überragen, die im Sinne der
Mutter der Makkabäer heldenhaft sind... Auch unsere Maria wird es sein. Aber
vorerst ist sie noch so... Hast du Johanna gesehen?»
Maria lächelt nicht mehr.
Vielleicht fürchtet sie eine weitere Frage über Judas, und antwortet schnell-.
«Nein, ich wollte Maria nicht mit neuen Ängsten belasten. Wir haben uns bis um
die Zeit zwischen der neunten Stunde und dem Abend im Haus eingeschlossen. Wir
haben uns ausgeruht und sind dann abgereist ... Ich habe gedacht, daß wir sie
bald am See sehen werden.»
«Das hast du gut gemacht. Du hast
mir einen Beweis gegeben für die Gesinnung der Römerinnen mir gegenüber. Wenn
Johanna mitgekommen wäre, hätte man denken können, sie hätten ihrer Freundin
nachgegeben. Jetzt warten wir bis zum Sabbat, und wenn Myrtha nicht kommt,
gehen wir mit Aurea zu ihr.»
«Sohn, ich möchte hierbleiben...»
«Du bist sehr müde, ich sehe es.»
«Nein, nicht deswegen... Ich
denke, Judas könnte vielleicht hierher kommen... So wie es gut ist, daß in
Kapharnaum immer jemand auf ihn wartet, um ihn als Freund aufzunehmen, so ist
es auch gut, daß ihn hier jemand liebevoll empfängt.»
«Danke, Mutter. Du allein
verstehst, was ihn noch retten kann.»
Alle beide seufzen über den
Jünger, der so viel Schmerz bereitet...
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Simon und Thomas kehren zurück
mit Aurea, die Maria entgegenläuft. Jesus läßt sie bei der Mutter und geht mit
den Aposteln ins Haus.
«Du hast viel gebetet, Tochter,
und der gute Gott hat dich erhört...»beginnt Maria.
Aber das Mädchen unterbricht sie
mit einem Freudenschrei: «Ich bleibe bei dir!» wirft ihr die Arme um den Hals
und küßt sie.
Maria erwidert den Kuß und sagt,
indem sie sie umarmt hält: «Dem Wohltäter muß man Dankbarkeit erweisen, nicht
wahr?»
«O ja! Und ich werde sie dir mit
all meiner Liebe erweisen.»
«Ja, Tochter. Aber über mir steht
Gott. Er ist es, der dir diese große Wohltat erwiesen hat, der dir die
unermeßliche Gnade hat zuteil werden lassen, dich in sein Volk aufzunehmen,
dich zur Jüngerin des Erlösers und Meisters zu machen. Ich bin nur das
Werkzeug der Gnade gewesen, aber die Gnade hat er, der Allerhöchste, dir
geschenkt. Was wirst du also dem Allerhöchsten geben, um ihm zu sagen, daß du
ihm dafür dankst?»
«Aber... ich weiß nicht... Sage
du es mir, Mutter...»
«Liebe, das ist sicher. Aber die
Liebe muß, um wirklich Liebe zu sein, mit Opfern verbunden werden; denn wenn
eine Sache etwas kostet, hat sie mehr Wert. Ist es nicht so?»
«Ja, Mutter.»
«Sieh, dann würde ich sagen, daß
du mit derselben Freude, mit der du gerufen hast: "Ich bleibe bei dir!", auch
rufen solltest: "Ja, Herr!", wenn ich, seine arme Dienerin, dir den Willen des
Herrn mitteile.»
«Sage ihn mir, Mutter», sagt
Aurea, wobei ihr Gesicht einen sehr ernsten Ausdruck annimmt.
«Der Wille Gottes vertraut dich
zwei guten Müttern an, Noemi und Myrtha...»
Dicke Tränen rollen von den
klaren Augen des Mädchens über das rosige Gesichtchen herunter.
«Sie sind gut. Sie sind Jesus und
mir teuer. Der einen hat Jesus den Sohn gerettet. Der anderen habe ich ihn
ernährt, als er klein war. Daß sie gut sind, hast du bereits gesehen...»
«Ja... aber ich habe gehofft, bei
dir bleiben zu dürfen...»
«Tochter, man kann nicht alles
haben! Du siehst, daß auch ich nicht bei meinem Jesus sein kann. Ich schenke
ihn euch, und ich bin so fern von ihm, während er durch Palästina wandert, um
zu predigen, zu heilen und die Mädchen zu retten.»
«Das ist wahr...»
«Wenn ich ihn für mich allein
haben wollte, wärest du nicht gerettet worden... Wenn ich ihn für mich allein
haben wollte, würden eure Seelen nicht gerettet werden. Bedenke, wie groß mein
Opfer ist. Ich gebe euch einen Sohn, damit er geopfert werde für eure Seelen.
Außerdem werden wir, du und ich, stets vereint sein; denn die Jüngerinnen sind
und werden
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immer um Jesus vereint sein. Sie
bilden eine große Familie, vereint in der Liebe zu ihm.»
«Das ist wahr. Und dann ... Ich
werde doch wieder hierher kommen dürfen, nicht wahr? Wir sehen uns doch
wieder?»
«Gewiß. Solange Gott es will.»
«Und du wirst immer für mich
beten...»
«Ja, ich werde immer für dich
beten.»
«Und wenn wir beisammen sind,
wirst du mich dann wieder unterrichten ?»
«Ja, meine Tochter...»
«Ah! Ich möchte wie du werden.
Werde ich das je können? Wissen, um gut zu sein ...»
«Noemi ist die Mutter eines
Synagogenvorstehers und Jüngers des Herrn. Myrtha ist die Mutter eines Sohnes,
der die Gnade einer wunderbaren Heilung verdient hat und ein guter Jünger ist.
Die beiden Frauen sind gut und weise und zudem voller Liebe.»
«Versicherst du mir das?»
«Ja, Tochter.»
«Dann ... segne mich, und der
Wille des Herrn geschehe... wie es im Gebet Jesu heißt. Ich habe es so oft
gebetet ... Es ist recht, daß ich jetzt tue, was ich gesagt habe, um zu
erlangen, daß ich nicht mehr zu den Römern zurückkehren muß ...»
«Du bist ein gutes Mädchen, und
Gott wird dir immer mehr helfen. Komm, gehen wir Jesus sagen, daß seine
jüngste Schülerin den Willen Gottes anzunehmen weiß ...» und indem sie sie an
der Hand hält, begibt sich Maria mit dem Mädchen ins Haus.
489. EIN WEITERER SABBAT IN
NAZARETH
Ein weiterer Sabbat, denn kaum
hat der Sonnenuntergang des Freitags begonnen, als erhitzt, aber freudig
Myrtha und Noemi zusammen mit dem jungen Abel eintreffen. Sie steigen von
ihren Reittieren, die Abel wegführt, sicher zur Stallung eines Freundes,
vielleicht eines der beiden Eseltreiber von Nazareth, die Jünger geworden
sind, und treten durch die Tür der Werkstatt ein, die offen steht, um den Raum
zu lüften, in dem bis vor kurzem die Hitze der einfachen Feuerstätte mit der
des Sommers zusammengekommen ist.
Thomas ist dabei, seine Werkzeuge
in Ordnung zu bringen, während Simon Sägemehl und Hobelspäne zusammenkehrt und
Jesus Töpfe und Töpfchen von Leim und Farben reinigt.
«Der Friede sei mit dir, Meister,
und mit euch, ihr Jünger», grüßen die
44
Frauen, wobei sie sich immer
wieder verneigen, bis sie sich, nachdem sie die Werkstatt durchquert haben,
schließlich zu Füßen Jesu niederwerfen.
«Der Friede sei mit euch. Ihr
seid sehr getreu, daß ihr bei dieser Hitze gekommen seid!»
«Oh, das ist nichts! Man fühlt
sich so wohl hier, daß man all das vergißt. Wo ist deine Mutter?»
«Sie ist drüben und näht gerade
ein Kleid für Aurea fertig. Geht nur zu ihr.»
Die beiden entfernen sich rasch
mit ihren Beuteln, und man hört ihre wohlklingenden, eher tiefen Stimmen sich
mit dem noch etwas herben Stimmchen der Aurea und der Silberstimme Marias
mischen.
«Jetzt sind sie wohl glücklich»,
sagt Thomas.
«Ja, es sind gute Frauen»,
antwortet Jesus.
«Meister, Myrtha hat nun außer
dem Sohn, den sie schon hat, noch ein anderes Kind angenommen, und das alles
ist in wenig mehr als einem Jahr geschehen ...» sagt der Zelote.
«Ja, in wenig mehr als einem
Jahr! Es ist schon mehr als ein Jahr her, daß Maria des Lazarus sich bekehrt
hat. Wie die Zeit vergeht! Es scheint mir gestern gewesen zu sein... und wie
viele Dinge sind auch im vergangenen Jahr geschehen! Welch eine schöne
Zurückgezogenheit vor der Wahl der Apostel! Dann Johannes von Endor, Margziam,
Daniel von Naim, Maria des Lazarus... und schließlich Syntyche... Aber wo wird
Syntyche nun sein? Ich denke oft daran, und ich verstehe nicht, warum ...»
Thomas spricht am Ende mit sich selbst, da Jesus und Simon ihm nicht
geantwortet haben, sondern vielmehr hinausgegangen sind, um sich im Garten zu
waschen und sich dann zu den Jüngerinnen zu gesellen...
Die Vision wird durch die Ankunft
eines Briefes von Pater Migliorini aus Rom unterbrochen, und Jesus sagt zu
mir: «Öffne ihn und lies ihn.» Ich tue es. Und ich wüßte ehrlich gesagt nicht,
was ich antworten soll... Während ich überlege und den Brief ein zweites Mal
lese, läßt mich die geliebte Stimme meines Herrn zusammenfahren, so nah ist
sie, hinter meinem Rücken. Sie sagt:
«Antworte ihm in meinem Namen
folgendes: Die Weisheit und auch das Evangelium sagen – und ihr könnt daher
nicht leugnen, daß diese Worte heilig sind: "Jesus lehrte in seiner Vaterstadt
Nazareth und in deren Synagogen... Die Bewohner von Nazareth empörten sich
über ihn... und wegen ihres Unglaubens wirkte er dort nicht viele Wunder"
(Matthäus und Markus)... "Und Jesus ging nach Nazareth, wo er aufgewachsen
war, betrat die Synagoge und stand auf, um vorzulesen... und er sagte: '...
Kein Prophet wird in seiner Heimat gut aufgenommen...'Und die Bewohner
Nazareths drängten ihn voller Groll bis zum Rand des Berges, um ihn
hinabzustürzen" (Lukas). "Darauf fing er an, Klage zu führen über die Städte,
in denen die meisten seiner Wunder geschehen waren, weil sie sich nicht
bekehrt hatten, und sagte: 'Wehe euch, o Chorazim, Bethsaida ... und
Kapharnaum... denn ihr habt euch nicht zum Herrn bekehrt' " (Matthäus). "Und
Jesus sagte: 'Jerusalern, du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir
gesandt sind... Seht, euer Haus wird öde gelassen und ihr werdet mich nicht
mehr sehen bis die Zeit kommt, da ihr sprecht: 'Gepriesen sei, der da kommt im
Namen des Herrn' " (Lukas). "Und Jesus weinte, als er Jerusalern erblickte,
und sagte: 'Oh, wenn du doch erkannt hättest ... Du hast nicht die Zeit
erkannt, da der Herr dich aufgesucht hat' " (Lukas).
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Seht, es steht geschrieben:
Bethlehem wollte den Herrn nicht. Nazareth wollte den Herrn nicht, Kapharnaum,
Bethsaida und Chorazim waren des Herrn nicht würdig, und Jerusalem haßte den
Herrn, weil "es ihn nicht in seinem Wort erkannte". Es gibt viele, die den
Namen "Christus" verdienen, und viele, die ihrer Sendung dieselben Hindernisse
in den Weg legen wie die Städte Palästinas ihrem Retter und Meister. Sage dies
und sage auch: Wer Ohren hat, der höre; wer Verstand hat, der denke nach; wer
Liebe hat, der handle. Der Rest soll eine Lehre sein, die unter uns bleibt, o
mein Sprachrohr, und mein Friede, meine Gnade, meine Liebe und die Liebe des
Vaters und des Heiligen Geistes seien mit dir.»
Die Vision beginnt von neuem ...
Abel aus Bethlehem in Galiläa
kehrt zurück und findet Thomas noch immer nachdenklich an dem Platz, wo er für
gewöhnlich arbeitet und jetzt ganz in Gedanken seine kleinen Meisterwerke der
Goldschmiedekunst hin- und herschiebt.
«Hast du Arbeit gefunden?» fragt
der Jünger, indem er sich über die kleinen Gegenstände beugt.
«Oh, ich habe alle Frauen von
Nazareth glücklich gemacht. Ich hätte nie geglaubt, daß es hier so viele
Schnallen, Armbänder, Halsketten und andere Schmucksachen zu reparieren gibt.
Ich habe sogar Matthäus bitten müssen, mir Metalle aus Tiberias zu
verschaffen. Ich habe mir nun eine Kundschaft erworben ... ha, ha, ha», sagt
er fröhlich lachend, «wie nicht einmal mein Vater sie gehabt hat. Allerdings
muß ich sagen, daß ich von den Leuten kein Geld verlange...»
«Bezahlst du alles selbst?»
«Nein, ich lasse mir nur den Wert
des Metalles bezahlen. Die Arbeit aber schenke ich ihnen.»
«Du bist großzügig.»
«Nein, ich bin klug. Ich bin
nicht müßig. Ich gebe ein Beispiel, was Arbeitsamkeit und Loslösung vom Geld
betrifft, und ... ich predige... Schweig! Ich glaube, daß ich mehr auf diese
Weise gepredigt habe – ohne ein Gleichnis zu erzählen, ohne ein Wort in der
Synagoge gesprochen zu haben – als wenn ich beständig geredet hätte. Außerdem
übe ich mich für die Zukunft. Ich habe mir vorgenommen, mit meiner Arbeit
Propaganda zu machen, wenn ich einst die Lehre Jesu unter den Ungläubigen
predigen muß.»
«Du bist tüchtig, als Goldschmied
und als Apostel.»
«Ich bemühe mich, es zu sein, aus
Liebe zu Jesus. Du hast also eine Schwester bekommen. Behandle sie gut, weißt
du? Sie ist wie ein Täubchen, ein Nesthäkchen, und das sage ich dir, der ich
durch mein Handwerk Erfahrung im Umgang mit Frauen habe. Ein unschuldiges
Täubchen, dem ein Sperber große Angst eingejagt hat und das jetzt den Schutz
mütterlicher und brüderlicher Fittiche sucht. Wenn deine Mutter sie nicht zu
sich genommen hätte, hätte ich sie für meine Zwillingsschwester erbeten. Ein
Kind mehr oder weniger ... Meine Schwester ist so gut!»
«Auch meine Mutter ist gut. Ihr
ist ein kleines Mädchen gestorben, als
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sie Witwe wurde. Vielleicht ist
ihr die Milch schlecht geworden durch den Schmerz über den Tod ihres Gatten...
Ich erinnere mich kaum an dieses Schwesterlein... und vielleicht würde ich
mich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wenn meine Mutter deswegen nicht so
oft geweint hätte und wenn nicht alle armen Mädchen von Bethlehem im Gedenken
an die kleine Tote Nahrung und Kleidung von unserer Familie erhalten hätten.
Aber da ich mit der Mutter allein aufgewachsen bin, habe auch ich schließlich
eine große Liebe zu den kleinen Mädchen entwickelt... Diese ist nun zwar kein
kleines Kind mehr, aber ich werde sie als solches ansehen wegen ihres Herzens,
wenn sie so ist, wie meine Mutter Noemi und du sie schildern...»
«Sei dessen versichert. Gehen wir
dort hinüber ...»
Dort, im Eßzimmerchen, sind die
Frauen, Jesus und der Zelote versammelt. Und Myrtha, die schon mit einer
großen Hoffnung gekommen ist, ist nun dabei, Aurea zu erobern, indem sie sie
ein Linnengewand anprobieren läßt, das sie für das Mädchen genäht hat.
«Es steht dir wirklich gut», sagt
sie, während sie es ihr wieder auszieht, sie liebkost und ihr Kleid
zurechtlegt, das in Unordnung geraten ist, als sie das neue angezogen hat. «Es
steht dir wirklich gut. Alles wird gut gehen, du wirst sehen, meine Tochter...
Oh! Sieh, da ist mein Abel. Komm näher, mein Sohn. Das ist Aurea. Sie wird
jetzt zu uns gehören, weißt du?»
«Ich weiß es, Mutter, und ich bin
glücklich mit dir.» Er betrachtet das Mädchen forschend... Seine dunklen Augen
mustern es und verlieren sich in der weiten, himmelblauen Iris ihrer Augen.
Die Prüfung fällt positiv aus. Er lächelt ihr zu und sagt: «Wir werden uns
lieben im Herrn, der uns gerettet hat, und wir werden ihn lieben und ihm die
Liebe der anderen Menschen erobern, und ich werde dir Bruder sein im Geiste
und in der Liebe. Ich verspreche es vor dem Meister und meiner Mutter»; und
mit dem lieblichen klaren Lächeln eines reinen Jünglings, der schon auf dem
Weg zu einer hohen Geistigkeit ist, streckt er ihr seine starke braune Hand
entgegen.
Aurea zögert zunächst. Dann legt
sie errötend ihre linke Hand in seine rechte und sagt: «So werden wir es
machen. Im Herrn.»
Die Erwachsenen lächeln einander
zu...
«Hier kann man eintreten, ohne an
die Türen zu klopfen...»
«Sieh, da kommt Simon des Jonas!
Diesmal hat er der Versuchung nicht widerstanden...» lacht Thomas und läuft
hinaus.
«Ja, ich habe ihr nicht
widerstanden... Der Friede sei mit dir, Meister!» Er küßt Jesus und wird von
ihm geküßt. «Wer kann da widerstehen?» Er sieht Maria und grüßt sie, indem er
sich verbeugt, und fährt dann fort: «Doch aus Gewissenhaftigkeit sind wir
durch Tiberias gegangen und haben Judas gesucht... Denn... es sind alle
gekommen, wißt ihr?! Die anderen werden gleich da sein, auch Margziam... Also,
ich sagte,
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daß wir durch Tiberias gegangen
sind. Hm! Um Judas zu suchen für den Fall, daß er daran gedacht hätte,
wenigstens am vierten Sabbat nach Kapharnaum zu kommen... Es wäre nicht schön
gewesen, wenn wir alle weggegangen wären... Und wir haben ihn gefunden... das
heißt, Isaak hat ihn gefunden, als er Jonathan besuchen ging... Denn Isaak ist
nach Kapharnaum gekommen, um auf dich zu warten, ich weiß nicht mit wie
vielen, die dort geblieben sind, um sich unterrichten zu lassen unter der
Leitung des Hermas und Stephanus, deines Sohnes, Noemi, und des Priesters
Johannes... Aber Isaak ist mit uns gekommen, denn auch er leidet, wenn er dich
nicht sieht... Armer Isaak, er ist von Judas nicht sehr freundlich aufgenommen
worden. Doch glaube ich, daß Isaak seine Ungeduld, seine Empfindlichkeit und
seine Neigung zu Zornausbrüchen während seiner langen Krankheit verloren
hat... er regt sich nie auf. Selbst wenn man ihn ins Gesicht schlüge, würde er
lächeln... Welch ein friedfertiger Mensch. Gut. Er hat uns gesagt: "Ich habe
Judas gesehen. Er kommt nicht. Besteht nicht darauf." Ich habe verstanden und
gefragt: "Hat er dir frech geantwortet? Sage es mir. Ich bin euer Oberhaupt
und muß es wissen..."
"O nein", hat er geantwortet, "er
selbst hat nicht frech geantwortet, aber sein Übel. Er ist zu bedauern." Also
bedauern wir ihn... Nun sind wir hier, und wir sind glücklich, daß... Seht, da
kommen auch die anderen ...»
Bei den anderen sind auch Judas
und Jakobus des Alphäus mit ihrer Mutter und den Jüngern von Nazareth: Aser,
Ismael, Simon des Alphäus und, ein seltener Fall, auch Joseph des Alphäus.
Sie entledigen sich ihrer
Reisetaschen. Nathanael hat Honig mitgebracht und Philippus ein Körbchen
voller Weintrauben, die blond sind wie das Haar der Aurea, Petrus gesalzenen
Fisch, und so auch die Söhne des Zebedäus. Matthäus, der bei seinem
frauenlosen Haushalt nichts Gutes zu bieten hat, bringt einen Topf voller Erde
mit einem kleinen Zitronen- oder Orangenbäumchen oder sonst einem
Zitrusgewächs, und sagt: «Eine Seltenheit... Nur wer in Cyrene gewesen ist,
kann so etwas bekommen: und ich kenne jemanden, der in Cyrene gewesen ist,
einen vom Zoll, wie ich einst. Er ist nun in den Ruhestand versetzt worden und
wohnt in Hippos. Ich bin zu ihm gegangen und habe mir dieses junge Pflänzchen
geben lassen, denn sobald Neumond ist, muß es gesetzt werden. Es gibt gute und
schöne Früchte, und die Blüte hat einen so angenehmen Duft und scheint ein
Stern aus Wachs zu sein, ein Stern, wie dein Name besagt... Hier»; und mit
diesen Worten bietet er Maria die Pflanze an.
«Aber, was hast du dich abgemüht
mit diesem Gewicht, Matthäus' Ich danke dir. Mein Garten wird immer schöner
durch euch. Der Kampfer der Porphyria, die Rosen der Johanna, deine seltene
Pflanze, Matthäus, und die anderen Blumen, die Judas Iskariot gebracht hat...
Wie viele schöne Dinge! Wie gut seid ihr doch alle zur Mutter eures Jesu!»
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Die Apostel sind alle gerührt;
nur als Maria Judas erwähnt, blicken sie sich gegenseitig an.
«Ja, sie meinen es alle gut mit
dir. Aber auch wir haben dich lieb», sagt steif und ernst Joseph des Alphäus.
«Gewiß! Ihr seid die lieben Söhne
meines Verwandten Alphäus und der guten Maria. Wir sind Verwandte, und es ist
natürlich, daß ihr mich liebt. Diese hingegen gehören nicht zu unserer
Familie, und doch sind sie für mich wie Söhne und für Jesus wie Brüder; so
sehr lieben sie ihn und folgen ihm unbeirrt nach...»
Joseph versteht die Anspielung.
Er hustet und sucht nach Worten... Schließlich findet er sie... und sagt: «Ja.
Aber wenn ich noch nicht unter ihnen bin, so nur darum, weil ich auch an die
Folgen denke; an die Folgen für ihn, für dich... und... und... Auch das ist
Liebe, besonders zu dir, arme Frau, die du zu lange allein bleibst... Ich bin
gekommen, um Jesus zu sagen, wie glücklich ich bin, daß er auch an die
Bedürfnisse der Mutter gedacht und hier nützliche Arbeit geleistet hat...» Und
in seiner Zufriedenheit, das "Haupt" der Verwandtschaft zu sein und loben und
ermahnen zu können, geruht er, Jesus zu loben wegen der Arbeiten als Schreiner
und Anstreicher und all dem, was er im letzten Monat getan hat. «So gehört es
sich», sagt er. «Jetzt sieht man, daß diese Frau einen Sohn hat! Ich freue
mich sagen zu können, daß ich meinen klugen Jesus, den Sohn des Joseph,
wiedergefunden habe. Bravo! Bravo!»
Der "kluge" Jesus des Joseph, das
allerweiseste Göttliche Wort, das sich dazu erniedrigt hat, Fleisch zu werden,
nimmt sanft und bescheiden das Lob... und die feierlichen Ratschläge seines
Vetters Joseph an, und sein liebliches Lächeln verhindert jede voreilige
Regung von seiten der Apostel zugunsten ihres Jesus.
Nach diesem Anlauf, als Joseph
sieht, daß man ihm Gehör schenkt, kennt er keine Grenzen mehr und fährt fort:
«Ich will hoffen, daß Nazareth von nun an nicht mehr mitansehen muß, wie eine
arme Mutter im Stich gelassen wird und ein unkluger Sohn den von allen
begangenen Pfad verläßt, um sowohl hinsichtlich des Ziels als auch der Folgen
unsichere Wege einzuschlagen. Ich werde mit meinen Freunden, mit dem
Synagogenvorsteher sprechen... Wir werden dir verzeihen... Oh! Nazareth wird
dir gern die Arme öffnen, um dich wie einen zurückkehrenden Sohn zu empfangen,
der wieder für alle Bürger ein Beispiel der Tugend sein wird. Schon morgen
werde ich selbst dich in die Synagoge begleiten und ...»
Jesus erhebt die Hand, um
Schweigen zu gebieten, und sagt ruhig, aber sehr entschieden: «In die Synagoge
werde ich als Gläubiger kommen, wie ich dies auch an den anderen Sabbaten
getan habe. Aber es ist nicht nötig, daß du zu meinen Gunsten sprichst; denn
eine Stunde nach Sonnenuntergang werde ich abreisen, um fortzufahren, die
Frohe Botschaft zu
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verkünden, wie es meine
Gehorsamspflicht gegenüber dem Allerhöchsten verlangt.»
Das ist eine große Schmach für
Joseph! ... Eine sehr große! ... Seine ganze Gutmütigkeit ist dahin und seine
feindselige Anmaßung kommt wieder zum Vorschein: «Also gut! Aber suche mich
nicht auf in der Stunde der Not. Ich habe meine Pflicht getan, und dein
sicheres Unglück soll nicht auf mich zurückfallen. Leb wohl! Hier fühle ich
mich überflüssig, da ich euch nicht begreifen kann und ihr mich nicht
verstehen könnt. Ich ziehe mich zurück, ohne Groll, doch sehr betrübt... Der
Herr möge dich beschützen, wie er alle jene beschützt, die... einfältig und
unerfahren sind... Leb wohl, Maria! Sei tapfer, arme Mutter!»
«Leb wohl, Joseph! Aber nicht
seinetwegen, sondern deinetwegen muß ich mir Mut machen; denn du bist
derjenige, der nicht auf dem Wege Gottes geht und mir Schmerz bereitet», sagt
Maria ruhig und entschieden.
«Du bist ein Dummkopf, das ist
es! Und wenn du nicht das Familienoberhaupt wärest, würde ich dich schlagen,
Geschöpf meines Blutes, aber nicht meines Geistes ...» kreischt Maria des
Alphäus; und sie würde noch mehr sagen, doch Maria fleht sie an: «Schweig, aus
Liebe zu mir!»
«Ich schweige. Ja. Aber... aber
sagt mir, ob es gerecht ist, daß ich unter meinen Söhnen ein solches Scheusal
haben muß! ...»
Das Scheusal ist indessen schon
fortgegangen, während die gute Maria des Alphäus sich ihre Sorgen vom Herzen
redet, die ihr dieser dickköpfige Sohn aufgebürdet hat, und ihren Tränen
freien Lauf läßt. Schluchzend spricht sie den Schmerz aus, der sie am meisten
bedrückt: «Und ich werde ihn einst nicht bei mir im Himmel haben, diesen da!»
Ich werde ihn nicht bei mir haben! Ich werde ihn in seinen Qualen sehen! Oh,
Jesus! Wirke du an ihm ein Wunder!»
«Aber ja, Maria! Aber ja. Weine
nicht! Es wird auch für ihn die Stunde kommen. Vielleicht die elfte Stunde.
Aber sie wird kommen. Ich versichere es dir. Weine nicht ...» So tröstet Jesus
die Frau, und als sie sich beruhigt hat, sagt er zu den Aposteln und Jüngern:
«Kommt in den Olivengarten, während die Frauen ihre Sachen vorbereiten. Wir
werden dort miteinander sprechen.»
490. ABREISE NACH BETHLEHEM IN
GALILÄA
Es ist der Abend des eigentlichen
Sabbats, und das Leben nimmt wieder seinen gewohnten Lauf. Hier, im Häuschen
von Nazareth, beginnt man nach der Ruhepause wieder mit den Vorbereitungen für
die Abreise. Reisevorrat wird eingepackt, Kleider werden in die Säcke
gestopft, die Reisetaschen werden sorgfältig zugebunden, die Lederriemen und
Verschlüsse
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der Sandalen werden nachgeprüft,
die gut genährten Esel, die vor der Hecke warten, werden getränkt...
Abschiedsgrüße und einige Tränen, während man sich lächelnd das Beste wünscht
und verspricht, sich bald wiederzusehen... und schließlich das Geschenk von
Thomas für Maria: eine Schnalle, wir würden sagen eine Anstecknadel, um das
Kleid am Hals zusammenzuhalten. Sie besteht aus drei feinen, zierlichen
Stielen mit Maiglöckchen, die von zwei Blättern zusammengehalten werden und
die den echten täuschend ähnlich sehen, während sie doch von Meisterhand in
Metall nachgemacht sind.
«Du wirst sie nicht tragen,
Maria, ich weiß es; aber nimm sie trotzdem an. Ich hatte den Wunsch, dir
dieses Geschenk zu machen, seit mein Herr eines Tages von dir sprach und dich
mit der Lilie der Täler verglich ... Ich habe nichts für dein Haus getan...
aber ich habe dies gemacht, um das Lob deines Sohnes in ein Symbol zu
übertragen für dich, die du es mehr als jede andere Frau verdienst. Und wenn
ich dem Metall nicht die Geschmeidigkeit der lebendigen Pflanze und den Duft
der Blume geben konnte, so sollen meine aufrichtige, verehrungsvolle Liebe ihm
die Zartheit einer Liebkosung und die Tiefe meiner Ergebenheit ihm Duft
verleihen, Mutter meines Herrn.»
«Oh! Thomas! Es ist wahr. Ich
trage keine Schmucksachen, da sie mir Ausdruck der Eitelkeit zu sein scheinen.
Aber hier handelt es sich um etwas anderes, um die Liebe meines Jesus und
eines seiner Apostel, und so wird es mir lieb sein. Ich werde es täglich
anschauen und des guten Thomas gedenken, der seinen Meister so sehr liebt, daß
er sich nicht nur seine Lehre merkt, sondern auch seine schlichtesten Worte
über die einfachsten Dinge und die niedrigsten und unbedeutendsten Personen.
Ich danke dir, Thomas. Nicht wegen des Wertes, sondern für deine Liebe.
Danke!»
Alle bewundern die vollkommene
Arbeit, und Thomas, ganz glücklich, zieht noch ein anderes kleineres Werk
hervor: drei Jasmin-Sternchen, umgeben von einem zarten Ring winziger
Blättchen, und überreicht es Aurea. «Weil du nicht kokett gewesen bist und es
nicht selbst verlangt hast; weil du hier gewesen bist, während der Jasmin
blühte, und damit diese Sternlein dich immer an unseren Stern erinnern. Doch
gibt gut acht! Du mußt den Blumen durch deine Tugenden Duft verleihen und
selbst eine reine, schöne, weiße Blume sein, die ihren Duft gen Himmel
verströmt. Wenn du das nicht tust, werde ich mir die Schnalle wieder
zurückholen. Auf! Weine nicht... denn alles geht vorüber... und... bald werden
wir zu Maria zurückkehren oder sie wird zu uns kommen und ...» Aber angesichts
der immer stärker fließenden Tränen, fühlt Thomas, daß es besser ist, nicht
weiterzureden, und geht hinaus. Gedemütigt sagt er zu Petrus: «Wenn ich gewußt
hätte... daß sie so noch mehr weint, hätte ich ihr nichts gegeben... Ich habe
diese Schnalle eigens gemacht, um sie in dieser Stunde zu trösten ... Ich
konnte das nicht vorhersehen ...»
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Petrus verliert in diesem
Augenblick der Verwirrung die Kontrolle über sich selbst und sagt: «So ist es
eben immer, wenn man Abschied nimmt ... Hättest du Syntyche gesehen, damals
...» Er merkt, was er gesagt hat, will sich verbessern, wird krebsrot ... Aber
es ist geschehen.
Thomas versteht ihn, legt
gutmütig den Arm um seine Schultern, und sagt: «Gräme dich nicht darüber,
Simon. Ich weiß zu schweigen und verstehe, weshalb ihr geschwiegen habt ...
wegen Judas des Simon. Ich schwöre dir beim Gott unserer Väter, daß das, was
ich ungewollt erfahren habe, vergessen ist. Verschmerze es, Simon! ...»
«Der Meister wollte es nicht ...»
«Gewiß hatte er allen Grund dazu.
Ich nehme es ihm nicht übel.»
«Ich weiß es. Aber was wird er
mir sagen? ...»
«Nichts, denn er wird nichts
davon erfahren. Vertraue auf mich!»
«Ach nein! Verheimlichen will ich
dem Meister nichts. Ich habe gefehlt und verdiene Tadel, und zwar sofort. Ich
werde keinen Frieden mehr haben, wenn ich ihm nicht sofort meinen Fehler
bekenne. Thomas, sei so gut, geh und hole ihn... Ich warte in der Werkstatt.
Geh, und komme mit ihm zurück. Ich bin zu verwirrt, um es zu tun, und die
anderen würden es mir anmerken.»
Thomas schaut ihn voller
Bewunderung und Mitleid an und kehrt ins Haus zurück, um Jesus zu rufen:
«Meister, komm doch einen Augenblick. Ich muß dir etwas sagen.»
Jesus, der sich gerade von Maria
des Alphäus verabschiedet hat, folgt ihm sogleich. «Was möchtest du?» fragt
er, während er neben ihm hergeht.
«Ich nichts. Simon möchte dich
sprechen, Sieh, da ist er...»
«Simon, was hast du, daß du so
verwirrt bist?»
Petrus wirft sich Jesus zu Füßen
und seufzt: «Ich habe gesündigt! Verzeihe mir!»
«Gesündigt? Worin? Du warst doch
bei uns, fröhlich und ruhig...»
«Ach, Meister, ich habe dir nicht
gehorcht. Ich habe Thomas von Syntyche gesprochen... Ich war verwirrt wegen
der Tränen, und er war es noch mehr als ich; er glaubte, sie vermehrt zu
haben... Um ihn zu trösten, habe ich gesagt: "Es ist immer so, wenn man
Abschied nimmt... Du hättest Syntyche sehen sollen..." und er hat gleich
verstanden!» Der gedemütigte Petrus erhebt seinen untröstlichen Blick und
schaut Jesus an.
«Gott sei gelobt, mein Simon. Ich
glaubte schon, du hättest etwas viel Schlimmeres angestellt, und deine
Aufrichtigkeit löscht auch diese Schuld aus. Du hast ohne böse Hintergedanken
mit einem Kameraden geredet. Thomas ist gut und wird mit niemandem darüber
sprechen...»
«Ja, er hat es mir geschworen...
Aber sieh, jetzt fürchte ich, zu töricht zu sein, um ein Geheimnis bewahren zu
können ...»
«Du hast es bis zu dieser Stunde
bewahrt.»
52
«Ja, aber stell dir vor: Nie ein
Wort zu Philippus und Nathanael. Und jetzt ...»
«Auf! Steh auf! Der Mensch ist
immer unvollkommen. Aber wenn er es ohne Bosheit ist, begeht er keine Sünde.
Wache über dich. Aber beruhige dich nun. Dein Jesus braucht dir nur noch den
Friedenskuß zu geben. Thomas, komm her.» Thomas eilt herbei. «Du hast sicher
die Gründe für das Schweigen begriffen.»
«Ja, Meister, und ich habe mir
geschworen, mich daran zu halten, soweit ich dazu fähig bin. Ich habe es auch
Simon schon gesagt...»
«Dem dummen Simon», seufzt
Petrus.
«Nein, Freund. Du hast mich
erbaut durch deine vollkommene Demut und Aufrichtigkeit. Du hast mir eine
wichtige Lehre erteilt, die ich mir merken werde. Ich werde dies aus Vorsicht
nicht weitersagen können, und das tut mir leid, denn nur wenige unter uns
besitzen die Aufrichtigkeit, die du gezeigt hast. Aber man ruft uns! Gehen
wir.»
Tatsächlich sind viele schon auf
der Straße, und die drei Frauen, Noemi, Myrtha und Aurea, sitzen auf ihren
Eselchen. Maria ist zusammen mit ihrer Schwägerin bei Aurea. Sie küssen sie
immer wieder, und als sie Jesus kommen sehen, küssen sie auch die beiden
Mitjüngerinnen und verabschieden sich schließlich von Jesus, der sie segnet,
bevor er sich auf den Weg macht...
Maria und Maria Kleophä kehren
ins Haus zurück ... In das Haus, in dem als Andenken an das kurz zuvor
Geschehene überall verstreute Stühle und Geschirr zurückgeblieben sind... Die
Unordnung nach einer Abreise.
Maria fährt mit ihrer Hand
gedankenverloren über den kleinen Webstuhl, an dem sie Aurea weben gelehrt
hat... Ihre Augen glänzen von zurückgehaltenen Tränen.
«Du leidest, Maria!» sagt ihr
Maria Kleophä, die weint, ohne sich zu bemühen, die Tränen zurückzuhalten.
«Sie ist dir lieb geworden! ... Sie kommen hierher und dann gehen sie
wieder... und uns tut es weh ...»
«Das ist unser Leben als
Jüngerinnen. Du hast gehört, was Jesus heute gesagt hat: "So werdet ihr es
auch in Zukunft tun. Ihr werdet in allen Geschöpfen brüderliche Seelen sehen
und gastfreundlich, in übernatürlicher Weise gastfreundlich sein, indem ihr
euch selbst als Pilgerinnen fühlt, die andere Pilger aufnehmen. Erweist Hilfe,
gebt Erquickung, Ratschläge und dann laßt eure Brüder ihrer Bestimmung
entgegengehen, ohne sie mit eifersüchtiger Liebe zurückzuhalten, in der
Gewißheit, sie nach dem Tode wiederzusehen. Es werden Verfolgungen kommen, und
viele werden euch verlassen und dem Martyrium entgegengehen. Seid nicht feige
und ratet nicht zur Feigheit. Verbleibt betend in den leeren Häusern, um den
Märtyrern in ihrem Mut zur Seite zu stehen; seid heiter, um die Schwächeren zu
stärken, und tapfer, um bereit zu sein, die Helden nachzuahmen. Gewöhnt
53
euch schon jetzt an Trennung und
Loslösung, an das Apostolat der Nächstenliebe..." Und wir tun es. Unter
Schmerzen, sicher, denn wir sind Geschöpfe aus Fleisch und Blut... Doch der
Geist frohlockt in geistiger Freude über die Erfüllung des Willens unseres
Herrn und das Mitwirken an seiner Verherrlichung. Überdies ... bin ich die
Mutter aller... und darf es nicht für einen allein sein. Ich bin es nicht
einmal ausschließlich für Jesus ... Du siehst, wie ich ihn gehen lasse, ohne
ihn zurückzuhalten... Ich möchte bei ihm sein, das ja. Aber er hat
entschieden, daß ich bleiben muß, bis er sagen wird: "Komm." So bleibe ich
hier. Seine Aufenthalte hier? Das sind meine mütterlichen Freuden. Meine
Wanderungen mit ihm? Das sind meine Freuden als Jüngerin. Meine Einsamkeit
hier? Das ist meine Freude als Gläubige, die den Willen des Herrn erfüllt.»
«Dieser Herr ist doch dein Sohn,
Maria...»
«Ja, aber er ist doch immer mein
Herr... Bleibst du bei mir, Maria?»
«Ja, wenn du nichts dagegen
hast... Mein Haus ist so traurig in diesen ersten Stunden, nachdem meine Söhne
es verlassen haben! ... Morgen wird es schon anders sein... und diesmal würde
ich noch mehr weinen...»
«Warum, Maria?»
«Weil ich seit gestern weine...
Ich bin wie eine Zisterne, eine Zisterne zur Zeit der Regenfälle.»
«Aber warum, Teuerste?»
«Wegen Joseph... Gestern... Oh!
Ich weiß nicht, ob ich hingehen und ihn bitter zurechtweisen soll; denn
schließlich ist er doch mein Sohn, den dieser Schoß getragen und diese Brust
genährt hat, und es gibt keine Erstgeburt, die über einer Mutter steht... oder
ob ich nicht mehr mit ihm sprechen soll, mit diesem Scheusal, das ich zur Welt
gebracht habe und das meinen Jesus und dich beleidigt ...»
«Nichts von alledem darfst du
tun. Für ihn wirst du immer die Mutter sein, eine Mutter, die auch mit dem
widerspenstigen, kranken, entgleisten Sohn Mitleid hat und ihn durch Güte
besänftigt und durch Gebet und Geduld zu Gott zurückführt... Habe Mut und
weine nicht mehr! ... Komm vielmehr mit mir. Wir werden in meinem Zimmer
beten, für ihn, für die, die fortgegangen sind, für das Mädchen, auf daß es
weniger leide und heilig heranwachse... Komm, komm, meine Maria», und sie
nimmt sie mit sich...
Inzwischen marschieren die Pilger
in Richtung Südwesten. Die Frauen voraus auf den gutgenährten, ausgeruhten
Eseln. Die Tiere trotten so fröhlich daher, daß sie Margziam und Abel, die
sich vorsichtshalber zu beiden Seiten von Aurea halten, die zum ersten Mal im
Sattel sitzt, fast zwingen, im Laufschritt zu gehen. Wenn die Sache auch
mühevoll ist, so dient sie wenigstens dazu, das Mädchen von ihrem Schmerz über
die Trennung von Maria abzulenken.
Immer wieder hält Myrtha ihren
Esel an, um die beiden Jünglinge ein
54
wenig verschnaufen zu lassen, und
treibt ihn erst wieder an, wenn die Gruppe der Apostel sie eingeholt hat. Doch
bei jeder Rast wird Aurea immer wieder traurig, weil sie dann nicht mehr durch
die Schwierigkeiten des Reitens abgelenkt wird ... Margziam, der als
Waisenkind Erfahrungen gesammelt hat und selbst von einer Adoptivmutter aus
Liebe aufgenommen worden ist, nachdem er Maria kennengelernt hatte, tröstet
sie, indem er ihr erzählt, wie man die Adoptivmutter dann liebgewinnt, «als ob
es die eigene Mutter wäre», und wie Maria und Matthias bei Johanna und
Anastasica bei Elisa glücklich sind.
Aurea hört sich die Erzählungen
an, und als Margziam mit den Worten schließt: «Glaube mir, die Jüngerinnen
sind alle gut, und Jesus weiß, wem er uns arme Geschöpfe anvertrauen muß», und
Abel bekräftigt: «Und du darfst meiner Mutter nicht mißtrauen, die so
glücklich ist, dich bei sich zu haben, und in den vergangenen Tagen so viel
gebetet hat, um dich von Gott zu erhalten», da sagt Aurea: «Ich glaube es und
habe sie lieb... Aber Maria ist Maria! Ihr müßt mich verstehen...»
«Ja. Aber es tut uns leid, dich
traurig zu sehen...»
«Oh, ich bin schon nicht mehr so
traurig wie im Haus des Römers und in den ersten Stunden nach der Befreiung...
Ich bin nur... Ich fühle mich nur so verloren. Ich habe seit Jahren keine
Liebkosungen mehr erfahren... Nur Maria hat sie mir wieder zuteil werden
lassen, nach so vielen Jahren unter irgendwelchen Herren...»
«Meine liebe Seele! Aber ich bin
ja da, um sie dir zu geben! Ich werde eine zweite Maria für dich sein. Komm
näher zu mir... Wenn du kleiner wärest, würde ich dich zu mir auf den Sattel
nehmen, wie ich es mit meinem Abel gemacht habe, als er noch ein Kind war...
Aber du bist ja schon eine Frau...» sagt Myrtha, indem sie sich ihr nähert und
sie bei der Hand nimmt. «Du bist meine kleine Frau, und ich werde dir viele
Dinge beibringen, und wenn Abel einst fortgeht, um die Frohe Botschaft zu
verkünden, dann werden wir beide die Pilger aufnehmen, wie der Herr sagt, und
in seinem Namen viel Gutes tun. Du bist jung und wirst mir helfen...»
«Aber schaut, was für ein Licht
da drüben jenseits des Hügels!» ruft Jakobus des Zebedäus aus, der sie
eingeholt hat.
«Brennt da ein Wald?»
«Oder eine Ortschaft?»
«Beeilen wir uns, um zu sehen,
was geschehen ist...»
Keiner ist mehr müde, denn die
Neugierde läßt alle anderen Empfindungen verblassen. Jesus folgt ihnen
wohlwollend, indem er den Weg verläßt und einen Pfad einschlägt, der zur Höhe
führt. Der Gipfel ist bald erreicht...
Aber es ist weder ein Wald noch
eine Ortschaft die brennen, sondern der Besenginster in der weiten Mulde
zwischen zwei Höhenzügen. Das von der Sonnenhitze ausgetrocknete Heidekraut
hat Feuer gefangen, vielleicht
55
durch einen von den Holzfällern,
die weiter oben Bäume umgesägt haben, erzeugten Funken, und nun brennt es: ein
Teppich niedriger, aber lebhafter Flammen, die weiterwandern, nachdem sie dort
alles verzehrt haben, wo das Feuer ausgebrochen ist, und sich nun neues
Heidekraut suchen. Die Holzfäller bemühen sich, den Brand zu löschen, indem
sie die Flammen mit Knütteln schlagen. Aber es ist umsonst. Sie sind wenige an
der Zahl, und wenn sie auf der einen Seite arbeiten, dehnt sich das Feuer auf
der anderen aus.
«Wenn der Brand den Wald
erreicht, gibt es eine Katastrophe. Dort wachsen viele harzhaltige Bäume»,
meint Philippus. Jesus steht mit verschränkten Armen aufrecht auf dem
Hügelkamm, blickt hinab und lächelt nachdenklich...
Der Gegensatz zwischen dem weißen
Mondlicht im Osten und der Röte der Flammen im Westen ist beeindruckend, und
die Zuschauer haben durch das Mondlicht einen weißen Rücken und ein rotes
Gesicht durch das Licht der Flammen.
Das Feuer breitet sich aus wie
Wasser, das über die Ufer getreten ist, steigt und immer mehr Land
überflutet... Das Feuer ist nun wenige Meter vom Wald entfernt und beleuchtet
schon die Holzstapel an seinem Rand, und in immer hellerem Schein erscheinen
die Häuschen eines Dorfes auf der Anhöhe des Hügels, an dem sich die Flammen
emporarbeiten.
«Die armen Leute! Sie werden
alles verlieren», sagen einige. Sie schauen auf Jesus, der nichts sagt,
sondern nur still lächelt...
Aber dann... dann breitet er die
Arme aus und ruft: «Halt ein! Stirb! Ich will es.»
Und als ob ein großer Scheffel
sich niedergelassen hätte, um die Flammen zu ersticken, erlischt das Feuer auf
wunderbare Weise. Das lebendige, heftige Züngeln der Flammen verwandelt sich
in rote Kohlenglut. Dann wird das Rot zu Violett und schließlich zu einem
Graurot... Da und dort züngelt es noch empor aus der Asche... dann bleibt nur
der Mond mit seinem Silber, der die Wälder erhellt.
In seinem weißen Schein sieht
man, wie die Holzfäller sich gestikulierend versammeln, umherschauen und in
die Höhe blicken... auf der Suche nach dem Engel des Wunders...
«Steigen wir hinab. Ich werde
durch dieses unerwartete Ereignis an diesen Seelen wirken, und wir werden in
dem kleinen Dorf bleiben und nicht in die Stadt gehen. In der Morgenfrühe
reisen wir dann weiter. Einen Platz für die Frauen werden sie wohl haben. Uns
genügt der Wald», sagt Jesus und beginnt sogleich den Abstieg, gefolgt von den
anderen.
«Aber warum hast du so gelächelt?
Du schienst so glücklich?» fragt Petrus.
«Du wirst es aus meinen Worten
erfahren.»
Sie sind schon dort, wo das
Brachfeld in Asche liegt, die noch warm ist
56
und unter den Sandalen knistert.
Sie schreiten darüber hinweg. In der Mitte angekommen, wo der Mond sie voll
beleuchtet, werden sie von den Holzhauern entdeckt.
«Oh! Ich habe es ja gesagt! Nur
er kann das getan haben. Laufen wir und verehren wir ihn», schreit ein
Waldarbeiter, indem er sich in die Asche zu Füßen Jesu wirft.
«Wie kommst du dazu zu glauben,
daß ich dies tun konnte?»
«Weil nur der Messias so etwas
tun kann.»
«Und woher weißt du, daß ich der
Messias bin? Kennst du mich vielleicht?»
«Nein. Aber nur der Gute, der die
Armen liebt, kann Erbarmen gehabt haben, und nur der Heilige Gottes kann dem
Feuer befohlen haben, so daß es ihm gehorcht hat. Der Allerhöchste sei
gepriesen, der uns seinen Messias gesandt hat, und der Messias, der
rechtzeitig gekommen ist, um unsere Häuser zu retten.»
«Ihr müßt mehr Sorge tragen für
die Rettung eurer Seele.»
«Diese rettet man durch den
Glauben an dich und indem man das tut, was du lehrst. Aber du weißt, o Herr,
daß die Trostlosigkeit unsere schwachen Seelen noch mehr schwächt; und wenn
man alles verliert... dann wird man leicht zum Zweifel an Gottes Vorsehung
verleitet.»
«Wer hat euch über mich
unterrichtet?»
«Einige deiner Jünger... Sieh, da
sind unsere Familien... Wir haben jemanden geschickt, um sie aufzuwecken, da
wir fürchteten, das Feuer würde sich über den ganzen Hügel ausbreiten... Kommt
her... und dann haben wir noch einen Mann geschickt, um ihnen mitzuteilen, daß
ein Wunder geschehen ist und daß sie kommen sollen. Da sind sie, Herr. Die
meinige, die des Jakob, die des Jonathan, die des Markus... Das hier ist die
meines Bruders Tobias, das die meines Schwagers Melchias... Hier die des
Philippus und die des Eleazar. Die anderen sind Frauen von Hirten, die auf den
Bergen bei den Herden sind...»
Es ist eine Gruppe von höchstens
zweihundertfünfzig Personen, die ganz Kleinen, Säuglinge oder kaum entwöhnte
mitgerechnet, die nun, halb wach geworden, weinen, oder schlafen, ohne zu
wissen, welcher Gefahr sie entronnen sind.
«Der Friede sei mit euch allen.
Der Engel Gottes hat euch gerettet. Loben wir miteinander den Herrn.»
«Du hast uns gerettet, denn du
bist immer da, wo Gläubige auf dich vertrauen», sagen mehrere Frauen... denen
die Männer mit großem Ernst zustimmen.
«Ja. Wo der Glaube an mich lebt,
ist auch die Vorsehung gegenwärtig. Doch sowohl in materiellen als auch in
geistigen Dingen muß man immerzu Vorsicht walten lassen. Was hat denn die
Feuersbrunst im Heidekraut verursacht? Wahrscheinlich ein Funke, der von eurer
Feuerstelle
57
übergesprungen ist, oder ein
Zweiglein, das eines der Kinder am Feuer anzünden wollte, um da unten damit zu
spielen, es zu schwenken und zu werfen, mit der Sorglosigkeit, die dem
kindlichen Alter eigen ist. Es ist schön, einen Feuerpfeil die Luft
durchschneiden zu sehen, wenn der Abend herniedersinkt. Aber seht nun, was
eine Unvorsichtigkeit verursachen kann! Sie kann verheerende Folgen haben. Ein
Funke oder ein brennender Zweig, der auf dürres Heidekraut fällt, hat genügt,
um ein ganzes Tal in Flammen aufgehen zu lassen, und wenn der Ewige mich nicht
gesandt hätte, würde ein Brand eure Güter und euer Leben verschlungen haben.
So ist es mit den geistlichen
Dingen. Beständig muß kluge Vorsicht obwalten, auf daß kein Feuerpfeil, kein
Funke euren Glauben erfasse und zerstöre, nachdem er unvermerkt in eurem
Herzen sozusagen gebrütet hat und zu einer Feuersbrunst geworden ist, die von
jenen angefacht wird, die mich hassen und euch mir entziehen wollen. Hier ist
das Feuer, da es zur rechten Zeit gelöscht wurde, vom schadenbringenden in ein
nutzbringendes verwandelt worden; denn es hat das Brachfeld im Tal von
unnützem Unkraut, das ihr habt wachsen lassen, gesäubert und gibt euch durch
dessen Zerstörung und durch die Düngung des Bodens Gelegenheit, nützliche
Kulturen anzulegen, wenn ihr arbeitsam seid. Aber in den Herzen geschieht
leider etwas ganz anderes. Wenn darin alles Gute zerstört ist, kann nichts
mehr, außer Dornen, als Streu für die Dämonen, gedeihen.
Erinnert euch daran und hütet
euch vor den Einflüsterungen meiner Feinde, die sie wie höllische Funken in
eure Herzen werfen. Seid dann bereit, das Feuer zu löschen. Und wie könnt ihr
gegen dieses Feuer angehen? Durch einen immer stärkeren Glauben, einen
unbeugsamen Willen, Gott anzugehören, also durch den Bund mit dem heiligen
Feuer. Denn das Feuer verzehrt nicht das Feuer. Wenn ihr also Feuer seid in
der Liebe zum wahren Gott, wird euch das Feuer des Gotteshasses nicht schaden
können. Das Feuer der Liebe besiegt jedes andere Feuer. Meine Lehre ist Liebe,
und wer sie aufnimmt, geht ein in das Feuer der Liebe und kann vom Feuer des
Dämons nicht mehr gequält werden.
Während ich von der Höhe dieses
Hügels das Heidekraut und den Besenginster brennen sah und mehr den an den
Herrgott gerichteten Worten eurer Seelen lauschte als ich euren Kampf gegen
das Feuer betrachtete, lächelte ich, und einer meiner Apostel fragte mich:
"Warum lächelst du?" Ich versprach ihm: "Ich werde es dir sagen, wenn ich zu
den Geretteten spreche." Nun tue ich es. Ich lächelte, weil ich daran dachte,
daß, ebenso wie sich die Flammen im Heidekraut des Tales trotz eurer
Löscharbeiten ausgebreitet haben, meine Lehre sich in der Welt ausbreiten wird
trotz der Angriffe der Feinde des Lichtes. Es wird Licht geben. Es wird eine
Reinigung sein. Es wird eine Wohltat sein. Wie viele kleine Schlangen sind
doch in der glühenden Asche umgekommen, und mit ihnen andere Schädlinge! Ihr
habt dieses Tal gefürchtet wegen der allzu vielen Schlangen, die es
58
bevölkern. Seht, nun lebt keine
einzige mehr. Ebenso wird die Welt von vielen Irrlehren befreit werden, von
vielen Sünden und vielen Schmerzen, wenn sie mich kennengelernt hat und vom
Feuer meiner Lehre gereinigt sein wird. Gereinigt und befreit von unnützen
Gewächsen, wird die Welt auf den guten Samen vorbereitet sein, der eine reiche
Ernte an heiligen Früchten erbringen wird.
Seht ihr nun, weshalb ich
lächelte? ... Ich sah in dem sich ausbreitenden Feuer ein Sinnbild für die
Ausbreitung meiner Lehre in der Welt. Dann hat die Nächstenliebe, die nie von
der Liebe zum Herrn getrennt werden darf, meine Gedanken auf eure Bedürfnisse
gelenkt, und so habe ich den inneren Blick des Herzens von der Betrachtung der
Interessen Gottes auf die Betrachtung der Interessen der Brüder gesenkt und
dem Feuer Einhalt geboten, damit ihr durch euren Jubelgesang den Herrn preisen
möget. Seht also: Mein Gedanke ist zu Gott aufgestiegen, er ist noch viel
mächtiger herabgestiegen, weil die Vereinigung mit Gott unsere Fähigkeiten
immer verstärkt; und schließlich ist er wieder zusammen mit dem eurigen zu
Gott aufgestiegen. Auf diese Weise habe ich durch die Liebe die Interessen des
Vaters und die meiner Brüder vertreten. Tut auch ihr desgleichen in eurem
künftigen Leben.
Nun bitte ich euch um eine
Unterkunft für diese Frauen. Das Mondlicht nimmt ab, und wir sind durch den
Brand aufgehalten worden und können die nächste Stadt nicht mehr erreichen.»
«Kommt, kommt! Es gibt Platz für
alle. Wir selbst hätten um diese Zeit ohne Dach sein können. Unsere Häuser
sind eure Häuser. Es sind Häuser armer Leute, aber sie sind sauber. Kommt und
seid gesegnet», rufen alle.
Langsam steigen sie wiederum den
Hügel hinauf, dessen Hang recht steil ist, bis zu dem Dörflein, das auf
wunderbare Weise von der Zerstörung gerettet worden ist, und ein jeder geht
nach Hause mit seinem Gast...
491. JUDAS ISKARIOT BEI MARIA IN
NAZARETH
Kaum zeigen sich im Osten die
ersten Anzeichen des Morgenrots, als Judas von Kerioth an die Tür des kleinen
Hauses von Nazareth klopft.
Auf dem Weg sind nur Bauern,
besser gesagt: Kleingrundbesitzer von Nazareth, die sich mit dem Arbeitsgerät
zu ihren Weinbergen oder Olivenhainen begeben. Sie schauen erstaunt auf den
Mann, der zu so früher Stunde am Haus Marias anklopft, und tuscheln
miteinander.
«Es ist ein Jünger», antwortet
einer auf die Bemerkung eines anderen.
«Bestimmt sucht er Jesus, den
Sohn des Joseph.»
«Aber vergeblich. Gestern abend
ist er abgereist. Ich habe ihn gesehen. Ich will es ihm sagen...» sagt ein
anderer.
59
«Laß es sein! Es ist Judas
Iskariot. Dieser Mann gefällt mir nicht. Vielleicht haben wir Jesus viel
Unrecht angetan und das ist nicht recht, aber der, dieser da, hat im
vergangenen Jahr viel Unheil unter uns gestiftet ... Vielleicht hätten wir uns
bekehrt. Aber er ...»
«Woher? Was? Woher weißt du das?»
«Ich war einmal dabei, eines
Abends im Haus des Synagogenvorstehers und töricht, wie ich bin, glaubte ich
gleich alles ... Jetzt aber Schluß! Ich glaube, daß ich gesündigt habe.»
«Vielleicht ist auch er zu der
Einsicht gekommen, daß er gesündigt hat und...»
Sie entfernen sich, und ich höre
nichts mehr.
Judas klopft noch einmal an die
kleine Tür, an die er sein Gesicht gelehnt hat, wie um nicht gesehen oder
erkannt zu werden. Aber das Türlein bleibt verschlossen. Judas ist enttäuscht,
entfernt sich und schlägt einen kleinen Pfad ein, der am Garten entlang hinter
das Haus führt. Er blickt verstohlen über die Hecke des stillen Gartens, der
nur von Tauben belebt ist.
Judas denkt darüber nach, was er
wohl tun soll. Er führt ein Selbstgespräch: «Wird auch sie fortgegangen sein?
Ich ... müßte sie doch gesehen haben... Und dann! Nein. Gestern abend habe ich
noch ihre Stimme gehört ... Vielleicht ist sie zur Schwägerin schlafen
gegangen ... Puh! Das ist mir lästig wie eine Biene im Gesicht, denn sie
werden zusammen zurückkehren, und ich will sie doch allein sprechen, ohne
diese Alte als Zeugin. Sie ist geschwätzig und würde mir Vorwürfe machen. Ich
will keine Vorwürfe. Zudem ist sie schlau, wie alle alten Frauen aus dem Volk.
Sie würde meine Entschuldigungen nicht anerkennen und diese dumme Taube von
Schwägerin warnen... Bei der bin ich sicher, daß ich sie auf jeden Fall
einwickeln kann. Sie ist sanft wie ein Lamm... und ich muß das
wiedergutmachen, was in Tiberias vorgefallen ist. Denn wenn sie darüber
spricht... Wer weiß, ob sie etwas erzählt oder geschwiegen hat... Wenn sie
darüber gesprochen hat, wird es schwieriger sein, die Sache in Ordnung zu
bringen... Aber sie wird nichts gesagt haben ... Sie verwechselt Tugend mit
Dummheit. Wie die Mutter, so der Sohn ... Und die anderen arbeiten, während
sie selbst schlafen. Ach, schließlich haben sie recht. Warum ihnen keine
Aufmerksamkeit schenken, wenn sie anscheinend gewillt sind... Aber was wollen
sie denn eigentlich? In meinem Kopf herrscht ein solches Durcheinander... Ich
muß aufhören zu trinken und... Ja! Aber das Geld verlockt, und ich bin wie ein
Füllen, das zu lange eingeschlossen war. Zwei Jahre, sage ich! Mehr noch! Zwei
Jahre mit all den Entbehrungen... Aber schließlich... Was hat Elchias doch
vorgestern gesagt? Ja, der belehrt mich nicht schlecht! Gewiß! Alles ist
erlaubt, wenn es nur gelingt, Jesus auf den Thron zu erheben. Aber wenn er
nicht will? Andererseits muß er doch bedenken, daß – wenn er nicht triumphiert
– es mit uns
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allen aus ist und wir wie die
Nachfolger des Theudas oder des Judas von Galiläa enden werden ... Vielleicht
würde ich gut daran tun, mich von ihnen zu trennen, denn ... Ja, ich weiß
nicht, ob das, was sie wollen, gut ist. Ich setzte wenig Vertrauen in sie...
Sie sind seit einiger Zeit zu sehr verändert ... Ich möchte nicht... Oh,
schrecklich! Sollte ich das Mittel sein, um Jesus zu schädigen? Nein. Ich
trenne mich von ihnen. Doch ist es bitter, ein Reich erträumt zu haben, und
dann wieder... was zu sein? Ein Nichts ... Aber besser ein Nichts als ... Er
sagt immer: "Der, der die große Sünde begehen wird." Oh! Das werde doch nicht
ich sein! Ich? Ich? Lieber ertränke ich mich im See... Ich gehe weg. Es ist
besser, ich gehe weg. Ich werde zu meiner Mutter gehen und mir von ihr Geld
geben lassen; denn ich kann gewiß nicht die Synedristen um Geld bitten für die
Reise. Sie... sie helfen mir, weil sie hoffen, daß ich ihnen helfe, aus der
Ungewißheit herauszukommen. Wenn Jesus einmal König ist, dann ist alles in
Ordnung. Die Menge wird mit uns sein... Und Herodes... Wer kümmert sich um
ihn? Die Römer nicht, und auch das Volk nicht. Alle hassen ihn! Und... und...
Aber Jesus ist fähig, zu verzichten, sobald er zum König ausgerufen wird. Oh,
gut! Eleazar des Annas versichert mir, daß sein Vater bereit ist, ihn zum
König zu krönen! ... Dann wird er sich nicht mehr des heiligen Charakters
entledigen können... im Grunde handle ich wie der treulose Verwalter in seinem
Gleichnis... Ich greife auf Freunde zurück zu meinem Nutzen, ja, aber auch zu
seinem Nutzen. Ich bediene mich ungerechter Mittel, um... Nein... ich muß
unbedingt noch einmal versuchen, ihn zu überzeugen. Ich bin nicht überzeugt,
gut zu handeln, indem ich diese List anwende ... Oh! Wenn ich ihn überreden
könnte! Denn es wäre so schön! So schön ... Ja! Das ist die beste Idee: Alles
ganz ehrlich dem Meister sagen, ihn anflehen... vorausgesetzt, daß ihm Maria
nichts von Tiberias gesagt hat... Was wollte ich Maria sagen? ... Ah! Die
Abweisung der Römerinnen. Diese verfluchte Frau! Wenn ich an jenem Abend nicht
zu ihr gegangen wäre, hätte ich Maria nicht angetroffen. Aber was hatte wohl
Maria in Tiberias zu tun? Wenn ich bedenke, daß ich jeweils am Tag vor dem
Sabbat, am Sabbat und am Tag danach nie ausgegangen bin, nur um keinem Apostel
zu begegnen... Ich Dummkopf! Dummkopf! Hätte ich nicht auch nach Hippos oder
Gerasa gehen können, um Frauen zu suchen? Nein! Ausgerechnet dort, in
Tiberias, wo die von Kapharnaum durchkommen müssen, um hierher zu gelangen...
Aber all das wegen der Römerinnen... Ich hoffte... Nein, dies muß ich zu
meiner Rechtfertigung sagen, aber es ist nicht wahr. Es nützt nichts, daß ich
es mir einrede, mir, da ich genau weiß, weshalb ich hingegangen bin: Um mich
mit den Mächtigen Israels zu treffen und mich zu vergnügen, da ich nun viel
Geld habe... Doch ... wie schnell ist das Geld ausgegeben. Bald werde ich
keines mehr haben ... Ha, ha! Ich werde dem Elchias und seinen Gefährten
irgendein Märchen erzählen, und sie werden mir wieder Geld geben ...»
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«Oh, Judas! Bist du nicht bei
Sinnen? Schon ein ganzes Weilchen beobachte ich dich hier von diesem
Olivenbaum aus. Du gestikulierst und führst Selbstgespräche... Hat dir die
Sonne des Tammus zugesetzt ?» ruft Alphäus der Sara und schaut von einem Ast
eines riesigen Olivenbaumes herab, der in einer Entfernung von ungefähr
dreißig Metern von Judas steht.
Judas fährt auf, dreht sich um,
sieht ihn und brummt: «Hole dich der Teufel! Verfluchtes Dorf von Spionen!»
Doch dann lächelt er freundlich und ruft laut: «Nein. Ich bin besorgt, weil
Maria mir nicht öffnet ... Sie wird doch nicht etwa krank sein? Ich habe
wiederholt geklopft! ...»
«Maria? Da kannst du lange
klopfen! Sie ist bei einer armen Alten, die im Sterben liegt. Man hat sie um
die dritte Nachtwache gerufen ...»
«Aber ich muß mit ihr sprechen.»
«Warte. Ich steige herab und gebe
ihr Bescheid. Aber brauchst du sie wirklich?»
«Das möchte ich wohl sagen! Ich
bin seit dem ersten Sonnenstrahl hier.»
Der eifrige Alphäus steigt vom
Baum herab und geht rasch davon.
«Jetzt hat mich auch der da noch
gesehen! Sicher kehrt er nun auch mit jener anderen zurück! Mir genügt schon
eine!» Nun folgt eine ganze Litanei von Schimpfworten gegen Nazareth, die
Nazarener, Maria des Alphäus und schließlich auch noch gegen die Liebe der
allerheiligsten Jungfrau und sogar gegen die Sterbende...
Er ist noch nicht fertig damit,
da öffnet sich die Tür, die vom Eßraum zum Garten führt, und auf der Schwelle
erscheint eine ganz blasse und traurige Maria. «Judas!» «Maria!» sagen sie im
gleichen Augenblick.
«Ich öffne dir gleich die Tür.
Alphäus hat mir weiter nichts gesagt als: "Geh nach Hause. Jemand wünscht dich
zu sprechen", und ich bin gelaufen, um so mehr, als die arme alte Frau meiner
nicht mehr bedarf. Sie hat ausgelitten wegen eines schlechten Sohnes ...»
Während Maria spricht, läuft
Judas den kleinen Pfad entlang und erreicht die Vorderseite des Hauses ...
Maria öffnet.
«Der Friede sei mit dir, Judas
von Kerioth. Tritt ein.»
«Der Friede sei mit dir, Maria.»
Judas zögert etwas. Maria ist
milde, aber ernst.
«Ich habe so lange angeklopft,
heute früh.»
«Gestern abend hat ein Sohn das
Herz seiner Mutter gebrochen ... Sie kamen hierher, um Jesus zu holen. Aber
Jesus ist nicht da. Auch dir sage ich: Jesus ist nicht hier. Du bist zu spät
gekommen.»
«Ich weiß, daß er nicht da ist.»
«Woher weißt du das? Du bist doch
gerade erst angekommen ...»
«Mutter, ich will ehrlich mit dir
sein, denn du bist gut. Seit gestern bin ich schon hier...»
62
«Warum bist du dann nicht
gekommen? Deine Kameraden sind nur ein einziges Mal an diesen Sabbaten nicht
hierher gekommen.»
«Ja, ich weiß es! Ich bin nach
Kapharnaum gegangen und habe sie dort nicht angetroffen.»
«Lüge nicht, Judas. Du bist nie
in Kapharnaum gewesen. Bartholomäus ist immer dortgeblieben, und er hat dich
nie gesehen. Erst gestern ist Bartholomäus gekommen. Aber du warst ja gestern
hier... und deshalb ... Warum lügst du, Judas? Weißt du nicht, daß die Lüge
der erste Schritt zum Diebstahl und zum Menschenmord ist? ... Die arme Esther
ist gestorben, getötet durch den Schmerz über das Benehmen ihres Sohnes. Und
Samuel, ihr Sohn, begann die Schande Nazareths zu werden mit seinen kleinen
Lügen, die immer größer wurden ... und von diesen ist er dann zu allem anderen
übergegangen. Willst du es ihm nachtun, du, Apostel des Herrn? Willst du deine
Mutter vor Schmerz sterben lassen?»
Der Vorwurf ist mit leiser Stimme
und langsam hervorgebracht worden. Aber welch einen Eindruck hat er auf Judas
gemacht! Er weiß nicht mehr, was er antworten soll. Er setzt sich plötzlich
hin, mit dem Kopf zwischen den Händen.
Maria beobachtet ihn. Dann fährt
sie fort: «Nun? Weshalb wolltest du mich sprechen? Während ich der armen
Esther beistand, betete ich für deine Mutter... und für dich... denn ihr tut
mir leid, der eine wie die andere, aber aus zwei verschiedenen Gründen.»
«Wenn du Mitleid mit mir hast,
dann verzeihe mir.»
«Ich habe niemals Groll gegen
dich gehegt.»
«Wie? ... Nicht einmal wegen
jenes Morgens in Tiberias? ... Weißt du, ich war so, weil die Römerinnen mich
am Abend zuvor schlecht behandelt hatten wie einen Verrückten... und wie einen
Verräter des Meisters. Ja, das bekenne ich. Ich habe schlecht daran getan, mit
Claudia zu sprechen. Ich habe ihm gegenüber gefehlt, aber ich tat es um eines
guten Zweckes willen. Ich habe den Meister betrübt. Er hat es mir nicht
gesagt, aber ich weiß, daß er erfahren hat, daß ich gesprochen habe. Gewiß war
es Johanna, die ihn benachrichtigt hat. Johanna hat mich nie leiden mögen, und
die Römerinnen haben mir arg zugesetzt... Um zu vergessen, habe ich
getrunken...»
Maria sagt mit einem
unwillkürlich ironischen Ausdruck des Mitgefühls: «Dann müßte Jesus bei all
dem Schmerz, den er täglich zu ertragen hat, jede Nacht berauscht sein...»
«Hast du es ihm gesagt?»
«Ich vermehre meinem Sohn nicht
die Bitterkeit des Kelches durch Nachrichten von neuen Niederlagen,
Verfehlungen, Sünden, Nachstellungen... Ich habe geschwiegen und werde auch
weiterhin schweigen.»
Judas fällt in die Knie und
versucht, die Hand Marias zu küssen; aber sie zieht sie zurück, ohne
verletzend zu wirken, jedoch entschieden, weder geküßt noch berührt zu werden.
63
«Danke Mutter! Du rettest mich.
Deshalb bin ich gekommen... damit du es mir leichter machst, zum Meister zu
gehen, ohne Vorwürfe und Demütigungen ertragen zu müssen.»
«Um das zu vermeiden, hätte es
genügt, wenn du nach Kapharnaum gegangen und mit den anderen gekommen wärest.
Das wäre sehr einfach gewesen.»
«Es ist wahr... Aber die anderen
sind nicht gut. Sie haben mich ausspionieren lassen, um mich nachher tadeln
und anklagen zu können.»
«Beleidige deine Brüder nicht,
Judas. Es genügt, gesündigt zu haben. Du hast hier spioniert, hier in
Nazareth, in der Heimat Christi, du...»
Judas unterbricht sie: «Wann? Im
vergangenen Jahr? Siehst du, sie haben meine Worte verdreht! Aber glaube mir,
daß ich ...»
«Ich weiß nicht, was du im
vergangenen Jahr gesagt und getan hast, aber ich spreche von gestern. Du bist
seit gestern hier. Du weißt, daß Jesus abgereist ist. Du hast also
nachgeforscht, und nicht in den befreundeten Häusern des Aser, Ismael, Alphäus
oder des Bruders des Judas und Jakobus; und nicht bei Maria des Alphäus oder
bei den anderen Wenigen, die Jesus lieben. Denn wenn du das getan hättest,
wären sie gekommen und hätten es mir gesagt. Das Haus der Esther hat sich im
Morgengrauen, als sie gestorben ist, mit Frauen gefüllt, aber keine einzige
wußte von dir. Es waren die besten Frauen von Nazareth, die, die mich lieben
und die Jesus lieben und sich bemühen, seine Lehre zu befolgen trotz der
Feindseligkeit ihrer Gatten, Väter und Söhne. Du aber hast dich bei denen
erkundigt, die Feinde meines Jesus sind. Wie nennst du das? Ich möchte es
nicht sagen. Du mußt es dir selbst sagen. Warum hast du dies getan? Ich will
es nicht wissen. Ich sage dir nur das eine: Viele Schwerter werden in mein
Herz gestoßen werden und mich erbarmungslos martern, und dies durch Menschen,
die meinem Jesus Schmerz zufügen und ihn hassen. Ein Schwert wird das deine
sein, und es wird nicht mehr herausgezogen werden, denn die Erinnerung an
dich, Judas, der du dich nicht retten willst, der du dich selbst
zugrunderichtest, an dich, der du mir Angst einflößt, nicht Angst meinetwegen,
sondern um deine Seele, wird nicht mehr aus meinem Herzen weichen. Eines hat
der gerechte Simeon hineingebohrt, während ich mein Kindlein, mein heiliges
Lämmlein, an meinem Herzen trug... Das andere... das andere bist du. Schon
berührt die Spitze deines Schwertes mein Herz. Aber es genügt dir noch nicht,
einer armen Frau diesen Schmerz zuzufügen... und du wartest darauf, dein
Henkerschwert gänzlich ins Herz derjenigen zu bohren, die dir stets nur Liebe
geschenkt hat.. Aber töricht bin ich, daß ich von dir Erbarmen erwarte, der du
es nicht einmal für deine eigene Mutter hast... Vielmehr, es sei gesagt: Mit
einem einzigen Schlag wirst du mich und sie treffen, du ungeratener Sohn, der
die Gebete zweier Mütter nicht retten! ...»
Maria weint, während sie spricht,
und die Tränen fallen nicht auf da
64
braune Haupt des Judas, weil er
geblieben ist, wo er auf die Knie gefallen ist, etwas entfernt von Maria...
Die heiligen Tränen trinkt der Boden... Und die Szene erinnert mich an Aglaia,
auf welche die Tränen Marias fielen, weil sie sich an Maria geklammert hatte
im aufrichtigen Verlangen nach Erlösung.
«Findest du kein Wort, Judas?
Gelingt es dir nicht, in dir die Kraft zu einem guten Vorsatz zu finden? Oh,
Judas! Judas! Aber sage mir: Bist du mit deinem Leben zufrieden? Prüfe dich,
Judas. Sei demütig, aufrichtig mit dir selbst, das zuallererst und dann Gott
gegenüber, um zu ihm zu gehen, nachdem dir die zentnerschwere Last vom Herzen
gefallen ist, und zu sagen: "Sieh, ich habe diese Felsbrocken entfernt aus
Liebe zu dir."»
«Ich habe nicht den Mut, vor
Jesus zu bekennen...»«Du hast nicht die Demut, es zu tun.» «Das ist wahr. Hilf
du mir ...»«Geh nach Kapharnaum und erwarte ihn dort, in Demut.» «Aber
könntest du...»
«Ich werde nichts anderes tun
können, als meinem Sohn empfehlen, das zu tun, was er immer tut:
Barmherzigkeit zu üben. Nicht ich bin es, die Jesus belehrt, sondern Jesus ist
es, der seine Jüngerin belehrt.»
«Du bist ihm Mutter.»
«Das gilt für mein Herz. Doch er
ist mein Meister, nicht mehr und nicht weniger als er es für alle anderen
Jüngerinnen ist.»
«Du bist vollkommen.» «Er ist der
Vollkommenste.»
Judas schweigt und denkt nach.
Dann fragt er: «Wohin ist der Meister gegangen?»
«Nach Bethlehem in Galiläa.» «Und
dann?» «Das weiß ich nicht.» «Kommt er hierher zurück?» «Ja.»«Wann?»«Das weiß
ich nicht.»«Du willst es mir nicht sagen!»
«Ich kann dir nicht sagen, was
ich nicht weiß. Du folgst ihm seit zwei Jahren. Kannst du sagen, daß er immer
ein bestimmtes Reiseziel gehabt hat? Wie oft hat ihn der Wille der Menschen
zur Änderung seiner Pläne gezwungen.»
«Das ist wahr. Ich werde
aufbrechen... nach Kapharnaum.»
«Die Sonne ist zu heiß, um zu
wandern. Bleibe. Du bist ein Pilger wie alle anderen, und er hat gesagt, daß
die Jüngerinnen für die Pilger Sorge tragen sollen.»
«Du nimmst Anstoß an meiner
Lebensführung...»
65
«Es ist schmerzlich, daß du nicht
geheilt werden willst. Das allein... Lege den Mantel ab ... Wo hast du
geschlafen?»
«Ich habe nicht geschlafen. Ich
habe das Morgengrauen abgewartet, um dich allein sprechen zu können.»
«Dann wirst du müde sein. In der
Werkstatt sind die Lagerstätten, die Simon und Thomas benutzt haben. Dort
kannst du Ruhe und jetzt noch Kühle finden. Geh und schlafe, während ich dir
das Essen bereite.»
Judas geht, ohne etwas zu
entgegnen. Ohne sich nach der Nachtwache auszuruhen, begibt sich Maria in die
Küche, um das Feuer anzufachen, und dann in den Garten, um Gemüse zu holen.
Tränen, viele Tränen rinnen leise über ihre Wangen herab, während sie sich
über die Feuerstätte beugt, um die Holzscheite zurechtzulegen, während sie
über die Erdschollen schreitet, um das Gemüse zu holen, und während sie es in
einem Becken wäscht und herrichtet... Tränen fallen auf die blonden
Weizenkörner, mit denen sie die Tauben füttert, und auf die Wäsche, die sie
aus dem Trog nimmt und in der Sonne ausbreitet... Die Tränen der
Gottesmutter... jener, die ohne Schuld und dennoch nicht frei vom Schmerz war
und mehr litt als jede andere Mutter, weil sie die "Miterlöserin" ist...
492. DER TOD DES GROSSVATERS VON
MARGZIAM
Jesus muß sich bereits von den
Frauen getrennt haben, denn bei ihm sind nur die Apostel, Isaak und Margziam.
Sie gehen gerade die letzten Hänge hinab, die zur Ebene Esdrelon führen,
während der Abend langsam hereinbricht.
Margziam ist sehr glücklich, daß
der Herr ihn zu seinem teuren Großvater bringt. Weniger glücklich sind die
Apostel, die sich des letzten Zwischenfalles mit Ismael erinnern. Aber sie
sind ernst und schweigen, um dem Jüngling nicht wehzutun, der sich darüber
freut, daß er den Honig noch nicht angerührt hat, den Porphyria ihm gegeben
hat, «weil» – wie er sagt – «ich die Hoffnung hatte, daß der Herr mir meinen
Herzenswunsch erfüllen würde, mich meinen Vater sehen zu lassen. Ich weiß
nicht warum... aber seit einiger Zeit ist er ständig in meinem Geiste
gegenwärtig, als ob er mich rufen würde. Ich habe es Porphyria gesagt und sie
hat darauf geantwortet: "Auch mir geht es so, wenn Simon fern ist." Aber es
muß nicht unbedingt so sein, wie sie gesagt hat, denn früher ist dies bei mir
nie vorgekommen.»
«Weil du früher noch ein Knabe
warst, und jetzt bist du ein Mann, der selbständiger zu denken vermag», sagt
Petrus zu ihm.
«Ich habe auch zwei kleine
Kugelkäse und einige Oliven. Das, was ich vom Meinigen meinem geliebten Vater
habe bringen können. Und dann
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habe ich eine Tunika aus Hanf und
ein Gewand aus Hanf. Porphyria wollte sie für mich machen. Aber ich habe ihr
gesagt: "Wenn du mich liebst, mache sie für den alten Vater." Er trägt immer
zerrissene Kleider und schwitzt in der schlechten Wolle... Es wird eine
Erleichterung für ihn sein.»
«Und du bist indessen ohne neue
Kleider geblieben und schwitzest wie ein Schwamm in denen aus Wolle», sagt
Petrus.
«Oh, das macht nichts! Mein Vater
hat so oft gehungert, um mir sein Essen zu bringen, als ich im Wald war...
Endlich kann auch ich ihm etwas geben. Wenn ich mir nur genügend
zusammensparen könnte, um ihm zu ermöglichen, die Arbeit aufzugeben.»
«Wieviel hast du bis jetzt?»
fragt Andreas.
«Wenig. Beim Fischen habe ich 11O
Doppeldrachmen verdient. Aber bald werde ich die Lämmer verkaufen, und dann...
Oh, wenn ich es doch tun könnte, bevor die große Kälte kommt! ...»
«Werdet ihr ihn aufnehmen?» fragt
Nathanael den Petrus.
«Ja. Wir werden nicht
zugrundegehen, wenn dieser arme Alte einen Bissen von unserem Teller
erhält...»
«Und außerdem... Er kann auch
kleine Arbeiten verrichten... Er könnte zu uns nach Bethsaida kommen, nicht
wahr, Philippus?»
«Gewiß, gewiß... Wir werden dir
helfen, Simon, unseren guten Margziam und den Alten zufriedenzustellen ...»
«Hoffen wir, daß Jochanan nicht
dort ist...» sagt Judas Thaddäus.
«Ich werde vorausgehen, um sie zu
benachrichtigen», sagt Isaak.
Sie gehen eilig im Mondlicht
weiter... An einer bestimmten Stelle trennt sich Isaak von den anderen und
beschleunigt seine Schritte noch mehr, während ihm die Gruppe langsamer folgt.
Eine große Stille herrscht in der Ebene. Selbst die Nachtigallen schweigen.
Sie gehen und gehen, bis sie zwei
Schatten sehen, die auf sie zueilen.
«Der eine ist sicher Isaak... Der
andere ... kann sowohl Michäas als auch der Aufseher sein. Sie sind gleich
groß ...» sagt Johannes.
Jetzt sind sie schon nahe... ganz
nahe. Es ist wirklich der Aufseher, dem Isaak anscheinend ganz
niedergeschlagen folgt.
«Meister... Margziam... armer
Junge! ... Kommt schnell. Dein Vater, Margziam, ist krank ... schwer krank...»
«Ach, Herr!» ruft der Jüngling
schmerzerfüllt aus.
«Gehen wir, beeilen wir uns...
Sei stark, Margziam», und Jesus nimmt ihn bei der Hand und beginnt fast zu
laufen, während er den Aposteln sagt: «Kommt uns nach!»
«Ja... aber seid leise...
Jochanan ist zu Hause», ruft der Aufseher schon aus einiger Entfernung...
Der arme Alte befindet sich im
Haus des Michäas. Selbst ein Schwachsinniger würde begreifen, daß er im
Sterben liegt. Er ist abwesend, mit
67
geschlossenen Augen und den
eingefallenen Zügen eines Sterbenden. Seine Haut ist bleich wie Wachs,
abgesehen von den Wangen, auf denen ein bläuliches Rot zurückgeblieben ist.
Margziam beugt sich über das
Lager und ruft: «Vater! Mein Vater! Ich bin Margziam. Verstehst du mich?
Margziam! Jabe! Dein Jabe! ... Oh, Herr! Er hört mich nicht mehr... Komm,
Herr... Komm hierher. Versuche du... Heile ihn... Mach, daß er mich sehen
kann, daß er mit mir sprechen kann... Aber muß ich denn alle die Meinen so
sterben sehen? ...»
Jesus nähert sich, neigt sich
über den Sterbenden, legt ihm die Hand aufs Haupt und spricht: «Sohn meines
Vaters, höre mich.»
Wie einer, der aus einem tiefen
Schlaf erwacht, tut der Alte einen tiefen Atemzug, öffnet die schon glasigen
Augen und blickt unsicher auf die beiden Gesichter, die sich über ihn neigen.
Er versucht zu sprechen, aber die Zunge gehorcht ihm nicht mehr. Doch, jetzt
muß er sie erkannt haben, denn er lächelt und versucht, die Hände der beiden
zu ergreifen, um sie an seine Lippen zu führen.
«Vater, ich bin gekommen ... Ich
habe so viel gebetet, um kommen zu können! ... Ich wollte dir sagen ... daß
ich bald genug haben werde... um dich von dieser Arbeit zu befreien... damit
du zu mir kommen kannst, zu Simon und Porphyria, die so gut sind, so gut zu
deinem Jabe... und zu allen...»
Dem Alten gelingt es nun, seine
Zunge zu bewegen, und mit Mühe sagt er: «Gott vergelte es ihnen... er vergelte
es auch dir... Aber es ist zu spät... Ich gehe zu Abraham... um nicht mehr zu
leiden ...» Er wendet sich an Jesus und fragt sehnsüchtig: «So ist es doch,
nicht wahr?»
«So ist es. Geh in Frieden!»
Jesus richtet sich auf, in der ganzen Erhabenheit seiner Gestalt, und spricht:
«In meiner Macht als Richter und Erlöser spreche ich dich los von allem, was
du im Leben an Verfehlungen und Unterlassungen begangen hast, von allen
Regungen gegen die Liebe und gegen diejenigen, die dich gehaßt haben. Von
allem spreche ich dich los, o Sohn. Geh in Frieden!» Jesus hat seine Hände
über das Lager ausgestreckt, als ob es ein Altar wäre und als ob er, der
Priester, die Opfergabe weihte.
Margziam weint, während der Alte
sanft lächelt und flüstert: «Ich entschlafe im Frieden mit deiner Hilfe...
Danke, Herr...» und er sinkt zurück...
«Vater! Vater! Oh! Er stirbt! Er
stirbt! Geben wir ihm etwas Honig... Er hat eine so trockene Zunge... Er ist
kalt... Der Honig erwärmt ...» ruft Margziam aus und wühlt mit einer Hand in
seinem Sack, während er mit der anderen das Haupt seines Großvaters stützt,
das immer schwerer wird
Auf der Türschwelle sind die
Apostel erschienen... und betrachten stumm die Szene...
«Weiter, Margziam. Den Vater
werde ich stützen», sagt Jesus... und dann zu Petrus: «Petrus, komm her.»
68
Und Simon nähert sich ganz
erschüttert und gerührt.
Margziam versucht, dem Vater
etwas Honig einzuflößen. Er steckt den Finger ins Gefäß, zieht ihn mit Honig
bedeckt hervor und träufelt diesen auf die Lippen des Großvaters. Dieser
öffnet nochmals die Augen, blickt ihn an, lächelt ihm zu und sagt: «Er ist
gut.»
«Er ist für dich, und auch das
Gewand aus kühlem Hanf ist für dich...»
Der Alte erhebt die zitternde
Hand und versucht, sie auf das braune Haupt zu legen, indem er sagt: «Du bist
gut ... besser als der Honig... und das ist es... deine Liebe ist es, die mir
guttut ... Aber deinen Honig... brauche ich nicht mehr... auch das neue Gewand
nicht ... Behalte sie... behalte sie mit meinem Segen...»
Margziam sinkt in die Knie und
weint, das Haupt auf den Rand des Lagers gelehnt, und seufzt: «Allein! Ich
bleibe allein!»
Simon läuft um das Lager herum
und während er die Haare des Margziam streichelt, sagt er mit vor Erregung
rauher Stimme: «Nein... nicht allein... Ich habe dich lieb, und auch
Porphyria... Die Jünger... so viele Brüder... und dann Jesus, der dich so lieb
hat. Weine nicht, mein Sohn!»
«Dein... Sohn... Ja... glücklich
ich... Herr! ... Herr...» Der Alte röchelt, zuckt... er fühlt das Ende nahen.
Jesus legt ihm den Arm um die
Schultern, richtet ihn auf und stimmt langsam das: «Ich erhebe die Augen zu
den Bergen, von denen mir Hilfe kommen wird» an. Er fährt mit dem ganzen 120.
Psalm fort. Dann hält er ein und betrachtet den Mann, der bei diesen Worten
friedlich in seinen Armen stirbt... Er beginnt mit dem 121. Psalm, von dem er
nur wenige Verse betet, denn kaum hat er den vierten angestimmt, unterbricht
er sich und sagt: «Geh in Frieden, gerechte Seele!» Langsam legt er ihn nieder
und schließt ihm mit der Hand die Augenlider.
Es ist ein so sanfter Tod, daß
außer Jesus niemand des Hinüberganges gewahr wird. Doch erkennen es alle aus
der Handlungsweise Jesu und beginnen zu flüstern.
Jesus gebietet Schweigen. Er geht
an die Seite Margziams, der mit über das Bett geneigtem Haupte weint und
nichts gemerkt hat. Jesus beugt sich über ihn, umarmt ihn und sucht ihn
aufzurichten mit den Worten: «Er ist im Frieden, Margziam! Er leidet nicht
mehr. Die größte Gnade Gottes für ihn ist diese: der Tod in den Armen des
Herrn! Weine nicht, teurer Sohn. Schau, wie friedlich er daliegt... so
friedlich... Wenige in Israel haben den Lohn erhalten, der diesem Gerechten
zuteil geworden ist, der am Herzen des Heilandes sterben durfte. Komm in meine
Arme... Du bist nicht allein. Und auch Gott ist da, und er ist alles und liebt
dich für die ganze Welt.»
Der arme Margziam ist wirklich zu
bedauern; aber er findet noch die Kraft zu sagen: «Ich danke dir, Herr, daß du
gekommen bist... und dir, Simon, daß du mich hierher begleitet hast... Euch
allen danke ich für das,
69
was ihr mir für ihn gegeben
habt... Aber er braucht es nicht mehr... Doch... das Kleid schon... Wir sind
arm... Wir können keine Einbalsamierung vornehmen... Oh! Mein Vater! Nicht
einmal ein Grab kann ich dir geben! ... Aber wenn ihr mir traut, wenn ihr
könnt... bezahlt für mich, und ich werde euch im Oktober den Erlös aus dem
Verkauf der Lämmer und der Fische geben...»
«Halt einmal! Du hast doch einen
Vater, meine ich! Laß das meine Sorge sein, und wenn ich ein Boot verkaufen
müßte. Wir werden dem alten Vater alle Ehren erweisen. Es braucht nur einen,
der vorausbezahlt... und einen, der ein Grab hergibt...»
Der Aufseher sagt: «In Jezrael
gibt es Jünger unter dem Volk. Sie werden uns nichts abschlagen. Ich gehe
sofort zu ihnen und werde um die dritte Stunde zurück sein ...»
«Ja... Aber... der Pharisäer?»
«Fürchtet euch nicht. Ich werde
ihn wissen lassen, daß ein Toter hier ist. Um sich nicht zu beflecken, wird er
das Haus nicht verlassen. Ich gehe...»
Während Margziam über den
Großvater gebeugt weint und ihn liebkost und Jesus leise mit den Aposteln
spricht, kommen und gehen Isaak, Michäas und die anderen und bereiten alles
vor für die letzten Ehren, die sie ihrem hingeschiedenen Gefährten erweisen
wollen.
Hier mache ich von mir (Valtorta)
aus eine Bemerkung. Ich habe mich schon öfters in ähnlichen Situationen
befunden und habe immer wieder bemerkt, daß die Anwesenden in guter Absicht
oder aus Hartherzigkeit die Trauer derer, die einen Verwandten verloren haben,
tadeln. Ihr Verhalten steht in großem Gegensatz zur Milde Jesu, der Mitleid
hat mit dem Schmerz des Waisenkindes und von ihm keinen unnatürlichen
Heroismus verlangt ... Wieviel kann man lernen aus jeder, auch aus der
kleinsten Geste Jesu!
493. JESUS SPRICHT ZU DEN
APOSTELN ÜBER DIE LIEBE
«Wo hast du die Boote gelassen,
Simon, als du nach Nazareth gekommen bist?» fragt Jesus, während er in
nordöstlicher Richtung auf den Tabor zugeht und die Ebene Esdrelons im Rücken
hat.
«Ich habe sie zum Fischen
zurückgeschickt, Meister. Aber ich habe de Bootsmännern gesagt, sie sollen
sich alle drei Tage in Tarichäa einfinden... Ich wußte nicht, wie lange ich
bei dir bleiben würde.»
«Sehr gut. Wer von euch will
gehen und meine Mutter und Maria de Alphäus benachrichtigen, daß wir uns in
Tiberias treffen werden? Da Haus des Joseph wird unser Treffpunkt sein.»
«Meister... wir alle möchten es
tun, aber sage du, wer gehen soll; da wird besser sein.»
«Dann sollen Matthäus, Philippus,
Andreas und Jakobus des Zebedäus
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hingehen, und die anderen kommen
mit mir nach Tarichäa. Erklärt den Frauen die Gründe für unsere Verspätung.
Sie sollen das Haus schließen und dann kommen. Wir werden einen ganzen Monat
zusammensein. Geht, denn hier ist schon der Scheideweg. Der Friede sei mit
euch.» Er küßt die vier, die sie verlassen, und nimmt mit den übrigen den
Marsch wieder auf.
Doch nach wenigen Schritten
bleibt er stehen und blickt Margziam an, der gesenkten Hauptes ein wenig
hinter den anderen hergeht. Als der Jüngling ihn erreicht hat, faßt Jesus ihn
beim Kinn, so daß er zu ihm aufschauen muß. Tränen rollen über sein braunes
Gesicht herab.
«Würdest du auch gerne nach
Nazareth gehen?»
«Ja, Meister... Aber tu, wie du
willst.»
«Ich will, daß du getröstet
wirst, mein Sohn... Geh! ... Lauf hinter ihnen her. Die Mutter wird dich
trösten.» Er küßt ihn und läßt ihn gehen; und Margziam beginnt zu laufen und
holt die vier schnell ein.
«Er ist noch ein Kind», bemerkt
Petrus.
«Und er leidet sehr... Er hat mir
gestern abend, als ich ihn weinend in einem Winkel des Hauses fand, gesagt:
"Es ist, als wären mir gestern Vater und Mutter gestorben... Der Tod des alten
Vaters hat die Wunde in meinem Herzen wieder aufgerissen... !"» sagt Johannes.
«Armer Sohn! ... Aber es war doch
gut, daß er bei diesem Tod zugegen war...» sagt der Zelote.
«Er hatte sich so sehr darauf
eingestellt, dem Alten helfen zu können 1 ... Porphyria sagte mir, er habe
alle möglichen Opfer gebracht, um Geld für ihn zusammenzubekommen. Er hat auf
den Feldern gearbeitet, Reisigbündel für die Öfen gemacht, gefischt; er hat
sich sogar die Käslein vom Munde abgespart und sie verkauft, und ebenso den
Honig... Er hatte diesen Dorn im Herzen und wollte den Alten bei sich
haben...» sagt Petrus.
«Es ist ein Mensch mit ernsten
Vorsätzen. Opfer bringen und arbeiten fällt ihm nicht schwer. Das sind gute
Eigenschaften», sagt Bartholomäus.
«Ja, er ist ein guter Sohn und
wird einer der besten Jünger werden. Seht, welche Selbstbeherrschung er auch
in den schwierigsten Augenblicken aufbringt... Sein betrübtes Herz hat sich
nach Maria gesehnt, aber dennoch hat er nicht darum gebeten, mitgehen zu
dürfen. Er hat so gut verstanden, was die Kraft des Gebetes vermag, daß er
darin viele Erwachsene übertrifft», sagt Jesus.
«Glaubst du, daß er Opfer zu
einem bestimmten Zweck bringt?» fragt Thomas.
«Dessen bin ich gewiß.»
«Es ist wahr. Gestern gab er die
Früchte einem Alten mit den Worten: "Bete für den Vater meines Vaters, der mir
vor kurzem gestorben ist." Als ich dazu bemerkte: "Er ist im Frieden,
Margziam. Glaubst du nicht, daß
71
die Lossprechung Jesu gültig
ist?" hat er mir geantwortet: "Ich halte sie für gültig. Aber ich denke bei
der Darbringung von Gebeten an die Seelen derer, für die niemand betet, und
wenn sie für meinen Vater nicht mehr nötig sind, dann mögen sie denen zugute
kommen an die niemand denkt." Und ich bin davon erbaut gewesen», sagt Jakobus
des Alphäus.
«Ja, gestern kam er zu mir, warf
mir die Arme um den Hals – denn er ist im Grunde genommen noch ein Kind – und
sagte: "Jetzt bist du wirklich mein Vater... Ich gebe dir das, was deine Güte
mich zur Seite hat legen lassen. Dieses Geld nützt meinem alten Vater jetzt
nicht mehr... und du und Porphyria, ihr tut so viel für mich..." Ich hatte
Mühe, die Tränen zurückzuhalten, und habe ihm geantwortet: "Nein, mein Sohn.
Benützen wir dieses Geld als Almosen für elende Alte oder arme Waisenkinder,
und Gott wird deine Almosen dazu verwenden, den Frieden deines alten Vaters zu
mehren." Margziam hat mir zwei Küsse gegeben, und zwar so stark, daß ich...
ja, daß ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Und wie ist er dir
doch dankbar gewesen, Bartholomäus, daß du die Begräbniskosten übernommen
hast. Er sagte mir: "Für mich hat die dem Alten erwiesene Ehre keinen Preis.
Ich werde Bartholomäus bitten, mich als seinen Knecht zu nehmen."»
«O armer Junge! Nicht einmal für
eine Stunde! Er dient dem Herrn und erbaut uns alle. Ich habe einem Gerechten
eine Ehre erwiesen. Ich konnte es tun, denn mein Name ist bekannt, und es ist
mir leicht, jemanden zu finden, der mir Geld vorstreckt. Von Bethsaida aus
werde ich die kleine Schuld begleichen, eine Kleinigkeit im Grunde...»
«Ja, vom Geld her betrachtet ist
es wenig, denn die Leute von Jezrael waren großzügig; aber betrachtet man die
Liebe zum Mitjünger, ist es keine Kleinigkeit, denn jeder Liebesakt hat großen
Wert.
Ihr seid dabei, euch
heranzubilden in dieser Nächstenliebe, die der zweite Teil des grundlegenden
Gebotes des göttlichen Gesetzes ist, die aber in Israel sehr vernachlässigt
worden ist. Die vielen Vorschriften und Kleinlichkeiten, die dem geradlinigen
und in seiner Kürze doch vollständigen Gesetz vom Sinai gefolgt sind, haben
den ersten Teil dadurch entstellt, daß sie daraus eine Menge äußerer Riten
gemacht haben, denen aber der Kern, der Wert und die Wahrheit fehlen; d.h. es
fehlt die aktive Anteilnahme des Inneren an den äußeren Formen des Kultes
durch Werke und durch die Abweisung der Versuchungen.
Welchen Wert kann die
Zurschaustellung eines Kultes in den Augen Gottes haben, wenn das Herz in
seinem Inneren Gott nicht liebt, sich nicht vernichtet in verehrungsvoller
Gottesliebe; wenn es ihn nicht lobt und bewundert mit der Liebe zu den von ihm
geschaffenen Werken und vor allem mit der Liebe zum Menschen, dem Meisterwerk
der irdischen Schöpfung? Seht ihr, wo der Fehler Israels liegt? Darin, daß man
aus dem einen Gebot von Anfang an zwei gemacht, und schließlich, mit de
72
Verfall der Geister, das zweite
vom ersten getrennt hat, als wäre es ein unnützer Zweig.
Es war kein unnützer Zweig, es
waren nicht einmal zwei Zweige. Es war ein einziger Stamm, der sich von Grund
auf geschmückt hatte mit den einzelnen Tugenden der beiden Arten der Liebe.
Betrachtet den großen Feigenbaum dort droben auf dem Hügel. Ganz von selbst,
fast an der Wurzel, hat er zwei Äste gebildet, die so sehr vereint sind, daß
die Rinde der beiden miteinander verwachsen ist. Aber jeder Ast hat seine
eigene Krone, und zwar auf eine so eigenartige Weise, daß man dem Dorf auf
diesem kleinen Hügel den Namen "Haus des Zwillingsfeigenbaumes" gegeben hat.
Nun, wenn man die beiden Stämme trennen wollte, die im Grunde nur ein einziger
sind, müßte man eine Axt oder eine Säge benützen. Aber was würde man damit
erreichen? Der Baum würde absterben; oder, wenn man so geschickt wäre, die Axt
oder die Säge so zu führen, daß man nur einen der beiden Stämme beschädigt,
würde man zwar einen davon retten, aber der zweite würde sicher absterben. Der
Ast aber, der überleben würde, würde wahrscheinlich keine oder nur sehr wenig
Frucht bringen.
Dasselbe ist in Israel geschehen.
Man wollte die beiden Teile voneinander trennen, die so eng zusammengehören,
daß sie wirklich nur ein Einziges sind. Man wollte verbessern, was schon
vollkommen war. Denn alle Werke, Gedanken und Worte Gottes sind vollkommen.
Und wenn Gott auf dem Sinai das Gebot der Liebe zum allerheiligsten Gott und
zum Nächsten als ein einziges Gebot geben wollte, so ist es klar, daß es nicht
zwei Gebote sind, die unabhängig voneinander befolgt werden können.
Da ich euch ohne Unterlaß in
dieser erhabenen Tugend, der größten von allen, heranbilden möchte, in jener,
die mit dem Geist in den Himmel aufsteigt – denn es ist die einzige, die im
Himmel besteht – betone ich sie immer wieder. Sie ist die Seele des ganzen
geistlichen Lebens, das abstirbt, wenn es die Liebe verliert, weil es dadurch
auch Gott verliert.
Hört zu. Nehmt an, eines Tages
klopfte an eure Tür ein sehr reiches Brautpaar, das für sein ganzes Leben
beherbergt werden wollte. Könntet ihr sagen: "Wir nehmen den Bräutigam auf,
aber nicht die Braut" ' ohne daß der Bräutigam sagen würde: "Das geht nicht,
denn ich kann mich nicht vom Fleische meines Fleisches trennen; wenn ihr sie
nicht aufnehmen wollt, dann kann auch ich mich nicht bei euch aufhalten und
gehe weiter mit all meinen Schätzen, die ich mit euch geteilt hätte?"
Gott ist mit der Liebe verbunden.
Sie ist wahrhaftig und noch inniger und wahrhaftiger als bei einem Brautpaar,
das sich inständig liebt, Geist von seinem Geiste. Gott selbst ist die Liebe,
die Liebe ist nichts anderes als die deutlichste und ihn am klarsten
darstellende Eigenschaft Gottes. Unter all seinen Eigenschaften ist sie die
königliche, die Ur-Eigenschaft; denn alle anderen Eigenschaften sind in der
Liebe verankert. Was ist die
73
Macht Gottes, wenn nicht die
wirkende Liebe? Was ist die Weisheit, wenn nicht die belehrende Liebe? Was ist
die Barmherzigkeit, wenn nicht die verzeihende Liebe? Was ist die
Gerechtigkeit, wenn nicht die ordnende Liebe? So könnte ich fortfahren mit all
den unzähligen Eigenschaften Gottes.
Nach all dem, was ich euch gesagt
habe, könnt ihr da noch annehmen, daß ein Mensch ohne Liebe Gott besitzen
kann? Könnt ihr euch vorstellen, daß er wohl Gott aufnehmen kann, aber nicht
die Liebe? Die Liebe ist eine einzige und umfaßt Schöpfer und Geschöpf, und
man kann nicht nur die eine Hälfte besitzen; d.h. man kann nicht die Liebe zum
Schöpfer besitzen ohne die andere Hälfte, die Liebe zum Nächsten. Gott ist in
den Geschöpfen. Er ist in ihnen mit seinem unauslöschlichen Zeichen, mit
seinen Rechten als Vater, Bräutigam und König. Die Seele ist sein Thron, der
Körper sein Tempel. Wenn also jemand seinen Bruder nicht liebt, ihn verachtet
oder ihm Schmerz zufügt, verkennt er den Hausherrn seines Bruders, den König,
Vater und Gemahl des Bruders; und es ist natürlich, daß dieses große Wesen,
das alles ist und das in einem Bruder und in allen Brüdern gegenwärtig ist,
die Beleidigungen des kleinen Wesens, d.h. des einzelnen Menschen, zu den
seinigen macht. Deswegen habe ich euch die Werke der leiblichen und geistigen
Barmherzigkeit gelehrt; deswegen habe ich euch gelehrt, dem Bruder kein
Ärgernis zu geben, ihn nicht zu richten, nicht zu verachten und nicht
abzuweisen, möge er gut oder schlecht, ein Gläubiger oder ein Heide, ein
Freund oder ein Feind, ein Reicher oder ein Armer sein.
Wenn in einem Brautgemach eine
Empfängnis stattfindet, so ist es immer dasselbe Ereignis, mag es sich in
einem Gemach aus Gold oder auf der Spreu eines Stalles zutragen. Das Geschöpf,
das sich in einem königlichen Schoße bildet, ist nicht verschieden von dem im
Schoße einer Bettlerin. Die Empfängnis, die Entwicklung eines neuen Wesens,
ist dieselbe auf der ganzen Welt. Alle Geschöpfe werden geboren wie Kain und
Abel, die Söhne Evas.
Der Gleichheit der Empfängnis,
der Entwicklung und der Art der Geburt der Kinder eines Mannes und einer Frau
auf Erden entspricht eine andere Gleichheit im Himmel: die der Erschaffung der
Seele, die dem Embryo eingehaucht wird, damit er ein Mensch sei und nicht ein
Tier und damit sie ihn begleite vom Augenblick seiner Zeugung an bis zum Tod
und weiterlebe in Erwartung der allgemeinen Auferstehung, um sich dann mit dem
auferstandenen Leib wieder zu vereinigen und mit ihm Lohn oder Strafe zu
empfangen, je nach den Handlungen im irdischen Leben. Denkt nicht, die Liebe
sei ungerecht und belohne jene nicht, die nicht von Israel und keine
Nachfolger Christi gewesen sind. Wenn sie tugendhaft waren und gewissenhaft
nach ihrer Religion gelebt haben, in der Überzeugung daß es die wahre ist,
werden sie ihres ewigen Lohnes nicht verlustig gehen.
74
Nach dem Ende der Welt wird keine
andere Tugend überleben als die Liebe, d.h. die Vereinigung aller Geschöpfe
mit dem Schöpfer, die in Gerechtigkeit gelebt haben. Es wird nicht mehrere
Himmel geben: einen für Israel, einen für die Christen und einen für die
Heiden. Nein, es wird nur einen Himmel geben, und so wird es auch nur einen
Lohn geben: Gott, den Schöpfer, der sich mit seinen Geschöpfen vereinen wird,
die in Gerechtigkeit gelebt haben und in deren heiliger Schönheit, der
leiblichen sowohl als auch der geistigen, er sich selbst mit der Freude eines
Vaters und eines Gottes bewundern wird. Es wird nur einen Herrn geben, nicht
einen für Israel, einen für die Christen und einen anderen für die
Andersgläubigen.
Jetzt enthülle ich euch eine
große Wahrheit. Erinnert euch ihrer und überliefert sie euren Nachfolgern.
Wartet nicht immer darauf, daß der Heilige Geist die Wahrheiten nach Jahren
und Jahrhunderten der Dunkelheit aufklärt. Hört! Ihr werdet vielleicht sagen:
"Was für eine Gerechtigkeit ist das, wenn wir, die wir die heilige Religion
bekennen, am Ende der Welt alle in gleicher Weise behandelt werden wie die
Heiden?" Ich antworte euch: Es ist dieselbe Gerechtigkeit, und es ist wahre
Gerechtigkeit, die diejenigen erfahren werden, die nicht selig sein werden,
weil sie trotz der heiligen Religion, der sie angehörten, nicht heiligmäßig
gelebt haben. Ein tugendhafter Heide, der sein Leben mit der Übung
ausgezeichneter Tugenden verbracht hat, in der Überzeugung, daß seine Religion
gut war, wird am Ende im Himmel sein. Aber wann? Am Ende der Welt, wenn von
den vier Aufenthaltsorten der Hingeschiedenen nur noch zwei übrigbleiben
werden, nämlich das Paradies und die Hölle. Denn die Gerechtigkeit wird
alsdann nur noch die beiden ewigen Reiche bestehen lassen, und zwar für
diejenigen, die vom Baume des freien Willens die guten oder die schlechten
Früchte gewählt haben. Aber welch ein langes Warten, bevor ein tugendhafter
Heide zu dieser Belohnung gelangt... Denkt ihr nicht daran? Diese Wartezeit,
besonders von der Stunde an, da die Erlösung mit allen aus ihr erwachsenden
Wundern sich verwirklicht haben und das Evangelium in der Welt gepredigt
werden wird, stellt die Reinigung der Seelen, die als rechtschaffene Menschen
in anderen Religionen gelebt haben, aber den wahren Glauben nicht annehmen
konnten, nachdem sie ihn als erwiesene Wirklichkeit kennengelernt hatten. Sie
warten im Limbus durch die Jahrhunderte hindurch bis ans Ende der Welt. Für
die, die an den wahren Gott geglaubt, aber nicht in heldenhafter Heiligkeit
gelebt haben, wird es ein langes Fegefeuer geben, das für einige bis zum Ende
der Welt dauern kann.
Aber nach der Sühne und der
Wartezeit werden die Guten, welches auch immer ihre Herkunft sei, alle zur
Rechten Gottes stehen; die Bösen aber, welches auch ihre Herkunft sein mag,
werden zu seiner Linken stehen und in die schreckliche Hölle verwiesen werden,
während der Heiland mit den Guten in das ewige Reich eingehen wird.»
75
«Herr, verzeihe mir, wenn ich
dich nicht verstehe. Was du sagst, ist sehr schwierig ... wenigstens für mich
... Du sagst immer, daß du der Erlöser bist und diejenigen erlösen wirst, die
an dich glauben. Wie können nun die, die nicht an dich glauben, weil sie dich
nicht kennengelernt haben, weil sie vorher gelebt oder – die Welt ist ja so
groß – noch nichts von dir gehört haben, gerettet werden?» fragt Bartholomäus.
«Ich habe es dir erklärt: durch
ihr Leben als Gerechte, durch ihre guten Werke, durch ihren Glauben, den sie
für den wahren hielten.»
«Sie haben aber doch nicht ihre
Zuflucht zum Erlöser genommen! ...»
«Aber der Erlöser wird auch für
sie leiden. Bedenkst du nicht, Bartholomäus, welch unendlichen Wert meine
Verdienste als Gottmensch haben werden?»
«Mein Herr, sie werden sicher
geringer sein als die göttlichen, als die, die du schon von Ewigkeit her
hast.»
«Die Antwort ist richtig und doch
nicht richtig. Die Verdienste Gottes sind unendlich, sagst du. Alles ist
unendlich in Gott. Aber Gott hat keine Verdienste in dem Sinne, daß er sie
erwerben müßte. Er hat Eigenschaften, ihm eigene Tugenden. Er ist der, der er
ist: die Vollkommenheit, der Unendliche, der Allmächtige. Aber um Verdienste
zu sammeln, muß man sich anstrengen, etwas leisten, was über die menschliche
Natur hinausgeht. Essen z.B. ist noch kein Verdienst. Aber es kann zum
Verdienst werden, wenn man mäßig ißt und wirkliche Opfer bringt, um etwas für
die Armen zu erübrigen. Es ist auch noch kein Verdienst, wenn man schweigt;
doch wird das Schweigen zum Verdienst, wenn ich die Antwort auf eine
Beleidigung unterdrücke, und so weiter.
Nun verstehst du, daß Gott es
nicht nötig hat, sich selbst zu überwinden, er, der Vollkommene und
Unendliche. Aber der Gottmensch kann sich selbst überwinden, indem er die
unendliche göttliche Natur zu menschlicher Begrenztheit erniedrigt; indem er
die menschliche Natur besiegt, die nicht abwesend oder nur gleichnishaft in
ihm ist, sondern wirklich, mit all ihren Sinnen und Gefühlen, mit den
Möglichkeiten des Leidens und des Sterbens und dem freien Willen.
Niemand liebt den Tod, besonders
wenn er schmerzhaft, verfrüht und unverdient ist. Niemand liebt ihn, und
trotzdem muß jeder Mensch sterben. Daher sollte er den Tod mit derselben Ruhe
betrachten, mit der er alles, was Leben hat, zu Ende gehen sieht. Nun, ich
zwinge mich als Mensch, den Tod zu lieben. Nicht das allein. Ich habe das
Leben erwählt, um sterben zu können, für die Menschheit. Ich sammle also unter
der Gestalt des Gottmenschen jene Verdienste, die ich mir als Gott nicht
erwerben konnte. Durch diese Verdienste – die unendlich sind durch die Art und
Weise, in der ich sie erwerbe, weil meine menschliche Natur mit der göttlichen
verbunden ist; Kraft der Liebe und des Gehorsams, die mich befähigt haben, sie
zu verdienen; durch die Stärke, die Gerechtigkeit, die
76
Mäßigkeit, die Klugheit, durch
alle Tugenden, die ich in mein Herz gelegt habe, um es Gott, meinem Vater,
wohlgefällig zu machen – werde ich eine unendliche Macht haben, nicht nur als
Gott, sondern auch als Mensch, der sich für alle aufopfert, d.h. die äußersten
Grenzen der Liebe erreicht hat. Das Opfer ist es, das Verdienst verleiht. Je
größer das Opfer, desto größer das Verdienst. Die Vollendung des Opfers ist
die Vollendung des Verdienstes, und ist das Opfer vollkommen, so ist auch das
Verdienst vollkommen. Es wird angewendet gemäß dem heiligen Willen des
Opferlammes, zu dem der Vater spricht: "Es geschehe, wie du willst!"; denn
dieses Opferlamm hat Gott und ebenso den Nächsten grenzenlos geliebt.
Ich sage euch: Der ärmste unter
den Menschen kann der reichste sein und einer Unzahl von Brüdern Wohltaten
erweisen, wenn er bis zum Opfer zu lieben weiß. Ich sage euch: Selbst wenn ihr
nicht einmal ein Krümchen Brot, einen Becher Wasser oder einen Kleiderfetzen
besitzen würdet, könntet ihr immer noch Gutes tun. Wie? Durch Gebet und Opfer
für die Brüder. Wem sollt ihr Wohltaten erweisen? Allen. Auf welche Art? Auf
tausend Arten, die alle heilig sind; denn wenn ihr zu lieben wüßtet, wäret ihr
fähig, wie Gott zu wirken, zu lehren, zu verzeihen, zu ordnen und wie der
Gottmensch zu erlösen.»
«O Herr, gib uns diese Liebe!»
seufzt Johannes.
«Gott gibt sie euch, weil er sich
selbst euch schenkt. Aber ihr müßt sie aufnehmen und in einer immer
vollkommeneren Weise üben. Kein Geschehnis darf bei euch von der Liebe
getrennt sein, vom materiellen bis zum geistigen. Alles geschehe mit Liebe und
durch die Liebe. Heiligt eure Handlungen, euer Tagewerk. Gebt Salz in eure
Gebete, Licht in euer Wirken. Das Licht, der Wohlgeruch, die Heiligung ist die
Liebe, und ohne sie sind die Riten umsonst, die Gebete vergeblich, und die
Opfer unecht. Wahrlich, ich sage euch, das Lächeln, mit dem ein Armer euch als
Brüder grüßt, ist mehr wert als ein Sack voll Geld, den jemand euch zu Füßen
wirft, nur um beachtet zu werden. Wißt zu lieben, und Gott wird immer bei euch
sein.»
«Lehre uns, so zu lieben, Herr!»
«Schon seit zwei Jahren lehre ich
es euch. Tut, was ihr mich tun seht, und ihr werdet in der Liebe sein, und die
Liebe wird in euch sein... und ihr werdet das Siegel, die Salbung, die Krone
haben, die euch als wahrhaftige Diener des Gottes der Liebe erkennen lassen...
Nun machen wir an diesem schattigen Ort eine Pause. Hier ist dichtes, hohes
Gras, und die Bäume schützen uns vor der Hitze. Am Abend werden wir
weitergehen...»
77
494. JESUS IN TIBERIAS
Jesus kommt mit den Seinen an
einem stürmischen Morgen nach Tiberias. Er erreicht die Stadt nach einer
kurzen Überfahrt von Tarichäa her. Die Boote schaukeln auf dem unruhigen See,
der grau wie der Himmel ist, an dem sich wenig Gutes versprechende Wolken
auftürmen.
Petrus betrachtet prüfend den
Himmel und den See und befiehlt den Schiffsjungen, die Boote in Sicherheit zu
bringen: «Bald werdet ihr die Musik hören! Ich will nicht Simon der Fischer
heißen, wenn nicht in Kürze ein Wolkenbruch und eine Wasserflut vom See her
Schaden anrichten. Ist niemand auf dem See?» fragt er sich selbst, indem er
prüfend das Galiläische Meer betrachtet. Es ist verlassen, aufgewühlt von
immer höheren Sturzwellen unter dem immer bedrohlicheren Himmelsgewölbe. Er
tröstet sich damit, daß der See einsam ist und keine Menschenopfer fordern
wird, und folgt so beruhigter dem Meister, der unter den Windstößen
voranschreitet, die derartig stark sind, daß man nur mit Mühe, in Staubwolken
gehüllt und unter großem Geflatter der Kleider, vorwärtskommen kann.
In Tiberias, in diesem Teil von
Tiberias, der vom gewöhnlichen Volk bewohnt wird, von den Familien der Fischer
und der kleinen Handwerker, deren Arbeit ebenfalls mit dem Fischfang
zusammenhängt, ist man damit beschäftigt, alles in den Häusern unterzubringen,
was durch den Sturm beschädigt werden könnte. Der eine ist beladen mit Netzen
und Rudern von Barken, die bereits in Sicherheit sind. Der andere schleppt
Werkzeuge nach Hause. Das alles spielt sich ab, während der Sturmwind heult,
Staubwolken aufwirbelt und Türen zuschlagen läßt. Das nördlichere Tiberias,
mit seinen Palästen am See und den schönen Parkanlagen, die in der Bucht zu
sehen sind, schläft in seinem Müßiggang. Nur Diener und Sklaven, je nachdem,
ob es sich um israelitische oder römische Häuser handelt, bemühen sich, die
Zelttücher von den hohen Terrassen zu entfernen, die leichten
Vergnügungsschiffe ans Ufer zu bringen und die Sessel zu bergen, die in den
Gärten herumstehen...
Jesus, der sich in diesen
Stadtteil begeben hat, sagt zu Simon dem Zeloten und zu seinem Vetter Judas:
«Geht und fragt den Türhüter der Johanna des Chuza, ob sich keiner der
Unsrigen nach uns erkundigt hat. Ich warte hier.»
«Gut... Und Johanna?»
«Wir werden sie später sehen.
Geht und tut, was ich sage.»
Die beiden machen sich eiligst
auf den Weg, und während die anderen ihre Rückkehr abwarten, schickt Jesus sie
da- und dorthin, um Nahrungsmittel einzukaufen «für sie und die Frauen, denn
es ist nicht recht, der Familie des Jüngers zur Last zu fallen», wie er sagt.
Er bleibt allein zurück, an die Mauer eines Gartens gelehnt, in dem der Lärm
eines Orkans tobt;
78
so mächtig ist der Kampf, den die
hohen Bäume mit dem Wind auszufechten haben.
Jesus steht da, in sich
gesammelt. Er hat sich in seinen Mantel gehüllt und ihn wie eine Kapuze über
den Kopf gezogen, zum Schutz gegen den Wind, der ihm die Haare ins Gesicht
weht. Ganz verstaubt, sein Antlitz halb verdeckt unter dem Mantel, angelehnt
an eine Mauer fast an der Ecke des Weges, der sich mit einer schönen
Strandallee kreuzt, welche zur Stadtmitte führt, macht er den Eindruck eines
Bettlers, der um eine milde Gabe bittet. Einige Vorübergehende schauen ihn an.
Da er aber nichts sagt und um nichts bittet, sondern nur geneigten Hauptes
dasteht, hält sich niemand auf, um ihm etwas zu geben oder mit ihm zu
sprechen. Indessen nimmt der Sturm zu, und das Rauschen des Sees wächst
gewaltig an und erfüllt die ganze Stadt mit seinem Getöse.
Da kommt ein großer Mann vom
Stadtinnern zur Strandallee. Er geht gebeugt, gegen den Wind ankämpfend,
ebenfalls in einen Mantel gehüllt, den er unter dem Kinn festhält. Nun erhebt
er den Blick, um eine Reihe von Eseln vorüberziehen zu lassen, deren Besitzer
ihr Gemüse auf den Märkten abgeladen haben und nun zu ihren Gärten
zurückkehren; und dann sieht er Jesus (und ich bemerke, daß es kein anderer
als Judas von Kerioth ist)
«Oh, Meister!» sagt er von der
anderen Seite der Eselreihe. «Ich komme gerade von Johanna, um dich zu suchen.
Ich war in Kapharnaum und hoffte, dich dort zu finden; aber...» Der letzte
Esel ist vorüber, und Judas beeilt sich, zum Meister zu kommen und schließt
mit den Worten: «... aber in Kapharnaum war niemand. Ich habe tagelang
gewartet, und bin dann hierher zurückgekehrt. Jeden Tag ging ich zu Joseph und
zu Johanna, um dich zu suchen...»
Jesus schaut ihn mit seinen
durchdringenden Augen an und schneidet diesen Wortschwall ab, indem er sagt:
«Der Friede sei mit dir.»
«Es ist wahr. Ich habe dich nicht
einmal gegrüßt! Der Friede sei mit dir, Meister. Aber du hast ihn ja immer,
diesen Frieden!»
«Und du nicht?»
«Ich bin ein Mensch, Meister.»
«Der gerechte Mensch hat den
Frieden, nur der Schuldbeladene ist verwirrt. Bist du das 7»
«Ich? ... Nein, nein, Meister.
Wenigstens... Gewiß, wenn ich die Wahrheit sagen soll: die Zeit der Trennung
von dir hat mich nicht glücklich gemacht... es war noch nicht der Verlust des
Friedens, die Sehnsucht nach dir war es, wegen meiner Zuneigung zu dir... Aber
der Friede ist etwas anderes, nicht wahr?»
«Ja, er ist etwas anderes.
Trennungen stören noch nicht den Frieden des Herzens, wenn das Herz des
Getrennten nicht Dinge tut, von denen ihm das Gewissen sagt, daß sie den
Geliebten betrüben würden, wenn er davon wüßte.»
79
«Aber die Abwesenden wissen ja
nicht ... es sei denn, daß es ihnen jemand erzählt.»
Jesus schaut ihn an und schweigt.
«Bist du allein, Meister?» fragt
Judas und versucht damit, das Gespräch auf nebensächliche Dinge zu lenken.
«Ich erwarte jene, die ich zu
Johanna gesandt habe, um zu erfahren, ob meine Mutter von Nazareth gekommen
ist.»
«Deine Mutter? Läßt du deine
Mutter hierherkommen?»
«Ja, ich werde mit ihr einen
ganzen Monat lang in Kapharnaum bleiben. Ich werde mit den Booten die
Ortschaften am Ufer aufsuchen, aber jeden Tag nach Kapharnaum zurückkehren. Es
muß dort viele Jünger geben...»
«Ja... viele...» Judas hat seine
Gesprächigkeit verloren und wird nachdenklich...
«Hast du mir nichts zu sagen,
Judas? Wir beide sind allein... Ist dir nichts zugestoßen in dieser Zeit der
Trennung, nichts, was dich nach dem Wort deines Jesus verlangen läßt?» sagt
Jesus sanft, wie um dem Jünger zu helfen, seine Fehler zu bekennen, indem er
ihn seine ganze barmherzige Liebe fühlen läßt.
«Und du weißt nichts, wofür ich
dein Wort benötigen könnte? Wenn du es weißt, dann sprich! Ich weiß nämlich
nichts, wofür ich ein solche Wort nötig hätte. Es ist schwer für einen
Menschen, sich seiner Vergehen und Fehler erinnern zu müssen und sie einem
anderen einzugestehen ...»
«Ich, der ich mit dir spreche,
bin nicht ein anderer Mensch, sondern ...»
«Nein, du bist Gott. Ich weiß es.
Deswegen ist es nicht einmal nötig daß ich derjenige bin, der spricht. Du
weißt...»
«Ich bin nicht irgendein anderer
Mensch, wollte ich sagen, sonder dein liebevollster Freund. Ich sage nicht:
dein Meister, das Haupt, sondern ich sage dir: der Freund...»
«Es ist trotzdem das gleiche. Es
ist immer dieselbe unangenehme Sucherei nach dem, was man in der Vergangenheit
getan hat und für dessen Bekenntnis man Vorwürfe zu erwarten hat. Aber mehr
noch als die Vor würfe schmerzt das Sinken im Ansehen des Freundes...»
«Am letzten Sabbat, den ich in
Nazareth verbrachte, sagte Simon ungewollt etwas zu einem Kameraden, worüber
er hätte schweigen sollen. E war kein bewußter Ungehorsam, es war keine
Verleumdung, es war nichts was den Nächsten hätte schädigen können. Simon
Petrus hatte es eine ehrlichen, rechtschaffenen Menschen erzählt. Dieser
bemerkte, daß er ein Geheimnis erfahren hatte, das weder er zu erfahren
beabsichtigt, noch Petrus absichtlich enthüllt hatte, und schwur, daß er es
niemandem weiter erzählen würde. Simon hätte damit beruhigt sein können; ihm
jedoch ließ es keine Ruhe, bis er mir seine Schuld bekannt hatte... Armer
Simon Er nannte es Schuld! Aber wenn im Herzen meiner Jünger keine andere
80
Schuld wäre als diese und so viel
Demut, so viel Vertrauen, so viel Liebe wie bei Petrus, oh, dann könnte ich
mich Meister einer Schar von Heiligen nennen! ...»
«Und damit willst du mir sagen,
daß Petrus heilig ist und ich nicht. Es ist wahr. Ich bin kein Heiliger. So
jage mich doch fort ...»
Du bist nicht demütig, Judas. Der
Hochmut bringt dich ins Verderben. Zudem kennst du mich noch nicht...»
schließt Jesus zutiefst betrübt.
Judas fühlt diesen Schmerz und
flüstert: «Verzeih mir, Meister! ...»
«Immer. Aber sei gut, Sohn! Sei
gut! Warum willst du dir selbst Böses zufügen?»
Judas hat Tränen in den Augen, ob
echte oder unechte, weiß ich nicht. Er wirft sich in die Arme Jesu und weint
an seiner Schulter. Jesus streichelt ihm über das Haar und flüstert: «Armer
Judas! Armer, armer Judas, der seinen Frieden dort sucht, wo er ihn nicht
finden kann, und wo er auch nicht findet, wer ihn versteht ...»
«Ja, es ist wahr. Du hast recht,
Meister. Der Friede ist hier... in deinen Armen... Ich bin ein
Unglücklicher... Du allein verstehst mich und liebst mich... Du allein... Der
Törichte bin ich... Verzeih mir, Meister!»
«Ja, sei gut, sei demütig. Wenn
du fehlst, komm zu mir, und ich werde dir helfen. Wenn du in Versuchung
gerätst, eile zu mir, und ich werde dich verteidigen vor dir selbst, vor dem,
der dich haßt, vor allem... Aber richte dich nun auf, die anderen kommen...»
«Einen Kuß, Meister... einen Kuß
...»
Jesus küßt ihn... und Judas faßt
sich... Ja, aber seine Sünden hat er doch noch nicht bekannt, denke ich...
«Wir haben uns verspätet, weil
Johanna schon auf war und der Türhüter sie benachrichtigen wollte. Sie wird im
Laufe des Tages zu Joseph kommen, um dich zu begrüßen», sagt Thaddäus.
«Zu Joseph? Wenn all das Wasser
kommt, das der Himmel verspricht, verwandeln diese Wege sich in einen Sumpf.
Johanna wird gewiß nicht in diese Hütte und auf diesen Wegen kommen. Es wäre
besser, wenn wir zu ihr gingen...» sagt Judas, der sich schon wieder sicher
fühlt.
Jesus antwortet ihm nicht, wohl
aber seinem Vetter mit der Frage: «Hat uns niemand von den Unsrigen bei
Johanna gesucht?»
«Noch niemand.»
«Gut. Dann gehen wir zu Joseph,
und die anderen werden uns nachkommen...»
«Wenn ich wüßte, daß unsere
Mütter schon unterwegs sind, würde ich ihnen gern entgegengehen...» sagt Judas
des Alphäus.
«Es wäre gut. Aber mehrere Wege
führen nach Tiberias, und vielleicht haben sie nicht die Hauptstraße
eingeschlagen...»
«Das ist wahr, Jesus... Gehen
wir...»
Sie gehen schnell unter dem
ersten Donner und den Blitzen, die den
81
blaßblauen Himmel durchfurchen.
Das Donnerrollen hallt in den Mulden zwischen den Hügeln wider, die den See
fast von allen Seiten umgeben. Sie betreten das ärmliche Haus des Joseph, das
bei diesem Gewitter noch elender und dunkler erscheint. Nur die Gesichter des
Jüngers und seiner Farnilienangehörigen, die glücklich sind, den Meister in
ihrem Haus zu haben, leuchten.
«Aber du triffst es schlecht»,
entschuldigt sich der Bootsmann. «Bei diesem Seegang habe ich nicht fischen
können... und habe nur Gemüse ...»
«Und dein gutes Herz. Ich habe
vorgesorgt, und bald werden die Gefährten mit dem Notwendigen kommen. Bemühe
dich nicht, Frau... Wir können auch auf dem Boden sitzen. Es ist alles so
sauber hier. Du bist eine gute Frau, ich weiß es, und die Ordnung, die ich
hier sehe, bestätigt es mir.»
«Oh, meine Gattin! Eine wahrhaft
tapfere Frau! Meine, unsere Freude», erklärt der Bootsmann, selig über das Lob
des Herrn, der sich auf den niederen Rand der beinahe erloschenen Feuerstätte,
fast auf den Boden gesetzt und ein Knäblein zwischen die Knie genommen hat,
das ihn erstaunt mustert.
Da kommen, als schon der erste
Regen herniederrauscht, diejenigen an, die die Einkäufe gemacht haben und nun
auf der Schwelle Mantel und Sandalen ausschütteln, um nicht Wasser und Schlamm
ins Haus zu tragen.
Man meint, das Ende der Welt ist
unter Donner, Blitz, Regen und Sturm gekommen. Das Getöse des Sees begleitet
die Soli der zuckenden Blitze und das Heulen des Windes.
«Seid gegrüßt. Der Sommer nimmt
ein Bad und wäscht die Hitze weg.. Danach wird man sich wohler fühlen ... Wenn
das Gewitter nur in der Weinbergen keinen Schaden anrichtet ... Darf ich nach
oben gehen, um den See zu betrachten? Ich möchte sehen, was er für eine Laune
hat ...»
«Geh nur, das Haus steht euch zur
Verfügung», antwortet der Jünger dem Petrus.
Petrus, nur mit der Tunika
bekleidet, geht glücklich hinaus, um das Unwetter zu genießen. Er steigt die
kleine äußere Treppe hinauf und hält sich auf der Terrasse auf, um sich zu
erfrischen und denen drinnen seine Ein drücke kundzutun, als stünde er auf der
Brücke seines Schiffes und gäbe die Befehle zum Manövrieren.
Die anderen sitzen da und dort in
der Küche herum, wo man sich kaum sehen kann, da man die Tür angelehnt lassen
muß wegen des Platzregen durch deren Spalt nur ein Faden grünlichen Lichtes
eindringt, unterbrochen vom kurzen Aufleuchten der grellen Blitze...
Petrus kommt zurück, durchnäßt,
als wäre er in den See gefallen, und erklärt: «Jetzt ist das Gewitter über
uns, aber es zieht vorüber in Richtung Samaria, um dort alles zu baden...»
82
«Dich hat es schon gebadet. Du
triefst ja nur so», bemerkt Thomas. «Ja. Aber ich fühle mich sehr wohl nach so
viel Hitze.»
«Komm herein. So naß an der Tür
zu stehen, wird dir schlecht bekommen», rät Bartholomäus.
«Nein, nein. Ich bin ein alter
Hase... Als ich noch kaum "Vater" sagen konnte, habe ich schon angefangen, im
Nassen zu stehen. Oh! Wie leicht man jetzt atmen kann! Doch die Straße ist ein
Fluß... Ihr solltet den See sehen! Er hat alle möglichen Farben angenommen,
und kocht wie das Wasser in einem Topf. Man weiß nicht einmal mehr, wohin
seine Wellen gehen. Sie kochen auf der Stelle... Es war aber wirklich nötig.»
«Ja, es war nötig. Die Mauern
kühlen schon nicht mehr ab, so sehr waren sie von der Sonne durchwärmt. Mein
Weinstock hatte ganz vertrocknete, verstaubte Blätter. Ich habe ihn am
Wurzelstamm bewässert... Ja, aber was hilft ein wenig Wasser, wenn ringsum
alles wie Feuer ist?» sagt Joseph.
«Es schadet mehr, als es nützt,
Freund», urteilt Bartholomäus. «Die Pflanzen bedürfen des Wassers vom Himmel,
denn sie trinken auch mit ihren Blättern; ja, es scheint nicht so zu sein,
aber es ist so. Die Wurzeln, die Wurzeln, gut. Aber auch die Blätter haben
ihren Zweck und ihre Rechte...»
«Scheint es dir nicht, Meister,
daß Bartholomäus das Thema für ein schönes Gleichnis vorgeschlagen hat?» sagt
der Zelote, der Jesus zum Sprechen anregen will.
Aber Jesus, der das Knäblein in
den Schlaf wiegt, das Angst vor den Blitzen hat, erzählt kein Gleichnis; er
nickt nur und sagt: «Und du, wie würdest du es erzählen?»
«Bestimmt schlecht, Meister. Ich
bin nicht du...»
«Erzähle es, wie du kannst. Es
wird euch sehr nützlich sein, in Gleichnissen zu predigen. Gewöhnt euch daran.
Ich höre dir zu, Simon...»
«Oh! ... Meister, du mir... der
ich töricht bin... Aber ich werde gehorchen. Ich würde erzählen: "Ein Mann
hatte einen schönen Weinstock. Da er jedoch keinen Weinberg besaß, pflanzte er
den Weinstock in einen kleinen Hausgarten, um ihn bis zur Terrasse wachsen zu
lassen; so würde er ihm Schatten spenden und zugleich Trauben einbringen. Er
ließ seinem Weinstock gute Pflege angedeihen, aber dieser wuchs inmitten der
Häuser, in der Nähe einer Straße, und so lagerten sich der Ruß der Küchen und
Backöfen und der Staub der Straße auf seinen Blättern ab. Solange die
Regengüsse des Monats Nisan anhielten, wurden die Blätter des Weinstocks von
allen Unreinheiten befreit, so daß sie Sonne und Luft genießen konnten, ohne
auf der Oberfläche eine dem Wachstum hinderliche Kruste zu haben. Als aber der
Sommer kam und kein Wasser mehr vom Himmel fiel, blieben auf den Blättern
Rauch, Staub und Exkremente von Vögeln in vielen Schichten haften, während die
allzu heiße Sonne die Rebe austrocknete.
83
Der Besitzer des Weinstocks gab
den tief in der Erde liegenden Wurzeln Wasser, und so starb der Weinstock zwar
nicht ab, er vegetierte jedoch kümmerlich dahin, denn das von den Wurzeln
aufgesaugte Wasser drang nur bis in das Innere der Zweige vor, und die armen
Blätter kamen zu kurz. Vielmehr stiegen von dem trockenen Boden, der nur wenig
Wasser erhalten hatte, schädliche Dünste auf, durch die sich die Blätter mit
Flecken, wie mit bösartigen Pusteln, bedeckten. Endlich fiel ein kräftige
Regen vom Himmel. Das Wasser lief über das Blätterwerk an den Ästen über die
Früchte und am Stamm entlang und löschte die Glut des Mauerwerks und des
Bodens. Als das Gewitter vorüber war, sah der Besitzer de Weinstocks, daß
dieser frisch und sauber war und ihm unter einem heiteren Himmel Freude
bereitete." Das ist das Gleichnis.»
«Gut so. Aber wo bleibt der
Vergleich mit dem Menschen? ...»
«Meister, mache du ihn.»
«Nein, du. Wir sind unter
Brüdern, und du brauchst nicht fürchten dich zu blamieren.»
«Was das Blamieren angeht, so
fürchte ich mich nicht davor. Im Gegenteil, ich liebe es, denn es hilft mir,
demütig zu bleiben. Aber ich möchte keine falschen Dinge erzählen...»
«Ich werde dich verbessern.»
«Nun denn! Seht, ich würde sagen:
"So ergeht es dem Menschen, de nicht abgesondert in den Gärten Gottes lebt,
sondern inmitten des Staube und des Rauches der weltlichen Dinge. Letztere
bilden fast unbemerkt einer Belag, und sein Geist wird unfruchtbar unter der
allzu dicken Kruste de Menschlichkeit, so daß der Geist Gottes und die Sonne
der Weisheit ihn nichts mehr nützen. Vergeblich sucht er dies zu ersetzen
durch etwas Wasser das er aus einigen religiösen Übungen schöpft und mit so
viel Menschlichkeit dem niederen Teil zukommen läßt, daß der höhere Teil
keinen Nutze daraus zieht... Wehe dem Menschen, der sich nicht mit dem Wasser
de Himmels wäscht, das von allen Unreinheiten befreit, die Leidenschaften
löscht und wahrhaft dem ganzen Wesen Nahrung gibt." Ich habe geendet.
«Das hast du gut gesagt. Ich
würde noch hinzufügen, daß im Unter schied zur Pflanze, die ein Geschöpf ohne
freien Willen und mit der Erde verhaftet ist und daher nicht auf die Suche
dessen gehen kann, was nützlich ist, und vermeiden kann, was schädlich ist,
der Mensch das Wasser de Himmels aufsuchen und den Staub, den Rauch und die
Leidenschaften de Fleisches, der Welt und des Teufels fliehen kann. So wäre
die Unterweisung vollständiger.»
«Danke, Meister. Ich werde es mir
merken», antwortet der Zelote.
«Wir sind aber keine
Einsiedler... Wir leben in der Welt... und daher... sagt Judas von Kerioth.
«Was: daher? Willst du sagen, daß
Simon töricht gesprochen hat? fragt Judas des Alphäus.
84
«Das nicht. Ich sage nur, daß wir
uns nicht absondern können und eben notgedrungen von dem umgeben sind, was von
der Welt ist.»
«Der Meister und Simon sagen
ausdrücklich, daß man das Wasser vom Himmel aufsuchen soll, um sich rein zu
erhalten trotz der Welt, die uns umgibt», sagt Jakobus des Alphäus.
«Ja, aber ist das Wasser vom
Himmel immer da, um uns zu reinigen?»
«Ja», sagt Johannes mit
Bestimmtheit.
«Und wo findest du es?»
«In der Liebe.»
«Die Liebe ist Feuer. Sie läßt
dich nur noch mehr brennen.»
«Sie ist Feuer, ja, aber sie ist
auch zugleich Wasser, das reinigt. Denn sie entfernt alles Irdische und gibt
alles Himmlische.»
«... Vorgänge, die ich nicht
verstehe. Sie nimmt, sie gibt...»
«Ja. Ich rede keinen Unsinn. Ich
sage, daß sie von dir nimmt, was menschlich ist, und dir gibt, was von Gott
kommt und daher göttlich ist. Und alles Göttliche kann nur nähren und
heiligen. Tag für Tag reinigt dich die Liebe von dem, was die Welt auf dir
abgelagert hat.»
Judas will antworten, aber der
Kleine auf dem Schoße Jesu sagt: «Ein anderes Gleichnis, ein schönes, schönes
für mich...» und das lenkt die Gemüter von der Diskussion ab.
«Worüber, Kind?» fragt Jesus, der
sogleich darauf eingeht.
Das Knäblein schaut um sich, und
dann findet es etwas. Es zeigt mit dem Fingerchen auf die Mutter und sagt:
«Über die Mama.»
«Die Mutter ist für Seele und
Leib das, was Gott für sie ist. Was tut deine Mutter für dich? Sie wacht über
dich, sie sorgt für dich, sie belehrt und liebt dich; sie paßt auf, daß du dir
nicht wehtust, und nimmt dich – wie die Taube es mit ihren Kleinen macht –
unter die Fittiche ihrer Liebe. Der Mutter muß man gehorchen und sie lieben,
weil sie alles für unser Wohl tut. Auch der liebe Gott, und zwar in einer noch
viel vollkommeneren Weise als Mütter es vermögen, hält seine Kinder unter den
Fittichen seiner Liebe. Er beschützt sie, belehrt sie, hilft ihnen und denkt
Tag und Nacht an sie. Auch dem lieben Gott muß man gehorchen und ihn lieben,
da er viel mehr ist als die Mutter; denn, wenn sie auch die größte Liebe auf
Erden ist, so bleibt doch Gott die allergrößte und ewige Liebe auf Erden und
im Himmel. Man muß ihm also gehorchen und ihn lieben für all das, was er zu
unserem Wohl tut...»
«Auch die Blitze?» unterbricht
ihn der Kleine, der große Angst vor ihnen hat.
«Auch sie.»
«Warum?»
«Weil sie den Himmel und die Luft
reinigen und ...»
«Und danach der Regenbogen kommt!
...» ruft Petrus aus, der halb draußen und halb drinnen gestanden und zugehört
und geschwiegen hat,
85
und fügt hinzu: «Komm, Täubchen,
ich zeige ihn dir. Schau, wie schön er ist! ...»
Tatsächlich leuchtet nun der
Mond, da das Unwetter vorüber ist, und ein großer Regenbogen, der am Ufer bei
Hippos beginnt, spannt sein Band über den See und verliert sich jenseits der
Berge hinter Magdala.
Alle drängen sich auf der
Schwelle, aber um den See zu sehen, müssen sie die Schuhe ausziehen, denn der
Hof ist ein kleiner Teich von gelblichem Wasser, das langsam abläuft. Vom
Gewitter bleibt nur noch der fahle See zurück, dessen leichtbewegtes Wasser
sich allmählich beruhigt. Doch der Himmel ist heiter, die Luft ist leicht, und
auch die Blätter haben wieder Farbe bekommen.
Tiberias belebt sich wieder ...
und bald sieht man auf der noch mit Wasser und Schlamm überschwemmten Straße
Johanna mit Jonathan kommen. Sie erheben den Blick und grüßen den Meister, der
sich auf der Terrasse befindet. Dann steigen sie rasch hinauf, um sich
glückselig vor ihm niederzuwerfen... Die Apostel sprechen miteinander, und nur
Judas, zwischen Jesus und Johanna auf der einen Seite und den Aposteln auf der
anderen, scheint in Gedanken versunken zu sein. Ich wette, daß er sehr
gespannt ist zu hören, was Johanna erzählt, deren Gedanken über Juda sich
nicht erraten lassen, da sie alle Apostel zusammen mit einem einzigen: «Der
Friede sei mit euch» begrüßt hat.
Aber Johanna spricht nur von den
Kindern und von der Erlaubnis, die Chuza ihr gegeben hat, mit dem Boot nach
Kapharnaum zu fahren, wem der Meister dort ist. Der Verdacht des Judas legt
sich, und so begibt er sich zu den anderen Kameraden ...
Den unteren Teil der Gewänder mit
Schlamm bedeckt, aber am Rest de Körpers trocken, nähern sich nun die
heiligste Mutter und Maria des Alphäus zusammen mit den fünf, die ihnen
entgegengegangen sind. Das Lächeln Marias beim Ersteigen der kurzen Treppe ist
noch lieblicher als de Regenbogen, der weiterhin am Himmel steht.
«Deine Mutter, Meister!»
verkündet Thomas.
Jesus geht ihr entgegen, und alle
anderen folgen ihm. Sie sind glücklich, daß die Frauen ohne weitere
Unannehmlichkeiten als ein wem Schlamm am Saum ihrer Kleider davongekommen
sind.
«Wir haben bei einem Gärtner
haltgemacht, als die ersten Tropfen fielen», erklärt Matthäus und fragt:
«Wartet ihr schon lange auf uns?»
«Nein. Wir sind im Morgengrauen
angekommen.»
«Wir haben uns wegen eines
Unglücklichen verspätet...» sagt Andrea
«Gut. Jetzt, da ihr alle hier
seid und das Wetter gut wird, möchte ich vorschlagen, daß wir heute abend nach
Kapharnaum abreisen», sagt Petrus.
Maria, die sonst immer
einwilligt, sagt diesmal: «Nein, Simon. W können nicht abreisen, bevor... Mein
Sohn, eine Mutter hat mir ihre
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einzigen Sohn empfohlen. Sie
bittet darum, daß du – der einzige, der es vermag – ihren Sohn bekehrst. Ich
bitte dich, höre auf mich, denn ich habe es ihr versprochen... Verzeihe ihm...
Deine Verzeihung ...»
«Er hat schon verziehen, Maria.
Ich habe bereits mit dem Meister gesprochen...» unterbricht Iskariot, in der
Meinung, Maria spreche von ihm.
«Ich spreche nicht von dir, Judas
des Simon. Ich spreche von Esther des Levi, einer Nazarenerin, einer Mutter,
die wegen der Lebensweise ihres Sohnes vor Gram gestorben ist. Jesus, sie ist
in der Nacht gestorben, in der du abgereist bist. Sie hat dich angerufen, aber
nicht für sich selbst, die arme Märtyrerin und Mutter eines niederträchtigen
Sohnes, sondern für ihren Sohn... denn wir Mütter sind ja nicht um uns selbst
besorgt, sondern um euch, die Söhne... Sie möchte, daß ihr Samuel gerettet
werde... Aber jetzt, da sie tot ist, scheint Samuel die Beute von
Gewissensbissen geworden zu sein. Er ist wie wahnsinnig und hört auf kein
vernünftiges Wort... Aber du, mein Sohn, kannst ihm Verstand und Seele
heilen...»
«Hat er bereut?»
«Wie sollte er bereut haben, da
er verzweifelt ist?»
«Wenn einer seine Mutter
umbringt, indem er ihr andauernd Kummer macht, dann hat er allen Grund zur
Verzweiflung. Man übertritt nicht ungestraft das erste der Gebote Gottes, das
Gebot der Liebe zum Nächsten. Mutter, wie willst du, daß ich verzeihe und Gott
dem Muttermörder Frieden schenke, wenn er nicht bereut?»
«Mein Sohn, diese Mutter bittet
aus dem jenseitigen Leben um Frieden... Sie war gut... und hat so viel
gelitten.»
«Sie wird Frieden haben...»
«Nein, Jesus. Der Geist einer
Mutter kann keinen Frieden finden, wenn sie ihr Kind fern von Gott weiß...»
«Es ist gerecht, daß er seiner
beraubt ist.»
«Ja, Sohn. Ja. Aber um der armen
Esther willen... Ihre letzten Worte waren ein Gebet für ihren Sohn... und sie
hat mich gebeten, es dir zu sagen. Jesus, Esther hat in ihrem Leben nie eine
Freude gehabt. Du weißt es. Schenke ihr nun diese Freude, jetzt, da sie
gestorben ist; verleihe sie ihrem Geist, der um ihres Sohnes willen leidet.»
«Mutter, ich habe versucht,
Samuel während meiner Aufenthalte in Nazareth zu bekehren, aber ich habe
vergeblich zu ihm gesprochen, weil die Liebe in ihm erloschen ist...»
«Ich weiß es. Aber Esther hat
ihre Verzeihung und ihre Leiden aufgeopfert, auf daß die Liebe in Samuel
wiedergeboren werde. Und wer weiß? Könnte nicht seine gegenwärtige Qual
wiedererwachende Liebe sein? Eine schmerzliche Liebe, und manch einer würde
vielleicht sagen: eine unnütze Liebe, da die Mutter sich ihrer nicht mehr
erfreuen kann. Aber du und ich, wir wissen – ich, durch meinen Glauben, du,
durch deine
87
Erkenntnis – daß die Liebe der
Heimgegangenen wach und nahe ist. Sie sind nicht uninteressiert an dein und in
Unkenntnis dessen, was ihren lieben Hinterbliebenen widerfährt ... und Esther
kann sich noch dieser verspäteten Liebe ihres undankbaren Sohnes erfreuen, der
jetzt gequält wird von Gewissensbissen. O mein Jesus, ich weiß es, dieser
Mensch erregt Abscheu in dir wegen seiner maßlosen Schuld. Ein Sohn, der seine
Mutter haßt: Ein Ungeheuer für dich, der du eine so große Liebe zu deiner
Mutter hast. Doch, da du eine so große Liebe zu mir hegst, höre auf mich!
Kehren wir doch zusammen sogleich nach Nazareth zurück. Der Weg wird mir nicht
beschwerlich sein. Nichts ist beschwerlich für mich, wenn es dazu dient, eine
Seele zu retten ...»
«Nun gut. Du hast gesiegt, Mutter
... Judas des Simon, nimm Joseph mit dir und mach dich auf nach Nazareth. Du
wirst Samuel zu mir nach Kapharnaum bringen.»
«Ich? Warum ich?»
«Weil du nicht müde bist wie alle
anderen. Sie sind viel gewandert, während du dich ausgeruht hast...»
«Auch ich bin gewandert. Ich bin
in Nazareth gewesen, um dich zu suchen. Deine Mutter kann es dir sagen.»
«Deine Kameraden sind jeden
Sabbat in Nazareth gewesen, und jetzt haben sie wieder einen weiten Weg
zurückgelegt. Geh nun, ohne zu widersprechen ...»
«Es ist nur, weil... man mich in
Nazareth nicht mag... Warum schickst du gerade mich?»
«Auch mich liebt man in Nazareth
nicht und doch gehe ich hin. Es ist nicht notwendig, daß man dort, wo man
hingeht, geliebt wird. Geh und widersprich mir nicht, ich wiederhole es dir.»
«Meister... Ich habe Angst vor
Wahnsinnigen ...»
«Der Mann ist erschüttert von
Gewissensbissen, nicht wahnsinnig.»
«Deine Mutter hat es gesagt.»
«Zum dritten Mal sage ich: Geh,
ohne zu widersprechen. Es kann dir nur guttun, darüber nachzudenken, wozu es
führen kann, wenn man einer Mutter Leiden verursacht...»
«Vergleichst du mich mit Samuel?
Meine Mutter ist Königin in ihrem Haus. Ich bin nicht einmal bei ihr, um sie
zu kontrollieren und ihr mit meinem Lebensunterhalt zur Last zu fallen...»
«Diese Dinge sind keine Last für
die Mütter. Was ihnen das Herz zermalmt, ist die Lieblosigkeit der Söhne, ihre
Unvollkommenheiten in den Augen Gottes und der Menschen. Geh nun, ich sage es
dir.»
«Ich gehe. Und was soll ich dem
Mann sagen?»
«Daß er zu mir nach Kapharnaum
kommen soll.»
«Wenn er nicht einmal seiner
Mutter gehorcht hat, glaubst du, daß er dann mir gehorchen wird, zumal jetzt,
da er so verzweifelt ist?»
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«Hast du denn noch nicht
verstanden, daß, wenn ich dich schicke, dies ein Zeichen dafür ist, daß ich
schon auf den Geist des Samuel eingewirkt und ihn von dem Alptraum seiner
verzweifelten Gewissensbisse befreit habe?»
«Ich gehe. Lebe wohl, Meister.
Lebe wohl, Mutter. Lebt wohl, Freunde.» Durchaus nicht begeistert, entfernt er
sich, gefolgt von Joseph, der hingegen sehr glücklich ist, für diese Mission
auserwählt worden zu sein.
Petrus trällert etwas vor sich
hin...
Jesus fragt ihn: «Was sagst du,
Simon des Jonas?»
«Ich singe ein altes
Seemannslied.»
«Und wie lautet der Text?»
«Der Text lautet: "So ist es
immer. Das Fischen gefällt dem Ackersmann; dem Fischer gefällt das Fischen
nicht!" Wahrlich, hier zeigt sich, daß der Jünger mehr Lust hat zu fischen als
der Apostel ...»
Mehrere lachen. Jesus nicht. Er
seufzt.
«Habe ich dich betrübt, Meister?»
fragt Petrus.
«Nein. Aber du sollst nicht immer
kritisieren.»
«Es ist wegen Judas, daß mein
Bruder so betrübt ist», sagt Judas des Alphäus.
«Auch du sollst schweigen, und
besonders im Grunde deines Herzens.»
«Aber hast du wirklich schon ein
Wunder an Samuel gewirkt?» fragt Thomas neugierig und etwas ungläubig.
«Ja.»
«Dann ist es unnötig, ihn nach
Kapharnaum kommen zu lassen.»
«Es ist nötig. Ich habe sein Herz
noch nicht gänzlich geheilt. Es muß von sich aus nach Heilung streben, also
mit heiliger Reuegesinnung Verzeihung verlangen. Aber ich habe bewirkt, daß er
wieder fähig ist, seinen Verstand zu gebrauchen. Jetzt liegt es an ihm, den
Rest mit seinem freien Willen zu erlangen. Gehen wir hinunter und zu den
Armen...»
«Gehen wir nicht zu mir,
Meister?»
«Nein, Johanna. Du kannst
jederzeit zu mir kommen, jene aber sind an ihre Arbeit gebunden, und so gehe
ich zu ihnen ...»
Jesus steigt von der Terrasse
herab und begibt sich hinaus auf die Straße, gefolgt von den anderen, auch von
Johanna, die Jonathan nach Hause geschickt hat und fest entschlossen ist, sich
nicht von Jesus zu trennen, da er nicht zu ihr kommen will.
Vorbei an ärmlichen Häusern,
gelangen sie in immer elendere Viertel... und so endet die Vision.
89
495. JESUS KOMMT NACH KAPHARNAUM
Ich weiß nicht, ob sie von sich
aus gekommen ist oder ob sie jemand benachrichtigt hat, doch Porphyria ist
schon am Ufer von Kapharnaum, als die Boote dort anlegen. Es sind deren drei
anstatt zwei, was mich vermuten läßt, daß jemand schon in Kapharnaum gewesen
ist, um die Ankunft des Meisters anzukündigen und ein Boot für die Frauen und
Margziam zu holen. Mit Porphyria sind außer der Mutter des Jakobus und des
Johannes auch die Töchter des Philippus und Miriam des Jairus da.
Aber mir fällt besonders
Porphyria auf, die trotz der kleinen Wellen des immer noch etwas bewegten
Sees, die in ihrem lächelnden kecken Lauf auf den Kies plätschern, bis zu den
Waden im Wasser steht, sich zu dem Boot hinüberneigt, in dem Margziam ist, und
ihn mit den Worten küßt: «Ich werde dich auch für ihn lieben. Für alle werde
ich dich lieben, mein teurer Sohn!» Sie ist ganz gerührt, und kaum haben die
Boote angehalten und sind die Insassen ausgestiegen, zieht sie Margziam an
sich und übernimmt ganz allein die Aufgabe, den Jüngling fühlen zu lassen, daß
man ihn sehr liebt.
So begibt sie sich zur Gruppe der
anderen Boote, um dem Meister Ehre zu erweisen, bevor die Leute von Kapharnaum
und die zahlreichen Jünger, die schon lange auf die Ankunft Jesu warten, sich
seiner bemächtigen und den Jüngerinnen die Freude nehmen, ihn für sich zu
haben.
Die Frauen sind dicht um den
Meister gedrängt, und nur den Kindern von Kapharnaum gelingt es, diesen Kreis
von Jüngerinnen zu durchdringen, indem sie ihre kleinen Gestalten mit Gewalt
zwischen die Frauen schieben, um zu Jesus zu gelangen, der langsam auf das
Haus zuschreitet.
Zu dieser frühen Morgenstunde
sieht man nur wenig Volk auf den Straßen, meist Frauen, die zur Quelle oder
zum Markt gehen, umgeben von der Schar ihrer Kleinen, oder Fischer, die Ruder
und Netze in die Boote tragen, um für den abendlichen Fischfang vorbereitet zu
sein. Von den Notabeln ist niemand außer Jairus da, der ehrerbietig
herbeieilt, um Jesus zu huldigen, und sich glücklich preist, da er hört, daß
Jesus beabsichtigt, einige Wochen zu bleiben, um nachts in die Städte am See
zu gehen, am Morgen dort zu predigen und sich dann tagsüber in Kapharnaum
auszuruhen. Wegen der Achtung, die er seinen Mitbürgern einflößt, gelingt es
Jairus, sich als erster an die Seite Jesu zu stellen. Es gelingt ihm auch
dadurch, daß er seine Tochter mit väterlicher Autorität beiseiteschiebt. Nach
ihm gelingt es den einflußreichsten Jüngern, sich Jesus zu nähern; jenen
Jüngern, denen die anderen aus instinktiver Gerechtigkeit gleich nach den
Aposteln den Vortritt lassen: dem alten Priester Johannes (dem früheren
Aussätzigen), Stephanus, Hermas, Johannes, dem Sohn der Noemi, Nikolaus und
den früheren Hirten und jetzigen Jüngern Jesu, die, abgesehen von den beiden
zum Libanon gegangenen, alle zugegen sind.
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Jesus interessiert sich auch für
die anderen, die abwesend sind, und erkundigt sich bei ihren Kameraden nach
ihnen. «Sind sie noch eifrig?» «Oh! Sehr.» «Ruhen sie sich in ihren Häusern
aus?» «Nein, sie bemühen sich in ihren Städten und in den benachbarten
Dörfern, neue Jünger zu werben.» «Und Ermastheus?» «Er ist am Meer entlang
gegangen und ist auf dem Weg zu seiner Stadt. Mit Joseph von Emmaus zusammen
will er den Erlöser an allen Küsten predigen. Ihnen haben sich die beiden
Freunde Samuel und Abel angeschlossen, um zu zeigen, was der Meister vermag,
da der eine von ihnen ein Krüppel und der andere aussätzig war.»
Lauter Fragen und Antworten. Die
Wegstrecke reicht nicht aus, um alles anzuhören, und das Haus des Thomas von
Kapharnaum ist zu klein, um alles Volk aufzunehmen, das sich nun um den
Meister drängt, der nach so langer Zeit zurückgekehrt ist.
Jesus entschließt sich, aufs Feld
hinauszugehen, um mitten unter ihnen zu sein, ohne jemanden bevorzugen zu
müssen.
496. VERKÜNDIGUNG DES EVANGELIUMS
IN DER GEGEND AM SEE; IN KAPHARNAUM
Es ist ein Sabbat. Ich vermute es
jedenfalls, da ich das Volk in der Synagoge versammelt sehe. Es könnte aber
auch sein, daß es sich hierher zurückgezogen hat, um der Sonne zu entfliehen
oder im Haus des Jairus sicherer zu sein. Das Volk drängt sich und ist
aufmerksam trotz der Hitze, die nicht einmal durch die Zugluft gemildert wird,
welche das Öffnen von Fenstern und Türen erzeugt.
Wer keinen Platz mehr in der
Synagoge gefunden hat, ist, um nicht auf dem Weg von der Sonne verbrannt zu
werden, in den schattigen Garten hinter der Synagoge geflohen, den Garten des
Jairus mit seinen Weinlauben und dichtbelaubten Obstbäumen. Jesus spricht von
der Pforte aus, die zum Garten führt, um sowohl von denen in der Synagoge als
auch von denen im Garten gehört zu werden.
Jairus steht an seiner Seite und
hört aufmerksam zu. Die Apostel sind in einer Gruppe in der Nähe der Türe zum
Garten. Die Jüngerinnen, mit Maria in ihrer Mitte, sitzen in einer Laube, die
fast das Haus berührt. Miriam des Jairus und die beiden Töchter des Philippus
sitzen zu Füßen Marias.
Aus den Worten, die ich höre,
entnehme ich, daß es wieder zu einem Zusammenstoß zwischen den üblichen
Pharisäern und Jesus gekommen ist, und daß das Volk darüber beunruhigt ist,
denn Jesus fordert zum Frieden und zum Verzeihen auf, indem er sagt, daß das
Wort Gottes in verwirrten Herzen keine Frucht bringen kann.
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«Wir können es nicht ertragen,
daß du beleidigt wirst», schreit einer aus der Menge.
«Laßt meinen und euren Vater
walten, und ihr, ahmt mich nach. Ertragt! Verzeiht! Wenn man auf Beleidigungen
mit Beleidigungen antwortet, überzeugt man die Feinde nicht.»
«Aber auch nicht mit beständiger
Milde. Du läßt dich ja mit Füßen treten», brüllt Iskariot.
«Du, mein Apostel, gib kein
schlechtes Beispiel durch Zorn und Kritik.»
«Er hat aber recht, dein Apostel.
Seine Worte sind gerecht.»
«Das Herz dessen, der sie
spricht, und das Herz dessen, der sie anhört, sind nicht gerecht. Wer mein
Jünger sein will, muß mich nachahmen. Ich ertrage und verzeihe. Ich bin mild,
demütig und friedfertig. Söhne des Zornes können nicht bei mir bleiben, denn
sie sind Kinder der Welt und ihrer Leidenschaften.
Kennt ihr nicht das vierte Buch
der Könige? Dort heißt es an einer Stelle, daß Isaias gegen Sennacherib
sprach, der glaubte, alles wagen zu können, und ihm prophezeite, daß ihn
nichts von der Strafe Gottes würde retten können. Er vergleicht ihn mit einem
Tier, dem man einen Ring durch die Nase zieht und einen Zaum an die Lippen
legt, um seine böse Wut zu zügeln. Ihr wißt, wie Sennacherib durch die Hand
seiner eigenen Söhne umkam. Denn in der Tat richtet sich der Grausame durch
seine eigene Grausamkeit zugrunde. Er geht körperlich und geistig zugrunde.
Ich liebe die Grausamen nicht,
ich liebe die Jähzornigen nicht, und auch nicht die Habsüchtigen und
Wollüstigen. Ich veranlasse euch weder durch mein Wort noch durch mein
Beispiel so zu werden; vielmehr habe ich euch stets die Tugenden gelehrt, die
diesen bösen Leidenschaften entgegengesetzt sind.
Wie schön ist doch das Gebet
Davids, unseres Königs, in dem er, wiederum geheiligt durch aufrichtige Reue
über die vergangenen Sünden und durch Jahre weiser Lebensart, den Herrn
preist, milde und ergeben in den Beschluß, nicht der Erbauer des neuen Tempels
sein zu dürfen. Beten wir es alle zusammen und preisen wir den allerhöchsten
Herrin...»
Jesus stimmt das Gebet Davids an,
während sich die Sitzenden erheben und die, die an die Wand gelehnt sind, eine
ehrfurchtsvolle Stellung einnehmen.
Dann fährt Jesus wieder im
üblichen Ton fort: «Man darf nie vergessen, daß alles in den Händen Gottes
liegt, jedes Unterfangen, jedes Gelingen. Pracht, Macht, Ehre und Sieg sind
des Herrn. Er gewährt dem Menschen dieses oder jenes, wenn er entschieden hat,
daß die Stunde gekommen ist, es als ein sicheres Gut zu gewähren. Der Mensch
jedoch kann es nicht beanspruchen. David, dem zwar verziehen wurde, der aber
nach den begangenen Fehlern noch des Sieges über sich selbst bedurfte,
gewährte
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Gott nicht, den Tempel zu
errichten: "Du hast Blut in Menge vergossen und gewaltige Kriege geführt. Du
darfst meinem Namen kein Haus bauen, denn du hast zu viel Blut zur Erde
vergossen vor meinem Antlitz. Siehe, ein Sohn wird dir geboren. Dieser wird
ein Mann des Friedens sein... und deshalb der Friedfertige genannt werden...
Er wird meinem Namen ein Haus bauen." So sprach der Allerhöchste zu seinem
Knecht David.
Ebenso sage ich zu euch. Wollt
ihr, eures Jähzornes wegen, es nicht verdienen, einen Tempel des Herrn eures
Gottes in euren Herzen zu errichten? Fern sei euch also jegliches Gefühl, das
nicht der Liebe entspringt. Habt ein vollkommenes Herz, so wie David es für
seinen Sohn, den Erbauer des Tempels, erbat, damit ihr in Beachtung meiner
Gebote und in Befolgung all meiner Lehren dazu gelangt, in euch das Haus eures
Gottes zu bauen in der Erwartung, einst in sein ewiges, freudvolles Reich
eingehen zu dürfen.
Reiche mir eine Buchrolle,
Jairus. Ich werde ihnen erklären, was Gott will.»
Jairus geht dorthin, wo die
Buchrollen aufgeschichtet sind, nimmt die erste, die ihm zufällig in die Hand
kommt, wischt den Staub ab und reicht sie Jesus. Er rollt sie auf und liest:
«Jeremias, fünftes Kapitel: "Durchstreift Jerusalems Gassen, seht euch um und
überzeugt euch, sucht auf seinen Plätzen, ob ihr einen findet, ob einer da
ist, der recht tut, der Treue sucht, dann will ich ihr vergeben! "» (Der Herr
sagt mir: «Fahre nicht fort mit den Aufzeichnungen, denn ich werde das ganze
Kapitel lesen.»)
Nachdem Jesus alles gelesen hat,
gibt er Jairus die Buchrolle zurück und spricht: «Meine Söhne, ihr habt
gehört, welch furchtbare Strafen Jerusalem erwarten, Israel, das keine
Gerechtigkeit kennt. Aber freut euch dessen nicht, es ist unser Vaterland.
Freut euch nicht im Gedanken: "Wir werden zu jener Zeit vielleicht nicht mehr
leben", denn es wird immer von euren Brüdern bevölkert sein. Sagt nicht: "Es
geschieht ihm recht, denn es ist grausam gegen den Herrn." Das Unglück des
Vaterlandes und das Leid der Mitbürger müssen die, die gerecht sind, immer
betrüben. Meßt nicht mit dem Maß anderer, meßt mit dem Maß Gottes, also mit
Barmherzigkeit.
Wie müßt ihr euch also diesem
Vaterland und euren Mitbürgern gegenüber verhalten, sei es, daß ihr damit das
große Vaterland und seine Bewohner, ganz Palästina, oder die engere Heimat,
Kapharnaum, eure Stadt, meint; sei es, daß ihr damit alle Hebräer meint, die
mir feindlich gesinnt sind, oder nur die wenigen, die in dieser kleinen Stadt
Galiläas leben? Ihr müßt Werke der Liebe vollbringen. Ihr müßt euch bemühen,
das Vaterland und die Mitbürger zu retten. Wie? Etwa durch Gewalt? Durch
Verachtung? Nein. Durch Liebe, durch geduldige Liebe, um sie zu Gott zu
bekehren.
ihr habt es gehört: "Wenn ich
einen Menschen finde, der Gerechtigkeit
93
übt, werde ich ihm barmherzig
sein." Arbeitet daher, auf daß die Herzen zur Gerechtigkeit kommen und gerecht
werden. Wahrlich, in ihrer Ungerechtigkeit sagen sie von mir: "Er ist es
nicht", und daher glauben sie, daß ihnen nichts Böses zustoßen wird, wenn sie
mich verfolgen. Wahrlich, sie sagen: "Diese Dinge werden niemals eintreffen.
Die Worte der Propheten stimmen nur zufällig überein."
Sie bemühen sich, auch euch zu
verführen, es ihnen nachzusprechen. Ihr, die ihr hier anwesend seid, seid
gläubig. Aber wo ist Kapharnaum? Ist das ganz Kapharnaum? Wo sind jene, die
sich die anderen Male um mich geschart haben? Hat also der Sauerteig, den ich
das letzte Mal in ihre Herzen senkte, ihnen Verderben gebracht? Wo ist
Alphäus? Wo Josua mit seinen drei Söhnen? Wo Aggäus des Malachias? Wo sind
Joseph und Noemi? Wo Levi, Abel, Saulus und Zacharias? Haben sie die vor aller
Augen empfangenen Wohltaten vergessen, weil sie mit lügenhaften Worten
überhäuft worden sind? Aber können vielleicht Worte die Taten ungeschehen
machen?
Ihr seht es. Dies hier ist nur
eine kleine Ortschaft. In der Ortschaft, in der die mit Wohltaten Beschenkten
am zahlreichsten sind, hat der Geifer den Glauben an mich vernichten können.
Nur jene, die vollkommen im Glauben sind, sehe ich hier versammelt. Könnt ihr
also annehmen, daß die in der Ferne geschehenen Werke, die in der Ferne
gesprochenen Worte ganz Israel in der Treue zu Gott bewahren können? So sollte
es sein, denn der Glaube muß auch ohne die Stütze der sichtbaren Wunder
standhalten. Aber leider ist es nicht so. Je größer die Wissenschaft, desto
geringer ist der Glaube; denn die Gelehrten fühlen sich nicht verpflichtet zum
einfachen, schlichten Glauben, welcher der Kraft der Liebe entspringt und
nicht auf der Wissenschaft gründet.
Die Liebe muß man auf andere
übertragen und sie in ihnen entzünden; aber um dies tun zu können, muß man
selbst entflammt sein. Man muß überzeugt sein, mutig und überzeugt, um
überzeugen zu können. Nicht Unhöflichkeit, sondern Demut und Liebe sind als
Antwort auf Beleidigungen am Platze. Mit ihnen heißt es vorangehen und die,
die sie nicht mehr kennen an die Worte des Herrn erinnern: "Fürchten wir doch
den Herrn unseren Gott, der uns den Frühregen und den Spätregen zur rechten
Zeit spendet!"
«Sie würden uns nicht verstehen!
Ja, sie würden uns sogar beleidigen und sagen, daß wir Gotteslästerer sind, da
wir lehren, ohne das Recht dazu zu haben. Du weißt genau, wie Schriftgelehrte
und Pharisäer sind! ...»
«Ja, ich weiß es, und selbst,
wenn ich es nicht gewußt hätte, würde ich es jetzt wissen. Aber es kommt nicht
darauf an, wie sie sind, sondern, es kommt darauf an, wie wir sind. Wenn sie
und die Priester falschen Propheten Beifall zollen, die das prophezeien, was
ihnen nützlich ist, und
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vergessen, daß man nur den guten
Werken, die der Dekalog vorschreibt, Beifall zollen darf, dann dürfen meine
Getreuen sie weder nachahmen noch sich entmutigen lassen und sich als Besiegte
betrachten. Ihr müßt ebenso eifrig arbeiten, wie das Böse es tut...»
«Wir sind nicht das Böse»,
schreit von der Türe, die zur Straße führt, die kreischende Stimme Elis, des
Pharisäers, der hineinzukommen versucht, wobei er weiterhin schreit: «Wie sind
nicht das Böse, du Aufwiegler.»
«Mann, du stiftest Unruhe. Geh
hinaus!» sagt prompt der Centurio, der offenbar bei der Synagoge Wache
gehalten hat, so unmittelbar ist sein Eingreifen.
«Du, ein Heide, wagst es, mir zu
gebieten...»
«Ich, ein Römer, ja. Hinaus! Der
Rabbi stört dich nicht; aber du störst ihn. Das ist dir nicht erlaubt.»
«Rabbis sind wir, nicht der
galiläische Schreiner», kreischt der Alte, der in diesem Augenblick mehr einer
Marktfrau ähnelt als einem Lehrmeister.
«Einer mehr oder weniger... Ihr
habt Hunderte, und alle mit schlechten Grundsätzen. Der einzige, der wirklich
tugendhaft ist, steht dort. Ich befehle dir hinauszugehen.»
«Tugendhaft, was? Tugendhaft soll
der sein, der mit Rom über seine Unverletzlichkeit verhandelt! Gotteslästerer!
Unreiner!»
Der Centurio stößt einen Ruf aus,
und das Geräusch der schweren Schritte einiger Bewaffneten mischt sich unter
das beleidigende Gekreisch des Eli.
«Nehmt diesen Menschen und werft
ihn hinaus!» befiehlt der Centurio.
«Mich? Hände von Heiden berühren
mich? Füße von Heiden in unserer Synagoge! Anathema! Hilfe! Sie entweihen
mich! Sie ...»
«Ich bitte euch, Soldaten, laßt
ihn gehen! Kommt nicht herein. Achtet diesen Ort und seine weißen Haare», sagt
Jesus.
«Wie du willst, o Rabbi.»
«Ha, du Intrigant! Aber der Hohe
Rat wird es erfahren. Nun habe ich den Beweis! Nun glaube ich den Worten, die
man uns gesagt hat. Ich habe den Beweis. Der Fluch ist über dir!»
«Und das Schwert über dir, wenn
du noch ein Wort sagst. Rom verteidigt das Recht. Keine Intrigen, mit
niemandem, du alte Hyäne. Der Hohe Rat wird deine Lügen erfahren, und der
Prokonsul wird meinen Rapport erhalten, den ich sogleich niederschreibe. Geh
nach Hause und halte dich zur Verfügung der römischen Obrigkeit», und der
Centurio macht ein perfektes "Kehrt um", geht mit seinen vier Soldaten davon
und läßt den verblüfften, zitternden, elendiglich zitternden Eli stehen...
Jesus beginnt wieder zu sprechen,
als wäre er nicht unterbrochen worden:
95
«Ihr müßt euch bemühen zu
arbeiten, wie das Böse arbeitet, um in euch und um euch das Haus Gottes
aufzubauen, wie ich anfangs sagte. Das geschehe mit großer Heiligkeit, auf daß
Gott in die Herzen und in unser teures Vaterland herabsteigen möge, das schon
so sehr gezüchtigt worden ist und das nicht merkt, welch unheilvolle Wolken
sich im Norden zusammenballen, in der starken Nation, die uns bereits
beherrscht und immer mehr beherrschen wird, weil die Taten der Bürger den
Allgütigen anwidern und den Starken reizen. Wollt ihr etwa mit dem Zorne
Gottes und der Herrschenden Frieden und Wohlergehen erlangen? Seid gut, seid
brav, ihr Söhne Gottes. Sorgt dafür, daß nicht nur einzelne, sondern Hunderte
und Aberhunderte von Menschen in Israel gut werden, um dem schrecklichen
Strafgericht Gottes zu entgehen. Ich habe euch schon anfangs gesagt, daß, wo
kein Friede ist, auch das Wort Gottes nicht sein kann, das in Frieden angehört
werden muß, wenn es in den Herzen Frucht bringen soll. Ihr seht, daß auch
diese Versammlung weder ruhig war noch fruchtbringend. Allzuviel Unruhe
herrscht in den Herzen... Geht nun. Wir werden noch Zeit haben, um beisammen
zu sein. Betet, wie auch ich bete, auf daß die Ruhestörer zur Besinnung kommen
mögen... Gehen wir, Mutter», und indem er sich einen Weg durch die Menge
bahnt, geht er auf die Straße hinaus.
Eli ist noch dort, zu Tode
erschrocken. Er wirft sich Jesus zu Füßen und ruft: «Erbarmen! Du hast mir
einmal den Enkel gerettet. Rette nun mich damit ich Zeit habe, zur Einsicht zu
kommen. Ich habe gesündigt! Ich bekenne es. Aber du bist gut. Rom ... Oh! Was
wird Rom mir antun?»
«Es wird dich mit kräftigen
Geißelhieben vom Staub des Sommers befreien», schreit einer, und das Volk
lacht, während Eli ein Geheul an stimmt, als fühle er schon die Geißelhiebe
und seufzt: «Ich bin alt.. krank vor Schmerzen... O weh!»
«Die Kur wird sie schon vergehen
lassen, alter Schakal!»
«Du wirst wieder ganz jung werden
und tanzen können...»
«Schweigt!» befiehlt Jesus den
Spöttern, und zu dem Pharisäer gewandt sagt er: «Erhebe dich. Bewahre deine
Würde. Du weißt, daß ich nicht gemeinsame Sache mit Rom mache. Was soll ich
also für dich tun?
«Es ist wahr. Ja, es ist wahr. Du
zettelst keine Verschwörungen an, viel mehr verachtest du die Römer, du haßt
sie, du ver ...»
«Nichts von all dem. Lüge nicht
mit deinem Lob wie vorher mit deine Anklage, und wisse, daß du mir keine Ehre
erweisest mit der Behauptung daß ich diesen oder jenen hasse, diesen oder
jenen verfluche. Ich bin de Erlöser aller Seelen, und in meinen Augen besteht
kein Unterschied zwischen den Rassen, den Gesichtern, ich sehe nur die
Seelen.»
«Es ist wahr! Es ist wahr! Aber
du bist gerecht, und Rom weiß es und deshalb verteidigt es dich. Du beruhigst
die Menschen und lehrst Achtung vor den Gesetzen und...»
96
«ist das in deinen Augen
vielleicht Sünde?»
«O nein, es ist Gerechtigkeit! Du
weißt zu tun, was wir alle tun müßten, denn du bist gerecht, du...»
Die Menge grinst und murmelt.
Nicht wenige Beinamen hört man, wie «Lügner! Feigling! Noch heute früh hat er
anders geredet!» usw. Man hört sie, obwohl sie nur geflüstert werden.
«Nun, was soll ich tun?»
«Geh, geh schnell zum Centurio,
bevor der Bote davoneilt. Siehst du? Sie satteln schon die Pferde! Oh,
Erbarmen!»
Jesus schaut ihn an, den kleinen,
zitternden, totenbleichen, armseligen Menschen... und betrachtet ihn voller
Mitleid. Nur vier Augen blicken mitleidig auf ihn: die des Sohnes und die der
Mutter. Alle anderen schauen entweder ironisch, streng oder aufgebracht...
Selbst der Blick des Johannes und des Andreas ist hart und drückt Entrüstung
und Strenge aus.
«Ja, ich habe Erbarmen. Aber zum
Centurio gehe ich nicht...»
«Du bist doch mit ihm befreundet
...»
«Nein.»
«Er ist dir gut gesinnt, wollte
ich sagen, wegen seines von dir geheilten Knechtes.»
«Auch dir habe ich den Enkel
geheilt, und du bist mir nicht dankbar, obwohl du ein Israelit bist wie ich.
Die erwiesene Wohltat schafft keine Verpflichtung.»
«Doch, das schafft sie. Wehe dem
Undankbaren ...» Eli merkt, daß er sich selbst anklagt, und beginnt zu
stottern... Die Menge spöttelt.
«Schnell, Rabbi! Großer Rabbi!
Heiliger Rabbi! Er gibt schon seine Befehle, siehst du? Sie sind dabei,
loszureiten! Willst du, daß ich verspottet werde? Willst du, daß sie mich
umbringen?»
«Nein, ich gehe nicht, ihn an
eine Wohltat zu erinnern. Geh du, und sage ihm: "Der Meister läßt dir sagen,
du mögest Erbarmen walten lassen." Geh!»
Eli trottet davon, und Jesus geht
in entgegengesetzter Richtung nach Hause.
Der Centurio muß wohl nachgegeben
haben, denn man sieht, wie die Soldaten, die schon im Sattel waren, wieder von
den Pferden steigen. Sie geben dem Centurio ein Wachstäfelchen zurück und
führen die Pferde wieder in den Stall.
«Schade! Es wäre ihm recht
geschehen!» ruft Petrus aus, und Matthäus antwortet darauf: «Ja, der Meister
hätte ihn ruhig bestrafen lassen sollen! So viele Schläge, als er
Verwünschungen gegen uns ausgestoßen hat. Der gehässige Alte!»
«So fängt er bald wieder von
neuem an!» ruft Thomas aus.
Jesus wendet sich um und sagt
ernst: «Habe ich hier meine Nachfolger
97
oder habe ich Teufel um mich?
Geht, ihr Unbarmherzigen. Eure Gegenwart schmerzt mich.»
Die drei stehen wie versteinert
da wegen des Vorwurfs.
«Mein Sohn! Du hast schon so viel
zu leiden, und ich habe schon so viel Kummer. Füge nicht auch noch diesen
hinzu... Schau sie an!»... fleht Maria.
Jesus dreht sich um und schaut
die drei an... Drei betrübte Gesichter mit Augen voller Hoffnung und Schmerz.
«Kommt!» gebietet Jesus.
Oh! Die Schwalben sind nicht so
flink wie die drei.
«Dies sei das letzte Mal, daß ich
von euch solche Worte hören muß. Du, Matthäus, hast kein Recht dazu. Du,
Thomas, bist noch nicht gestorben, daß du die Unvollkommenen richten dürftest,
während du dich gerettet glaubst. Du, Simon des Jonas, hast dich wie ein
Steinblock benommen, der mit Mühe auf die Höhe geschleppt worden und wieder
ins Tal zurückgerollt ist. Hört zu, was ich euch sage: Hier in der Synagoge
und in der Stadt ist es nutzlos zu reden. Ich werde von nun an da und dort am
See vom Boot aus sprechen. Bereitet die Boote vor, so viele wie nötig, und
dann werden wir an stillen, heiteren Abenden oder auch im frischen
Morgengrauen hinausfahren ...»
497. IN MAGDALA
«Wohin fahren wir, Meister?»
fragt Petrus, der alles Nötige getan und die Vorbereitungen zur Abfahrt
getroffen hat und mit seinem Boot die kleine Flottille von Booten anführt, die
mit ihrer Ladung Menschen nun darauf warten, dem Herrn zu folgen.
«Nach Magdala. Ich habe es Maria
des Lazarus versprochen.»
«Gut», antwortet Petrus und
steuert dem Ufer entlang auf die Stadt zu
Johanna befindet sich im Boot des
Meisters, zusammen mit der aller heiligsten Mutter, mit Maria des Kleophas,
Margziam, Matthäus, Jakobus des Alphäus und einem mir Unbekannten. Sie zeigt
auf die zahlreichen Boote, die auf dem See sind an diesem ruhigen Sommerabend,
de das Feuer des Sonnenunterganges durch eine Kaskade von violette Schleiern
dämpft, als ob vom Himmel ein Schauer von Amethysten oder blühenden Glyzinien
herabstürzte, und sagt: «Vielleicht befinden sich unter diesen Booten auch die
der Römerinnen. Einer ihrer beliebteste Zeitvertreibe besteht darin, an
solchen milden Abenden so zu tun, als o sie fischen.»
«Sie werden eher mehr im Süden
sein», bemerkt der Mann, den ich nicht kenne.
98
«O nein, Benjamin. Sie haben
schnelle Boote und erfahrene Bootsmänner. Sie kommen bis hier herauf.»
«Bei dem, was sie zu tun haben
...» knurrt Petrus und murmelt das Weitere in seinen Bart mit der
Unversöhnlichkeit des Fischers, der die Seefahrt und das Fischen als Beruf und
nicht als Vergnügen betrachtet, fast als eine Religion, die gänzlich nach
nützlichen und strengen Regeln geordnet ist, so daß es für ihn einer
Profanierung gleichkommt, so etwas zum Spaß zu betreiben. «Mit ihrem
Weihrauch, ihren Blumen, Düften und anderen dämonischen Dingen verseuchen sie
das Gewässer; mit ihren Gesängen, ihrem Geschrei und Geschwätz stören sie die
Fische; mit ihren rauchenden Fackeln erschrecken sie sie ; mit ihren
verfluchten Netzen, die sie rücksichtslos auswerfen, verderben sie die
Wassertiefen und die Fischbrut... Das sollte verboten sein! Das Meer von
Galiläa gehört den Galiläern, d.h. ihren Fischern, und nicht den Dirnen und
ihresgleichen... Wenn ich etwas zu sagen hätte! Ich würde es euch schon
zeigen, ihr stinkenden, heidnischen Boote, ihr schwimmenden Lasterhöhlen, ihr
schaukelnden Alkoven, die ihr bis hierher auf diese Gewässer Gottes, unseres
Gottes, kommt, um eure... Oh! Da schaut! Sie steuern gerade auf uns zu! Aber
ist denn das möglich! ... Kann man sich so etwas erlauben... Aber...»
Diese Anklage-Litanei, in die
Petrus seinen ganzen israelitischen Geist und Fischerstolz hineinlegt, so daß
er rot wird und sich erhitzt, als kämpfe er gegen höllische Mächte,
unterbricht Jesus ruhig lächelnd: «Es ist gut für sie und für dich, daß du
hier nicht der Herr und Meister bist. Glücklicherweise bist du es nicht. Denn
jene würdest du davon abhalten, einem guten inneren Antrieb zu folgen; einem
Impuls, der ihrem Geist – wohl heidnisch, das gebe ich zu, aber von Natur aus
gut – von der ewigen Barmherzigkeit eingegeben wurde, die diese Geschöpfe,
deren Schuld es nicht ist, daß sie als Römer, statt als Hebräer zur Welt
gekommen sind, mit barmherzigem Auge lenkt, weil er sie dem Guten zugewendet
sieht. Dir selbst würdest du ebenfalls schaden, weil du gegen die Liebe und
gegen die Demut fehlen würdest...»
«Gegen die Demut? Das sehe ich
nicht ein... Wenn ich Herr und Meister über den See wäre, könnte ich nach
meinem Gutdünken darüber verfügen.»
«Nein, Simon des Jonas. Nein, du
irrst dich. Auch die Dinge, die uns gehören, gehören uns nur, weil Gott sie
uns gewährt. Da sie uns aber nur für eine begrenzte Zeit überlassen sind,
müssen wir immer daran denken, daß nur einer allein alles zeitlich unbegrenzt
und ohne Maß besitzt, daß nur einer allein der Herr ist. Die Menschen... oh,
sie sind nur Verwalter von Krumen der großen Schöpfung. Herr aber ist er, mein
Vater, der deine und Vater aller Lebewesen, er, der zudem Gott und deshalb
ganz vollkommen in all seinen Gedanken und Werken ist. Wenn Gott nun mit
Wohlgefallen auf die Regungen dieser heidnischen Herzen schaut und
99
nicht nur auf sie herabschaut,
sondern diese Regungen sogar begünstigt, indem er sie immer stärker sich dem
Guten zuwenden läßt, scheint es dir dann nicht, daß du, Mensch, da du sie
daran hindern willst, im Grunde eine Tat Gottes verhindern willst? Wann
versucht man etwas zu verhindern? Wenn man es für nicht gut hält. Du würdest
also von deinem Gott denken, daß er Ungutes tut? Nun, wenn es schon nicht gut
ist, über die Brüder zu urteilen, da jeder Mensch seine Fehler hat und seine
Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit so begrenzt ist, daß er sich in sieben von
zehn Fällen täuscht, so ist es absolut verwerflich, Gott in seinen Werken
beurteilen zu wollen. Simon, Simon! Luzifer wollte über einen Gedanken Gottes
urteilen und hielt ihn für abwegig, er wollte sich selbst an seine Stelle
setzen, da er glaubte, gerechter zu sein als er. Du weißt, Simon, was Luzifer
damit erreicht hat, und du weißt, daß aller Schmerz, unter dem wir leiden, von
diesem Hochmut herrührt...»
«Du hast recht, Meister! Ich bin
wirklich ein unglückseliger Mensch! Verzeihe mir, Meister!» Petrus, impulsiv
wie immer, verläßt das Steuerruder, um sich Jesus zu Füßen zu werfen. Das
Boot, das sich gerade in einer Strömung befindet, gerät, so plötzlich sich
selbst überlassen, vom Kurs ab und in fürchterliches Schwanken, und Maria des
Kleophas und Johanna beginnen zu schreien, begleitet vom Gekreisch derer in
der leichten Zwillingsbarke, die das schwere Boot Petri auf sich zukommen
sehen. Zum Glück ist Matthäus sofort bereit, das Steuerruder zu ergreifen, und
das Boot fährt wieder ruhig dahin nach diesem beängstigenden Schaukeln, das
auch dadurch hervorgerufen worden ist, daß die anderen, um es von sich
fernzuhalten, mit starken Schlägen ihrer Ruder das Wasser aufgerührt haben.
«He, Simon! Einmal hast du die
Römer als schlechte Seeleute verhöhnt, weil sie uns beinahe mit ihrem Boot
gerammt hätten. Aber diesmal hast du einen schlechten Eindruck auf sie
gemacht... Und direkt vor ihrer Nase! Schau nur, wie sie alle in den Booten
aufgestanden sind und herüberschauen ...» stichelt Iskariot, indem er auf die
römischen Boote zeigt, die nun so nahe sind auf dem Wasserspiegel vor Magdala,
daß man sie gut sehen kann, obwohl die immer dichter werdenden violetten
Schleier des Abends das Licht dämpfen.
«Du hast auch einen Korb und ein
Eimerchen verloren. Sollen wir versuchen, sie mit den Haken wieder
herauszufischen?» sagt Jakobus des Zebedäus von einem anderen, sehr nahe
gekommenen Boot aus, denn nach diesem Zwischenfall haben sich alle um das Boot
des Petrus geschart.
«Aber wie hast du das gemacht? So
etwas passiert dir doch sonst nie!»sagt und schreit Andreas aus noch einem
anderen Boot.
Petrus antwortet allen, jedem
einzeln, während die anderen fast alle au einmal geredet haben. «Haben sie
mich gesehen? Das macht nichts
100
Wenn sie auch in mein Herz
gesehen hätten und... Gut, das brauchst du nicht zu sagen, Petrus... Doch du
sollst wissen, Judas, daß du mich nicht gekränkt hast. Es war kein falsches
Manöver. Es geschah aus einem guten Grund, und der ist es, der mich
beschämt... Mache dir keine Sorgen, Jakobus! Altes Zeug, das auf den Grund des
Sees geht... Ich wollte, ich könnte ihm den alten Menschen, der in mir
hartnäckig widersteht, nachwerfen. Ich würde auf alles verzichten, auch auf
mein Boot, wenn ich nur so werden könnte, wie der Meister es haben will... Wie
ich das gemacht habe? Ja! Ich habe mir selbst und meiner Überheblichkeit, mit
der ich selbst Gott in geistigen Dingen belehren wollte, bewiesen, daß ich ein
dummer Esel bin, sogar was die Bootsmanöver angeht... Mir ist recht geschehen.
Ich bin damit selbst zum Gleichnis für mich geworden. Meister, ist es nicht
so?»
Jesus lächelt zustimmend... Er
sitzt am Bug, an seinem gewohnten Platz. Sein klares, ruhiges Antlitz hebt
sich gegen den Abendhimmel ab und ist so von den im sanften Wind wehenden
Haaren umrahmt, daß er einem leuchtenden Friedensengel gleicht.
Die römischen Boote haben sie nun
erreicht.
«Sie haben ausgezeichnete
Schifflein und sehr gute Segel... und welch tüchtige Schiffsleute erst!
Behende wie Eisvögel fliegen sie dahin. Jedes Lüftchen wissen sie auszunützen,
jede kleine Strömung...»
«Sie sind fast alle Sklaven aus
Kreta oder aus dem Gebiet des Nils, diese Ruderer», erklärt Johanna.
«Die Seeleute des Nildeltas sind
außerordentlich erfahren; ebenso die aus Kreta. Aber auch die aus Italien sind
sehr gut... Sie überwinden die Scylla und Charybdis, und das genügt, um sie
als ausgezeichnet zu qualifizieren», gesteht der Unbekannte, den sie Benjamin
nennen.
«Wohin fahren wir jetzt, Herr?
Nach Magdala oder... Schau! Die Leute von Magdala kommen auf uns zu...»
Tatsächlich verlassen gerade alle
kleinen Boote dieser Ortschaft den Kiesstrand und den Hafen. Sie sind in so
furchterregender Weise mit Menschen überladen, daß Bordrand und Wasserspiegel
fast eine einzige Linie bilden und sie sich nur mühsam den Booten von
Kapharnaum nähern.
«Nein, wir warten hier auf dem
See gegenüber der Stadt. Ich werde vom Boot aus sprechen...»
«Aber... diese Unvorsichtigen
wollen wohl ertrinken. Schau, Meister! Der See ist glatt wie ein Silberspiegel
... aber Wasser bleibt Wasser... und Gewicht bleibt Gewicht... und dort ...
sie scheinen zu glauben, sie seien auf festem Boden und nicht auf dem
Wasser... Befiehl ihnen, zurückzukehren... Sonst ertrinken sie noch...»
«Du kleingläubiger Mensch!
Erinnerst du dich nicht mehr daran, daß du einst auf dem Wasser wie auf festem
Boden gewandelt bist, solange du
101
auf mich vertraut hast? Sie haben
Glauben. Daher wird das Wasser diese überladenen Barken entgegen allen
Naturgesetzen von Wasserverdrängung und Gewicht tragen.»
«Wenn dies geschieht... dann ist
heute ein Abend großer Wunder», murmelt Petrus achselzuckend, während er den
kleinen Anker hinabläßt, um das Boot anzuhalten. Es befindet sich so in der
Mitte eines Kreises von Booten, teils aus Kapharnaum, teils aus Magdala und
auch aus Tiberias. Letztere sind die der Römerinnen, die sich klugerweise
gegen die Seemitte zu, hinter denen von Kapharnaum, aufhalten.
Jesus wendet ihnen den Rücken zu.
Er schaut auf die Leute von Magdala, auf den großen, schattigen Garten der
Maria des Lazarus, und auf die in der Nacht weißlich schimmernden Häuser am
Ufer.
Das Wasser des Sees, das nun
nicht mehr von Bugen und Rudern bewegt wird, beruhigt sich: eine
Kristallplatte, von den ersten Strahlen des Mondes silbern gemasert und mit
Schuppen von Topasen oder auch Rubinen übersät, dort, wo sich das Feuer der
Fackeln oder die Flammen der Laternen an den Bugen der Boote im See spiegeln.
Die Gesichter sehen eigenartig
aus im Kontrast zwischen den rotgelben Lichtern und dem Mondschein. Die einen
sieht man sehr deutlich, andere erkennt man kaum; wieder andere scheinen der
Länge oder der Breite nach in zwei geteilt zu sein; bald ist nur die Stirn,
bald nur das Kinn sichtbar, eine Wange oder nur eine Gesichtshälfte, die sich
in scharfem Profil abhebt, als ob die andere Hälfte nicht existierte. Die
Augen der einen leuchten, während andere nur leere Augenhöhlen zu haben
scheinen. Die Mundpartien formen sich hier zu einem frohen Lächeln, das durch
die strahlenden Zähne unterstrichen wird; dort hingegen scheinen sie ganz in
den überschatteten Gesichtern zu verschwinden.
Damit nun aber alle Jesus sehen
können, reicht man von den Booten aus Kapharnaum und Magdala Fackeln und
Laternen herüber, die zu seinen Füßen aufgestellt oder an unbenutzten Rudern,
am Bug und am Heck und sogar bündelweise am Mastbaum, dessen Segel eingezogen
sind, aufgehängt werden. So erstrahlt das Boot Jesu in einem Kreis von Barken,
die nunmehr ohne Licht sind, und Jesus selbst ist von allen Seiten beleuchtet
und gut zu sehen. Nur die römischen Boote verbreiten noch den rötlichen Schein
ihrer Fackeln, die in der leichten Brise flackern.
«Der Friede sei mit euch!»
beginnt Jesus, indem er aufsteht und trotz des leichten Schwankens der Barke
ganz ruhig dasteht und die Arme zum Segen erhebt. Dann spricht er langsam
weiter, um von allen gut verstanden zu werden, und die Stimme breitet sich
mächtig und harmonisch über den stillen See aus.
«Soeben hat mir einer meiner
Apostel ein Gleichnis vorgeschlagen, das ich nun euch vortragen möchte, denn
es kann allen nützlich sein, zumal ihr alle es verstehen könnt. Hört also.
102
Ein Mann, der an einem
friedlichen Abend wie dem heutigen auf dem See fuhr, meinte in seiner
Selbstsicherheit, ohne Fehler zu sein. Er war sehr erfahren im Umgang mit
Booten, und so glaubte er sich allen überlegen, denen er auf dem Wasser
begegnete. Viele segelten zum Vergnügen und hatten daher nicht die Erfahrung,
die man erwirbt, wenn man auf dem Wasser seinen Lebensunterhalt verdient.
Außerdem war dieser Mann ein guter Israelit und deshalb überzeugt, im Besitz
aller Tugenden zu sein. Schließlich war er auch wirklich ein guter Mensch.
Eines Abends nun, da er sicher
auf dem See dahinfuhr, erlaubte er sich verurteilende Bemerkungen über seinen
Nächsten. Dieser Nächste hatte seiner Meinung nach so wenig mit ihm zu tun,
daß er ihn nicht einmal als seinen Nächsten betrachten konnte. Weder
Nationalität, noch Beruf noch Glaube verband sie, und da ihn also weder
nationale, noch religiöse noch berufliche Solidarität zurückhielt, lachte er
ihn aus, verspottete ihn, und wurde so ungehalten in seinem Spott, daß er sich
beklagte, nicht Besitzer des Sees zu sein, um diesen Nächsten verjagen zu
können. Und in seinem unnachgiebigen Glauben machte er beinahe dem
Allerhöchsten Vorwürfe, weil er diesen von ihm so verschiedenen Menschen
erlaubte, dort zu sein und zu leben, wo er selbst arbeitete und lebte.
In seinem Boot war ein Freund,
ein guter Freund, der ihn aufrichtig liebte und ihn deshalb weise sehen
wollte, und der ihn auch gelegentlich zurechtwies, um ihn von falschen
Gedanken abzubringen. An diesem Abend sagte der Freund zum Bootsmann: "Weshalb
hegst du solche Gedanken? Haben die Menschen nicht alle ein und denselben
Vater? Ist nicht er der Herr des Weltalls? Scheint nicht seine Sonne für alle
Menschen, um sie zu wärmen, und benetzen nicht seine Wolken die Felder der
Heiden genauso wie die der Hebräer? Wenn er also hinsichtlich der materiellen
Bedürfnisse der Menschen so handelt, wird er dann nicht dieselbe Vorsehung
bezüglich ihrer geistigen Bedürfnisse walten lassen? Willst du vielleicht Gott
einen Rat geben, was er zu tun hat? Wer ist wie Gott?"
Der Mann war gut. Seinem harten
Urteil lagen viel Unwissenheit und viele falschen Ideen zugrunde, aber nicht
etwa böser Wille. Er wollte Gott nicht beleidigen, sondern vielmehr seine
Interessen verteidigen. Als er diese Worte hörte, warf er sich zu den Füßen
des weisen Mannes nieder und bat ihn um Verzeihung, daß er so töricht geredet
hatte. Er bat ihn so inständig, daß es beinahe zu einem Unglück gekommen wäre.
Fast wäre das Boot untergegangen mit allen, die darin waren, denn in seinem
Eifer, um Verzeihung zu bitten, kümmerte er sich weder um das Steuer noch um
die Segel noch um die Strömung. Daher beging er nach dem ersten Fehler des
ungerechten Urteils auch noch den zweiten des Fehlmanövers und bewies sich
selbst, daß er nicht nur ein schlechter Richter, sondern auch ein
ungeschickter Seemann war.
Das ist das Gleichnis.
103
Nun hört. Was glaubt ihr: ... hat
Gott diesem Menschen verziehen oder nicht? Bedenkt: er hatte gegen Gott und
den Nächsten gefehlt, indem er die Handlungen beider rügte und wäre beinahe
zum Mörder seiner Gefährten geworden. Denkt nach und antwortet mir dann ...»
Jesus verschränkt die Arme vor der Brust und läßt seine Blicke über alle Boote
schweifen bis hin zu den entferntesten, den römischen, auf denen eine ganze
Reihe aufmerksamer Gesichter von Patriziern und Ruderern zu sehen ist.
Die Leute sprechen miteinander
und beraten sich... Ein kaum wahrnehmbares Geflüster verschmilzt mit dem
leisen Gemurmel des gegen die Schiffswände plätschernden Wassers. Es ist
schwer, eine Entscheidung zu fällen. Die meisten sind jedoch der Meinung, daß
dem Mann nicht verziehen worden ist, weil er gesündigt hat, oder wenigstens,
daß ihm die erste Sünde nicht vergeben worden ist.
Jesus bemerkt das Anwachsen des
Gemurmels in diesem Sinne und lächelt mit seinen wunderschönen Augen, die auch
im Mondschein wie Saphire leuchten. Der Mond wird immer schöner und heller, so
daß viele daran denken, die Fackeln und Laternen zu löschen, um nur noch das
phosphoreszierende Licht des Mondes als Leuchte zu haben.
«Lösche auch diese Laternen aus,
Simon. Sie sind wie armselige Funken im Vergleich zu den Sternen und Planeten,
die diesen Himmel schmücken», sagt Jesus zu Petrus, der auf das Urteil der
Versammelten wartet. Jesus liebkost ihn, seinen Apostel, während dieser sich
ausstreckt, um die Laternen vom Mast zu lösen, und fragt ihn leise: «Warum
diese verwirrten Augen?»
«Weil du mich dieses Mal vom
Volke richten läßt...»
«Oh! Warum, fürchtest du es?»
«Weil es, wie ich... ungerecht
ist.»
«Aber Gott ist es doch, der
richtet, Simon!»
«Ja. Aber du hast mir noch nicht
verziehen, und jetzt wartest du ihr Urteil ab, um es zu tun... Du hast recht,
Meister... Ich bin unverbesserlich... Aber warum verhängst du über deinen
armen Simon dieses Gottesgericht?»
Jesus legt ihm die Hand auf die
Schulter, und er hat keine Mühe, es zu tun, denn Petrus steht unten im Boot,
während er selbst aufrecht auf dem Brett des Bugs, also hoch über ihm steht,
und lächelt... antwortet ihm aber nicht. Er fragt vielmehr das Volk: «Nun?
Sagt es laut. Boot für Boot.»
Ach, armer Petrus! Wenn Gott nach
der Meinung der hier Anwesenden geurteilt hätte, dann hätte er ihn verdammt.
Mit Ausnahme von drei Booten verdammen ihn alle, die der Apostel mit
eingerechnet. Die Römerinnen sagen nichts und werden auch nicht gefragt; aber
man sieht, daß auch sie den Mann für schuldig halten, denn von einem Boot zum
anderen (es sind ihrer drei) zeigen sie mit den Daumen nach unten.
104
Petrus erhebt seine großen
erschreckten Augen zum Antlitz Jesu und begegnet einem noch viel sanfteren
Blick aus den friedlichen Saphir Augen. Er sieht ein vor Liebe strahlendes
Antlitz, das sich über ihn neigt, und fühlt sich an die Seite Jesu gezogen, so
daß sein graues Haupt sich an Jesu Herz lehnt, während der Arm des Meisters
sich um seine Schultern legt.
«So urteilt der Mensch. Aber so
urteilt nicht Gott, meine Kinder! Ihr sagt: "Es wird ihm nicht verziehen
worden sein." Ich sage: "Der Herr sah in ihm nicht einmal etwas, was er zu
verzeihen gehabt hätte", denn Verzeihung setzt Schuld voraus. Hier aber lag
keine Schuld vor. Nein, murrt nicht und schüttelt nicht den Kopf! Ich
wiederhole: Hier lag keine Schuld vor.
Wann kommt eine Schuld zustande?
Wenn der Wille zu sündigen da ist, das Bewußtsein zu sündigen; wenn die Tat
als Sünde erkannt und dennoch begangen wird. Alles hängt vom Willen ab, mit
dem man etwas tut, ob es sich nun um eine gute oder eine schlechte Tat
handelt. Wenn jemand nach außen hin eine gute Tat vollbringt, selbst aber vom
Gegenteil überzeugt ist, dann begeht er eine Sünde, gerade so, als wenn er
etwas Schlechtes getan hätte. Dasselbe gilt auch umgekehrt.
Hört dieses Beispiel: Jemand hat
einen Feind, von dem er weiß, daß er krank ist. Er weiß, daß er auf Verordnung
des Arztes kein kaltes Wasser trinken darf, ja, daß er überhaupt keine
Flüssigkeit zu sich nehmen darf. Indem er Liebe vorgibt, besucht er ihn. Er
hört ihn seufzen: "Ich habe Durst! Ich habe Durst!" Mitleid vortäuschend
reicht er ihm eiskaltes Brunnenwasser mit den Worten: "Trink, mein Freund. Ich
liebe dich und kann dich nicht Durst leiden sehen. Sieh, ich habe dir eigens
dieses frische Wasser gebracht. Trink, trink, denn ein großer Lohn wird denen
zuteil, die dem Kranken beistehen und dem Dürstenden zu trinken geben." Doch
durch diesen Trunk verursacht er seinen Tod. Glaubt ihr, daß diese Tat, die an
sich gut ist, weil sie ein zweifacher Ausdruck der Barmherzigkeit ist, auch in
diesem Fall gelobt werden kann, wo eine schlechte Absicht vorliegt? Nein, sie
ist nicht gut.
Und weiter: Wenn ein Sohn einen
Vater hat, der ein Trinker ist, und, um ihn vor dem Tod zu retten, den Keller
verschließt, dem Vater das Geld wegnimmt und ihm ernstlich zuredet, nicht ins
Dorf zu gehen und sich nicht durch den Wein zu verderben, glaubt ihr, daß
dieser Sohn dann gegen das vierte Gebot fehlt, nur weil er den Vater
zurechtweist, als ob er selbst das Familienoberhaupt wäre? Nur scheinbar läßt
er seinen Vater leiden und nur scheinbar ist er schuldig. In Wirklichkeit ist
er ein guter Sohn, weil seine Absicht gut ist und er den Vater vor dem Tod
retten will. Es ist immer der Wille, der einer Handlung ihren sittlichen Wert
verleiht.
Und weiter: Ist ein Soldat, der
im Krieg einen Feind tötet, ein Mörder? Nein, wenn sein Geist mit dem Mord
nicht einverstanden ist und er nur
105
kämpft, weil er dazu gezwungen
ist und dabei das Minimum an Menschlichkeit walten läßt, das ihm das harte
Kriegsgesetz als Untergeordnetem erlaubt, dann nicht.
Daher beging jener Bootsmann, der
in guter Absicht als Gläubiger, Patriot und Fischer die nicht ertrug, die er
für Gesetzesschänder hielt, keine Sünde gegen die Nächstenliebe. Er hatte nur
eine falsche Vorstellung von Nächstenliebe. Er fehlte auch nicht gegen die
Ehrfurcht vor Gott; denn der Unwille gegen Gott entsprang der guten, aber
unerleuchteten Seele eines Gläubigen. Auch hätte er schließlich keinen Mord
begangen, da das Fehlmanöver durch den guten Willen, um Verzeihung zu bitten,
zustande kam.
Wißt immer zu unterscheiden. Gott
ist mehr Barmherzigkeit als Strenge. Gott ist gut. Gott ist Vater. Gott ist
Liebe. Dieses ist der wahre Gott, und der wahre Gott öffnet allen sein Herz
und spricht: "Kommt" ' und alle weist er auf sein Reich hin. Es steht ihm
frei, so zu handeln, denn er ist der einzige Herr, der universale Herrscher,
der Schöpfer, der Ewige.
Ich bitte euch, euch von Israel,
seid gerecht! Erinnert euch an diese Dinge. Laßt es nicht so weit kommen, daß
diejenigen, die ihr für unrein haltet, sie verstehen, während sie für euch
unbegreiflich bleiben. Auch die übertriebene und ungeordnete Liebe zu Religion
und Vaterland ist Sünde, denn sie wird zum Egoismus; und der Egoismus ist
immer Grund und Ursache der Sünde.
Ja, Selbstsucht ist Sünde, denn
sie sät im Herzen bösen Willen, der aufsässig gegen Gott und seine Gebote
werden läßt. Der Geist des Selbstsüchtigen sieht Gott und seine Wahrheiten
nicht mehr klar. Der Rauch des stolzen Egoismus verdunkelt die Wahrheit, und
in diesem Nebel gerät der Geist, der das klare Licht der Wahrheit nicht mehr
sieht wie früher, als er noch nicht hochmütig war, in den Wirbel der "Warum".
Von den "Warum" geht er über zum Zweifel, und vom Zweifel zum Verlust nicht
nur der Liebe des Vertrauens auf Gott und seine Gerechtigkeit, sondern auch
der Furcht vor Gott und seiner Strafe. Daraus folgt die Leichtigkeit zu
sündigen und aus der Leichtigkeit zu sündigen die Einsamkeit der Seele, die
sich von Gott abwendet, sich nicht mehr vom Willen Gottes führen läßt und so
dem Gesetz ihres eigenen Willens zur Sünde verfällt. Oh! Eine schlimme Kette
ist der Wille des Sünders. Das eine Ende liegt in der Hand Satans und das
andere hält den Fuß des Menschen fest, wie eine schwere Kugel, die ihn in
Schmutz und Finsternis versklavt.
Kann der Mensch sich dann noch
enthalten, schwer zu sündigen? Kann er die Sünden vermeiden, wenn nur noch
böser Wille in ihm ist? Dann und nur dann verzeiht Gott nicht mehr. Wenn aber
der Mensch noch guten Willen hat und somit spontan tugendhafte Taten
vollbringt, wird er schließlich sicher zur Wahrheit gelangen; denn der gute
Wille führt zu Gott, und Gott, der Allerhöchste Vater, neigt sich liebevoll,
mitleidig und
106
nachsichtig über seine Kinder, um
sie zu segnen und ihnen zu verzeihen, wenn sie guten Willens sind.
Daher fand der Bootsmann so viel
Liebe; denn da er nicht sündigen wollte, hatte er auch nicht gesündigt.
Begebt euch nun in Frieden zu
euren Häusern. Die Sterne haben bereits den ganzen Himmel bedeckt, und der
Mond kleidet die Welt in Reinheit. Geht hin, gehorsam wie die Sterne, und
werdet rein wie der Mond, denn Gott liebt die Gehorsamen und die reinen
Geistes sind und segnet jene, die in alle ihre Handlungen den guten Willen
legen, Gott und die Brüder zu lieben und zur Ehre Gottes und zu ihrem Nutzen
zu arbeiten.
Der Friede sei mit euch!»
Jesus öffnet wiederum seine Arme
zum Segen, während der Kreis der Boote größer wird und sich auflöst und ein
jeder seine Richtung einschlägt.
Petrus ist so glücklich, daß er
gar nicht daran denkt, sein Boot in Bewegung zu setzen.
Matthäus schüttelt ihn: «Willst
du nicht die Segel setzen, Simon? Ich verstehe wenig davon...»
«Es ist wahr... Oh, mein Meister!
Du hast mich also nicht verurteilt?! Und ich hatte es so sehr befürchtet ...»
«Fürchte dich nicht, Simon des
Jonas. Ich habe dich angenommen, um dich zu retten, nicht um dich zu
verlieren. Ich habe dich deines guten Willens wegen angenommen ... Auf! Nimm
das Steuer in die Hand. Schau auf den Polarstern und fahre zuversichtlich,
Simon des Jonas. Immer zuversichtlich... auf all deinen Fahrten... Gott, dein
Jesus, wird immer an deiner Seite stehen, am Bug deines geistigen Schiffes,
und wird dich immer verstehen, Simon des Jonas. Hörst du? Immer. Er wird dir
nie etwas zu verzeihen haben; denn selbst wenn du wie ein schwaches Kind
fallen würdest, geschähe dies nicht aus Mangel an gutem Willen... Sei
zufrieden, Simon des Jonas.»
Petrus nickt immer wieder. Er ist
zu gerührt, um sprechen zu können, überwältigt von Liebe. Seine Hand zittert
ein wenig am Steuer, aber sein Gesicht strahlt vor Frieden, Sicherheit und
Liebe, während er zu seinem Meister aufschaut, der aufrecht an seiner Seite
steht, am Rande des Bootes, wie ein leuchtender Erzengel.
107
498. EPISODE IN KAPHARNAUM; JESUS
BESCHÜTZER DER KINDER
«Nehmt Mundvorrat und
Kleidungsstücke für mehrere Tage mit. Wir gehen nach Hippos und von dort nach
Gamala und Apheca. Dann gehen wir nach Gergesa hinunter und kehren vor dem
Sabbat hierher zurück», gebietet Jesus, der auf der Schwelle des Hauses steht
und mechanisch die Kinder von Kapharnaum liebkost, die gekommen sind, um ihren
guten Freund zu grüßen, da die sinkende Sonne nicht mehr so unbarmherzig vom
Himmel herniederbrennt und es erlaubt, die Häuser zu verlassen. Jesus ist
einer der ersten in der kleinen Stadt, die nach den Sonnenstunden in die
drückende Schwüle hinaustreten.
Die Apostel scheinen nicht
besonders begeistert zu sein über den erhaltenen Befehl. Sie schauen sich
gegenseitig an und blicken zur Sonne, die immer noch so stark brennt. Sie
berühren die noch heißen Hausmauern, prüfen mit ihren nackten Füßen die
Temperatur des Bodens und bemerken: «Er ist so heiß wie ein Backstein im
Ofen.» Mit diesem ganzen Gebärdenspiel wollen sie sagen, daß es ein Wahnsinn
ist, sich bei diesem Wetter auf den Weg zu machen... Jesus entfernt sich von
dem Türpfosten, an den er sich ein wenig angelehnt hatte, und sagt: «Wer nicht
mitkommen will, soll hierbleiben. Ich zwinge niemanden, aber ich will diese
Gegend nicht verlassen, ohne daß sie mein Wort gehört hat.»
«Meister... was sagst du da?! Wir
kommen alle mit... Nur... schien es uns noch zu früh zu sein, um aufzubrechen
...»
«Vor dem Laubhüttenfest will ich
in den Norden gehen; in viel entferntere Gegenden also, die man nicht mit dem
Boot erreichen kann. Deshalb müssen wir jetzt die Ortschaften hier aufsuchen,
da uns durch den See eine große Wegstrecke erspart bleibt.»
«Du hast recht. Ich gehe und
richte die Boote her...» und Simon des Jonas entfernt sich mit seinem Bruder,
den beiden Söhnen des Zebedäus und einigen Jüngern, um alles für die Abreise
vorzubereiten.
Jesus bleibt mit dem Zeloten, den
Vettern, mit Matthäus, Iskariot, Thomas und den Unzertrennlichen, Philippus
und Bartholomäus, die ihre Reisetaschen vorbereiten und die Feldflaschen
füllen, zurück. Sie sorgen für Brot, Früchte und alles, was sonst noch nötig
ist.
Ein kleiner Wildfang wimmert zu
Füßen Jesu.
«Warum weinst du, Alphäus», fragt
Jesus, indem er sich niederbeugt und ihn küßt.
Keine Antwort... nur noch
lauteres Wimmern.
«Er hat das Obst gesehen und will
davon haben», sagt Iskariot ärgerlich.
«Oh, du Armer! Du hast recht. Man
darf den Kindern gewisse Dinge nicht zeigen, ohne ihnen etwas davon zu geben.
Nimm, Kind. Weine
108
nicht!» sagt Maria des Alphäus
und löst eine goldene Traube von einem Rebschößling, den sie samt den Blättern
in einen Korb gelegt hatte.
«Ich will keine Trauben...» und
er weint noch stärker als zuvor.
«Er will sicher Honigwasser»,
sagt Thomas und bietet ihm seine Feldflasche an mit den Worten: «Das schmeckt
den Kindern und tut ihnen gut. Auch meine kleinen Neffen ...»
«Ich will dein Wasser nicht...»
und das Weinen nimmt an Heftigkeit und Lautstärke zu.
«Aber was willst du denn dann?»
fragt ernst und etwas verärgert Judas des Alphäus.
«Zwei Ohrfeigen will er, das ist
es!» sagt Iskariot.
«Warum? Das arme Kind!» fragt
Matthäus.
«Weil es so lästig ist.»
«Oh, wenn man alle ohrfeigen
wollte, die einem lästig werden, würde man sein ganzes Leben damit
verbringen», sagt Thomas ruhig und gelassen.
«Er fühlt sich vielleicht nicht
wohl. Obst und Wasser, Wasser und Obst... das gibt Bauchweh», meint Maria
Salome, die unter den Jüngerinnen ist.
«Für diesen da wäre es schon
viel, wenn er Brot, Wasser und Obst essen könnte... Sie sind so arm!» sagt
Matthäus, der durch seine Erfahrung als Steuereinnehmer die finanziellen
Verhältnisse in Kapharnaum gut kennt.
«Was hast du, Knäblein? Tut dir
etwas weh? ... Und doch hat er kein Fieber ...» sagt Maria des Kleophas, die
sich neben den Kleinen hingekniet hat.
«Aber Mutter! Es ist nur
Eigensinn! ... Siehst du es nicht? Du verwöhnst alle.»
«Ich habe dich nicht verwöhnt,
mein Judas. Ich habe dich geliebt. Und hat es dir nicht gutgetan, daß ich dir
Liebe erwiesen und dich sogar vor der Strenge des Alphäus beschützt habe? ...»
«Es ist wahr, Mutter... Ich habe
dich zu unrecht getadelt.»
«Nichts für ungut, mein Sohn.
Aber wenn du Apostel sein willst, dann mußt du für die Gläubigen das Herz
einer Mutter haben. Sie sind wie Kinder, weißt du? Und man muß die Geduld der
Liebe mit ihnen haben ...»
«Das hast du gut gesagt, Maria!»
lobt sie Jesus.
«Wir kommen noch soweit, daß wir
von den Frauen unterrichtet werden», brummt Judas Iskariot, «und vielleicht
sogar von den Heidinnen...»
«Ohne Zweifel! Wenn ihr so
bleibt, wie ihr jetzt seid, werden sie euch in vielem übertreffen, und dich
mehr als alle anderen, Judas. Du wirst gewiß von allen überflügelt werden, von
den Kleinen, von den Bettlern, von den Unwissenden, von den Frauen, von den
Heiden ...»
«DU könntest ja auch sagen, daß
ich der Abschaum der Welt bin, so ginge es schneller», erwidert Judas mit
einem bitteren Lachen.
109
«Die anderen kommen schon
zurück... Es muß wohl Zeit zur Abfahrt sein, oder?» sagt Bartholomäus, um die
Szene zu beenden, unter der viele leiden, alle auf verschiedene Art.
Das Weinen des Knaben hat seinen
Höhepunkt erreicht.
«Aber nun Schluß! Was willst du?
Was hast du?» fährt Judas Iskariot ihn an und schüttelt ihn grob, um ihn von
den Knien Jesu loszureißen, an die sich das Kind geklammert hat, und vor
allem, um seinen Unmut an dem unschuldigen Kleinen auszulassen.
«Mit dir! Mit dir! ... Du gehst
fort... und ich bekomme Schläge, Schläge, Schläge ...»
«Ah... Oh! Armes Kind! Es ist
wahr! Seit ihrer Wiederverheiratung behandelt die Frau die Kinder ihres ersten
Mannes wie Bettelkinder... als ob sie nicht ihre eigenen Kinder wären... Sie
schickt sie herum zum Betteln und hat kein Brot für sie...» sagt die Frau des
Hausherrn, die anscheinend die Sachlage kennt, und schließt mit den Worten:
«Jemand sollte diese drei Verlassenen als seine eigenen Kinder aufnehmen ...»
«Sag das nicht dem Simon des
Jonas, Frau. Du würdest dich verhaßt machen bei seiner Schwiegermutter, die
ohnehin schon über ihn verärgert ist und über uns alle. Auch heute morgen hat
sie wieder Simon, Margziam
und mich, der ich gerade bei
ihnen war, beschimpft», sagt Matthäus.
«Ich werde es Simon nicht
sagen... aber es ist so ...»
«Und du würdest sie nicht zu dir
nehmen? Du hast doch keine eigenen Kinder ...» sagt Jesus und schaut sie dabei
fest an.
«Ich ... Oh! Es würde mir
gefallen... Aber wir sind arm... und dann... Thomas ... er hat Neffen... und
auch ich... und... und...»
«Und vor allem fehlt dir der
Wille, deinesgleichen Wohltaten zu erweisen... Frau, du hast gestern die
Pharisäer der Hartherzigkeit bezichtigt du hast die Mitbürger kritisiert, weil
sie nicht auf mein Wort hören. Aber du, die du mich jetzt schon seit über zwei
Jahren kennst, handelst du etwa anders?»
Die Frau läßt den Kopf sinken und
zupft an ihren Kleidern herum, aber sie sagt kein Wort zugunsten des Kleinen,
der immer noch weint.
«Wir sind fertig, Meister», ruft
Petrus, der gerade ankommt.
«Oh! Arm sein! ... Und verfolgt
werden! ...» seufzt Jesus, indem er die Hände erhebt und sie traurig
schüttelt.
«Mein Sohn! ...» tröstet ihn
Maria, die bis jetzt geschwiegen hat. Doch diese Worte genügen, um Jesus zu
trösten.
«Geht ihr mit dem Proviant
voraus. Ich gehe inzwischen mit meine Mutter zum Haus des Knaben», sagt Jesus
zu den Anwesenden und zu denen, die gerade neu hinzukommen, und macht sich mit
seiner Mutter die das Kind auf den Arm genommen hat, auf den Weg...
Sie gehen auf die Felder zu.
«Was wirst du ihr sagen, mein
Sohn?»
110
«Mutter, was soll ich einer
Mutter sagen, die nicht einmal ihre eigenen Kinder liebt?»
«Du hast recht... Also?»
«Also, beten wir, meine Mutter.»
Sie gehen betend weiter.
Eine Alte fragt sie: «Bringt ihr
Alphäus zu Meroba? Sagt ihr, daß es an der Zeit wäre, sich seiner anzunehmen.
Die Kinder müssen ja praktisch zu Dieben werden ... und wo sie hinkommen, sind
sie wie die Heuschrecken ... Aber ich bin böse auf sie, nicht etwa auf die
drei armseligen Kinder! ... Oh, wie ungerecht ist doch der Tod! Hätte er nicht
Jakob verschonen und sie sterben lassen können? Du solltest sie sterben
lassen, so...»
«Frau, du bist schon so alt und
immer noch nicht weise, und solche Reden führst du, du, die du selbst jeden
Augenblick sterben könntest? Wahrlich, du bist ebenso ungerecht wie Meroba.
Bereue und sündige nicht mehr.»
«Verzeih, Meister... Ihre Bosheit
nimmt mir den Verstand ...»
«Ja, ich verzeihe dir. Aber sage
das nie mehr, nicht einmal in deinem Innern. Fehler lassen sich nicht mit
Verwünschungen wiedergutmachen, sondern nur mit Liebe. Wenn Meroba sterben
würde, hätten diese Kinder dann ein besseres Los? Der Witwer würde sich dann
vielleicht eine andere Frau nehmen und hätte Söhne aus einem dritten
Ehebett... und diese Kinder hätten eine Stiefmutter, also ein noch schlimmeres
Los.»
«Das ist wahr. Ich bin alt und
töricht. Sieh, da kommt Meroba. Sie fängt schon an zu fluchen... Ich verlasse
dich, Meister. Ich will nicht, daß sie denkt, ich hätte mit dir gesprochen.
Sie ist eine Viper ...»
Aber die Neugierde ist stärker
als die Furcht vor der "Viper", und die kleine Alte entfernt sich zwar ein
wenig von Jesus und Maria, aber nicht allzuweit. Sie bückt sich und beginnt
frisches Gras am Wegrand abzureißen, das hier, nahe bei einer Quelle, sehr
feucht ist. So kann sie unauffällig zuhören.
«Da bist du? Was hast du
angestellt? Nach Haus! Immer auf den Straßen wie räudige Tiere, wie herrenlose
Hunde, wie ...»
«Wie Kinder ohne Mutter. Frau, du
weißt, daß es ein schlechtes Zeugnis für eine Mutter ist, wenn die Kinder sich
nicht um sie scharen.»
«Das kommt daher, daß sie böse
sind...»
«Nein, ich komme schon seit
dreißig Monaten hierher. Früher, als Jakob noch lebte und in den ersten
Monaten deiner Witwenschaft, war es nicht so. Dann hast du einen anderen Mann
genommen, und mit dem Andenken an deine erste Ehe hast du auch deine Kinder
vergessen. Aber worin sind sie denn verschieden von dem, was jetzt in deinem
Schoß heranwächst? Hast du nicht auch diese so getragen? Hast du sie
vielleicht nicht mit deiner Milch genährt? Schau da die Taube... Wie sehr
sorgt sie sich um ihre Kleinen... und doch brütet sie schon andere Eier aus...
Sieh dieses
111
Mutterschaf. Es nährt nicht mehr
das Schäflein des vorigen Wurfes, denn es ist wieder trächtig, und doch,
schau, wie es ihm das Mäulchen leck und sich von dem lebhaften Lämmlein in die
Seite stoßen läßt! Antwortest du mir nicht? Frau, betest du zum Herrn?»
«Gewiß. Ich bin keine Heidin...»
«Aber wie kannst du zum gerechten
Herrn sprechen, wenn du ungerecht bist? Und wie kannst du in die Synagoge
gehen und dir die Lesung der Buchrollen anhören, wenn in ihnen von der Liebe
Gottes zu seinen Kindern die Rede ist, ohne daß du Gewissensbisse in deinem
Herzen verspürst? Warum schweigst du so hartnäckig?»
«Weil ich dich nicht um deine
Worte gebeten habe... und nicht weiß warum du kommst, mich zu stören... Mein
Zustand verdient Rücksichtnahme...»
«Und der deiner Seele nicht?
Warum nimmst du keine Rücksicht au die Rechte deiner Seele? Ich weiß, was du
mir sagen willst: daß ein Zornesausbruch das Leben deines künftigen Kindes in
Gefahr bringen könnte... Aber um das Leben deiner Seele bist du nicht in
Sorge? Es ist kost barer als das deines künftigen Kindes... Du weißt es, die
Schwangerschaft könnte mit deinem Tode enden. Willst du dieser Stunde mit
einer verwirrten, kranken, ungerechten Seele entgegensehen?»
«Mein Mann sagt mir, du seiest
einer, auf den man nicht hören soll. Ich höre nicht auf dich. Komm,
Alphäus...» Sie will umdrehen, begleitet von Geschrei des Kindes, das schon
weiß, daß es wieder Schläge zu erwarte hat. Es will Maria nicht loslassen, die
seufzend versucht, die Frau zu über reden und sich ihr zuwendet: «Ich bin auch
Mutter, ich kann so vieles verstehen. Und ich bin eine Frau... und verstehe
das Leid der Frau. D machst jetzt eine schlechte Zeit durch, nicht wahr? Du
leidest, bist aber nicht imstande das Leid zu ertragen... Deshalb bist du
leicht reizbar. Meine Schwester, höre mich an! Wenn ich dir jetzt den kleinen
Alphäus gebe würde, würdest du dir und ihm Unrecht zufügen. Willst du ihn mir
nicht für einige Tage überlassen? Du wirst sehen, daß du, wenn du ihn nicht
mehr bei dir hast, dich nach ihm sehnen wirst... denn ein Sohn ist etwa so
Liebes, daß wir uns arm, kalt und ohne Licht fühlen, wenn er von und geht...»
«Nimm ihn nur! Nimm ihn!
Meinetwegen kannst du auch die beide anderen haben. Aber ich weiß nicht, wo
sie sind ...»
«Ich nehme ihn, ja. Leb wohl,
Frau. Komm, Jesus!» Maria wendet sie eilig um und entfernt sich schluchzend...
«Weine nicht, Mutter!»
«Verurteile sie nicht, mein
Sohn!»
Die beiden Sätze so voller
Barmherzigkeit kreuzen sich, und dann öffnen sich die Lippen beider, um ein
und denselben Gedanken auszusprechen: «Wenn sie nicht die natürliche Liebe
verstehen, werden sie dann
112
die Liebe verstehen, die in der
Frohen Botschaft enthalten ist?» Sie schauen sich an, dieser Sohn und diese
Mutter, über dem Köpfchen des Unschuldigen, der sich vertrauensvoll und
glücklich in die Arme Marias schmiegt.
«Wir werden einen Jünger mehr
haben als vorgesehen war, Mutter.»
«Er wird jetzt Tage des Friedens
genießen...»
«Habt ihr's gesehen? Taub ist sie
wie eine Zimbel ohne Boden. Ich habe es euch ja gesagt! Und nun? Und dann?
...»
«Und nun ist Friede, und Gott
möge gewähren, daß ein Herz sich erbarmt... Warum nicht das deine, Frau? Jeder
Becher Wasser, aus Liebe gereicht, wird im Himmel angerechnet werden. Wer aber
ein unschuldiges Kind liebt um meinetwillen... Oh! Welche Seligkeit für jene,
die die Kleinen lieben und sie vor dem Bösen retten! ...»
Die Alte steht da, in Gedanken
versunken... und Jesus geht auf einem Abkürzungsweg zum See. Dort angelangt,
nimmt er das Knäblein aus den Armen seiner Mutter, damit sie leichter das Boot
besteigen kann, und hält es so hoch wie möglich, damit alle es sehen können.
Er sagt denen, die schon im Boot sind, mit einem strahlenden Lächeln: «Schaut!
Diesmal werden wir eine fruchtbare Predigt halten können, denn ein
Unschuldiger ist bei uns.» Dann steigt er über das schwankende Brett ins Boot
und setzt sich neben seine Mutter, während das Boot vom Ufer abstößt und
sogleich nach Südosten auf Hippos zusteuert.
499. IN EINEM VORORT VON HIPPOS
Hippos liegt nicht am See, wie
ich glaubte, als ich die Häuser am Ufer, fast am Südostende des Sees sah. Ich
entnehme es den Worten der Jünger. Diese Häusergruppe ist, könnte man sagen,
ein Vorposten von Hippos, das weiter im Hinterland liegt. Wie Ostia für Rom
oder Lido für Venedig, stellt er den Zugang zum See für die eigentliche Stadt
dar, die über ihn auf dem Seeweg Waren ein- und ausführt und ihn auch benützt,
um den Weg von dieser Gegend zum gegenüberliegenden galiläischen Ufer
abzukürzen. Schließlich ist es auch eine Vergnügungsstätte für die Müßiggänger
der Stadt und der Ort, an dem sie sich mit dem Fisch, den die zahlreichen
Fischer des Fleckens beschaffen, versorgt.
Hier, wo sie an diesem ruhigen
Abend anlegen, in dem natürlichen, von einem nun ausgetrockneten Flußbett
gebildeten Hafen, in den jetzt die blauen Wellen des Sees einige Meter weit
sanft eindringen, da sie nicht mehr vom Wasser des Flusses zurückgetrieben
werden, liegen die Häuser und Häuschen der Gärtner und der Fischer. Letztere
ziehen aus dem fischreichen Gewässer ihren Gewinn. Erstere hingegen nützen den
durch
113
die Nähe des Wassers fruchtbaren
Streifen fetter Erde zwischen dem Strand und dem Hinterland, der sich
hauptsächlich nach Norden ausdehnt und im Süden dort endet, wo der hohe
Felsvorsprung beginnt, der steil zum See abfällt und von dem sich die Schweine
nach dem an den Gerasenern gewirkten Wunder hinabstürzten.
Zu dieser Stunde sitzen die
Bewohner auf den Terrassen oder in den Gärten, wo sie ihre Abendmahlzeit
einnehmen. Da die Gärten nur von niedrigen Hecken und die Terrassen von
niedrigen Mäuerchen umgeben sind, entdeckt man recht bald die kleine
Bootsflottille, die sich der Landungsstelle nähert. Einige erheben sich aus
Neugierde, andere, weil sie Jesus kennen, um den Ankömmlingen entgegenzueilen.
«Ich sehe das Boot des Simon des
Jonas zusammen mit dem des Zebedäus. Also kann es kein anderer sein als der
Rabbi, der mit seinen Jüngern hierher kommt», erklärt ein Fischer.
«Frau, nimm sofort den Knaben und
folge mir! Vielleicht ist er es. Er wird ihn heilen. Der Engel des Herrn führt
ihn zu uns», befiehlt ein Gärtner seiner Frau, deren Gesicht vom Weinen
gerötet ist.
«Ich glaube an ihn. Ich erinnere
mich jenes Wunders! Alle diese Schweine! Die Schweine, welche die Hitze der in
sie gefahrenen Dämonen im kühlen Wasser löschten... Es muß eine große Qual für
diese Tiere gewesen sein, wenn sie, die der Reinlichkeit so abgeneigt sind,
sich ins Wasser stürzten», sagt ein Mann, der herbeigeeilt ist und den Messias
preist.
«Ja, du sagst es. Gewiß muß es
eine Qual für sie gewesen sein. Auch ich war dabei und erinnere mich daran.
Die Leiber rauchten, das Wasser dampfte. Der See war heißer geworden als die
Quellen von Hamatha, und wo sie vorüberrannten, waren Busch und Gras
versengt.»
«Ich bin auch hingegangen, habe
aber keine Veränderung vorgefunden...» entgegnet ein dritter.
«Keine? Dann hast du wohl
Schuppen vor den Augen! Schau, man sieht es sogar von hier aus. Siehst du
dort? Dort, wo das trockene Flußbett ist? Schau ein wenig weiter hinüber und
sieh, ob ...»
«Aber nein. Diese Zerstörung
haben die römischen Soldaten angerichtet, als sie jenen Aufrührer in den
kalten Nächten des Tebet suchten. Sie haben dort ihr Lager aufgeschlagen und
Feuer gemacht.»
«Haben sie wohl einen ganzen Wald
angezündet, um Feuer zu machen? Sieh einmal, wie viele Bäume dort fehlen!»
«Einen Wald? Zwei oder drei
Eichen!»
«Das scheint dir wenig zu sein?»
«Nein. Aber man weiß ja, daß das,
was unser ist, für sie nur Streu ist. Sie sind die Herrscher und wir die
Unterdrückten. Ah! Wie lange wohl noch?» Das Gespräch geht vom Übernatürlichen
ins Politische über.
«Wer führt mich zum Rabbi? Habt
Erbarmen mit einem Blinden! Wo ist er? Sagt es mir. Ich habe ihn in Jerusalern
gesucht, in Nazareth, in
114
Kapharnaum, und immer war er
schon wieder abgereist, wenn ich ankam... Wo ist er? Oh! Habt Erbarmen mit
mir!» klagt ein ungefähr Vierzigjähriger, der mit einem Stab umhertastet.
Er erntet nur Schimpfworte von
denen, die er auf den Beinen oder am Rücken trifft. Aber keiner hat Mitleid
mit ihm. Alle drängen ihn beim Vorübergehen zur Seite, ohne daß auch nur ein
einziger die Hand ausstrecken würde, um ihn zu führen. Der arme Blinde bleibt
verängstigt und entmutigt stehen...
«Der Rabbi! Der Rabbi! Ahe-Ahe,
il il leee!» (Ich bemühe mich, den schrillen Freudenruf der Frauen zu
beschreiben. Es ist ein schriller Schrei, kein Wort, und gleicht eher einem
Vogelgekreisch als einem menschlichen Laut.)
«Er wird unsere Kinder segnen!»
«Sein Wort wird die Frucht in
meinem Schoße aufjubeln lassen. Freue dich, mein Kind! Der Erlöser spricht zu
dir», sagt eine blühende junge Frau, während sie ihren Schoß unter dem
lockeren Gewand streichelt.
«Oh! Vielleicht macht er den
meinigen fruchtbar! Das würde Freude und Frieden bringen zwischen mir und
Elisäus. Ich bin an alle Orte gegangen, von denen man sagt, daß die Frauen
dort die Fruchtbarkeit erlangen. Ich habe Wasser getrunken aus dem Brunnen
beim Grab der Rachel und aus dem Bach bei der Grotte, wo die Mutter ihn
gebar... Ich bin drei Tage lang nach Hebron gegangen, um Erde vom Geburtsort
des Täufers zu holen... Ich habe von den Früchten der Abrahamseiche gegessen,
geweint und Abel angerufen an dem Ort, an dem er geboren und erschlagen
wurde... Alle heiligen, alle wunderbaren Dinge des Himmels und der Erde habe
ich probiert, und Ärzte, Heilmittel, Gelübde, Gebete und Opfergaben... Aber
mein Schoß hat den Samen nicht aufgenommen, und Elisäus erträgt mich gerade
noch, enthält sich jedoch nur mit Mühe des Hasses! O weh!» seufzt eine ganz
abgehärmte Frau.
«Du bist doch schon alt, Sella!
Ergib dich in dein Schicksal!» sagen ihr halb mitleidig, halb verächtlich,
aber offensichtlich triumphierend jene, die mit schwangerem Mutterleib oder
mit dem Säugling an ihrer blühenden Brust vorübergehen.
«Nein, sagt das nicht! Er hat die
Toten auferweckt. Könnte er da nicht auch meine Eingeweide aufleben lassen?»
«Macht Platz! Platz für meine
kranke Mutter!» schreit ein Jüngling, der die Stangen einer improvisierten
Tragbahre hält, deren anderes Ende ein tiefbetrübtes Mädchen trägt. Auf der
Tragbahre liegt eine noch junge Frau, die aber zu einem gelblichen Skelett
abgemagert ist.
«Wir müssen ihm von dem
unglücklichen Johannes berichten und ihm den Ort zeigen, wo er sich aufhält.
Er ist der Unglücklichste von allen, denn er ist aussätzig und kann den
Meister nicht aufsuchen», sagt ein Stattlicher alter Mann.
115
«Erst wir! Erst wir! Wenn er nach
Hippos weitergeht, dann ist es aus. Die Städter nehmen ihn für sich in
Anspruch, und wir bleiben, wie immer, im Hintergrund.»
«Aber was ist denn los? Warum
schreien die Frauen dort am Ufer so?»
«Weil sie töricht sind.»
«Nein, es sind Freudenschreie.
Laufen wir!»
Der Weg verwandelt sich in einen
Strom von Menschen, der sich zu
Kiesstrand des Sees und des
Flusses bewegt, wo Jesus mit den Seinen von den zuerst Herbeigeeilten umringt
worden ist.
«Ein Wunder! Ein Wunder! Der Sohn
der Elisa, den die Ärzte aufgegeben haben, seht, er ist geheilt! Der Rabbi hat
ihn durch den Speichel geheilt, mit dem er seinen Gaumen berührt hat.» Die
«Ahe-Ahe, il il leee» der Frauen werden noch lauter und schriller, und laut
ertönen die Hosannarufe der Männer.
Jesus wird trotz seiner
hochgewachsenen Gestalt buchstäblich überwältigt. Die Apostel tun ihr Bestes,
um ihm Platz zu verschaffen, aber mit wenig Erfolg. Die Jüngerinnen, mit Maria
in ihrer Mitte, stehen abseits vor der apostolischen Gruppe. Das Knäblein in
den Armen der Maria des Alphäus weint verängstigt und sein Weinen lenkt die
Aufmerksamkeit vor vielen auf die Gruppe der Jüngerinnen; und, wie gewöhnlich,
ist ein gut Informierter da, der sagt: «Oh! Auch die Mutter des Rabbi und die
Mütter der Jünger sind hier!»
«Welche? Welche sind es?»
«Die Mutter ist die bleiche,
blonde Frau im Linnengewand, und die an deren sind die Alten, von denen die
eine das Kind auf dem Arm und die andere das Körbchen auf dem Kopf hat.»
«Und wer ist das Kind?»
«Ihr Sohn natürlich! Hört ihr
nicht, daß er sie Mutter nennt?»
«Der Sohn von wem? Von der Alten?
Das ist nicht möglich!»
«Von der Jungen. Siehst du nicht,
daß er zu ihr gehen will?»
«Nein. Der Rabbi hat keine
Brüder, das weiß ich sicher.»
Frauen hören zu, und während
Jesus mit Mühe die Bahre erreicht, au der die Kranke liegt, die von ihren
Kindern getragen wird, und sie heilt gehen sie neugierig auf Maria zu.
Aber eine ist nicht neugierig.
Sie wirft sich ihr zu Füßen mit den Worten: «Um deiner Mutterschaft willen
habe Erbarmen mit mir!» Es ist die Unfruchtbare.
Maria neigt sich zu ihr und fragt
sie: «Was willst du, Schwester?»
«Ich möchte Mutter werden...
einen Knaben haben... Nur einen... Ich werde gehaßt, weil ich unfruchtbar bin.
Ich glaube, daß dein Sohn alles vermag, und habe einen so großen Glauben an
ihn, daß ich denke, weil er aus dir geboren worden ist, wird er dich heilig
und mächtig gemacht haben wie er selbst es ist. Jetzt bitte ich dich... um
deiner Mutterfreude
116
willen bitte ich dich: Mache mich
fruchtbar. Berühre mich mit deiner Hand, und ich werde glücklich sein...»
«Dein Glaube ist groß, Frau. Aber
der Glaube muß auf den gerichtet sein, der ein Recht darauf hat: auf Gott.
Komm daher zu meinem Jesus...» Maria nimmt sie bei der Hand und bahnt sich mit
Anmut, aber bestimmt, einen Weg zu Jesus.
Die anderen Jüngerinnen folgen
ihr durch die Menge, und so auch die anderen Frauen, die zu Maria gekommen
sind. Letztere fragen Maria des Alphäus, wer der Kleine ist, den sie in den
Armen hält.
«Ein Kind, das von seiner Mutter
nicht mehr geliebt wird und beim Rabbi Liebe gesucht hat...»
«Ein Kind, das von seiner Mutter
verstoßen worden ist?!»
«Hast du gehört, Susanna?»
«Wer ist diese Hyäne?»
«Ach! Und ich leide so, weil ich
keines habe! Gib es mir, daß ich wenigstens einmal von einem Kindlein geküßt
werde ...» Und die unfruchtbare Sella reißt Maria des Alphäus das Knäblein
fast aus den Armen und drückt es an ihr Herz, während sie sich bemüht, Maria
zu folgen, die sie zurückgelassen hat in dem Augenblick, in dem sie Marias
Hand losgelassen hat, um den Kleinen zu nehmen.
«Jesus, hör zu. Da ist eine Frau,
die um Gnade bittet. Sie ist unfruchtbar ...»
«Störe den Meister nicht
ihretwegen, Frau. Ihr Schoß ist tot», sagt einer, der nicht weiß, daß er zur
Mutter Gottes spricht. Dann versucht er in seiner Beschämung über den Irrtum,
auf den er aufmerksam gemacht wird, zu verschwinden, während Jesus ihm und der
Bittenden zugleich antwortet: «Ich bin das Leben. Frau, es geschehe dir nach
deinem Wunsche.» Er legt für einen Augenblick seine Hände auf das Haupt der
Sella.
«Jesus, Sohn Davids, habe
Erbarmen mit mir!» schreit der Blinde von vorher, der langsam die Menge
erreicht hat und schon von weitem seinen Flehruf ausstößt. Jesus, der das
Haupt geneigt hat, um die Bitte der Sella anzuhören, erhebt nun sein Antlitz
und schaut in die Richtung, aus der die Stimme des Blinden ertönt, die sehr an
den Schrei eines Ertrinkenden erinnert.
«Was willst du, daß ich für dich
tue?» ruft Jesus.
«Ich möchte sehen. Ich bin in der
Finsternis.»
«Ich bin das Licht. Ich will es!»
«Ah! Ich sehe! Ich sehe wieder!
Laßt mich durch, auf daß ich die Füße meines Herrn küsse.»
«Meister, du hast hier alle
geheilt. Aber es ist da noch ein Aussätziger in einer Hütte im Wald. Er bittet
uns immerzu, dich zu ihm zu führen...»
«Gehen wir! Vorwärts! Laßt mich
gehen! Tut euch nicht weh! Ich bin für alle hier... Auf! Macht Platz. Ihr
verletzt die Frauen und die Kinder.
117
Ich gehe noch nicht fort. Ich
bleibe bis morgen, und dann werde ich mich fünf Tage in der Umgebung
aufhalten. Ihr könnt mir folgen, wenn ihr wollt ...»
Jesus versucht, das Volk zu
beruhigen, zu verhindern, daß die Leute sich wegen seines Kommens gegenseitig
wehtun. Aber diese Menschenmenge ist wie eine Gummimasse, die sich dehnt, um
sich gleich darauf wieder um ihn herum zusammenzuziehen; sie ist wie eine
Lawine, die nach dem Gesetz der Natur immer kompakter wird, je mehr sie sich
vorwärtsbewegt; sie ist wie Eisenteilchen, die vom Magnet angezogen werden...
deshalb kommt man nur langsam und mühsam voran... Alle schwitzen. Die Apostel
schreien, benützen ihre Ellbogen und treten mit ihren Füßen an die
Schienbeine, um sich einen Weg zu bahnen... Unnütz ist jede Gewaltanwendung!
Um zehn Meter zurückzulegen, braucht es eine Viertelstunde.
Einer Frau von etwa vierzig
Jahren gelingt es mit ihrer Beharrlichkeit, sich bis zu Jesus vorzudrängen und
ihn am Ellbogen zu berühren.
«Was willst du, Frau?»
«Dieses Kind... Ich habe
erfahren... Ich bin Witwe und habe keine Kinder... Erinnere dich meiner. Ich
bin Sara aus Apheca, die Witwe des Verkäufers von Strohmatten. Erinnere dich.
Ich habe ein Haus am Platz der Roten Quelle und auch einige Weinberge und
Wälder. Ich könnte einsamen Menschen helfen... und ich wäre glücklich...»
«Ich werde an dich denken, Frau.
Dein Erbarmen sei gesegnet.»
Die Ortschaft, die sich am Ufer
entlangzieht, aber nicht weit landeinwärts reicht, ist bald durchquert, und
eine sanfte, stille Flur in der sinkenden Abenddämmerung nimmt sie auf. Es
gibt keine nächtlichen Schatten, denn der Übergang vom Licht des Tages zur
mondhellen Nacht ist kaum wahrnehmbar. Sie erreichen die Ausläufer des hohen
Felsenriffs, das im Süden an den See grenzt. Höhlen, ich weiß nicht, ob
natürlichen Ursprungs oder von Menschenhand in den Stein gehauen, viele
zugemauert und von außen weiß getüncht, gewiß Gräber, befinden sich in dem
Felssprung.
«Da sind wir! Halten wir an, um
uns nicht zu verunreinigen. Wir sind hier in der Nähe des Grabes des
Lebendigen, und dies ist die Stunde, da er zu diesem Felsmassiv kommt, um die
Gaben abzuholen. Er war reich, weißt du? Wir erinnern uns noch daran. Er war
auch gut, aber jetzt ist er ein Heiliger. Je stärker das Leid ihn heimgesucht
hat, desto gerechter ist er geworden. Wir wissen nicht, wie alles gekommen
ist. Man sagt, er sei durch fremde Pilger angesteckt worden, die er beherbergt
hatte. Sie waren auf dem Weg nach Jerusalern, so sagten sie. Sie schienen
gesund zu sein. Aber es waren sicher Aussätzige. Tatsache ist, daß nach ihrem
Aufenthalt zuerst seine Frau und die Knechte, dann seine Kinder und zuletzt
auch er selbst vom Aussatz erfaßt wurden. Alle. Es begann an den Händen derer,
118
die die Füße und die Kleider der
Pilger gewaschen hatten; daher sagen wir, daß sie schuld an allem sind. Die
Kinder – es waren drei – sind sehr rasch gestorben. Dann starb die Frau, mehr
aus Gram und Schmerz als wegen der Krankheit... Er... Als der Priester alle
als aussätzig erklärte, kaufte der Mann mit dem nunmehr unnützen Vermögen
dieses Bergland und ließ sich und die Seinen – einschließlich der Knechte –
mit Proviant versorgen. Er ließ auch Spitzhacken und Pickel bringen, und sie
begannen die Gräber auszuhauen, in denen sie dann bestattet wurden, einer nach
dem anderen: die kleinen Kinder, dann die Frau und die Knechte... Nun ist nur
er übriggeblieben, allein und arm, denn alles endet mit der Zeit ... und seine
Krankheit dauert nun schon fünfzehn Jahre... trotz alledem ... nie eine Klage.
Er war gelehrt. Er kennt die Heilige Schrift auswendig. Er sagt sie den
Sternen, den Kräutern, den Pflanzen, den Vögeln auf, und uns, die wir so viel
von ihm zu lernen haben. Er tröstet uns in unseren Leiden... er, verstehst du,
er tröstet uns. Sie kommen von Hippos und Gamala, selbst von Gergesa und
Apheca, um ihn anzuhören. Als er vom Wunder an den zwei Besessenen hörte...
oh, da begann er, den Glauben an dich zu predigen. Herr, wenn die Menschen
dich hier begrüßt haben als den Messias, wenn die Frauen dich begrüßt haben
als den König und den Sieger, wenn unsere Kinder deinen Namen kennen und
wissen, daß du der Heilige Israels bist, so ist dies dem armen Aussätzigen zu
verdanken.» So erzählt im Namen aller der Alte, der als erster von Johannes
gesprochen hat.
«Wirst du ihn heilen?» fragen
viele.
«Und das fragt ihr mich? Ich, der
ich Erbarmen mit den Sündern habe, was werde ich erst für einen Gerechten
haben? Ist es vielleicht der, der da kommt? Dort, zwischen den Sträuchern...»
«Gewiß ist er es. Aber was für
Augen du hast, Herr! Wir hören ein Rascheln, aber wir sehen nichts...»
Auch das Rascheln hört auf. Alles
ist in schweigender Erwartung...
Jesus steht im Licht, allein, ein
wenig vor den anderen, denn er hat sich bis zu dem Felsmassiv begeben, an dem
man die Vorräte niedergelegt hat. Die anderen stehen im Halbschatten einiger
Bäume und verschwinden zwischen den Stämmen und Sträuchern des Brachfeldes.
Auch die Kinder schweigen; entweder sind sie auf den Armen der Mütter
eingeschlafen oder sie sind erschrocken über die Stille, die Gräber und die
eigenartigen Schatten, die der Mond um Bäume und Felsen wirft.
Der Aussätzige jedoch muß das
alles von seinem Versteck aus sehr gut sehen. Die hohe, feierliche Gestalt des
Herrn, schneeweiß im weißen Mondschein und unbeschreiblich schön. Die müden
Blicke des Aussätzigen kreuzen sich gewiß mit dem strahlenden Blick Jesu.
Welche Sprache sprechen wohl diese göttlichen, großen, wie Sterne funkelnden
Augen? Welche Sprache spricht das Lächeln der Liebe auf seinen halbgeöffneten
119
Lippen, und welche Worte mögen
wohl vom Herzen, vor allem vom Herzen Christi ausgehen? Ein Geheimnis. Eines
der vielen Geheimnisse in den geistigen Beziehungen zwischen Gott und den
Seelen. Sicher ist, daß der Aussätzige diese Sprache versteht, denn er ruft:
«Seht das Lamm Gottes! Seht den, der gekommen ist, alles Leid der Welt zu
heilen! Jesus, gesegneter Messias, unser König und Heiland, habe Erbarmen mit
mir!»
«Was willst du? Wie kannst du an
den Unbekannten glauben und in ihm den Verheißenen schauen? Was bin ich für
dich? Der Unbekannte...»
«Nein, du bist der Sohn des
lebendigen Gottes. Wie ich das weiß und sehe? Ich weiß es nicht. Hier, in
meinem Inneren, hat eine Stimme laut gesagt: "Siehe, das ist der Erwartete. Er
ist gekommen, um deinen Glauben zu belohnen." Unbekannt? Ja. Niemand hat das
Antlitz Gottes je geschaut. Deshalb bist du der "Unbekannte" in deiner
Erscheinung. Aber der Bekannte bist du durch deine Natur, durch deine
Wirklichkeit. Jesus, Sohn des Vaters, fleischgewordenes Wort und Gott wie der
Vater. Siehe, das bist du, und ich grüße und bitte dich, indem ich an dich
glaube.»
«Und wenn ich nichts tun könnte
und dein Glaube enttäuscht würde?»
«Dann würde ich sagen, daß dies
der Wille des Allerhöchsten ist, und würde fortfahren zu glauben, zu lieben
und stets auf den Herrn zu hoffen.»
Jesus wendet sich zur Menge, die
aufmerksam zugehört hat und sagt: «Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, dieser
Mann hat den Glauben, der Berge versetzt. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch,
daß sich die wahre Liebe und Hoffnung, der wahre Glaube mehr im Leiden als in
der Freude offenbaren, gleichwie übermäßige Freude dem noch ungeformten Geist
oftmals Verderben bringen kann. Es ist leicht zu glauben und gut zu sein, wenn
das Leben zwar nicht lauter Freude, aber doch ein ruhiges Dahinfließen der
Tage ist. Wer jedoch in Glaube, Hoffnung und Liebe ausharrt, auch wenn er
durch Krankheit, Elend, Tod und Not vereinsamt, wenn er von allen verlassen
und gemieden wird, und nichts anderes sagt als: "Es geschehe, was der
Allerhöchste für mich für nützlich hält", wahrhaft, der verdient nicht nur den
Beistand Gottes; vielmehr sage ich euch: im Himmelreich ist schon ein Platz
für ihn bereit, und er wird nicht am Reinigungsort verweilen müssen, denn
seine Gerechtigkeit hat alle Schuld seines vergangenen Lebens getilgt. Mann,
ich sage dir: "Gehe hin in Frieden, denn Gott ist mit dir!"» Bei diesen Worten
dreht er sich um und streckt dem Aussätzigen die Arme entgegen. Er zieht ihn
gleichsam durch diese Geste an sich, und als er ziemlich nahe ist um gut zu
sehen, befiehlt er: «Ich will: Sei rein!» Und es ist, als ob der Mond mit
seinem Silberlicht die Pusteln, Wunden, Blasen und Krusten der abscheulichen
Krankheit abwüsche und davontrüge.
Der Leib bildet sich neu in
Gesundheit, und ein würdevoller Alter, asketisch in seiner Magerkeit, steht
da, der seiner wunderbaren Heilung erst
120
gewahr wird durch die Hosannarufe
der Menge. Sogleich wirft er sich nieder und küßt den Boden, da es ihm nicht
möglich ist, Jesus oder sonst jemanden zu berühren vor Ablauf der vom Gesetz
vorgeschriebenen Zeit.
«Erhebe dich! Man wird dir ein
reines Gewand bringen, damit du zum Priester gehen kannst. Aber wisse immer in
der Reinheit des Geistes vor deinem Gott zu wandeln. Lebe wohl, Mann. Der
Friede sei mit dir!»
Jesus geht wieder zu den Leuten
und kehrt langsam zur Nachtruhe in die Ortschaft zurück.
500. MORGENDLICHE PREDIGT IN DER
VORSTADT AM SEE
Es ist ein frischer Morgen, an
dem das Volk darauf wartet, daß Jesus aus dem Haus des Vorortes am See trete,
um seine Predigt zu beginnen.
Ich glaube, daß die Bewohner in
dieser Nacht wenig geschlafen haben aus Erregung über die geschehenen Wunder,
aus Freude, den Messias mitten unter sich zu haben, und in dem Wunsch, keine
Minute seiner Gegenwart zu verlieren. Erst spät hat sich der Schlaf
eingestellt, denn ihm sind viele Gespräche im Innern der Häuser
vorausgegangen. Man hat die Ereignisse des Tages noch einmal an sich
vorüberziehen lassen und geprüft, ob der Geist der einzelnen von jenem Glauben
erfüllt ist, von jener unerschütterlichen Hoffnung und Liebe, die der Meister
so gelobt und als sicheres Mittel genannt hat, um für dieses und das
jenseitige Leben die Gnade Gottes zu erlangen. In der Befürchtung, der Meister
könnte sich auf den Weg machen und bereits am frühen Morgen fortgehen, ohne
daß sie beim Abschied dabei wären, haben sich die Bewohner schon zeitig wieder
auf die Straßen begeben. Sie sind erstaunt gewesen, sich alle wiederzufinden,
vom gleichen Gedanken angetrieben, und haben sich gesagt: «Es ist wirklich das
erste Mal, daß derselbe Gedanke unsere Herzen rührt und vereint.» Und mit
einer neuen, guten, brüderlichen Freundschaft sind sie einmütig zum Haus
gegangen, das Jesus beherbergt, und haben begonnen, es friedlich zu belagern,
ohne Lärm zu machen oder ungeduldig zu werden, aber beharrlich und fest
entschlossen, dem Meister zu folgen, sobald er auf der Straße erscheint.
Viele Gärtner haben frisch
gepflückte, noch taunasse Früchte aus ihren Gärten mitgebracht und bergen sie
zum Schutz vor der aufgehenden Sonne, vor dem Staub und den Insekten unter
frischem Weinlaub oder großen Feigenblättern, zwischen denen nun rotbackige,
wie von einem Miniaturenmaler gemalte Äpfel hervorschauen, und der Bernstein
und Onyx der Trauben, und die weichen Formen der Feigen aller Art, die einen
fest umschlossen von der leicht faltigen Haut über dem honigsüßen
Fruchtfleisch, die anderen prall, glatt und glänzend wie über einen dicken
Tropfen
121
straff gespannte Seide, wieder
andere geöffnet in einem Lachen blonder, rosiger und tiefrosaroter Fasern, je
nach der Sorte. Und Fischer haben in kleinen Körben Fische gebracht, gewiß in
der Nacht gefangene Fische, für die sie ihren Schlaf geopfert haben. Denn
einige der Fische leben noch und ihre Mäuler schnappen beim letzten
schmerzhaften Atemholen und in den Zuckungen des Todes. Und diese zitternde
Atmung und die zuckenden Bewegungen verstärken noch den silbernen oder
zartblauen Glanz ihre Bäuche und Rücken auf dem Bett aus graugrünen Weiden-
und Pappelblättern.
Inzwischen hat der See die zarte
milchige Farbe gewechselt, die das Morgengrauen dem aus der Nacht
hervortretenden Wasser verleiht – so rein, ich möchte fast sagen engelgleich,
beinahe andächtig und mit kaum hörbarem Rauschen zwischen den Steinen gleitet
der ruhige Wellenschlag auf das Ufer – und hat die lachende, menschlichere,
ich würde sagen fleischlichere Farbe der Morgenröte angenommen, die mit ihren
rosaroten, sich im See spiegelnden Wölkchen das Wasser entflammt. Im klaren
Licht des Morgens wird das Wasser wieder blau und beginnt zu leben, zu
pulsieren, mit seinen Wellchen, die lachend und schaumgekrönt ans Ufer hüpfen,
um dann zurückzufliehen und mit anderen Wellen zu tanzen. So schmücken sie den
ganzen Spiegel des Sees mit einer leichten, weißen Spitzenarbeit, hingeworfen
über die himmlische Seide des Wassers, das der frische Morgenwind kräuselt.
Und dann zerschneidet der erste Sonnenstrahl das Wasser, dort bei Tarichäa, wo
es noch eben so blaugrün war durch die sich widerspiegelnden Wälder und sich
nun vergoldet und glänzt wie ein von der Sonne zerbrochener Spiegel. Dieser
Spiegel dehnt sich immer mehr aus, taucht die noch himmelblauen Wasser in Gold
und Topas, vertreibt die Rosatöne der sich in den Wellen spiegelnden Wölkchen
und umgibt auch die Kiele der letzten vom Fischfang heimkehrenden Boote und
die der ersten, die hinausfahren, während die Segel im triumphalen Schein der
nun aufgegangenen Sonne weiß wie Engelsflügel leuchten im Gegensatz zum Blau
des Himmels und zum Grün der Hügel. Herrlich ist der See von Galiläa, der mich
mit der Üppigkeit seiner Ufer an unseren Gardasee und wegen seines mystischen
Friedens an den Trasimenischen See erinnert. Er ist die Perle von Palästina,
ein würdiger Rahmen für den größeren Teil des öffentlichen Lebens Jesu.
Nun erscheint Jesus auf der
Schwelle des gastlichen Hauses und lächelt, während er die Hände zum Segen
erhebt über die geduldige Menge, die auf ihn gewartet hat.
«Der Friede sei mit euch allen.
Habt ihr mich erwartet? Habt ihr
befürchtet, daß ich weggehen würde, ohne Abschied von euch zu nehmen? Ich
halte meine Versprechen immer. Heute werde ich unter euch sein, um euch die
Frohe Botschaft zu verkünden und, wie versprochen, eure Häuser, Gärten und
Boote zu segnen, auf
122
daß jede Familie und auch eure
Arbeit geheiligt sei. Doch vergeßt nicht, daß mein Segen, um wirksam zu sein,
von eurem guten Willen unterstützt werden muß. Und ihr wißt ja, worin dieser
gute Wille besteht, der in einer Familie herrschen muß, damit das Haus, in dem
sie lebt, heilig sei. Der Mann soll das Haupt sein, aber kein Despot, weder
mit der Gattin noch mit den Kindern oder den Dienern; und gleichzeitig soll er
der König sein, König im biblischen Sinne des Wortes. Erinnert ihr euch an das
achte Kapitel des ersten Buches der Könige? Die Ältesten von Israel
versammelten sich in Rama, wo Samuel wohnte und sagten zu ihm: "Siehe, du bist
alt geworden, und deine Söhne wandeln nicht auf deinen Wegen. So setze denn
einen König über uns ein, damit er uns richte, wie es bei allen Völkern Brauch
ist!"
König sein will also heißen
"Richter sein", und er muß ein gerechter Richter sein, der seine Untergebenen
nicht unglücklich macht, weder in der Zeit durch Kriege, Mißbräuche oder
ungerechte Steuern, noch in der Ewigkeit durch ein Königreich, in dem
Weichlichkeit und Laster herrschen. Wehe den Königen, die ihr Amt mißbrauchen,
die den Stimmen der Untergebenen ihr Ohr verschließen, die ihre Augen
schließen vor den Wunden der Nation; die sich der Leiden des Volkes
mitschuldig machen durch widerrechtliche Bündnisse, nur um ihre Macht zu
stärken mit Hilfe von Verbündeten! Wehe auch jenen Vätern, die gegen ihre
Pflichten fehlen, die blind und taub sind gegenüber den Bedürfnissen und
Fehlern der Familienmitglieder, die die Ursache von Ärgernissen und Leiden
ihrer Familie sind, die unwürdige eheliche Verbindungen zulassen, nur um sich
mit reichen und mächtigen Familien zu verschwägern, ohne zu bedenken, daß die
Ehe, abgesehen von der Fortpflanzung des Menschengeschlechtes, dazu dienen
soll, Mann und Frau geistig zu erheben und zu stärken; daß sie eine Pflicht,
eine Aufgabe in sich birgt und kein Geschäft ist, und kein Schmerz, keine
Demütigung des einen oder anderen Partners sein darf; daß sie Liebe und nicht
Haß ist.
Das Oberhaupt sei also gerecht
ohne übertriebene Härte oder Forderungen, aber auch ohne übertriebene
Nachgiebigkeit und Schwäche. Wenn ihr jedoch zu wählen hättet zwischen der
Übertreibung im einen oder im anderen, dann wählt lieber das letztere, denn so
wird Gott euch wenigsten sagen können: "Warum bist du so gut gewesen?", und er
wird euch nicht verurteilen, weil das Übermaß an Güte schon durch die Anmaßung
derer bestraft wird, die diese Güte mißbrauchen. Übertriebene Härte dagegen
würde euch immer vorgeworfen werden, weil sie mangelnde Liebe gegenüber den
euch am nächsten Stehenden bedeutet. Gerecht sei das Verhalten der Herrin des
Hauses gegen den Gatten, die Kinder und die Diener. Sie erweise dem Gatten
Gehorsam und achte ihn; sie sei ihm Trost und Hilfe.
Gehorsam, solange dieser nicht
die Zustimmung zur Sünde bedeutet.
123
Die Frau soll zwar unterwürfig
sein, darf sich jedoch nicht entwürdigen lassen. Achtet darauf, ihr Gattinnen,
daß nach Gott der erste, der eine gewisse sündhafte Nachgiebigkeit bei euch
richtet, euer eigener Gatte ist, der euch vielleicht dazu verleitet. Nicht
immer ist es Liebesbedürfnis, sondern oftmals eine Prüfung eurer
Tugendhaftigkeit. Wenn ihr auch im Augenblick nicht daran denkt, so kann doch
der Tag kommen, da der Gatte sich sagt: "Meine Frau ist sehr sinnlich", und
deshalb an eurer ehelichen Treue zweifelt. Seid keusch in euren ehelichen
Beziehungen. Bewirkt, daß eure Keuschheit eurem Gatten jene Zurückhaltung
auferlegt, die man reinen Dingen gegenüber übt, und daß er euch wie
seinesgleichen behandelt und nicht wie Sklavinnen oder Konkubinen, die nur dem
"Vergnügen" dienen und verstoßen werden, sobald sie nicht mehr gefallen. Die
tugendhafte Frau, ich will sagen, die Frau, die auch nach der Heirat ein
gewisses jungfräuliches "Etwas" in ihren Worten, Handlungen und in der Hingabe
in der Liebe bewahrt, kann ihren Mann von der Sinnlichkeit zum wahren Gefühl
erheben, so daß er sich von der Wollust befreit und wirklich Eins wird mit
seiner Gattin; die er dann mit der Rücksicht behandelt, mit der man einen Teil
seiner selbst behandelt. Und das ist auch recht, denn die Frau ist "Bein von
seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch" und niemand mißhandelt sein
eigenes Fleisch und Bein; vielmehr liebt man es. Deshalb sollen sich die
Gatten – wie das erste Ehepaar – nicht in ihrer sinnlichen Nacktheit
betrachten, sondern sich in geistiger Weise und ohne erniedrigende
Schamlosigkeit lieben.
Die Frau sei geduldig und
mütterlich mit ihrem Gatten. Sie betrachte ihn als den ersten ihrer Söhne,
denn die Frau ist immer Mutter, und der Mann bedarf stets einer Mutter, die
geduldig, klug, liebevoll und hilfreich ist. Selig die Frau, die ihres Mannes
Gefährtin und gleichzeitig seine Mutter, die ihn aufrichtet, zu sein versteht,
und auch seine Tochter, die sich führen läßt. Die Frau sei arbeitsam. Die
Arbeit hält Phantastereien fern, führt zur Rechtschaffenheit und tut auch der
Börse gut. Sie quäle ihren Gatten nicht mit törichten Eifersüchteleien, die
nichts bessern. Ist er ein ehrsamer Ehemann, kann ihn die grundlose Eifersucht
dazu verleiten, das Haus zu verlassen, und ihn in Gefahr bringen, in die Netze
einer Dirne zu geraten. Ist er jedoch nicht ehrsam und treu, dann vermag der
Zorn einer eifersüchtigen Frau nichts daran zu ändern; wohl aber kann ein
ernstes Verhalten ohne Unhöflichkeit und Groll, ein würdiges und liebevolles,
immer wieder liebevolles Verhalten, eine Besinnung herbeiführen. Versucht, den
Gatten wiederzugewinnen, wenn eine Leidenschaft ihn euch entfremdet hat. Durch
eure Tugend werdet ihr ihn – wie in der Jugend durch eure Schönheit – noch
einmal erobern. Und um die notwendige Kraft für diese Pflichterfüllung zu
finden und um dem Schmerz begegnen zu können, der euch zur Ungerechtigkeit
verleiten könnte, liebt eure Kinder und denkt an ihr Wohl.
124
Alles besitzt die Frau in ihren
Kindern: die Freude, die königliche Krone in den schönen Stunden, da sie
wahrhaft die Königin des Hauses und ihres Gatten; und den Balsam für die
schmerzlichen Stunden, in denen ein Verrat oder andere schmerzliche Erfahrung
des Ehelebens ihre Stirn und besonders ihr Herz mit den Dornen ihres traurigen
Königtums als Märtyrerin der Ehe durchstechen.
Werdet ihr so schlecht behandelt,
daß ihr versucht seid, durch eine Scheidung in die eigene Familie
zurückzukehren oder Ersatz zu finden bei einem falschen Freund, der nach einer
Frau verlangt und Mitleid mit der "Betrogenen" vorgibt? Nein, Frauen! Nein!
Die Kinder, die unschuldigen Kinder, die schon so frühzeitig verwirrt und
traurig geworden sind durch die Stimmung im Haus, durch das Fehlen von Frieden
und Rechtschaffenheit, haben ein Anrecht auf eine Mutter, auf einen Vater, auf
den Trost eines Heimes, in dem nach dem Verlust einer Liebe die andere
lebendig bleibt und über sie wacht. Ihre unschuldigen Augen betrachten euch,
sie prüfen euch und verstehen mehr, als ihr glaubt. Ihre Seelen formen sich
nach dem, was sie sehen und verstehen. Seid nie ein Ärgernis für diese
Unschuldigen, sondern flüchtet euch zu ihnen wie in ein Bollwerk aus
diamantenen Lilien gegen die Schwächen des Fleisches und die Nachstellungen
der Schlangen.
Die Frau sei Mutter. Die gerechte
Mutter, die zugleich die Schwester und Freundin ihrer Söhne und Töchter ist,
und die vor allem ein gutes Beispiel gibt, in allem. Das heißt, wachen über
Söhne und Töchter, liebevoll zurechtweisen, aufrichten und zum Nachdenken
anspornen, und dies alles ohne Bevorzugung; denn die Kinder sind alle aus
einem Samen und aus einem Schoß geboren, und wenn es natürlich ist, daß man
die guten liebt wegen der Freude, die sie einem schenken, so ist es eine
Pflicht, die zu lieben, die nicht gut sind, wenn auch mit schmerzlicher Liebe.
Denkt daran, daß der Mensch nicht strenger sein darf als Gott, der nicht nur
die Guten, sondern auch die Bösen liebt und ihnen Zeit und Gelegenheit gibt,
sich zu bessern; der sie erträgt bis zu ihrem Tod und erst dann zum gerechten
Richter wird, wenn der Mensch nichts wiedergutmachen kann.
Hier laßt euch etwas sagen, was
zwar nicht zum Thema gehört, was aber nützlich ist, sich stets vor Augen zu
halten. Oft, zu oft hört man sagen, daß die Bösen mehr Freuden im Leben haben
als die Guten und daß das nicht gerecht ist. Dazu sage ich euch vor allem:
"Urteilt nicht nach dem Äußeren und nach dem, was ihr nicht kennt." Das Äußere
ist oft trügerisch, und das Urteil Gottes bleibt hier auf Erden verborgen. Ihr
werdet im anderen Leben erkennen und sehen, daß das vergängliche Wohlergehen
dem Bösen gewährt wurde als Mittel, um ihn zum Guten zu führen, und als
Entgelt für das wenige Gute, das auch der schlimmste Mensch tun kann. Doch
wenn ihr die Dinge im Licht der Gerechtigkeit des anderen Lebens betrachtet,
dann werdet ihr erkennen, wie kurz die Zeit der Freude
125
des Sünders ist; kürzer als das
Leben eines Grashalmes, der im Frühling im Kies des Bachbetts wächst und in
der sommerlichen Sonne verdorrt. Ein einziger Augenblick der himmlischen
Herrlichkeit mit der Glückseligkeit, die sie dem Geist vermittelt, der sie
genießt, ist viel mehr wert als die größten Triumphe des irdischen Lebens.
Beneidet daher nicht den Bösen um sein Wohlergehen, sondern seid bestrebt, mit
gutem Willen den ewigen Schatz des Gerechten zu erlangen.
Kehren wir nochmals zu den
Bedingungen zurück, die erforderlich sind, damit mein Segen einer Familie und
unter den Hausbewohnern bleibende Frucht bringt. Euch, Kindern, sage ich, seid
euren Eltern untertan, achtet sie und gehorcht ihnen, damit ihr auch dem
Herrn, eurem Gott, gehorchen könnt. Denn wenn ihr nicht lernt, den kleinen
Geboten von Vater und Mutter, die ihr seht, zu gehorchen, wie werdet ihr dann
den Geboten Gottes gehorchen können, die euch in seinem Namen verkündet
werden, ohne daß ihr ihn selbst seht und hört? Wenn ihr nicht lernt zu
glauben, daß wer liebt, wie ein Vater und eine Mutter lieben, nur Gutes
auftragen kann, wie könnt ihr dann glauben, daß was man euch als Gebote Gottes
nennt, gut ist? Gott liebt euch als Vater, wißt ihr das? Aber gerade weil er
euch liebt und euch bei sich haben will, o ihr teuren Kinder, will er, daß ihr
gut seid. Und die erste Schule, in der ihr lernt, gut zu sein, ist die
Familie. Dort lernt ihr lieben und gehorchen und dort beginnt für euch der
Weg, der zum Himmel führt. Seid daher gut, ehrfurchtsvoll und gelehrig. Liebt
den Vater, auch wenn er euch zurechtweist, denn er tut dies zu eurem Wohl, und
eure Mutter, die euch abhält von Handlungen, die sie nach ihren Erfahrungen
nicht für gut hält. Ehrt eure Eltern und beschämt sie nicht durch eure
schlechten Taten. Der Stolz ist nicht gut; aber es gibt den heiligen Stolz,
sagen zu können: "Ich habe meinem Vater und meiner Mutter nie Kummer
bereitet." Dies wird euch ihre Nähe zur Freude gereichen lassen, solange sie
leben, und wird zum Balsam für eure Wunde, wenn sie sterben. Die Tränen
hingegen, die ein Kind seinen Vater vergießen macht, fallen wie flüssiges Blei
auf das Herz des schlechten Kindes, und trotz seiner Bemühungen, diese Wunde
zu betäuben, schmerzt sie, und schmerzt um so mehr, wenn der Tod des Vaters
dem Kind nicht mehr gestattet, seine Fehler wieder gutzumachen. Oh, ihr
Kinder, seid immer gut, wenn ihr wollt, daß Gott euch liebt.
Schließlich ist jenes Haus
heilig, in dem durch die Gerechtigkeit des Hausherrn und seiner Familie auch
die Knechte und Mägde gerecht werden. Die Vorgesetzten sollen bedenken, daß
ein schlechtes Benehmen ihrerseits den Knecht verbittert und verdirbt, und die
Knechte sollen wissen, daß ihr schlechtes Betragen dem Herrn mißfällt. Ein
jeder bleibe an seinem Platz, doch verbinde alle eine Nächstenliebe, die die
Unterschiede zwischen Herren und Knechten ausgleicht.
Dann wird das von mir gesegnete
Haus meinen Segen bewahren, und
126
Gott wird darin wohnen. Ebenso
wird mein Segen, und damit mein Schutz, auf den Booten und den Gärten, den
Arbeits- und Fischfanggeräten verweilen, wenn sie in heiliger Weise an den
erlaubten Tagen benützt werden, am heiligen Sabbat jedoch zu Gottes Ehre
ruhen; wenn ihr euer Leben als Fischer und Gärtner verbringt, ohne beim
Verkaufen und Wiegen zu betrügen; wenn ihr eure Arbeit nicht verwünscht, ihr
aber andererseits auch nicht mehr Bedeutung einräumt als Gott. Denn so wie die
Arbeit euch Gewinn bringt, so gibt Gott euch den Himmel.
Nun will ich die Häuser und die
Boote, die Ruder, die Gärten und die Spaten segnen. Danach begeben wir uns zu
Johannes, und ich werde dort sprechen, bevor er zum Priester geht. Denn ich
werde nicht mehr hierher zurückkehren, und es ist gerecht, daß auch er mich
wenigstens einmal hört. Nehmt das Brot, die Fische und die Früchte. Wir nehmen
sie mit in den Wald und essen in Gegenwart des geheilten Aussätzigen. Ihm
werden wir die besten Bissen geben, damit er auch im Fleisch frohlocke und
sich schon als Bruder unter den Gläubigen des Herrn fühle.»
Jesus macht sich auf den Weg,
gefolgt vom Volk der Vorstadt und anderen Leuten aus den benachbarten
Ortschaften, denen die hiesigen Bewohner die Nachricht von der Ankunft des
Messias vielleicht in der Nacht gebracht haben.
501. PREDIGT AM AUFENTHALTSORT
DES AUSSÄTZIGEN
«Mein Herr!» ruft der vom Aussatz
Geheilte und wirft sich auf die Knie, als er Jesus auf dem Brachfeld vor dem
felsigen Ort, an dem er so viele Jahre verbracht hat, erblickt. Dann erhebt er
sich und ruft wieder: «Kommst du noch einmal zu mir?»
«Um dir nach der gestrigen
Heilung nun auch die Wegzehrung meines Wortes zu geben.»
«Wegzehrung gibt man einem
Abreisenden, und ich breche tatsächlich heute abend auf, um mich zur Reinigung
zu begeben. Doch ich gehe, um zurückzukehren und mich deinen Jüngern
anzuschließen, wenn du mich aufnehmen willst. Ich habe weder Haus noch
Verwandte, Herr. Ich bin zu alt, um meine frühere Lebensweise und Tätigkeit
wieder aufzunehmen. Wohl wird man mir meine Güter zurückerstatten; aber wie
wird das Haus aussehen, nachdem es fünfzehn Jahre lang leer gestanden hat? Was
werde ich dort vorfinden? Vielleicht nur eingefallene Mauern. Ich bin wie ein
Vogel ohne Nest. Erlaube, daß ich mich der Schar anschließe, die dir folgt. Im
übrigen... gehöre ich nicht mehr mir selbst, denn nach dem, was du mir gegeben
hast, gehöre ich dir. Ich gehöre nicht mehr der Welt, die mich gerechterweise
verstoßen hat, da ich lange Zeit unrein war. Jetzt
127
aber bin ich es, der die Welt
unrein findet, da ich dich kennengelernt habe und ich fliehe die Welt, um zu
dir zu kommen.»
«Ich weise dich nicht zurück.
Jedoch möchte ich dir folgendes sagen Mein Wunsch wäre, daß du in dieser
Gegend bleibst. Aera und Arbela haben ihre eigenen Söhne, die als Jünger das
Evangelium verkünden. Seid dasselbe für Hippos, Gamala, Apheca und die
benachbarten Ortschaften Ich werde bald nach Judäa gehen und nicht mehr in
diese Gegend zurück kehren, und möchte auch hier Verkünder der Frohen
Botschaft haben.
«Dein Wille läßt mich jeden
Verzicht lieben. Ich werde tun, was du von mir verlangst, sobald die Reinigung
erfolgt ist. Ich hatte daran gedacht mich nicht mehr um mein Haus zu kümmern;
jetzt hingegen werde ich es wieder in Ordnung bringen, um dort zu wohnen und
während des Winter Menschen aufnehmen zu können, die dich kennenlernen wollen.
Auch werde ich einige Jünger, die dir schon seit Jahren folgen, bitten, zu mir
zu kommen, denn wenn du aus mir einen kleinen Lehrmeister machen willst bedarf
ich der Belehrung durch deine Nachfolger, die mehr wissen als ich Im Frühling
werde ich dann hingehen wie die anderen und deinen Name verkünden.»
«Dein Vorhaben ist gut, und Gott
wird dir helfen, es auszuführen.»
«Ich habe schon damit begonnen,
alles zu verbrennen, was mir gehört das ärmliche Lager und die Gerätschaften,
die ich benützte, das Gewand das ich bis gestern getragen habe, und alles, was
meinen kranken Körbe berührt hat. Die Höhle, in der ich gelebt habe, ist
schwarz vom Feuer, da ich dort angezündet habe, um zu vernichten und zu
reinigen. Niemand wird sich anstecken, wenn er dort in einer stürmischen Nacht
Zuflucht suchen sollte. Und dann... (Die Stimme des Mannes wird schwächer,
fast bricht sie, und er spricht langsamer ... ) und dann hatte ich eine alte
Truhe Sie war nun in schlechtem Zustand und wurmstichig, als ob der Aussatz
sie zerfressen hätte. Aber für mich... war sie kostbarer als alle Reichtümer
der Welt... In ihr bewahrte ich wertvolle Dinge auf... Andenken an mein
Mutter... den Hochzeitsschleier meiner Anna... Ach, als ich ihn ihr ab nahm,
selig, am Abend des Hochzeitstages, und jenes so schöne und rein Lilienantlitz
betrachtete, wer hätte mir da vorausgesagt, daß ich es wenig Jahre später
voller Wunden sehen würde! Und... die Kleider meiner Kinder, ihre Spielsachen,
die sie in ihren kleinen Händchen hielten, solang sie dazu fähig waren... Oh,
der Schmerz ist so groß... Verzeih mir mein Tränen... Die Wunde schmerzt so
sehr, jetzt, da ich alles in Befolgung de Gesetzes verbrennen mußte... ohne
sie nochmals küssen zu dürfen, wer diese Dinge einst Aussätzigen gehörten...
Ich bin ungerecht, Herr. Ich weine vor dir ... Habe Mitleid mit mir... Ich
habe die letzte Erinnerung an sie vernichtet ... und jetzt bin ich wie ein in
der Wüste Verlorener ...» De Mann bricht weinend neben dem Aschenhaufen
zusammen, der die Erinnerung an seine Vergangenheit darstellt.
128
«Du bist nicht verloren,
Johannes. Du bist nicht allein. Ich bin mit dir, und die Deinen werden bald
bei mir im Himmel sein und dort auf dich warten. Diese Andenken, die dich an
sie erinnerten, als sie schon von der Krankheit entstellt oder als sie noch
schön und gesund waren vor dem Unglück, sind alles schmerzliche Andenken.
Lasse sie zurück in der Asche. Vernichte sie in der Gewißheit, daß ich dir ein
Wiedersehen mit den Deinen schenken werde, schön und glückselig in der Freude
des Himmels. Die Vergangenheit ist tot, Johannes. Weine nicht mehr darüber.
Das Licht zögert nicht, in die Finsternis der Nacht zu blicken, aber es freut
sich, die Nacht zu überwinden und allmorgendlich der am Himmel aufsteigenden
Sonne nachzufolgen. Auch die Sonne bleibt nicht im Osten stehen, sondern
steigt auf und zieht ihre Bahn, bis sie hoch vom Firmament herabstrahlt. Deine
Nacht ist nun zu Ende, denke nicht mehr an sie. Steig im Geiste dort hinauf,
wo ich, das Licht, dich hinführe. Dort wirst du in froher Hoffnung und schönem
Glauben schon jetzt die Freude finden: denn deine Liebe wird sich in Gott
ergießen können und in die Deinen, die auf dich warten. Es ist nur ein rasches
Emporsteigen... und bald wirst du oben sein bei ihnen. Das Leben ist ein
Hauch... und die Ewigkeit ist die ewige Gegenwart.»
«Du hast recht, Herr. Du tröstet
und belehrst mich, diese Stunde in Gerechtigkeit zu überwinden... Aber du
stehst in der Sonne, um mir so nahe als möglich zu sein. Ziehe dich zurück,
Meister. Du hast mir schon genug gegeben. Die Sonne könnte dir schaden, da sie
bereits sehr stark ist.»
«Ich bin gekommen, um bei dir zu
sein, und wir alle sind dazu gekommen. Gehe dort unter die Bäume, so können
wir ohne Gefahr nahe beisammen sein.» Der Mann gehorcht und verläßt den
Felsblock, vor dem ein Häufchen Asche liegt: die Vergangenheit, und geht in
die Richtung, in die auch Jesus geht und wo die gerührten Apostel, die Frauen,
die Bewohner des Vororts und jene, die aus anderen Städten gekommen sind, um
den Meister zu hören, stehen.
«Zündet Feuer an und kocht die
Fische. Wir werden ein Liebesmahl bereiten und alles unter alle verteilen»,
gebietet Jesus.
Während die Apostel sich an die
Arbeit machen, geht er hin und her unter den Bäumen, die hier, an diesem wegen
der Nähe des Aussätzigen von allen gemiedenen Ort, wild durcheinander
gewachsen sind. Ein wirres Dickicht, eine Pflanzenwildnis, die noch nie eine
Ziege oder eine Axt gesehen hat. Leidende und Betrübte haben sich im
wohltuenden Schatten dieses Waldes niedergelassen und erzählen Jesus von ihrem
Leid und ihren Sorgen. Jesus heilt, ermahnt und tröstet, geduldig und
machtvoll. Weiter drüben, auf einer kleinen Wiese, spielt das Kind von
Kapharnaum glücklich mit Kindern aus der Umgebung, und ihr Freudengeschrei
wetteifert mit dem Gesang der vielen Vögel, die im dichten Laub der Bäume
sitzen oder in ihrem bunten Federkleid durch das grüne Gras trippeln und
großen Schmetterlingen gleichen, die von Blume zu Blume flattern.
129
Das Essen ist fertig. Jesus wird
gerufen. Er bittet einen Bauern, der Feigen und Trauben gebracht hat, um einen
Korb und füllt ihn mit Brot, den schönsten Fischen und saftigen Früchten. Dann
legt er noch seine Feldflasche mit Honigwasser dazu und begibt sich zu dem
geheilten Aussätzigen.
«So hast du keine Feldflasche,
Meister», bemerkt Bartholomäus. «Er kann sie dir nicht mehr zurückgeben.»
Jesus antwortet lächelnd: «Es
gibt noch so viel Wasser, um den Durst des Menschensohnes zu stillen! Es ist
das Wasser, das der Vater in die tiefen Brunnen gesenkt hat. Und der
Menschensohn hat seine Hände noch frei, um sie zum Becher zu formen... Ein Tag
wird kommen, da er weder das eine noch das andere hat... nicht einmal mehr den
Trank der Liebe wird er haben, um den Dürstenden zu erquicken... Jetzt habe
ich noch so viel Liebe um mich...» und er geht weiter, wobei er mit beiden
Händen den großen, runden und hohen Korb trägt. Dann stellt er ihn einige
Meter von Johannes entfernt ins Gras und sagt zu ihm: «Nimm und iß, es ist das
Mahl Gottes.» Hierauf kehrt er zu seinem Platz zurück, opfert und segnet die
Speisen und läßt sie unter die Anwesenden verteilen, die, was sie hatten,
zusammengelegt haben. Alle essen mit Wohlbehagen und in friedlicher Freude.
Maria kümmert sich mit mütterlicher Sanftmut um den kleinen Alphäus. Nachdem
sich alle gestärkt haben, stellt sich Jesus zwischen das Volk und den früheren
Aussätzigen und beginnt zu sprechen, während die Mütter ihre vom Essen satten
und vom Spielen müden Kinder auf den Schoß nehmen, um sie in den Schlaf zu
wiegen, damit sie nicht stören.
«Hört alle zu.
In einem Psalm Davids fragt sich
der Psalmist: "Herr, wer darf weilen in deinem Zelt? Wer darf wohnen auf
deinem heiligen Berg?" Dann beginnt er jene aufzuzählen, die die Glücklichen
sein werden, und erklärt, weshalb sie es sein werden. Er sagt: "Wer wandelt
ohne Makel und Gerechtigkeit übt, der Wahrheit sinnet im Herzen, dessen Zunge
nicht redet Verleumdung, der nicht schmäht seinen Nachbarn." Einige Verse
weiter, nachdem er gesagt hat, wer ins Haus des Herrn eintreten wird, weist er
auf das Gute hin, das diese Gesegneten tun, nachdem sie das Böse gemieden
haben: "In seinen Augen ist der Verworfene verächtlich, die Gottesfürchtigen
aber hält er in Ehren. Wenn er dem Nächsten einen Eid schwört, betrügt er
nicht. Sein Geld leiht er nicht auf Wucher, nimmt keine Bestechungen wider den
Unschuldigen an!" Und er schließt mit dem Worten: "Wer dies tut, wird nimmer
wanken."
Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch, der Psalmist hat die Wahrheit gesagt, und ich bestätige in meiner
Weisheit, daß wer so handelt, nicht wanken wird in Ewigkeit. Die erste
Bedingung, um ins Himmelreich eingehen zu können, ist diese: ohne Makel zu
leben.
Aber kann denn der Mensch, dieses
schwache Geschöpf, ohne Makel
130
leben? Das Fleisch, die Welt und
der Teufel speien in einem fortwährenden Lodern der Leidenschaften, der
Interessen und des Hasses ihren Geifer aus, um die Seelen zu beschmutzen, und
wenn der Himmel nur denen offenstünde, die vom Alter der Vernunft an ohne
Makel gelebt haben, dann würden nur sehr wenige in den Himmel eingehen, so wie
es nur sehr wenige gibt, die ihr ganzes Leben bis zu ihrem Tod nie mehr oder
weniger schwere Krankheiten gehabt haben.
Ist der Himmel also den Kindern
Gottes verschlossen? Und werden diese sich sagen müssen: "Ich habe ihn
verloren" ' wenn ein Ansturm des Satans oder des Fleisches sie zu Fall bringt
und sie ihre Seele befleckt sehen? Wird es keine Verzeihung mehr geben für
den, der gesündigt hat? Wird nichts den Makel auslöschen können, der den Geist
verunstaltet?
Habt keine ungerechtfertigte
Furcht vor eurem Gott. Er ist Vater, und ein Vater reicht dem wankenden Sohn
immer seine Hand, bietet ihm seine Hilfe an, um ihn aufzurichten, und ermutigt
ihn liebevoll, damit seine Beschämung nicht in Verzweiflung ausarte, sondern
in Demut aufblühe mit der Absicht, wiedergutzumachen und aufs neue die Freude
des Vaters zu sein.
Seht, die Reue des Sünders und
der Wille zur Wiedergutmachung, beide der wahren Liebe zum Herrn entsprungen,
entfernen den Sündenmakel und lassen den Menschen der göttlichen Verzeihung
würdig werden. Wenn der, der zu euch spricht, einst seine Aufgabe auf Erden
erfüllt hat, dann wird zur Lossprechung durch die Liebe, die Reue und den
guten Willen die mächtige Lossprechung hinzugefügt werden, die Christus um den
Preis seines Opfers erlangt hat. Reiner in ihrer Seele als neugeborene Kinder,
viel reiner werden die sein, die an mich glauben; denn Ströme lebendigen
Wassers werden in ihnen entspringen, das auch den Makel der Erbsünde, den
Ursprung aller menschlichen Schwächen, abwaschen wird. Ihr werdet den Himmel,
das Reich Gottes und seine Gezelte ersehnen können, denn die Gnade, die ich
euch wiedergeben werde, wird euch befähigen, Gerechtigkeit zu üben, die um so
größer wird, je mehr man sie übt; verleiht euch doch ein makelloser Geist das
Recht, in die Freude des Hirnmelreiches einzugehen.
Es werden dort die Kleinen
eingehen, die sich an der Seligkeit erfreuen werden, die ihnen umsonst zuteil
werden wird; denn der Himmel ist Freude. Es werden dort auch die Erwachsenen
und die Alten eingehen, jene, die hier auf Erden gelebt, gekämpft und gesiegt
haben; die zur glänzenden Krone der Gnade die mannigfach leuchtende Krone
ihrer heiligen Werke und ihrer Siege über Satan, die Welt und das Fleisch
hinzugefügt haben. Groß, sehr groß wird ihre Seligkeit als Sieger sein; so
groß, daß der Mensch es sich nicht vorzustellen vermag.
Wie übt man Gerechtigkeit? Wie
erringt man den Sieg? Durch Aufrichtigkeit in Worten und Werken, durch
Nächstenliebe, durch Anerkennung
131
der Rechte Gottes und dadurch,
daß man an die Stelle des allerheiligsten Gottes nicht die Götzen der
Geschöpfe, das Geld und die Macht setzt. Jedem muß man den Platz einräumen,
der ihm zusteht, ohne daß man versucht, mehr oder weniger zu geben, als die
Pflicht es erfordert. Wer einen anderen ehrt und ihm auch bei bösen Werken
dient, weil er sein Freund oder ein mächtiger Verwandter ist, dann ist er
nicht gerecht. Wer andererseits seinen Nächsten schädigt und gegen ihn
schwört, weil er von ihm keinen Nutzen irgendeiner Art zu erwarten hat, oder
wer sich durch Geschenke bestechen läßt, falsches Zeugnis gegen einen
Unschuldigen abzulegen, oder parteiisch urteilt, um persönlichen Vorteil zu
erzielen, der ist nicht gerecht, und seine Gebete und Opfer sind wertlos, weil
sie in den Augen Gottes mit Ungerechtigkeit befleckt sind.
Ihr seht, daß das, was ich euch
sage, zu den Zehn Geboten gehört. Immer handelt das Wort des Rabbi vom
Dekalog; denn das Gute, die Gerechtigkeit und die Ehre liegen in der Erfüllung
dessen, was die Zehn Gebote lehren und gebieten. Es gibt keine andere Lehre,
als die, die damals unter den Blitzen des Sinai gegeben wurde und euch heute
unter den Strahlen der Barmherzigkeit wiederholt wird; doch die Lehre bleibt
dieselbe und ändert sich nicht. Sie kann sich nicht ändern. Viele in Israel
werden als Vorwand für ihren Mangel an Heiligkeit auch nach der Zeit, die der
Erlöser auf Erden verbrachte, sagen: "Ich habe keine Gelegenheit gehabt, ihm
zu folgen und ihn zu hören." Doch ihre Entschuldigung ist wertlos; denn der
Erlöser ist nicht gekommen, um ein neues Gesetz zu geben, sondern um das
erste, einzige Gesetz zu bestätigen; um es gerade in seiner heiligen
Einfachheit, in seiner vollkommenen Schlichtheit zu bestätigen; um mit Liebe
und dem Versprechen der Gewißheit der Liebe Gottes das zu bestätigen, was
früher von der einen Seite mit Strenge gesagt und von der anderen mit Furcht
aufgenommen wurde.
Um euch verständlich zu machen,
was die Zehn Gebote sind und welche Bedeutung es hat, sie zu befolgen, erzähle
ich euch folgendes Gleichnis:
Ein Familienvater hatte zwei
Söhne. Er liebte sie beide und wollte beiden in gleichem Maße Wohltaten
erweisen. Dieser Vater hatte außer dem Heim für die Söhne auch Besitzungen,
auf denen große Schätze verborgen waren. Die Söhne wußten von diesen Schätzen,
kannten jedoch nicht den Weg, der dorthin führte, denn der Vater hatte jenen
Ort aus bestimmten Gründen viele, viele Jahre lang geheimgehalten. Aber zu
einem gewissen Zeitpunkt rief er seine beiden Söhne zu sich und sagte: "Es ist
gut, daß ihr nunmehr erfahrt, wo die Schätze sind, die euer Vater für euch
aufgehoben hat, damit ihr sie in Empfang nehmen könnt, wenn ich es euch sagen
werde. Vorerst sollt ihr den Weg kennen und die Zeichen, die ich angebracht
habe, damit ihr nicht vom rechten Weg abkommt. Hört mich also an. Die Schätze
sind nicht in der Ebene verborgen, wo die Wasser sich stauen, die Sonne
brennt, der Staub verwüstet, Disteln und Dornen alles
132
ersticken und die Räuber sie euch
mit Leichtigkeit stehlen könnten. Die Schätze sind auf dem Gipfel jenes hohen,
steilen Berges. Ich habe sie dorthinauf gebracht, und dort warten sie auf
euch. Auf den Berg führt nicht nur ein Pfad, ja, es führen sogar viele Pfade
dorthin, aber nur einer ist der gute. Die anderen enden in Abgründen, in
Höhlen ohne Ausgang, in sumpfigen Wassergräben, in Schlupfwinkeln von Vipern,
in Kratern mit brennendem Schwefel oder vor unüberwindbaren Wänden. Der
richtige Weg ist zwar beschwerlich, doch führt er zum Gipfel, ohne von
Abgründen und anderen Hindernissen unterbrochen zu werden. Damit ihr ihn
erkennt, habe ich den ganzen Weg entlang in regelmäßigen Abständen zehn
Steinmonumente aufgestellt, auf denen diese Erkennungsworte eingegraben sind:
'Liebe, Gehorsam, Sieg.' Geht und folgt diesem Pfad, und ihr werdet den Ort
des Schatzes finden. Ich werde dann auf einem anderen Pfad, der mir allein
bekannt ist, kommen und euch die Türen öffnen, auf daß ihr glücklich seiet."
Die beiden Söhne verabschiedeten
sich vom Vater, der ihnen, solange sie ihn hören konnten, immer wiederholte:
"Folgt dem Weg, den ich euch gewiesen habe. Es ist zu eurem Besten. Laßt euch
nicht durch die anderen Wege in Versuchung bringen, selbst wenn sie euch
besser zu sein scheinen. Ihr würdet den Schatz verlieren und mich mit ihm..."
Sie erreichten den Fuß des
Berges. Ein erstes Monument stand dort unten, am Beginn des Pfades als
Mittelpunkt, von dem viele Wege strahlenförmig in verschiedenen Richtungen den
Berg hinauf führten. Die beiden Brüder schlugen den guten Pfad ein. Die erste
Wegstrecke war noch sehr gut, obwohl sie nicht den geringsten Schatten bot...
Die Sonne am Himmel überflutete den Weg mit Licht und die Hitze war stechend.
Das weiße Felsgestein, in das der Pfad geschnitten war, der klare Himmel über
ihren Häuptern und die heiße Sonne, die auf ihre Glieder herabbrannte, waren
das einzige, was die Brüder sahen und fühlten. Aber noch belebt von ihrem
guten Willen, von der Erinnerung an den Vater und an seine Ermahnungen,
stiegen sie freudig zum Gipfel empor. Siehe, ein zweites Monument... und dann
ein drittes. Der Pfad wurde immer mühsamer, einsamer, glühender. Man sah nicht
einmal mehr die übrigen Pfade, an denen Gras und Bäume wuchsen, und wo es
klares Wasser gab. Vor allem war der Anstieg dort viel sanfter, viel weniger
steil, und sie verliefen auf Erdboden, nicht auf Felsengrund.
"Unser Vater will uns tot dort
oben ankommen lassen" ' sagte der eine Sohn, als sie das vierte Monument
erreichten, und begann seine Schritte zu verlangsamen. Der andere ermutigte
ihn weiterzugehen, indem er sagte: "Er liebt uns wie andere sich selbst; mehr
noch, denn er hat den Schatz so wunderbar für uns aufbewahrt. Den Weg, der
unfehlbar von unten zum Gipfel führt, hat er selbst in den Fels gehauen. Diese
Monumente hat er selbst errichtet, um uns den Weg zu weisen. Bedenke, mein
Bruder, daß
133
er das alles allein gemacht hat,
aus Liebe zu uns, um uns den Schatz zu sichern, um uns ohne die Möglichkeit
eines Irrtums und ohne Gefahr das Ziel erreichen zu lassen."
Sie gingen weiter. Aber die
bequemen Wege, von denen sie sich am Fuß des Berges entfernt hatten, näherten
sich von Zeit zu Zeit dem felsigen Pfad, und je weiter sie gingen, desto mehr
näherten sie sich, da der Berg dem Gipfel zu immer schmaler wurde. Wie schön,
schattig und einladend waren doch diese anderen Wege! ...
"Ich möchte beinahe einen von
diesen Wegen einschlagen", sagte der Unzufriedene, als sie das sechste
Monument erreicht hatten." Schließlich führt auch er nach oben.
"Das kannst du nicht wissen... Du
siehst nicht, ob er nach oben oder nach unten führt."
"Siehst du ihn dort oben?"
"Du weißt nicht, ob es derselbe
ist, und zudem hat der Vater doch gesagt, daß wir den rechten Weg nicht
verlassen sollen..."
Widerwillig ging der unzufriedene
Bruder weiter.
Sie kamen zum siebten Monument.
"Oh! Ich gehe jetzt wirklich
einen anderen Weg!"
"Tu es nicht, Bruder!"
Also folgten sie weiterhin dem
jetzt sehr schwierigen Weg, aber der Gipfel war ja schon so nahe... Dann das
achte Monument, und ganz nahe, gleich daneben der blumige Pfad.
"Oh! Siehst du, wenn auch nicht
in gerader Linie, so führt doch auch dieser Weg hinauf!"
"Du weißt nicht, ob es der
richtige ist."
"Doch, ich erkenne ihn."
"Du täuschest dich."
"Nein, ich gehe."
"Tue es nicht! Denke an den
Vater, an die Gefahren, an den Schatz!"
"Zum Teufel mit euch allen. Was
fange ich mit dem Schatz an, wenn ich halbtot oben ankomme? Kann es eine
größere Gefahr geben als diesen Weg? Welcher Haß ist größer als der des
Vaters, der sich mit diesem Weg über uns lustigmachen und uns umbringen will?
Leb wohl. Ich werde vor dir oben ankommen, und lebendig..." und er schlug den
anderen Weg ein und verschwand mit einem Freudenruf hinter den
schattenspendenden Baumstämmen.
Der andere Sohn ging traurig
weiter... Oh! Der Weg war in seinem letzten Abschnitt wirklich furchtbar! Der
Wanderer war am Ende seiner Kräfte. Er war wie trunken vor Müdigkeit und
Sonnenhitze. Beim neunten Monument blieb er keuchend stehen, stützte sich auf
den behauenen Steinblock und las nur noch mechanisch die eingemeißelten Worte.
In der Nähe war ein schattiger Weg mit Wasser und Blumen...
134
"Beinahe, beinahe... Aber nein!
Nein! Hier steht es geschrieben. Mein Vater hat es geschrieben! Liebe,
Gehorsam, Sieg. Ich muß an seine Liebe und seine Wahrheit glauben, und ich muß
gehorchen, um ihm meine Liebe zu beweisen... Weiter! ... Die Liebe möge mir
Kraft geben." Endlich, das zehnte Monument... Der Wanderer war erschöpft und
von der Sonne verbrannt. Er schritt gebeugt wie unter einem Joch... Es war das
liebevolle, heilige Joch der Treue, welche Liebe, Gehorsam, Stärke, Hoffnung,
Gerechtigkeit, Klugheit, alles ist... Anstatt sich darauf zu stützen, setzte
er sich in den spärlichen Schatten, den das Monument auf den Boden warf. Er
glaubte zu sterben... Vom Seitenpfad her hörte man das Rauschen eines Baches
und Waldesduft strömte herüber... "Vater, Vater, hilf mir mit deinem Geist,
der Versuchung zu widerstehen... Hilf mir, treu zu bleiben bis ans Ende."
Aus der Ferne hörte er die
lachende Stimme seines Bruders: "Komm, ich warte auf dich. Hier ist ein wahres
Paradies! Komm!"
"Wenn ich nun hinginge?..." und
er rief laut: "Steigt man dort wirklich zum Gipfel hinauf?"
"Ja. Komm, hier ist ein
schattiger Durchgang, der nach oben führt. Komm! Ich sehe schon den Gipfel
jenseits des Tunnels, der durch den Felsen führt."
"Soll ich gehen? Soll ich nicht
gehen? ... Wer hilft mir? ... Ich gehe..." Er stützte die Hände auf, um sich
zu erheben. Und während er dies tat, bemerkte er, daß die Worte nicht mehr so
deutlich eingegraben waren wie im ersten Monument. "Bei jedem Monument wurde
die Schrift schwächer ... als ob meinem erschöpften Vater die Kräfte gefehlt
hätten, und... sieh ... auch hier das rotbraune Zeichen, das schon vom fünften
Monument an zu sehen war; nur daß es hier die Höhlungen der Buchstaben füllt
und sogar herunterläuft wie eine dunkle Träne... wie Blut..." Er kratzte mit
dem Finger dort, wo der Fleck zwei Handbreit war. Und der Fleck bröckelte ab
und ließ klar und deutlich diese Worte erkennen: "So sehr habe ich euch
geliebt! Bis zum Vergießen des Blutes, um euch zum Schatz zu führen."
"Oh, mein Vater! Wie konnte ich
daran denken, gegen deinen Willen zu handeln! Verzeihung, mein Vater!
Verzeihung!" Der Sohn weinte, an den Felsblock gelehnt, und das Blut, das die
Buchstaben ausfüllte, wurde frisch und leuchtete wie ein Rubin, und die Tränen
wurden zu Speise und Trank für den Sohn und stärkten ihn... Er erhob sich. Aus
Liebe rief er nun seinen Bruder mit lauter Stimme. Er wollte ihm von seiner
Entdeckung berichten... von der Liebe des Vaters, und ihm sagen: "Kehre
zurück." Doch niemand antwortete ihm.
Der Jüngling nahm den Weg wieder
auf, fast auf den Knien. Glühend heiß war der Fels, und er selbst am Ende
seiner Kräfte; doch sein Geist war heiter. Da war der Gipfel... und dort der
Vater.
135
"Mein Vater!"
"Mein geliebter Sohn!"
Der Jüngling warf sich an die
Brust des Vaters, und der Vater umarmte ihn und bedeckte ihn mit Küssen.
"Bist du allein?"
"Ja... Aber bald wird mein Bruder
ankommen..."
"Nein. Er wird nicht mehr
ankommen. Er hat den Weg der zehn Monumente verlassen und ist nach den ersten
mahnenden Enttäuschungen nicht auf ihn zurückgekehrt. Willst du ihn sehen?
Dort ist er, im Abgrund des Feuers... Er verharrte hartnäckig in seiner
Schuld. Ich hätte ihm noch verziehen und hätte auf ihn gewartet, wenn er nach
der Erkenntnis seines Irrtums zurückgekehrt wäre und den Weg, wenn auch mit
Verspätung, wiederaufgenommen hätte, den die Liebe vor ihm beschritten hat und
auf dem sie gelitten hat bis zum Vergießen ihres kostbaren Blutes, des
teuersten ihrer selbst, für euch."
"Er hat nicht gewußt..."
"Wenn er mit Liebe die Worte, die
in die zehn Gedenksteine eingemeißelt sind, gelesen hätte, hätte er ihren
wahren Sinn erfaßt. Du hast ihn vom fünften Monument an erkannt und hast den
anderen darauf aufmerksam gemacht: 'Der Vater muß sich hier verletzt haben.'
Dieselben Zeichen hast du auf dem sechsten, siebten, achten und neunten
Monument gesehen... immer klarer, bis ein innerer Antrieb dich dazu geführt
hat, das zu entdecken, was unter meinem Blute stand. Kennst du den Namen
dieses inneren Antriebes? 'Deine wahre Vereinigung mit mir.' Die Fasern deines
Herzens, vereinigt mit den meinigen, haben aufgejubelt und dir gesagt: 'Hier
kannst du das Ausmaß der Liebe deines Vaters ablesen.' Nun, nimm Besitz von
dem Schatz und von mir selbst, du, der du liebreich, gehorsam und siegreich
bist in Ewigkeit."
Das ist das Gleichnis.
Die zehn Monumente sind die Zehn
Gebote Gottes. Euer Gott hat sie gemeißelt und an dem Pfad aufgestellt, der
zum ewigen Schatz führt. Er selbst hat gelitten, um euch auf diesen Weg zu
führen. Ihr leidet? Auch Gott. Ihr müßt euch anstrengen? Auch Gott.
Wißt ihr, bis zu welchem Grad? Er
hat die Trennung von sich selbst erlitten und sich dazu gezwungen, das
Menschsein kennenzulernen mit all dem Elend, das es mit sich bringt: die
Geburt, das Frieren, den Hunger, die Mühe, den Spott, die Feindschaft, den
Haß, die Nachstellungen und schließlich den Tod, indem er sein ganzes Blut
hingeben wird, um euch diesen Schatz zu schenken. Dies leidet Gott, der
herabgestiegen ist, um euch zu retten. Dies leidet Gott im Himmel, da er
zuläßt, es selbst zu erleiden.
Wahrlich, ich sage euch, daß kein
Mensch, so mühevoll auch immer sein Weg zum Himmel sein mag, einen
mühevolleren und schmerzlicheren
136
Pfad ersteigen wird als den,
welchen der Menschensohn gegangen ist, um vorn Himmel zur Erde und von der
Erde zum Opfer zu gelangen und euch die Tore zum Schatz zu öffnen.
Auf den Tafeln des Gesetzes ist
schon mein Blut. Auf dem Weg, den ich euch zeige, ist mein Blut. Das Tor, das
zum Schatz führt, öffnet sich unter der Flut meines Blutes. Eure Seelen werden
rein und stark durch die Läuterung und die Nahrung meines Blutes. Doch, auf
daß es nicht vergeblich vergossen werde, müßt ihr den unveränderlichen Weg der
Zehn Gebote einschlagen.
Nun wollen wir uns ausruhen. Bei
Sonnenuntergang werde ich nach Hippos gehen. Johannes wird sich zur Reinigung
begeben, und ihr zu euren Häusern. Der Friede des Herrn sei mit euch.»
502. JESUS IN HIPPOS
Ich bitte zu entschuldigen, daß
die Schrift in diesem Heft besonders schlecht ist. Es handelt sich um Szenen,
die ich gesehen habe, als ich nach dem schrecklichen 2. Juli 1946 zwischen
Leben und Tod schwebte... Ich habe sie liegend niedergeschrieben, während
hohes Fieber mich schüttelte und arge Schmerzen mich quälten...
Jesus zieht an einem klaren
Sommermorgen in Hippos ein. Er muß im Landhaus eines Bewohners der Stadt
übernachtet haben, der gekommen war, ihn zu hören. So kann er schon in den
ersten Morgenstunden eines lärmenden Markttages in die Stadt hineingehen.
Viele Leute von Hippos sind bereits um ihn versammelt und viele eilen ihm
entgegen, da sie von anderen erfahren haben, daß der Rabbi kommt. Aber nicht
nur die Bewohner von Hippos scharen sich um ihn, sondern auch jene aus der
Vorstadt am See sind zugegen. Es fehlt nur die eine oder andere Frau, die sich
wegen ihres Gesundheitszustandes oder weil sie noch ganz kleine Kinder hat,
nicht so weit vom Haus entfernen kann.
Die Stadt liegt nur wenig über
dem See, auf einer der ersten Hügelwellen der Hochebene jenseits des Sees, die
in östlicher Richtung verläuft und im Südosten bis zu den Bergen der
Hauranitis reicht und im Nordosten bis zu dem Gebirgsmasssiv, das vom Großen
Hermon beherrscht wird. Es ist eine reiche, ansehnliche Handelsstadt, ein
bedeutender Knotenpunkt auch von Handelsstraßen und ein Verbindungsglied
zwischen verschiedenen Gebieten jenseits des Sees. Wegweiser in seiner Nähe
deuten darauf hin: sie nennen Gamala, Gadara, Pella, Arbela, Bozrah, Gergesa
und andere mehr.
Hippos ist dicht bevölkert und
wird viel von Fremden besucht, die aus den benachbarten Städten kommen, um zu
kaufen und zu verkaufen, oder aus anderen geschäftlichen Gründen. Ich sehe
viele Römer, Zivilisten und
137
Legionäre, denen gegenüber die
Bevölkerung – ich weiß nicht, ob dies für die Stadt oder für die ganze Gegend
kennzeichnend ist – nicht so aggressiv oder abweisend eingestellt ist.
Vielleicht hat der Geschäftsverkehr Verbindungen geknüpft, die, wenn auch
nicht zu Freundschaft, so doch zu einer größeren Höflichkeit geführt haben als
in den Gebieten am anderen Ufer.
Die Menge nimmt allmählich zu,
während sich Jesus der Stadtmitte nähert. Schließlich bleibt er auf einem
Platz mit vielen Bäumen stehen, in deren Schatten der Markt stattfindet. Das
heißt, nur die wichtigen Geschäfte werden dort ausgehandelt, denn die
kleineren Ein- und Verkäufe von Lebensmitteln und Geschirr macht man jenseits
dieses Platzes auf einer ungepflasterten freien Fläche, auf die schon die
Sonne herabbrennt, vor der sich Käufer und Verkäufer durch Zelttücher
schützen, die man über Stangen gespannt hat und die etwas Schatten auf die am
Boden ausgebreiteten Waren werfen. Dieser Platz mit seinen nur wenig über dem
Boden ausgespannten Zeltplanen in allen Farben, zwischen denen es von Menschen
in bunten Kleidern wimmelt, gleicht einem mit riesigen Blumen geschmückten
Rasen, von denen die einen unbeweglich dastehen, die anderen sich von Zelt zu
Zelt bewegen. Das verleiht dem Ort noch eine gewisse Schönheit, die sicher
sofort verschwunden ist, wenn die prähistorischen Läden wieder abgebrochen
sind und der öde Erdboden in seiner gelblichen und trostlosen, wüstenähnlichen
Unfruchtbarkeit zum Vorschein kommt.
Jetzt ist er von einem lauten
Stimmengewirr erfüllt. Unglaublich, was für ein Geschrei und wie viele Worte
diese Leute machen, während sie vielleicht den Preis eines Holznapfes, eines
Beutels oder einer Handvoll Samen aushandeln! In das Stimmengewirr von Käufern
und Verkäufern mischt sich ein Chor von Bettlern, die versuchen, noch lauter
zu schreien als die anderen, um sich bemerkbar zu machen.
«Aber hier kannst du doch nicht
reden, Meister», ruft Bartholomäus aus. «Deine Stimme ist zwar mächtig, diesen
Lärm aber kann sie nicht übertönen!»
«Wir werden warten. Seht ihr? Der
Markt ist bald zu Ende, denn einige beginnen schon, ihre Waren einzupacken.
Inzwischen geht und verteilt die Gaben der Reichen hier als Almosen unter die
Bettler. Das wird die Einleitung und der Segen für meine Predigt sein, denn
mit Liebe gegebene Almosen sind mehr als nur materielle Hilfe, sie sind auch
Nächstenliebe und ziehen Gnaden an», antwortet Jesus.
Die Apostel gehen, den Befehl
auszuführen.
Jesus fährt fort, zur
aufmerksamen Menge zu reden: «Die Stadt ist reich und blühend, wenigstens in
diesem Teil. Ich sehe euch mit reinen und schönen Kleidern angetan. Eure
Gesichter sind wohlgenährt. Alles verrät mir, daß ihr nicht in Armut und Elend
lebt. Nun möchte ich wissen,
138
ob jene, die dort klagen, von
Hippos sind oder ob sie nur gelegentlich betteln und aus anderen Orten kommen,
um hier Hilfe zu suchen. Seid aufrichtig ...»
«Nun gut. Wir werden es dir
sagen, wenn auch der Vorwurf schon aus deinen Worten spricht. Einige sind von
auswärts gekommen, die meisten aber sind von Hippos.»
«Und habt ihr keine Arbeit für
sie? Ich habe gesehen, daß hier viel gebaut wird, und somit müßte es Arbeit
für alle geben...»
«Es sind fast immer die Römer,
die Arbeiter anheuern...»
«Fast immer. Das hast du gut
gesagt, denn ich habe auch Einheimische gesehen, die die Arbeiten
beaufsichtigen; und unter diesen waren viele, die Auswärtige beschäftigen...
Warum helfen sie nicht zuerst den Mitbürgern?»
«Weil... die Arbeit schwer ist.
Denn vor Jahren, vor allem bevor die Römer schöne Straßen bauten, war es
mühsam, Steinblöcke zu befördern und Wege zu bahnen. Viele wurden dabei krank
oder zu Krüppeln, so daß sie nicht mehr arbeiten können und zu Bettlern
geworden sind.»
«Ihr jedoch genießt nun die
Früchte ihrer Arbeit?»
«Sicher, Meister! Schau, welch
schöne und bequeme Stadt wir haben mit reichlich Wasser in großen, tiefen
Zisternen... und gute Straßen, die uns mit anderen reichen Städten verbinden.
Schau, welch solide Bauten. Schau, wie viele Werkstätten. Schau ...»
«Ich sehe alles. Doch die, die
jetzt klagen und euch um ein Brot bitten, haben euch einst geholfen, diese
Dinge zu bauen? Ihr bejaht es? Wenn ihr euch nun dessen erfreut, was jene euch
erarbeitet haben, warum laßt ihr sie dann nicht ein wenig an dieser Freude
teilhaben? Gebt ihnen Brot, ohne daß sie darum bitten. Gebt ihnen Unterkunft,
damit sie nicht gezwungen sind, Höhlen mit den wilden Tieren zu teilen.
Unterstützung in der Not und Pflege in der Krankheit könnten dazu dienen, sie
wieder arbeitsfähig werden zu lassen und sie so von ihrem erniedrigenden und
demütigenden Müßiggang zu befreien. Wie könnt ihr euch zufrieden zu Tisch
setzen und die überreichliche Nahrung unter eure frohen Kinder verteilen, wenn
ihr wißt, daß in eurer Nähe Brüder Hunger leiden? Wie könnt ihr euch in einem
weichen Bett zur Ruhe legen, wenn ihr wißt, daß es draußen in der Nacht
Menschen gibt, die keine Lagerstätte und keine Ruhe haben? Brennen euch nicht
die Geldstücke im Gewissen, die ihr in eure Geldschränke legt, obwohl ihr
wißt, daß viele nicht einmal eine Münze haben, um sich ein Brot zu kaufen?
Ihr habt doch gesagt, daß ihr an
den allerhöchsten Herrn glaubt und das Gesetz beachtet, daß ihr die Propheten
und die Bücher der Weisheit kennt. Ihr habt mir gesagt, daß ihr an mich glaubt
und euch nach meiner Lehre sehnt. Aber dann müßt ihr auch euer Herz zum Guten
wenden, denn Gott ist Liebe und verlangt Liebe, denn das Gesetz ist Liebe.
Denn
139
die Propheten und die Bücher der
Weisheit fordern zur Liebe auf, und meine Lehre ist eine Lehre der Liebe.
Opfer und Gebete sind umsonst, wenn ihr Altar und ihre Grundlage nicht die
Nächstenliebe ist, besonders die Liebe zum bedürftigen Nächsten, dem man alle
möglichen Formen der Liebe schenken kann: ein Brot, ein Lager, Kleidung,
Trost, Belehrung und Hinführung zu Gott. Elend entmutigt und läßt den Geist
das Vertrauen in die Vorsehung verlieren, das doch so wichtig ist, um die
Prüfungen des Lebens bestehen zu können. Wie könnt ihr verlangen, daß der
Elende immer gut, geduldig und fromm sei, wenn er sehen muß, daß die vom
Glück, und daher nach allgemeiner Auffassung auch von der göttlichen Vorsehung
Begünstigten hartherzig und ohne wahre Religion sind -denn ihrer Religion
fehlt der erste und wichtigste Teil: die Liebe – und wenn er sieht, daß
diejenigen, die alles haben, keine Geduld kennen und nicht einmal das Flehen
der Hungrigen ertragen? Verfluchen sie bisweilen Gott und euch? Aber wer führt
sie denn zu dieser Sünde? Denkt ihr nie daran, ihr reichen Bürger einer
reichen Stadt, daß ihr eine vorrangige Pflicht habt: jene, die Verlassenen
durch eure Handlungsweise zur Weisheit zu erziehen?
Ich habe sagen gehört: "Wir
möchten alle deine Jünger sein, um dich zu verkünden." Diesen allen antworte
ich: Gewiß könnt ihr das. Aber diejenigen, die zaghaft und beschämt in ihren
zerrissenen Kleidern und mit ihren eingefallenen Gesichtern zu euch kommen,
sie sind es, die die Frohe Botschaft erwarten, die besonders für die Armen
ist, damit ihnen übernatürlicher Trost zuteil werde in der Hoffnung auf ein
glorreiches Leben nach der traurigen Wirklichkeit dieses irdischen Lebens. Ihr
könnt meine Lehre mit geringer materieller Mühe in die Tat umsetzen; doch eure
geistige Mühe ist um so größer: denn die Reichtümer sind eine Gefahr für die
Heiligkeit und die Gerechtigkeit. Sie hingegen können es nur tun, indem sie
Mühen aller Art auf sich nehmen. Das karge Brot, die ungenügende Bekleidung
und das fehlende Obdach drängen sie zu der Frage: "Wie kann ich glauben, daß
Gott mir Vater ist, wenn ich nicht einmal habe, was der Vogel in der Luft
besitzt?" Wie können die Härten des Nächsten sie glauben lassen, daß man sich
wie Brüder lieben soll? Ihr habt die Pflicht, ihnen die Gewißheit zu geben,
daß Gott ein Vater ist und daß ihr Brüder seid mit eurer tätigen Liebe. Die
Vorsehung existiert, und ihr seid ihre Verwalter, ihr, die Reichen der Welt.
Ihr seid ihre Werkzeuge; betrachtet dies als die größte Ehre, die Gott euch
zukommen läßt, und als einziges Mittel, um die gefahrvollen Reichtümer zu
heiligen.
Handelt, als ob ihr in jedem von
diesen hier mich selbst sehen würdet. Ich bin in ihnen. Ich wollte arm und
verfolgt sein, um wie sie zu sein, und auf daß die Erinnerung an den armen,
verfolgten Christus in den kommenden Jahrhunderten ein übernatürliches Licht
auf die wie Christus Armen und Verfolgten werfe und die Menschen mich in ihnen
erkennen
140
und lieben. Ich bin in dem
Bettler, dessen Hunger und Durst ihr stillt und den ihr bekleidet und
aufnehmt. Ich bin in dem aus Liebe angenommenen Waisenkind, in dem Greis, in
der Witwe, denen ihr helft, im Fremden, den ihr aufnehmt, im Kranken, den ihr
pflegt. Ich bin im Betrübten, der getröstet, im Zweifelnden, dem Sicherheit
gegeben, im Unwissenden, der belehrt wird. Ich bin überall, wo jemand Liebe
empfängt. Und alles, was ihr einem geistig oder materiell armen Bruder tut,
das habt ihr mir getan. Denn ich bin der Arme, der Betrübte, der Mann der
Schmerzen, und ich bin es, um Reichtum, Freude und übernatürliches Leben allen
Menschen zu geben, die – oft wissen sie es nicht, und doch ist es so – nur
scheinbar reich und durch falsche Freuden beglückt, in Wirklichkeit aber arm
an wahren Reichtümern und wahrer Freude sind; denn ihnen fehlt die Gnade wegen
der Urschuld, die sie ihrer beraubt. Ihr wißt es: ohne die Erlösung gibt es
keine Gnade, ohne Gnade keine wahre Freude und kein wahres Leben.
Um euch Gnade und Leben zu
bringen, wollte ich nicht als König oder Mächtiger zur Welt kommen, sondern
arm, niedrig, demütig; denn Kronen, Throne und Macht bedeuten nichts für den,
der vom Himmel kommt, um zum Himmel zu führen, während alles von dem Beispiel
abhängt, das ein wahrer Meister geben muß, um seiner Lehre Kraft zu verleihen.
Denn die Armen und Unglücklichen sind zahlreicher als die Mächtigen und
Glücklichen; und Güte bedeutet Barmherzigkeit.
Dazu bin ich gekommen und dazu
hat der Herr seinen Gesalbten entsandt: um den Sanftmütigen die Frohe
Botschaft zu verkünden und diejenigen zu heilen, die gebrochenen Herzens sind;
um den Sklaven die Freiheit und den Gefangenen die Befreiung zu verkünden; um
den Weinenden Trost zu spenden und den Söhnen Gottes, die es in Freude und
Leid bleiben, ihr Diadem, das Kleid der Gerechtigkeit, zu geben und die
wildwachsenden Bäume in einen Garten des Herrn zu verwandeln, in seine
Vorkämpfer und seinen Ruhm. Ich bin allen alles, und alle will ich mit mir im
Himmelreich vereint haben. Allen steht es offen, die rechtschaffen zu leben
wissen. Die Rechtschaffenheit aber liegt in der Befolgung des Gesetzes und in
der Übung der Liebe. In dieses Reich gelangt man nicht durch irdischen
Reichtum, sondern durch das Heldentum der Heiligkeit. Wer dort eingehen will,
der folge mir nach und tue das, was ich tue: er liebe Gott über alles und den
Nächsten, wie ich ihn liebe; er lästere nicht den Herrn, heilige seine Feste,
ehre die Eltern, erhebe seine Hand nicht gegen seinesgleichen, begehe keinen
Ehebruch, beraube in keiner Weise seinen Nächsten, lege kein falsches Zeugnis
ab und verlange nicht nach dem, was er nicht hat und andere haben, sondern sei
vielmehr zufrieden mit seinem Los und denke stets daran, daß es sich nur um
etwas Vergängliches handelt und ein Mittel ist, um ein besseres und ewiges Los
zu erlangen; er liebe die Armen, die Betrübten, die Geringsten der Erde, die
Witwen und die
141
Waisen, und treibe keinen Wucher.
Wer das tut, welcher Nation und Sprache, Stellung und Klasse er auch angehören
mag, der wird eingehen in das Reich Gottes, dessen Tore ich euch öffne.
Kommt zu mir, ihr alle, die ihr
guten Willens seid. Es erschrecke euch nicht, was ihr seid oder wart. Ich bin
das Wasser, das die Vergangenheit abwäscht und für die Zukunft stärkt. Kommt
zu mir, die ihr arm seid an Weisheit, in meinen Worten ist die Weisheit. Kommt
zu mir, führt ein neues Leben mit anderen Grundsätzen. Fürchtet euch nicht,
unwissend oder unfähig dazu zu sein. Meine Lehre ist leicht und mein Joch ist
nicht schwer. Ich bin der Rabbi, der gibt, ohne ein anderes Entgelt als eure
Liebe zu verlangen. Wenn ihr mich liebt, wird euch auch meine Lehre lieb sein,
und ihr werdet auch euren Nächsten lieben und das ewige Leben und das
himmlische Reich erlangen.
Ihr Reichen, befreit euch von
eurer Sucht nach Reichtümern und erwerbt euch mit ihnen das ewige Reich durch
alle Werke barmherziger Nächstenliebe. Ihr Armen, seid nicht so
niedergeschlagen und kommt auf den Weg eures Königs. Mit Isaias sage ich euch:
"Ihr Dürstenden, kommt zur Quelle, und auch ihr, die ihr kein Geld habt, kommt
und kauft." Mit der Liebe werdet ihr kaufen, was Liebe ist, was unvergängliche
Speise ist, Speise, die wahrhaft sättigt und stärkt.
Ich gehe nun, ihr Männer und
Frauen, ihr Reichen und Armen von Hippos. Ich gehe, um den Willen Gottes zu
erfüllen. Aber ich möchte bei meinem Aufbruch weniger betrübt sein als bei
meiner Ankunft. Euer Versprechen ist es, das mir meine Betrübnis erleichtern
wird. Zu eurem eigenen Wohl, ihr Reichen, zum Wohl dieser eurer Stadt,
versprecht mir, in Zukunft barmherzig zu sein mit den Geringsten unter euch.
Alles ist so schön hier. Aber so, wie schwarze Gewitterwolken selbst der
schönster Stadt einen furchterregenden Anblick verleihen, bedeckt auch eure
Herzenshärte wie ein dunkler Schatten alle Schönheit. Legt sie ab, und ihr
werdet gesegnet sein. Bedenkt: Gott versprach, Sodom nicht zu zerstören wenn
sich zehn Gerechte darin fänden. Ihr kennt die Zukunft nicht. Ich kenne sie,
und wahrlich, ich sage euch: Sie bringt mehr und schwerer Strafen als eine
sommerliche Wolke Hagelkörner. Rettet eure Stadt durch eure Rechtschaffenheit,
durch eure Barmherzigkeit. Werdet ihr es tun?»
«Wir werden es tun, Herr, in
deinem Namen. Sprich zu uns! Sprich weiter zu uns! Wir sind hart und sündhaft
gewesen. Aber du rettest uns Du bist der Heiland. Sprich weiter zu uns ...»
«Ich werde bis zum Abend bei euch
sein. Aber ich werde durch mein Werke zu euch sprechen. Jetzt, da die Sonne
drückend heiß wird, geht all in eure Häuser und denkt über meine Worte nach.»
«Und du, wohin gehst du, Herr? Zu
mir! Zu mir!» Alle Reichen von Hippos wollen ihn bei sich haben, und sie
streiten sich beinahe, denn je der verteidigt seinen Grund, warum Jesus bei
ihm einkehren muß.
142
Jesus erhebt die Hand und
gebietet Schweigen. Nur schwer erreicht er es. Dann sagt er: «Ich bleibe bei
diesen hier», und weist auf die Armen, die sich am Rand der Menge
zusammengedrängt haben und ihn anblicken mit den Augen von Menschen, die immer
verschmäht worden sind und sich jetzt geliebt fühlen. Jesus wiederholt: «Ich
bleibe bei ihnen, um sie zu trösten und das Brot mit ihnen zu teilen; um ihnen
einen Vorgeschmack der Glückseligkeit des Reiches zu geben, in dem der König
mitten unter seinen Untertanen beim Liebesmahl sitzen wird. Und inzwischen, da
ihr Glaube auf ihren Gesichtern und in ihren Herzen geschrieben steht, sage
ich ihnen: Es geschehe euch, um was ihr in euren Herzen bittet, und Leib und
Seele sollen aufjubeln im ersten Heil, das euch der Heiland gibt.»
Die Armen bilden eine Gruppe von
mindestens hundert Menschen. Von diesen sind wenigstens zwei Drittel
verkrüppelt, blind oder sichtlich krank. Das andere Drittel sind Kinder, die
für ihre verwitweten Mütter oder für ihre Großeltern betteln... Nun, es ist
wunderbar zu sehen, wie die verkrüppelten Arme, die lahmen Hüften, die
gekrümmten Rücken, die blinden Augen, die Entkräftung, diese schmerzhafte
Vielfalt von Krankheiten und Mißgeschick, Folgen von Unfällen bei der Arbeit
oder von Überanstrengung und Entbehrungen, auf einmal verschwinden, wie diese
Unglücklichen sich beleben, da sie sich plötzlich imstande fühlen, sich selbst
zu genügen. Ein Jubelgeschrei erfüllt mit seinem Widerhall den weiten Platz.
Ein Römer drängt sich mühsam
durch die begeisterte Menge und gelangt schließlich zu Jesus, während dieser
seinerseits versucht, die geheilten Armen zu erreichen, die ihn von ihrem
Platz aus preisen, da es ihnen nicht möglich ist, durch die dichtgedrängte
Menge zu ihm zu kommen.
«Salve, Rabbi von Israel. Ist
das, was du gewirkt hast, nur für die aus deinem Volk?»
«Nein, Mann. Weder das, was ich
getan habe, noch das, was ich gesagt habe. Meine Macht ist für alle da, denn
meine Liebe gilt allen. Meine Lehre ist für alle, denn für sie gibt es keine
Klassen, keine Religion oder Nation, die ihr Grenzen setzen könnten. Das
Himmelreich ist für die Menschheit, für jeden, der an den wahren Gott glauben
kann; und ich bin für all jene da, die an die Macht des wahren Gottes zu
glauben wissen.»
«Ich bin Heide, aber ich glaube,
daß du ein Gott bist. Ich habe einen Sklaven, der mir teuer ist, einen
betagten Sklaven, der mir seit meiner Kindheit dient. Jetzt führt eine Lähmung
langsam und unter großen Schmerzen seinen Tod herbei. Aber er ist ein Sklave,
und vielleicht willst du...»
«Wahrlich, ich sage dir, ich
kenne nur eine wahre Sklaverei, die mich abschreckt: die der Sünde, der
hartnäckigen Sünde. Denn wer sündigt und bereut, dem wird meine Barmherzigkeit
zuteil. Dein Sklave wird
143
gesund werden. Geh und heile dich
von deinem Irrtum, indem du de wahren Glauben annimmst.»
«Kommst du nicht in mein Haus?»
«Nein, Mann.»
«Fürwahr, ich habe zu viel
verlangt. Ein Gott geht nicht in die Häuser der Sterblichen. Das liest man nur
in den Märchen... und niemand hat je Jupiter oder Apollo zu Gast gehabt.»
«Weil sie nicht existieren. Aber
Gott, der wahre Gott, betritt die Häuser der Menschen, die an ihn glauben, und
bringt ihnen Heilung und Frieden.
«Wer ist der wahre Gott?»
«Der, der da ist.»
«Nicht du? Lüge nicht! Ich fühle,
daß du Gott bist...»
«Ich lüge nicht. Du hast es
gesagt. Ich bin es. Ich bin der Sohn Gottes der gekommen ist, auch deine Seele
zu retten, wie ich deinen geliebte Sklaven geheilt habe. Ist es nicht der, der
sich da rufend nähert?»
Der Römer wendet sich um und
sieht einen Alten, der in eine Decke gehüllt und gefolgt von anderen laut
rufend herbeieilt: «Marius! Marius Mein Herr!»
«Beim Jupiter! Mein Sklave! Wie!
... Ich... habe gesagt: Jupiter. Nein Ich will sagen: Beim Rabbi von Israel.
Ich... ich...» Der Mann weiß nicht mehr, was er sagen soll.
Die Menge teilt sich gerne, um
den geheilten Alten durchzulassen.
«Ich bin gesund, Herr. Ich habe
ein Feuer in meinen Gliedern verspürt und gleichzeitig einen Befehlt
vernommen: "Erhebe dich!" Es schien mir deine Stimme zu sein. Ich bin
aufgestanden... und konnte auf meinen Füßen stehen... Ich habe versucht zu
gehen... und es ist mir gelungen... Ich habe nach meinen Wunden vom Liegen
getastet... Sie sind verschwunden Ich habe geschrien. Nereus und Quintus sind
herbeigeeilt. Sie haben mir gesagt, wo du bist. Ich habe nicht gewartet, bis
sie Kleider gebracht haben. Jetzt kann ich dir wieder dienen ...» Der Alte
liegt auf den Knien und küßt die Gewänder des Römers.
«Nicht mir mußt du danken. Er,
dieser Rabbi, hat dich geheilt. D wirst glauben müssen, Aquila. Er ist der
wahre Gott. Er hat jene durch seine Stimme geheilt und dich... ich weiß nicht,
wodurch... Glauben muß man... Herr... ich bin ein Heide... aber sieh hier...
Nein, es ist zu wenig Sage mir, wohin du gehst, und ich werde dir Ehre
erweisen.» Er hat ein Börse angeboten, sie dann aber wieder an sich genommen.
«Ich gehe mit diesen hier den
dunklen Säulengang.»
«Ich werde dir etwas für sie
schicken. Salve, Rabbi. Ich werde es alle erzählen, die nicht glauben...»
«Leb wohl. Ich erwarte dich auf
den Wegen Gottes.»
Der Römer geht mit seinen Sklaven
fort. Jesus entfernt sich mit seine Armen, den Aposteln und den Jüngerinnen.
144
Der Säulengang – mehr ein
überdeckter Weg als ein Säulengang – ist schattig und frisch, und die Freude
ist so groß, daß auch dieser an sich unbedeutende Ort schön erscheint. Hin und
wieder kommt ein Bürger und gibt Almosen. Der Sklave des Römers kehrt mit
einer schweren Börse zurück. Jesus schenkt Worte des Lichtes und Trost mit dem
Geld, und als die Apostel mit Lebensmitteln zurückkommen, bricht er das Brot,
segnet die Speisen und gibt den Armen davon, seinen Armen...
503. NACH GAMALA
Der Abend sinkt hernieder mit
einer frischen Brise, die nach so viel Hitze Erquickung bringt, und auch die
Schatten verschaffen Erleichterung nach so viel Sonne.
Jesus verabschiedet sich von den
Bewohnern von Hippos, fest entschlossen, seine Abreise nicht mehr zu
verzögern, da er am Sabbat in Kapharnaum sein will.
Das Volk entfernt sich, wenn auch
nur ungern, und der eine oder andere folgt ihm hartnäckig bis vor die Stadt.
Unter diesen ist auch die Frau aus Apheca, die Witwe, die im Vorort am See den
Herrn gebeten hatte, Pflegemutter des kleinen Alphäus, den seine Mutter nicht
haben will, sein zu dürfen. Sie hat sich unter die Jüngerinnen gemischt, als
ob sie eine von ihnen wäre, und nun ist sie schon so sehr mit ihnen vertraut,
daß sie von den anderen als zur Familie gehörig betrachtet wird. In diesem
Augenblick ist sie bei Salome und tuschelt ganz eifrig mit ihr. Weiter hinten
sehe ich Maria mit ihrer Schwägerin. Sie passen ihre Schritte denen des
Knäbleins an, das in ihrer Mitte geht und jeder von beiden eine Hand gegeben
hat. Es vergnügt sich damit, vom Rand einer Steinplatte der Straße zu dem der
nächsten zu springen; eine Straße, die offensichtlich die Römer gebaut haben,
denn sie besteht aus regelmäßigen Platten.
Dabei lacht es jedesmal und sagt:
«Siehst du, wie tüchtig ich bin? Schau, schau noch einmal.» Ein Spiel, das
wohl alle Kinder der Welt machen, wenn sie an der Hand jener sind, die sie
ihre Zuneigung fühlen lassen. Die beiden heiligen Frauen, die ihn an der Hand
halten, zeigen große Begeisterung für sein Spiel und loben ihn für seine
Tüchtigkeit im Springen. Der arme Kleine ist in den wenigen Tagen liebevollen
Friedens förmlich aufgeblüht, sein Auge ist heiter wie das glücklicher Kinder,
und sein silberhelles Lachen läßt ihn sogar noch schöner und vor allem
kindlicher erscheinen, ohne jenen traurigen Ausdruck verfrühter Reife, den er
am Abend der Abreise von Kapharnaum hatte.
Maria des Alphäus, die das
beobachtet und einige Worte der Sara, der
145
Witwe, vernimmt, sagt zur
Schwägerin: «Es wäre wirklich gut so! Wenn ich Jesus wäre, würde ich ihn ihr
geben.»
«Er hat noch eine Mutter,
Maria...»
«Mutter? Das würde ich nicht
sagen. Eine Wölfin ist eine bessere Mutter als diese Rabenmutter.»
«Das ist wahr. Doch selbst wenn
sie ihrem Sohn gegenüber kein Pflichtgefühl hat, so hat sie immer noch ein
Recht auf ihren Sohn.»
«Hm! Um ihn leiden zu lassen!
Schau, wieviel besser es ihm hier geht!»
«Ich sehe es, aber... Jesus hat
nicht das Recht, den Müttern die Kinder zu nehmen; nicht einmal, um sie jemand
zu geben, der sie wirklich lieben würde.»
«Die Menschen hätten auch kein
Recht zu... Genug. Was weiß ich ...»
«Oh! Ich verstehe dich... Du
willst sagen: Die Menschen hätten auch kein Recht, dir deinen Sohn zu nehmen;
und dennoch werden sie es tun. Aber durch das, was menschlich gesprochen
grausam ist, werden sie etwas unendlich Gutes bewirken. Hier hingegen weiß ich
nicht, ob es gut für diese Frau wäre ...»
«Für den Kleinen aber wohl. Doch
warum... hat er uns diese schreckliche Zukunft eröffnet? Ich habe keine Ruhe
mehr, seit ich es weiß ...»
«Wußtest du nicht schon vorher,
daß der Erlöser leiden und sterben muß?»
«Ja, gewiß habe ich es gewußt!
Aber ich wußte nicht, daß es Jesus war. Ich habe ihn so gern, weißt du? Mehr
als meine eigenen Kinder. So schön, so gut... Oh! Ich habe dich um ihn
beneidet, meine Maria, als er ein Kind war, und dann immer... immer... Schon
ein Lufthauch beunruhigte mich seinetwegen... Ich darf nicht daran denken, daß
er gequält werden wird...» Maria Kleophä weint in ihren Schleier.
Maria, die Mutter, tröstet sie:
«Meine Maria, betrachte dies nicht vom menschlichen Standpunkt aus. Denke an
die Früchte... Du kannst dir vorstellen, wie ich jeden Tag die Sonne sinken
sehe... Wenn sie am Horizont entschwindet, sage ich mir: wieder einen Tag
weniger, den ich Jesus habe... Oh! Maria! Für etwas danke ich dem
Allerhöchsten ganz besonders: daß er mir gestattet hat, die vollkommenste
Liebe zu erlangen, die ein Geschöpf besitzen kann, eine Liebe, die mir dazu
verhilft, mein Herz zu trösten und zu stärken mit den Worten: "Sein und mein
Schmerz werden das Heil meiner Brüder sein, daher sei dieser Schmerz
gesegnet." Wenn ich nicht den Nächsten so sehr lieben würde... könnte ich
nicht, niemals daran denken, daß man Jesus zum Tode führen wird...»
«Aber was für eine Liebe ist denn
die deine? Was für eine Liebe muß man besitzen, um solche Worte aussprechen zu
können? Um... um... u
nicht mit dem eigenen Geschöpf zu
fliehen, es zu verteidigen und dein Nächsten zu sagen: "Mein erster Nächster
ist mein Sohn, den ich über alles liebe?"»
146
«Wer über alles geliebt werden
muß, ist Gott.»
«Und er ist Gott.»
«Er tut den Willen des Vaters,
und ich mit ihm. Was für eine Liebe die meine ist? Was für eine Liebe man
haben muß, um solche Worte aussprechen zu können? Die Liebe der Verschmelzung
mit Gott, die vollkommene Vereinigung, die vollkommene Hingabe, das Aufgehen
in ihm, Man darf nur mehr ein Teil von ihm sein, so wie die Hand ein Teil von
dir ist und das tut, was dein Kopf befiehlt. Das ist meine Liebe, und das ist
die Liebe, die man haben muß, um immer mit gutem Willen den Willen Gottes zu
erfüllen.»
«Aber du bist du. Du bist die
Gebenedeite unter allen Geschöpfen. Gewiß warst du das schon, bevor du Jesus
hattest; denn Gott hat dich dazu erwählt, ihn zu gebären, und dir ist es
leicht...»
«Nein, Maria. Ich bin Frau und
Mutter wie jede andere Frau und Mutter. Das Geschenk Gottes hebt nicht das
Menschliche auf. Das Menschliche bleibt wie bei jeder anderen, auch wenn das
Geschenk eine sehr starke Geistigkeit verleiht. Du weißt es ja, daß ich das
Geschenk aus freiem Willen annehmen mußte, und mit allen Folgen, die es mit
sich brachte; denn jedes Geschenk Gottes ist eine große Glückseligkeit, aber
auch eine große Verpflichtung. Gott zwingt keinen Menschen, seine Gaben
anzunehmen, sondern er fragt das Geschöpf. Wenn aber das Geschöpf der
geistigen Stimme, die zu ihm spricht, mit einem "Nein" antwortet, zwingt Gott
es nicht. Alle Seelen werden wenigstens einmal im Leben von Gott gefragt,
ob...»
«Oh! Ich nicht! Von mir hat er
nie etwas verlangt!» ruft Maria des Alphäus mit Bestimmtheit.
Die Jungfrau Maria lächelt sanft
und antwortet: «Du hast es nicht bemerkt, und deine Seele hat geantwortet,
ohne daß du dir dessen bewußt geworden bist; und dies, weil du den Herrn schon
sehr liebst.»
«Ich versichere dir, daß er nie
zu mir gesprochen hat ...»
«Warum bist du dann hier, als
Jüngerin Jesu? Und warum kämpfst du innerlich so sehr darum, daß deine Söhne,
alle Nachfolger Jesu werden? Du weißt, was es heißt, ihm nachzufolgen, und
trotzdem willst du, daß deine Söhne ihm nachfolgen.»
«Gewiß! Ich möchte sie ihm alle
geben. Dann erst könnte ich wirklich sagen, daß ich meine Kinder dem Licht
geschenkt habe. Und ich bete inständig, daß ich sie ihm, Jesus, mit einer
wahren, ewigen Mütterlichkeit gebären kann.»
«Da siehst du es! Und warum tust
du das? Weil Gott dich eines Tages gefragt hat: "Maria, würdest du mir deine
Söhne geben, damit sie meine Diener werden im Neuen Jerusalern?" ' und du ihm
geantwortet hast: "Ja, Herr." Auch jetzt, da du weißt, daß der Schüler nicht
über dem Meister steht, antwortest du Gott, der dich wiederum fragt, um deine
Liebe zu
147
prüfen: "Ja, mein Herr, ich will
immer noch, daß sie dir angehören!" Ist es nicht so?»
«Ja, Maria, so ist es. Es ist
wahr. Ich bin so unwissend, daß ich nicht verstehen kann, was in der Seele vor
sich geht. Aber wenn ihr, Jesus oder du, mich nachdenklich macht, sage ich,
daß es wahr ist. Es ist wirklich wahr. Ich sage... ich würde lieber sehen, daß
sie von den Menschen getötet werden, als daß sie Feinde Gottes sind... Gewiß,
wenn ich sie sterben sehen würde... wenn... Oh, aber der Herr würde mir
helfen, nicht wahr? Sicherlich würde er mir in jener Stunde beistehen... Oder
wird er nur dir allein helfen?»
«Er wird allen seinen treuen
Töchtern helfen, die Märtyerinnen im Geiste, oder im Geiste und im Fleisch
sein werden zu seiner Ehre.»
«Aber wer muß denn getötet
werden?» fragt das Knäblein, das bei diesen Gesprächen aufgehört hat
herumzuhüpfen und ganz Ohr gewesen ist Es fragt auch noch, halb neugierig,
halb erschrocken, indem es seinen Blick über die verlassenen Felder schweifen
läßt, die immer dunkler wer den: «Gibt es hier Räuber? Wo sind sie?»
«Es gibt keine Räuber hier, Kind,
und vorläufig muß niemand getötet werden. Spring, spring noch einmal...» sagt
die heilige Jungfrau Maria
Jesus, der schon weit vorne war,
bleibt stehen, um auf die Frauen zu warten. Von denen, die ihm von Hippos
gefolgt sind, sind noch drei Männer und die Witwe da. Die anderen haben sich,
einer nach dem anderen entschlossen, ihn zu verlassen und in ihre Stadt
zurückzukehren.
Die beiden Gruppen vereinigen
sich: «Machen wir hier eine Pause bis der Mond aufgeht. Dann gehen wir weiter,
so daß wir in der Morgenfrüh in Gamala sind.»
«Aber Herr, erinnerst du dich
nicht, wie sie dich das letzte Mal vertrieben haben? Sie haben dich gebeten
fortzugehen ...»
«Nun, ich bin ja fortgegangen,
und jetzt komme ich wieder. Gott ist geduldig und klug. Damals waren sie in
ihrer Aufregung nicht fähig, da Wort aufzunehmen, das nur dann Frucht bringen
kann, wenn der Geist im Frieden ist. Erinnert euch des Elias und seiner
Begegnung mit den Herrn auf dem Horeb und bedenkt, daß Elias ein von Gott
geliebte Mensch war und es gewohnt war, ihm zuzuhören. Erst im Frieden eine
leichten Brise, als der Geist nach seiner Bestürzung im Frieden der Schöpfung
und seines aufrichtigen Ichs ruhte, erst dann sprach der Herr. Und der Herr
hat gewartet, bis der Schrecken der Erinnerung an den Durchzug der Legion
Dämonen durch diese Gegend – denn der Vorübergang de Herrn ist Frieden,
während der Vorübergang Satans Verwirrung schafft – der Herr hat also
gewartet, daß die Bestürzung sich legt und die Herze und Gemüter wieder klar
sind, um zu den Bewohnern von Gamala zu rückzukehren, die auch seine Kinder
sind. Fürchtet euch nicht. Sie werde uns nichts zuleide tun.»
148
Die Witwe von Apheca tritt vor
und wirft sich vor Jesus nieder: «Und zu Mir wirst du nicht kommen, Herr? Auch
Apheca ist voll von Gotteskindern ...»
«Der Weg ist beschwerlich, und
wir haben nicht viel Zeit. Wir haben die Frauen bei uns und müssen bis zum
Sabbat in Kapharnaum sein. Bestehe nicht darauf, Frau», sagt Iskariot
entschieden, indem er sie fast zurückstößt.
«Ich möchte... daß er sich
überzeugt, daß ich das Knäblein gut aufziehen könnte.»
«Aber es hat noch seine Mutter,
verstehst du?» antwortet wiederum Iskariot, und er sagt es sehr unhöflich.
«Kennst du Abkürzungen von Gamala
nach Apheca?» fragt Jesus die gedemütigte Frau.
«O ja! Es gibt einen guten,
schattigen Gebirgspfad durch den Wald, und für die Frauen könnten wir Esel
nehmen, die ich gern bezahlen würde.»
«Ich werde in dein Haus kommen,
um dich zu trösten, auch wenn ich dir das Knäblein nicht geben kann, weil es
seine Mutter hat. Aber ich verspreche dir, daß ich, wenn es Gott für richtig
halten sollte, daß das unschuldige Kind neue Liebe findet, an dich denken
werde.»
«Danke, Meister. Du bist gut»,
sagt die Witwe und schaut Judas an auf eine Art, als wollte sie sagen: «Und du
bist böse.»
Das Kind hat zugehört und auch
verstanden, wenigstens teilweise. Es hat die Witwe bereits liebgewonnen,
welche es ihrerseits mit Liebkosungen und Leckerbissen erobert hat. Ein wenig
aus natürlicher Überlegung, ein wenig aus dem Geist der Nachahmung, der den
Kindern eigen ist, tut es fast genau dasselbe wie die Witwe, ohne sich jedoch
zu Jesu Füßen niederzuwerfen. Es klammert sich an seine Knie, erhebt sein
Gesichtchen, das der Mond ganz bleich erscheinen läßt, und sagt: «Danke
Meister, du bist gut.» Und es beschränkt sich nicht darauf, sondern will ganz
klar machen, was es denkt, und fährt fort: «Und du bist böse», indem es mit
seinem kleinen Füßchen dem Fuß des Judas einen leichten Tritt versetzt, damit
keine Verwechslung der Person möglich sei.
Das Gelächter des Thomas ist so
laut, daß es auch die anderen zum Lachen verleitet, als er sagt: «Armer Judas!
Hier wird wieder klar, daß die Kinder dich nicht lieben! Von Zeit zu Zeit
beurteilt dich eines von ihnen, und das Urteil fällt immer so schlecht aus!
...»
Judas hat so wenig Humor, daß er
in Zorn gerät, in einen ungerechten Zorn, der in keinem Verhältnis steht zur
Ursache und zum Gegenstand, der ihn hervorgerufen hat, und der sich dadurch
äußert, daß er in häßlicher Weise den Kleinen von den Knien Jesu losreißt und
ihn brüllend zurückschleudert: «Das geschieht, wenn man mit ernsten Dingen
Spaß treibt. Es ist weder schön noch nützlich, ein Gefolge von Frauen und
Bastarden zu haben...»
149
«Nun übertreibst du aber. Auch du
hast doch seinen Vater gekannt. Er war ein legitimer Gatte und ein Gerechter»,
bemerkt Bartholomäus streng.
«Ja und? Ist dieser da nicht
trotzdem elternlos und ein künftiger Dieb? Flüstert man nicht seinetwegen
wenig Gutes hinter unserem Rücken? Man hat ihn für einen Sohn deiner Mutter
gehalten... Und wo ist der Gatte, um einen Sohn dieses Alters zu
rechtfertigen? Oder man glaubt, er gehöre einem von uns ...»
«Schluß! Du sprichst die Sprache
der Welt. Aber die Welt spricht im Schlamm zu den Kröten, den Nattern, den
Eidechsen und allen unreinen Tieren... Komm, Alphäus. Weine nicht. Komm zu
mir, ich nehme dich auf den Arm.»
Die Not des Kindes ist groß. Der
ganze Schmerz des von der Mutter abgewiesenen Waisenkindes, der sich in diesen
Tagen des Friedens etwas gelegt hat, lebt wieder auf. Mehr als die Schrammen,
die es bei seinem Fall auf den steinigen Boden an Stirn und Händen
davongetragen hat und die die Frauen reinigen und küssen, um es zu trösten,
bringt es sein Schmerz als ungeliebter Sohn zum Weinen. Ein langes,
herzzerreißendes Weinen, und Rufe nach seinem verstorbenen Vater und seiner
Mutter... Oh! Armes Kind!
Ich, die die Menschen nie geliebt
habe, weine mit ihm; und wie dieses Kind nehme ich meine Zuflucht zu Gott,
heute, am Jahrestag des Begräbnisses meines Vaters; heute, da eine ungerechte
Entscheidung mich der häufigen Kommunion beraubt...
Jesus nimmt das Kind auf, küßt
es, wiegt es, tröstet es und geht i
Mondschein allen voraus mit dem
Unschuldigen in den Armen. Während das Weinen des Kindes allmählich verstummt,
hört man in der nächtlichen Stille die Stimme Jesu sagen: «Ich bin da,
Alphäus. Ich für alle. Ich bin dir Vater und Mutter. Weine nicht! Dein Vater
ist bei mir und küßt dich mit mir. Die Engel sorgen für dich, als wären sie
Mütter. Alle Liebe ist mit dir, wenn du brav und unschuldig bist.»
Und die rauhe Stimme eines der
Drei aus Hippos sagt: «Der Meister ist gut und zieht die Menschen an, aber
seine Jünger nicht. Ich gehe...»
Und die strenge Stimme des
Zeloten sagt zu Iskariot: «Siehst du, was du angestellt hast.»
Und dann, während allein die
Witwe von Apheca bei den Jüngerinnen bleibt und mit ihnen seufzt, hört man nur
noch das leiser werdende Geräusch der Schritte. Denn die Drei aus Hippos sind
weggegangen. So geht es weiter, bis sie bei einer großen Höhle anhalten.
Vielleicht ist es ein Unterschlupf der Hirten, denn sie finden frisch
geschnittenes Heide- und Farnkraut, das zum Trocknen auf dem Boden
ausgebreitet ist.
«Wir wollen hierbleiben. Laßt uns
dieses Lager der Vorsehung für die Frauen herrichten. Wir werden uns draußen
im Gras niederlegen», sagt Jesus. Und so geschieht es, während der Vollmond am
Firmament dahinzieht.
150
504. IN GAMALA
Jesus erwacht beim ersten
Morgengrauen und setzt sich auf seinem rustikalen Lager aus Erde und Gras auf.
Dann erhebt er sich, zieht die Sandalen an, nimmt den Mantel, der ihm zum
Schutz gegen Tau und nächtliche Kühle gedient hat, und geht vorsichtig durch
das Gewirr von Beinen und Armen, Rümpfen und Köpfen der Apostel, die um ihn
herum eingeschlafen sind. Er entfernt sich einige Meter und muß dabei die
Augen anstrengen, um zu sehen, wo er den Fuß hinsetzt; denn das ungewisse
Licht des Morgengrauens ist hier unter den belaubten Bäumen nur ein schwacher
Schimmer. So gelangt er auf eine offene Wiese. Durch eine Lücke zwischen
Bäumen und Felsen sieht man einen kleinen Zipfel des Sees, der gerade erwacht,
und ein großes Stück des Himmels, der sich immer mehr aufhellt und dabei von
dem für das aus der Nacht auftauchende Firmament typischen Graublau in
Himmelblau übergeht. Im Osten nimmt er schon eine gelbliche Tönung an, die
immer deutlicher und stärker wird, bis sich der gelbliche Ton in ein rosiges
Gelb wandelt und dann in ein blasses, unbestimmtes Korallenrot.
Der Morgen verspricht einen
schönen Tag trotz des leichten Nebels, der sich nur langsam entschließt, im
Osten das Feld zu räumen und sich in leichte Wolkenschleier auflöst, so
leicht, daß das Blau des Himmels nicht darunter leidet; vielmehr schmückt das
Firmament sich wie mit einem glänzend weißen Musselingewand mit gold- und
korallenfarbenen Fransen, das, immer wechselnd, immer schöner wird, als wolle
es den Höhepunkt seiner flüchtigen Schönheit erreichen, bevor der Tag sie mit
dem Triumph der Sonne zerstört. Im Westen hingegen hält noch da und dort ein
Sternlein dem wachsenden Tageslicht stand, wenn auch seine nächtliche
Leuchtkraft schon verblaßt ist, und der Mond, der dabei ist, hinter einem
Gebirgskamm zu entschwinden, zieht bleich und ohne Strahlen wie ein sterbender
Planet dahin.
Jesus steht aufrecht mit bloßen
Füßen im taunassen Gras, die Arme auf der Brust verschränkt und das Haupt
erhoben, um den aufsteigenden Tag zu betrachten. Er denkt nach... oder ist mit
dem Vater in geistigem Gespräch.
Absolutes Schweigen herrscht
ringsherum, daß man selbst die Tropfen des überreichen Taues fallen hört.
Jesus neigt sein Haupt, immer
noch aufrecht stehend und mit verschränkten Armen und immer tiefer in seine
Betrachtung versunken. Er ist völlig in sich selbst eingekehrt. Seine
wunderbaren Augen sind weit geöffnet auf den Boden gerichtet, fast als erwarte
er von den Gräsern eine Antwort. Aber ich bin überzeugt, daß sie nicht einmal
die leise Bewegung der Halme bemerken, die im frischen Morgenwind erzittern;
ein Schauern, gleich dem eines Menschen, der vom Schlaf erwacht und sich
reckt,
151
dreht und wendet und schüttelt,
um mit allen Nerven und Muskeln wach und lebendig zu sein. Jesus schaut, sieht
aber nicht dieses Erwachen der Kräuter und wilden Blumen, die von Zweiglein,
Blättern, Dolden und Blütentrauben, von Ähren und Büscheln, von Kelchen und
Strahlenkränzen, Löwenmäulchen, Füllhörnern, Federbüschen und Beeren, die
teils steif auf ihren Stielen sitzen, teils weich von Stengeln hängen, die
nicht die ihren sind, um die sie sich aber gerankt haben, oder auch
alleingelassen auf dem Boden kriechen; die kleine Familien aus vielen
niedrigen und demütigen Pflänzchen bilden oder einsam, groß, breit und
anspruchsvoll in Farbe und Gebaren dastehen, die aber alle von ihren
Blütenblättern die Tautropfen abschütteln und jetzt nicht mehr Feuchtigkeit,
sondern Sonne wollen – launisch in ihren Wünschen wie in ihrem Benehmen... und
darin den Menschen sehr ähnlich, die auch nie zufrieden sind mit dein, was sie
gerade haben.
Es scheint, als ob Jesus auf
etwas horche. Aber sicher hört er weder das Rauschen des stärker werdenden
Windes, der seinen Spaß daran hat, einen Regen von Tau herabzuschütteln und
auf die Erde fallen zu lassen, noch das immer lauter werdende Gezwitscher der
Vögel, die erwachen und sich gegenseitig ihre nächtlichen Träume erzählen oder
ihre Betrachtungen austauschen über eine warme und fröhliche Wiege, in der
zwischen Flaum und weichem Heu die Jungen, die gestern noch nackt waren,
bereits die ersten Flaumfedern ansetzen oder ihre unverhältnismäßige Schnäbel
aufsperren und die gierigen, roten Kehlen zur Schau stellen und dabei
energisch nach Nahrung schreien. Es scheint, als ob er aufhorche. Aber sicher
hört er weder den ersten spöttischen Ruf der Amsel, noch den ersten süßen
Gesang der Grasmücke, noch die goldenen Triller der Lerche, die festlich dem
ersten Sonnenstrahl entgegenfliegt, noch das Zwitschern der die ruhige Luft
durchstreifenden, zahlreichen Schwalben, die nun die Löcher im Fels verlassen,
wo sie ihr Nest gebaut haben, und mit ihren unermüdlichen Flügen ein Band
zwischen Himmel und Erde zu weben beginnen. Gewiß hört er auch nicht die
ausgelassenen Schreie der Elster, die sich auf einem Zweig der Steineiche
schaukelt, bei der Jesus steht und ihm zuzurufen scheint: «Wer bist du? Was
denkst du?» und ihn auslacht. All das stört ihn nicht in seiner Betrachtung.
Aber wer weiß nicht, daß die
Elstern schalkhafte Tiere sind? Diese da ist es müde, einen Eindringling in
dem Wiesengrund zu sehen, der vielleicht der Ort ihres Vergnügens ist. Sie
reißt zwei schöne Eicheln an einem Stiel von einem Ast und läßt sie mit der
Treffsicherheit eines erfahrenen Schützen auf das Haupt Jesu fallen. Es ist
kein schweres Wurfgeschoß, das verletzen könnte; aber wegen der Höhe, aus der
es herabfällt, ist seine Wucht doch groß genug, um den Sinnenden aufzurütteln.
Er schaut nach oben und sieht den Vogel, der mit ausgebreiteten Flügeln und
drolligen Verneigungen sich seiner Tat erfreut. Jesus lächelt, schüttelt das
Haupt,
152
seufzt auf wie zur Krönung seiner
Betrachtungen und entfernt sich hin- und herwandelnd. Die Elster hüpft
vergnügt und mit einem Lachen und einem spöttischen "Ge-Ge" herab, um mit den
Flügeln zu schlagen, herumzustöbern und in der Wiese zu graben, die der
Eindringling freigegeben hat.
Jesus sucht nach Wasser. Aber er
findet keines. Er hat sich schon damit abgefunden, unverrichteter Dinge zu den
Aposteln zurückzukehren, aber die Vögel zeigen ihm, wo Wasser zu finden ist.
In Schwärmen steigen sie herab auf sehr breite Kelchblumen, die ebenso viele
mit Wasser gefüllte kleine Becher sind, oder sie setzen sich auf breite,
behaarte Blätter, die mit jedem Härlein einen Tropfen Tau aufgefangen haben;
und dort stillen sie ihren Durst oder machen ihre Waschungen. Jesus macht es
ihnen nach. Er sammelt das Wasser der Blumenkelche in der hohlen Hand und
erfrischt sich damit das Gesicht; er pflückt die breiten haarigen Blätter und
entfernt damit den Staub von den Füßen, reinigt die Sandalen und schnürt sie
an seine Füße, und wäscht sich dann die Hände, bis sie sauber sind, wobei er
lächelnd murmelt: «Die göttlichen Vollkommenheiten des Schöpfers!»
Nun ist er erfrischt und
ordentlich, denn mit der feuchten Hand hat er sich auch Haare und Bart
zurechtgemacht, und während der erste Sonnenstrahl die Wiese in einen
diamantenen Teppich verwandelt, geht er die Apostel und die Frauen aufwecken.
Müde wie sie sind, wollen sie
nicht gleich aufwachen. Aber Maria ist schon wach, sitzt jedoch unbeweglich da
wegen des Knäbleins, das an ihrer Brust, mit dem Köpflein unter ihrem Kinn,
schläft. Als die Mutter auf der Schwelle der Höhle ihren Jesus erblickt,
lächelt sie ihm mit ihren sanften, himmelblauen Augen zu, und die Freude, ihn
zu sehen, läßt sie erröten. Sie entledigt sich des Kindes, das ein wenig
jammert, als es die Bewegung spürt, richtet sich auf und geht zu Jesus mit dem
leisen, leicht schaukelnden Schritt einer reinen Taube.
«Gott segne dich, mein Sohn, an
diesem Tage.»
«Gott sei mit dir, Mutter. Ist
dir die Nacht beschwerlich gewesen?»
«Im Gegenteil. Ich war sehr
glücklich. Es schien mir, dich als Kind in den Armen zu halten... und ich habe
geträumt, daß es wie ein goldener Strom aus deinem Mund floß, mit einem Klang
von unsagbarer Süßigkeit, und daß eine Stimme zu mir sagte... oh! welche
Stimme! "Dies ist das Wort, das die Welt reich macht und jedem Seligkeit
verleiht, der es hört und befolgt; grenzenlos in Macht, Zeit und Raum, wird es
Rettung bringen." Oh, mein Sohn, und du bist es, mein Kind, dieses Wort! Wie
werde ich lange genug leben und wirken können, um dem Ewigen dafür zu danken,
daß er mich zu deiner Mutter auserwählt hat?»
«Mach dir darüber keine Gedanken,
Mutter. An jedem Schlag deines Herzens hat Gott sein Wohlgefallen. Du bist das
lebendige Gotteslob und wirst es immer sein, Mutter. Du sagst ihm Dank, seit
du lebst...»
153
«Aber es scheint mir, daß ich es
nicht genug tue, Jesus. Es ist so groß, so groß, was Gott an mir getan hat!
Und was tue ich schließlich mehr, als alle die guten Frauen, die wie ich deine
Jüngerinnen sind? Mein Sohn, sage du unserem Vater, daß er mir zeigen soll,
wie ich ihm so danken kann, wie dieses Geschenk es verdient.»
«Meine Mutter, glaubst du, der
Vater bedürfe dieser meiner Bitte für dich? Er hat dir schon das Opfer
bereitet, das du darbringen mußt für dieses vollkommene Lob. Und vollkommen
wirst du sein, wenn du diese deine Aufgabe erfüllt hast ...»
«Mein Jesus! Ich verstehe, was du
sagen willst... Aber werde ich in jener Stunde überhaupt fähig sein zu denken?
Deine arme Mutter ...»
«Die selige Braut der Ewigen
Liebe! Mutter, das bist du, und die Liebe wird in dir denken.»
«Du sagst es, Sohn, und ich baue
auf dein Wort. Aber du... bete für mich in jener Stunde, die keiner von diesen
hier versteht... und die nicht mehr fern ist... Ist es nicht so? Ist es
vielleicht nicht wahr?» Es ist unmöglich, den Gesichtsausdruck Marias bei
diesem Zwiegespräch zu beschreiben. Kein Schriftsteller könnte ihn in Worte
kleiden, ohne in Zimperlichkeit oder unklare Ausdrucksweise zu verfallen. Nur
wer ein Herz hat, und ein gutes und gleichzeitig starkes Herz, kann im Geiste
den wirklichen Ausdruck beschreiben, den das Antlitz Marias in diesem
Augenblick annimmt.
Jesus blickt sie an... Wieder ein
Ausdruck, den man nicht in armselige menschliche Worte fassen kann. Er
antwortet ihr: «Und du, bete für mich in der Stunde des Todes ... Ja, niemand
von diesen versteht es... Es ist nicht ihre Schuld. Es ist Satan, der den
Rauch verbreitet, damit sie nicht sehen und wie trunken nicht verstehen und
daher unvorbereitet... leichter unterliegen. Aber ich und du, wir werden sie
retten trotz der Nachstellungen Satans. Jetzt schon vertraue ich sie dir an,
meine Mutter. Erinnere dich dieser Worte: ich vertraue sie dir an. Dir
übergebe ich mein Erbe. Ich habe nichts auf Erden außer einer Mutter, und
diese opfere ich Gott auf: Opfer mit dem Opfer. Und meine Kirche vertraue ich
dir an. Sei ihr Ernährerin. Vor kurzem dachte ich daran, wie viele Menschen in
den künftigen Jahrhunderten auf dieser Welt wie der Mann von Kerioth, und mit
all seinen Lastern, leben werden, und es war mir klar, daß jeder, der nicht
Jesus ist, ihn zurückweisen wird, dieses sündige Geschöpf. Aber ich werde ihn
nicht zurückweisen. Ich bin Jesus. Du, die du auf Erden bleiben wirst, als
zweite nach Petrus in der Hierarchie der Kirche, er als das Oberhaupt, du als
erste unter den Gläubigen und Mutter der Kirche, da du mich, das Haupt dieses
mystischen Leibes, geboren hast; weise du die zahlreichen Judasse nicht
zurück, sondern belehre Petrus, die Brüder, Johannes, Jakobus, Simon,
Philippus, Bartholomäus, Andreas, Thomas und Matthäus, sie nicht
zurückzuweisen, sondern ihnen zu helfen. Verteidige mich
154
in meinen Nachfolgern und
verteidige mich gegen jene, welche die entstehende Kirche zerstören und
zerstreuen wollen. Durch die Jahrhunderte, Mutter, sollst immer du diejenige
sein, die für meine Kirche bittet, sie beschützt, sie verteidigt und ihr,
meinen Priestern und meinen Gläubigen beisteht, und sie beschützt vor dem
Bösen, vor der Strafe und vor ihnen selbst... Wie viele Judasse, o Mutter,
wird es in den kommenden Jahrhunderten geben, und wie viele werden versagen
wie er, weil sie nicht verstehen können, weil sie blind und taub sind, so daß
sie nicht sehen und nicht hören können, oder weil sie wie die Krüppel und die
Lahmen nicht kommen können... Mutter, nimm sie alle unter deinen Mantel. Du
allein kannst und wirst die Strafe des Ewigen von einem und von vielen
abwenden können; denn nichts vermag die Dreieinigkeit ihrer Blume zu
versagen.»
«Ich werde es tun, Sohn. Was mich
angeht, geh in Frieden deinem Ziel entgegen. Deine Mutter ist da, um dich für
alle Zeit in deiner Kirche zu verteidigen.»
«Gott segne dich, Mutter... Komm,
ich werde dir Blumenkelche voll des duftenden Morgentaus pflücken, und du
wirst dein Gesicht erfrischen, wie ich es getan habe. Unser heiligster Vater
hat sie uns bereitet, und die Vögel haben sie mir gezeigt. Sieh, wie alles
dient in der wohlgeordneten Schöpfung Gottes! Dieses Hochplateau liegt nahe
beim See und ist so fruchtbar durch die Nebel, die vom Galiläischen Meer
aufsteigen, und wegen der hohen Bäume, die den Tau anziehen und auch in der
Hitze des Sommers diese Üppigkeit von Gräsern und Blumen möglich machen, und
diesen reichen Tauregen, der die Blumenkelche füllt, damit seine geliebten
Kinder ihr Antlitz erfrischen können... Sieh, was der Vater denen bereitet
hat, die ihn lieben. Nimm. Wasser Gottes, in Kelchen Gottes, um die Eva des
neuen Paradieses zu erquicken.» Jesus pflückt die großen Blumenkelche (ich
weiß nicht, wie die Blumen heißen) und gießt das Wasser, das sich in ihrem
Innern gesammelt hat, in die Hände Marias. Auch die anderen haben sich
inzwischen erfrischt und kommen Jesus holen, der sich einige Meter von der
Höhle entfernt hat.
«Wir sind bereit, Meister.»
«Gut. Wir wollen diese Richtung
einschlagen.»
«Aber ist es die richtige? Der
Wald hört hier auf, und wir sind doch das letzte Mal immer durch Wälder
gegangen...» entgegnet Jakobus des Zebedäus.
«Weil wir vom See heraufgekommen
sind. Diesmal können wir den richtigen Weg nehmen. Seht ihr? Gamala liegt dort
im Südosten, und der einzige Weg ist dieser, denn die anderen drei Seiten sind
nur für wilde Ziegen geeignet.»
«Du hast recht. So vermeiden wir
das große trockene Tal, aus dem wir die Besessenen kommen sahen», sagt
Philippus.
155
Sie verlassen rasch den Wald, in
dem sie geschlafen haben, und gehen auf einem steinigen Pfad auf der
gegenüberliegenden Seite des kleinen Tals weiter, das immer enger wird, je
mehr es sich dem bizarren Berg nähert, an den sich Gamala klammert. Dieser
Berg ist auf drei Seiten, nämlich im Osten, im Norden und im Westen, sehr
steil und mit der Umgegend nur durch diesen einzigen direkten Weg verbunden,
der von Süden nach Norden führt, hoch oben zwischen zwei felsigen, wilden
Tälern, welche die Stadt von den Gefilden im Osten und von den Eichenwäldern
im Westen trennen.
Viele Schweinehirten gehen mit
ihren wühlenden Herden in Richtung auf die Eichenwälder. Mit viereckigen
Steinen beladene und von Ochsen gezogene knarrende Karren fahren langsam
vorüber. Der eine oder der andere Reiter trabt, Staubwolken aufwirbelnd,
dahin. Gruppen von zerlumpten und abgezehrten Erdarbeitern, vermutlich in
ihrer Mehrzahl Sklaven oder zu Zwangsarbeit Verurteilte, werden von strengen
Aufsehern zu den Arbeitsplätzen getrieben.
Allmählich kommt der Berg näher,
und schon steigt die Straße an. Man sieht bereits Festungsgräben, die sich wie
Ringe um die Flanken des Berges ziehen. Diese Gräben auszuheben muß kein
Leichtes gewesen sein, besonders an manchen beinahe überhängenden Stellen.
Dennoch arbeiten zahlreiche Menschen daran, die schon bestehenden
Befestigungen auszubessern und neue hinzuzufügen. Auf nackten Schultern
schleppen sie viereckige Steine herbei, welche die Unglücklichen niederdrücken
und oft blutige Spuren hinterlassen.
«Was machen diese Bürger da?
Besteht etwa Kriegsgefahr, daß sie so hart arbeiten müssen? Sie müssen
verrückt sein», sagen die Apostel zueinander, während die Frauen die
unglücklichen halbnackten Männer bedauern, die schlecht genährt sind und zu
Arbeiten gezwungen werden, die ihre Kräfte übersteigen.
«Aber wer zwingt sie denn zu
arbeiten, der Tetrarch oder die Römer?»fragen die Apostel weiter und
diskutieren miteinander, da mir Gamala doch unabhängig zu sein scheint von den
Tetrarchien des Philippus und des Herodes. Auch halten es einige der Apostel
für unmöglich, daß die Römer sozusagen zu Hause noch weitere Befestigungen
errichten lassen, die morgen gegen sie benützt werden könnten. Die ewige,
schon zum Wahn gewordene Idee vom zeitlichen Reich des Messias erscheint hier
wieder wie das Wahrzeichen eines bereits sicheren Sieges und nationaler Größe
und Unabhängigkeit.
Sie sprechen so laut, daß einige
der Aufseher sich nähern und zuhören. Es sind rohe Menschen, der Rasse nach
sichtlich keine Hebräer; viele sind bejahrt und verschiedene tragen Narben am
Körper. Aber was sie sind, verraten die verächtlichen Worte eines von ihnen:
«"Unser Reich"! Hast du das gehört, Titus? Oh, ihr Krummnasen! Euer Reich
liegt schon unter
156
diesen Steinen begraben. "Wer
sich des Feindes bedient, um gegen den Feind Bauten zu errichten, dient dem
Feind" , das sagt euch Publius Corfinius. Solltet ihr mich nicht verstehen, so
wartet ab, und die Steine werden euch das Rätsel lösen», und er lacht und
erhebt die Peitsche, da er sieht, daß einer der Arbeiter vor Erschöpfung wankt
und sich niedersetzt. Und er würde ihn schlagen, wenn Jesus es nicht
verhindern würde, indem er vortritt und sagt: «Es ist dir nicht erlaubt. Er
ist ein Mensch wie du.»
«Wer bist du, daß du dich
einmischest und einen Sklaven verteidigst?»
«Ich bin die Barmherzigkeit. Mein
Name als Mensch würde dir nichts sagen; aber diese meine Eigenschaft soll dich
daran erinnern, barmherzig zu sein. Du hast gesagt: "Wer sich des Feindes
bedient, um gegen den Feind Bauten zu errichten, dient dem Feind." Damit hast
du eine schmerzliche Wahrheit ausgesprochen. Aber ich sage dir nun eine
lichtvolle: "Wer nicht Barmherzigkeit übt, wird keine Barmherzigkeit
erfahren."»
«Bist du ein Rhetor?»
«Ich bin die Barmherzigkeit, ich
habe es dir gesagt.»
Einige, die aus Gamala kommen
oder auf dem Weg dorthin sind, sagen: «Es ist der Rabbi aus Galiläa, der den
Krankheiten, den Winden und Wassern und den Dämonen befiehlt, der die Steine
in Brot verwandelt und dem nichts widersteht. Laßt uns in die Stadt eilen, um
es unseren Mitbürgern mitzuteilen. Die Kranken sollen kommen! Wir wollen sein
Wort hören. Auch wir sind von Israel.» Und einige von ihnen laufen fort,
während die anderen sich um den Meister drängen.
Der Aufseher von vorhin fragt:
«Ist es wahr, was diese von dir sagen?»
«Es ist wahr.»
«Wirke ein Wunder, und ich werde
glauben.»
«Man fordert nicht Wunder, um zu
glauben. Man bittet um Glauben, um glauben und so ein Wunder erlangen zu
können. Glauben und Barmherzigkeit für den Nächsten sind notwendig.»
«Ich bin Heide.»
«Das ist kein guter Grund. Du
lebst in Israel und verdienst hier dein Geld...»
«Weil ich arbeite.»
«Nein, weil du andere arbeiten
läßt.»
«Ich verstehe es, arbeiten zu
lassen.»
«Ja, erbarmungslos. Hast du nie
daran gedacht, daß du, wenn du statt Römer Israelit wärst, an der Stelle eines
dieser Arbeiter sein könntest?»
«Ja, gewiß. Aber ich bin es
nicht, dank dem Schutz der Götter.»
«Sie könnten dich nicht
verteidigen, deine eitlen Götzen, wenn der wahre Gott dich anschuldigen
wollte. Du bist noch nicht tot, sei also barmherzig, um Barmherzigkeit zu
finden...»
Der Mann will antworten und etwas
erwidern, dann aber dreht er Jesus
157
mit einem verächtlichen
Achselzucken den Rücken zu und geht, um einen zu schlagen, der aufgehört hat,
mit der Spitzhacke eine widerspenstige Schicht des Gesteins zu bearbeiten.
Jesus schaut den unglücklichen
Arbeiter und auch den Schläger an. Zwei Blicke gleicher und doch ungleicher
Barmherzigkeit und von einer so tiefen Traurigkeit, daß sie mich an gewisse
Blicke Christi während der Passion erinnern. Aber was kann er tun? Er kann
nicht eingreifen, und so nimmt er den Weg wieder auf mit der Last dieses
schrecklichen Anblicks, die ihm das Herz beschwert.
Doch von Gamala kommen im
Laufschritt Bürger herab, gewiß wichtige Persönlichkeiten der Stadt. Bei Jesus
angekommen, verneigen sie sich tief und laden ihn ein, in ihre Stadt zu
kommen, um zu den Bürgern zu sprechen, die sich ihrerseits schon scharenweise
nähern.
«Ihr könnt gehen, wohin ihr
wollt. Diese hier (er zeigt auf die Arbeiter) können es nicht. Es ist noch
frisch, und die Lage dieses Ortes schützt uns vor der Sonnenhitze. Gehen wir
zu den Unglücklichen dort, damit auch sie das Wort des Lebens hören»,
antwortet Jesus. Er macht sich als erster auf den Weg, geht ein Stück zurück
und schlägt dann einen holperigen Pfad ein, der genau am Berg entlang dorthin
führt, wo die mühevollste Arbeit geleistet wird. Schließlich wendet er sich an
die Prominenten und spricht: «Wenn es in eurer Gewalt steht, es zu tun, dann
gebietet, daß die Arbeit eingestellt werde.»
«Gewiß können wir das. Wir sind
ja diejenigen, die bezahlen, und wenn wir freie Stunden bezahlen, wird niemand
sich beklagen können», sagen jene von Gamala und gehen, um mit den Aufsehern
zu verhandeln, die ich kurz darauf die Achseln zucken sehe, wie um zu sagen:
«Wenn ihr damit einverstanden seid, was kümmert es uns?» Sie pfeifen der
Arbeiterkolonne ein Signal zu, das sicher Ruhepause bedeutet.
Jesus hat inzwischen mit noch
anderen von Gamala gesprochen, die sich Zeichen der Zustimmung machen und zur
Stadt zurückeilen sehe.
Die Arbeiter kommen furchtsam
herbei und sammeln sich um ihre Aufseher.
«Unterbrecht eure Arbeit. Das
Getöse stört den Philosophen», befiehlt einer von ihnen, vielleicht der
Bauleiter. Die Arbeiter schauen müden Blickes auf den als "Philosophen"
Bezeichneten, dem sie das Geschenk der Pause zu verdanken haben. Dieser
"Philosoph", der sie mitleidig anschaut, antwortet auf ihre Blicke und auf die
Worte des Vorstehers, indem er sagt: «Der Lärm stört mich nicht, aber es
schmerzt mich, sie leiden zu sehen. Kommt, Söhne, ruht eure Glieder und noch
mehr euer Herz beim Gesalbten Gottes aus.»
Volk, Sklaven, Sträflinge,
Apostel und Jünger drängen sich auf dem freien Fleckchen Erde zwischen dem
Berg und den Schützengräben, und wer dort keinen Platz findet, klettert zu
einem höheren Verteidigungsgraben
158
hinauf oder setzt sich auf einen
der am Boden liegenden Steinblöcke. Die weniger Glücklichen ergeben sich
darin, auf die Straße zu gehen, die die ersten Sonnenstrahlen schon erreichen.
Immer mehr Volk strömt aus Gamala herbei, und es bleiben auch solche stehen,
die von anderswoher auf dem Weg zur Stadt waren.
Eine große Menge. Darunter die,
die vor kurzem weggegangen sind. Sie tragen Körbe und schwere Krüge und
drängen sich bis zu Jesus vor, der die Apostel beauftragt hat, die Arbeiter in
die vordersten Reihen zu bringen. Körbe und Krüge werden zu Jesu Füßen
hingestellt.
«Gebt diesen die Liebesgaben!»
befiehlt Jesus.
«Sie haben schon gegessen, und
dort gibt es noch Trank und Brot. Wenn sie zu viel essen, sind sie zu
schwerfällig bei der Arbeit», schreit ein Aufseher.
Jesus schaut ihn an und
wiederholt den Befehl: «Gebt diesen ein menschenwürdiges Essen und bringt mir
das ihrige!» Mit Hilfe von Freiwilligen führen die Apostel den Befehl aus.
Ihr Essen! Dunkle, harte Krusten,
die man nicht einmal Tieren vorwerfen würde, und etwas mit Essig gemischtes
Wasser... Das ist das Essen der Zwangsarbeiter. Jesus schaut es an und läßt
diese armselige Nahrung an der Bergwand aufschichten. Dann blickt er auf jene,
die es hätten essen sollen, abgezehrte Körper, die durch die außergewöhnliche
Anstrengung fast nur aus überentwickelten Muskeln bestehen, aus Muskelbündeln
unter der schlaffen Haut; die fiebrigen Augen sind verschüchtert, während die
Münder gierig, fast tierisch die reichlichen, unerwarteten Speisen kauen und
den frischen, stärkenden Wein trinken.
Jesus wartet geduldig, bis sie
ihr Mahl beendet haben. Nicht lange muß er warten, denn ihre Gier so groß, daß
bald alles verzehrt ist.
Nun breitet Jesus wie immer zu
Beginn seiner Predigten die Arme aus, um die Aufmerksamkeit der Menge auf sich
zu lenken und Schweigen zu gebieten. Er sagt: «Was sehen die Augen der
Menschen an diesem Ort? Täler, noch tiefer gegraben, als die Natur sie
geschaffen hat; Hügel, aufgehäuft aus Steinmassen und Erde; gewundene Wege,
die wie Tierhöhlen in den Berg hineinführen. Wozu all das? Um eine Gefahr
abzuwenden, von der man nicht weiß, woher sie kommen wird, deren Heraufziehen
wie ein Hagelwetter bei stürmischem Himmel man aber fühlt.
Wahrlich, hier ist man in
menschlicher Weise vorgegangen, mit menschlichen Kräften und Mitteln, und auch
mit unmenschlichen, um Verteidigungs- und Angriffsmöglichkeiten vorzubereiten,
ohne sich der Worte des Propheten zu erinnern, der sein Volk gelehrt hat, wie
man sich vor dem menschlichen Mißgeschick mit übermenschlichen Mitteln – den
wirksamsten – schützen kann. Er ruft: "Tröstet euch... ja tröstet Jerusalern,
denn seine Knechtschaft ist zu Ende und seine Schuld gesühnt; denn zweifaches
empfing es aus der Hand des Herrn für alle seine Sünden."
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Nach dem Versprechen zeigt er die
Art, wie man es wahr werden läßt "Bereitet den Weg des Herrn, ebnet in der
Steppe einen Pfad für unser Gott. Jedes Tal soll aufgefüllt und jeder Berg und
Hügel abgetragen wer den; was krumm ist, soll gerade, was rauh ist, zu ebenen
Wegen werden!' Worte, die aufgegriffen wurden vom Mann Gottes, von Johannes
den Täufer, und erst bei seinem Tode erloschen sie auf seinen Lippen.
Dies ist, ihr Menschen, die wahre
Verteidigung gegen die Unglücksfälle des Lebens. Nicht Waffe gegen Waffe,
Verteidigung gegen Angriff, nicht Hochmut und Grausamkeit. Sondern
übernatürliche Waffen, in der Einsamkeit erworbene Tugenden, d.h. im Inneren
des Individuums, wo es allein ist mit sich selbst und an seiner Heiligung
arbeitet, indem es Berge de Liebe aufhäuft, Gipfel des Stolzes abträgt, krumme
Wege der Begierlichkeit gerade macht und Hindernisse der Sinne von seinem Pfad
räumt Dann wird die Herrlichkeit des Herrn erscheinen, und Gott wird de
Menschen verteidigen gegen die Nachstellungen geistiger und leibliche Feinde.
Was vermögen die wenigen Schutzgräben, Burgen und Festungen gegen die
Züchtigungen Gottes, welche die Menschen durch ihre Bosheit oder
Nachlässigkeit verdient haben? Gegen die Züchtigungen, die heut den Namen
"Römer" tragen, während sie in vergangenen Zeiten Babylonier, Philister und
Ägypter genannt wurden, und die nichts anderes sind als eine Strafe Gottes,
und nur dies, die der Hochmut, die Sinnlichkeit und die Begierlichkeit des
Volkes, seine Lügenhaftigkeit, seine Selbst sucht und sein Ungehorsam
gegenüber dem heiligen Gesetz des Dekaloges herabgezogen haben? Der Mensch,
auch der stärkste, kann schon von einer Fliege getötet werden. Auch die am
besten verteidigte Stadt kann erobert werden, wenn Gott ihm oder ihr seinen
Schutz entzieht; wenn de Schutz flieht, wenn man den Schutz zurückweist durch
die Sünden de Menschen und ganzer Städte.
Der Prophet sagt noch: "Alles
Fleisch ist Gras, all seine Pracht wie die Blume des Feldes. Das Gras
verdorrt, die Blume welkt, wenn des Herr Odem sie anweht."
Weil ich es will, blickt ihr
heute mitleidig auf diese hier, die ihr bis gestern als Maschinen betrachtet
habt, die verpflichtet sind für euch zu arbeiten. Heute, da ich sie euch
vorgestellt habe als Brüder unter Brüdern als arme Brüder unter euch Reichen
und Glücklichen, seht ihr in ihnen das, was sie sind: Menschen. Verachtung und
Gleichgültigkeit sind au vielen Herzen gewichen, und Mitleid ist an ihre
Stelle getreten. Aber blickt auch in ihr Inneres, nicht nur auf das gequälte
Fleisch. Sie haben in ihrem Inneren eine Seele, Gedanken und Gefühle wie ihr.
Einst waren sie wie ihr: gesund, frei, glücklich. Dann waren sie es plötzlich
nicht mehr Denn wenn das Leben des Menschen wie das Gras ist, das verdorrt,
dann ist sein Wohlergehen noch hinfälliger. Die heute noch gesund sind, können
morgen krank sein, die heute noch frei sind, sind morgen vielleicht
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schon Sklaven, und wer heute noch
glücklich ist, kann morgen schon unglücklich sein.
Gewiß sind unter diesen
Schuldige. Urteilt jedoch nicht über ihre Schuld und freut euch nicht über
ihre Bestrafung. Morgen könntet auch ihr aus vielen Gründen schuldig und zu
harter Sühne gezwungen sein. Seid daher barmherzig, denn ihr kennt nicht euer
Morgen, das so verschieden sein könnte von der Gegenwart und ihr wißt nicht,
ob ihr nicht einst auf göttliche und menschliche Barmherzigkeit angewiesen
sein werdet. Seid daher geneigt zur Liebe und zum Verzeihen. Es gibt keinen
Menschen auf der Erde, der nicht der Verzeihung Gottes und des einen oder
anderen Menschen bedürfte. Übt daher Verzeihung, damit auch euch verziehen
werde.
Ferner sagt der Prophet: "Das
Gras verdorrt und die Blume verwelkt, das Wort des Herrn aber bleibt ewig."
Seht die Waffe und die Verteidigung: das ewige Wort, das zum Gesetz für all
unsere Handlungen geworden ist.
Richtet diese wahre Schutzwehr
auf gegen die bevorstehenden Gefahren, und ihr werdet gerettet sein. Nehmt
daher das Wort Gottes auf, den, der zu euch spricht. Aber nehmt es nicht nur
äußerlich für eine Stunde in die Mauern eurer Stadt auf, sondern in eure
Herzen, für immer; denn ich bin der, der weiß und wirkt und herrscht mit
Macht. Ich bin der gute Hirte, der die auf ihn vertrauende Herde weidet, der
niemanden vernachlässigt, die Kleinen, die Müden und die Verwundeten, die vom
Schicksal Geschlagenen und die über ihre Irrtümer Weinenden, noch den Reichen
und Glücklichen, der aber alles geringschätzt um des wahren Reichtums und der
wahren Glückseligkeit willen, nämlich, Gott zu dienen bis zum Tode.
Der Geist des Herrn ruht auf mir,
da der Herr mich gesandt hat, den Sanftmütigen die Frohe Botschaft zu
verkünden, zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, und den Sklaven die
Freiheit und den Gefangenen die Befreiung zu predigen. Man kann mich nicht
einen Aufwiegler nennen, denn ich rufe nicht zum Aufstand auf, noch rate ich
den Sklaven und Gefangenen zur Flucht. Vielmehr lehre ich die Menschen in der
Sklaverei die wahre Freiheit, die wahre Befreiung, die nicht weggenommen und
nicht beschränkt werden kann; die um so größer wird, je mehr der Mensch sich
ihr hingibt: die geistige Freiheit, die Befreiung von der Sünde, die Sanftmut
im Schmerz; die Fähigkeit, Gott zu schauen jenseits der Menschen, die in
Ketten liegen; die Fähigkeit zu glauben, daß Gott den liebt, der ihn liebt,
und dort verzeiht, wo der Mensch nicht verzeiht; die Fähigkeit zu hoffen auf
einen ewigen Ort der Belohnung für den, der gut zu sein weiß im Unglück, der
seine Sünden bereut und dem Herrn treu ist.
Weint nicht, ihr, zu denen ich
ganz besonders spreche. Ich bin gekommen, um zu trösten, die Verworfenen
aufzunehmen, Licht in ihre Finsternis und Frieden in ihre Seelen zu bringen,
und denen ein Reich der Freude
161
zu versprechen, die bereuen oder
schuldlos sind. Ich bin nicht gekommen, das Gegenwärtige zu verhindern, das
dem himmlischen Lohn einbringt, der sein Los trägt und dem Herrn dient.
Es ist nicht schwer, o ihr armen
Söhne, dem Herrn zu dienen. Er hat euch ein leichtes Mittel gegeben, ihm zu
dienen, da er euch glücklich im Himmel haben will. Dem Herrn dienen, bedeutet
lieben. Liebt den Willen Gottes, weil ihr Gott liebt. Der Wille Gottes
verbirgt sich auch unter den scheinbar menschlichsten Dingen. Denn – ich
spreche nun zu euch, die ihr vielleicht das Blut eurer Brüder vergossen habt –
wenn es zwar gewiß nicht Gottes Wille war, daß ihr Gewalt angewendet habt, so
ist es doch jetzt sein Wille, daß ihr in der Sühne eure Schuld gegen die Liebe
tilgt. Denn wenn es auch nicht Gottes Wille war, daß ihr euch aufgelehnt habt
gegen den Feind, so ist es nun sein Wille, daß ihr euch demütigt, so wie ihr
seinerzeit übermütig gewesen seid zu eurem Schaden. Denn wenn es nicht Gottes
Wille war, daß ihr euch durch kleinen oder großen Betrug angeeignet habt, was
euch nicht zustand, so ist es nun Gottes Wille, daß ihr bestraft werdet, um
nicht mit eurer Schuld im Herzen vor Gott zu erscheinen.
Und das dürfen auch die nicht
vergessen, die jetzt glücklich sind und sich sicher dünken; die in ihrer
törichten Selbstsicherheit das Reich Gottes nicht in sich bereiten und in der
Stunde der Prüfung wie Söhne sein werden, die fern vom Vaterhause sind, der
Gewalt des Sturmes und der Geißel des Schmerzes ausgesetzt.
Übt alle Gerechtigkeit und erhebt
die Augen zum Haus des Vaters, zu
Reich der Himmel, das, wenn seine
Tore weit offenstehen werden durch den, der gekommen ist, sie zu öffnen,
niemand abweisen wird, der Gerechtigkeit erlangt hat.
Ihr körperlich Verstümmelten, ihr
Krüppel und Eunuchen, ihr geistig Verstümmelten und ihr Eunuchen der
Geisteskräfte, ihr Ausgeschlossenen in Israel, fürchtet nicht, keinen Platz im
Himmelreich zu finden. Die Verstümmelung, die Verkrüppelung, die
Beeinträchtigung des Fleische hat ein Ende mit dem Fleisch. Die moralischen
Übel, wie Gefängnis und Sklaverei, vergehen auch eines Tages; die des Geistes,
die Folgen frühere Fehler, werden ausgelöscht durch guten Willen. Körperliche
Verstümmelungen zählen vor den Augen Gottes nicht, und geistige verschwinden
vor seinen Augen, wenn liebevolle Reue sie bedeckt.
Dem heiligen Volk nicht
anzugehören, bedeutet kein Hindernis mehr dem Herrn zu dienen. Denn die Zeit
ist gekommen, da die Grenzen de Erde aufgehoben sind vor dem einzigen König,
dem König aller König und Völker, der alle Völker vereint zu seinem einzigen
neuen Volk. Von diesem Volk sind nur jene ausgeschlossen, die den Herrn zu
täuschen suchen, indem sie nur vorgeben, den Dekalog zu beachten; denn alle
Menschen guten Willens können die Zehn Gebote befolgen, seien sie Hebräer
162
Heiden oder Götzendiener. Wo
guter Wille herrscht, ist auch ein natürliches Streben nach Gerechtigkeit, und
wer nach Gerechtigkeit strebt, dem fällt es nicht schwer, den wahren Gott
anzubeten, wenn er ihn einmal erkannt hat, seinen Namen zu ehren, seine Feste
zu heiligen, die Eltern zu ehren, nicht zu töten, nicht zu rauben, kein
falsches Zeugnis zu geben, die Ehe nicht zu brechen, nicht Unzucht zu treiben
und nicht zu begehren, was nicht sein eigen ist. Hat er sich bisher nicht
danach gerichtet, so tue er es in Zukunft, damit seine Seele gerettet werde
und er seinen Platz im Himmel erwerbe. Es steht geschrieben: "Ich werde ihnen
einen Platz in meinem Haus geben, wenn sie meinen Bund halten, und ich werde
sie glücklich machen." Das ist allen Menschen gesagt worden, die heiligen
Willens sind, denn der Heilige der Heiligen ist der Vater aller Menschen.
Ich habe gesagt, daß ich kein
Geld für diese Menschen habe, aber es wäre ihnen auch nicht von Nutzen. Euch
von Gamala jedoch, die ihr schon so große Fortschritte auf dem Weg des Herrn
gemacht habt seit unserer ersten Begegnung, fordere ich auf, den stärksten
Schutzwall um eure Stadt zu errichten: den der Liebe untereinander und zu
diesen Menschen, indem ihr ihnen in meinem Namen beisteht, während sie sich
für euch abmühen. Werdet ihr das tun?»
«Ja, Herr», rufen alle im Chor.
«Dann laßt uns gehen. Ich hätte
eure Stadt nicht betreten, wenn Herzenshärte mit einem "Nein" auf meine Bitte
geantwortet hätte. Ihr, die ihr bleibt, seid gesegnet... Gehen wir.»
Jesus kehrt zurück auf dem Weg,
der nun ganz in der Sonne liegt, und steigt zur Stadt empor, die fast wie eine
Höhlenstadt in den Felsen hineingebaut ist, aber aus gut instandgehaltenen
Häusern besteht und ein herrliches, abwechslungsreiches Panorama vor sich hat,
ob man nun die Berge der Hauranitis, das Galiläische Meer, den fernen Großen
Hermon oder das grüne Jordantal betrachtet. Die Stadt ist kühl wegen ihrer
Höhenlage und den Gassen, die vor der heißen Sonne schützen. Sie gleicht fast
mehr einem gewaltigen Kastell als einer Stadt, einer Reihe von Festungen, da
die Häuser, die teils aus Mauerwerk bestehen, teils in den Felsen gehauen
sind, das Aussehen von Burgen haben.
Auf dem Hauptplatz, der höher als
alle anderen liegt – es ist der höchste Punkt der Stadt und ein weiter
Ausblick auf Berge, Wälder, Seen und Flüsse erfreut hier das Auge – sind die
Kranken von Gamala versammelt. Jesus geht heilend vorüber...
163
505. VON GAMALA NACH APHECA
Sie müssen in Gamala übernachtet
haben, denn jetzt ist es Morgen, ein windiger Morgen. Vielleicht rührt dieser
in den Ländern des Ostens so wohltuende Wind von der Lage und der
Terrassenbauweise der Stadt her. Diese Terrassen reichen von der Höhe bis zu
den Stadtmauern, die sehr massiv gebaut und mit schweren eisenbeschlagenen
Toren, richtigen Festungstoren, versehen sind. Wenn mir die Stadt gestern in
den heißen Stunden schön erschien, so erscheint sie mir nun an diesem Morgen
einfach prachtvoll. Die Häuser versperren durch ihre Anordnung nicht die
Aussicht auf das weite Panorama, denn die Dachterrasse des einen ist immer auf
dem Niveau des Hauses an der darüberliegenden Straße, so daß jede Straße eine
lange, breite Terrasse zu sein scheint, von der aus man der ganzen Horizont
überblicken kann: einen Horizont, der auf dem Gipfel des Berges einen
vollständigen Kreis und etwas tiefer einen Halbkreis um faßt, der aber immer
weit und überaus schön ist. Am Fuß des Berges bildet das Grün der Eichenwälder
und der Felder eine smaragdfarbene Einfassung um das trockene Tal, das den
Berg von Gamala umgibt. Nach Osten zu erstrecken sich, soweit das Auge reicht,
die Pflanzungen de Hochebene.
Jenseits dieser weiten Hochebene
liegen die Berge der Hauranitis und hinter diesen die noch höheren Gipfel des
Basan. Im Süden erblickt man den fruchtbaren Landstrich zwischen dem blauen
Jordan und der ausgedehnten Bodenerhebung östlich des Flusses, einer Art
Ausläufer der weiten Hochebene. Im Norden hingegen erheben sich die fernen
Berge der libanesischen Gebirgskette, die vom gewaltigen Hermon beherrscht
wird der in dieser Morgenstunde in tausend Farbtönen erstrahlt. Unten, ganz
nahe, liegt im Westen das Galiläische Meer. Ein wahrer Edelstein an dem
himmelblauen Schmuckband des Jordan, dem Zufluß und Abfluß de Sees, dessen
Blau jedoch verschieden ist von dem seinen; zarter, subtiler dort, wo er
hineinfließt; kräftiger da, wo der Fluß, leuchtend in der Sonn und friedvoll
zwischen den grünen, wahrhaft biblischen Ufern, seine Lauf nach Süden
fortsetzt.
Der kleine Meronsee hingegen ist
hinter den Hügeln im Norden von Bethsaida verborgen. Aber man kann ihn sich
dort vorstellen wegen des satten Grüns der Gefilde, die ihn umgeben und sich
dann gegen Nordwesten bis zum Galiläischen Meer hinziehen. In dieser Ebene,
die ich die Apostel mehrmals die Ebene von Genesareth nennen gehört habe,
erhebt sich Chorazim.
Jesus verabschiedet sich von den
Bürgern, die ihn mit dem Stolz der Städter auf die Schönheiten der Umgebung
und der Stadt selbst hinweisen mit ihren Aquädukten, Thermen und prächtigen
Bauten: «Das ist alles Frucht unserer Mühe und unseres Geldes. Wir haben von
den Römern
164
gelernt und von ihnen das
übernommen, was uns nützlich sein konnte. Aber wir sind nicht wie die anderen
von der Dekapolis. Wir bezahlen, und die Römer arbeiten für uns, das ist
alles. Wir bleiben treu. Auch diese Abgeschiedenheit ist Treue...»
«Sorgt dafür, daß die Treue nicht
nur äußerlich, sondern wirklich, tiefgründig und gerecht ist. Sonst werden
euch die Festungswerke nichts nützen. Ich wiederhole es euch. Seht, ihr habt
diesen Aquädukt gebaut. Es ist solide und nützlich. Aber wenn es nicht von
einer fernen Quelle gespeist würde, hättet ihr dann Wasser für eure Thermen
und Springbrunnen ?»
«Nein, es wäre ein unnützer Bau.»
«Ihr habt recht, ein unnützer
Bau. So sind auch die natürlichen Befestigungen aus Stein unnütz, wenn ihre
Erbauer sie nicht stark machen durch die Hilfe Gottes, und Gott hilft nur
seinen Freunden.»
«Meister, du sprichst, als ob du
wüßtest, daß wir Gott sehr nötig haben...»
«Alle Menschen brauchen Gott, und
für alle Dinge.»
«Ja, Meister. Aber es scheint,
als ob wir ihn nötiger hätten als alle anderen Städte Palästinas und...»
«Oh! ...» Es ist ein so
schmerzhaftes Oh...
Die Leute von Gamala schauen ihn
ganz betroffen an. Der mutigste von ihnen fragt: «Was denkst du? Daß wir die
alten Schrecknisse wiederum erleben werden?»
«Ja, und noch schlimmere und
länger andauernde... viel länger... Oh! Mein Vaterland! So lange andauernde...
und dies, wenn du den Herrn nicht aufnimmst!»
«Wir haben dich aufgenommen. Dann
werden wir also gerettet werden! Das letzte Mal waren wir töricht, aber du
hast uns ja verziehen ...»
«Harrt aus in der Gerechtigkeit
mir gegenüber und nehmt zu in der Gerechtigkeit nach dem Gesetz.»
«Wir werden es tun, Herr.»
Sie möchten ihm folgen und ihn
noch zurückhalten, aber Jesus will die Frauen einholen, die sich auf den Eseln
schon ein gutes Stück entfernt haben. Er entzieht sich ihrer Zudringlichkeit
und geht schnell die Straße hinab, auf der sie gestern gekommen sind. Nur als
er den Ort der Fronarbeiter erreicht, verlangsamt er seinen Schritt und erhebt
segnend die Hand über die Unglücklichen, die ihn ansehen, wie man Gott
ansieht.
Am Fuß des Berges gabelt sich die
Straße und führt sowohl zum See als auch ins Landesinnere. Letztere Richtung
haben die vier Eselchen eingeschlagen, die den Staub der von der Sonne
ausgetrockneten Straße aufwirbeln und ihre langen Ohren schütteln. Bisweilen
dreht sich eine der Frauen um und schaut, ob Jesus nachkommt, und würde gerne
anhalten, um auf ihn zu warten; doch Jesus fordert sie mit der Hand zum
Weiterreiten auf,
165
damit sie die schon der Sonne
ausgesetzte Straße bald hinter sich haben und die Wälder erreichen, die Apheca
zuwachsen.
Es sind erquickende Wälder, die
über der Karawanenstraße ein grünes Gewölbe bilden. Mit einem Ausruf der
Erleichterung erreichen sie dieses schattige Gebiet.
Apheca liegt viel weiter im
Landesinneren als Gamala, zwischen den Bergen. Daher sieht man den See von
Galiläa nicht mehr. Ja, man sieht überhaupt nichts mehr, denn die Straße
steigt an zwischen zwei Hügeln, die jegliche Aussicht versperren.
Die Witwe reitet voran und zeigt
ihnen den kürzesten Weg. Nun verläßt sie die Karawanenstraße und schlägt ein
Sträßchen ein, das sich am Berg emporschlängelt und noch frischer und
schattiger ist. Ich verstehe den Grund des Abschwenkens erst, als Sara sich im
Sattel umwendet und sagt: «Sieh, diese Wälder gehören mir. Alles wertvolle
Bäume. Sie werden so gar nach Jerusalern verkauft, wo man aus ihrem Holz
Schreine für die reichen Leute herstellt. Dies hier sind die alten Bäume, aber
ich habe auch Baumschulen, die immer wieder erneuert werden. Kommt und seht
...» Sie treibt ihr Eselchen steile Abhänge hinunter und dann wieder hinauf,
und noch einmal hinunter, immer dem Sträßchen nach, an dem es tatsächlich
Strecken mit ausgewachsenen Bäumen, die man schon fällen könnte, gibt, und
andere mit noch jungen, nur einige Zentimeter hohe Pflanzen zwischen grünen
Kräutern und allerlei Bergdüften.
«Schön sind die Wälder und gut
gepflegt. Du bist tüchtig», lobt Jesus
«Oh! Aber nur für mich allein...
Viel lieber würde ich sie für eine Sohn pflegen...»
Jesus antwortet nicht. Sie gehen
weiter, und schon sieht man Apheca umgeben von Obstgärten.
«Auch dieser Obstgarten gehört
mir. Zu viel habe ich für mich allein!.. Es war schon zu viel, als mein Gemahl
noch lebte, und abends schaute wir uns an in dem leeren Haus, dem zu großen
Haus, mit dem vielen Gel und den vielen Vorräten, und sagten uns: "Wozu all
das?" Und jetzt sag ich es mir noch viel mehr ...» Die ganze Traurigkeit einer
unfruchtbare Ehe liegt in den Worten der Frau.
«Die Armen sind immer da...» sagt
Jesus.
«O ja! Mein Haus öffnet sich
ihnen alle Tage. Aber später...»
«Willst du sagen, wenn du einst
gestorben bist?»
«Ja, Herr. Es wird ein Schmerz
sein. Wem soll ich die so sorgsam gepflegten Dinge hinterlassen?»
Mit einen Anflug von mitleidigen
Lächeln antwortet Jesus voller Güte «Du bist weiser in den Dingen der Welt als
in denen des Himmels, Frau. Du bemühst dich, damit deine Bäume gut wachsen und
keine Lichtungen in den Wäldern entstehen. Du wirst traurig beim Gedanken, daß
sie später nicht mehr so gepflegt werden wie jetzt. Aber diese Gedanken sind
166
nicht sehr weise, sondern
vielmehr wahrhaft töricht. Glaubst du, daß im anderen Leben armselige Dinge,
wie Bäume, Früchte, Geld oder Häuser, einen Wert besitzen, und daß man betrübt
sein wird, sie vernachlässigt zu sehen? Berichtige deine Denkungsart, Frau.
Dort denkt man nicht wie hier, in keinem der drei Reiche. In der Hölle
verblenden Haß und Strafe die Seelen elendiglich. Im Reinigungsort schließt
der Durst nach Sühne jeden anderen Gedanken aus. Im Limbus wird die selige
Erwartung der Gerechten von keinem menschlichen Gefühl profaniert. Die Erde
mit ihrem Elend ist fern, und nur mit ihren übernatürlichen Bedürfnissen, den
Bedürfnissen der Seelen, aber nicht irdischen Bedürfnissen, gegenwärtig. Die
Hingeschiedenen, die nicht verdammt worden sind, richten nur aus
übernatürlicher Liebe ihren geistigen Blick auf die Erde und lassen ihre
Gebete zu Gott aufsteigen für jene, die auf Erden sind. Wenn die Gerechten
einmal in das Reich Gottes eingegangen sind, was hat dann für den, der Gott
schaut, dieser elende Kerker, dieses Exil, das Erde genannt wird, noch zu
bedeuten und all die Dinge, die er dort zurückgelassen hat? Könnte der Tag
einer rauchenden Lampe nachweinen, wenn ihn die Sonne erhellt ?»
«O nein!» «Warum seufzt du dann
über das, was du zurücklassen wirst?» «Ich möchte, daß ein Erbe fortfährt...»
«Sich der irdischen Reichtümer zu
erfreuen, und so durch sie gehindert wird, vollkommen zu werden, während die
Loslösung von den Reichtümern eine Leiter bildet, um zu den ewigen Gütern zu
gelangen. Siehst du, Frau? Das größte Hindernis für dich, diesen Unschuldigen
zu erhalten, ist nicht die leibliche Mutter mit ihrem Recht auf den Sohn,
sondern dein Herz. Er ist unschuldig, ein betrübtes Kind, doch unschuldig und
wegen seines Leides Gott teuer. Wenn du aber durch die Mittel, die du hast,
einen habgierigen, geizigen und vielleicht lasterhaften Menschen aus ihm
machen würdest, würdest du ihn dann nicht der Vorliebe Gottes berauben? Könnte
ich, der ich Sorge trage für diese Unschuldigen, ein unvorsichtiger Meister
sein und ohne zu überlegen erlauben, daß ein unschuldiger Jünger auf Abwege
gerät? Heile zuerst dich selbst, entledige dich deiner noch allzu lebhaften
Menschlichkeit, befreie deine Gerechtigkeit von diesen irdischen Krusten, die
sie belasten, dann wirst du es verdienen, Mutter zu sein. Denn Mutter zu sein
bedeutet nicht nur, ein Kind zu gebären oder einen Adoptivsohn zu lieben und
zu pflegen und seine rein natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Mutter
dieses Knaben hat ihn wohl zur Welt gebracht; doch sie ist keine wahre Mutter,
weil sie sich weder um seinen Leib noch um seine Seele kümmert. Mutter ist
man, wenn man sich vor allem um das kümmert, was nicht mehr stirbt, um den
Geist, die Seele, und nicht nur um das, was vergänglich ist, die Materie.
Glaube mir, Frau: wer die Seele liebt, liebt auch den Leib, denn er besitzt
die rechte Liebe und wird daher gerecht sein.»
167
«Ich habe den Sohn verloren, ich
verstehe es ...»
«Das ist nicht gesagt. Dein
Verlangen sporne dich zur Heiligkeit an, und Gott wird dich erhören. Es wird
immer Waisenkinder in der Welt geben.»
Sie sind bei den ersten Häusern
angelangt. Apheca ist keine Stadt, die mit Gamala oder Hippos wetteifern
könnte. Sie hat ein sehr ländliches Aussehen, doch, da es sich um einen
wichtigen Straßenknotenpunkt handelt, ist sie nicht arm. Die Karawanen, die
vom Landesinneren zum See oder von Norden nach Süden ziehen, kommen hier
vorbei, und so muß die Stadt mit allem ausgerüstet sein, um Fremden Herberge
und Kleidung, Sandalen und Nahrungsmittel anbieten zu können. Daher gibt es
hier zahlreiche Warenlager und Gasthäuser.
Das Haus der Witwe liegt in der
Nähe eines dieser Gasthäuser an einem Platz, und ein großes Warenlager, in dem
alles mögliche zu finden ist, nimmt das ganze Erdgeschoß ein. Der langnasige,
bärtige Alte, der ihm vorsteht, schreit gerade wie ein Verdammter im Zank mit
seinen knickerigen Käufern.
«Samuel!» ruft die Frau.
«Herrin», antwortet er, indem er
sich verneigt, soweit die vor ihm aufgestapelten Waren es erlauben.
«Laß dich von Elias oder
Philippus ablösen und komm zu mir ins Haus», befiehlt die Witwe. Dann sagt sie
zum Herrn gewandt: «Komm. Tritt ein in mein Haus und sei mein willkommener
Gast.»
Alle gehen durch das Warenlager,
während die Esel von einem herbeigerannten Burschen irgendwohin geführt
werden. Hinter dem Warenlager, das dem Haus kein sehr künstlerisches Aussehen
verleiht, liegt ein schöner Hof mit Säulengängen auf beiden Seiten. In der
Mitte ist ein Springbrunnen oder wenigstens ein Becken, denn man sieht keinen
Wasserstrahl. An den Seiten wachsen kräftige Platanen, die die weißen,
kalkgetünchten Mauern beschatten. Eine Treppe führt zur Terrasse. Zimmer
öffnen sich zum Hof hin an den Seiten ohne Säulengänge: es sind die am
weitesten vom Warenlager entfernten.
«Früher, als mein Mann noch
lebte, war hier immer alles voller Leute; auch Kaufleute, die von der Nacht
überrascht wurden, fanden Unterkunft. Die Säulengänge für die Waren, die
Ställe für die Tiere, und das Becken, um sie zu tränken. Komm in die Zimmer.»
Sie geht quer durch den Hof zum schönsten Teil des Hauses und ruft: «Maria!
Johanna!»
Zwei Dienerinnen eilen herbei,
die eine mit Brotteig an den Händen, die andere mit einem Besen.
«Herrin! Der Friede sei mit dir
und mit uns, nun, da du zurückgekehrt bist.»
«Und mit euch. Hat sich in diesen
Tagen nichts Unangenehmes ereignet ?»
168
«Joseph, dieser Unglücksrabe, hat
den Rosenstock umgehauen, den du so sehr geliebt hast. Ich habe ihm eine
ordentliche Tracht Prügel versetzt. Nun schlage du mich, da ich so töricht
gewesen bin, ihn an die Pflanze heranzulassen.»
«Es macht nichts...» Aber Tränen
treten in die Augen von Sara, die sie dem Meister erklärt: «Mein Mann hatte
ihn mir im letzten Frühling gebracht, als er noch gesund war...»
«Und Elias hat sich ein Bein
gebrochen; Samuel ist sehr zornig darüber, weil ihm nun, in dieser Zeit der
großen Märkte, seine Hilfe fehlt. Er ist von der Leiter gestürzt, als er die
Mauern streichen wollte für deine Wiederkehr und sich vorbeugte», sagt die
andere Frau und fügt noch hinzu: «Er leidet sehr und wird wohl für immer
gelähmt sein. Aber, Herrin, wie ist es dir auf der Reise ergangen?»
«Wie ich es besser nicht hätte
wünschen können. Ich komme zurück mit dem Rabbi von Galiläa. Beeilt euch und
richtet alles für meine Gäste her. Tritt ein, Meister!»
Sie betreten das Haus, indem sie
an den beiden erstaunten Dienerinnen vorübergehen.
Ein großer, kühler, halbdunkler
Raum, der mit Sitzen und Sitztruhen versehen ist, nimmt sie auf. Die Witwe
geht hinaus, um Anordnungen zu treffen. Jesus ruft die Apostel zu sich und
schickt sie in die Stadt, um die Menschen auf seine Ankunft vorzubereiten.
Samuel, der sich von einem Verkäufer in einen Haushofmeister verwandelt hat,
tritt ein, gefolgt von Dienern mit Krügen und Schüsseln für die Waschungen vor
dem Essen, das sie auf großen Tabletts bringen: Brot, Früchte und Milch.
Die Hausherrin kehrt zurück: «Ich
habe meinem Diener gesagt, daß du hier bist. Er bittet dich um deine
Barmherzigkeit, und ich bitte dich, auch mir Barmherzigkeit zu erweisen. Am
Laubhüttenfest kommt hier viel Volk vorüber, und das Reisen beginnt gleich
nach dem Neumond des Tischri. Wie wir alle Arbeit bewältigen werden, wenn er
krank ist, weiß ich nicht ...»
«Sage ihm, er soll hierher
kommen.»
«Er kann nicht. Er kann nicht
aufstehen.»
«Sage ihm, daß der Rabbi nicht zu
ihm geht, ihn aber sehen möchte.»
«Ich werde ihn von Samuel und
Joseph hertragen lassen.»
«Das hat uns gerade noch gefehlt!
Ich bin alt und schwach», knurrt Samuel.
«Sage Elias, er soll auf seinen
eigenen Beinen kommen. Ich will es.»
«Ein armer Rabbi! Nicht einmal
Gamaliel vermag so viel», brummt wiederum der alte Diener.
«Schweig, Samuel! ... Verzeih
ihm, Meister! Er ist ein treuer Diener, ein Sohn von Knechten des Hauses
meines Gatten, eifrig und ehrlich, aber starrköpfig in den Ideen der alten
Israeliten befangen», entschuldigt ihn die Witwe leise.
169
«Ich verstehe seinen Geist. Aber
das Wunder wird ihn verändern. Geh du und sage Elias, er soll kommen, und er
wird kommen.»
Die Witwe geht hinaus und kehrt
zurück: «Ich habe es ihm gesagt und bin davongelaufen, um nicht mitansehen zu
müssen, wie er das schwarze, geschwollene Bein auf den Boden setzt.»
«Glaubst du nicht an das Wunder?»
«Das schon. Aber dieses Bein
flößt mir Entsetzen ein... Ich fürchte, daß es ganz brandig werden wird. Es
glänzt, es ist fürchterlich und... Oh!» Die Unterbrechung und der Ausruf
rühren daher, daß sie Elias flinker als einen Gesunden herbeilaufen sieht. Er
wirft sich Jesus zu Füßen mit den Worten: «Lob sei dem König von Israel.»
«Lob sei Gott allein. Wie bist du
gekommen? Wie hast du es gewagt?»
«Ich habe gehorcht. Ich habe
einfach gedacht: "Der Heilige kann nicht lügen und törichte Dinge befehlen.
Ich habe Glauben, ich glaube" ' und ich habe das Bein bewegt, es schmerzte
nicht mehr, und ich konnte es bewegen. Ich habe es auf den Boden gesetzt und
bin aufgestanden. Dann habe ich einen Schritt zu machen versucht, und es
gelang. Ich bin gelaufen. Gott enttäuscht nicht den, der an ihn glaubt.»
«Erhebe dich. Wahrlich, ich sage
euch, daß wenige den Glauben dieses Mannes besitzen. Woher kommt dir dieser
Glaube?»
«Von deinen Jüngern, die hier
vorüberkamen und dich verkündeten.»
«Hast nur du allein sie gehört?»
«Nein. Alle. Denn wir haben sie
hier nach Pfingsten beherbergt.»
«Und du allein hast geglaubt...
Dein Geist ist schon weit fortgeschritten auf den Wegen des Herrn. Geh hin in
Frieden.»
Der alte Samuel kämpft mit seinen
widerstreitenden Gefühlen... Doch wie viele in Israel kann er sich nicht
losreißen vom Alten zugunsten des Neuen und versteift sich und sagt:
«Zauberei! Zauberei! Es steht geschrieben: "Mein Volk beflecke sich nicht mit
Zauberern und Wahrsagern. Wenn es einer tut, werde ich mein Antlitz von ihm
abwenden und ihn vernichten." Zittere, o Herrin, da du dem Gesetz untreu
gewesen bist!» Dann geht er ernst davon, entsetzt, als hätte er den Teufel
sich im Haus einnisten sehen.
«Bestrafe ihn nicht, Meister! Er
ist alt. Er hat immer geglaubt...»
«Fürchte dich nicht. Wenn ich
alle bestrafen wollte, die mich einen Dämon nennen, müßten sich viele Gräber
auftun, um ihre Beute zu verschlingen. Ich kann warten... Ich werde gegen
Abend sprechen und dann Apheca verlassen. Jetzt nehme ich gern deine
Gastfreundschaft an.»
170
506. PREDIGT IN APHECA
Jesus spricht von der Schwelle
des Warenlagers der Sara aus zum Volk von Apheca. Er spricht zu einer sehr
bunten Menschenmenge, die mehr neugierig als aufmerksam ist und in der die
Hebräer am wenigsten zahlreich sind. Die Mehrzahl besteht aus vorüberziehenden
Kaufleuten und Fremdlingen, die auf dem Weg zum See sind, zur Furt von Jericho
hinabziehen oder von östlichen Städten kommen und die Städte am Meer aufsuchen
wollen.
Vorerst ist es noch keine
eigentliche Predigt, Jesus antwortet auf dies und das, während alle übrigen
diesen Gesprächen zuhören, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Gefühlen, die
sich von den Gesichtern ablesen lassen. Aus den Bemerkungen der Anwesenden
entnehme ich auch, wer sie sind und wohin sie gehen. Das Gespräch wechselt
zuweilen den Ton und den Gegenstand, denn ohne weiter auf Jesus zu achten,
streitet man sich aus Gründen der Rasse oder der unterschiedlichen Denkweise.
So gerät ein Alter aus Joppe mit
einem Kaufmann aus Sidon in Streit, da dieser den Meister gegen den Unglauben
des Juden verteidigt, der nicht zugeben will, daß Jesus der Erwartete des
Volkes Israel ist. Auf den Wirrwarr von Schriftzitaten, die zum Teil richtig,
zum Teil falsch angewendet sind, entgegnet der Syro-Phönizier einfach: «Ich
verstehe nichts von diesen Worten, aber ich sage, daß er es ist, da ich seine
Wunder gesehen und seine Worte gehört habe.» Das Streitgespräch geht weiter,
weil auch andere Partei ergreifen. Die Gegner Christi schreien: «Beelzebub
hilft ihm. Der Heilige Gottes ist nicht so. Er ist ein König und nicht ein
falscher Rabbi und Bettler.» Jene, die wie der Mann aus Sidon denken, sagen:
«Die Weisen sind arm, weil sie redlich sind. Die Philosophen sind nicht mit
Gold geschmückt und anmaßend wie eure falschen Rabbis und Priester.»
Selbstverständlich reden sie so, weil sie keine Hebräer, sondern Heiden aus
verschiedenen Nationen sind, die sich zufällig in Palästina aufhalten oder
dort ansässig wurden, aber ihren heidnischen Geist bewahrt haben.
«Gotteslästerer!»
«Ihr seid die Gotteslästerer,
weil ihr nicht einmal die Göttlichkeit seiner Gedanken anerkennt», antworten
einige.
«Ihr verdient es nicht, ihn unter
euch zu haben. Aber beim Zeus! Wir haben Sokrates mit Füßen getreten, und es
gereichte uns nicht zum Guten. Gebt acht, sage ich euch. Hütet euch, daß die
Götter euch nicht bestrafen, wie es uns schon mehrmals geschehen ist», schreit
einer, sicher ein Grieche.
«Oho! Heiden als Verteidiger des
Königs von Israel!»
«Und Samariter! Wir sind stolz
darauf, denn wir wüßten den Rabbi besser aufzunehmen, wenn er nach Samaria
käme. Aber ihr... Ihr habt
171
den Tempel gebaut. Er ist schön;
aber er bleibt ein Grab voller Verderbtheit, auch wenn ihr ihn mit Gold und
kostbarem Marmor bedeckt habt», schreit vom Rand der Menge her ein
hochgewachsener, in Linnen gekleideter Mann, mit Falbeln und Stickereien,
einer Schärpe um die Taille, mit Bändern und Armreifen...
«Uh! Ein Samariter!» Es hört sich
an, als ob sie sagen würden: «Der Teufel!» so sehr brüllen die sturen Juden
vor Entsetzen, während sie vor ihm zurückweichen wie vor einem Aussätzigen und
Jesus zurufen: «Jage ihn fort! Er ist ein Unreiner ...»
Aber Jesus verjagt niemanden. Er
versucht Ordnung zu schaffen und Ruhe zu gebieten, und desgleichen tun die
Apostel, doch ohne großen Erfolg. Um den Streitigkeiten ein Ende zu bereiten,
beginnt er einfach mit seiner Predigt.
«Als das Volk Gottes nach dem Tod
der Miriam zu Kedes in der Wüste aus Mangel an Wasser zu hadern begann und
gegen Moses, seinen Retter und Führer aus dem Land der Sünde ins Land der
Verheißung, schrie, als ob er ein wahnsinniger Verführer wäre, und sich gegen
Aaron als einen unnützen Priester erhob, trat Moses mit seinem Bruder ins
Offenbarungszelt. Sie sprachen mit dem Herrn und erflehten ein Wunder, um dem
Murren des Volkes ein Ende zu machen. Und obwohl der Herr nicht verpflichtet
ist, jeder Forderung nachzugeben, besonders wenn es eine gewaltsame Forderung
von zornigen Geistern ist, die das heilige Vertrauen auf die väterliche
Vorsehung verloren haben, sprach er zu Moses und Aaron. Er hätte auch einzig
und allein mit Moses sprechen können, denn Aaron hatte sich eines Tages,
obwohl er Hoherpriester war, durch die Anbetung des Götzenbildes der Güte
Gottes unwürdig gemacht. Aber Gott wollte ihn nochmals prüfen und ihm einen
Weg weisen, in der Gnade Gottes zu wachsen. Er befahl daher, den Stab Aarons
zu nehmen, der im heiligen Zelt aufbewahrt wurde, nachdem er frische Blätter
und Blüten getrieben und dann Mandeln getragen hatte, und sich mit diesem zu
dem Felsen zu begeben und zu ihm zu sprechen, auf daß er Wasser gebe für
Menschen und Tiere. Moses und Aaron taten, wie der Herr ihnen befahl. Aber
nicht beide brachten es fertig, dem Herrn vorbehaltlos zu glauben. Und der mit
dem geringeren Glauben war der Hohepriester Israels: Aaron. Der Fels, vom
Stabe berührt, öffnete sich und ließ genug Wasser hervorsprudeln, um damit den
Durst von Menschen und Tieren zu stillen. Und dieses Wasser erhielt den Namen
"Wasser des Widerspruchs" ' weil die Israeliten mit dem Herrn haderten, seine
Handlungen und Befehle bemängelten und nicht alle gleicherweise treu blieben;
ja, ausgerechnet beim Hohenpriester hatte der Zweifel an der Wahrheit der
göttlichen Worte seinen Ursprung. So starb Aaron, ohne das Heilige Land
gesehen zu haben.
Auch jetzt begehrt das Volk gegen
den Herrn auf und sagt: "Du hast uns als Volk und als Einzelne zum Tod unter
der Herrschaft der Bedrücker
172
geführt." Und mir ruft es zu:
"Mache dich zum König und befreie uns." Aber von welcher Befreiung sprecht
ihr? Von welcher Züchtigung? Von den körperlichen? Oh! In materiellen Dingen
ist weder Rettung noch Züchtigung! Eine viel größere Züchtigung und eine viel
größere Befreiung liegen in Reichweite eures freien Willens, und ihr könnt
wählen. Gott gesteht es euch zu.
Dies sage ich für die anwesenden
Israeliten, für jene, die imstande sein sollten, die Bilder der heiligen
Schrift zu lesen und zu verstehen. Da ich jedoch Barmherzigkeit an meinem
Volke übe, dessen geistiger König ich bin, will ich euch wenigstens ein Bild
erklären, damit es euch helfe zu verstehen, wer ich bin.
Der Allerhöchste sagte zu Moses
und Aaron: "Nehmt den Stab und sprecht zum Felsen, und es werden Ströme
hervorquellen für den Durst des Volkes, damit es sich nicht mehr beklage." Zum
Ewigen Hohenpriester hat der Allerhöchste noch einmal gesagt, um den Klagen
seines Volkes ein Ende zu setzen: "Nimm das Reis, entsprossen aus dem Stamme
Jesse, und eine Blume wird aus ihm erblühen, unberührt von menschlichem
Schlamm, und sie wird zur süßen Mandel voll der Salbung werden. Mit dieser
Mandel aus der Wurzel Jesse, mit diesem wunderbaren Schößling, auf dem der
Geist des Herrn mit seinen Sieben Gaben ruhen wird, schlage auf den Felsen
Israel, auf daß reichlich Wasser sich aus ihm ergieße zu seinem Heil."
Der Priester des Herrn ist die
Liebe selbst, und die Liebe bildete ein Fleisch, indem sie ihren Schößling aus
der Wurzel Jesse hervorgehen ließ, die nicht vom Schlamm genährt worden war;
und das Fleisch war das des fleischgewordenen Wortes, des verheißenen Messias,
der gesandt ward, zum Felsen zu sprechen, auf daß er sich auftue. Auf daß er
seine harte Schale des Hochmuts und der Begierlichkeit öffne und die Wasser
empfange, die Gott gesandt hat, die Wasser, die aus seinem Gesalbten
hervorströmen als lindes Öl seiner Liebe, und formbar und gut werde, sich
heilige und in seinem Herzen das Geschenk des Allerhöchsten an sein Volk
aufnehme.
Aber Israel will kein lebendiges
Wasser in seinem Schoße dulden. Es bleibt verschlossen, hart, besonders in der
Person seiner Großen, an die der Stab, der allein durch Gottes Allmacht blühte
und Frucht brachte, vergebens schlägt und zu denen er vergebens spricht.
Wahrlich, ich sage euch, viele aus diesem Volk werden nicht in das Reich
eingehen, während viele, die nicht aus diesem Volk sind, daselbst eingehen
werden; denn sie haben verstanden zu glauben, was die Priester Israels nicht
glauben wollten. Aus diesem Grunde bin ich mitten unter euch als Zeichen des
Widerspruchs, und ihr werdet gerichtet werden nach der Art, in der ihr mich
versteht.
Aber zu den anderen, die nicht
von Israel sind, sage ich: Das Haus
173
Gottes, das die Söhne seines
Volkes fliehen, steht allen offen, die das Licht suchen. Kommt und folgt mir.
Wenn ich gesetzt bin als Zeichen des Widerspruchs, so bin ich auch gesetzt als
Zeichen für alle Nationen, und wer mich liebt, wird gerettet sein.»
«Du liebst die Fremden mehr als
uns. Wenn du uns predigen würdest, würden wir dich schließlich lieben. Aber du
bist überall, nur nicht in Judäa», sagt ein Jude, den die Worte Jesu berührt
haben.
«Ich werde mich auch nach Judäa
begeben und mich lange dort aufhalten. Aber das wird den Felsen in den Herzen
vieler nicht spalten. Nicht einmal, wenn das Blut auf den Stein herabfließt.
Du bist Synagogenvorsteher, nicht wahr?»
«Ja. Woher weißt du das?»
«Ich weiß es. Nun gut, dann
kannst du verstehen, was ich sage.»
«Das Blut darf nicht auf den
Felsen herabfließen. Das ist Sünde.»
«Ihr werdet das Blut mit Freuden
auf dem Felsen vergießen, damit es dort bleibe. Und der Fels, auf dem das Blut
des wahren Lammes vergossen werden wird, wird euch wie eine Siegestrophäe
erscheinen. Aber dann wird ein Tag kommen, da ihr versteht... Ihr werdet die
wahre Züchtigung verstehen, und welches das wahre Heil war, das euch angeboten
wurde. Laßt uns gehen...»
Ein Mann drängt sich nach vorn:
«Ich bin Syro-Phönizier. Viele von uns glauben an dich, ohne daß wir dich bei
uns haben... und wir haben Kranke, viele... Wirst du nicht zu uns kommen?»
«Zu euch nicht, die Zeit erlaubt
es mir nicht. Aber nach dem Sabbat werde ich mich von hier in euer Grenzgebiet
begeben, und wer der Gnaden bedarf, möge bei den Grenzübergängen auf mich
warten.»
«Ich werde dies meinen Mitbürgern
mitteilen. Der Herr behüte dich, Meister.»
«Der Friede sei mit dir, Mann.»
Jesus verabschiedet sich von der
Witwe, das heißt, er möchte sich verabschieden, doch diese wirft sich ihm zu
Füßen und bekennt ihren Entschluß: «Ich habe mich nun entschieden, Samuel hier
zu lassen, der besser als Diener als Gläubiger ist, und zu dir nach Kapharnaum
zu kommen.»
«Bald werde ich Kapharnaum
verlassen, und für immer.»
«Dort hast du aber gute Jünger.»
«Das stimmt.»
«Mein Entschluß ist gefaßt...
dadurch werde ich dir beweisen, daß ich imstande bin, mich von meinen
Reichtümern zu lösen und in Gerechtigkeit zu lieben. Ich werde das Geld, das
sich hier anhäuft, für deine Armen verwenden. Als erstes werde ich an den
Knaben denken, wenn ihn seine Mutter wirklich haben und aufziehen möchte,
obwohl sie ihn nicht liebt. Nimm vorläufig dies»"sagt sie und überreicht eine
schwere Börse.
174
«Gott segne dich mit seinem Segen
und dem der Begünstigten. In wenigen Stunden hast du große Fortschritte
gemacht.»
Die Frau errötet, und nachdem sie
sich umgeschaut hat, bekennt sie: «Nicht ich bin es, die sich so gebessert
hat, sondern dein Apostel hat mich belehrt. Der, der dort, der sich hinter dem
braunen Jüngling verbirgt.»
«Simon Petrus, das Haupt der
Apostel. Was hat er dir denn gesagt?»
«Oh, er hat so einfach und so gut
gesprochen! Demütig hat mir dieser Apostel bekannt, daß er einst ebenso
ungerechte Wünsche hegte wie ich. Oh, ich kann es nicht glauben! Doch dann
habe er sich angestrengt um gut zu werden und das, was er wünschte, auch zu
verdienen, und fortwährend würde er sich Mühe geben gut zu sein, um aus dem
erlangten Guten nicht Böses zu machen. Weißt du, die Dinge, die wir Armen
einander sagen, sind leichter verständlich... Beleidige ich dich, Herr ... ?»
«Nein, mit deiner Aufrichtigkeit
und deinem Lob für den Apostel gibst du Gott die Ehre. Tue, was er dir geraten
hat, und Gott sei immer mit dir, die du nach Gerechtigkeit strebst.»
Er segnet sie, bricht als erster
auf und wandert unter grünen, im plötzlich aufgekommenen Wind rauschenden
Obstbäumen, nach Nordwesten.
507. NACH GERGESA UND RÜCKKEHR
NACH KAPHARNAUM
Sie erreichen das Ufer des Sees
in unmittelbarer Nähe von Gergesa, während ein rötlicher Sonnenuntergang sich
in eine violette, friedliche Abenddämmerung verwandelt. Das Ufer ist voll von
Leuten, die ihre Barken für den nächtlichen Fischfang vorbereiten, andere
baden vergnügt im See, den eine leichte Brise etwas bewegt.
Es dauert nicht lange, und Jesus
wird gesehen und erkannt, so daß man vor seinem Eintritt in die Stadt bereits
über seine Ankunft unterrichtet ist und das Volk herbeiströmt, um ihn zu
hören.
Ein Mann tritt vor und sagt, daß
am Morgen Leute aus Kapharnaum gekommen sind, um ihn zu holen, und daß er so
bald wie möglich dorthin gehen soll.
«Ich gehe noch in dieser Nacht,
denn ich werde mich hier nicht aufhalten; und da unsere Barken nicht hier
sind, bitte ich euch, mir die eurigen zu leihen.»
«Wie du willst, Herr. Aber wirst
du zu uns sprechen, bevor du fortgehst ?»
«Ja, auch um mich von euch zu
verabschieden, da ich Galiläa bald verlassen werde...»
Eine weinende Frau in der Menge
ruft nach ihm und bittet, man möge sie doch zum Meister durchlassen.
175
«Es ist Arria, eine Heidin, die
aus Liebe Jüdin geworden ist. Du hast einmal ihren Gatten geheilt. Aber ...»
«Ich erinnere mich. Laßt sie
durch.»
Die Frau tritt hervor, wirft sich
Jesus zu Füßen und weint.
«Was hast du, Frau?»
«Rabbi! Rabbi, hab Erbarmen mit
mir! Simeon ...»
Einer von Gergesa hilft ihr:
«Meister, die Gesundheit, die du ihm geschenkt hast, benützt er schlecht. Er
ist hartherzig und räuberisch geworden und scheint nicht einmal mehr ein
Israelit zu sein. Wahrlich, die Frau ist viel besser als er, obwohl sie
heidnischer Abstammung ist. Seine Härte und Raubgier ziehen ihm Streit und Haß
zu. In einem solchen Streit ist er nun am Kopf verletzt worden, und der Arzt
sagt, daß er fast mit Sicherheit erblinden wird.»
«Und was kann ich da tun?»
«Du... heilst ... Sie, du siehst
es, ist ganz verzweifelt ... Sie hat viele Kinder, und noch kleine. Die
Blindheit des Gatten würde das ganze Haus ins Elend stürzen... Wahr ist, daß
er sein Geld durch Betrug verdient... Aber sein Tod wäre ein großes Unglück,
denn ein Gatte bleibt immer ein Gatte und ein Vater ist immer ein Vater, auch
wenn er statt Liebe und Brot Betrug und Schläge gibt...»
«Ich habe ihn einmal geheilt und
ihm gesagt: "Sündige nicht mehr." Er aber hat noch mehr gesündigt. Hatte er
etwa nicht versprochen, nicht mehr zu sündigen? Hatte er nicht versprochen,
nicht mehr Wucher zu treiben und nicht mehr zu stehlen, wenn ich ihn heilen
würde, sondern zurückzugeben, was er sich durch Betrug angeeignet hatte oder,
wenn das nicht möglich wäre, das zu unrecht Erworbene an die Armen zu
verteilen?»
«Meister, das ist wahr. Ich war
damals zugegen. Aber... der Mensch ist nicht standhaft in seinen Vorsätzen.»
«Das hast du gut gesagt, und
Simeon ist nicht der einzige. Viele gibt es, die, wie Salomon sagt, zweierlei
Gewicht und eine falsche Waage haben, und das nicht nur im materiellen Sinne,
sondern auch im Richten, im Handeln und im Verhalten gegen Gott. Ebenso sagt
Salomon: "Es ist verderblich für den Menschen, die Heiligen zu schädigen und
ein Gelübde, nachdem er es gemacht hat, zu bereuen." Aber allzuviele tun es...
Frau, weine nicht. Höre zu und sei gerecht, da du die Religion der
Gerechtigkeit gewählt hast. Was willst du wählen, wenn ich dir zwei Dinge
vorschlage: "Ich könnte deinen Mann heilen, und er würde leben, weiterhin
Gottes spotten und Sünden auf seine Seele häufen; oder aber ich bekehre ihn,
verzeihe ihm und lasse ihn dann sterben"? Wähle. Was du wählst, das werde ich
tun.»
Die arme Frau kämpft schwer mit
sich. Die natürliche Liebe und die Notwendigkeit, einen Mann zu haben, der so
oder so den Lebensunterhalt
176
für die Kinder verdient, drängen
sie dazu, um "Leben" zu bitten. Die übernatürliche Liebe zum Gatten hingegen
drängt sie, Verzeihung und Tod zu erbitten. Das Volk schweigt aufmerksam und
gerührt in Erwartung der Entscheidung.
Schließlich wirft sich die arme
Frau von neuem zu Boden, ergreift das Gewand Jesu, wie um Kraft daraus zu
schöpfen, und seufzt: «Das ewige Leben... Aber hilf mir, o Herr»; und sie
scheint zu sterben, so stark schlägt sie mit dem Antlitz auf dem Boden auf.
«Du hast das Bessere gewählt. Du
sollst dafür gesegnet sein. Wenige in Israel wären dir gleich an Gottesfurcht
und Gerechtigkeit. Erhebe dich, wir gehen zu ihm.»
«Aber läßt du ihn wirklich
sterben, Herr? Und was werde ich dann anfangen?» Das menschliche Geschöpf
ersteht aus dem Feuer des Geistes wie der mythische Phönix; es leidet und
seufzt als Mensch...
«Fürchte dich nicht, Frau. Ich,
du, wir alle vertrauen dem Vater im Himmel alles an, und er läßt seine Liebe
wirken. Kannst du das glauben?»
«Ja, mein Herr.»
«Dann wollen wir gehen und
zusammen das Gebet sprechen, das alle Bitten und alle Tröstungen enthält.»
Während er sich auf den Weg
macht, umgeben von einem Schwarm von Menschen und mit einem Gefolge von
weiteren, beginnt er langsam das "Vaterunser" zu beten. Die Apostelschar tut
es ebenfalls, und in einem schön geordneten Chor steigen die Sätze des Gebetes
empor und übertönen das Gemurmel der Menge, das allmählich verstummt, da man
den Meister beten hören möchte, und so sind die letzten Bitten in dem
feierlichen Schweigen klar zu vernehmen.
«Das tägliche Brot wird dir der
Vater geben, das versichere ich dir in seinem Namen», sagt Jesus zur Frau, und
an alle gewandt, nicht nur an sie, fährt er fort: «Und eure Schuld wird euch
vergeben werden, wenn ihr dem vergeht, der euch beleidigt und geschädigt hat.
Er bedarf eurer Verzeihung, um die göttliche zu empfangen. Und alle bedürfen
des Schutzes Gottes, um nicht der Sünde zu verfallen wie Simeon. Bedenkt
dies.»
Sie sind am Haus angelangt, und
Jesus betritt es mit der Frau, Petrus, Bartholomäus und dem Zeloten.
Der Mann liegt auf seinem Lager,
den Kopf in feuchte Tücher und Binden gewickelt, und bewegt sich unruhig und
redet irre. Aber die Stimme oder der Wille Jesu lassen ihn wieder zu sich
kommen, und er ruft aus: «Verzeihung! Verzeihung! Ich werde nicht mehr in die
Sünde zurückfallen. Ich bitte um deine Verzeihung wie das letzte Mal! Aber
heile mich auch, wie das letzte Mal. Arria! Arria! Ich schwöre es dir. Ich
werde gut sein. Ich werde keine Gewalt mehr anwenden und keinen Betrug mehr
begehen, nein...» Der Mann ist aus Angst vor dem Sterben zu jedem Versprechen
bereit.
177
«Warum willst du all das», fragt
Jesus, «um sühnen zu können oder aus Furcht vor dem Gericht Gottes?»
«Dies, ja! Nicht sterben jetzt,
nein! Die Hölle! ... Ich habe gestohlen, das Geld der Armen habe ich
gestohlen. Ich habe gelogen, meinen Nächsten geschlagen und meine Familie Not
leiden lassen. Ach! ...»
«Die Furcht nützt nichts. Reue
ist nötig, wahre, echte Reue.»
«Tod oder Blindheit! O
schreckliche Strafe! Nicht mehr sehen können! Finsternis! Finsternis! Nein!
...»
«Wenn die Finsternis der Augen
schon schlimm ist, ist dann die Finsternis des Herzens nicht noch
schrecklicher? Fürchtest du nicht die ewige, fürchterliche Finsternis der
Hölle? Den ewigen Verlust Gottes? Die unaufhörlichen Gewissensbisse? Den
Schmerz, die eigene Seele getötet zu haben? Liebst du diese Frau nicht? Und
die Kinder, liebst du sie nicht? Deinen Vater, deine Mutter und deine
Geschwister, liebst du sie nicht? Und denkst du nicht daran, daß du nie mehr
mit ihnen zusammensein wirst, wenn du als Verdammter stirbst?»
«Nein, nein! Verzeihung!
Verzeihung! Ich will hier sühnen, ja hier... Auch die Blindheit will ich
ertragen, Herr... Aber die Hölle, nein... Gott soll mich nicht verfluchen.
Herr! Herr! Du verjagst die Dämonen und verzeihst die Sünden. Erhebe nicht
deine Hand, um mich zu heilen, sondern um mir zu verzeihen und mich vom Teufel
zu befreien, der mich gefangen hält ... Lege deine Hand auf mein Herz, auf
mein Haupt... Befreie mich, Herr ...»
«Ich kann nicht zwei Wunder für
dich wirken. Denke nach. Wenn ich dich vom Dämon befreie, lasse ich dir die
Krankheit ...»
«Das macht nichts! Sei mein
Retter!»
«Es geschehe dir nach deinem
Willen. Wisse meine Gnade zu nützen, denn es ist die letzte, die ich dir
gewähre. Lebe wohl.»
«Du hast mich nicht berührt!
Deine Hand! Deine Hand!»
Jesus stellt ihn zufrieden und
legt seine Hand auf das Haupt und auf die Brust des Mannes. Da dieser ihn
nicht sehen kann wegen der Binden und der Verletzung, tastet er ängstlich um
sich, um die Hand Jesu zu erfassen; und nachdem er sie gefunden hat, weint er
und will sie nicht loslassen, bis er, die Hand Jesu immer noch an seiner
fiebernden Wange, wie ein müdes Kind einschläft.
Jesus zieht seine Hand vorsichtig
zurück und geht leise aus dem Zimmer, gefolgt von der Frau und den drei
Aposteln.
«Gott vergelte es dir, Herr. Bete
für deine Dienerin.»
«Fahre fort zu wachsen in der
Gerechtigkeit, Frau, und Gott wird immer mit dir sein.» Er erhebt seine Hand,
um die Frau und das Haus zu segnen und geht dann auf die Straße hinaus.
Tausend neugierige Fragen lassen
den Lärm draußen anschwellen. Doch Jesus gibt ein Zeichen, zu schweigen und
ihm zu folgen, und kehrt
178
auf die Hauptstraße zurück. Die
Nacht bricht langsam herein. Jesus steigt in ein Boot, das in der Nähe des
Ufers schaukelt, und spricht von dort aus.
«Nein. Er ist nicht gestorben und
auch nicht geheilt worden, was den Leib betrifft. Sein Geist hat über seine
Sünden nachgedacht und seine Gedanken auf den rechten Weg gelenkt. Ihm ist
verziehen worden, weil er sühnen will, um Verzeihung zu erlangen.
Ihr alle, helft ihm auf dem Weg
zu Gott. Bedenkt, daß wir alle verantwortlich sind für die Seele unseres
Nächsten. Wehe dem, der Ärgernis gibt! Aber ebenso wehe dem, der durch sein
unnachsichtiges Verhalten einen, der gerade zum Guten wiedererwacht ist,
verängstigt und ihn mit seiner Unversöhnlichkeit gewaltsam von dem Weg
abdrängt, auf den er sich begeben hat. Alle können ein wenig Lehrmeister sein,
und gute Lehrrneister ihres Nächsten, um so mehr, wenn der Nächste schwach und
unwissend ist in der Weisheit des Guten. Ich ermahne euch, seid geduldig,
sanft und großmütig mit Simeon. Zeigt keinen Haß oder Groll, keine Verachtung
oder Ironie. Schaut nicht auf die Vergangenheit und erinnert ihn nicht daran.
Der Mensch, der nach der Verzeihung, nach der Reue und mit einem ehrlichen
Vorsatz zu einem neuen Leben ersteht, hat zwar den guten Willen, aber er hat
auch die Last, nämlich die Netze der Leidenschaften und der Gewohnheiten
seiner Vergangenheit. Man muß es verstehen, ihm zu helfen, sich davon zu
befreien, und das mit viel Feingefühl. Und ohne Anspielungen auf die
Vergangenheit, denn sie wären unklug und ein Mangel an Liebe und
Menschlichkeit.
Den reumütigen Sünder an seine
Sünden zu erinnern, bedeutet, ihn zu demütigen. Dafür sorgt schon sein
wiedererwachtes Gewissen. Einen Menschen an seine Vergangenheit zu erinnern
bedeutet, alte Leidenschaften wiederzuerwecken und, in manchen Fällen, einen
Rückfall in überwundene Leidenschaften und die Zustimmung dazu herbeizuführen.
Bestenfalls handelt es sich um eine Versuchung. Führt euren Nächsten nicht in
Versuchung. Seid klug und liebevoll. Hat euch Gott vor gewissen Sünden
verschont, so preist ihn dafür, aber prahlt nicht mit eurer Gerechtigkeit, um
nicht denjenigen zu demütigen, der ungerecht war. Wißt den flehentlichen Blick
des Reuevollen zu begreifen, der möchte, daß ihr vergeßt, und da er weiß, daß
ihr nicht vergeßt, fleht er euch an, ihn wenigstens nicht zu demütigen, indem
ihr ihn an die Vergangenheit erinnert.
Sagt nicht: "Er war ein
Aussätziger dem Geiste nach" ' um eure Verfehlungen zu rechtfertigen. Der
körperlich Aussätzige wird nach der Heilung und der Reinigung wieder in die
Gesellschaft aufgenommen. Ebenso geschehe dem von der Sünde Geheilten. Seid
nicht wie jene, die sich für vollkommen halten, es aber nicht sind, weil sie
keine Liebe für die Brüder haben. Umgebt vielmehr die zur Gnade auferstandenen
Brüder mit eurer Liebe, auf daß euer Beistand einen Rückfall verhindere.
Ihr sollt nicht mehr sein wollen
als Gott, der den reumütigen Sünder
179
nicht zurückweist, sondern ihm
vielmehr verzeiht und ihn wieder annimmt. Auch wenn euch der Sünder ein Leid
zugefügt hat, das nicht wiedergutzumachen ist, so rächt euch nicht, jetzt, da
ihr ihn nicht mehr als einen Gewalttätigen zu fürchten habt. Verzeiht ihm
vielmehr und hab großes Mitleid mit ihm, denn er war arm an dem großen Schatz,
den jede besitzen kann, wenn er es nur will: die Güte. Liebt ihn, denn mit den
Schmerz, den er euch bereitet hat, hat er euch auch ein Mittel gegeben euch
einen größeren Lohn im Himmel zu verdienen. Fügt seinem Mitte das eurige
hinzu: die Verzeihung, und euer Lohn im Himmel wird noch größer sein.
Verachtet niemanden, nicht
einmal, wenn er einer anderen Rasse angehört. Ihr seht, wenn Gott eine Seele
an sich zieht, auch wenn es die eine Heiden ist, formt er sie so um, daß sie
viele aus dem auserwählten Volk an Gerechtigkeit überragt.
Ich gehe nun. Erinnert euch jetzt
und allezeit dieser und meiner übrigen Worte.»
Petrus, der schon bereit steht,
stößt mit dem Ruder ab, und das Boot löst sich vom Ufer und beginnt seine
Fahrt, gefolgt von den beiden anderen. Der etwas bewegte See bewirkt ein
Schlingern der Boote, aber niemand beklagt sich darüber, weil die Überfahrt
kurz ist. Die roten Laternen werfen rubinfarbene Tupfen auf das dunkle
Gewässer und tauche den weißen Schaum in Blut.
«Meister, wird der Mann gesund
werden oder nicht? Ich habe nicht verstanden», fragt Petrus nach einiger Zeit,
ohne das Steuer loszulassen
Jesus antwortet nicht. Petrus
gibt Johannes, der im Boot zu Füßen Jesu sitzt und sein Haupt auf dessen Knie
gelegt hat, ein Zeichen und Johannes wiederholt leise die Frage.
«Er wird nicht gesund werden.»
«Warum, Herr? Demnach, was ich
gehört habe, dachte ich, er müsse gesund werden, um sühnen zu können.»
«Nein, Johannes. Er würde von
neuem sündigen, denn sein Geist ist schwach.»
Johannes legt sein Haupt wieder
auf die Knie Jesu und sagt: «Aber du hättest ihn stark machen können...» und
es scheint, als wolle er ihm d2 mit einen sanften Vorwurf machen.
Jesus lächelt, während er mit den
Fingern durch die Haare seines Johannes fährt. Dann erhebt er die Stimme,
damit alle ihn hören können, und gibt die letzte Belehrung des Tages:
«Wahrlich, ich sage euch, auch bei Gewähren von Gnaden muß man in Betracht
ziehen, ob sie angebracht sind. Nicht immer ist das Leben ein Geschenk, nicht
immer die Wohlhabenheit, nicht immer ist es ein Sohn, und selbst die
Auserwählung ist nicht immer ein Geschenk. Geschenke werden und bleiben sie,
wenn der, der sie empfängt, sie richtig zu gebrauchen versteht für den
übernatürliche
180
Zweck der Heiligung. Wenn aber
einer mit seiner Gesundheit, seinem Wohlstand, seinen Gefühlen und seiner
Sendung, seine eigene Seele zugrunde richtet, dann wäre es für ihn besser, er
hätte sie nie besessen. Manchmal macht Gott den Menschen das größte Geschenk
damit, daß er ihnen nicht gibt, um was sie ihn bitten und was sie für gut
erachten. Ein Familienvater und ein weiser Arzt wissen, was sie Kindern oder
Kranken geben müssen, damit sie gesund oder nicht noch kränker werden. Ebenso
weiß Gott, was gut ist für das Wohl einer Seele.»
«Dann wird dieser Mann also
sterben? Welch ein Unglück für sein Haus!»
«Wäre es nicht ein größeres
Unglück, wenn ein Verdammter darin wohnte? Und wäre er glücklicher, wenn er
weiterleben und fortfahren würde zu sündigen? Wahrlich, ich sage euch, der Tod
ist ein Geschenk, wenn er dazu dient, neue Sünden zu verhindern, und den
Menschen trifft, während er mit seinem Gott wieder versöhnt ist.»
Der Kiel ist schon bei Kapharnaum
auf Grund gelaufen.
«Gerade zur rechten Zeit. Diese
Nacht kommt ein Sturm. Der See kocht, der Himmel ist ohne Sterne und
pechschwarz. Hört ihr, dort hinter den Bergen? Seht ihr das Aufleuchten?
Donner und Blitze. Gleich wird es regnen. Bringt die Barken in Sicherheit,
zumal sie nicht uns gehören! Bringt die Frauen mit dem Kind unter Dach, bevor
es regnet. He! Helft uns!» ruft Petrus anderen Fischern zu, die Netze und
Körbe forttragen.
Mit ihren kräftigen Armen ziehen
sie das Boot ein gutes Stück das Ufer hinauf, während die ersten Brecher schon
die halbnackten Glieder und den Kies bespritzen.
Dann laufen sie schnell nach
Hause, denn die ersten Riesentropfen wirbeln bereits den Staub auf und
verbreiten einen starken Geruch. Blitze durchfurchen den Himmel über dem See,
während die Donner die Bucht mit ihrem Getöse erfüllen.
508. «SEID KLUG WIE DIE SCHLANGEN
UND SANFT WIE DIE TAUBEN»
«Im oberen Raum sind Männer aus
Nazareth, und gestern sind deine Brüder gekommen, dich zu suchen. Auch
Pharisäer und viele Kranke waren da; und einer aus Antiochia», teilt Iskariot
mit, als er sie eintreten sieht.
«Sind sie wieder abgereist?»
«Nein. Der Mann aus Antiochia ist
nach Tiberias gegangen; aber er kommt nach dem Sabbat zurück. Die Kranken sind
in verschiedenen Häusern untergebracht. Die Pharisäer jedoch wollten unter
vielen
181
Ehrenbezeugungen deine Brüder
aufnehmen. Sie sind alle bei Simon dem Pharisäer zu Gast.»
«Hm! ...» brummt Petrus.
«Was hast du? Bist du nicht
zufrieden, daß sie den Meister in seinen Brüdern ehren?» fragt Iskariot.
«Oh! Wenn es wirklich eine Ehre
und eine nützliche Begegnung ist... bin ich sehr zufrieden!»
«Mißtrauen bedeutet urteilen. Der
Meister will nicht, daß man urteilt.»
«Aber ja! Ja! Um sicher zu sein,
werde ich mit dem Urteilen warten. So werde ich weder töricht, noch ein Sünder
sein.»
«Laßt uns hinaufgehen zu den
Leuten aus Nazareth. Morgen werden wir die Kranken besuchen», sagt Jesus.
Iskariot wendet sich an Jesus:
«Das kannst du nicht. Morgen ist Sabbat. Willst du dich von den Pharisäern
tadeln lassen? Wenn du nicht daran denkst, so denke ich an deine Ehre», sagt
er in einem sehr theatralischen Ton und fügt an: «Vielmehr – da ich deinen
Wunsch verstehe, die, die dich aufsuchen, sofort zu heilen – können wir
hingehen und ihnen in deinem Namen die Hände auflegen und ...»
«Nein!» Es ist ein sehr
entschiedenes Nein, das keinen Widerspruch zuläßt.
«Du willst nicht, daß wir Wunder
wirken? Willst du es selbst tun? Nun gut... Dann gehen wir und sagen ihnen,
daß du hier bist und daß du ihnen versprichst, sie zu heilen. So werden sie
schon glücklich sein...»
«Das ist nicht nötig. Die Fischer
haben uns gesehen und deshalb weiß man schon, daß ich hier bin. Und daß ich
diejenigen heile, die an mich glauben, wissen sie auch, deshalb haben sie mich
ja aufgesucht.»
Judas schweigt unzufrieden, mit
der finsteren Miene seiner bösen Augenblicke.
Jesus geht hinaus, ohne sich um
das Unwetter und den prasselnden Regen zu kümmern, steigt zum oberen Raum
hinauf, öffnet die Tür und tritt ein. Die Apostel folgen ihm. Die Frauen sind
schon oben und sprechen mit den Nazarenern. In einer Ecke sitzt ein Mann, den
ich nicht kenne.
«Der Friede sei mit euch.»
«Meister!» Die Nazarener
verneigen sich. Dann sagen sie: «Da ist der Mann», und weisen auf den
Unbekannten.
«Kommt her», befiehlt Jesus.
«Verfluche mich nicht!»
«Um das zu tun, wäre es nicht
nötig gewesen, dich hierher zu rufen. Hast du deinem Retter nur dies zu
sagen?» Jesu Stimme ist streng, aber zugleich auch ermutigend.
Der Mann schaut ihn an... Dann
bricht er in Tränen aus und schreit, indem er sich zu Boden wirft: «Wenn du
mir nicht verzeihst, werde ich keinen Frieden haben!»
182
«Warum hast du mich
zurückgewiesen, als ich dich auf den rechten Weg führen wollte? Jetzt ist es
zu spät für eine Wiedergutmachung. Deine Mutter ist tot.»
«Ach, sag das nicht! Du bist
grausam!»
«Nein. Ich bin die Wahrheit. Ich
war die Wahrheit, als ich dir sagte, daß du deine Mutter töten würdest. Ich
bin es auch jetzt. Du hast mich damals verhöhnt. Warum suchst du mich jetzt
auf? Deine Mutter ist tot. Du hast gesündigt und immerzu gesündigt, obwohl dir
bewußt war, daß du sündigst. Ich hatte es dir gesagt. Das ist deine große
Schuld: du wolltest sündigen und hast das Wort und die Liebe zurückgewiesen.
Warum beklagst du dich, wenn du jetzt keinen Frieden findest?»
«Herr! Herr! Erbarmen! Ich war
wahnsinnig, und du hast mich geheilt. Ich habe meine Hoffnung auf dich
gesetzt, vorher verzweifelte ich an allem. Enttäusche meine Hoffnung nicht...»
«Warum warst du verzweifelt?»
«Weil... meine Mutter wegen mir
vor Schmerz gestorben ist... sogar am letzten Abend... sie war am Ende... und
ich habe kein Erbarmen mit ihr gehabt... Ich habe sie geschlagen, Herr!» Der
Schrei eines Verzweifelten erfüllt den Raum. «Ich habe sie geschlagen! ... und
in derselben Nacht ist sie gestorben! ... Hatte sie mich nicht ermahnt, gut zu
sein... meine Mutter! ... Und ich habe sie umgebracht...»
«Schon seit Jahren hast du sie
umgebracht, Samuel! Seit du aufgehört hast, ein Gerechter zu sein. Die arme
Esther! Wie oft habe ich sie weinen gesehen, und wie oft bat sie mich um eine
kindliche Liebkosung an deiner Stelle... Und du weißt, daß ich nicht aus
Freundschaft zu dir, meinem Altersgenossen, sondern aus Mitleid mit ihr in
dein Haus kam. Ich sollte dir eigentlich nicht verzeihen, aber zwei Mütter
haben für dich gebetet, und deine Reue ist aufrichtig. Daher verzeihe ich dir.
Lösche durch ein unbescholtenes Leben die Erinnerung an den sündigen Samuel in
den Herzen deiner Mitbürger und gewinne deine Mutter wieder. Es wird dir
gelingen, wenn du dir durch ein rechtschaffenes Leben den Himmel und mit ihm
auch deine Mutter erwirbst. Aber bedenke, bedenke es immer, daß deine Sünde
sehr groß war und daß auch deine Gerechtigkeit dementsprechend sein muß, um
die Schuld zu tilgen.»
«Oh! Du bist gut! Nicht wie jener
von den Deinen, der sofort hinausgegangen ist, nachdem du eingetreten bist. Er
ist nur nach Nazareth gekommen, um mir Schrecken einzujagen! Diese hier können
es dir bestätigen ...»
Jesus wendet sich um... Von den
Aposteln fehlt nur Iskariot. Daher ist er es, der Samuel schlecht behandelt
hat. Was soll Jesus tun? Um den Apostel – den Apostel, nicht den Menschen –
nicht der Kritik auszusetzen, sagt er: «Jeder Mensch kann deiner Sünde
gegenüber nur streng sein. Wenn man Böses tut, sollte man bedenken, daß die
Menschen urteilen, da
183
man ihnen die Gelegenheit gibt,
über uns zu urteilen. Aber du darfst keinen Groll gegen ihn hegen. Lege die
Demütigung, die dir widerfahren ist, als Sühne auf die Waage Gottes. Gehen
wir. Hier, unter den Gerechten, herrscht große Freude über deine Rettung. Du
bist unter Brüdern, die dich nicht verachten. Denn jeder Mensch kann sündigen,
und er ist nur verachtungswürdig, wenn er in seiner Sünde verharrt!»
«Ich preise dich, Herr. Ich bitte
dich auch um Verzeihung für die vielen Male, da ich dich schmähte... Ich weiß
nicht, wie ich dir danken soll... Es ist der Friede, weißt du? Der Friede, der
wieder bei mir einkehrt.» Nun weint er still vor sich hin...
«Bedanke dich bei meiner Mutter.
Denn wenn dir verziehen wurde, wenn ich dich von deiner Raserei geheilt habe,
um dich fähig zu machen, zu bereuen, so ist es um ihretwillen geschehen. Gehen
wir hinunter. Die Mahlzeit ist bereit, und wir wollen das Essen verteilen.» Er
geht hinaus und hält dabei den Mann an der Hand.
Das Abendessen ist tatsächlich
bereit. Judas ist auch nicht hier unten, er ist im ganzen Haus nicht zu
finden. Die Hausherrin erklärt: «Er ist fortgegangen und hat gesagt: "Ich
komme gleich wieder zurück."»
«Nun gut! Setzen wir uns und
essen wir.»
Jesus opfert, segnet und verteilt
die Speisen. Aber etwas Eisiges ist in dem Raum, der von zwei Laternen und der
Feuerstätte erleuchtet wird. Das Unwetter draußen wütet weiter...
Judas kehrt zurück, außer Atem
und ganz durchnäßt, als wäre er in den See gefallen. Obwohl er sich den Mantel
über den Kopf gezogen hatte, den er nun ganz durchweicht auf den Boden wirft,
kleben seine triefnassen Haare an Wangen und Hals. Alle schauen ihn an, aber
niemand sagt ein Wort.
Er will sich entschuldigen,
obwohl niemand ihn darum gebeten hat: «Ich bin zu deinen Brüdern gelaufen, um
ihnen zu sagen, daß du hier bist. Ich habe dir aber gehorcht und bin nicht zu
den Kranken gegangen. Ich hätte es auch nicht tun können, denn es schüttet!
Eine Flut! ... Aber ich wollte doch wenigstens sofort deine Verwandten
benachrichtigen... Bist du nicht zufrieden, Meister? Du sprichst nicht...»
«Ich höre dir zu. Nimm und iß.
Und bevor wir uns zur Ruhe begeben, sprechen wir noch miteinander.
Hört. Es steht geschrieben:
Vertraut euer Herz nicht dem Fremdling an, denn ihr kennt nicht seine
Gewohnheiten. Aber können wir denn sagen, daß wir das Herz unseres Landsmannes
kennen? Das Herz des Freundes? Des Verwandten? Nur Gott sieht bis auf den
Grund des Menschenherzens. Der Mensch hat nur ein Mittel, um das Herz seines
Nächsten kennenzulernen und zu verstehen, ob er ihm ein wahrer Volksgenosse,
ein wahrer Freund oder ein wahrer Verwandter ist.
Und worin besteht dieses Mittel?
Wo findet man es? Im Nächsten und
184
in uns selbst. In seinen
Handlungen und Worten und in unserem redlichen Urteil. Wenn wir in den Worten
und Handlungen des Nächsten oder in den Handlungen, die er von uns erwartet,
unserem redlichen Urteil zufolge fühlen, daß etwas nicht in Ordnung ist,
können wir sagen: "Dieser hat kein gutes Herz, ich muß ihm mißtrauen." Man muß
ihn mit Liebe behandeln, denn er ist ein Unglücklicher, ein Unglücklicher der
schlimmsten Art: er ist an der Seele krank; aber man darf ihn nicht nachahmen,
seine Worte nicht als wahr und weise annehmen, und noch weniger seine
Ratschläge befolgen.
Es soll euch nicht der hochmütige
Gedanke zugrunderichten: "Ich bin stark, und das Böse der anderen dringt nicht
in mich ein. Ich bin gerecht, und wenn ich auch die Ungerechten anhöre, werde
ich dennoch gerecht bleiben." Der Mensch ist ein tiefer Abgrund, in dem alle
Elemente von Gut und Böse zu finden sind. Die ersteren, die Hilfe, die Gott
gibt, lassen uns wachsen und Könige werden; sie helfen uns, uns zu erheben und
das Böse, die Leidenschaften und schlechten Freundschaften zu überwinden. Alle
Keime des Bösen und alles Streben nach dem Guten sind im Menschen vorhanden
durch das liebevolle Walten Gottes und das böse Sinnen Satans, der
einflüstert, versucht und aufstachelt, während Gott uns an sich zieht, tröstet
und liebt. Satan sucht zu verführen, Gott bemüht sich, uns zu gewinnen. Und
nicht immer siegt Gott, da das Geschöpf schwerfällig ist, solange es sich
nicht die Liebe zum Gesetz macht; und da es schwerfällig ist, sinkt es hinab
und gelüstet eher nach dem, was unmittelbar befriedigt, aber nur das
Niedrigste im Menschen.
Aus dem, was ich über die
menschliche Schwäche gesagt habe, könnt ihr verstehen, wie notwendig es ist,
sich selbst zu mißtrauen und seinen Nächsten sehr aufmerksam zu betrachten, um
nicht das Gift eines unreinen Gewissens zu dem, was schon in uns gärt,
hinzufügen. Wenn man erkennt, daß ein Freund die Seele zugrunderichtet, wenn
seine Worte das Gewissen verwirren und seine Ratschläge Ärgernis geben, muß
man imstande sein, diese schädliche Freundschaft aufzugeben. Wollte man an ihr
festhalten, würde man schließlich seine Seele töten; denn man würde zu
Handlungen übergehen, die von Gott entfernen und das verhärtete Gewissen daran
hindern, die Eingebungen Gottes zu verstehen.
Wenn jeder Mensch, der sich
schwerer Sünden schuldig gemacht hat, sagen könnte und wollte, wie es zu
diesen Sünden gekommen ist, würde man erkennen, daß am Anfang immer eine
schlechte Freundschaft war ...»
«Das ist wahr», bekennt Samuel
von Nazareth leise.
«Mißtraut denen, die euch
plötzlich mit Geschenken und Ehren überhäufen, nachdem sie euch grundlos
bekämpft haben.
Mißtraut denen, die jede eurer
Handlungen loben und überhaupt alle loben; die den Faulpelz als guten
Arbeiter, den Ehebrecher als treuen
185
Gatten, den Dieb als Ehrenmann,
den Heftigen als Sanftmütigen, den Lügner als Aufrichtigen, den Bösen als
Guten und den schlechtesten Schüler als ein Muster hinstellen. Sie tun es, um
euch zu verderben und sich eures Ruins für ihre listigen Vorhaben zu bedienen.
Flieht die, die euch mit
Lobeshymnen und Versprechen umnebeln wollen, um euch zu Handlungen zu
verleiten, die ihr nicht tun würdet, wenn ihr nicht trunken wäret.
Wenn ihr jemandem Treue
geschworen habt, habt keinen Umgang mit dessen Feinden. Sie können sich euch
nur nähern, um dem zu schaden, den sie hassen, und dies mit eurer Beihilfe.
Öffnet die Augen! Ich habe
gesagt: Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben. Denn in den
Dingen des Geistes ist die Einfalt heilig; aber um in der Welt leben zu
können, ohne sich selbst und seinen Freunden zu schaden, braucht es die
Klugheit, mit der man die Verschlagenheit dessen aufdeckt, der die Heiligen
haßt. Die Welt ist eine Schlangengrube. Wißt die Welt und ihre Methoden zu
erkennen. Dann aber, wenn ihr nicht wie die Schlangen im Staub kriecht,
sondern wie die Tauben auf dem hohen Fels eure Zuflucht sucht, habt das
einfältige Herz der Kinder Gottes. Und betet, betet, denn in Wahrheit sage ich
euch, die große Schlange zischt um euch herum und ihr seid in großer Gefahr,
und wer nicht wachsam ist, wird zugrundegehen. Ja, unter den Jüngern ist
einer, der zugrundegehen wird, zur großen Freude Satans und zum unendlichen
Schmerz Christi.»
«Wer kann das sein, Herr?
Vielleicht einer, der nicht zu uns gehört, ein Proselyt, einer... der nicht
aus Palästina ist, einer...»
«Sucht nicht nach ihm. Steht
nicht geschrieben, daß der Greuel der Verwüstung errichtet werden wird, wie er
schon an heiliger Stätte errichtet ist? Nun denn, wenn man selbst in der Nähe
des Heiligtums sündigen kann, kann dann nicht auch einer von meinen
Nachfolgern aus Galiläa oder Judäa sündigen? Wacht, wacht, meine Freunde...
Wacht über euch selbst und die anderen; wacht über das, was euch die anderen
sagen und was euch euer Gewissen sagt. Und wenn ihr selbst das Licht nicht
habt, um klar zu sehen, dann kommt zu mir. Ich bin das Licht.»
Petrus fuchtelt hinter dem Rücken
des Johannes herum und flüstert ihm etwas zu. Doch Johannes schüttelt mehrmals
den Kopf. Jesus wendet den Blick und sieht es... Petrus nimmt wieder Haltung
an und tut so, als ginge er weg. Jesus erhebt sich und lächelt ein wenig. Dann
stimmt er das Gebet an, segnet und verabschiedet alle und bleibt allein
zurück, um noch zu beten.
186
509. DER SABBAT IN KAPHARNAUM
«Bringst du den Knaben nicht zu
seiner Mutter?» fragt Bartholomäus Jesus, den er in tiefes Gebet versunken auf
der Terrasse findet.
«Nein, ich werde warten, bis sie
aus der Synagoge zurückkehrt...»
«Hoffst du, daß der Herr dort zu
ihr spricht? Daß sie ihre Pflicht erkennt? Du denkst als Weiser, doch sie ist
nicht weise. Eine andere Mutter wäre gestern abend herbeigeeilt, um ihr Kind
abzuholen... schließlich, wir sind über einen stürmischen See gefahren... Sie
wußte nicht, woher wir kommen würden; aber sie hat auch nicht versucht zu
erfahren, ob ihrem Kind etwas zugestoßen ist. Kommt sie vielleicht heute
morgen? Schau, wie viele Mütter schon auf den Beinen sind, obwohl der Tag erst
angebrochen ist, und wie sie die Festkleider zum Trocknen aufhängen, damit sie
die Kinder am Tag des Herrn sauber anziehen können. Ein Pharisäer würde sagen,
daß sie knechtliche Arbeiten verrichten, wenn sie die Kleidchen vorbereiten.
Ich sage, daß sie ein Werk der Liebe verrichten, für Gott und ihre Kinder.
Zudem sind es arme Frauen. Schau dort, Maria des Benjamin und Rebecca des
Michäas, und da, auf der ärmlichen Terrasse Johanna, die geduldig die Fransen
des abgetragenen Kleides ihres Jungen in Ordnung bringt, damit es weniger
ärmlich aussieht, wenn er zum Gottesdienst geht. Dort unten am Ufer, das bald
ganz in der Sonne liegt, spannt Selida die noch ungebleichte Leinwand, damit,
was nur grobe Leinwand ist, fein erscheine; denn schön ist sie nur durch das
Opfer, das sie sie gekostet hat: viele Bissen Brot, die sie sich vom Munde
absparen mußte, um dafür Hanf kaufen zu können. Ist das dort nicht Adina, die
mit Grünzeug das verblichene Kleidchen ihres Mädchens bürstet, damit es wieder
grüner aussehe? Aber sie ist nirgends zu sehen...»
«Der Herr möge ihr Herz
umwandeln! Mehr kann man nicht sagen ...»
Auf das Mäuerchen der Terrasse
gestützt, betrachten sie die durch das Gewitter erfrischte Natur. Die
Atmosphäre und das Grün der Pflanzen sind gereinigt. Der See ist noch etwas
bewegt und weniger blau als sonst, denn die nun wieder für wenige Stunden
Wasser führenden Bäche, die den Staub ihrer sonnenverbrannten Betten
mitreißen, ergießen sich in ihn. Doch ist er trotz dieser ockerfarbenen
Strömungen schön. Er gleicht einem großen, von Perlen durchzogener Lapislazuli
und lacht unter der klaren Sonne, die sich gerade hinter den östlichen Bergen
erhebt und all die Tropfen entzündet, die noch im Geäst zurückgeblieben sind.
Schwalben und Tauben schießen festlich durch die klare Luft, und in den
Zweigen trillern und zwitschern Vögel aller Arten.
«Die Hitze läßt nach. Dies ist
eine schöne Jahreszeit. Reich und schön. Wie ein reifes Alter. Nicht wahr,
Meister?»
«Schön... ja...» Aber man sieht,
daß Jesus in Gedanken weit weg ist.
187
Bartholomäus schaut ihn an...
Dann fragt er: «Woran denkst du? An das, was du heute in der Synagoge sagen
wirst?»
«Nein, ich denke daran, daß die
Kranken warten. Wir beide wollen gehen und sie heilen.»
«Wir allein?»
«Simon, Andreas, Jakobus und
Johannes sind gegangen, um die Fischreusen einzuholen, die Thomas in der
Annahme unserer Rückkehr ausgelegt hat. Die anderen schlafen noch. Gehen wir
zwei.»
Sie steigen hinab und begeben
sich aufs offene Feld zu den Häusern inmitten von Obstgärten und Feldern, auf
der Suche nach den Kranken, die bei den stets gastfreundlichen Armen
Unterkunft gefunden haben. Da ist schon einer, der vorausläuft, da er ahnt, wo
der Meister hingehen will. Ein anderer sagt zu ihm: «Warte hier in meinem
Garten. Wir werden sie dir herbringen...»
Wie die Wasser kleiner Bäche sich
in einem einzigen Teich vereinigen, so kommen nun die Kranken aus
verschiedenen Richtungen – oder sie werden getragen – zu dem, der sie heilt.
Die Wunder geschehen, und Jesus entläßt sie mit den Worten: «Wenn jemand euch
fragen sollte, sagt nicht, daß ich euch geheilt habe. Kehrt zurück in die
Häuser, aus denen ihr gekommen seid. Mein Jünger hier wird noch vor
Sonnenuntergang Hilfe für die Ärmsten bringen.»
«Ja, sagt es nicht. Ihr würdet
ihm schaden. Bedenkt, daß Sabbat ist, und daß viele ihn hassen», fügt
Bartholomäus noch hinzu.
«Wir werden dem nicht schaden,
der uns Wohltaten erwiesen hat. Wir werden es in unseren Dörfern verkünden,
ohne zu sagen, an welchem Tag wir geheilt wurden», sagt einer, der zuvor
gelähmt war.
«Ich würde sogar vorschlagen, daß
wir uns auf dem Land zerstreuen und dort auf den Sonnenuntergang warten. Die
Pharisäer wissen, in welchen Häusern wir aufgenommen wurden und könnten
kommen, um nach uns zu sehen ...» sagt einer der augenkrank war.
«Du hast recht, Isaak. Gestern
haben wir zu oft gefragt und nach zu vielem... Sie werden denken, daß wir, des
langen Wartens müde, vor Sonnenuntergang abgereist sind.»
«Aber gestern abend, hat uns da
nicht der Apostel gesehen?» fragt ein geheilter Blinder. «War nicht er es, der
sprach?»
«Nein. Es war ein Bruder des
Herrn. Er wird uns nicht verraten.»
«Sagt mir nur, wo ihr hingeht,
damit ich euch finden kann, wenn ich komme», sagt Bartholomäus.
Die Kranken beraten miteinander.
Der eine möchte in Richtung Chorazim gehen, der andere in Richtung Magdala.
Schließlich wenden sie sich an Jesus, und Jesus sagt: «Geht über die Felder
entlang der Straße nach Magdala. Folgt dem zweiten Bergbach, und ihr werdet
bald ein Haus finden. Geht dorthin und sagt: "Jesus schickt uns." Sie werden
euch wie
188
Brüder aufnehmen. Geht nun. Gott
sei mit euch und ihr mit Gott, indem ihr in Zukunft nicht mehr sündigt.»
Jesus macht sich wieder auf den
Weg, kehrt aber nicht sofort auf dem gleichen Weg in den Ort zurück. Er geht
vielmehr im Halbkreis durch die Gemüsegärten, und gelangt zur Quelle in der
Nähe des Sees. Sie wird gerade von Frauen belagert, die sich alle ihren
Wasservorrat holen wollen, solange es noch frisch ist und die Sonne nicht hoch
steht.
«Der Rabbi! Der Rabbi!»
Nun laufen Frauen und Kinder
herbei, auch Männer aus dem Volk, meist alte und wegen des Sabbats müßige.
«Ein Wort, Meister, um diesen Tag
freudig zu stimmen», sagt ein ganz Alter, der ein Knäblein an der Hand führt,
vielleicht einen Urenkel, denn der Alte ist sicherlich schon hundert und das
Kind kaum sechs Jahre alt.
«Ja, stelle den alten Levi
zufrieden, und uns mit ihm.»
«Heute legt Jairus die Schrift
aus. Ich bin hier, um ihm zuzuhören. Ihr habt einen weisen
Synagogenvorsteher...»
«Warum sprichst du so, Meister?
Du bist der Vorsteher aller Synagogenvorsteher, der Meister Israels. Wir
kennen nur dich.»
«Das dürft ihr nicht. Die
Synagogenvorsteher sind eingesetzt worden, um eure Lehrmeister zu sein, um den
Gottesdienst zu feiern und euch ein gutes Beispiel zu geben, um gläubige
Israeliten aus euch zu machen. Die Synagogenvorsteher werden weiterhin da
sein, wenn ich nicht mehr da bin. Sie werden vielleicht einen anderen Namen,
andere Zeremonien haben, aber sie werden doch immer die Diener des Kultes
sein. Ihr sollt sie lieben und für sie beten. Denn wo ein guter
Synagogenvorsteher ist, dort sind auch gute Gläubige, und deshalb ist dort
auch Gott.»
«Wir werden es tun. Aber sprich
doch zu uns. Man hat uns gesagt, daß du bald von uns gehst...»
«Ich habe so viele Schafe in ganz
Palästina, und sie alle warten auf ihren Hirten. Aber ihr werdet immer
zahlreichere und weisere Jünger haben...»
«Ja, aber was du sagst, ist immer
gut und leicht verständlich für unsere unwissenden Köpfe.»
«Was soll ich euch sagen? ...»
«Jesus, wir haben dich überall
gesucht!» schreit Joseph des Alphäus, der zusammen mit seinem Bruder Simon und
einer Gruppe von Pharisäern hinzugekommen ist.
«Und wo kann der Menschensohn
anders sein als unter den Kleinen und denen, die einfältigen Herzens sind? Ihr
habt mich gesucht? Nun, hier bin ich. Aber laßt mich erst diesen Leuten ein
Wort sagen...
Hört. Man hat euch gesagt, daß
ich euch bald verlassen werde. Es ist wahr. Ich leugne es nicht. Aber bevor
ich euch verlasse, gebe ich euch dieses Gebot: Wacht über euch, um euch selbst
gut kennenzulernen, und
189
nähert euch immer mehr dem Licht,
um euch erkennen zu können. Mein Wort ist Licht. Bewahrt es in euch, und wenn
ihr in seinem Schein Makel oder Schatten in eurem Herzen entdeckt, dann
überwacht sie um sie aus eurem Herzen auszumerzen. Das, was ihr wart, bevor
ich euch kannte, dürft ihr nicht mehr sein. Ihr müßt viel besser sein, denn
ihr wißt nun viel mehr.
Zuvor habt ihr in einer Art
Dämmerung gelebt, nun aber habt ihr das Licht in euch und müßt daher Kinder
des Lichtes sein. Betrachtet den Himmel am Morgen, wenn die Morgendämmerung
ihn erhellt: er erscheint vielleicht heiter, weil er nicht ganz von
Gewitterwolken bedeckt ist; aber sobald das Licht zunimmt und der helle Schein
der Sonne im Osten sichtbar wird, erblickt das erstaunte Auge rosarote Flecken
im Blau des Himmels. Um was handelt es sich? Oh! Um leichte Wölklein, so fein,
daß sie nicht da zu sein schienen, solange das Licht ungewiß war; jetzt aber,
wo die Strahlen der Sonne sie treffen, erscheinen sie wie leichter Schaum am
Himmelszelt und bleiben dort, bis die Sonne sie mit ihrem mächtigen Glanz
auflöst.
Ihr sollt dasselbe mit eurer
Seele tun. Führt sie immer näher zum Licht, um jeden Nebel, auch den
geringsten, zu enthüllen, und dann setzt sie der starken Sonne der Liebe aus.
Diese wird eure Unvollkommenheiten verzehren, wie die Sonne die leichte
Feuchtigkeit verdunsten läßt, aus der diese kleinen und so zarten Wölkchen
bestehen, die ihre Strahlen im Morgengrauen auflösen. Wenn ihr in der Liebe
gefestigt seid, wird die Liebe beständige Wunder in euch wirken. Geht nun und
seid gut ...»
Er verabschiedet sich und begibt
sich zu den beiden Vettern, die er küßt, nachdem er sich vor den anwesenden
Pharisäern tief verneigt hat, unter denen sich auch Simon, der Pharisäer von
Kapharnaum, befindet. Die anderen Gesichter sind neu für mich.
«Wir haben dich mehr für diese
als für uns selbst gesucht. Sie sind nach Nazareth gekommen, um dich zu
suchen, und so ...»
«Der Friede sei mit euch. Was
braucht ihr?»
«Oh! Nichts. Dich sehen, nur dich
sehen. Dich hören. Die Weisheit deiner Worte möchten wir vernehmen ...»
«Nur darum seid ihr gekommen?»
«Eigentlich auch, um dir einen
Rat zu geben... Du bist allzu gut, und das Volk mißbraucht deine Güte. Das
Volk ist nicht gut, und du weißt es. Warum verfluchst du die Sünder nicht?»
«Weil der Vater mir gebietet zu
retten, nicht zu verlieren.»
«Du wirst Mißgeschicken
entgegengehen ...»
«Das macht nichts. Ich kann dem
Auftrag des Allerhöchsten nicht zuwiderhandeln aus menschlichen
Vernunftgründen.»
«Und wenn... Weißt du... Man sagt
hinter vorgehaltener Hand, daß du dem Volk schmeichelst, um dich seiner für
einen Aufstand zu bedienen. Wir sind gekommen, dich zu fragen, ob das wahr
ist.»
190
«Seid ihr gekommen oder hat man
euch geschickt?»
«Das ist ein und dasselbe.»
«Nein. Aber ich antworte euch und
denen, die euch geschickt haben, daß das Wasser, das aus meinem Schlauche
überströmt, Wasser des Friedens ist, und daß der Same, den ich ausstreue, Same
des Verzichtes ist. Ich beschneide die wuchernden Zweige. Ich bin bereit, die
schlechten Triebe auszurotten, wenn sie dem aufgepfropften Reis nicht Platz
machen, damit sie dem guten nicht schaden. Aber was ich "gut" nenne, ist nicht
das, was ihr "gut" nennt. Denn ich nenne gut: den Gehorsam, die Armut, den
Verzicht, die Demut und die Liebe, die zu jeder Erniedrigung und zu jeder
Barmherzigkeit bereit ist. Ihr habt niemanden zu fürchten. Der Menschensohn
versucht nicht, menschliche Macht zu untergraben, er kommt vielmehr, um den
Seelen Kraft zu verleihen. Geht und berichtet, daß das Lamm nie ein Wolf sein
wird.»
«Was willst du damit sagen? Du
verstehst uns schlecht, und wir verstehen dich schlecht.»
«Nein. Ich und ihr, wir verstehen
uns sehr wohl...»
«Nun denn, dann weißt du also,
weshalb wir gekommen sind?»
«Ja. Um mir zu sagen, daß ich
nicht zum Volk sprechen soll. Doch ihr bedenkt nicht, daß ihr mir nicht
verbieten könnt, wie jeder Israelit dort hineinzugehen, wo die Heilige Schrift
gelesen und erklärt wird, und wo jeder Beschnittene das Recht hat zu reden.»
«Wer hat dir das gesagt? Jairus,
nicht wahr? Wir werden es berichten.»
«Ich habe Jairus noch nicht
gesehen.»
«Du lügst.»
«Ich bin die Wahrheit.»
Ein Mann aus dem Volk, das sich
inzwischen wieder versammelt hat, sagt: «Er lügt nicht. Jairus ist gestern vor
Sonnenuntergang mit seiner Frau und seiner Tochter abgereist, um sie zur
sterbenden Mutter zu begleiten. Er hat hier einen Vertreter zurückgelassen und
wird erst nach der Reinigung zurückkehren.»
Die Pharisäer haben nicht die
Genugtuung, beweisen zu können, daß Jesus lügt, aber sie haben immerhin die,
ihn ohne seinen mächtigsten in Kapharnaum zu wissen. Sie schauen einander mit
vielsagendem Mienenspiel an.
Joseph des Alphäus, der
Familienälteste, fühlt sich verpflichtet, Jesus zu verteidigen, und wendet
sich an den Pharisäer Simon: «Du hast mich geehrt, indem du mit mir Brot und
Salz teilen wolltest, und der Allerhöchste wird dieser Ehrung Rechnung tragen,
die du den Nachkommen Davids gezollt hast. Du hast dich mir gegenüber als
gerecht erwiesen. Dieser mein Bruder wird von den Pharisäern hier angeklagt.
Gestern haben sie mir, dem Haupt des Hauses, gesagt, ihr einziger Schmerz sei
der, daß Jesus Judäa vernachlässige, da er als Messias von Israel die Pflicht
habe, in gleicher
191
Weise ganz Israel zu lieben und
die Frohe Botschaft zu bringen. Ich fand diese Begründung gerechtfertigt und
wollte sie meinem Bruder mitteilen. Aber warum sprechen sie heute so? Sie
sollen wenigstens sagen, warum er nicht reden darf. Mir ist nicht bekannt, daß
er etwas gegen das Gesetz und die heiligen Bücher gesagt hat. Gebt den Grund
an, und ich werde Jesus überreden, anders zu sprechen.»
«Du hast recht. Antwortet dem
Mann ...» sagt Simon der Pharisäer. «Hat er gotteslästerliche Dinge gesagt?»
«Nein, aber der Hohe Rat klagt
ihn an, daß er die Nation spaltet oder versucht, sie zu spalten. Der König muß
König von Israel und nicht nur von Galiläa sein.»
«Ihm ist das ganze Vaterland
teuer. Besonders teuer aber ist ihm seine Heimat. Doch diese seine Liebe zu
Galiläa ist keine so schwerwiegende Angelegenheit, daß sie eine Strafe
verdient. Übrigens sind wir vom Stamme Davids und deshalb...»
«Dann soll er nach Judäa kommen
und uns nicht verachten.»
«Hörst du sie? Das ist eine Ehre
für dich und die Familie», sagt Joseph halb streng, halb prahlerisch.»
«Ich höre.»
«Ich rate dir, ihrem Wunsch zu
entsprechen. Er ist gut und sehr ehrenvoll. Du sagst, du willst Frieden. Da du
hier wie dort geliebt wirst, setze doch der Unstimmigkeit ein Ende, die
zwischen den beiden Provinzen besteht. Du wirst es sicher tun. Oh! Bestimmt
wird er es tun. Ich versichere an seiner statt, daß er den Vorstehern
gehorchen wird.»
«Es steht geschrieben: "Niemand
ist größer als ich. Es gibt keinen anderen Gott außer mir." Ich werde immer
dem gehorchen, was Gott will.»
«Hört ihr ihn? Geht daher in
Frieden.»
«Wir hören ihn. Doch bevor wir
gehen, Joseph, wollen wir wissen, was für ihn Gottes Wille ist.»
«Was Gott will, ist, daß ich
seinen Willen erfülle.»
«Und der wäre? Sage es uns.»
«Daß ich die Schafe Israels
sammle und sie zu einer einzigen Herde vereinige. Und ich werde es tun.»
«Wir werden uns deine Worte
merken.»
«Das wird gut sein. Gott sei mit
euch.» Jesus wendet der Gruppe der Pharisäer den Rücken und geht nach Hause.
Joseph, sein Vetter, geht an
seiner Seite, halb zufrieden, halb unzufrieden; und mit der Miene eines
Beschützers macht er ihn darauf aufmerksam, daß, wenn man sie recht anzupacken
weiß (wie er es getan hat), wenn man die Unterstützung der Verwandten hat (wie
heute glücklicherweise), wenn man darauf hinweist, daß man ein Recht auf den
Thron hat (als Nachkomme Davids), und so weiter, auch die Pharisäer gute
Freunde werden.
192
Jesus unterbricht ihn jedoch mit
den Worten: «Und das glaubst du? Glaubst du ihren Worten? Wahrlich, der
Hochmut und das trügerische Lob genügen oft, um den schärfsten Blick zu
trüben.»
«Ich aber... würde sie doch
zufriedenstellen. Du kannst nicht verlangen, daß sie dich von heute auf morgen
unter Hosannarufen im Triumphzug tragen. Das geschieht nicht so plötzlich...
du mußt sie erobern. Ein wenig Demut, Jesus, etwas Geduld. Die Ehre verdient
jegliches Opfer...»
«Genug! Du sprichst eine
menschliche Sprache und mehr noch. Gott verzeihe dir und gebe dir Licht,
Bruder! Aber geh jetzt, denn du machst mir Kummer. Und sprich vor deiner
Mutter, vor den Brüdern und meiner Mutter nicht von diesen deinen törichten
Ratschlägen.»
«Du willst zugrundegehen. Du
wirst die Ursache unseres und deines eigenen Ruins sein!»
«Warum bist du gekommen, wenn du
immer noch derselbe bist? Ich habe noch nicht für dich gelitten, aber ich
werde es tun. Und dann...»
Joseph ist beunruhigt
weggegangen.
«Du stößt ihn ab... Er ist wie
unser Vater, du weißt es. Er ist der alte Israelit...» flüstert ihm Simon zu.
«Wenn er begreift, wird er sehen,
daß meine Handlungsweise, die ihn jetzt abgestoßen hat, heilig war...»
Sie sind an der Haustür und
treten ein. Jesus befiehlt Petrus: «Sorge dafür, daß das Boot bei
Sonnenuntergang bereit ist. Wir werden die beiden Marien nach Tiberias
begleiten, und Simon wird sie nach Hause bringen. Außer dir werden Matthäus
und deine Fischerkameraden mitkommen. Die anderen werden hierbleiben und auf
uns warten.»
Petrus nimmt Jesus beiseite: «Und
wenn der Mann aus Antiochia kommt? Ich sage es wegen Judas Iskariot...»
«Dein Meister sagt dir, daß wir
ihn auf der Mole von Tiberias antreffen werden.»
«Ah, dann!» und mit lauter Stimme
fügt er hinzu: «Das Boot wird bereit sein.»
«Mutter, komm mit mir hinauf. Wir
werden diese Stunde zusammen verbringen.»
Maria folgt ihm, ohne ein Wort zu
sagen. Sie betreten das Obergemach, das kühl und schattig ist wegen des
Weinstocks, der es bedeckt, und den Vorhängen, die Schatten spenden.
«Gehst du fort, mein Jesus?»
Maria ist ganz blaß.
«Ja, es ist Zeit.»
«Und ich soll nicht zum
Laubhüttenfest kommen? Mein Sohn! ...»Maria seufzt.
«Mutter! Warum? Es ist ja nicht
das erste Mal, daß wir uns trennen!»
«Nein, das ist wahr. Aber... Oh,
ich erinnere mich an das, was du mir im Wald von Gamala gesagt hast... Mein
Sohn! Verzeih einer armen
193
Frau. Ich werde dir gehorchen...
mit der Hilfe des Herrn werde ich stark sein... Aber ich möchte ein
Versprechen von dir...»
«Welches, meine Mutter?»
«Daß du die schreckliche Stunde
nicht vor mir verbirgst. Nicht aus Mitleid, nicht aus Mißtrauen... Es wäre ein
allzu großer Schmerz, eine allzu große Qual... Ein Schmerz, denn ich würde
alles unerwartet erfahren und von jemandem, der mich nicht liebt, wie du diese
deine arme Mutter liebst... Und es wären Folterqualen, wenn ich denken müßte,
daß vielleicht in dem Augenblick, in dem ich spinne, webe oder für die Tauben
sorge, du, mein Sohn, zum Tode geführt wirst...»
«Fürchte dich nicht, Mutter. Du
wirst es erfahren... Aber dies ist nicht der letzte Abschied. Wir werden uns
wiedersehen ...»
«Wirklich?»
«Ja. Wir werden uns wiedersehen.»
«Und dann wirst du mir sagen:
"Ich gehe, um mein Opfer zu vollenden"? Oh...»
«Ich werde es nicht so sagen.
Aber du wirst mich verstehen... und dann wird Friede sein, so viel Friede...
Bedenke: alles getan zu haben, was Gott von uns will, von uns, seinen Kindern,
für das Wohl aller anderen Kinder. Welch großer Friede... Der Friede der
vollkommenen Liebe.»
Er hat sie an sein Herz gezogen
und hält sie in seinen Sohnesarmen, er, so groß und stark, sie viel kleiner,
jung in ihrer unversehrten Jugend des Leibes und des Ausdrucks über der ewigen
Jugend ihres unbefleckten Geistes. Dann wiederholt sie heldenmütig, so
heldenmütig: «Ja, ja. Was Gott will...»
Es folgen keine Worte mehr. Die
beiden Vollkommenen vollenden schon das schwerste Opfer ihres Gehorsams. Es
gibt nicht einmal Tränen und nicht einmal einen Kuß. Ich sehe nur zwei, die
vollkommen lieben und ihre Liebe zu Füßen Gottes niederlegen.
510. BEI JOHANNA DES CHUZA;
BRIEFE AUS ANTIOCHIA
Die Bewohner von Tiberias sind
alle am Ufer des Sees oder auf dem See selbst, um sich an der Brise zu
erquicken, die über das Wasser weht und die Bäume in den Gärten am Gestade
schüttelt. Die Reichen dieser Stadt, in der sich so viele Rassen aus den
verschiedensten Gründen zusammenfinden, suchen Erleichterung auf bequemen
Vergnügungsbooten oder beobachten aus dem schattigen Grün ihrer Gärten die
Bewegungen der Barken auf dem türkisblauen Wasserspiegel, der sich schon von
der Gelbfärbung durch das Gewitter vom Vorabend gereinigt hat. Die Armen und
194
besonders die Kinder tummeln sich
am Ufer, dort, wo die Wellen auslaufen, und ihre kleinen Schreie, wenn das
kalte Wasser manchmal höher hinaufspritzt, als ihnen lieb ist, gleichen den
Schreien der Schwalben.
Die Boote des Petrus und des
Jakobus nähern sich dem Ufer und steuern auf die kleine Mole zu.
«Nein, zum Garten der Johanna!»
gebietet Jesus.
Petrus gehorcht wortlos, und sein
Boot, gefolgt vom Zwillingsboot, macht eine vollkommene Wendung. Das
schäumende Kielwasser hinter ihnen bildet ein großes Fragezeichen, während sie
zur Landungsstelle am Garten des Chuza gleiten und dort anlegen. Jesus steigt
als erster aus und reicht den beiden Marien die Hand, um ihnen beim Ersteigen
der kleinen Mole zu helfen.
«Jetzt geht ihr zum großen
Anlegeplatz und beginnt dort, den Herrn zu verkünden. Ihr werdet einen Mann
sehen, der sich euch nähern und euch fragen wird, wo ich bin. Das ist der Mann
aus Antiochia. Führt ihn zu mir, nachdem ihr die Menge entlassen habt.»
«Ja... aber was sollen wir dem
Volk sagen? Sollen wir deine Ankunft oder deine Lehre verkünden?»
«Meine Ankunft. Sagt, daß ich am
frühen Morgen in Tarichäa sprechen und die Kranken heilen werde. Einer von
euch soll die Boote bewachen, oder ihr beauftragt einen Jünger, es zu tun,
damit sie bereit sind zur Abfahrt. Geht nun, und der Friede sei mit euch.» Er
begibt sich zum Gartentor an der Landungsbrücke. Die beiden Marien folgen ihm
schweigend.
In dem großen Garten, in dem noch
vereinzelte hartnäckige Rosen blühen, wenn auch sehr wenige, ist niemand zu
sehen. Aber man hört das fröhliche Geschrei der beiden Kleinen, die
miteinander spielen... Jesus versucht, indem er die Hand durch die Arabesken
des Gitters streckt, den Riegel aufzuschieben, was ihm aber nicht gelingt. Er
sucht etwas, womit er ein Geräusch erzeugen könnte, um die Aufmerksamkeit auf
sich zu lenken, findet aber nichts. Schließlich hört er, daß sich die
Stimmchen der beiden Kinder nähern, und ruft laut: «Maria!» Die beiden
Stimmchen verstummen ganz plötzlich... Jesus wiederholt: «Maria!»
Doch dann taucht mitten auf der
kurzgeschorenen Wiese, die einem Teppich gleicht, auf dem die gut gepflegten
Rosenstöcke stehen, mit kleinen, vorsichtigen Schrittchen, ein Fingerchen auf
den Lippen und den Blick prüfend in alle Richtungen wendend, das kleine
Mädchen auf, und einige Schritte hinter ihm, gefolgt von einem schneeweißen
Schäflein, Matthias.
«Maria, Matthias!» ruft Jesus
laut.
Die Stimme zieht die unschuldigen
Blicke an, und die beiden Kinder schauen zum Gartentor und sehen Jesu Gesicht
hinter den Stäben, das ihnen zulächelt.
195
«Der Herr! Lauf zur Mutter,
Matthias... rufe Elias und Michäas... Sie sollen kommen und öffnen ...»
«Geh du, ich gehe zum Herrn ...»
und so laufen sie alle beide mit ausgebreiteten Armen, wie zwei
Schmetterlinge, der eine weiß, der andere rosig mit braunem Köpfchen. Aber zum
Glück rufen sie während des Laufen die Diener, die noch mit Gießkannen und
Hacken bewaffnet herbeieilen so daß sich schließlich das Tor öffnet und die
beiden Kinder sich in die Arme Jesu werfen können, der sie küßt und mit ihnen
an der Hand die Schwelle überschreitet.
«Die Mutter ist mit ihren
Freundinnen im Haus, und dann schicken sie uns fort, weil diese uns nicht
mögen», erklärt Matthias kurz und bündig
«Sag nicht so böse Sachen. Die
Mutter schickt uns nur fort, weil die Damen Römerinnen sind und noch von ihren
Göttern reden. Wir aber die wir durch Jesus gerettet worden sind, sollen nur
ihn kennen. So ist es Herr. Matthias ist zu klein und versteht das noch
nicht», sagt die Schwester anmutig und mit der Verständigkeit eines
Geschöpfes, das gelitten ha und dadurch reifer, erwachsener, als es dem Alter
entspricht, geworden ist
«Auch der Vater schickt uns fort,
wenn Leute vom Hof kommen, und es würde mir so gefallen, sie zu sehen, denn es
sind fast alles Soldaten.. Krieger... Der Krieg! Schön ist der Krieg! Er
bringt den Sieg und verjagt die Römer! Nieder mit Rom! Es lebe das Reich
Israel», schreit der Klein stolz.
«Der Krieg ist nicht schön,
Matthias, und oft gewinnt man ihn nicht und dann wird man vom Untertanen zum
Sklaven.»
«Aber dein Reich muß kommen. Und
damit es kommen kann, wird man Krieg führen. Und alle werden fortgejagt
werden, auch Herodes, und du wirst König sein.»
«Aber sei doch still, du
Dummkopf! Du weißt, daß du nicht wieder holen sollst, was du hörst. Sie tun
gut daran, dich fortzuschicken. Weiß du nicht, daß du dem Vater, der Mutter
und auch Jesus schaden kannst wenn du so redest?» sagt Maria. Dann erklärt
sie: «Eines Tages ist de gekommen, der so etwas wie ein Fürst und auch ein
Verwandter des Herodes und dein Jünger ist, um mit dem Vater zu sprechen. Sie
haben so geschrieen, und sie waren nicht allein, sondern mit vielen
anderen...»
«Alle schön, mit schönen
Schwertern, und sie sprachen vom Krieg... unterbricht sie Matthias.
«Sei still, sage ich dir! Sie
haben so laut geschrieen, daß man es gehört hat, und dieser Dummkopf redet
seit damals von nichts anderem. Sag du ihm, daß er es nicht darf... Die Mutter
hat es ihm gesagt, und der Vater hat ihm gedroht, daß er ihn auf den Gipfel
des Großen Hermon bringen und ihn dort mit einem taubstummen Sklaven in einer
Höhle lasse wird, so lange, bis er das Schweigen gelernt hat. Dort müßte er
schweigen denn wenn er mit diesem Sklaven spricht, hört er nichts und gibt
kein
196
Antwort, und wenn er schreit,
kommen die Adler und die Wölfe und fressen ihn auf...»
«Das wäre wirklich eine
furchtbare Strafe», sagt Jesus lächelnd und streichelt den Jungen, den seine
ganze Kühnheit verlassen hat und der sich an Jesus klammert, als sähe er schon
die Adler und die Wölfe, bereit, ihn samt seiner unvorsichtigen Zunge zu
verschlingen. «Eine wirklich furchtbare Strafe», wiederholt Jesus.
«O ja! Und ich fürchte, daß er
sie verdienen wird und daß ich ohne Matthias bleibe, und weine... Aber er hat
weder mit mir noch mit der Mutter Mitleid und wird uns vor Schmerz sterben
lassen.»
«Aber ich tue es nicht
absichtlich... Ich habe es gehört... und wiederhole es... Es ist so schön zu
denken, daß die Römer besiegt und Herodes und Philippus verjagt werden und
Jesus König von Israel wird», beendet er seine Ausführungen im Flüsterton und
versteckt dabei sein Gesicht in den Gewändern Jesu, um seine Stimme noch mehr
zu dämpfen.
«Matthias wird diese Dinge nie
mehr sagen. Er verspricht es mir und wird sein Versprechen halten. Ist es
nicht so? So wird er nicht verschlungen werden, Johanna und Maria werden nicht
vor Schmerz sterben, Chuza wird nicht beunruhigt sein und ich werde nicht
gehaßt werden. Denn siehst du, Matthias, du machst mich verhaßt mit diesen
Worten. Hättest du eine Freude, wenn Jesus verfolgt würde? Bedenke, was für
Gewissensbisse du hättest, wenn du dir eines Tages sagen müßtest: "Ich bin
Schuld daran, daß Jesus, der mich gerettet hat, verfolgt wird, und das, weil
ich wiederholt habe, was ich zufällig gehört habe"... Jenes waren Männer, und
die Männer verlieren Gott oft aus den Augen, denn sie sind Sünder. Wenn sie
Gott nicht sehen, sehen sie auch die Weisheit nicht und begehen Irrtümer,
selbst wenn es um einen guten Zweck geht oder einen, den sie für gut halten...
Aber die Kinder sind gut. Ihre Seelen schauen Gott, und Gott ruht in ihren
Herzen. Daher müssen sie die Dinge mit Weisheit verstehen und sagen, daß mein
Reich sich nicht durch Gewalt auf Erden, sondern durch die Liebe in den Herzen
verwirklichen wird. Sie sollen auch beten, damit alle Menschen dieses mein
Reich verstehen, wie es die Kinder verstehen. Die Gebete der Kinder werden von
den Engeln in den Himmel getragen, und der Höchste wandelt sie in Gnaden um;
und Jesus braucht diese Gnaden, um aus den Menschen, die an den Krieg und an
ein zeitliches Reich glauben, Apostel zu machen, die verstehen, daß Jesus der
Friede und sein Reich ein geistiges und himmlisches ist. Siehst du dieses
Lämmlein? Könnte es je andere zerreißen?»
«O nein! Wenn es das tun könnte,
hätte der Vater es uns nicht geschenkt, damit es uns nicht zerreißt.»
«Das hast du gut gesagt. Auch der
Vater, der im Himmel ist, hätte mich nicht gesandt, wenn ich die Macht und den
Willen, zu zerreißen, gehabt hätte. Ich bin das Lamm und der Hirte. Ich bin
milde und sanftmütig wie
197
das Lamm, und ich bin der, der
mit Liebe, mit dem Stab des guten Hirten vereint und nicht mit der Lanze und
dem Schwert des Kriegers. Hast du verstanden? Und nun versprich mir, nie mehr
von diesen Dingen zu reden.»
«Ja, Jesus, aber... hilf du
mir... denn allein...»
«Ich werde dir helfen. Sieh, ich
fahre dir über die Lippen, und so werden sie es fertigbringen, verschlossen zu
bleiben.»
«Mein Meister, heilig ist dieser
Abend, an dem es mir gewährt ist, dich zu sehen!» sagt Jonathan, der vom Haus
herbeieilt und sich zu Jesu Füßen niederwirft.
«Der Friede sei mit dir,
Jonathan. Kann ich Johanna sehen?»
«Sie kommt sofort. Sie hat die
Römerinnen verabschiedet, um zu dir kommen zu können.»
Jesus schaut ihn fragend an, sagt
aber nichts. Er geht auf das Haus zu und hört dabei Jonathan, der von dem "von
Herodes sehr angewiderten" Chuza spricht und dann sagt: «Ich bitte dich, ihn
aus Liebe zu meiner Herrin zu zügeln, denn er will Dinge tun, die sowohl dir
als auch ihm selbst schaden würden, aber besonders dir.»
Johanna kommt eiligen Schrittes
auf den Herrn zu. Sie ist in ein glänzend weißes Gewand gekleidet, über das
vom Kopf herab ein Schleier fällt, der so stark mit Silber durchwirkt ist, daß
er mehr wie Silberfiligran aussieht und ich nicht weiß, wie der zarte Stoff
diese Brokatstickerei aushält. Dieser Schleier wird von einem feinen, vorne
spitz auslaufenden Diadem, ähnlich einer mit Perlen besetzten Mitra, gehalten.
Und dann, Perlen an den Ohren, in schweren Ohrringen, Perlen am Hals, Perlen
an den Handgelenken und an den Fingern. Ein Bild der Schönheit, Reinheit und
Anmut. Ungeachtet ihres prächtigen Gewandes, wirft sich Johanna in den Staub
des kleinen Weges und küßt die Füße Jesu.
«Der Friede sei mit dir,
Johanna.»
«Wenn du bei mir bist, ist der
Friede in mir und in meinem Haus... Mutter! ...» und sie schickt sich an, auch
die Füße Marias zu küssen, aber Maria umarmt Johanna und küßt sie. Auch mit
Maria des Alphäus tauscht sie einen Kuß.
Nach der Begrüßung sagt Jesus:
«Ich muß mit dir sprechen, Johanna.»
«Hier bin ich, Meister. Maria,
mein Haus ist das deine. Verlange alles, was du brauchst. Ich gehe mit dem
Meister ...»
Jesus hat sich schon entfernt und
wartet auf der Wiese, für alle gut sichtbar, doch weit genug entfernt, daß man
ihn nicht hören kann. Johanna holt ihn ein.
«Johanna, ich muß einen Boten aus
Antiochia, gewiß von Syntyche, empfangen und habe gedacht, es in deinem Haus
zu tun. Hier in deinem Garten...»
198
«Du bist Herr über alles, was
Johanna gehört.»
«Auch über dein Herz?» Jesus
schaut sie scharf an.
«Du weißt es schon, Meister! Ich
war dessen fast gewiß; nun aber bin ich ganz sicher. Chuza... die
Widersprüchlichkeit der Männer ist gar groß! Ihre Eigensucht ist so stark, und
ihre Hingabe an die Gattin ist so gering! ... Wir sind... Was sind wir denn,
auch wir Frauen der Besseren? Ein Schmuckstück, das man zur Schau stellt, oder
versteckt hält, je nach der Nützlichkeit... Eine Marionette, die lachen oder
weinen, anziehen oder abstoßen, reden oder schweigen, sich zeigen oder sich
verbergen muß, ganz nach dem Willen des Mannes... immer in seinem Interesse...
Unser Los ist traurig, Herr, und auch entwürdigend!»
«Zum Ausgleich ist es euch
gegeben, daß ihr euch im Geiste höher emporschwingen könnt.»
«Das ist wahr. Hast du es selbst
gewußt oder haben dir andere davon gesprochen? Hast du Manaen gesehen? Er hat
dich gesucht ...»
«Nein. Ich habe niemanden
gesehen. Ist er hier?»
«Ja. Alle sind wir hier... Ich
will sagen: alle Höflinge des Herodes... und viele, weil sie ihn hassen. Unter
diesen ist auch Chuza, seit Herodes sich auf Verlangen der Herodias ein
Vergnügen daraus macht, seinen Hofmeister zu demütigen... Herr, erinnerst du
dich, daß ich dir in Bether sagte, daß er mich von dir trennen wollte, weil er
fürchtete, bei Herodes in Ungnade zu fallen? Das war vor nur wenigen
Monaten... und schon will er, daß ich... Ja, Herr, jetzt will er, daß ich dich
überrede, seine Hilfe anzunehmen, damit du anstelle des Tetrarchen König
wirst. Ich muß es dir sagen, denn ich bin eine Frau und daher dem Mann
unterworfen; und zudem eine Hebräerin und deshalb um so mehr dem Willen des
Mannes untertan. Ich sage es dir... Aber ich rate es dir nicht, denn ich
glaube schon zu wissen, daß du... Oh! Du wirst nicht König werden wollen mit
gedungenen Kriegsknechten. Oh! Was habe ich nur gesagt? Ich sollte nicht so
reden... Ich hätte dich erst Chuza und Manaen und andere anhören lassen
sollen. Aber wenn ich geschwiegen hätte, hätte ich dann nicht schlecht
gehandelt? ... Herr, hilf mir, das Richtige zu sehen...»
«Das Richtige ist in deinem
Herzen, Johanna. Weder mit den römischen Kohorten noch mit den israelitischen
Lanzen werde ich mich zum König erheben, selbst wenn Rom und Israel durch mich
diesem Lande den Frieden bringen wollten. Ich habe schon genug verstanden, um
mir die Dinge zusammenzureimen. Matthias war unvorsichtig im Reden. Jonathan
hat auf Unstimmigkeiten hingewiesen. Du sagst den Rest und ich vervollständige
folgendermaßen: Eine törichte Vorstellung von meinem Reich treibt die Guten,
noch nicht Gerechten, wie Manaen, dazu, Unruhen zu schüren. Sie wollen,
entsprechend der fixen Idee vieler, ein israelitisches Reich errichten. Ein
bohrendes, glühendes Verlangen, sich für eine Beleidigung zu rächen, treibt
andere, zu denen auch dein Gatte gehört, zu
199
denselben Taten. Dieser beiden
Motive bedienen sich die hinterlistigen Pharisäer, Sadduzäer, Schriftgelehrten
und auch Herodianer, um sich meiner zu entledigen, indem sie mich in den Augen
unserer Beherrscher so darstellen, wie ich nicht bin. Du hast die Römerinnen
verabschiedet, um mir dies zu sagen, um weder Chuza, noch Manaen noch andere
zu verraten. Aber in Wahrheit sage ich dir, daß die, die mich am besten von
allen verstanden haben, die Heiden sind. Sie nennen mich den Philosophen.
Vielleicht halten sie mich für einen Träumer, einen Schwärmer, einen
Unglücklichen, da sie überzeugt sind, daß man mit Gewalt alles erreicht.
Jedoch haben sie verstanden, wenigstens sie haben verstanden, daß ich nicht
von dieser Welt bin und daß mein Reich nicht von dieser Welt ist. Sie fürchten
sich nicht vor mir, wohl aber vor meinen Anhängern, und sie haben recht.
Diese, der eine aus Liebe, der andere aus Hochmut, wären zu allem fähig, um
ihre Idee zu verwirklichen: aus mir, dem König der Könige, dem König des
Universums, den armen König eines kleinen Staates zu machen... Und wahrlich,
ich muß mich mehr hüten vor dieser Arglist, die im Verborgenen arbeitet,
aufgestachelt von meinen tatsächlichen Feinden, die weder im Palast des
Prokonsuls von Caesarea noch in dem des Legaten von Antiochia, und nicht
einmal in der Burg Antonia zu finden sind, sondern hinter den Tephillim
(Gebetsriemen), den Fransen und den Zizith (Schaufäden bzw. Schnüre an den
Oberkleidern) der hebräischen Gewänder, und ganz besonders hinter den
umfangreichen Tephillim und den wolligen Zizith an den weiten Gewändern der
Pharisäer und Schriftgelehrten, mit denen sie eine noch größere Gesetzestreue
zur Schau stellen. Aber das Gesetz ist in den Herzen, nicht an den Kleidern.
Wenn das Gesetz im Herzen wäre, würden jene, die sich hassen, nun aber
zusammenhalten und den gegenseitigen Haß vorübergehend vergessen, um zu
schaden, zur Einsicht kommen. Der Haß hat tiefe Gräben zwischen der einen und
der anderen Kaste in Israel geschaffen; doch sie sind nun nicht mehr offen,
sondern überbrückt durch den Haß auf mich. Wenn also das Gesetz in ihren
Herzen, und nicht nur an Kleider, Stirn und Hände gehängt wäre, so wie ein
Wilder sich aus Aberglauben und als Schmuck Amulette, Muscheln, Knochen und
Vogelschnäbel umhängt; wenn dieses Gesetz im Herzen wäre, wenn die Weisheit
nicht auf den Tephillim, sondern auf den Fasern des Herzens geschrieben
stünde, dann würden sie wohl verstehen, wer ich bin und daß sie nicht gegen
mich angehen können, um mich als das Wort und als Mensch zu vernichten. Ich
muß mich daher schützen vor Freunden und Feinden, die in ihrem Haß und in
ihrer Liebe gleich ungerecht sind. Ich muß versuchen, die Liebeserweise zu
lenken und die Gehässigkeit zu dämpfen. Ich tue es, um meine Pflicht zu
erfüllen, und werde es tun, bis ich das Reich errichtet und mit meinem Blute
die Steine verbunden und gefestigt habe. Wenn ich sie besprengt habe mit
meinem Blute, dann werden eure Herzen nicht mehr wanken. Ich spreche
200
von den Herzen derer, die mir
treu sind, von deinem, Johanna, das in einem harten Kampf steht zwischen zwei
Mächten, zwischen der zweifachen Liebe, die auf dich gerichtet und in dir ist:
Ich und Chuza.»
«Aber du wirst siegen, Herr ...»
«Ja, ich werde siegen.»
«Versuche aber auch, Chuza zu
retten... Liebe die, die ich liebe.»
«Ich liebe die, die dich lieben.»
«Liebe Chuza, der dich liebt...»
«Die Lüge ist nichts für diese
Stirn, die so rein ist wie die Perlen, die sie umgeben, und die nun errötet in
dem Bemühen, sich und mich zu überzeugen von einer Liebe des Chuza.»
«Und dennoch, er liebt dich.»
«Ja, in seinem Interesse, so, wie
er mich in seinem Interesse in Zio und in Siram nicht liebte... Doch da kommt
Simon des Jonas mit dem Fremden. Gehen wir zu ihnen...»
Sie begeben sich zu der
geräumigen Vorhalle an der Rückseite des Hauses, oder eher einem
halbkreisförmigen Portikus, der sich zum Park hin öffnet und die Vorhalle
bildet; der Park verlängert sich bis ins Haus durch diesen halbrunden Vorhof.
Er ist mit Säulen geschmückt, an denen sich Rosenstöcke, jetzt ohne Blüten,
zartes Jasmingeflecht mit Blütensternen und andere purpurfarbene
Rankengewächse, deren Name ich nicht kenne, emporwinden.
«Der Friede sei mit dir,
Fremdling. Wolltest du mich sprechen?»
«Gruß dir und Ehre, Herr. Ich
suchte dich. Ich habe einen Brief für dich, der mir von einer Griechin in
Antiochia übergeben wurde. Ich bin... Nein, ich bin nicht mehr Grieche, da ich
römischer Bürger geworden bin, um meine Geschäftsbeziehungen
aufrechtzuerhalten. Ich bin Lieferant des römischen Heeres. Ich hasse sie.
Aber sie verproviantieren bringt Gewinn. Für das, was sie uns angetan haben,
sollte ich Schierling unter das Mehl mischen. Ja, man sollte sie alle
vergiften. Aber es würde nichts nützen. Sie würden es noch schlimmer
treiben... Sie glauben, daß ihnen alles erlaubt ist, weil sie mächtig sind.
Barbaren sind sie im Vergleich zu den Griechen. Sie haben uns alles gestohlen,
um sich mit dem Unsrigen zu schmücken und sich für zivilisiert auszugeben.
Aber wenn man an der Schale kratzt, die mit unserer Zivilisation bemalt ist,
entdeckt man immer einen Amulius, einen Romulus, einen Tarquinius... einen
Brutus, der seinen Wohltäter tötet. Jetzt haben sie Tiberius! Doch das ist
noch zu wenig für sie! Sie haben Seianus. Sie haben, was sie verdienen. Das
Eisen, die Ketten und die von ihnen begangenen Verbrechen, wenden sich gegen
sie selbst und beißen ins Fleisch der römischen Bestien. Noch ist es wenig, zu
wenig. Aber was Gesetz ist, wird geschehen. Wenn das Ungeheuer erst einmal
übergroß geworden ist, wird es durch sein eigenes Gewicht stürzen und
verwesen. Dann werden die Besiegten über den riesigen Kadaver lachen
201
und von neuem die Sieger sein. So
sei es. Alle Füße der Eroberer sollen jene treten, die durch ihre brutale
Expansion alles zermalmt hat ... . Aber verzeih, Herr. Der immerwährende
Schmerz hat mich wieder einmal überwältigt... Ich sagte, daß eine Griechin mir
einen Brief für dich mitgegeben hat. Sie hat mir auch gesagt, daß du der
vollkommene Tugendhafte bist. Tugendhaft... Du bist sehr jung, um es zu sein.
Die großen Denker von Hellas haben ein ganzes Leben gebraucht, um es ein wenig
zu werden... Doch die Frau hat mir von deiner Idee gesprochen. Wenn du
wahrhaft an das glaubst, was du lehrst, bist du groß... Ist es wahr, daß du
lebst, um dich auf den Tod vorzubereiten, um die Welt die Weisheit zu lehren,
wie Götter und nicht wie stumpfe Tiere zu leben, wie die Menschen es heute
tun? Ist es wahr, daß du behauptest, daß es nur einen Reichtum gibt, der es
verdient, erstrebt zu werden: jenen der Tugend? Ist es wahr, daß du gekommen
bist, um zu erlösen, daß aber die Rettung in uns selbst ihren Anfang nimmt
durch die Befolgung deiner Lehren? Ist es wahr, daß wir eine Seele besitzen
und sie pflegen müssen, weil sie etwas Göttliches ist, etwas Unsterbliches,
etwas Unvergängliches ihrer Natur nach, daß wir sie aber selbst entgöttlichen,
wenn wir wie vernunftlose Tiere leben, obwohl wir diese Seele nicht zerstören
können? Antworte mir, du Großer!»
«Es ist wahr! Alles ist wahr.»
«Beim Zeus! Das sagte auch der
Größte der Unseren. Aber es war wie eine Melodie, in der eine Note fehlte,
eine Lyra, der eine Saite fehlte. Immer wieder empfand man eine Leere, die der
Philosoph nicht auszufüllen vermochte. Du hast sie ausgefüllt, wenn du
wahrhaft gekommen bist, nicht nur um zu lehren, sondern auch um zu sterben,
von niemandem dazu gezwungen, sondern aus freiem Willen, im Gehorsam gegen
Gott, was deinen Tod von Selbstmord in Opfer wandelt... Bei der göttlichen
Pallas! Keiner unserer Götter hat dies je getan. Daraus schließe ich, daß du
mehr bist als sie. Die Griechin sagt, daß sie überhaupt nicht existieren, daß
du allein bist... Spreche ich also mit einem Gott? Und kann ein Gott so einen
räuberischen und verschlagenen Lieferanten des Feindes, einen elenden Menschen
anhören? Warum hörst du mich an?»
«Weil ich deine Seele sehe.»
«Du siehst sie?! Wie ist sie
denn?»
«Krumm, schmutzig,
schlangengleich, verbittert und unwissend, obwohl dein Verstand sehr
verschieden ist von dem eines Barbaren. Aber drinnen, in diesem häßlichen
Tempel, hast du einen Altar, der auf dasselbe wartet wie der auf dem Areopag:
auf den wahren Gott.»
«Auf dich also, denn die Griechin
sagt, daß du der wahre Gott bist. Aber, beim Zeus, es ist wahr, was du von
meiner Seele sagst. Du bist klarer und sicherer als das Orakel von Delphi. Du
predigst Frieden, Liebe und Verzeihung, alles schwierige Tugenden. Auch
Enthaltsamkeit predigst du und Rechtschaffenheit jeglicher Art... So zu leben
bedeutet, größer zu
202
sein als die Götter selbst, denn
sie... oh, sind weder friedfertig, noch rechtschaffen, noch großherzig! ...
Sie sind die Vollendung der schlechten menschlichen Leidenschaften,
ausgenommen Minerva, die wenigstens weise ist ... Selbst Diana! Sie ist wohl
rein, aber grausam... Ja, so zu sein, wie du predigst, bedeutet, mehr zu sein
als die Götter. Wenn ich so werden könnte, beim herrlichen Ganymed! Aus diesem
Jüngling wurde ein olympischer Adler und göttlicher Mundschenk, aber aus
Zenon, der die barbarischen Herren mit Proviant versieht, würde ein Gott...
Erlaube, daß ich mich etwas in diesen Gedanken vertiefe, und inzwischen kannst
du den Brief der Frau lesen...» und der Mann beginnt auf- und abzugehen wie
ein Peripatetiker.
Der müde Petrus hat sich, als er
sieht, daß die Unterhaltung lange dauert, auf einem Sitz in der frischen
Vorhalle gemütlich niedergelassen und ist auf den weichen Kissen sanft
eingeschlummert. Er muß allerdings ein wachsames Ohr haben, denn schon das
Zerbrechen des Siegels und das Aufrollen des Pergaments wecken ihn, und er
steht auf und reibt sich die verschlafenen Augen. Dann nähert er sich dem
Meister, der aufrecht unter einem Leuchter aus zartviolettem Glimmerschiefer
steht. Das schwache Licht erhellt den Ort, ohne ihm den Zauber der mondhellen
Nächte zu nehmen. Jesus hält das Blatt hoch, um die Schrift entziffern zu
können, und Petrus an seiner Seite, der viel kleiner als der Meister ist,
reckt den Hals und stellt sich auf die Zehenspitzen, um etwas zu sehen, was
ihm aber nicht gelingt.
«Es ist wohl Syntyche, wie? Was
sagt sie?» fragt er zweimal und fleht: «Lies laut, Meister!»
Aber Jesus antwortet nur: «Ja,
sie ist es... Später...» Jesus liest immer weiter, und nachdem er das erste
Blatt zu Ende gelesen hat, faltet er es und steckt es in die Falten seines
Gürtels, um auf dem zweiten Blatt weiterzulesen.
«Viel hat sie geschrieben, nicht
wahr? Wie geht es Johannes und wer ist jener Mann?» Petrus ist aufdringlich
wie ein Kind, aber Jesus ist so in seine Lektüre vertieft, daß er ihm nicht
mehr zuhört. Auch das zweite Blatt ist zu Ende und folgt dem Schicksal des
ersten.
«Sie werden zerknittert dort. Gib
mir die Blätter, damit ich sie halte...»und sicherlich denkt er sich dabei:
«So kann ich etwas hineinblinzeln.»Doch während er aufschaut, um die Hände des
Meisters zu beobachten, die das dritte und letzte Blatt wenden, sieht er eine
Träne an den blonden Wimpern Jesu.
«Meister! Weinst du?! Warum, mein
Meister?» sagt er und drückt ihn an sich, indem er ihm seinen kurzen,
muskulösen Arm um die Hüften legt.
«Johannes ist gestorben...»
«Oh! Der Arme! Wann?»
203
«Zu Beginn der Hitze ... mit
großer Sehnsucht nach uns ...» e, und «Oh, armer Johannes! ... Nun ja... er
war am Ende seiner Kräfte dazu der Trennungsschmerz... Alles wegen dieser
Schlangen! Wenn ich nur ihre Namen kennen würde! ... Lies laut, Herr. Ich habe
Johannes gern gehabt!»
«Später, später werde ich
vorlesen. Schweige nun.»
Jesus liest aufmerksam weiter...
Petrus reckt seinen Hals noch höher, um etwas zu sehen... Jesus hat zu Ende
gelesen, faltet das Blatt und sagt: «Rufe meine Mutter.»
«Liest du den Brief nicht vor?»
«Ich warte auf die anderen.
Inzwischen werde ich den Mann entlassen.»
Während Petrus ins Haus geht, wo
sich die Jüngerinnen mit Johanna befinden, geht Jesus zu dem Griechen: «Wann
wirst du abreisen?»
«Oh, ich muß nach Caesarea zum
Prokonsul und dann nach Joppe, sobald ich Waren eingekauft habe. Ich werde in
einem Monat abreisen, rechtzeitig, um die Novemberstürme zu vermeiden, denn
ich werde den Seeweg nehmen. Bedarfst du meiner?»
«Ja, für die Antwort. Die
Griechin sagt mir, daß ich dir vertrauen kann.»
«Man nennt uns falsch, aber wir
sind auch fähig, es nicht zu sein. Verlasse dich auf mich. Du kannst den Brief
vorbereiten und mich am Laubhüttenfest bei Kleanthes aufsuchen, dem, der mir
den Käse aus Judäa für die römischen Tafeln liefert. Es ist das dritte Haus
nach der Quelle des Dorfes Bethphage. Du kannst nicht fehlgehen.»
«Auch du kannst nicht fehlgehen,
wenn du dem Weg folgst, auf den du den Fuß gesetzt hast. Leb wohl! Dein
Griechentum wird dich zum Christentum führen.»
«Machst du mir keinen Vorwurf
wegen meines Hasses?»
«Fühlst du, daß ich es tun
müßte?»
«Ja, denn du verwirfst den Haß
als unwürdige Leidenschaft und verabscheust die Rache.»
«Und was denkst du darüber?»
«Daß wer nicht haßt, sondern
verzeiht, größer ist als Zeus.»
«Erreiche also auch du diese
Größe... Leb wohl, Mann. Deine Familie möge Syntyche lieben; und im Exil, in
dem ihr lebt, wandelt auf den Wegen, die zum unvergänglichen Vaterland führen,
dem Himmel. Wer an mich glaubt und nach meinen Wort lebt, wird dieses
Vaterland erlangen. Das Licht erleuchte dich. Gehe hin in Frieden.»
Der Mann grüßt und macht sich auf
den Weg. Dann bleibt er stehen, kehrt zurück und fragt: «Werde ich dich nicht
reden hören?»
«Am frühen Morgen werde ich in
Tarichäa sprechen. Aber danach gehe ich nach Syro-Phönizien, und dann, ich
weiß noch nicht auf welchem Wege, nach Jerusalern.»
204
«Ich werde dich suchen und morgen
in Tarichäa sein, um beurteilen zu können, ob du ebenso sprachgewandt bist wie
weise.»
Dann geht er endgültig weg.
Die Frauen sind in der Vorhalle
und sprechen mit Petrus über den Tod des Johannes. Inzwischen sind auch die
anderen gekommen, die in der Stadt geblieben sind, um zu verkünden, daß der
Rabbi morgen in Tarichäa sein wird. Alle sprechen von dem armen Johannes von
Endor und sind begierig, etwas über ihn zu erfahren.
«Er ist gestorben, mein Sohn!»
«Ja, er ist im Frieden.»
«Wahrlich, er hat aufgehört zu
leiden.»
«Er hat den Kerker endgültig
verlassen.»
«Es wäre gerecht gewesen, daß er
nicht diesen letzten Schmerz des Exils hätte erleiden müssen.»
«Eine Reinigung mehr.»
«Oh, ich möchte sie nicht für
mich, diese Reinigung. Jede andere, nur nicht fern vom Meister sterben.»
«Und doch werden wir alle so
sterben. Meister... nimm uns mit dir», sagt Andreas nach den anderen.
«Du weißt nicht, um was du
bittest, Andreas. Dies ist euer Platz bis zu meinem Ruf. Aber hört, was
Syntyche schreibt:
"Syntyche in Christus, grüßt
Jesus Christus.
Der Mann, der dir diese Blätter
überbringen wird, ist ein Landsmann von mir, der mir versprochen hat, dich zu
suchen, bis er dich gefunden hat. Wenn es ihm jedoch nicht gelingen sollte,
würde er den Brief Lazarus in Bethanien abgeben. Es ist einer, der sich so gut
er kann schadlos hält für die Verluste, die Rom ihm und seinen Vorfahren
zugefügt hat. Dreimal hat Rom sie getroffen, auf viele Arten und immer mit den
üblichen Methoden. Er sagt mit seiner griechischen Schlauheit, daß er jetzt
die Kühe vom Tiber melkt, damit sie die hellenischen Ziegen ausspeien. Er ist
Lieferant des Hauses des Legaten und vieler römischer Häuser in diesem kleinen
Rom, der königlichen Großstadt des Orients. Außerdem ist es ihm gelungen,
nachdem er den raffinierten Geschmack der Reichen befriedigt hatte, mit List
und Schmeichelei, die seinen abgrundtiefen Haß verbergen, die
Verproviantierung der Kohorten im Orient zu übernehmen. Sein Vorgehen billige
ich nicht, aber jeder hat seine Art. Ich würde das auf den Straßen erbettelte
Brot den Schreinen voller Gold vorziehen, die er vom Unterdrücker erhält. Und
so hätte ich es immer gehalten, wenn nicht jetzt ein anderer Grund als mein
persönlicher Nutzen mich veranlassen würde, es dem Griechen für meine Zwecke
nachzutun.
Im Grunde ist er ein guter
Mensch. Gut sind auch seine Frau, die drei Töchter und ein Sohn. Ich habe sie
in der kleinen Schule von Antigonea kennengelernt, und als die Mutter zu
Beginn des Frühlings erkrankte,
205
habe ich sie mit meinem Balsam
geheilt und bekam so Zutritt zu ihrem Haus. Viele Häuser hätten mich gern als
Lehrerin und Näherin aufgenommen, Häuser von Adeligen und Kaufleuten, aber ich
habe dieses vorgezogen aus einem Grund, der nichts damit zu tun hat, daß darin
Griechen leben. Ich werde es dir erklären.
Ich bitte dich, mit Zenon
Nachsicht zu üben, auch wenn du seine Denkweise nicht billigen kannst. Er ist
wie gewisse trockene Felder, quarzhaltig an der Oberfläche, aber sehr gut
unter der harten Kruste. Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, diese harte
Kruste, die von so viel Leid herrührt, zu entfernen und den guten Boden
zutagezufördern. Er wäre eine große Hilfe für deine Gemeinde; denn Zenon ist
bekannt und unterhält Beziehungen zu vielen Leuten aus Kleinasien,
Griechenland und Zypern. Selbst in Malta und in Iberia hat er überall
Verwandte und Freunde, die wie er Griechen und verfolgt sind oder Römer von
der Militär- und Zivilverwaltung, die deiner Sache einmal sehr nützlich sein
können.
Herr, während ich auf einer
Terrasse des Hauses schreibe, sehe ich Antiochia mit seinen Molen am Fluß, dem
Palast des Legaten auf der Insel, seinen Prunkstraßen und seinen Mauern mit
Hunderten von mächtigen Türmen; und wenn ich mich umdrehe, sehe ich den Kamm
des Silpius, der emporragt mit seinen Kasernen und dem anderen Palast des
Legaten. So befinde ich mich zwischen zwei Wahrzeichen römischer Macht, ich,
die arme unterjochte Frau, allein. Aber sie jagen mir keine Furcht ein, denn
ich denke: was die Gewalt der Elemente und die Macht eines ganzen
aufständischen Volkes nicht vermögen, das wird die Schwäche vollbringen, die
keinen Schatten wirft; diese scheinbare Schwäche, die den Mächtigen
verächtlich erscheint, die aber eine große Kraft in Gott besitzt, in dir.
Ich meine, und ich sage es dir,
daß diese römische Macht einst die christliche Macht sein wird, wenn sie dich
erkannt hat, und daß von den Zitadellen des heidnischen Rom aus die Arbeit
beginnen muß, denn sie werden immer die Herrscher der Welt bleiben, und ein
christliches Rom würde ein weltweites Christentum bedeuten. Wann wird dies
wohl geschehen? Ich weiß es nicht. Aber ich fühle, daß es so sein wird.
Deshalb schaue ich mit einem Lächeln auf diese Zeugnisse römischer Macht und
denke an den Tag, da sie ihre Zeichen und ihre Macht in den Dienst des Königs
der Könige stellen werden. Ich betrachte sie, wie man nützliche Freunde
betrachtet, die noch nicht wissen, daß die es sind; die noch zu leiden geben,
bis sie erobert sind, die aber, wenn sie einmal gewonnen sind, dich und deinen
Namen bis an die Grenzen der Welt tragen werden.
Ich, als arme Frau, wage es
meinen großen Brüdern in dir zu sagen, daß, wenn die Stunde der Eroberung der
Welt für dein Reich schlagen wird, die Eroberung der Geister für die Wahrheit
nicht in Israel beginnen soll, da es zu sehr von seinem mosaischen Rigorismus,
den Pharisäer und andere Kasten noch auf die Spitze treiben, eingenommen ist,
um erobert
206
zu werden; vielmehr beginnt sie
hier, in der römischen Welt und ihren Ausläufern – den Fangarmen, mit denen
Rom jeden Glauben, jede Liebe und jede Freiheit, die es nicht will und die ihm
nichts nützt, erstickt.
Du weißt dies alles, Herr. Aber
ich spreche für meine Brüder, die nicht glauben können, daß auch wir, die
Heiden, nach dem Guten streben. Den Brüdern sage ich, daß unter dem
heidnischen Panzer Herzen schlagen, die enttäuscht sind von der heidnischen
Leere und angeekelt von dem Leben, das sie führen, weil es so Brauch ist. Sie
sind des Hasses, des Lasters, der Härte müde. Da gibt es redliche Seelen, die
aber nicht wissen, auf wen sie sich stützen sollen, um die Erfüllung ihrer
Sehnsucht nach dem Guten zu erlangen. Gebt ihnen einen Glauben, der sie
erfüllt. Und sie werden für ihn sterben und ihn hinaustragen in die Finsternis
wie eine Fackel, gleich den Athleten der hellenischen Spiele."»
Jesus faltet das erste Blatt
zusammen, und während die Zuhörer über den Stil, die Kraft und die Ideen der
Syntyche sprechen und sich fragen, weshalb sie wohl nicht mehr in Antigonea
ist, entfaltet Jesus das zweite Blatt.
Petrus, der bisher
sitzengeblieben ist, nähert sich nun, wie um besser zu hören, lehnt sich an
Jesus und stellt sich wieder auf die Zehenspitzen, um zu sehen.
«Simon, es ist so heiß und deine
Nähe beengt mich, geh doch an deinen Platz. Hast du denn bis jetzt nicht
gehört?» sagt Jesus lächelnd.
«Gehört, ja, aber nicht gesehen,
und jetzt möchte ich sehen, denn von diesem Blatt an hast du dich verändert
und geweint... nicht nur wegen Johannes, denn daß er bald sterben würde, wußte
man...»
Jesus lächelt. Doch, um zu
verhindern, daß Petrus ihm von hinten über die Schultern schaut, lehnt er sich
an die nächste Säule, obwohl er sich so vom Licht des Kronleuchters entfernt,
der nun nicht mehr das Blatt, sondern das Antlitz Jesu hell beleuchtet.
Petrus, fest entschlossen zu
sehen und zu verstehen, schiebt seinen Hocker vor Jesus hin, setzt sich und
hält seine Augen auf das Antlitz des Meisters gerichtet.
«"So sehr bin ich davon
überzeugt, daß ich, nachdem ich allein geblieben bin, Antigonea verlassen und
mich nach Antiochia begeben habe in der Gewißheit, dort mehr arbeiten zu
können, wo, wie in Rom, alle Rassen beieinander vermischt sind, als dort, wo
Israel herrscht. Ich kann als Frau nicht zur Eroberung Roms ausziehen. Doch da
diese Stadt für mich unerreichbar ist, so werfe ich in der schönsten
Tochterstadt, die der Mutter auf der ganzen Welt am ähnlichsten ist, den Samen
aus... In wie viele Herzen wird er fallen? In wie vielen wird er aufsprießen?
In wie vielen wird er anderswohin getragen werden, um dann durch das Wirken
der Apostel zu keimen? Ich weiß es nicht. Ich verlange auch nicht, es zu
wissen. Ich arbeite und opfere diese Arbeit dem Gott auf, den ich
kennengelernt habe
207
und der meinen Geist und meinen
Verstand erfüllt. An diesen Gott glaube ich als an den einzigen, allmächtigen
Gott. Ich weiß, daß er den nicht enttäuscht, der guten Willens ist. Das genügt
mir und gibt mir Kraft in meinem Tun.
Meister, Johannes ist gestorben
am sechsten Tag vor den Nonen des Juni nach dem römischen Kalender, ungefähr
im Neumond des Tammus nach hebräischer Zeitrechnung. Herr... dir brauche ich
nicht zu sagen, was du schon weißt, aber ich sage es für meine Brüder:
Johannes ist als Gerechter gestorben, und wenn ich an seine Leiden denke, muß
ich der Wahrheit zuliebe hinzufügen: als Märtyrer.
Ich habe ihm beigestanden mit all
dem Mitgefühl, dessen eine Frau fähig ist, mit all der Achtung, die man einem
Helden entgegenbringt, und mit all der Liebe, die man für einen Bruder
empfindet. Aber damit habe ich nicht ein Leiden verhindern können, das so groß
war, daß ich nicht etwa aus Überdruß oder Müdigkeit, sondern aus Mitleid den
Ewigen bat, ihn in seinen Frieden abzuberufen, 'zur Freiheit" wie er sich
ausdrückte.
Welche Worte kamen aus seinem
Munde! Kann ein Mensch, der in solche Tiefen hinabgestiegen ist, wie er sagte,
zu einem so großen Licht der Weisheit aufsteigen? Oh, der Tod ist wirklich das
Geheimnis, das unseren Ursprung enthüllt; und das Leben ist die Szenerie, die
das Geheimnis verbirgt, eine Szenerie, die uns nicht vorgezeichnet wird und
auf der wir nach unserem Gutdünken wirken können. Er hatte dort manches
Unschöne eingezeichnet, aber die letzten Werke waren erhaben. Aus den düsteren
Tiefen menschlichen Schmerzes und menschlicher Gewalttätigkeit hat er sich als
weiser Künstler zu immer lichtvolleren Sphären erhoben, indem er die
Zeitspanne seines christlichen Lebens mit Tugenden zierte und sie in der
strahlenden Lichtfülle einer in Gott eingetauchten Seele beendete.
Ich versichere dir: Er sprach sie
nicht, er sang seine letzte Dichtung. Er starb nicht, er stieg empor. Ich
konnte auch nicht genau unterscheiden, wann es noch der Mensch war, der
sprach, und wann schon der Geist, der Sohn Gottes, sprach.
Herr, du weißt, daß ich alle
Werke der Philosophen gelesen habe, um eine Weide für die Seele zu finden, die
noch in den doppelten Ketten der Sklaverei und des Heidentums lag. Aber es
waren Menschenwerke. Hier waren es keine menschlichen Stimmen mehr: es waren
Worte eines Übermenschen, eines königlichen Geistes, mehr noch, eines halb
göttlichen Geistes.
Ich habe über das Geheimnis
gewacht, das übrigens von denen, die uns beherbergten, nicht verstanden worden
wäre. Sie waren gut zu ihm als Mensch, aber israelitisch im wahrsten und
weitesten Sinn des Wortes. Zuletzt, als Johannes nur noch die sprechende Liebe
war, habe ich alle anderen Menschen von ihm ferngehalten und allein das
aufgenommen, von dem du gewiß weißt ...
208
Herr, dieser Mann ist gestorben,
er ist endlich aus dem Kerker in die Freiheit eingegangen, wie er mit dem
letzten Hauch seiner Stimme und mit dem in Verzückung entflammten Blick sagte,
während er meine Hand hielt und mir durch seine Worte das Paradies enthüllte.
Im Sterben hat mich dieser Mann gelehrt, gut zu leben, zu verzeihen, zu
glauben, zu lieben. Im Sterben hat er mich vorbereitet auf die letzte Zeit
deines Lebens.
Herr, ich weiß alles. Er hat mich
an den Winterabenden über die Propheten unterrichtet. Ich kenne das
prophetische Buch wie eine echte Israelitin; aber ich weiß auch, was das Buch
nicht ausdrücklich sagt...
Mein Meister und mein Herr... ich
werde ihn nachahmen und würde gerne dieselbe Gunst erlangen; aber ich meine,
daß es heldenhafter ist, nicht darum zu bitten und einfach deinen Willen zu
tun..."»
Jesus faltet das Blatt zusammen
und will das dritte ergreifen.
«Nein, nein, Meister! Das kann
nicht sein... Da muß noch etwas anderes stehen. Dieses Blatt kann nicht so
schnell zu Ende sein», ruft Petrus aus. «Du hast nicht alles gelesen. Warum,
Herr? Ihr alle, protestiert! Syntyche hat mehr für uns als für ihn
geschrieben, und er liest es nicht.»
«Bestehe nicht darauf, Petrus!»
«Und ob ich darauf bestehe! Weißt
du, ich habe gesehen, daß dein Auge plötzlich weiter nach unten geschaut hat
und daß du – es scheint etwas durch – die letzten Zeilen nicht gelesen hast.
Ich werde keine Ruhe geben, bis du den letzten Abschnitt dieses Blattes noch
liest. Du hast vorhin geweint! ... Gibt es vielleicht etwas zu weinen in dem,
was du gelesen hast? Ja, gewiß ist es traurig, daß er gestorben ist. Aber über
einen solchen Tod weint man nicht. Ich dachte schon, er hätte vor dem Tod
seinen Glauben verloren, wäre nicht gut gestorben ... Statt dessen... Lies
weiter! Mutter! Johannes! Ihr, die ihr alles erreicht ...»
«Höre ihn an, mein Sohn, und wenn
auch etwas Schmerzliches darin steht, so werden wir alle den Kelch trinken...»
«Es sei denn, wie ihr wollt...
"Ich kenne das Buch wie eine
echte Israelitin; aber ich weiß auch, was das Buch nicht ausdrücklich sagt,
nämlich, daß dein Leiden bald vollendet sein wird, da Johannes nun gestorben
ist und du ihm einen nur kurzen Aufenthalt im Limbus versprochen hast. Er hat
es mir gesagt. Er hat mir gesagt, daß du ihm versprochen hast, ihn rechtzeitig
aus dieser Welt scheiden zu lassen, damit er nicht mitansehen muß, wie weit
der Haß Israels gegen dich gehen kann und um zu vermeiden, daß er aus Liebe zu
dir deine Henker haßt. Jetzt ist er tot... Auch du bist also dem Tode nahe...
Nein, dem Leben. Wahrlich, wir alle werden dem Leben nahe sein mit deiner
Lehre, mit dir selbst in uns, mit der Göttlichkeit in uns, nachdem dein Opfer
uns das Leben der Seele, die Gnade, die Vereinigung mit dem Vater, dem Sohn
und dem Heiligen Geist wiedergegeben haben wird.
209
Meister, mein Retter, mein König,
mein Gott... groß ist meine Versuchung, vielmehr groß war sie, dich
aufzusuchen, jetzt, da der Leib des Johannes im Grabe ruht und seine Seele in
der Erwartung. Ich möchte bei dir sein mit den anderen, nahe bei deinem Altar.
Aber die Altäre werden nicht nur mit dem Opferlamm geschmückt, sondern auch
mit Girlanden zur Ehre des Gottes, dem das Opfer dargebracht wird. Ich lege
als in der Ferne lebende Jüngerin meine violette Girlande am Fuße deines
Altares nieder. Ich lege dort den Gehorsam, die Arbeit, das Opfer, dich weder
hören noch sehen zu können, nieder... Ah, es wird sehr hart sein! Es ist schon
jetzt hart, da deine übernatürlichen Gespräche mit Johannes zu Ende sind und
ich mich ihrer nicht mehr erfreuen kann! ... Herr ' strecke deine Hand aus
über deine Dienerin, damit sie nur deinen Willen tue und dir zu dienen
verstehe."»
Jesus faltet das Blatt und schaut
in die Gesichter der Zuhörer. Sie sind bleich. Aber Petrus murmelt: «Ich
verstehe nicht, weshalb du geweint hast... Ich dachte, es stünde noch etwas
anderes da...»
«Ich habe geweint, weil ich den
einstigen Gattenmörder und Galeerensträfling und die heidnische Sklavin mit
gar zu vielen in Israel verglichen habe.»
«Ich habe verstanden! Es bedrückt
dich, daß die Hebräer tiefer stehen als die Heiden und die Priester und
Fürsten tiefer als die Galeerensträflinge. Du hast recht. Ich war töricht!
Welch eine Frau! Schade, daß sie weggehen mußte ...»
Jesus entfaltet das dritte Blatt:
«"Und damit ich in allem den
Jünger und Bruder nachzuahmen wisse, der nun im Frieden ist und der
dahingegangen ist, nachdem er jede Art der Reinigung vollzogen hatte... zu
deiner Ehre und um deine Leiden zu erleichtern."»
«Ah, nein!» Petrus ist gewandt
auf seinen Hocker gesprungen, bevor Jesus zur Seite treten kann und sieht nun,
daß Jesus unmöglich schon bis zu der Stelle gekommen sein kann, wo er jetzt
liest. Man muß sich auch vor Augen halten, daß sich das Pergament von selbst
zusammenrollt, wenn es oben nicht gehalten wird, und daß also schon viele
Zeilen im oberen Teil des Blattes verborgen sind.
Jesus erhebt sein Haupt und mit
einem Blick, der eher wehmütig als traurig, sanft, aber entschieden ist, weist
er seinen Apostel zurück und sagt: «Petrus, dein Meister weiß, was gut für
dich ist! Laß mich dir geben, was gut für dich ist...»
Petrus ist betroffen von diesen
Worten und noch mehr von den flehenden Augen Jesu, in denen Tränen, die fast
schon heruntertropfen, glänzen. Er steigt vom Hocker herab und sagt: «Ich
gehorche... Aber was wird da wohl stehen?!»
Jesus liest weiter: «"Nachdem ich
nun von anderen gesprochen habe,
210
will ich von mir sprechen. Ich
habe nach dem Begräbnis des Johannes Antigonea verlassen. Nicht, daß man mich
schlecht behandelt hätte. Ich fühlte nur, daß es nicht mein Platz war. Weshalb
ich dieses Gefühl hatte? Ich weiß es nicht. Ich fühlte es. Wie ich dir schon
gesagt habe, habe ich viele Familien kennengelernt, denn viele sind zu uns
gekommen. Ich zog es vor, mich bei der des Zenon einzurichten, weil sie dem
Gesellschaftskreis angehört, in dem ich zu arbeiten gedenke.
Eine römische Dame wollte mich in
ihr herrliches Haus in der Nähe der Kolonnaden des Herodes mitnehmen. Eine
sehr reiche Syrerin hätte mich gern als Meisterin in ihrer Stoffabrik gehabt,
die ihr Gemahl aus Tyrus in Seleucia gegründet hat. Eine Witwe, Proselytin und
Mutter von sieben Mädchen, die bei der Brücke von Seleucia wohnt, wollte mich
im Gedenken an Johannes, den Lehrer ihrer Kinder, in ihrem Haus haben. Eine
griechisch-syrische Familie mit Warenhäusern in einer Straße nahe dem Zirkus
bat mich, zu ihr zu kommen, weil ich ihr zur Zeit der Spiele nützlich sein
könnte. Schließlich drängte mich auch ein Römer, ich glaube, er war Centurio,
aber sicher beim Militär, der aus ich weiß nicht welchen Gründen hiergeblieben
ist, und den ich auch mit meinem Balsam geheilt habe, zu ihm zu kommen.
Nein. Ich wollte weder die
Reichen noch die Kaufleute. Ich wollte Seelen, griechische und römische
Seelen, denn ich fühle, daß bei diesen die Verbreitung deiner Lehre in der
Welt beginnen muß. Und nun bin ich im Haus des Zenon an den Hängen des
Silpius, in der Nähe der Kasernen. Die Festung droht von ihrem Gipfel. Aber
trotz ihres finsteren Aussehens gefällt sie mir doch besser als die reichen
Paläste des Omphalos und Nymphäums. Und ich habe Freunde dort. Einen Soldaten
mit Namen Alexander, der dich kennt. Ein schlichtes Kinderherz in einem
stattlichen Soldaten. Und selbst der römische Tribun, der vor kurzem aus
Caesarea gekommen ist, birgt unter seiner Rüstung ein rechtschaffenes Herz. In
seiner rauhen Einfachheit ist Alexander der Wahrheit näher. Doch der Tribun,
der dich bewundert als einen vollkommenen Redner, einen 'göttlichen'
Philosophen, wie er sagt, ist der Weisheit nicht feindlich gesinnt, wenn er
die Wahrheit auch noch nicht zu erfassen vermag. Aber diese Männer und ihre
Familien mit selbst einer geringen Kenntnis deiner Lehre zu erobern, bedeutet,
Samen von dieser Kenntnis nach Norden und Süden, nach Osten und Westen
auszustreuen; denn die Truppen sind wie die Körner, die eine Schaufel
durcheinanderwirft, oder besser: sie sind wie Spreu, welche die Windmühle, in
unserem Fall der Wille der Caesaren und die Bedürfnisse der Regierung, in alle
Richtungen zerstreut.
Wenn der Tag kommt, da deine
Apostel wie zum Fluge losgelassene Vögel in die Welt hinausgehen, wird es
ihnen eine große Hilfe sein, am Ort ihres Apostolates einen Menschen, auch nur
einen einzigen, anzutreffen,
211
der schon etwas über dich weiß.
In dieser Absicht pflege ich ;auch die schmerzenden Glieder der alten
Gladiatoren und die Wunden der jungen. Aus demselben Grund fliehe ich nicht
mehr die römischen Frauen und ertrage, die mir einst Schmerz bereiteten...
Alles für dich!
Sollte ich fehlen, so rate du mir
mit deiner Weisheit. Wisse nur, aber du weißt es ja schon, daß meine Fehler
von Unfähigkeit und nicht von Bosheit herrühren.
Herr, deine Dienerin hat dir nun
vieles erzählt... und doch ist es ein Nichts im Vergleich zu dem, was ich im
Herzen trage. Aber du siehst meine Seele, Herr... Wann werde ich dein Antlitz
schauen? Wann werde ich deine Mutter wiedersehen, die Brüder? ... Das Leben
ist ein Traum, der vergeht. Auch die Trennung wird vorübergehen. Ich werde in
dir sein und mit ihnen, und es wird Freude und Freiheit für mich sein, auch
für mich, wie für Johannes.
Ich werfe mich zu deinen Füßen
nieder, mein Retter. Segne mich mit deinem Frieden.
Maria von Nazareth und den
Jüngerinnen Friede und Segen. Den Aposteln und Jüngern Friede und Segen. Dir,
Herr, Ehre und Liebe."
Ich habe euch den Brief
vorgelesen. Komm mit mir, Mutter. Ihr, wartet auf mich oder begebt euch zur
Ruhe. Ich werde nicht ins Haus zurückkehren. Ich werde mit meiner Mutter im
Gebet verweilen. Johanna, wenn mich jemand suchen sollte, bin ich im Pavillon
am See.»
Petrus hat Maria beiseitegenommen
und spricht aufgeregt, aber leise mit ihr. Maria lächelt ihm zu und flüstert
etwas. Dann holt sie ihren Sohn ein, der auf dem in der Nacht kaum sichtbaren
Pfad wandelt.
«Was wollte Simon des Jonas?»
«Er wollte allerlei wissen, mein
Sohn. Er ist wie ein Kind... ein großes Kind... aber herzensgut.»
«Ja, er ist wirklich gut; und er
hat dich, die Allergütigste gebeten, um etwas zu erfahren... Er hat den
schwachen Punkt entdeckt: dich und Johannes. Ich weiß es, obwohl ich es mir
nicht anmerken lasse. Aber ich kann nicht immer nachgeben, um ihn
zufriedenzustellen... Es war nicht nötig, Jonathan. Wir hätten auch im Dunkeln
sein können», sagt Jesus, als er Jonathan herbeieilen sieht mit einer
silbernen Laterne, die er auf den Tisch stellt, und mit Kissen für die Sitze
im Pavillon.
«Johanna hat es angeordnet. Der
Friede sei mit dir, Meister.»
«Und mit dir.»
Sie bleiben allein.
«Ich sagte eben, daß ich ihn
nicht immer zufriedenstellen kann. Heute Abend konnte ich es nicht. Du allein
darfst die Dinge erfahren, die ich verschwiegen habe. Deswegen wollte ich dich
hier haben, und auch, u
mit dir zusammen zu sein,
Mutter... Das Zusammensein mit dir in den letzten Stunden vor einer Trennung
bedeutet, süße Kraft zu schöpfen, um
212
von ihr erfüllt zu sein in den
Stunden der Einsamkeit, in einer Welt, die mich nicht versteht oder nur
schlecht versteht. Und mit dir zusammen zu sein in den ersten Stunden nach
einer Rückkehr heißt, mich an deiner gütigen Milde sogleich zu erholen von
allen Kelchen, die ich auf dieser Welt trinken muß... und die so abstoßend und
bitter sind.»
Maria liebkost ihn ohne zu
sprechen. Die Mutter, die ihren Sohn tröstet, steht aufrecht neben ihm, der
sitzt. Aber er fordert sie auf, sich zu setzen, und sagt: «Höre...» und Maria
wird in ihrer aufmerksamen Haltung zur Jüngerin, die Jesus, dem Meister,
aufmerksam zuhört.
«Syntyche schreibt in dem Absatz,
in dem von Antiochia die Rede ist: "Hierher hat mich mein Wille – ich weiß
nicht zu unterscheiden, wo der menschliche aufhört und der göttliche beginnt,
denn ich bin nicht weise, – geführt, ein Wille, der stärker als meine
Sehnsucht ist. Und wer weiß, ob dies nicht ganz der Wille Gottes gewesen ist.
Gewiß, fast sicher ist es eine Gnade des Himmels, daß ich nun diese Stadt
liebe, die mich mit den Höhen des Casius und des Amanus, die von beiden Seiten
über sie wachen, und den grünen Kämmen der fernen Gebirge sehr an mein
verlorenes Vaterland erinnert. Mir scheint, als wäre dies der erste Schritt
meiner Rückkehr in die Heimat, nicht mehr der müde Schritt einer Pilgerin, die
zurückkehrt, um zu sterben, sondern der einer Botin, die dem Land, wo ihre
Wiege stand, neues Leben bringt. Mir scheint, daß ich von hier aus wie eine
Schwalbe, die im Fluge geruht und sich mit Weisheit genährt hat, zu der Stadt
fliegen muß, in der ich das Licht der Weit erblickte und von der ich zum Licht
aufsteigen will, nachdem ich ihr das Licht, das mir geschenkt wurde, gebracht
habe.
Meine Brüder in dir, ich weiß es,
würden diesen Gedanken nicht billigen. Sie wollen deine Weisheit nur für sich.
Aber das ist ein Fehler. Eines Tages werden sie begreifen, daß die Welt wartet
und daß die verachtete Welt die bessere sein wird. Ich bereite ihnen den Weg.
Nicht nur hier, sondern durch alle, die hier zu den Oberen gehören und später
in andere Länder zurückkehren; und ich mache keinen Unterschied zwischen
Heiden und Proselyten, Griechen und Römern, oder Leuten aus sonstigen Kolonien
des Reiches und der Diaspora. Ich spreche und erwecke den Willen, dich
kennenzulernen... Das Meer besteht nicht aus dem Regen eines einzigen
Wolkenbruches. Es besteht aus vielen, vielen, vielen Wolken, deren Wasser auf
die Erde fallen und sich dann ins Meer ergießen. Ich werde eine Wolke sein,
und das Meer wird das Christentum sein. Ich will die Kenntnis von dir
verbreiten, um dazu beizutragen, das Meer des Christentums zu bilden. Als
Griechin liegt es mir zu Griechen sprechen, nicht so sehr wegen der Sprache,
sondern weil ich ihre Eigenheiten kenne... Als einstige Sklavin der Römer kann
ich mit den Römern umgehen, deren schwache Seiten ich kenne, und da ich lange
unter Juden gelebt habe, weiß ich auch, wie man diese behandeln muß, besonders
hier, wo es viele Proselyten
213
gibt. Johannes ist gestorben zu
deiner Ehre. Ich werde leben zu deiner Ehre. Segne unsere Seelen."
Dann, weiter unten, dort, wo sie
vom Tod des Johannes erzählt, dort, wo ich Petrus nicht habe mitlesen lassen,
steht geschrieben: "Johannes ist gestorben, nachdem er jegliche Art der
Reinigung durchgemacht hat, auch die schwerste, da er denen verziehen hat, die
ihn mit ihrer Handlungsweise getötet und dich gezwungen haben, ihn
fortzuschicken. Ich kenne ihre Namen, wenigstens den des Schlimmsten unter
ihnen. Johannes hat ihn mir enthüllt mit den Worten: 'Mißtraue ihm immer. Er
ist ein Verräter. Er hat mich verraten und wird ihn und die Gefährten
verraten. Aber ich verzeihe Iskariot, wie er ihm verzeihen wird. Der Abgrund,
in dem er sich befindet, ist schon so tief, daß ich ihn nicht noch tiefer
machen will, indem ich ihm die Verzeihung dafür verweigere, daß er mich
umgebracht hat durch die Trennung von Jesus. Meine Verzeihung wird ihn nicht
retten. Nichts wird ihn retten, weil er ein Dämon ist. Ich sollte das nicht
sagen, ich, der ich selbst ein Mörder war. Aber ich hatte wenigstens einen
Grund, eine Beleidigung, die mich zum Wahnsinn trieb. Er schilt den, der ihm
nichts Böses zugefügt hat, und wird schließlich auch seinen Erlöser verraten.
Aber ich verzeihe ihm, denn die Güte Gottes hat aus seinem Neid auf mich mein
Wohl geschaffen. Siehst du? Alles habe ich gesühnt. Er, der Meister, hat es
mir gestern abend gesagt. Alles habe ich gesühnt. Jetzt verlasse ich den
Kerker, und bin wahrhaft frei; frei auch von der Last der Erinnerung an die
Sünde, die Judas von Kerioth gegen einen Unglücklichen begangen hat, der bei
seinem Herrn den Frieden gefunden hatte.'
Auch ich verzeihe ihm nach seinem
Beispiel; ihm, der mich dir, der gesegneten Mutter, und den schwesterlichen
Jüngerinnen entrissen hat; der mich daran hindert, dich zu hören und dir zu
folgen bis zum Tode, um bei deinem Triumph als Erlöser zugegen zu sein. Ich
tue es für dich, zu deiner Ehre und um deine Leiden zu erleichtern. Sei
beruhigt, mein Herr. Der schmachvolle Name, der in den Reihen deiner
Nachfolger zu finden ist, wird nie über meine Lippen kommen, und damit auch
nichts von all dem, was ich von Johannes erfahren habe, als sein Ich mit
deiner unsichtbaren, beglückenden Gegenwart sprach. Ich war im Zweifel, ob ich
nicht zu dir kommen sollte, bevor ich mich in meinem neuen Heim einrichte.
Aber ich fühlte, daß ich mich vielleicht verraten hätte durch meinen Abscheu
vor Iskariot, und daß ich dir dadurch bei deinen Feinden geschadet hätte. So
habe ich denn auch diesen Trost aufgeopfert... in der Überzeugung, daß dieses
Opfer nicht ohne Frucht und Lohn bleiben wird."
Sieh, Mutter, konnte ich das
Simon vorlesen?»
«Nein, weder ihm noch den
anderen. Schmerz und Freude zugleich empfinde ich über diesen heiligmäßigen
Tod des Johannes... Sohn, beten wir, auf daß er unsere Liebe fühle und... und
Judas nicht zur Schande
214
werde ... Oh, es ist furchtbar!
... Und doch... wir werden vergeben und verzeihen ...»
«Beten wir ...» Sie erheben sich
und beten im flackernden Licht der Lampe, hinter den Vorhängen herabhängender
Zweige, während die Brandung in regelmäßigem Rhythmus das Ufer bespült ...
511. BEI DEN THERMEN VON EMMAUS
BEI TIBERIAS
Der See liegt da wie ein riesiger
Sardonyx, eingefaßt von den Hügeln, die im Sternenschein kaum zu sehen sind,
da der Mond bereits untergegangen ist. Jesus ist allein in dem grünen Pavillon
am Tisch, im Schein der erlöschenden Lampe, sein Haupt auf die Vorderarme
gelegt. Er schläft jedoch nicht, und bisweilen hebt er sein Haupt und
betrachtet die Blätter des Briefes, die auf dem Tisch ausgebreitet sind, am
oberen Rand von der Lampe und am unteren von seinen Vorderarmen gehalten. Dann
neigt er wieder das Haupt.
Die Stille ist vollkommen. Selbst
der See scheint in der schwülen Wärme zu schlafen. Dann plötzlich ein
Windesrauschen im Laub und gleichzeitig das einsame Klatschen einer Welle am
Ufer, eine Veränderung in der Natur, ich würde sagen, ein Knistern der
erwachenden Elemente. Das kaum merkliche erste Morgengrauen ist schon ein
Vorbote des Lichtes, obwohl das Auge es noch nicht wahrnimmt, wenn es über den
verlassenen Garten schweift. Es ist der Spiegel des Sees, der diese
Wiedergeburt des Lichtes anzeigt, denn sein dunkler, bleierner Sardonyx wird
heller, und da er den sich aufhellenden Himmel widerspiegelt, geht das
Bleigrau langsam in Schiefergrau und dann Eisengrau über. Danach gleicht er
einem schillernden Opal, und schließlich nimmt er die Farbe des Himmels an,
die Bläue paradiesischer Gewässer.
Jesus steht auf, faltet die
Blätter zusammen, nimmt die Lampe, die der erste Hauch der frischen Brise
ausgelöscht hat und geht dem Haus zu. Er begegnet einer Dienerin, die sich vor
ihm verneigt, dann einem Gärtner, der sich zu den Beeten begibt und mit dem er
einen Gruß austauscht. Nun betritt er die Vorhalle, in der andere Diener ihre
ersten Arbeiten verrichten.
«Der Friede sei mit euch. Könntet
ihr die Meinen rufen?»
«Sie sind schon aufgestanden,
Herr, und der Wagen für die Frauen ist bereit. Auch Johanna ist bereits in der
inneren Vorhalle.»
Jesus geht durch das Haus zur
Vorhalle, die auf der Straßenseite liegt, und tatsächlich sind alle dort
versammelt.
«Gehen wir. Mutter, der Herr sei
mit dir. Auch mit dir, Maria, und mein Friede begleite euch. Leb wohl, Simon.
Bring Salome und den Kindern meinen Frieden.»
215
Jonathan öffnet das schwere Tor.
Auf dem verlassenen Weg steht der bedeckte Wagen. Zwischen den Häusern ist es
noch nicht sehr hell. Die Frauen steigen mit ihrem Verwandten ein, und der
Wagen setzt sich in Bewegung.
«Auch wir wollen gleich
aufbrechen. Andreas, laufe voraus zu den Booten und sage den Schiffsjungen,
sie sollen in Tarichäa auf uns warten.»
«Wie? Gehen wir zu Fuß? Wir
werden zu spät ankommen...»
«Das macht nichts. Geht voraus,
während ich mich von Johanna verabschiede.»
Die Apostel machen sich auf den
Weg...
«Ich folge dir, Herr, oder
besser, ich fahre voraus, denn ich werde mit dem Boot kommen.»
«Du wirst lange warten müssen...»
«Das macht nichts. Laß mich
kommen.»
«Wie du willst. Ist Chuza nicht
hier?»
«Er ist noch nicht nach Hause
gekommen, Herr.»
«Du kannst ihm sagen, daß ich ihn
grüßen lasse und ihn ermahne, gerecht zu sein. Liebkose für mich die Kinder.
Du aber, die du deinen Meister verstanden hast, überzeuge Chuza, daß er im
Irrtum ist, und mit ihm alle jene, die aus dem Gesalbten einen zeitlichen
König machen wollen.»
Auch Jesus macht sich auf den Weg
und holt die Apostel bald ein.
«Laßt uns den Weg nach Emmaus
einschlagen, denn viele Unglückliche begeben sich zu den Quellen, die einen,
um Heilung zu erlangen, die anderen, um Hilfe zu finden.»
«Aber wir haben keinen Heller
mehr ...» entgegnet Jakobus des Zebedäus.
Jesus antwortet nicht.
Die Straßen bevölkern sich
zunehmend von Minute zu Minute, und mit Menschen zweier sehr verschiedener
Gesellschaftsschichten. Man sieht Gärtner, Verkäufer, Diener, Sklaven und
Leute aus dem Volk, die zu den Märkten eilen, und reiche Lebemänner, die sich
in Sänften oder auf ihren Reittieren zu den Quellen begeben. Ich nehme an, daß
es Thermalquellen sind, da sie Heilung bringen sollen.
Tiberias muß ziemlich
kosmopolitisch sein, denn unter den Reisenden sieht man Personen verschiedener
Nationen. Durch ihr müßiges und lasterhaftes Leben schwerfällig gewordene
Römer. Herausgeputzte Griechen, die gewiß nicht weniger liederlich leben als
die Römer, aber anders vom Laster gezeichnet sind als die Lateiner. Leute von
der phönizischen Küste. Meist ältere Hebräer. Verschiedene Dialekte und
Sprachen, Kleider aller Art, hier und da das bleiche Gesicht eines Kranken
oder einer Kranken, müde Patriziergesichter... und auch Gesichter von
Lebemenschen beiderlei Geschlechts, die in Gruppen reisen, die einen zu Pferd,
die
216
anderen in Sänften, die scherzen,
über wertlose Dinge diskutieren und dabei noch Wetten abschließen...
Der Straße ist schön. Eine
schattige Allee, deren Baumreihen auf der einen Seite den Blick auf den See
und auf der anderen auf das freie Feld freigeben. Die Sonne, die bereits
aufgegangen ist, belebt die Farben des Wassers und der Pflanzen.
Viele wenden sich um, um Jesus
anzusehen, und flüstern sich dann etwas zu. Worte der Bewunderung vonseiten
der Frauen, spöttische Worte vonseiten der Männer, auch Murren und Hohn,
bisweilen flehentliche Bitten eines Leidenden, das Einzige, wofür Jesus ein
Ohr hat und was er mit Erhörung beantwortet.
Als er die durch die Gicht
gelähmten Glieder eines Mannes aus Tyrus wieder gelenkig macht, wird die
ironische Gleichgültigkeit vieler Heiden erschüttert.
«Oha», ruft ein alter Römer mit
von der Schwelgerei aufgedunsenem Gesicht. «Oha! Auf diese Weise gesund zu
werden, ist schön. Ich werde ihn rufen.»
«Für dich tut er nichts, alter
Silen. Was würdest du tun, wenn du geheilt würdest?»
«Weiter genießen!»
«Dann ist es zwecklos, zu dem
traurigen Nazarener zu gehen.»
«Ich gehe zu ihm und wette um
das, was ich habe, daß...»
«Wette nicht! Du wirst
verlieren.»
«Laß ihn nur wetten. Er ist noch
betrunken. Wir werden sein Geld schon genießen.»
Der schwankende Alte steigt aus
seiner Sänfte und geht zu Jesus, der gerade eine hebräische Mutter anhört, die
ihm von ihrer Tochter erzählt, einem blutarmen Mädchen, das sie an der Hand
führt.
«Fürchte dich nicht, Frau. Deine
Tochter wird nicht sterben. Kehre nach Hause zurück und geh nicht zu den
Quellen. Sie würde dort die Gesundheit des Körpers nicht wiedererlangen, aber
die Reinheit der Seele verlieren. Es sind Orte erniedrigender
Lasterhaftigkeit.» Und er sagt es sehr laut, damit alle es hören.
«Ich habe Glauben, Rabbi. Ich
kehre nach Hause zurück. Segne deine Dienerinnen, Meister.»
Jesus gibt ihnen den Segen und
schickt sich an weiterzugehen.
Der Römer zieht ihn am Gewand und
befiehlt: «Heile mich!»
Jesus schaut ihn an und fragt:
«Wo?»
Die Römer, und mit ihnen Griechen
und Phönizier, haben sich um ihn versammelt und grinsen und wetten.
Israeliten, die sich ebenfalls genähert haben, flüstern: «Profanierung!
Anathema!» und andere ähnliche Worte, bleiben aber dennoch neugierig stehen.
«Wo?» fragt Jesus.
217
«Überall. Ich bin krank ... Hi,
hi, hi!» Ich weiß nicht, ob er lacht oder weint, so eigenartig ist der Laut,
den er von sich gibt. Es scheint, daß das schlaffe Fett, das die jahrelange
Lasterhaftigkeit hinterlassen hat, selbst die Stimmbänder belastet. Der Mann
zählt alle seine Gebrechen auf und spricht über seine Angst vor dem Tod.
Jesus schaut ihn streng an und
antwortet: «Du hast allen Grund, dich vor dem Tod zu fürchten, denn du hast
dich selbst zugrundegerichtet», und damit wendet er dem Römer den Rücken zu.
Der aber sucht ihn wiederholt am Gewand zu packen, während die Anwesenden
grinsen. Jesus befreit sich aus seinem Griff und entfernt sich.
«Daumen nach unten, Appius
Fabius! Daumen nach unten! Der sogenannte König der Hebräer hat dich nicht
begnadigt. Gib uns das Geld. Wette verloren.» Griechen und Römer machen einen
Riesenlärm und umringen den Enttäuschten, der sie zur Seite stößt und zu
laufen beginnt, so gut es ihm seine Fettleibigkeit erlaubt, wobei er sein
Gewand rafft und mit der ganzen Masse seines Fettes wackelt, bis er
schließlich stolpert und in den Staub fällt unter dem lauten Gelächter seiner
Freunde, die ihn dann unter einen Baum schleppen. An dessen Stamm gelehnt,
stimmt er das lächerliche Gejammer eines Betrunkenen an.
Die heißen Quellen müssen in der
Nähe sein, denn die Volksscharen, die von allen Seiten zusammenströmen, werden
immer dichter. Geruch von schwefelhaltigen Wasser liegt in der Luft.
«Gehen wir zum Ufer hinab, um
diese Unreinen zu vermeiden?» fragt Petrus.
«Nicht alle sind unrein, Simon.
Auch viele aus Israel sind unter ihnen», sagt Jesus.
Sie sind bei den Thermen
angelangt. Ich sehe eine Reihe von weißen Gebäuden aus Marmor, die durch
Alleen voneinander getrennt sind und dem See zu liegen, von dem sie wiederum
eine Art großer Platz mit Bäumen trennt, auf dem die Besucher in Erwartung des
Bades oder zur Erholung danach spazierengehen. Medusenköpfe aus Bronze an der
Mauer eines Gebäudes sprudeln dampfendes Wasser in ein Marmorbecken, das außen
weiß, innen rötlich ist, als ob es mit verrostetem Eisen verkleidet wäre.
Viele Hebräer gehen zu den Quellen und trinken aus Bechern das Mineralwasser.
Nur Hebräer sehe ich in diesem Pavillon. Es scheint mir, daß die
strenggläubigen Juden einen abgesonderten, eigenen Platz haben wollen, um
Kontakte mit den Heiden zu vermeiden.
Viele Kranke liegen auf
Tragbahren und warten auf die Kur, und sobald sie Jesus erblicken, rufen
viele: «Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner.»
Jesus begibt sich zu diesen
Gelähmten, Gichtbrüchigen, Kranken mit gebrochenen Knochen, die nicht heilen
wollen, Blut- und Drüsenkranken, frühzeitig verwelkten Frauen und frühreifen
Kindern. Und unter den Bäumen jammern die Bettler und bitten um Almosen.
218
Jesus bleibt bei den Kranken
stehen, und die Nachricht, daß der Rabbi sprechen und heilen wird, verbreitet
sich. Die Leute, auch die anderer Rasse, nähern sich, um zu sehen.
Jesus wendet sich nach allen
Seiten. Er lächelt, als er, mit noch von der Dusche nassen Haaren, den
Griechen kommen sieht, den Syntyche geschickt hat. Er erhebt sogleich seine
Stimme, um gehört zu werden: «Die Barmherzigkeit öffnet die Tore der Gnade.
Seid barmherzig, auf daß euch Barmherzigkeit widerfahre. Alle Menschen sind
irgendwie arm! Die einen sind arm an Geld, die anderen an Liebe, Freiheit oder
Gesundheit, und alle bedürfen der Hilfe Gottes, der das Universum geschaffen
hat und als einziger Vater allen seinen Kindern zu Hilfe kommen kann.»
Jesus macht eine Pause, als ob er
den Leuten Zeit lassen wollte, sich zu entscheiden, ob sie ihm zuhören oder
sich in die Bäder begeben wollen. Aber die meisten haben die Bäder vergessen.
Israeliten und Heiden sammeln sich, um ihm zuzuhören. Skeptische Römer
verbergen ihre Neugierde unter dem Scherz: «Heute fehlt wenigstens der Redner
nicht, um aus diesem Ort eine römische Therme zu machen...»
Der Grieche Zenon drängt sich
durch die Menge und ruft aus: «Beim Zeus! Ich war dabei, mich nach Tarichäa zu
begeben, und nun finde ich dich hier!»
Jesus fährt fort: «Gestern wurde
mir gesagt: "Es ist schwierig, das auszuführen, was du tust." Nein, es ist
nicht schwierig. Meine Lehre gründet sich auf die Liebe, und Liebe zu üben ist
nicht schwierig. Was verlangt meine Lehre? Die Verehrung des wahren Gottes,
die Liebe zum Nächsten. Der Mensch, das ewige Kind, fürchtet sich vor Schatten
und folgt Trugbildern, weil er die Liebe nicht kennt. Die Liebe ist Weisheit
und Licht. Sie ist Weisheit, weil sie herabsteigt, um zu belehren, und sie ist
Licht, weil sie kommt, um zu erleuchten. Wo Licht ist, weichen die Schatten,
und wo Weisheit ist, verschwinden die Trugbilder. Unter meinen Zuhörern sind
auch Heiden. Sie sagen: "Wo ist Gott?" Sie sagen: "Wer gibt uns die Gewißheit,
daß dein Gott der wahre ist?" Sie sagen: "Womit beweist du uns, daß dein Wort
der Wahrheit entspricht?" Und das sagen nicht nur die Heiden. Auch andere
fragen mich: "Mit welcher Macht tust du diese Dinge?" Mit der Macht, die mir
vom Vater kommt, von dem Vater, der alle Dinge in den Dienst des Menschen,
seines bevorzugten Geschöpfes, gestellt hat und mich sendet, die Menschen,
meine Brüder, zu unterrichten. Kann der Vater, der den Eingeweiden der Erde
die Macht gegeben hat, die Quellwasser heilkräftig zu machen, die Macht seines
Gesalbten eingeschränkt haben? Und, welcher Gott, wenn nicht der wahre Gott,
vermag dem Menschensohn die Kraft zu verleihen, Wunder zu wirken, kranke
Gliedmassen wieder gesunden zu lassen? In welchem Götzentempel kann man sehen,
daß Blinde das Augenlicht und Gelähmte die Beweglichkeit wiedererlangen; daß
ein Sterbender auf das "Ich will" eines Menschen
219
sich gesünder als die Gesunden
erhebt? Nun gut, zum Lobe des wahren Gottes und damit er von euch anerkannt
und gepriesen werde, sage ich den hier Versammelten, welcher Rasse und
Religion sie auch angehören mögen, daß sie die Heilung erlangen werden, die
sie vom Wasser erwarten. Von mir aber werden sie sie erhalten, von mir, dem
lebendigen Wasser, der ich das Leben des Leibes und des Geistes dem gebe, der
an mich glaubt und mit rechtschaffenem Herzen Barmherzigkeit übt. Ich verlange
keine schwierigen Dinge, ich verlange nur Glauben und Liebe. Öffnet euer Herz
dem Glauben. Öffnet euer Herz der Liebe. Gebt, um zu empfangen. Gebt das
armselige Geld, um von Gott Hilfe zu erlangen. Fangt damit an, die Brüder zu
lieben. Wißt Barmherzigkeit zu üben. Zwei Drittel von euch sind erkrankt, weil
sie selbstsüchtig und lüstern sind. Überwindet die Selbstsucht und zügelt die
Lüsternheit, und ihr werdet an körperlicher Gesundheit und an Weisheit
zunehmen. Besiegt den Hochmut, und ihr werdet vom wahren Gott beschenkt
werden. Ich bitte euch um Almosen für die Armen und danach werde ich euch das
Geschenk der Gesundheit machen.»
Jesus hebt einen Zipfel seines
Gewandes auf, um darin die Geldstücke zu empfangen, die vielen Geldstücke, die
Heiden und Israeliten ihm eiligst zuwerfen. Nicht nur Münzen werden gegeben,
sondern auch Ringe und anderer Schmuck, den ihm die römischen Frauen leichten
Herzens bringen. Sie schauen den Meister an, während sie zu ihm hintreten, und
manch eine flüstert ihm etwas zu, worauf Jesus nickt oder kurz antwortet.
Die Sammlung ist beendet. Jesus
ruft die Apostel, damit sie ihm die Bettler zuführen, und mit derselben
Schnelligkeit, mit der sich das Geldhäufchen gebildet hat, ist auch wieder bis
zum letzten Heller verschwunden. Es bleiben die Schmuckstücke, die Jesus den
Spenderinnen zurückgibt, weil niemand da ist, der sie für Geld erwerben will,
und um sie zu trösten, sagt er: «Die Absicht entspricht der Tat. Eure Gabe ist
genauso wertvoll, wie wenn diese Dinge verteilt worden wären, denn Gott sieht
den Gedanken des' Menschen.»
Dann richtet er sich auf und ruft
aus: «Woher kommt mir die Macht? Vom wahren Gott. Vater, verherrliche dich in
deinem Sohn. In deinem Namen befehle ich den Kranken: Geht!»
Nun folgt das schon oft gesehene
Aufstehen der Kranken. Krüppel richten sich auf, Lahme bewegen sich, in
bleiche Gesichter kehrt die Farbe zurück, Augen strahlen und Hosannarufe
werden laut. Unter den Römern, die sich gegenseitig beglückwünschen, sind zwei
geheilte Frauen und ein Mann, die nun die Geheilten von Israel nachahmen
wollen; aber da sie noch nicht fertigbringen, sich zu demütigen wie die
Hebräer, die sich zu Boden werfen und Christus die Füße küssen, verneigen sie
sich, erfassen einen Zipfel seines Gewandes und küssen ihn.
220
Dann macht sich Jesus auf den Weg
und will sich der Menge entziehen. Doch er kann sich ihr nicht entziehen, denn
abgesehen von einigen verstockten Heiden und einigen noch sündhaft
verstockteren Juden, folgen ihm alle auf der Straße nach Tarichäa.
512. IN TARICHÄA
Die kleine, in den See
vorspringende Halbinsel von Tarichäa ist im Südwesten so tief eingeschnitten,
daß man eher von einem Isthmus als von einer Halbinsel sprechen könnte, der
von allen Seiten von Wasser umgeben und nur durch einen schmalen Streifen
Landes mit dem Ufer verbunden ist. Wenigstens war es zur Zeit Jesu so, in der
ich sie sehe. Ich weiß nicht, ob später, im Verlauf von zwanzig Jahrhunderten,
Kies und Sand eines gerade in diesem Einschnitt im Südwesten in den See
fließenden Bächleins das Aussehen des Ortes verändert haben, so daß die kleine
Bucht vielleicht versandet und die Landzunge des Isthmus breiter geworden ist.
Die Bucht ist ruhig, bläulich mit
jadefarbenen Streifen dort, wo sie das Grün der Bäume widerspiegelt, die am
Ufer bis zum See herunter wachsen. Viele Barken schaukeln leicht auf dem fast
reglosen Wasser.
Was mir besonders auffällt, ist
ein eigentümlicher Damm, der mit seinen auf dem Kies des Ufers ruhenden Bögen
einen Spazierweg oder eine Mole, ich weiß nicht was, bildet und in Richtung
Westen führt. Ich weiß nicht, ob er als Zierde gedacht ist oder irgend einem
nützlichen Zweck dienen soll. Diese Promenade, Mole oder dieser Damm ist mit
einer dicken Erdschicht bedeckt und dicht mit nicht sehr hohen Bäumen
bepflanzt, so daß sie eine grüne Galerie über der Straße bilden. Viele müßige
Menschen spazieren unter dieser rauschenden Galerie, wo durch die Brise, die
Nähe des Wassers und das Laub eine angenehme Kühle herrscht.
Man sieht sehr deutlich die
Einmündung des Jordan und das Abfließen des Seewassers in das Bett des Flusses
mit seinen Wirbeln und einigen Stauungen an den Pfeilern einer, ich würde
sagen, römischen Brücke wegen ihrer Bauart und den massiven Pfeilern. Wie
Schiffsschnäbel durchschneiden diese Pfeiler die Wassermassen, die sich unter
den Strahlen der Sonne mit einem Spiel perlmuttener Lichter an ihren Kanten
brechen und sich in das Flußbett zwängen, nachdem sie im See so reichlich
Platz gefunden haben. Nahe beim Ende der Brücke, am anderen Ufer, liegt ein
weißes Städtchen, dessen Häuser im Grün der fruchtbaren Landschaft verstreut
sind. Weiter oben, gegen Norden, aber am Ostufer des Sees, liegt die kleine
Hafenvorstadt von Hippos mit den Wäldern auf dem Felsenriff, hinter denen das
auf dem Hügel liegende Gamala gut sichtbar ist.
221
Jesus und der Menschenschwarm,
der ihm von Emmaus aus gefolgt ist und zu dem sich nun auch jene gesellt
haben, die in Tarichäa auf ihn gewartet haben – unter diesen ist auch Johanna,
die mit ihrem Boot gekommen ist – begibt sich genau zu dem mit Bäumen
bestandenen Damm. In der Mitte desselben bleibt Jesus stehen, so daß er das
Wasser zur Rechten und das Ufer zur Linken hat. Wer kann, setzt sich auf den
Weg mit den Bäumen. Wer dort keinen Platz mehr findet, begibt sich zum Ufer,
das durch die nächtliche Flut oder aus sonst einem Grund noch etwas feucht,
aber teilweise durch die Bäume auf dem Damm auch schattig ist. Einige nähern
sich auch mit Booten und setzen sich in den Schatten der Segel.
Jesus gibt ein Zeichen, daß er
reden will, und alle schweigen.
«Es steht geschrieben: "Du ziehst
zur Rettung deines Volkes aus, Hilfe zu bringen deinem Gesalbten." Und weiter:
"Ich aber will frohlocken im Herrn, will jubeln im Gott meines Heiles."
Das Volk Israel hat dieses Wort
für sich beansprucht und ihm eine nationale, persönliche, egoistische
Bedeutung gegeben, die nicht der Wahrheit über die Person des Messias
entspricht. Es hat ihm einen beschränkten Sinn gegeben, der die Größe des
messianischen Gedankens zu einer gewöhnlichen Offenbarung menschlicher Macht
und einer siegreichen Überwältigung der Beherrscher erniedrigt, die der
Gesalbte in Israel vorgefunden hat.
Aber die Wahrheit ist sehr
verschieden. Sie ist groß und unbeschränkt. Sie kommt vom wahren Gott, dem
Schöpfer und Herrn des Himmels und der Erde, vom Schöpfer der Menschheit, von
dem, der zahllose Sterne an den Himmel gesetzt und die Erde mit Pflanzen aller
Art bedeckt hat. Er hat sie bevölkert mit Tieren, mit Fischen im Wasser und
Vögeln in der Luft; er hat die Söhne des von ihm geschaffenen Menschen sich
vermehren lassen, damit er König sei über die Schöpfung und sein bevorzugtes
Geschöpf. Wie könnte nun der Herr, der Vater des ganzen Menschengeschlechtes,
ungerecht sein mit den Kindern und Kindeskindern, die abstammen von dem Mann
und der Frau, die er aus Lehm gebildet und mit einer Seele bedacht hat: seinem
göttlichen Hauch? Wie könnte er die einen anders behandeln als die anderen,
als ob sie nicht ein und denselben Ursprung hätten, als stammten sie etwa
nicht von ihm, sondern von einem anderen übernatürlichen, ihm feindlichen
Wesen, als wären sie verschiedener Abkunft und somit verachtenswerte Fremde
und Bastarde?
Der wahre Gott ist nicht ein
armer Gott dieses oder jenes Volkes; er ist kein Götze, kein unwirkliches
Gebilde. Er ist die höchste Wirklichkeit, die universale Wirklichkeit, das
Einzige Wesen, das Höchste Wesen, der Schöpfer aller Dinge und aller Menschen.
Und daher ist er auch der Gott aller Menschen. Er kennt sie, auch wenn sie ihn
nicht kennen. Er liebt sie, auch wenn sie ihn nicht lieben, weil sie ihn nicht
kennen, oder ihn nur
222
zu lieben wissen, obwohl sie ihn
kennen.
Die Vaterschaft hört nicht auf,
wenn ein Sohn unwissend, töricht und böse ist. Der Vater bemüht sich, den Sohn
zu unterweisen, denn ihn unterweisen bedeutet, ihn lieben. Der Vater bemüht
sich, den törichten Sohn verständiger werden zu lassen. Der Vater versucht
unter Tränen und mit Nachsicht, heilsamen Strafen und liebevoller Verzeihung,
den bösen Sohn zu ändern und zu bessern. So verfährt der menschliche Vater.
Sollte Gottvater weniger tun als ein menschlicher Vater? Gottvater liebt also
alle Menschen und will die Rettung aller. Er, der König eines unendlichen
Reiches, der ewige König, schaut auf sein Volk, das sich aus allen Völkern der
Erde zusammensetzt, und spricht: "Dies ist das Volk meiner Geschöpfe, das
Volk, das gerettet wird durch meinen Christus. Dies ist das Volk, für das das
Reich der Himmel geschaffen wurde. Sieh, die Stunde ist gekommen, da es durch
seinen Erlöser gerettet werden soll."
Wer ist Christus? Wer ist der
Erlöser? Wer ist der Messias? Viele Griechen sind hier zugegen, aber auch
viele Nicht-Griechen wissen, was das Wort Christus bedeutet. Christus ist der
Geweihte, der zur Erfüllung seiner Mission mit königlichem Öl Gesalbte. Wozu
ist er geweiht? Etwa um der geringen Herrlichkeit eines Thrones willen? Um der
größeren eines Priestertums willen? Nein. Er ist geweiht, um alle Menschen
unter einem Szepter, unter einer Lehre zu einem einzigen Volk zu vereinigen,
auf daß sie Brüder und Söhne eines einzigen Vaters seien, Söhne, die den Vater
kennen und sein Gesetz befolgen, um dereinst teilzuhaben an seinem Reich.
Als König, im Namen des Vaters,
der ihn gesandt hat, herrscht Christus, wie es seiner Natur zukommt, d.h.
göttlich, weil er aus Gott kommt. Gott hat seinem Gesalbten das All als
Schemel unter die Füße gelegt, aber nicht, damit er es unterwerfe, sondern
damit er es rette. Sein Name ist ja Jesus, was im Hebräischen Erlöser, Retter
bedeutet. Wenn der Erlöser von der schlimmsten Nachstellung und Verwundung
rettet, dann wird ein Berg unter seinen Füßen sein und Menschen aller Rassen
werden auf dem Berg sein und damit symbolisieren, daß er sich über die ganze
Welt und über alle Völker erhebt und herrscht. Aber der König wird entblößt
sein, ohne anderen Reichtum als sein Opfer, um zu versinnbilden, daß er nur
nach den Dingen des Geistes strebt und daß die Dinge des Geistes erobert und
erworben werden durch die Werte des Geistes und die Heldenhaftigkeit des
Opfers, und nicht mit Gewalt und Gold. Er wird es sein als Antwort für jene,
die ihn fürchten, und auch für jene, die ihn mit ihrer falschen Liebe erheben
und zugleich erniedrigen, da sie ihn zu einem König im weltlichen Sinne machen
wollen; als Antwort für jene, die ihn nur hassen, weil sie befürchten, das,
was ihnen lieb ist, aufgeben zu müssen. Er wird diesen also sagen, daß er ein
geistiger König ist, und nur das, der
223
gekommen ist, um die Seelen darin
zu unterweisen, wie man das Reich erlangt, das einzige Reich, das ich zu
gründen gekommen bin.
Ich gebe euch keine neuen
Gesetze. Den Israeliten bestätige ich das Gesetz des Sinai. Den Heiden sage
ich: das Gesetz, mit dem man das Reich erlangt, ist kein anderes als das
Gesetz der Tugend, das jedes Geschöpf mit erhabener Moral sich selbst
auferlegt und das durch den Glauben an den wahren Gott vom Gesetz menschlicher
Moral und Tugend zum Gesetz übermenschlicher Moral wird.
O ihr Heiden! Ihr pflegt die
großen Männer eurer Nation zu Göttern zu erheben und versetzt sie in die
Scharen der zahlreichen und unwirklichen Götter, mit denen ihr den Olymp
bevölkert, den ihr euch geschaffen habt, um etwas zu haben, an das ihr glauben
könnt; denn der Mensch bedarf einer Religion, ebenso wie er einen Glauben
braucht, da der Glaube der Dauerzustand des Menschen und der Unglaube eine
zufällige Anomalie ist. Diese zur Gottheit erhobenen Menschen haben oft nicht
einmal einen Wert als Menschen, da sie häufig durch brutale Gewalt, durch List
oder durch irgendwie erworbene Macht groß geworden sind. So stellen sie als
Zeichen ihres "Übermenschentums" elende Eigenschaften zur Schau, die der weise
Mensch als das ansieht, was sie in Wirklichkeit sind: Fäulnis ungezähmter
Leidenschaften. Daß ich euch die Wahrheit sage, bezeugt die Tatsache, daß ihr
in euren trügerischen Olymp keinen einzigen der großen Denker versetzt habt,
deren nachdenklicher und tugendhafter Geist die Existenz eines höchsten Wesens
intuitiv erfaßt hat und die Mittler zwischen dem tierischen Menschen und der
Gottheit gewesen sind. Von dem denkenden Geist des Philosophen, des wahren
großen Philosophen, bis zum Geist des wahren Gläubigen, der den wahren Gott
anbetet, ist es nur ein kurzer Schritt, während zwischen dem Geist des
Gläubigen und dem Geist dessen, der nur an sein eigenes verschlagenes,
anmaßendes Ich oder an den irdischen Heroen glaubt, ein tiefer Abgrund liegt.
Trotzdem sind in euren Olymp nicht die versetzt worden, die sich durch ihr
tugendhaftes Leben über die Masse der Menschen erhoben haben, so daß sie dem
Reiche des Geistes nahe kamen, sondern die, die ihr als grausame Herrscher
gefürchtet, denen ihr wie servile Sklaven geschmeichelt oder die ihr bewundert
habt als lebende Beispiele für die Zügellosigkeit der animalischen Instinkte,
die euren unnatürlichen Begierden Ziel und Zweck des Lebens zu sein scheinen.
Jene habt ihr beneidet, die unter
die Götter eingereiht wurden, und jene habt ihr übersehen, die sich mehr der
Göttlichkeit genähert haben durch die verkündete und in die Tat umgesetzte
Lehre eines tugendhaften Lebens. Jetzt werde ich euch in Wahrheit den Weg
weisen, wie ihr Götter werdet. Wer tut, was ich sage, und an das glaubt, was
ich lehre, wird den wahren Olymp ersteigen; göttlich wird er sein, ein Sohn
Gottes in einem Himmel, in dem es keinerlei Verderbtheit gibt und wo Liebe das
einzige
224
Gesetz ist; in einem Himmel, in
dem man sich geistig liebt, ohne die Stumpfheit und die Gefahren der Sinne,
die jeden Bürger zum Feind des anderen werden lassen, wie dies in euren
Religionen geschieht.
Ich komme nicht, um große
Heldentaten zu verlangen. Ich komme, um euch zu sagen: lebt wie mit Seele und
Verstand begabte Geschöpfe, nicht wie primitive Tiere. Lebt so, daß ihr es
verdient zu leben, wirklich zu leben, mit dem unsterblichen Teil eurer selbst
im Reiche dessen, der euch geschaffen hat. Ich bin das Leben. Ich komme, um
euch den Weg zum Leben zu zeigen. Ich komme, um euch allen das Leben zu geben,
um euch die Auferstehung von eurem Tod, eurem Grab der Sünde und des
Götzendienstes, zu schenken. Ich bin die Barmherzigkeit. Ich komme, euch alle
zu rufen und zu vereinigen. Ich bin Christus, der Retter. Mein Reich ist nicht
von dieser Welt. Wer an mich und an mein Wort glaubt, in dessen Herzen
erwächst schon in diesen irdischen Tagen ein Reich, das Reich Gottes, das
Reich Gottes in euch.
Von mir steht geschrieben, daß
ich der bin, der die Gerechtigkeit unter die Nationen bringen wird. Und es ist
wahr. Denn wenn die Bürger aller Nationen tun würden, was ich lehre, würden
Haß, Krieg und Unterdrückung ein Ende haben. Von mir wird gesagt, daß ich
nicht die Stimme erheben werde, um die Sünder zu verfluchen, noch die Hände,
um jene zu zerschmettern, die durch ihr ungeziemendes Leben geknickten Rohren
und rauchenden Dochten gleichen. Das ist wahr. Ich bin der Erlöser und komme,
um alle aufzurichten, die niedergeschlagen sind, und allen Mut zu machen,
deren Licht nur glimmt, da ihm die notwendige Lebenskraft fehlt. Von mir wird
gesagt, daß ich der bin, der die Augen der Blinden öffnet, die Gefangenen aus
den Kerkern befreit und zum Lichte führt, die in der Finsternis des Kerkers
liegen. Es ist wahr. Die blindesten Blinden sind jene, die nicht einmal mit
dem Auge der Seele das wahre Licht, den wahren Gott zu sehen vermögen. Ich
komme als das Licht der Welt, auf daß sie sehen. Die eigentlichen Gefangenen
sind jene, die in den Ketten böser Leidenschaften liegen. Jede andere Kette
wird gelöst durch den Tod des Gefangenen. Die Ketten der Laster aber bleiben
bestehen und bilden auch nach dem Tod des Fleisches eine Fessel. Ich komme, um
sie zu lösen.
Ich komme, um alle aus der
Finsternis des unterirdischen Kerkers, der Unkenntnis Gottes herauszuführen,
die das Heidentum unter seinem vielfältigen Götzendienst erstickt. Kommt zum
Licht, kommt zum Heil, kommt zu mir, denn mein Reich ist das wahre Reich und
mein Gesetz ist gut. Es verlangt nichts anderes von euch, als daß ihr den
einzigen Gott und euren Nächsten liebt. Verzichtet daher auf die Götzen und
bekämpft die Leidenschaften, die eure Herzen verhärten und euch unfruchtbar,
sinnlich und zu Dieben und Menschenmördern werden lassen.
Die Welt sagt: "Laßt uns den
Armen, den Schwachen, den Einsamen bedrücken. Die Stärke sei unser Recht, die
Härte sei unser Gewand,
225
Unnachgiebigkeit, Haß und
Grausamkeit seien unsere Waffen. Zertreten wir den Gerechten, damit er sich
nicht wehrt, unterdrücken wir Witwen und Waisen, deren Stimme nur schwach
ist."
Ich aber sage euch: Seid
sanftmütig und mild, verzeiht den Feinden, eilt den Schwachen zu Hilfe, seid
ehrlich beim Kaufen und Verkaufen. Auch wenn ihr im Recht seid, handelt mit
Großmut und mißbraucht nicht eure Macht, um die Niedrigen noch mehr zu
bedrücken. Rächt euch nicht. Überlaßt Gott die Sorge, eure Sache zu führen.
Seid sittsam in all eurem Begehren, denn Mäßigung ist ein Beweis für sittliche
Kraft, während Begierlichkeit ein Beweis der Schwäche ist. Seid Menschen und
keine Tiere. Fürchtet aber auch nicht, zu tief gesunken zu sein und euch nicht
wieder erheben zu können.
In Wahrheit sage ich euch: Wie
Schlamm zu reinem Wasser werden kann, wenn die Feuchtigkeit an der Sonne
verdunstet, durch das Feuer gereinigt wird und zum Himmel aufsteigt, um dann
als schmutzfreier und erquickender Regen oder Tau herniederzufallen, so können
auch die Seelen, die sich dem großen Licht, das Gott ist, nähern und ihm
zurufen: "Ich habe gesündigt, ich bin Schlamm, aber ich verlange nach dem
Licht, nach dir", sich als reine Seelen zum Schöpfer erheben. Nehmt dem Tod
seine Schrecken, indem ihr aus eurem Leben eine Münze macht, mit der ihr euch
das ewige Leben erwerbt. Entledigt euch eurer Vergangenheit wie eines
schmutzigen Gewandes und bekleidet euch mit Tugenden.
Ich bin das Wort Gottes, und in
seinem Namen sage ich euch, daß, wer an mich glaubt und guten Willens ist, wer
seine Vergangenheit bereut und gute Vorsätze für die Zukunft faßt, sei er nun
Jude oder Heide, ein Sohn Gottes und Besitzer des Himmelreiches werden wird.
Ich habe euch zu Anfang gefragt: "Wer ist der Messias?" Jetzt sage ich euch:
Ich, der ich zu euch spreche, bin es, und mein Reich ist in euren Herzen, wenn
ihr es aufnehmt, und später wird es im Himmel sein, den ich euch öffnen werde,
wenn ihr in meiner Lehre auszuharren wißt. Das ist der Messias und nichts
anderes: König eines geistigen Reiches, dessen Pforten er durch sein Opfer
allen Menschen öffnen wird, die guten Willens sind.»
Jesus hat aufgehört zu reden und
will sich zu einer kleinen Treppe, die vom Damm zum Ufer führt, begeben.
Vielleicht will er zum Boot des Petrus, das an einem sehr einfachen
Anlegeplatz schaukelt. Aber plötzlich wendet er sich, schaut die Leute an und
ruft: «Wer hat mich für seinen Leib und seine Seele angefleht?»
Niemand antwortet.
Er wiederholt die Frage und läßt
seinen strahlenden Blick über die Menge schweifen, die sich hinter ihm drängt,
nicht nur auf dem Weg, sondern auch unten auf dem Sand.
Wiederum ein Schweigen.
226
Matthäus bemerkt: «Meister, wer
weiß, wie viele in diesem Augenblick von deinen Worten gerührt sind und nach
dir verlangt haben ...»
«Nein. Eine Seele hat gerufen:
"Erbarmen", und ich habe sie gehört. Und um euch zu zeigen, daß es wahr ist,
antworte ich: "Es geschehe dir nach deinem Wunsche, denn die Sehnsucht deines
Herzens ist gerecht!' Und hoch aufgerichtet und strahlend streckt Jesus
majestätisch eine Hand gegen das Gestade aus.
Er versucht, sich weiter der
kleinen Treppe zu nähern, doch da stellt sich Chuza vor ihn hin, der
offensichtlich gerade aus einer Barke gestiegen ist und ihn mit einer tiefen
Verbeugung begrüßt: «Ich suche dich seit vielen Tagen. Ich bin um den ganzen
See gefahren, Meister, immer dir nach. Ich muß dringend mit dir sprechen. Sei
mein Gast. Ich habe viele Freunde bei mir.»
«Gestern war ich in Tiberias.»
«Man hat es mir gesagt. Aber ich
bin nicht allein. Siehst du dort die Boote, die auf das andere Ufer zusteuern?
Dort sind viele, die nach dir verlangen, unter ihnen auch einige deiner
Jünger. Ich bitte dich, komm in mein Haus jenseits des Jordan.»
«Es ist unnütz, Chuza. Ich weiß,
was du mir sagen willst.»
«Komm, Herr.»
«Kranke und Sünder warten auf
mich; laß mich...»
«Auch wir warten auf dich, krank
vor Verlangen, dir zu deinem Besten zu verhelfen. Es gibt dort auch Kranke am
Körper, auch ...»
«Hast du meine Worte gehört?
Warum bestehst du noch darauf?»
«Herr, weise uns nicht ab, wir
...»
Eine Frau drängt sich durch die
Menge. Ich habe nun schon genug Erfahrung mit hebräischen Gewändern, um zu
erkennen, daß sie keine Hebräerin ist, und mit... ehrbaren Gewändern, um zu
verstehen, daß dies keine ehrbare Frau ist. Aber um ihre Gesichtszüge und ihre
Gestalt, die vielleicht zu herausfordernd sind, zu verbergen, hat sie sich
ganz in einen Schleier gehüllt, der himmelblau wie ihr weites Gewand ist.
Trotzdem erscheint sie verführerisch, da der Schleier ihre schönen Arme
unbedeckt läßt. Sie wirft sich zu Boden und kriecht im Staube vorwärts, bis es
ihr gelingt, das Gewand Jesu zu ergreifen und seinen Saum zu küssen. Sie
weint, ganz von Schluchzen geschüttelt.
Jesus, der gerade Chuza antworten
wollte mit: «Ihr seid im Irrtum und ...» senkt den Blick und sagt: «Bist du
die, die mich angefleht hat?»
«Ja, und ich bin der Gnade nicht
würdig, die du mir erwiesen hast. Ich hätte dich nicht einmal im Geiste
anrufen dürfen. Aber dein Wort... Herr... ich bin eine Sünderin. Wenn ich mein
Antlitz enthüllen würde, könnten viele dir meinen Namen sagen. Ich bin... eine
Kurtisane... und eine Kindsmörderin... und das Laster hat mich krank
gemacht... Ich war in Emmaus. Ich habe dir ein Schmuckstück gegeben... Du hast
es mir
227
zurückgegeben... und dein
Blick... ist in mein Herz gedrungen... Ich bin dir gefolgt... Du hast
gesprochen. In meinem Innern habe ich deine Worte wiederholt: "Ich bin
Schlamm, aber ich sehne mich nach dir, dem Licht." Ich habe gesagt: "Heile
meine Seele und dann, wenn du willst, auch das Fleisch..." Herr, ich bin am
Leibe geheilt... auch an der Seele? ...»
«Die Seele ist durch die Reue
geheilt. Geh hin und sündige nicht mehr. Deine Sünden sind dir vergeben.»
Die Frau küßt von neuem den Saum
seines Gewandes und erhebt sich. Dabei gleitet ihr der Schleier vom Gesicht.
«Die Galaterin! Die Galaterin!»
rufen viele aus und schreien Schmähungen. Auch ergreifen sie Kiesel und Sand
und werfen sie nach der Frau, die sich duckt und in Angst gerät.
Jesus wird sehr ernst, erhebt
seine Hand und gebietet Schweigen. «Warum beschimpft ihr sie? Ihr habt es
nicht getan, als sie eine Sünderin war. Warum tut ihr es jetzt, da sie sich
bekehrt hat?»
«Sie tut es, weil sie alt und
krank ist», rufen einige unter Schmähungen.
In Wirklichkeit ist die Frau,
wenn auch nicht mehr sehr jung, so doch noch weit davon entfernt, alt und
häßlich zu sein, wie sie sagen. Aber das Volk ist nun einmal so.
«Gehe vor mir her und steige in
diese Barke; ich werde dich auf einem anderen Weg nach Hause begleiten.» Und
er gebietet den Seinen: «Nehmt sie in eure Mitte und begleitet sie.»
Der Zorn der Menge, aufgestachelt
von einigen unnachgiebigen Israeliten, wird nun vollauf an Jesus ausgelassen.
Rufe wie: «Verfluchter! Falscher Christus! Beschützer der Prostituierten! Wer
sie beschützt, der billigt sie. Mehr noch, er billigt sie, weil er sich ihrer
erfreut!» werden laut. Solche und ähnliche Worte rufen sie ihm zu, oder besser
gesagt: kläffen und bellen sie; und besonders eine Gruppe besessener Hebräer,
die ich weiß nicht welcher Kaste angehören, tut sich hervor mit ihrem
Geschrei. Sie schleudern Jesus sogar feuchten Sand ins Gesicht und beschmutzen
ihn damit.
Er erhebt seinen Arm und wischt
sich die Wange ab, ohne etwas zu entgegnen, und nicht nur das, er hält sogar
durch einen Wink Chuza und andere davon ab, ihn zu verteidigen, und sagt:
«Laßt sie machen. Für die Rettung einer Seele würde ich noch viel mehr Leid
ertragen! Ich verzeihe!»
Zenon, der Mann aus Antiochia,
der sich nie vom Meister entfernt hat, ruft aus: «Jetzt weiß ich wirklich, wer
du bist! Ein wahrer Gott und kein falscher Rhetor. Die Griechin hat die
Wahrheit gesagt! Deine Worte bei den Thermen hatten mich enttäuscht, diese
aber haben mich erobert. Das Wunder hat mich erstaunt, deine Verzeihung für
die, die dich beleidigen, hat mich erobert. Leb wohl, Herr! Ich werde an dich
und an deine Worte denken.»
228
«Leb wohl, Mann. Das Licht möge
dein Herz erleuchten.»
Chuza bedrängt ihn von neuem,
während sie zur Landungsstelle gehen und auf dem Damm ein Streit ausbricht
zwischen Römern und Griechen auf der einen und Israeliten auf der anderen
Seite.
«Komm! Nur für wenige Stunden. Es
ist notwendig. Ich selbst werde dich zurückbegleiten. Du bist gütig mit den
Dirnen, und mit uns willst du unerbittlich sein?»
«Nun gut, ich werde kommen. Es
ist tatsächlich notwendig ...»
Er wendet sich an die Apostel,
die schon in den Booten sind: «Fahrt voraus. Ich werde euch einholen...»
«Gehst du allein?» fragt Petrus
etwas unzufrieden.
«Ich bin mit Chuza...»
«Hin! Und wir dürfen nicht
kommen? Weshalb will er dich zu seinen Freunden bringen? Warum ist er nicht
nach Kapharnaum gekommen?»
«Wir sind gekommen, aber ihr wart
nicht dort.»
«Ihr hättet auf uns warten
können. Das ist alles.»
«Statt dessen sind wir euren
Spuren gefolgt.»
«Kommt jetzt nach Kapharnaum. Ist
es der Meister, der zu euch kommen muß?»
«Simon hat recht», sagen die
anderen Apostel.
«Aber warum wollt ihr nicht, daß
er mit mir kommt? Ist es denn das erste Mal, daß er in mein Haus kommt? Kennt
ihr mich vielleicht nicht?»
«Gewiß, dich kennen wir, aber die
anderen kennen wir nicht, das ist es.»
«Und was fürchtet ihr? Daß ich
ein Freund der Feinde des Meisters bin?»
«Ich weiß nichts. Ich denke nur
an das Ende des Propheten Johannes!»
«Sinion, du beleidigst mich. Ich
bin ein Ehrenmann. Ich schwöre dir, daß man mich durchbohren müßte, bevor man
dem Meister ein Haar krümmen dürfte. Du mußt mir Glauben schenken. Mein
Schwert steht dir zu Diensten...»
«Pah! Und wenn sie dich auch
durchbohren würden, was würde das nützen? Nachher... Ja, ich glaube dir...
Aber wenn du tot wärest, käme er an die Reihe. Ich ziehe mein Ruder deinem
Schwert, mein armes Boot und besonders unsere schlichten Herzen in seinen
Diensten vor.»
«Aber bei mir ist Manaen.
Vertraust du Manaen? Und auch der Pharisäer Eleazar, den du kennst, und der
Synagogenvorsteher Timoneus und Nathanael ben Fada sind dort. Letzteren kennst
du zwar nicht, aber er ist ein wichtiger Vorsteher und möchte mit dem Meister
sprechen. Dann ist da Johannes, genannt Antipas von Antipatris, der Günstling
des Herodes des Großen, nunmehr alt und mächtig und Besitzer des ganzen Tales
des Gaasch, und...»
229
«Genug! Genug! Du zählst da große
Namen auf, die mir nichts sagen, mit Ausnahme von zweien... und, ich komme
auch mit...»
«Nein, sie wollen mit dem Meister
sprechen ...»
«Sie wollen! Und wer bin ich? Sie
wollen!? Und ich will nicht. Steig hier ein, Meister, und fahren wir. Ich will
von niemandem etwas wissen und traue niemandem außer mir selbst. Komm,
Meister. Und du, kehre ruhig zu jenen zurück und sage ihnen, das wir keine
streunenden Hunde sind. Sie wissen, wo wir zu finden sind», und er drängt
Jesus ohne viel Rücksichtnahme, während Chuza laut aufbegehrt.
Jesus greift nun endgültig ein:
«Habe keine Sorge, Simon. Es wird mir nichts Böses zustoßen, ich weiß es. Und
es ist gut, wenn ich gehe, gut für mich, verstehe mich ...» und Jesus schaut
Petrus mit seinen strahlenden Augen fest an, wie um ihm zu sagen: «Bestehe
nicht darauf. Du mußt mich verstehen. Hier liegen Gründe vor, die es
empfehlenswert machen, daß ich mitgehe.»
Petrus gibt schweren Herzens
nach. Er gibt nur nach, weil er vom Blick Jesu beherrscht wird. Doch dann
murmelt er unzufrieden etwas vor sich hin.
«Geh beruhigt, Simon. Ich selbst
werde deinen und meinen Herrn zurückbegleiten», verspricht Chuza.
«Wann?»
«Morgen.»
«Morgen?! Soviel Zeit brauchst
du, um ihm ein paar Worte zu sagen? Jetzt sind wir zwischen der dritten und
der sechsten Stunde... Wenn er vor Einbruch der Dämmerung nicht bei uns ist,
kommen wir zu dir, vergiß das nicht. Und nicht nur wir allein...» Petrus
schlägt einen Ton an, der keinen Zweifel über seine Absicht aufkommen läßt.
Jesus legt eine Hand auf die
Schulter des Petrus: «Ich sage dir, Petrus, daß sie mir nichts zuleide tun
werden. Zeige, daß du an meine wahre Natur glaubst. Ich versichere dir, ich
weiß, daß sie mir nichts zuleide tun werden. Sie wollen sich nur mit mir
aussprechen... Geh... Bring die Frau nach Tiberias und bleib ruhig bei
Johanna. Du wirst sehen, daß sie mich nicht mit Booten und Bewaffneten
entführen...»
«Ja, sein Haus (er zeigt auf
Chuza) kenne ich. Ich weiß, daß dahinter noch Land liegt. Es ist keine Insel.
Dahinter liegen Galgala und Gamala, Aera, Arbela, Gerasa, Bozrah, Pella, Ramot
und viele andere Städte noch! ...»
«Aber fürchte dich nicht, sage
ich dir! Gehorche. Gib mir einen Kuß, Simon. Geh! Auch ihr!» Er küßt sie und
segnet sie. Und als das Boot sich von der Landestelle entfernt, ruft er ihnen
nach: «Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Bis sie es ist, wird mir nichts
zustoßen können und niemand wird seine Hand wider mich erheben. Lebt wohl,
Freunde!»
Er wendet sich an Johanna, die
sichtlich verwirrt und nachdenklich ist,
230
und sagt zu ihr: «Fürchte dich
nicht. Es ist gut, daß es geschehe. Geh in Frieden», und zu Chuza: «Fahren
wir. Um dir zu zeigen, daß ich keine Furcht habe. Und um dich zu heilen...»
«Ich bin nicht krank, Herr ...»
«Du bist es. Ich sage es dir. Und
viele mit dir. Fahren wir.»
Er steigt in das schlanke, reich
ausgestattete Boot und setzt sich. Die Ruderer beginnen mit ihren regelmäßigen
Ruderschlägen und machen einen Bogen, um die starke Strömung dort am Ende des
Sees, wo das Wasser in den Jordan fließt, zu vermeiden.
513. IM LANDHAUS DES CHUZA
JENSEITS DES JORDAN
Am anderen Ufer des Jordan bei
der Brücke wartet bereits ein überdeckter Wagen.
«Steig ein, Meister. So wirst du
nicht müde werden; denn der Weg ist weit, nicht so sehr wegen der Entfernung
als vielmehr, weil ich befohlen habe, hier immer einige Ochsenpaare bereit zu
halten, um bei den gesetzestreuesten Gästen keinen Anstoß zu erregen... Man
muß Geduld haben mit ihnen...»
«Aber, wo sind sie denn jetzt?»
«Sie sind uns in anderen Wagen
vorausgefahren. Tobiolus!»
«Mein Herr?» sagt der Kutscher,
der dabei ist, die Ochsen anzuspannen.
«Wo werden die Gäste jetzt sein?»
«Oh, sie sind uns weit voraus.
Sie kommen vielleicht schon bald an.»
«Hörst du, Meister?»
«Aber wenn ich nicht gekommen
wäre?»
«Oh! Wir waren sicher, daß du
kommen würdest. Warum hättest du nicht kommen sollen?»
«Warum?! Chuza, ich bin gekommen,
um dir zu zeigen, daß ich nicht feige bin. Feige sind nur Bösewichte, die
Übeltaten begangen haben und deshalb die Gerechtigkeit fürchten... die
Gerechtigkeit der Menschen, leider, während sie doch in erster Linie und
einzig die Gerechtigkeit Gottes fürchten sollten. Aber ich habe keine Schuld
und deshalb auch keine Furcht vor den Menschen.»
«O Herr, die, die bei mir sind,
verehren dich alle, wie ich! Wir sollten dir in keiner Weise Furcht einjagen,
denn wir wollen dir ja nur Ehre erweisen und dich nicht beleidigen!» Chuza ist
schmerzvoll berührt, fast gekränkt.
Jesus, der ihm gegenübersitzt,
während der Wagen sich langsam und schwankend zwischen den grünen Feldern
vorwärtsbewegt, antwortet:
231
«Mehr als den erklärten Krieg der
Feinde muß ich den der hinterlistigen falschen Freunde fürchten, und auch den
unklugen Eifer meiner wahren Freunde, die mich immer noch nicht verstanden
haben... Du bist einer von diesen. Erinnerst du dich nicht an das, was ich dir
in Bether sagte?»
«Ich habe dich verstanden, Herr»,
flüstert Chuza mit unsicherer Stimme und ohne direkt auf die Frage einzugehen.
«Ja, du hast mich verstanden.
Unter dem Einfluß des Schmerzes und der Freude wurde dein Herz geläutert, wie
der Horizont sich nach dem Gewitter und dem Regenbogen aufklärt. Du hast recht
gesehen. Dann aber... Wende dich um, Chuza, und schau dir unser Galiläisches
Meer an. Es schien so klar am Morgen. In der Nacht hatte der Tau die
Atmosphäre gereinigt, und die nächtliche Frische hatte die Verdunstung des
Wassers vermindert. Himmel und See waren zwei helle Saphirspiegel, die
gegenseitig ihre Schönheit spiegelten, und die Hügel ringsum waren frisch und
rein, als hätte Gott sie in derselben Nacht erschaffen. Aber jetzt schau! Der
Staub der Uferstraßen, auf denen sich Menschen und Tiere bewegen, und die
Sonnenhitze, die Büsche und Gärten wie Kochtöpfe auf einem Herdfeuer zum
Dampfen bringt und auf den See brennt, so daß auch sein Wasser verdunstet,
siehst du, wie sie den Horizont getrübt haben?
Vorher schienen die Ufer nahe zu
sein, klar und deutlich sichtbar in der klaren Luft ... Nun schau... Nun sind
sie verschwommen und flimmern vage, wie etwas, das man durch einen Schleier
unreinen Wassers sieht. So ist es auch dir ergangen. Der Staub ist die
Menschlichkeit, die Sonne der Stolz... Chuza, schaffe dir nicht selbst Unruhe
...»
Chuza läßt den Kopf hängen und
spielt mechanisch mit den Zieraten seines Gewandes und der Schnalle seines
kostbaren Gürtels, an dem das Schwert hängt.
Jesus schweigt. Er hält die Augen
fast geschlossen, wie wenn der Schlaf ihn übermannen würde. Chuza nimmt
Rücksicht auf diese Ruhe oder was ihm als solche erscheint.
Der Wagen fährt langsam in
Richtung Südosten, den sanften Hügelwellen zu, die, so glaube ich wenigstens,
die erste Stufe der Hochebene bilden, die sich hier auf der Ostseite über dem
Jordantal erhebt. Wohl wegen des Reichtums an Grundwasser oder an Wasserläufen
sind diese Gefilde überaus fruchtbar und schön. Trauben und Früchte leuchten
überall unter dem Laub hervor.
Der Wagen verläßt die
Hauptstraße, biegt in eine Privatstraße ein und fährt nun in einer dichten
Allee weiter, in der es wenigstens einigermaßen kühl und schattig ist im
Vergleich zu dem Backofen auf der sonnigen Hauptstraße.
Ein niedriges, weißes Haus mit
herrschaftlichem Aussehen wird am Ende dieser Allee sichtbar. Einfache
Häuschen stehen da und dort in Feldern und Weingärten.
232
Der Wagen fährt nun über eine
kleine Brücke und durch eine Einfriedung, hinter der der Obstgarten von einem
Ziergarten mit kiesbedecktem Weg abgelöst wird. Bei dem andersartigen Geräusch
der Räder auf dem Kies öffnet Jesus die Augen.
«Wir sind da, Meister. Sieh, die
Gäste haben uns gehört und eilen herbei», sagt Chuza.
Tatsächlich versammeln sich
viele, alle sichtlich reiche Männer, am Ende der Allee und grüßen mit pompösen
Verneigungen den ankommenden Meister. Ich sehe und erkenne Manaen, Timoneus
und Eleazar; andere, deren Gesichter mir zwar nicht neu sind, kenne ich nicht
mit Namen. Schließlich sind auch viele da, die ich noch nie gesehen habe oder
die mir nie aufgefallen sind. Viele haben Schwerter umgeschnallt. Andere
tragen statt der Schwerter das umfangreiche Beiwerk der Pharisäer, Priester
und Rabbis.
Der Wagen hält an, und Jesus
steigt als erster aus und grüßt alle mit einer Verneigung. Die Jünger Manaen
und Timoneus treten vor und wechseln besondere Grußworte mit ihm. Dann nähert
sich Eleazar (der gute Pharisäer beim Gastmahl im Haus des Ismael), und mit
ihm bahnen sich zwei Schriftgelehrte, die Wert darauf legen, wiedererkannt zu
werden, einen Weg. Der eine ist der, dessen Söhnlein zu Tarichäa bei der
ersten wunderbaren Brotvermehrung geheilt wurde. Der andere ist der, der am
Fuß des Berges der Seligpreisungen alle mit Nahrung versorgte. Noch ein
anderer drängt sich vor. Es ist der Pharisäer, der im Haus des Joseph zur Zeit
der Getreideernte von Jesus über den wahren Ursprung seiner ungerechten
Eifersucht unterwiesen wurde.
Chuza beginnt, alle vorzustellen.
Einzelheiten können wir uns ersparen, denn die vielen Simon, Levi, Johannes,
Nathanael, Joseph, Philippus usw., usw. kann sich niemand merken;
hauptsächlich sind es Sadduzäer, Schriftgelehrte, Priester und Herodianer.
Letztere sind wohl am zahlreichsten vertreten. Ich sehe aber auch einige
Pharisäer und Proselyten, zwei Synedristen, vier Synagogenvorsteher und einen
einzigen Essener; wer weiß, wie dieser sich hierher verlaufen hat.
Jesus verneigt sich bei jedem
Namen und mustert dabei jedes Gesicht. Manchmal lächelt er ein wenig, wenn
z.B. jemand zur besseren Erläuterung seiner Identität auf ein Ereignis
hinweist, das eine Beziehung mit Jesus hat. So etwa ein gewisser Joachim von
Bozrah: «Meine Frau Maria wurde von dir vom Aussatz befreit, o du Gesegneter.»
Der Essener sagt: «Ich habe dich gehört, als du in Jericho gesprochen hast,
und einer unserer Brüder verließ die Ufer des Salzmeeres, um dir zu folgen.
Auch hörte ich von dem Wunder, das du in Engedi an Elisäus gewirkt hast. In
dieser Gegend leben wir Reine in der Erwartung ...»
Was sie erwarten, weiß ich nicht.
Ich weiß nur, daß er bei diesen Worten mit einer etwas überschwenglichen
Überlegenheit auf die anderen schaut,
233
die sicherlich nicht als Mystiker
erscheinen wollen, sondern größtenteils freudig die Wohlhabenheit genießen,
die ihnen ihre Stellung gewährt.
Chuza entzieht nun seinen Gast
der Begrüßungszeremonie und führt ihn in einen gut ausgestatteten Baderaum, wo
er ihn für die üblichen Waschungen alleinläßt, die bei dieser Hitze sicher
angenehm sind. Dann kehrt er zu seinen Gästen zurück, mit denen er sich
lebhaft unterhält; und beinahe kommt es zu einem Streit, da die Anwesenden
verschiedener Ansicht sind. Die einen wollen das Gespräch sofort beginnen.
Worüber? Die anderen schlagen vor, man solle den Meister nicht gleich
überfallen, sondern ihn zuerst von der großen Ehrerbietung aller ihm gegenüber
überzeugen. Letztere Partei, die zahlreichere, setzt sich durch, und Chuza
ruft als Hausherr die Diener herbei und beauftragt sie, ein Gastmahl für den
Abend vorzubereiten, «um Jesus, der sichtlich müde ist, Gelegenheit zu geben,
sich auszuruhen». Alle sind damit einverstanden. Als Jesus wieder erscheint,
verabschieden sich die Gäste mit großen Verbeugungen und überlassen ihn Chuza,
der ihn in einen schattigen Raum führt. Dort befindet sich ein niedriges
Lager, das mit kostbaren Teppichen bedeckt ist.
Aber nachdem Jesus einem Diener
Sandalen und Gewand übergeben hat, um sie vom Staub der Wanderschaft des
Vortages reinigen zu lassen, und nun allein ist, schläft er nicht, sondern
sitzt auf dem Rand der Lagerstatt, die nackten Füße auf der Strohmatte am
Boden und nur bekleidet mit einer kurzen Tunika oder einem Unterkleid, das den
Körper von den Ellbogen bis zu den Knien bedeckt, und ist in tiefes Nachdenken
versunken. Wenn ihn auch diese Bekleidung jünger erscheinen läßt in der
strahlenden, vollkommenen Harmonie seines männlichen Körpers, so gräbt doch
die Intensität seiner sicherlich nicht freudigen Gedanken Falten in sein
Antlitz, die ihm einen Ausdruck schmerzlicher Müdigkeit verleihen und ihn
wiederum älter erscheinen lassen, als er ist.
Kein Geräusch im Haus, keines auf
den Feldern, wo die Weintrauben in der drückenden Hitze reifen.
So gehen Stunden vorüber...
Die Halbschatten werden um so
länger, je tiefer die Sonne sinkt; aber die Hitze hält an, und Jesus setzt
seine Betrachtung fort.
Endlicht vernimmt man im Haus
Zeichen des Erwachens. Man hört Stimmen, Schritte und Befehle.
Chuza hebt leise den Vorhang, um
nachzusehen, ohne zu stören.
«Tritt ein! Ich schlafe nicht»,
sagt Jesus.
Chuza tritt ein, bereits festlich
gekleidet für das Bankett. Er sieht sich um und bemerkt, daß das Lager gar
nicht benützt worden ist.
«Du hast nicht geschlafen? Warum?
Du bist müde...»
«Ich habe in der Stille und im
Schatten geruht. Das genügt mir.»
«Ich lasse dir ein Gewand
bringen...»
«Das meinige ist gewiß schon
trocken. Ich ziehe es vor. Ich möchte
234
abreisen, sobald das Bankett
beendet ist, und bitte dich, mir den Wagen und das Boot zur Verfügung zu
stellen.»
«Wie du willst, Herr... Ich hätte
dich gern bis Sonnenaufgang bei mir behalten ...»
«Ich kann nicht länger bleiben,
ich muß gehen...»
Chuza entfernt sich mit einer
Verneigung.
Man vernimmt ein großes
Getuschel...
Nach einiger Zeit kehrt ein
Diener mit dem frisch gewaschenen und von Sonne duftenden Linnengewand und mit
den vom Staub gereinigten Sandalen zurück, die man mit etwas Öl oder Fett
glänzend und weich gemacht hat. Ein anderer Diener folgt mit einem Becken,
einem Krug und Handtüchern und legt alles auf ein niedriges Tischchen. Sie
gehen wieder hinaus...
... Jesus gesellt sich zu den
Gästen im Atrium, das von Norden nach Süden durch das ganze Haus verläuft und
so einen luftigen, angenehmen Aufenthaltsort schafft, mit vielen
Sitzgelegenheiten und schmückenden leichten, bunten Segeltüchern, die das
Licht dämpfen, ohne die Bewegung der Luft zu verhindern; nun, da sie
zurückgezogen sind, lassen sie den grünen Rahmen sehen, der das Haus umgibt.
Jesus ist eine stattliche,
eindrucksvolle Erscheinung. Obwohl er nicht geschlafen hat, scheint er doch
wieder bei Kräften zu sein, und sein Gang ist königlich. Das eben angezogene
Gewand ist schneeweiß, und die Haare, die noch vom morgendlichen Bad glänzen,
erstrahlen sanft und umrahmen sein Antlitz mit ihrer goldenen Pracht.
«Komm, Meister. Wir haben nur
noch auf dich gewartet», sagt Chuza und führt ihn als ersten in den Raum, in
dem sich die gedeckten Tafeln befinden.
Sie setzen sich nach dem Gebet
und einer zusätzlichen Waschung der Hände, und das Mahl beginnt, pompös wie
immer und anfangs in allgemeinen Schweigen. Später aber bricht das Eis.
Jesus sitzt neben Chuza, Manaen
an seiner anderen Seite, der wiederum Timoneus neben sich hat. Die anderen
werden von Chuza mit der Gewandtheit des Höflings auf die Seiten der
U-förmigen Tafel verteilt. Nur der Essener hat sich hartnäckig geweigert, am
Bankett teilzunehmen und sich mit den anderen zu Tisch zu setzen. Erst als ein
Diener ihm im Auftrag Chuzas ein kostbares Körbchen voller Früchte darbietet,
ist er bereit, sich an einen kleinen Tisch zu setzen, nach ich weiß nicht wie
vielen Waschungen und nachdem er sich die weiten Ärmel seines reinen Gewandes
aufgekrempelt hat, aus Furcht es zu beschmutzen oder aus rituellen Gründen,
das weiß ich nicht.
Es ist ein eigenartiges Gastmahl,
bei dem man sich mehr mit Blicken als mit Worten unterhält. Es werden kaum
kurze Höflichkeitsformeln ausgetauscht, worauf ein gegenseitiges Ausforschen
einsetzt; d.h. Jesus beobachtet die Anwesenden, und diese beobachten ihn.
235
Schließlich gibt Chuza den
Dienern ein Zeichen, sich zurückzuziehen, nachdem sie große Schalen mit
Früchten aufgetragen haben, die frisch und schön sind, weil man sie vielleicht
in einem Brunnen aufbewahrt hat; ja sie scheinen fast den charakteristischen
Reif von Früchten zu haben, die auf Eis gelegen haben.
Die Diener verlassen den Raum,
nachdem sie die Leuchter angezündet haben, die im Augenblick noch unnötig
sind, da der Tag mit seinem langsamen sommerlichen Sonnenuntergang genügend
Licht verbreitet.
«Meister», beginnt Chuza, «du
mußt dich wohl gefragt haben nach dem Warum dieses Treffens und dieses unseres
Schweigens. Aber, was wir dir sagen wollen, ist sehr schwerwiegend, und
unkluge Ohren dürfen es nicht vernehmen. Jetzt sind wir allein und können
reden. Du siehst, daß alle Anwesenden große Hochachtung für dich empfinden. Du
bist unter Menschen, die dich als Mensch und als Messias verehren. Deine
Gerechtigkeit, deine Weisheit, die Gaben, mit denen Gott dich ausgezeichnet
hat, sind uns bekannt, und wir bewundern sie. Für uns bist du der Messias
Israels, der Messias im geistigen und im politischen Sinn. Du bist der
Erwartete, der dem Leid, der Erniedrigung eines ganzen Volkes ein Ende setzen
kann. Und nicht nur dieses Volkes, das innerhalb der Grenzen Israels, vielmehr
Palästinas lebt, sondern des ganzen israelitischen Volkes der tausend und
abertausend Kolonien der Diaspora, das über die ganze Erde zerstreut ist und
den Namen Jahwes unter allen Himmeln erschallen läßt; das die Versprechen und
Hoffnungen verkündet, die sich nun erfüllen, von einem messianischen
Erneuerer, einem Rächer, einem Befreier und Schöpfer der wahren Unabhängigkeit
und des Vaterlandes Israel, des größten Vaterlandes der Welt: der Königin und
Herrscherin, die alle Erinnerungen an die Vergangenheit und alle lebendigen
Zeichen der Knechtschaft tilgt, des Hebräertums, das über alles und über alle
triumphiert, und zwar für immer; denn so ist es verheißen worden, und so wird
es sich erfüllen. Herr: Hier vor dir hast du ganz Israel in den Vertretern der
verschiedenen Klassen dieses ewigen Volkes, das gezüchtigt, aber dennoch vom
Allerhöchsten geliebt wird, der es als das "seinige" bezeichnet. Du hast das
pulsierende, unversehrte Herz Israels in den Vertretern des Hohen Rates und
den Priestern, du hast die Macht und die Heiligkeit in den Pharisäern und
Sadduzäern, du hast die Weisheit in den Schriftgelehrten und Rabbis, die
politische Autorität und die Tapferkeit in den Herodianern, den Fiskus in den
Reichen, das Volk in den Kaufleuten und Besitzenden, die Diaspora in den
Proselyten, und du hast selbst die Getrennten, die jetzt eine Vereinigung
kommen fühlen, da sie in dir den Erwarteten erkennen: die Essener, die
unerreichbaren Essener. Schau, o Herr, dieses erste Wunder, dieses große
Zeichen deiner Sendung und deiner Wahrheit! Du, mittellos, ohne Gewalt, ohne
Diener, ohne Kriegsheer und Schwerter, vereinigst dein ganzes Volk, wie eine
Riesenzisterne das Wasser
236
von tausend Quellen sammelt. Fast
ohne Worte und ohne den geringsten Druck auszuüben, vereinigst du uns, uns,
das durch Schicksalsschläge, durch Haß, durch politische und religiöse Ideen
geteilte Volk. Du gibst uns den Frieden. O Friedensfürst, frohlocke, denn du
hast erlöst und wiederhergestellt, noch bevor dir Szepter und Krone überreicht
wurden. Dein Reich, das erwartete Reich Israels, ist erstanden. Unsere
Reichtümer, unsere Machtfülle, unsere Schwerter liegen zu deinen Füßen.
Sprich! Befiehl! Die Stunde ist gekommen.»
Alle billigen die Rede des Chuza.
Jesus hält die Arme vor der Brust verschränkt und schweigt.
«Sprichst du nicht? Antwortest du
nicht, o Herr? Hat dich dies vielleicht in Staunen versetzt? ... Fühlst du
dich vielleicht unvorbereitet und zweifelst du vor allem daran, daß Israel
vorbereitet ist? ... Aber es ist nicht unvorbereitet. Höre unsere Stimmen. Ich
spreche, und mit mir Manaen für den Königshof. Er verdient es nicht mehr,
fortzubestehen. Er ist in seiner Fäulnis eine Schande für Israel... Es ist die
schmachvolle Tyrannei, die das Volk Israel bedrückt und sich knechtisch und
schmeichlerisch vor dem Usurpator beugt. Ihre Stunde hat geschlagen. Geh auf,
o Stern Jakobs, und verscheuche die Finsternis dieser Anhäufung von Verbrechen
und Schande. Hier sind jene, die zwar Herodianer heißen, aber Feinde der
Profanatoren des ihnen heiligen Namens der Herodäer sind. Sprecht ihr nun.»
«Meister, ich bin alt und
erinnere mich der einstigen Glanzzeit. Wie wenn ein gieriger Schurke sich Held
nennen wollte, so schmücken sich die entarteten Abkömmlinge des Herodes, die
unser Volk entwürdigen, mit seinem Namen. Es ist an der Zeit zu tun, was
Israel schon mehrmals in der Geschichte getan hat, wenn unwürdige Monarchen
über das leidende Volk regierten. Du allein bist würdig und fähig, es zu tun.»
Jesus schweigt.
«Meister, meinst du, daß wir noch
Zweifel haben können? Wir haben
den Schriften geforscht. Du bist
es. Du mußt herrschen», sagt ein Schriftgelehrter.
«Du sollst König und Priester
sein. Der neue Nehemias. Größer als er sollst du werden und reinigen. Der
Altar ist entweiht. Der heilige Eifer für den Allerhöchsten treibe dich an»,
sagt ein Priester.
«Viele von uns haben dich
bekämpft, die, die dich als weisen Herrscher fürchten. Das Volk aber ist mit
dir, und die Besten von uns sind mit dem Volk. Wir brauchen einen Weisen.»
«Eines Reinen bedürfen wir.»
«Eines wahren Königs!»
«Eines Heiligen!»
«Eines Retters. Immer mehr werden
wir zu Sklaven aller, und in allem. Verteidige uns, Herr!»
237
«Wir werden zertreten in der
Welt, weil wir trotz unserer Zahl und unseres Reichtums wie Schafe ohne einen
Hirten sind. Versammle dein Volk mit dem alten Ruf: "Kehre zurück zu deinen
Zelten, o Israel!", und überall in der Diaspora werden deine Untergebenen wie
bei einer Truppenaushebung aufstehen und die wankenden Throne der Mächtigen,
die Gott nicht liebt, stürzen.»
Jesus schweigt noch immer. Er ist
als einziger sitzengeblieben, ruhig, als ob ihn all das nichts anginge,
inmitten dieser vierzig Hitzköpfe, von deren Gerede ich nur ein Zehntel
verstehe; denn sie reden alle gleichzeitig wie auf einem Markt. Jesus bewahrt
seine Haltung und sein Schweigen.
Alle schreien: «Nun sag doch ein
Wort! Antworte!»
Nun erhebt sich Jesus langsam und
stützt dabei die Hände auf die Tischkante. Plötzlich herrscht tiefes
Schweigen. Wie verzehrt vom Feuer der achtzig Augen öffnet er die Lippen, und
die anderen öffnen sie, wie um seine Antwort einzuatmen. Die Antwort ist kurz,
aber klar und deutlich: «Nein.»
«Wie? Warum? Verrätst du uns? Er
verrät sein Volk! Er verleugnet seine Sendung! Er verwirft die Anordnung
Gottes!» Ein Durcheinander! Ein Tumult! Gesichter, die karmesinrot werden,
Augen, die aufflammen, Hände, die beinahe drohen... Sie scheinen eher Feinde
als Getreue zu sein. Aber so ist es: Wenn eine politische Idee die Herzen
beherrscht, werden selbst Sanftmütige zu Wilden dem gegenüber, der sich ihren
Ideen widersetzt.
Auf den Tumult folgt ein
eigenartiges Schweigen. Alle scheinen ihre Kräfte erschöpft zu haben und
fühlen sich müde, überwältigt. Sie schauen sich fragend an, trostlos... einige
unruhig...
Jesus läßt seinen Blick in die
Runde schweifen und sagt: «Ich wußte, daß ihr mich deswegen hier haben
wolltet, und ich wußte auch um die Zwecklosigkeit eures Schrittes. Chuza kann
euch bestätigen, daß ich in Tarichäa davon gesprochen habe. Ich bin hier, um
euch zu beweisen, daß ich keinerlei Nachstellung fürchte, denn meine Stunde
ist noch nicht gekommen. Und ich werde mich auch nicht fürchten, wenn die
Stunde der Nachstellung über mich hereinbricht, denn dazu bin ich gekommen.
Ich bin hier, um euch zu überzeugen. Ihr, nicht alle, aber viele unter euch,
seid guten Glaubens. Aber ich muß euch von dem Irrtum befreien, dem ihr
gutgläubig verfallen seid. Seht ihr? Ich mache euch keine Vorwürfe und werde
niemanden tadeln, nicht einmal jene, die, um meine treuen Jünger zu sein,
gerecht urteilen und ihre Leidenschaften zügeln sollten. Ich tadle dich nicht,
gerechter Timoneus; aber ich sage dir, daß sich in deiner Liebe zu mir noch
dein Ich verbirgt, das sich regt und von einer besseren Zeit träumt, in der
jene büßen werden, die dich geschlagen haben. Ich tadle dich nicht, Manaen,
obwohl du beweist, daß du die Weisheit und mein und meines Vorläufers, des
Täufers, heiliges Beispiel vergessen hast. Ich sage
238
dir nur, auch in dir ist noch die
Menschlichkeit verwurzelt und drängt wieder an die Oberfläche, trotz des
Feuers meiner Liebe. Ich tadle dich nicht, Eleazar, du Gerechter, schon allein
der alten Frauen wegen, für die du sorgst; immer warst du gerecht, jetzt aber
nicht. Auch dich tadle ich nicht, Chuza, obwohl ich es eigentlich tun sollte,
weil bei dir stärker als bei allen anderen, die mich in gutem Glauben als
König haben wollen, das eigene Ich im Spiel ist. Ja, als König willst du mich
haben. Es ist keine Arglist in deinen Worten. Du kommst nicht, um mir eine
Falle zu stellen und mich beim Hohen Rat, beim König und in Rom anklagen zu
können. Du glaubst aus Liebe zu handeln, aber es ist nicht so. Mehr als aus
Liebe handelst du, um dich für die Beleidigungen am Hof, die du hast ertragen
müssen, zu rächen. Ich bin dein Gast und sollte die Wahrheit über deine
Gefühle verschweigen. Aber ich bin die Wahrheit in allem und sage sie zu
deinem Wohl. Dasselbe gilt für dich, Joachim von Bozrah, und für dich,
Schriftgelehrter Johannes, und für dich, und für dich, und für dich...»Und er
zeigt auf diesen und jenen, ohne Unmut, aber mit einem traurigen Blick... und
fährt dann fort: «Ich tadle euch nicht, denn ich weiß, daß nicht ihr es seid,
die dies alles aus eigenem Antrieb wollen. Es ist eine Nachstellung, der
Widersacher, der in euch wirkt... Ihr seid, ohne es zu wissen, seine
Werkzeuge. Selbst der Liebe, eurer Liebe, Timoneus, Manaen, Johannes und ihr,
die ihr mich wirklich liebt, bedient er sich. Auch eurer Verehrung, die ihr in
mir den vollkommenen Rabbi seht, bedient sich der Verfluchte, um euch und mir
zu schaden. Euch allen, wie auch denen, die eure Gefühle nicht teilen und in
immer niedrigerer, bis an Verrat und Verbrechen grenzender Absicht meine
Zustimmung, König zu werden, erhalten wollen, sage ich: Nein! Mein Reich ist
nicht von dieser Welt. Kommt zu mir, damit ich mein Reich in euren Herzen
errichte, nichts anderes. Nun laßt mich gehen.»
«Nein, Herr. Wir sind fest
entschlossen. Wir haben schon Reichtum eingesetzt, Pläne gemacht; wir sind
entschlossen, diese Ungewißheit zu beenden, die Israel keine Ruhe läßt und die
von anderen ausgenützt wird, um Israel zu schaden. Es werden dir
Nachstellungen bereitet, das ist wahr. Selbst im Tempel hast du Feinde. Obwohl
ich zu den Ältesten gehöre, leugne ich das nicht. Aber um dem ein Ende zu
setzen, gibt es nur einen Weg: deine Salbung zum König. Und wir sind bereit,
dir diese zu geben. Es ist nicht das erste Mal, daß einer in Israel auf diese
Weise zum König ausgerufen wird, um dem nationalen Elend und der Zwietracht
ein Ende zu machen. Hier ist einer, der es im Namen Gottes tun kann. Laß es
uns tun», sagt einer der Priester.
«Nein. Es ist euch nicht erlaubt.
Ihr habt keine Bevollmächtigung dazu.»
«Der Hohepriester ist der erste,
der eine solche Lösung wünscht, auch wenn es nicht so scheinen mag. Er kann
die römische Herrschaft und die Schande des königlichen Hofes nicht länger
ertragen.»
239
«Lüge nicht, Priester. Auf deinen
Lippen ist Gotteslästerung doppelt unrein. Du weißt es vielleicht nicht, aber
du bist im Irrtum. Im Tempel will man das nicht.»
«Dann hältst du also unsere
Zusicherung für eine Lüge?»
«Ja, wenn nicht bei allen, so
doch bei vielen unter euch. Lügt nicht! Ich bin das Licht und lese in den
Herzen ...»
«Uns aber kannst du glauben»,
schreien die Herodianer. «Wir lieben weder Herodes Antipas, noch irgendeinen
anderen.»
«Nein, ihr liebt nur euch selbst,
und ihr könnt mich nicht lieben. Ihr würdet euch nur meiner bedienen, um den
Thron zu stürzen und euch den Weg zu einer größeren Macht zu bahnen, damit ihr
das Volk noch mehr unterdrücken könnt. Ein Betrug an mir, am Volk und an euch
selbst, denn Rom würde euch alle niederwerfen.»
«Herr, in den Kolonien der
Diaspora leben viele, die zum Aufstand bereit sind... Wir geben unser Vermögen
dafür», sagen die Proselyten.
«Und ich das meinige und die
ganze Unterstützung des Hauran und der Trachonitis», brüllt jener von Bozrah.
«Ich weiß, was ich sage. Unsere Berge können ein ganzes Heer aufstellen und
sind geschützt vor Nachstellungen. Wie im Adlerflug könnten wir dir zu Hilfe
eilen.»
«Auch Peräa.»
«Auch die Gaulanitis.»
«Auch das Tal des Gaasch ist mit
dir.»
«Und die Ufer des Salzmeeres mit
ihren Nomaden, die uns für Götter halten, wenn du bereit bist, dich mit uns zu
vereinigen», schreit der Essener und fährt fort mit seiner Salbaderei eines
Überspannten, die sich im allgemeinen Geschrei verliert.
«Die Bergbewohner von Judäa sind
von der Art, der die starken Könige bedürfen.»
«Und die von Obergaliläa sind
Helden von der Art der Debora. Auch die Frauen, selbst die Kinder sind
Helden!»
«Glaubst du, wir seien wenige?
Wir sind Scharen über Scharen. Das Volk ist ganz auf deiner Seite. Du bist der
König aus dem Stamme Davids, der Messias! Dies ist der Ruf auf den Lippen der
Weisen und der Unwissenden, denn dies ist der Ruf der Herzen. Deine Wunder...
deine Worte... deine Zeichen...» Ein solches Stimmengewirr, daß ich nichts
mehr verstehe.
Jesus, wie der Fels, um den ein
Sturm wütet, rührt sich nicht und reagiert auch nicht im geringsten. Er ist
unerschütterlich, und das Durcheinander von Bitten, Aufdringlichkeiten und
Darlegungen geht weiter.
«Du enttäuschst uns! Warum willst
du unser Verderben? Willst du alles allein machen? Das kannst du nicht.
Mattathias, der Makkabäer, wies die Hilfe der Asidäer nicht zurück, und Judas
befreite Israel mit ihrer Hilfe... Nimm doch unsere Hilfe an!» Ab und zu
vereinigen alle ihre Stimmen, um diese Worte zu schreien.
240
Jesus gibt nicht nach.
Einer der Ältesten, alt auch dem
Alter nach, redet aufgeregt mit einem Priester und einem Schriftgelehrten, der
noch älter ist als er. Sie treten vor und gebieten Ruhe. Dann spricht der alte
Schriftgelehrte, der auch Eleazar und die beiden Schriftgelehrten namens
Johannes zu sich gerufen hat: «Herr, warum willst du nicht den Kranz Israels
aufsetzen?»
«Weil er nicht mir gehört. Ich
bin nicht der Sohn eines hebräischen Prinzen.»
«Herr, du weißt es vielleicht
nicht. Ich wurde mit einigen anderen eines Tages gerufen, da drei Weise
gekommen waren und gefragt hatten: "Wo ist der neugeborene König der Juden."
Verstehst du? "Der neugeborene König." Wir haben uns versammelt, wir, die
obersten Priester und Schriftgelehrten des Volkes, um Herodes dem Großen zu
antworten. Unter uns war auch der gerechte Hillel. Die Antwort lautete: "Zu
Bethlehem in Juda." Du bist, das steht fest, dort geboren, und große Zeichen
haben deine Geburt begleitet. Und unter deinen Jüngern sind mehrere, die
Zeugnis davon ablegen können. Kannst du leugnen, daß du von den drei Weisen
als König verehrt wurdest?»
«Ich leugne es nicht.»
«Kannst du leugnen, daß das
Wunder dir vorausgeht, dich begleitet und dir folgt als Zeichen des Himmels?»
«Ich leugne es nicht.»
«Kannst du leugnen, daß du der
verheißene Messias bist?»
«Ich leugne es nicht.»
«Im Namen des lebendigen Gottes,
warum willst du dann die Hoffnungen eines Volkes enttäuschen?»
«Ich komme, die göttlichen
Hoffnungen zu erfüllen.»
«Welche?»
«Die der Erlösung der Welt und
der Errichtung des Reiches Gottes. Aber mein Reich ist nicht von dieser Welt.
Behaltet euer Vermögen und legt eure Waffen nieder. Öffnet Augen und Geist, um
die Schrift und die Propheten zu lesen und meine Wahrheit anzunehmen, und ihr
werdet das Reich Gottes in euch haben.»
«Nein. Die Schrift spricht von
einem Befreier-König.»
«Der euch von der Knechtschaft
Satans, von der Sünde, vom Irrtum, vom Fleisch, vom Heidentum und vom
Götzendienst befreien wird. Oh, was hat Satan aus euch gemacht, o ihr Hebräer,
weises Volk, daß ihr die prophetischen Wahrheiten so falsch ausgelegt? Was hat
er getan, um euch so blind sein zu lassen, o Hebräer, meine Brüder? Was hat er
euch getan, daß selbst ihr, meine Jünger, nicht mehr versteht? Das größte
Unglück für ein Volk und für einen Gläubigen ist es, die Zeichen falsch
auszulegen, und hier haben wir dieses Unglück. Persönliche Interessen,
Voreingenommenheit, Überspanntheit, falsche Vaterlandsliebe, alles dient dazu,
den
241
Abgrund zu schaffen... den
Abgrund des Irrtums, in dem ein Volk zugrundegehen wird, da es seinen König
verkennt.»
«Du verkennst deine Sendung.»
«Ihr verkennt euch und mich. Ich
bin kein irdischer König, und ihr... Dreiviertel der hier Versammelten wissen
genau, daß sie nicht mein Bestes, sondern mein Verderben wollen. Sie handeln
aus Arglist und nicht aus Liebe. Ich verzeihe euch und sage denen, die
aufrichtigen Herzens sind: Geht in euch und seid nicht die unbewußten Knechte
des Bösen. Nun laßt mich gehen, es gibt weiter nichts zu sagen.»
Erstauntes Schweigen...
Eleazar sagt: «Ich bin dir nicht
Feind. Ich glaubte, das Richtige zu tun, und bin nicht der einzige... gute
Freunde denken wie ich.»
«Ich weiß es. Aber du, sage mir
und sei aufrichtig: Was sagt Gamaliel?»
«Der Rabbi? ... Er sagt ... Ja,
er sagt: "Der Allerhöchste wird ein Zeichen geben, wenn dieser sein Gesalbter
ist."»
«Er hat recht gesprochen. Und was
sagt Joseph, der Älteste?»
«Daß du der Sohn Gottes bist und
als Gott regieren wirst.»
«Joseph ist ein Gerechter. Und
Lazarus von Bethanien?»
«Er leidet ... und spricht
wenig... Aber er sagt, daß du erst dann herrschen wirst, wenn unsere Herzen
dich aufnehmen.»
«Lazarus ist weise. Wenn eure
Herzen mich aufnehmen. Vorläufig nehmt ihr – auch jene, deren Herzen ich für
empfänglich hielt – mich und mein Reich nicht auf, und darin besteht mein
Schmerz.»
«Du lehnst uns also ab?» brüllen
viele.
«Ihr habt es gesagt.»
«Wir haben uns deinetwegen
kompromittiert, du schadest uns, du ...»schreien andere: Herodianer,
Schriftgelehrte, Pharisäer, Sadduzäer, Priester ...
Jesus verläßt die Tafel und geht
auf diese Gruppe zu und durchbohrt sie mit seinen Blicken. Welche Blicke! Ohne
es zu wollen, verstummen sie und drücken sich an die Wand... Jesus steht ihnen
von Angesicht zu Angesicht gegenüber und spricht leise, aber mit einer
Schärfe, die schneidet wie ein Säbelhieb: «Es steht geschrieben: "Verflucht
ist, wer seinen Nächsten heimlich erschlägt und für Bestechungsgeld
unschuldiges Blut vergießt." Ich sage euch: ich verzeihe euch, doch eure Sünde
ist dem Menschensohn bekannt. Wenn ich euch nicht verzeihen würde... Wegen
viel geringerer Sünden wurden von Jahwe viele in Israel zu Staub und Asche
gemacht.»
Er ist so furchtbar, während er
dies sagt, daß niemand wagt, sich zu bewegen. Jesus hebt den schweren
doppelten Vorhang und geht hinaus ins Atrium, ohne daß jemand sich rührt.
Erst als der Vorhang sich nicht
mehr bewegt, d.h. nach einigen Minuten, fahren sie auf.
242
«Man muß ihn einholen. Man muß
ihn zurückhalten...» sagen die Wütendsten unter ihnen.
«Man muß ihn um Verzeihung
bitten», seufzen die Besten, also Manaen, Timoneus, einige Proselyten, und der
von Bozrah, kurz die, die aufrichtigen Herzens sind.
Außerhalb des Saales bleiben sie
wieder zusammen stehen, suchen und fragen die Diener: «Der Meister? Wo ist
er?»
Der Meister? Niemand hat ihn
gesehen, nicht einmal die an den beiden Ausgängen des Atriums. Er ist nicht
da. Mit Fackeln und Laternen suchen sie ihn in den dunklen Schatten des
Gartens und in dem Zimmer, in dem er geruht hat. Er ist nicht da, auch sein
Mantel ist nicht auf dem Lager, auf dem er ihn gelassen hatte, und seine
Reisetasche ist nicht mehr im Atrium ...
«Er ist uns entflohen! Er ist ein
Satan! Nein, er ist Gott. Er tut, was er will. Er wird uns verraten! Nein,
vielmehr wird er uns erkannt haben als das, was wir sind.»
Meinungsverschiedenheiten und gegenseitige Beschimpfungen. Die Guten sagen:
«Ihr habt uns verführt. Verräter! Wir hätten es uns denken können!» Die Bösen,
also die meisten, drohen. Die Streitenden, die den Sündenbock verloren haben,
auf den sie sich stürzen wollten, stürzen nun aufeinander los...
Und Jesus? Wo ist er? Ich sehe
ihn, da er es will, weit weg, in der Nähe der Brücke an der Mündung des
Jordan. Er schreitet eilig dahin, wie vom Winde getragen. Die Haare wehen um
sein blasses Antlitz, und sein Gewand flattert wie ein Segel in voller Fahrt.
Nun, da er sicher ist, in genügend großer Entfernung zu sein, geht er durch
das Ufergestrüpp und am Ostufer entlang, und als er die ersten Felsen des
hohen Riffs erreicht hat, steigt er ungeachtet des schwachen Lichts, das das
Erklettern der steilen Küste gefährlich macht, hinauf und immer weiter empor
bis zu einer in den See vorspringenden und von einer uralten Eiche überragten
Klippe. Dort setzt er sich, stützt einen Ellbogen auf das Knie und das Kinn in
die Handfläche und blickt in die dunkle Weite. Er ist kaum sichtbar, höchstens
wegen der Helle des Gewandes und des Blässe seines Antlitzes...
Aber es gibt jemanden, der ihm
gefolgt ist. Johannes. Ein halbnackter Johannes, d.h., nur mit dem kurzen
Fischergewand bekleidet, mit dem glatten Haar eines Menschen, der eben aus dem
Wasser gestiegen ist, atemlos und bleich. Er nähert sich langsam seinem Jesus.
Er gleicht einem Schatten, der über das rauhe Riff gleitet. In geringer
Entfernung bleibt er stehen und beobachtet Jesus... Er bewegt sich nicht,
sondern sieht aus wie ein Fels auf dem Fels. Seine dunkle Tunika läßt ihn noch
weniger in Erscheinung treten und nur Gesicht, Arme und Beine sind schwach zu
sehen in der nächtlichen Dunkelheit.
Doch als er Jesus mehr weinen
hört als sieht, kann er sich nicht länger zurückhalten. Er geht auf ihn zu und
ruft: «Meister!»
243
Jesus hört das Flüstern und
erhebt sein Haupt. Bereit zu entfliehen, rafft er sein Gewand zusammen.
Doch Johannes sagt: «Was haben
sie dir angetan, Meister, daß du deinen Johannes nicht mehr erkennst?»
Jesus erkennt seinen
Lieblingsjünger und streckt ihm die Arme entgegen. Johannes wirft sich an die
Brust Jesu, und beide weinen aus verschiedenen schmerzlichen Gründen, aber von
derselben Liebe erfüllt.
Dann verstummt das Weinen, und
Jesus sieht als erster die Dinge wieder klar. Er fühlt und sieht Johannes
halbnackt, mit nasser Tunika, kaltem Körper und barfüßig. «Wie kommst du
hierher in diesem Zustand? Warum bist du nicht bei den anderen?»
«Oh, schilt mich nicht, Meister.
Ich konnte nicht bleiben ... Ich konnte dich nicht allein gehen lassen... Ich
habe mein Gewand ausgezogen und nur dies anbehalten und bin schwimmend nach
Tarichäa zurückgekehrt. Von dort bin ich am Ufer entlang zur Brücke gerannt,
und dann weiter, immer weiter hinter dir her. Ich habe mich im Graben beim
Haus verborgen, bereit, dir zu Hilfe zu kommen, oder um wenigstens zu sehen,
ob sie dich ergreifen oder dir sonstwie schaden wollten. Dann habe ich viele
streitende Stimmen gehört und gesehen, wie du schnell an mir vorbeigelaufen
bist. Du schienest ein Engel zu sein. Um dir zu folgen, ohne dich aus den
Augen zu verlieren, bin ich in Gräben und Sümpfe gefallen und ganz schmutzig
geworden. Ich werde dein Gewand beschmutzt haben... Ich betrachte dich, seit
du hier bist... Du hast geweint? ... Was haben sie dir angetan, mein Herr?
Haben sie dich beleidigt? Geschlagen?»
«Nein, sie wollten mich zum König
machen, zu einem armen König, Johannes! Viele wollten es in gutem Glauben tun,
aus wahrer Liebe, zu einem guten Zweck... die meisten aber, um mich anklagen
und aus dem Wege räumen zu können.»
«Wer sind diese?»
«Frage nicht danach.»
«Und die anderen?»
«Frage auch nicht nach ihren
Namen. Du darfst nicht hassen und nicht urteilen... Ich verzeihe.»
«Meister, waren auch Jünger
dabei?... Sage mir nur das.»
«Ja.»
«Auch Apostel?»
«Nein, Johannes. Keine Apostel.»
«Wirklich, Herr?»
«Wirklich, Johannes.»
«Ah! Gott sei Lob und Dank
dafür... Aber warum weinst du denn immer noch, Herr? Ich bin doch bei dir. Ich
liebe dich für alle. Und auch Petrus, Andreas und die anderen... Als sie
sahen, daß ich mich ins Wasser warf, hielten sie mich für verrückt. Petrus war
wütend, und mein Bruder
244
sagte, daß ich in den Wirbeln
umkommen würde. Dann aber haben sie verstanden und mir zugerufen: "Gott sei
mit dir! Geh, geh..." Dich lieben wir; aber keiner so innig wie ich, der arme
Knabe.»
«Ja, keiner wie du. Ist dir kalt,
Johannes? Komm unter meinen Mantel...»
«Nein. Zu deinen Füßen, so...
Mein Meister! Warum lieben dich nicht alle so wie ich, der ich ein armer Junge
bin?»
Jesus zieht ihn an sein Herz und
setzt sich neben ihn. «Weil sie nicht dein kindliches Herz haben...»
«Sie wollten dich zum König
machen? Aber haben sie denn noch nicht verstanden, daß dein Reich nicht von
dieser Welt ist?»
«Sie haben es noch nicht
verstanden.»
«Ohne Namen zu nennen, erzähle
mir, Herr ...»
«Aber wirst du das, was ich dir
erzähle, nicht weitersagen?»
«Wenn du es nicht willst, werde
ich es nicht sagen...»
«Du wirst erst dann darüber
sprechen, wenn die Menschen mich als einen gewöhnlichen Volksführer werden
hinstellen wollen. Eines Tages wird dies geschehen, und du wirst es erleben.
Dann wirst du sagen: "Er war kein König dieser Welt, weil er es nicht wollte,
denn sein Reich war nicht von dieser Welt. Er war der Sohn Gottes, das
fleischgewordene Wort, und konnte nicht annehmen, was irdisch ist. Er wollte
in die Welt kommen und Fleisch annehmen, um das Fleisch, die Seelen und die
Welt zu erlösen; aber er ist nie dem Prunk der Welt und dem Reiz der Sünde
unterlegen, und nichts Fleischliches und Weltliches war in ihm. Das Licht hat
sich nicht mit Finsternis umhüllt, und der Unendliche hat keine endlichen
Dinge angenommen, aber aus den durch Fleisch und Sünde begrenzten Geschöpfen
hat er ihm ähnlichere gemacht und die Gläubigen zum wahren Königtum geführt
und sein Reich in den Herzen errichtet, noch bevor er es im Himmel errichtet
hat, wo er ganz und auf ewig mit allen Geretteten zusammen sein wird." Das
wirst du sagen, Johannes. Das wirst du denen sagen, die mich ganz als Mensch
oder ganz als Geist sehen wollen und leugnen werden, daß ich Versuchungen
unterworfen war... und gelitten habe... Du wirst den Menschen sagen, daß der
Erlöser geweint hat und daß sie, die Menschen, auch durch mein Weinen erlöst
worden sind...»
«Ja, Herr. Wie du leidest, Jesus!
...»
«Wie ich erlöse! Aber du tröstet
mich im Leiden. Beim Morgengrauen werden wir von hier aufbrechen, und eine
Barke werden wir finden. Glaubst du mir, wenn ich dir sage, daß wir ohne Ruder
vorankommen werden?»
«Ich würde dir auch glauben, wenn
du mir sagen würdest, daß wir ohne Barke vorankommen würden ...»
Sie halten sich umschlungen, in
den Mantel Jesu eingehüllt, und Johannes wird in der Wärme von Müdigkeit
übermannt und schläft schließlich ein, wie ein Kind in den Armen der Mutter.
245
514. JESUS SPRICHT VON SEINEM
VIELGELIEBTEN JÜNGER
Jesus sagt:
«Sieh, diese unbekannte und so
erläuternde Seite der Frohen Botschaft ist für jene, die gerechten Herzens
sind. Johannes, der nach vielen Jahrzehnten sein Evangelium niederschrieb,
spielt kurz darauf an. Dem Willen des Meisters gehorsam, dessen göttliche
Natur er klarer als jeder andere Evangelist hervorhebt, enthüllt er den
Menschen diese unbekannte Einzelheit, und er tut es mit der jungfräulichen
Zurückhaltung, die alle seine Handlungen und Worte mit demütiger und scheuer
Schamhaftigkeit umgibt.
Johannes, mein Vertrauter in den
wichtigsten Ereignissen meines Lebens, hat sich nie dieser meiner Vorliebe für
ihn gerühmt. Im Gegenteil. Lest ihn aufmerksam. Es scheint, als leide er
darunter, diese Ereignisse enthüllen zu müssen, als wolle er sagen: "Ich muß
die Wahrheit sagen zur größeren Ehre meines Herrn, aber ich bitte euch um
Verzeihung, wenn ich dabei in Erscheinung treten muß als der Einzige, der
davon weiß" ' und in knappen Worten weist er auf die Einzelheit hin, die
allein ihm bekannt ist.
Lest das erste Kapitel seines
Evangeliums, wo er von seiner Begegnung mit mir erzählt: "Johannes der Täufer
stand wieder da mit zweien seiner Jünger (zweien seiner Jünger, hört seine
Worte)... Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer von den beiden, die
die Worte des Johannes gehört hatten und Jesus gefolgt waren. Der erste, dem
Andreas begegnete..." Er nennt sich selbst nicht, sondern verbirgt sich hinter
Andreas, den er in den Vordergrund stellt.
Zu Kana war er bei mir, und er
schreibt: "Jesus war mit seinen Jüngern... und seine Jünger glaubten an ihn."
Es waren die anderen, die des Glaubens bedurften, denn er selbst glaubte
schon; aber er zählt sich zu den anderen, als hätte er Wunder sehen müssen, um
glauben zu können.
Als Zeuge der ersten Reinigung
des Tempels von den Händlern, des Gespräches mit Nikodemus, der Begebenheit
mit der Samariterin, sagt er nie: "Ich war dabei", sondern wie schon in Kana
spricht er von "seinen Jüngern"; auch wenn er allein oder nur mit einem
anderen bei mir war. Und so fährt er fort, ohne sich je zu nennen; vielmehr
stellt er immer die Gefährten in den Vordergrund, als ob er nicht der
Getreueste, der stets Getreue, der Vollkommenste in der Treue gewesen wäre.
Denkt an die Zartheit, mit der er
auf das Geschehen beim Abendmahl hinweist, aus dem hervorgeht, daß er der
Bevorzugte war, was auch von den anderen anerkannt wurde; denn sie wenden sich
an ihn, um die Geheimnisse des Meisters zu erfahren: "Da blickten die Jünger
einander ratlos an, weil sie nicht wußten, von wem er rede. Einer von seinen
Jüngern, der, den Jesus liebte, lag an der Brust Jesu; diesem winkte Simon
Petrus
246
und sagte zu ihm: 'Sag, wer ist
es, von dem er redet!' Er lehnte sich also an die Brust Jesu und sagte zu ihm:
'Herr, wer ist es?-
Er nennt sich nicht einmal, als
er in Gethsemane zusammen mit Petrus und Jakobus gerufen wird. Er sagt nicht:
"Ich folgte dem Herrn." Er sagt: "Simon Petrus aber und ein anderer Jünger
folgten ihm. Dieser Jünger war mit dem Hohenpriester bekannt und ging mit
Jesus in den Vorhof des Hohenpriesters." Ohne Johannes hätte ich nicht den
Trost gehabt, ihn und Petrus in den ersten Stunden nach meiner Gefangennahme
zu sehen. Aber Johannes rühmt sich dessen nicht. Er, einer der Hauptzeugen in
den Stunden der Leidensgeschichte, der einzige Apostel, der immer voller
Liebe, Mitgefühl und mutig an der Seite des Christus und seiner Mutter stand
angesichts des entfesselten Jerusalem, verschweigt seinen Namen auch, als er
von der Kreuzigung und den Worten des Sterbenden berichtet: "Frau, siehe da
deinen Sohn" – "Siehe da, deine Mutter." Er ist der "Jünger", der Namenlose,
ohne jeden anderen Namen als den, der sein Ruhm ist, nachdem er seine Berufung
gewesen ist: "der Jünger".
Selbst als er "Sohn" der
Gottesmutter geworden ist, rühmt er sich dieser Ehre nicht, und nach der
Auferstehung schreibt er: "Petrus und der andere Jünger (denen Maria des
Lazarus von dem leeren Grabe gesprochen hatte) machten sich auf und gingen zum
Grab... Die beiden aber liefen miteinander... doch der andere Jünger lief
schneller als Petrus und kam als erster zum Grab. Er beugte sich hinein und
sah ... doch ging er nicht hinein..." Ein Zug lieblicher Demut! Er, der
Vielgeliebte, der Getreue, läßt Petrus, das Haupt, obwohl ein Sünder aus
Feigheit, zuerst hineingehen. Er urteilt nicht über ihn. Petrus ist sein
Oberhaupt. Er steht ihm vielmehr bei mit seiner Heiligkeit, denn auch die
"Häupter" brauchen den Beistand ihrer Untergebenen als Stütze. Wie viele
Untergebene sind besser als die "Häupter"! Ihr heiligen Untergebenen,
verweigert den "Häuptern" eure liebevolle Hingabe nie, denn sie brechen
zusammen unter ihrer drückenden Last, oder der Rauch der Ehre macht sie blind
und trunken. O ihr heiligen Untergebenen, seid Cyrenäer eurer Vorgesetzten.
Seid, und sei du, mein kleiner Johannes, denn was ich dir sage, gilt für alle
die "Johannes", die den "Petri" vorauseilen und sie führen und dann
innehalten, um ihnen den Vortritt zu lassen mit Rücksicht auf ihr Amt; die –
oh! Höhepunkt der Demut – um ihre "Petri", die nicht verstehen und glauben
können, nicht zu demütigen, vorgeben und glauben lassen, daß auch sie
begriffsstutzig und ungläubig sind wie die "Petri"...
Lest auch die letzte Begebenheit
am See von Tiberias. Es ist wiederum Johannes, der, wie schon andere Male, den
Herrn in dem Mann erkennt, der am Ufer steht; und auch nachdem die Speisen
verteilt worden sind und nach der Frage des Petrus: "Herr, was ist mit
diesem?" bleibt er der "Jünger", nichts mehr.
Seine eigene Person hebt Johannes
nie hervor; aber wenn es darum
247
geht, etwas zu sagen, was das
fleischgewordene Wort Gottes noch deutlicher in göttlichem Licht erstrahlen
läßt, dann hebt Johannes den Schleier und enthüllt ein Geheimnis. Im sechsten
Kapitel seines Evangeliums sagt er: "Als er bemerkte, daß sie ihn ergreifen
wollten, um ihn zum König zu machen, zog er sich wieder allein auf den Berg
zurück"; und den Gläubigen wird diese Stunde aus dem Leben Jesu enthüllt, weil
sie wissen sollen, daß Jesus vielen und mannigfachen Versuchungen und Kämpfen
ausgesetzt war wegen seiner verschiedenen Eigenschaften als Mensch, Meister,
Messias, Erlöser und König, und daß die Menschen und Satan, der ewige
Verführer der Menschen, ihm, Christus, keine Nachstellung ersparten, um ihn zu
erniedrigen, zu überwältigen und zu zerschmettern. Gegen den Menschensohn, den
Ewigen Hohenpriester, den Meister und Herrn, stürmten die satanischen und
menschlichen Mächte mit eher mittelmäßigen als guten Gründen an. Sie
versuchten die Leidenschaften des Bürgers, des Patrioten, des Sohnes, des
Menschen anzustacheln, um einen schwachen Punkt zu finden und dort den Hebel
anzusetzen.
O ihr, meine Söhne, die ihr nur
meine erste und meine letzte Versuchung vor Augen habt und nur die letzten
Mühsale des Erlösers für "Mühsale", nur die letzten Stunden seines Lebens für
schmerzlich und nur die letzten Erfahrungen für bitter und ernüchternd haltet,
versetzt euch nur für eine Stunde in meine Lage. Stellt euch vor, ihr hättet
die Aussicht, Frieden mit euren Landsleuten, und mit ihrer Hilfe, zu
schließen, die erforderliche Säuberung zur Heiligung des geliebten Vaterlandes
vorzunehmen, und die zerstreuten Glieder Israels wieder zu vereinen, sie
endlich dem Schmerz und der Knechtschaft zu entreißen und die Entweihung des
Heiligtums zu beenden. Ich sage nicht: Versetzt euch in meine Lage und stellt
euch vor, daß man euch eine Krone anbietet; ich sage nur: setzt eine Stunde
lang mein menschliches Herz an die Stelle des euren. Was würdet ihr bei einem
so verführerischen Angebot tun? Würdet ihr der Idee Gottes treu bleiben, oder
würdet ihr nicht eher besiegt? Würdet ihr geistiger und heiliger aus der
Versuchung hervorgehen oder euch nicht vielmehr durch Nachgiebigkeit gegenüber
den Verlockungen und Drohungen selbst zugrunderichten? Und wie wäre euer Herz
daraus hervorgegangen, nachdem ihr feststellen mußtet, bis zu welchem Punkt
Satan gehen kann, um meine Mission zu stören und meine Gefühle zu verletzen,
um meine guten Jünger auf irrige Wege zu bringen und mich selbst in eine
offene Konfrontation mit meinen Feinden, die jetzt demaskiert und außer sich
vor Zorn sind, da ihr Komplott aufgedeckt ist?
Kommt also nicht mit Kompaß und
Lineal, mit Mikroskop und menschlicher Wissenschaft, und fangt nicht an, mit
der kleinlichen Argumentation von Schriftgelehrten abzuwägen, zu vergleichen
und zu widerlegen, inwieweit Johannes recht hat, inwieweit dies oder jenes
wahr ist. Vergleicht nicht den Satz des Johannes mit der gestrigen
Begebenheit, um
248
zu sehen, ob alles übereinstimmt.
Johannes hat nicht aus Altersschwäche und der kleine Johannes nicht aus
kränklicher Schwäche gefehlt. Dieser hat berichtet, was er gesehen hat. Der
große Johannes hat viele Jahrzehnte nach dem Geschehnis beschrieben, was er
darüber wußte. Mit einer feinen Verkettung von Ort und Handlung hat er das ihm
allein bekannte Geheimnis über die nicht ohne Arglist versuchte Krönung des
Christus enthüllt.
Zu Tarichäa, nach der ersten
Brotvermehrung, spricht man im Volk davon, den Rabbi von Nazareth zum König
von Israel zu machen. Manaen, der Schriftgelehrte und viele andere, die
zugegen sind, zwar unvollkommen im Geist, aber aufrichtigen Herzens, greifen
diesen Gedanken auf und setzen sich dafür ein, um den Meister zu Ehren zu
bringen und den ungerechten Kampf gegen ihn zu beenden; und wegen eines
Irrtums in ihrer Auslegung der Heiligen Schrift – ein in dem von dem Traum
eines irdischen Königtums verblendeten Israel weitverbreiteter Irrtum – und in
der Hoffnung, das von vielen Dingen befleckte Vaterland zu heiligen.
Und dann gibt es natürlich viele,
die einfach der Idee anhängen; und viele geben arglistig vor, mir anzuhängen,
um mir zu schaden. Letztere schließen sich aus Haß gegen mich zusammen,
vergessen sogar den Haß der Klassen untereinander, der sie immer getrennt hat,
und verbünden sich, um mich zu versuchen und damit dem Verbrechen, das sie in
ihren Herzen schon beschlossen haben, einen legalen Anschein zu geben. Sie
hoffen auf meine Schwäche, auf meinen Hochmut. Beides, Hochmut und Schwäche,
und meine daraus folgende Annahme der mir angebotenen Krone, würde die
Anklagen, die sie gegen mich vorbringen wollen, rechtfertigen. Und dann...
dann hätten sie, womit sie ihren arglistigen und von Gewissensbissen geplagten
Geist beruhigen könnten, denn sie würden sich sagen, in der Hoffnung, es auch
glauben zu können: "Rom, nicht wir, hat den Aufwiegler von Nazareth bestraft."
Eine legale Beseitigung ihres Feindes, denn das war ihr Erlöser für sie.
Dies sind die Gründe für die
geplante Ernennung. Hier ist der Schlüssel für den immer größer werdenden Haß
in der Folgezeit. Hier ist schließlich die hohe Lehre Christi. Versteht ihr
sie? Es ist die Lehre der Demut, der Gerechtigkeit, des Gehorsams, des
Starkmutes, der Klugheit, der Treue, der Verzeihung, der Geduld, der
Wachsamkeit und des Duldens, gegenüber Gott, der eigenen Mission, den
Freunden, den Verblendeten, Satan und seinen menschlichen Werkzeugen der
Versuchung, gegenüber Dingen und Ideen. Alles muß stets betrachtet, geliebt
oder nicht geliebt, angenommen oder abgewiesen werden im Hinblick auf das
heilige Ziel des Menschen: den Himmel und den Willen Gottes.
Kleiner Johannes, dies war eine
der Stunden Satans für mich. Wie Christus sie erlebte, so werden sie auch die
"kleinen Christusse" erleben. Man muß sie ertragen und überwinden
249
ohne Hochmut, ohne Mißtrauen. Sie
sind nicht umsonst, vielmehr dienen sie einem guten Zweck. Habt also keine
Furcht, Gott verläßt euch in diesen Stunden nicht, sondern er hilft euch, wenn
ihr ihm treu seid. Und danach steigt die Liebe hernieder, um aus den Getreuen
Könige zu machen. Die Getreuen steigen nach Beendigung dieses irdischen Lebens
auf in sein Reich, in den ewigen Frieden, siegreich für immer...
Du kleiner, mit Dornen gekrönter
Johannes, mein Friede sei mit dir ...»
515. IN BETHSAIDA UND KAPHARNAUM;
ERNEUTE ABREISE
«Steure auf Bethsaida zu», ordnet
Jesus an, der mit Johannes in einem kleinen Boot, wahrhaft einer Nußschale,
sitzt. Sie befinden sich mitten auf dem See, der sich im Morgengrauen
allmählich erhellt.
Johannes gehorcht, ohne ein Wort
zu sagen. Ein recht kräftiger Wind bläht das kleine Segel und läßt das Boot so
rasch dahingleiten, daß es sich sogar zur Seite neigt. Schnell geht es am
Ostufer entlang, und das nördliche runde Ende des Sees nähert sich immer mehr.
«Lande noch vor der Ortschaft.
Ich möchte zu Porphyria gehen, ohne daß andere mich sehen; und du fahre zur
gewohnten Landestelle und erwarte mich dort im Boot.»
«Ja, Meister. Und wenn mich
jemand sieht?»
«Halte alle bei dir auf, ohne zu
sagen, wo ich bin. Ich werde mich beeilen.»
Johannes bemerkt am Ufer einen
guten Landeplatz bei der Mündung eines sandigen Baches (um diese Jahreszeit
erinnert nur das Bachbett an ihn), aus dem sich die Leute zu irgendeinem
Gebrauch Sand geholt haben, so daß eine kleine Bucht von wenigen Metern Breite
entstanden ist. Dort kann ein Boot an dem etwa 5O cm über dem Wasser liegenden
Ufer anlegen.
Dorthin steuert er. Das Boot
streift etwas über den Kies, doch das Anlegen gelingt und Johannes hält es am
Ufer fest, indem er eine Wurzel erfaßt, die aus dem Sand hervorragt. Jesus
springt ans Ufer. Johannes stemmt das Ruder dagegen, um das Boot wieder ins
tiefere Wasser zu schieben. Es gelingt ihm. Er erhebt lächelnd sein
strahlendes Antlitz und sagt: «Leb wohl, Meister!»
«Leb wohl, Johannes», und Jesus
geht zwischen den Bäumen weg, während Johannes mit dem Boot am Ufer
entlangfährt.
Jesus geht landeinwärts und
wandert durch die Gemüsegärten hinter Bethsaida. Er beeilt sich, da er
vermeiden will, in den Ort zu kommen, wenn dieser erwacht. Ohne jemandem zu
begegnen, gelangt er zum Haus des Petrus und klopft an die Küchentür. Nach
einigen Augenblicken erscheint das Gesicht Porphyrias vorsichtig über dem
Mäuerchen auf dem
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Dach. Sie sieht den Meister und
ein erstauntes «Oh» entfährt ihr. Dann sammelt sie mit einer Hand ihre
herrlichen Haare (ihre einzige Schönheit), die ihr über die Schultern fallen,
und eilt die kleine Treppe hinunter, barfuß wie sie ist, nach der eiligen
Morgentoilette.
«Herr? Du allein?»
«Ja, Porphyria. Margziam, wo ist
er?»
«Er schläft. Er schläft noch. Der
Junge ist etwas traurig... etwas kränklich ... und ich schone ihn ein wenig.
Es hängt auch mit dem Alter zusammen ... dem Wachstum... Wenn er schläft,
denkt er nicht nach und weint nicht ...
«Weint er oft?»
«Ja. Meister. Ich glaube, daß es
seine momentane Schwäche ist. Ich versuche, ihn zu kräftigen... und zu
trösten... Aber er sagt: "Ich bleibe allein. Alle, die ich liebe, gehen fort.
Wenn Jesus nicht mehr da sein wird..." Er sagt das, wie wenn du uns verlassen
würdest... Gewiß, er hat in seinem Leben schon viel Leid durchgemacht ... Aber
Simon und ich lieben ihn... Sehr. Glaube mir, Meister.»
«Ich weiß es. Aber seine Seele
fühlt ... Porphyria, ich muß mit dir gerade über diese Dinge sprechen.
Deswegen bin ich um diese Stunde und ohne Simon gekommen. Wohin können wir
gehen und miteinander sprechen, ohne daß uns Margziam hören oder jemand
anderer stören kann?»
«Herr, ich habe nur... mein
Schlafzimmer... oder den Raum mit den Fischernetzen... Oben ist Margziam. Ich
war auch oben, denn um der Hitze zu entgehen, schlafen wir nun dort...»
«Gehen wir in den Raum mit den
Netzen. Er ist weiter entfernt, und Margziam wird uns nicht hören, auch wenn
er aufwacht.»
«Komm, Herr», und Porphyria führt
ihn in einen einfachen großen Raum, der mit allen möglichen Dingen
vollgestopft ist: Netze, Ruder, Vorräte, Heu für die Schafe, ein Webstuhl...
Porphyria räumt eilig eine an der
Wand stehende Art Tischchen ab und wischt mit einem Bausch Werg den Staub weg,
damit der Meister sich setzen kann.
«Das ist nicht wichtig, Frau. Ich
bin nicht müde.»
Porphyria blickt mit ihren milden
Augen zum abgespannten, müden Antlitz Jesu auf und scheint ihm sagen zu
wollen: «Doch, das bist du wohl!» Aber da sie gewohnt ist zu schweigen, sagt
sie nichts.
«Höre, Porphyria. Du bist eine
gute Frau und eine gute Jüngerin. Seit ich dich kenne, habe ich dich immer
sehr geliebt, und mit großer Freude habe ich dich als Jüngerin angenommen und
dir auch den Knaben anvertraut. Ich weiß, daß du klug und tugendhaft bist wie
wenige. Ich weiß auch, daß du schweigen kannst... eine seltene Tugend bei den
Frauen. Aus all diesen Gründen bin ich gekommen, um insgeheim mit dir zu
sprechen und dir eine Sache anzuvertrauen, die niemand weiß, nicht einmal die
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Apostel und auch nicht Simon. Ich
vertraue sie dir an, weil ich dir sagen muß, wie du dich in Zukunft
Margziam... und auch allen anderen gegenüber zu verhalten hast... Ich bin
sicher, daß du deinen Meister zufriedenstellen wirst in dem, worum ich dich
bitte, und klug sein wirst wie immer...»
Porphyria, die bei diesem Lob des
Meisters purpurrot geworden ist, nickt nur mit dem Kopf, so gerührt ist sie.
Sie, so schüchtern und immer dem Willen eigenmächtiger Personen unterstellt,
die ihr befehlen ohne zu fragen, ob sie mit etwas einverstanden ist, sie ist
jetzt zu gerührt, um ihre Zustimmung in Worten auszudrücken.
«Porphyria, ich werde nie mehr in
diese Gegend zurückkehren, nie mehr, bevor nicht alles vollendet ist... Du
weißt, was ich erfüllen muß, nicht wahr?...»
Porphyria hat bei diesen Worten
ihre Haare fallen gelassen, die sie immer noch mit der Linken im Nacken
zusammengehalten hat, und stößt mehr als einen Schrei, ein tiefes Schluchzen
aus, das sie erstickt, indem sie beide Hände vors Gesicht schlägt, während sie
auf die Knie sinkt und stöhnt. «Ich weiß es, Herr, mein Gott...» und sie weint
still vor sich hin. Nur an den Tränen, die zwischen den auf ihr Gesicht
gepreßten Fingern zu Boden fallen, erkennt man, daß sie weint.
«Weine nicht, Porphyria. Dazu bin
ich gekommen. Ich bin bereit... und bereit sind jene, die, indem sie dem Bösen
dienen, in Wahrheit dem Guten dienen werden, weil sie die Stunde der Erlösung
nahen lassen. Sie könnte sich auch jetzt schon erfüllen, denn wir, ich und
sie, sind darauf vorbereitet ... und jede Stunde, die noch vergeht, und jedes
Ereignis, das noch stattfindet, wird nichts anderes sein als eine
Vervollständigung ihres Verbrechens... und meines Opfers. Aber auch diese noch
zahlreichen Stunden, die jener Stunde vorausgehen, werden zu etwas gut sein...
Es ist noch einiges zu tun und zu sagen, auf daß alles, was sich erfüllen muß,
damit man mich kennt, geschehe... Aber ich werde nicht mehr hierher
zurückkehren... Ich betrachte diesen Ort zum letzten Mal... und betrete zum
letzten Mal dieses ehrbare Haus... Weine nicht... Ich wollte nicht fortgehen,
ohne mich von dir zu verabschieden und dir den Segen deines Meisters zu geben.
Ich werde Margziam mit mir nehmen, wenn ich mich jetzt an die phönizische
Grenze begebe, und später, wenn ich nach Judäa hinabziehe zum Laubhüttenfest.
Ich werde es nicht unterlassen, ihn vor dem Winter zurückzuschicken. Armer
Knabe! Er wird sich noch einige Zeit meiner Gegenwart erfreuen. Und dann...
Porphyria, es ist nicht gut, wenn Margziam in meiner Stunde zugegen ist, und
darum sollst du ihn nicht zum Passahfest gehen lassen ...»
«Aber die Vorschrift, Herr...»
«Ich entbinde ihn von dem Gebot.
Ich bin der Meister, Porphyria, und ich bin Gott, du weißt es. Als Gott kann
ich ihm im voraus eine
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Unterlassung vergeben, die nicht
einmal eine ist, da ich selbst es ihm befehle aus einem berechtigten Grund.
Der Gehorsam gegen mein Gebot beinhaltet schon die Lossprechung von der
Nichtbefolgung der Vorschrift, denn der Gehorsam gegen Gott – und er bedeutet
auch ein Opfer für Margziam – steht immer über allen anderen Dingen. Ich bin
der Meister. Und kein guter Meister wäre, wer nicht die Eigenschaften und
Reaktionen eines Jüngers in Betracht ziehen und nicht abschätzen könnte,
welche Folgen eine über die Kräfte des Jüngers gehende Anstrengung für diesen
nach sich ziehen würde. Auch wenn man Tugendhaftigkeit verlangt, muß man klug
sein und darf nicht die geistige Bildung und die allgemeinen Kräfte des Wesens
überfordern. Wenn man eine Tugend oder eine geistige Selbstbeherrschung
verlangt, die den vom Menschen erreichten Grad geistiger, moralischer und auch
physischer Kraft übersteigt, kann dies zu einer Zersplitterung aller bereits
erlangten Kräfte führen und zum Zusammenbruch des Wesens in den drei
Bereichen: dem geistigen, dem moralischen und dem physischen. Margziam, der
arme Junge, hat schon zu viel gelitten und zu oft die Brutalität seiner
Mitmenschen kennengelernt, so daß er sie beinahe gehaßt hätte. Er könnte nicht
ertragen, was meine Passion sein wird: ein Meer schmerzhafter Liebe, in dem
ich die Sünden der Welt reinwasche, und ein Meer teuflischen Hasses, das
versuchen wird, alle jene zu verschlingen, die ich geliebt habe, und all mein
Wirken als Meister zu vernichten. Wahrlich, ich sage dir, auch die Stärksten
werden sich unter der Flut Satans beugen, wenigstens für kurze Zeit... Aber
ich will nicht, daß Margziam diese verwüstende Woge über sich ergehen lassen
und kosten muß... Er ist unschuldig... Er ist mir teuer... Ich habe viel
Mitleid mit ihm, der schon mehr gelitten hat, als seine Kräfte zulassen ...
Ich habe die Seele des Johannes von Endor ins Jenseits abberufen ...»
«Ist Johannes gestorben? Margziam
hat viele Schriftrollen für ihn geschrieben... Ein neuer Schmerz für den
Knaben ...»
«Ich selbst werde ihm vom Tod des
Johannes berichten... Ich sagte, daß ich ihn aus diesem Leben abberufen habe,
um auch ihn vor der schmerzlichen Erschütterung jener Stunde zu bewahren. Auch
Johannes hat zuviel von den Menschen erleiden müssen. Warum eingeschläferte
Gefühle erneut wecken? Gott ist gut. Er prüft seine Kinder. Aber er macht
keine unvorsichtigen Experimente... Oh, wenn die Menschen ebenso zu handeln
verstünden! Wieviel weniger gebrochene Herzen oder auch nur gefahrvolle Stürme
in den Herzen würde es geben! ...
Aber um auf Margziam
zurückzukommen. Er darf nicht zum nächsten Passahfest kommen. Vorläufig sollst
du nicht darüber reden. Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du so zu ihm
sprechen: "Der Meister hat mir befohlen, dich nicht nach Jerusalem zu
schicken. Er verspricht dir einen besonderen Lohn, wenn du ihm gehorchst."
Margziam ist ein guter Junge
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und wird gehorchen... Porphyria,
das möchte ich von dir: dein Schweigen, deine Treue, deine Liebe.»
«Alles, was du willst, mein Herr.
Du ehrst deine arme Dienerin gar zu sehr... Ich verdiene nicht so viel... Geh
in Frieden, Meister und Gott. Ich werde tun, was du willst...» Doch der
Schmerz überwältigt sie, und sie wirft sich mit dem Gesicht zu Boden. Vorher
war sie auf den Knien, auf die Fersen zurückgelehnt, die Augen fest auf das
Antlitz Jesu geheftet. Nun liegt sie am Boden, ganz bedeckt von ihrem
rabenschwarzen Haar, und seufzt laut: «Welch ein Schmerz, Meister! Oh, welch
ein Schmerz! Was endet da! Was endet da für die Welt! Oh, für uns,