Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben
Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise
kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht
verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte.
Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es
ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle
stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu
halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte
Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren
Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.
Das Werk kann man hier
in Buchform erwerben:
Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch
Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
Band IV:
Zweites Jahr des öffentlichen Lebens Jesu (Fortsetzung)
• 230. Ankunft in Esdrelon und Aufenthalt bei Michäus. S. 9
• 231. Der Sabbat in Esdrelon; Der kleine Jabe. S. 11
• 232. Von Esdrelon nach Engannim über Mageddo. S. 18
• 233. Von Engannim nach Sichem in zwei Tagen. S. 23
• 234. Von Sichem nach Beeroth. S. 27
• 235. Von Beeroth nach Jerusalem. S. 32
• 236. Der Sabbath in Gethsemane. S. 36
• 237. Im Tempel zur Stunde des Opfers. S. 44
• 238. Begegnung Jesu mit seiner Mutter in Bethanien. S. 48
• 239. Die Macht des Wortes Marias. S. 55
• 240. Aglaia beim Meister. S. 65
• 241. Die Prüfung Margziams. S. 71
• 242. Am Abend vor Ostern im Tempel. S. 76
• 243. Jesus lehrt das Vaterunser. S. 80
• 244. Jesus und die Heiden in Bethanien. S. 87
• 245. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn. S. 95
• 246. Das Gleichnis von den zehn Jungfrauen. S. 102
• 247. Das Gleichnis vom König, der seinem Sohn die Hochzeit bereitet. S. 108
• 248. Nach Bethlehem mit den Aposteln und den Jüngern. S. 115
• 249. Auf dem Weg zu Elisa in Bethsur. S. 125
• 250. Im Haus Elisa:«Lasst eure Leiden fruchtbar werden!». S. 135
• 251. Auf dem Weg nach Hebron; Die Absichten der Welt und die Absicht Gottes.
S. 141
• 252. Festliche Begrüssung in Hebron. S. 146
• 253. In Jutta; Predigt im Haus Isaaks. S. 154
• 254. In Kerioth; Jesus spricht in der Synagoge. S. 160
• 255. Im Hausdes Judas von Kerioth. S. 163
• 256. Das launenhafte Mädchen von Bethginna. S. 169
• 257. In der Ebene auf dem Weg nach Askalon. S. 175
• 258. Im Streit mit den Pharisäern Jesus Herr auch über den Sabbat. S. 179
• 259. Jesus und die Seinen auf dem Weg nach Askalon. S. 183
• 260. Die Predigten und die Wunder in Askalon. S. 194
• 261. Jesus verbrennt in Magdalgad ein heidnisches Götzenbild. S. 201
• 262. Belehrungen der Apostel auf dem Weg nach Jabnia. S. 207
• 263. Jesus und die Seinen auf dem Weg nach Modin. S. 214
• 264. Jesus spricht zu Wegelagern. S. 218
• 265. Die Ankunft in Behter. S. 223
• 266. Der Gelähmte am Teich von Bethsaida. S. 230
• 267. In Bethanien; «Meister Maria hat Martha gerufen». S. 240
• 268. Margziam wird Porphyria, der Frau des Petrus anvertraut. S. 243
• 269. Jesus spricht in Bethsaida. S. 246
• 270. Die blutflüssige Frau und die Töchter des Jairus. S. 248
• 271. Jesus und Martha in Kapharnaum. S. 253
• 272. Heilung der beiden Blinden und des stummen Besessenen. S. 259
• 273. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf. S. 264
• 274. «Nach der Erinnerung an das Gesetz habe ich die Hoffnung auf Vergebung
singen lassen». S. 267
• 275. Jesus zu Martha: «Du hast den Sieg schon in deiner Hand». S. 275
• 276. Magdalena im Haus des Pharisäers Simon. S. 277
• 277. «Viel wird dem verziehen der viel liebt. S. 280
• 278. Erwägungen über die Bekehrung Maria Magdalenas. S. 282
• 279. «Es lohnt sich, eine Freundschaft zu verlieren, um eine Seele zu
gewinnen». S. 285
• 280. In Begleitung von Maria Magdalena unter den Jüngerinnen. S. 292
• 281. Das Gleichnis von den Fischern. S. 297
• 282. Margziam lehrt Magdalena das Vaterunser. S. 303
• 283. Jesus zu Philippus:«Ich bin der machtvolle Liebhaber»; Das Gleichnis
von der verlorenen Drachme. S. 306
• 284. «Wissen ist nicht Verderben, wenn es Religion ist». S. 312
• 285. Im Haus von Kana. S. 321
• 286. Johannes wiederholt die Rede Jesu auf dem Tabor. S. 329
• 287. Jesus in Nazareth. S. 335
• 288. Der Sabbat in der Synagoge von Nazareth. S. 341
• 289. Die Mutter unterrichtet Magdalena. S. 350
• 290. Zu Bethlehem in Galiläa. S. 355
• 291. «Die Berufung ist mehr als Blut. Auf dem Weg nach Sycaminon. S. 366
• 292. An die Jünger von Sycaminon: «Sich selbst verzehren. S. 370
• 293. In Tyrus;«Beharrlichheit ist das grosse Wort. S. 380
• 294. Zu den Jüngern von Sycaminon:«Der Glaube. S. 384
• 295. Jesus sagt Magdalena:«Ich werde dich schmieden mit Feuer und Ambos». S.
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230. ANKUNFT IN ESDRELON UND
AUFENTHALT BEI MICHÄAS
Als Jesus zu den Feldern
Jochanans kommt, beginnt die Röte des Sonnenuntergangs den Himmel zu färben.
«Freunde, beschleunigen wir
unsere Schritte, bevor die Sonne untergeht. Du, Petrus, geh mit deinem Bruder
voraus und melde uns bei unseren Freunden an; bei jenen, die für Doras
arbeiteten.»
«Ich gehe, ja, auch um zu sehen,
ob der Sohn wirklich fort ist.» Petrus sagt das Wort "Sohn" auf eine Art, die
eine ganze Rede ersetzt. Dann eilt er fort.
Jesus geht nun etwas langsamer
und schaut umher, ob er irgendeinen der Landarbeiter des Jochanan sehe. Aber
da sind nur die fruchtbaren Felder mit den schon wohlgeformten Ähren.
Endlich kommt aus dem Gezweig des
Weinbergs ein verschwitztes Gesicht hervor, und eine Stimme ruft aus: «Oh!
Herr, sei gepriesen!»
Der Landarbeiter eilt aus dem
Weinberg, um sich Jesus zu Füßen zu werfen.
«Der Friede sei mit dir, Jesaja!»
«Oh, auch meinen Namen weißt du
noch?»
«Ich habe ihn ins Herz
geschrieben. Steh auf, wo sind deine Kameraden?»
«Dort in den Obstgärten. Ich will
ihnen Bescheid sagen. Du bist doch unser Gast, nicht wahr? Der Herr ist nicht
da, und so können wir feiern. Und dann... ein wenig aus Angst, ein wenig aus
Freude, ist er jetzt freundlicher zu uns. Stell dir vor, er hat uns dieses
Jahr ein Lamm und den Besuch des Tempels zugebilligt! Er hat uns nur sechs
Tage gegeben... aber wir werden uns auf der Straße beeilen... Wir werden in
Jerusalem sein... Stell dir vor! ... Das verdanken wir nur dir!» Der Mann ist
im siebten Himmel vor Freude, daß er als Mensch und als Israelit behandelt
wird.
«Ich habe nichts getan, soviel
ich weiß».... sagt Jesus lächelnd.
«O nein! Du hast viel getan.
Doras, und dann die Felder des Doras. Sieh, wie schön die Felder dieses Jahr
sind... Jochanan hat von deinem Kommen erfahren. Er ist nicht dumm. Er hat
Angst, hat Angst!»
«Vor was?»
«Er fürchtet, es könnte ihm wie
Doras ergehen. Im Leben und mit den Gütern. Hast du die Felder des Doras
gesehen?»
«Ich komme von Naim...»
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«Dann hast du sie nicht gesehen.
Sie sind alle verwüstet. (Der Mann sagt dies leise, aber mit Nachdruck, so als
wollte er im geheimen eine schreckliche Nachricht anvertrauen.) Alles
verwüstet! Kein Heu, keine Garben, kein Obst. Die Reben sind verdorrt, die
Obstbäume vertrocknet... Tot... alles tot... wie in Sodom und Gomorrha...
Komm, komm, ich will sie dir zeigen.»
«Nicht nötig. Ich will zu den
Landarbeitern gehen ...»
«Aber sie sind nicht mehr da!
Weißt du es nicht? Doras, der Sohn des Doras, hat sie alle verstreut oder
entlassen; diejenigen, die er auf andere Ländereien geschickt hat, hat er
verpflichtet, nicht von dir zu reden. Er hat mit der Prügelstrafe gedroht.
Nicht von dir reden! Das wird schwierig sein! Auch Jochanan hat es gesagt.»
«Was hat er gesagt?»
«Er hat gesagt: "Ich bin nicht so
dumm wie Doras und sage nicht zu euch: 'Ich will nicht, daß ihr vom Messias
redet.' Es wäre nutzlos, denn ihr würdet es trotzdem tun, und ich will euch
nicht verlieren und euch wie widerspenstige Tiere unter Peitschenschlägen
sterben sehen. Im Gegenteil, ich sage euch: 'Seid gut, wie der Nazarener es
euch lehrt, und sagt ihm, daß ich euch gut behandle.' Ich möchte nicht auch
verflucht werden." Er sieht ja, was diese Felder sind, die du gesegnet hast,
und was jene dort sind, die du verflucht hast. Oh, da kommen sie, die meinen
Acker gepflügt haben...» und der Mann eilt Petrus und Andreas entgegen.
Doch Petrus grüßt nur kurz, geht
weiter und er schreit: «Oh, Meister! Hier ist niemand mehr! Nur neue
Gesichter. Und alles ist verwüstet. Hier hat er wahrlich keine Arbeiter nötig!
Es ist schlimmer als am Toten Meer! ...»
«Ich weiß es. Isaias hat es mir
gesagt.»
«Aber komm und schau es dir an!
Welch ein Anblick! ...»
Jesus stellt ihn zufrieden,
nachdem er zuvor zu Isaias gesagt hat: «Ich werde also zu euch kommen. Gib den
Freunden Bescheid! Macht keine Umstände. Die Nahrung habe ich selbst. Es
genügt uns ein Heuschuppen zum Schlafen und eure Liebe. Ich werde sofort
kommen.»
Der Anblick der Felder ist
wahrlich trostlos. Äcker und Wiesen sind ausgetrocknet und öde, die Weingärten
dürr, das Laubwerk und die Früchte auf den Bäumen von Millionen von Insekten
jeglicher Art befallen. Der Obstgarten beim Haus gleicht einem sterbenden
Hain. Die Bauern irren umher, reißen Unkraut aus, vernichten Raupen,
Schnecken, Regenwürmer und ähnliche Tiere, indem sie die Zweige rütteln und
Gefäße darunter halten, die mit Wasser gefüllt sind, um die Maden, die Raupen
und alle die Parasiten zu ertränken, welche die übriggebliebenen Blätter
befallen haben und den Baum kahlfressen, so daß er eingehen muß. Die Arbeiter
suchen in den Weinbergen nach Lebenszeichen. Doch die Ranken brechen bei der
leisesten Berührung, so dürr sind sie, und oft fallen
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ganze Rebstöcke zu Boden, als ob
sie mit einer Säge an den Wurzeln abgeschnitten worden wären. Der Unterschied
zu den Feldern des Jochanan mit seinen Obstbäumen und Weingärten ist wirklich
kraß, und die Verwüstung der verfluchten Ländereien erscheint noch
furchtbarer, wenn man sie mit den fruchtbaren Feldern Jochanans vergleicht.
«Der Gott des Sinai hat eine
schwere Hand», murmelt Simon der Zelote.
Jesus macht eine Bewegung, als
wollte er sagen: «Und wie!» Doch er sagt nichts. Er fragt nur: «Wie ist es
geschehen?»
Ein Landarbeiter antwortet
zwischen den Zähnen: «Maulwürfe, Heuschrecken, Würmer... Doch geh fort! Der
Aufseher ist Doras ergeben. Schade uns nicht ...»
Jesus seufzt und geht.
Ein anderer Arbeiter, der in
gebückter Haltung einen Apfelbaum mit einer Stütze versieht, in der Hoffnung,
ihn noch retten zu können, sagt: «Wir werden dich morgen aufsuchen, wenn der
Aufseher nach Jezrael geht, um zu beten... Wir werden in das Haus des Michäas
kommen...»
Jesus macht eine Geste des
Segnens und geht. Als er zum Kreuzweg kommt, sind alle Arbeiter Jochanans
festlich und freudig versammelt und umringen ihren Messias, um ihn zu den
armseligen Hütten zu geleiten.
«Hast du es gesehen?»
«Ich habe es gesehen. Morgen
werden die Landarbeiter des Doras kommen.»
«Ja, während die Hyänen beim
Gebet sind... Wir machen es jeden Sabbat so... und wir reden über dich, über
das, was wir von Jonas erfahren haben, was uns Isaak, der uns oft besucht,
erzählt hat, und über deine Predigt im Tischri. So wie wir zu reden verstehen.
Denn wir müssen von dir sprechen, wir können nicht anders. Und je mehr wir
leiden, um so mehr reden wir von dir; aber es ist verboten. Die Armen... Sie
trinken jeden Sabbat das Leben... Aber in dieser Ebene sind so viele, die
wenigstens von dir wissen müßten, die nicht bis hierher kommen können ...»
«Ich werde auch an sie denken.
Ihr sollt gesegnet sein für das, was ihr tut.»
Die Sonne geht unter, als Jesus
in eine verräucherte Küche eintritt. Die Sabbatruhe hat begonnen.
231. DER SABBAT IN ESDRELON; DER
KLEINE JABE
«Gib Michäas soviel Geld, daß er
morgen alles zurückgeben kann, was er sich heute von den Arbeitern in dieser
Gegend geliehen hat», sagt Jesus zu Judas von Kerioth, der normalerweise die
gemeinsame Kasse verwaltet.
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Dann ruft Jesus Andreas und
Johannes und schickt sie zu zwei Stellen, von wo aus man die Straße oder die
Wege sehen kann, die nach Jezrael führen. Er ruft Petrus und Simon herbei und
schickt sie den Arbeitern des Doras entgegen mit der Weisung, sie an der
Grenze der beiden Besitzungen aufzuhalten. Endlich sagt er zu Jakobus und
Judas: «Nehmt die Verpflegung und kommt mit.»
Es folgen ihnen die Arbeiter
Jochanans, Frauen, Männer und Kinder. Die Männer tragen je zwei kleinere
Krüge, die wahrscheinlich mit Wein gefüllt sind. Jeder von diesen Krügen
enthält wohl um die zehn Liter. (Ich bitte immer, meine Schätzungen nicht als
Glaubenssätze anzunehmen.) Sie gehen dorthin, wo ein dichter, schon ganz mit
neuen Blättern bedeckter Weinberg die Grenze des Besitzes Jochanans anzeigt.
Jenseits befindet sich ein breiter Wassergraben, der mit wer weiß wieviel Mühe
in Ordnung gehalten wird.
«Siehst du? Jochanan hat sich mit
Doras deswegen gestritten. Jochanan sagte: "Es ist die Schuld deines Vaters,
daß alles verwüstet ist. Wenn er den Messias nicht verehren wollte, dann hätte
er ihn wenigstens fürchten, aber nicht herausfordern sollen." Und Doras
brüllte wie ein Dämon: "Du hast deine Felder gerettet wegen dieses Grabens.
Das Ungeziefer hat ihn nicht überschritten..." Und Jochanan sagte: "Warum ist
jetzt alles bei dir verwüstet, während zuvor die Felder die schönsten von
Esdrelon waren? Es ist die Strafe Gottes, glaub mir! Ihr habt das Maß
überschritten. Dieses Wasser?... Das ist immer schon dagewesen, und das ist es
nicht, was mich verschont hat." "Er ist ein Gerechter" ' hat Jochanan
daraufhin geschrien. Und so haben sie sich eine Weile hin- und hergestritten,
solange sie Atem hatten; darauf ließ Jochanan mit großen Ausgaben Wasser vom
Fluß kommen, nach Grundwasser graben und neue Gräben an den Grenzen zwischen
seinem Besitz und dem seines Verwandten ausheben, die noch tiefer sind. Uns
sagte Jochanan, was wir dir gestern schon berichtet haben... Im Grunde ist er
glücklich über das Geschehene. Er ist immer so neidisch auf Doras gewesen...
Nun hofft er, alles kaufen zu können, denn Doras wird nichts anderes
übrigbleiben, als alles für ein paar Drachmen zu veräußern.»
Jesus hört gutmütig alle diese
Mitteilungen an und wartet unterdessen auf die armen Arbeiter des Doras, die
bald kommen und sich auf die Knie werfen, als sie Jesus im Schatten eines
Baumes erblicken.
«Der Friede sei mit euch,
Freunde. Kommt! Heute ist die Synagoge hier, und ich bin euer
Synagogenvorsteher. Aber zuerst möchte ich euer Hausvater sein. Setzt euch im
Kreis nieder, ich will euch die Speise reichen. Heute habt ihr den Bräutigam
hier, und wir wollen ein Hochzeitsmahl halten.»
Jesus öffnet einen Korb und
entnimmt ihm Brote, die er den erstaunten Arbeitern des Doras gibt; aus dem
anderen Korb nimmt er, was aufzutreiben war: Käse, Gemüse, das er kochen ließ,
und ein kleines gekochtes
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Geißchen oder Lämmlein, das er an
die armen Unglücklichen verteilt. Dann schenkt er den Wein aus und läßt den
einfachen Kelch kreisen, damit alle trinken können.
«Aber warum? Aber warum? Und
diese?» sagen die Leute des Doras und zeigen auf die Jochanans.
«Sie haben schon gehabt.»
«Aber diese Ausgaben! Wie
konntest du das tun?»
«Es gibt noch gute Menschen in
Israel», sagt Jesus lächelnd.
«Aber heute ist Sabbat ...»
«Dankt diesem Mann», sagt Jesus
und deutet auf den Mann von Endor. «Er hat das Lamm gespendet. Das andere war
leicht aufzutreiben.»
Die Armen verschlingen – man muß
so sagen – die Speisen, die sie schon lange nicht mehr gekostet haben. Da ist
ein schon alter Mann, der einen Knaben an sich zieht, der vielleicht zehn
Jahre alt ist; er ißt und weint.
«Warum weinst du so, Vater?»
fragt Jesus.
«Weil deine Güte zu groß ist ...»
Der Mann von Endor sagt mit
seiner tiefen Stimme: «Das ist wahr... man muß weinen. Aber es sind keine
bitteren Tränen ...»
«Keine bitteren, das ist wahr.
Und dann... ich habe einen Wunsch. Diese Tränen sind auch eine Bitte.»
«Was möchtest du, Vater?»
«Siehst du dieses Kind? Es ist
mein Enkel. Er ist mir geblieben nach der Seuche dieses Winters. Nicht einmal
Doras weiß, daß er bei mir ist, denn ich lasse den Knaben wie ein wildes Tier
im Wald leben und kann ihn nur am Sabbat sehen. Wenn Doras ihn entdeckte,
würde er ihn verjagen oder zur Arbeit treiben ... dann wäre dieses mein junges
Blut schlimmer dran als ein Arbeitstier ... Zu Ostern werde ich ihn mit
Michäas nach Jerusalem schicken, damit er ein Sohn des Gesetzes wird... und
dann? ... Er ist der Sohn meiner Tochter ...»
«Würdest du ihn lieber mir
mitgeben? Weine nicht! Ich habe viele Freunde, die ehrbar, heilig und
kinderlos sind. Sie würden ihn heiligmäßig erziehen, auf meinem Wege...»
«Oh, Herr! Seit ich von dir
gehört habe, ist dies mein Wunsch. Und ich habe den heiligen Jonas gebeten –
er weiß, was es heißt, einen solchen Herrn zu haben – meinen Enkel vor diesem
Tod zu bewahren ...»
«Kind, willst du mit mir kommen?»
«Ja, mein Herr. Ich will dich
nicht enttäuschen!»
«abgemacht!»
«Aber... wem willst du ihn
geben?» fragt Petrus und zupft Jesus dabei am Ärmel. «Auch ihn dem Lazarus?»
«Nein, Simon. Es gibt viele, die
keine Kinder haben ...»
«Auch ich bin ohne Kinder...» Das
Antlitz des Petrus wird ganz schmal bei diesem Wunsch.
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«Simon, ich habe es dir schon
gesagt: Du wirst der "Vater" aller Kinder sein, die ich dir als Erbschaft
hinterlasse. Aber du darfst die Ketten eines eigenen Kindes nicht haben. Sei
nicht traurig. Du bist dem Meister zu unentbehrlich, und daher kann der
Meister nicht auf dich verzichten wegen einer Anhänglichkeit. Ich verlange
viel, Simon. Ich bin anspruchsvoller als der eifersüchtigste Bräutigam. Ich
liebe dich ganz besonders, und ich will dich ganz für mich haben.»
«Gut, Herr! Gut! Es geschehe nach
deinem Willen.» Der arme Petrus ist heroisch in seiner Ergebenheit.
«Er wird der Sohn meiner
heranwachsenden Kirche sein. Ist es gut so? Er gehört allen und niemand. Er
wird "unser" Sohn sein. Wir werden ihn mit uns nehmen, wenn die Entfernungen
es erlauben, oder er wird uns bisweilen treffen, und seine Pflegeväter werden
die Hirten sein, die in den Kindern "ihr" Jesuskind lieben. Komm her, Kind.
Wie heißt du?»
«Jabe des Johannes; ich bin aus
Judäa», sagt der Knabe ganz bestimmt.
«Ja, wir sind Judäer», bestätigt
der Alte. «Ich habe auf den Feldern des Doras in Judäa gearbeitet, und meine
Tochter war mit einem von dort verheiratet. Ich arbeitete in den Wäldern von
Arimathäa, und diesen Winter...»
«Kam das Unglück...»
«Der Knabe wurde gerettet, weil
er in jener Nacht bei einem entfernten Verwandten war... Er hat den Namen mit
Recht, Herr! Ich habe damals zu meiner Tochter gesagt: "Warum? Erinnerst du
dich nicht an Althergebrachte?" Doch der Mann wollte ihn so nennen, und nun
heißt er Jabe.»
«"Der Knabe wird den Herrn
anrufen, und der Herr wird ihn segnen und seine Grenzen weiten, und die Hand
des Herrn wird auf seiner Hand liegen, und er wird von keinem Übel mehr
befallen werden." Dies wird der Herr geschehen lassen, um dich, Vater, und die
Seelen der Verstorbenen zu trösten, und den Waisenknaben zu stärken. Und nun,
da wir die Bedürfnisse des Leibes von denen der Seele getrennt haben mit einem
Akt der Liebe zum Knaben, hört das Gleichnis, das ich für euch erdacht habe:
Es lebte einst ein sehr reicher
Mann. Er besaß die schönsten Kleider und brüstete sich auf den Straßen und im
Haus mit seinen Purpurgewändern und Damastkleidern, und er wurde von den
Bürgern, die ihm aus Eigennutz schmeichelten, als der Mächtigste des Landes
verehrt. In seinen Gemächern fanden jeden Tag herrliche Gastmähler statt, bei
denen die Menge der Eingeladenen – lauter reiche Leute, nicht Bedürftige –
sich drängte und dem reichen Prasser huldigte. Seine Gastmähler waren bekannt
durch den Überfluß an vorzüglichen Speisen und Weinen.
In der gleichen Stadt lebte aber
auch ein Bettler, ein armer Bettler. Er war so arm, wie der andere reich war.
Doch unter der Kruste der menschlichen Armseligkeit des Bettlers Lazarus war
ein Schatz verborgen, der größer als die Armut des Lazarus und der Reichtum
des Prassers war: die
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Heiligkeit von Lazarus. Er hatte
das Gesetz nie übertreten, nicht einmal in der größten Not, und vor allem
hatte er immer das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe beachtet. Er ging
zu den Türen der Reichen, wie es die Bettler tun, und bat um Almosen, um nicht
verhungern zu müssen. Und jeden Abend ging er zum Tor des Prassers, um
wenigstens einige Überreste der prunkvollen Gastmähler, die in den reichen
Sälen stattfanden, zu erhalten.
Er legte sich bei der Türe auf
den Weg und wartete geduldig. Aber wenn der Prasser ihn gewahr wurde, ließ er
ihn wegjagen, denn der wundenbedeckte, unterernährte Körper in zerrissenen
Kleidern war ein trauriger Anblick für seine Gäste. Der Prasser sagte so. In
Wirklichkeit aber war der Anblick der Armseligkeit und Güte ein andauernder
Vorwurf für ihn. Mitleidiger als er waren seine Hunde, die wohlgenährt waren
und herrliche Halsbänder trugen, sich zu Lazarus gesellten und seine Wunden
leckten und freudig knurrten, wenn Lazarus ihr Fell kraulte. Sie schleppten
die Abfälle der reichen Tafeln herbei, so daß Lazarus dank der Tiere nicht
verhungerte; denn die Menschen hätten ihn sterben lassen, da sie ihm nicht
einmal erlaubten, nach dem Mahle einzutreten und die unter die Tische
gefallenen Reste an sich zu nehmen.
Eines Tages starb Lazarus.
Niemand auf der Welt störte dies, niemand weinte ihm nach. Der Prasser freute
sich vielmehr darüber, daß er nun an seiner Schwelle dieses Elend nicht mehr
sehen mußte, das er "Scheusal" nannte. Aber im Himmel gewahrten die Engel den
Armen. Und bei seinem letzten Atemzug in der kalten leeren Hütte waren die
himmlischen Scharen anwesend, die seine Seele in einen Lichtschein aufnahmen
und sie mit Hosannarufen in Abrahams Schoß trugen.
Nach einiger Zeit starb auch der
Prasser. Oh, welch prächtige Trauerfeier! Die ganze Stadt war über seinen
Todeskampf unterrichtet worden, und die Leute drängten sich auf dem Platz vor
dem Palast, um als Freunde des großen Verstorbenen erkannt zu werden, mehr
noch aus Neugier und Interesse für die Erben. Sie folgten dem Sarg, und mit
den Klagen der Trauer stiegen auch die verlogenen Lobgesänge auf den "Großen",
den "Wohltäter", den "Gerechten" zum Himmel.
Kann Menschenwort das Urteil
Gottes ändern? Nein, dies kann es nicht. Wer gerichtet ist, ist gerichtet, und
was geschrieben ist, ist geschrieben. Und ungeachtet des feierlichen
Begräbnisses wurde die Seele des Prassers in die Hölle verbannt.
In diesem schrecklichen
Gefängnis, mit Feuer und Finsternis gespeist und getränkt, von allen Seiten
mit Haß und Qual umgeben, erhob der Prasser seinen Blick zum Himmel; zum
Himmel, den er für einen kurzen Augenblick, den Bruchteil einer Sekunde, in
seiner unsagbaren Schönheit sah und der ihm für immer vor Augen bleiben sollte
als höchste Qual aller Qualen.
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Er sah dort Abraham; fern, doch
strahlend und selig. Und in dessen Schoß, ebenso strahlend und selig Lazarus,
den armen Lazarus, der einst verachtet, abstoßend und elend war. Nun war er
wunderschön im Lichte Gottes, in seiner Heiligkeit reich an Liebe Gottes, und
wurde nicht von den Menschen, sondern von den Engeln des Himmels bewundert.
Der Prasser rief weinend aus:
"Vater Abraham, erbarme dich meiner! Sende Lazarus, denn ich kann nicht
erwarten, daß du es selbst tust; sende Lazarus, damit er seinen Finger mit
Wasser netze und ihn mir auf die Zunge lege, um sie zu erfrischen; denn ich
leide durch die Flamme, die unaufhörlich in mir brennt!"
Abraham antwortete: "Denk daran,
daß du alle Güter im Leben genossen hast, während Lazarus nur das Leid der
Erde hatte. Er hat es verstanden, aus dem Schlechten Gutes zu machen, während
du all deine Schätze zum Bösen mißbraucht hast. Daher ist es gerecht, daß er
nun getröstet wird, während du leiden mußt. Jetzt ist nichts mehr zu ändern.
Die Heiligen sind über die Erde verstreut, damit die Menschen aus ihnen Nutzen
ziehen. Aber wenn der Mensch trotz ihrer Nähe das bleibt, was er ist – in
deinem Falle ein Dämon – so nützt es nichts, sich an die Heiligen zu wenden,
wenn es zu spät ist. Nun sind wir getrennt. Auf den Wiesen sind die Kräuter
vermischt. Aber wenn sie gemäht worden sind, dann werden die guten von den
schlechten getrennt. So ist es mit euch und mit uns. Wir waren zusammen auf
der Welt. Du hast uns verjagt, hast uns auf vielerlei Weise gequält, hast uns
vergessen und hast gegen die Liebe gefehlt. Jetzt sind wir getrennt. Zwischen
dir und uns ist ein solcher Abgrund, daß jene, die von hier zu euch kommen
möchten, nicht können; und auch ihr, die ihr dort seid, könnt den
schrecklichen Abgrund nicht überqueren, um zu uns zu kommen."
Der Prasser weinte und schrie: "O
heiliger Vater, sende, ich bitte dich, sende den Lazarus in das Haus meines
Vaters. Ich habe fünf Brüder. Ich habe nie verstanden, was Liebe ist, auch
nicht innerhalb der Familie. Aber nun, nun verstehe ich, wie schrecklich es
ist, ohne Liebe zu sein. Und da hier, wo ich bin, Haß herrscht, habe ich
erkannt – in jenem Augenblick, in dem meine Seele Gott sah (beim besonderen
Gerichte), was die Liebe ist. Ich will nicht, daß meine Brüder dasselbe leiden
müssen. Ich habe Angst um sie, denn sie leben, wie ich gelebt habe. Oh, sende
Lazarus zu ihnen, damit er ihnen sage, wo ich bin und warum ich hier bin;
damit er ihnen sage, daß es die Hölle gibt und daß sie schrecklich ist und daß
alle, die Gott und den Nächsten nicht lieben, ins höllische Feuer kommen.
Sende ihn, damit sie noch vorsorgen können, bevor es zu spät ist, damit sie
nicht hierher, an diesen Ort des ewigen Schreckens, kommen müssen."
Abraham aber antwortete: "Deine
Brüder haben Moses und die Propheten. Auf diese sollen sie hören."
Mit dem Jammer einer gequälten
Seele antwortete der Prasser: "Oh,
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Vater Abraham! Ein von den Toten
Auferstandener wird sie mehr beeindrucken... Erhöre mich! Hab Erbarmen!"
Doch Abraham sagte: "Wenn sie
nicht auf Moses und die Propheten gehört haben, dann werden sie auch nicht auf
einen hören, der für eine Stunde von den Toten auferstanden ist, um ihnen
Worte der Wahrheit zu sagen. Übrigens ist es nicht recht, daß ein Seliger
meinen Schoß verläßt, um von den Söhnen des Feindes beleidigt zu werden. Die
Zeit des Unrechts ist für ihn vorbei. Er ist nun im Frieden und bleibt im
Frieden auf Anordnung Gottes, der sieht, daß der Versuch einer Bekehrung
unnütz ist bei allen, die nicht an das Wort Gottes glauben und nicht danach
leben."
Dies ist das Gleichnis, dessen
Bedeutung so klar ist, daß es keiner weiteren Erklärung bedarf.
Hier hat wahrlich der neue
Lazarus, mein Jonas, seine Heiligkeit erlangt. Seine Herrlichkeit in Gott
offenbart sich im Schutz, den jene erfahren, die auf ihn hoffen. Zu euch kann
Jonas als Freund und Beschützer kommen, und er kommt auch, wenn ihr immer gut
seid. Ich würde euch – und ich sage euch, was ich ihm schon im letzten
Frühling gesagt habe – ich würde euch allen gerne helfen, auch materiell, aber
es geht nicht, und das schmerzt mich. Ich kann euch nur auf den Himmel
hinweisen; ich kann euch nur die große Wahrheit der Ergebung lehren und euch
das künftige Reich versprechen. Haßt niemals, aus keinem Grunde! Der Haß ist
mächtig in der Welt. Aber der Haß hat auch seine Grenzen. Die Liebe kennt
keine Grenzen, weder in ihrer Macht, noch in der Zeit. Liebt daher, um die
Liebe als Schutz und Trost auf Erden und als Lohn im Himmel zu besitzen. Es
ist besser, ein Lazarus zu sein als ein Prasser, glaubt es mir! Glaubt es und
ihr werdet selig werden.
Seht in der Verwüstung dieser
Felder nicht Haß, auch wenn die Vorgänge es rechtfertigen könnten. Legt das
Wunder nicht schlecht aus. Ich bin die Liebe, und ich hätte nicht gestraft.
Aber da ich sah, daß die Liebe den grausamen Prasser nicht beugen konnte, habe
ich ihn der Gerechtigkeit überlassen, und diese hat den Märtyrer Jonas und
seine Brüder gerächt.
Lernt dieses aus dem Wunder: Die
Gerechtigkeit ist immer wachsam, auch wenn sie abwesend zu sein scheint, und
da Gott der Herr der ganzen Schöpfung ist, kann er sich der geringsten
Tierlein wie Ameisen und Ungeziefer bedienen, um das Herz des Grausamen und
Gierigen zu züchtigen und ihn an einem Schluck Gift ersticken lassen.
Ich segne euch nun. Jeden Morgen
bete ich für euch. Und du, Vater, hab keine Sorge um das Lamm, das du mir
anvertraust. Ich werde es dir wieder zurückbringen, damit du dich freuen
kannst, zu sehen, daß es an Weisheit, Liebe und Güte auf dem Wege Gottes
zunimmt. Es soll dein Osterlamm sein an diesem armen Osterfest: das
wohlgefälligste der auf dem Altare Jehovas geopferten Lämmer. Jabe,
verabschiede dich vom
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alten Vater, und komm dann zu
deinem Erlöser, zu deinem guten Hirten! Der Friede sei mit euch!»
«Oh, Meister! Guter Meister! Dich
lassen zu müssen! ...»
«Ja, es tut weh! Aber es wäre
nicht gut, wenn der Aufseher euch hier vorfände. Ich bin eigens hierher
gekommen, um Bestrafungen zu vermeiden. Gehorcht aus Liebe zur Liebe, die euch
berät.»
Die Unglücklichen erheben sich
mit Tränen in den Augen und kehren zu ihrem Kreuz zurück. Jesus segnet sie
noch einmal. Dann geht er, seine Hand in der Hand des Knaben, und mit dem
Manne von Endor auf der anderen Seite, auf dem gleichen Weg, auf dem er
gekommen war, zum Haus des Michäas zurück. Auch Andreas und Johannes
vereinigen sich am Ende ihrer Wache wieder mit den Gefährten.
232. VON ESDRELON NACH ENGANNIM
ÜBER MAGEDDO
«Herr, ist der Gipfel dort der
Karmel?» fragt Vetter Jakobus.
«Ja, Bruder. Dies ist die Kette
des Karmel, und der höchste Gipfel gibt seinen Namen dem ganzen Gebirge.»
«Die Welt muß von dort oben schön
sein. Bist du noch nie hinaufgestiegen?»
«Einmal, ganz allein, als ich
eben mit dem Predigen begonnen hatte. An seinem Fuße habe ich meinen ersten
Aussätzigen geheilt. Doch wir wollen zusammen auf den Berg steigen und des
Elias gedenken ...»
«Danke, Jesus! Wie immer hast du
mich verstanden.»
«Und wie immer arbeite ich an
deiner Vervollkommnung, Jakobus.»
«Warum?»
«Der Grund steht im Himmel
geschrieben.»
«Könntest du es mir nicht sagen,
Bruder, du, der du lesen kannst, was im Himmel geschrieben steht?» Jesus und
Jakobus gehen nebeneinander, und nur der kleine Jabe, immer noch an der Hand
Jesu, kann das vertrauliche Gespräch der Vettern hören, die sich zulächeln und
in die Augen schauen.
Jesus legt einen Arm um die
Schultern des Jakobus, zieht ihn näher an sich heran und fragt ihn: «Willst du
es wirklich wissen? Nun gut, ich werde es dir als Rätsel sagen, und wenn du
den Schlüssel dazu findest, dann bist du weise. Höre also! "Die falschen
Propheten hatten sich auf dem Berge Karmel versammelt. Da näherte sich Elias
dem Volke und sprach: 'Wie lange noch hinkt ihr nach zwei Seiten? Wenn der
Herr Gott ist, dann folgt ihm; wenn es Baal ist, so folgt diesem.' Das Volk
antwortete nicht. Dann fuhr Elias fort zum Volke zu reden: 'Von den Propheten
des Herrn bin nur ich geblieben" und die einzige Kraft des Einsamen war der
Ruf:
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'Erhöre mich, Herr, erhöre mich,
damit dieses Volk erkenne, daß du der Herr, unser Gott bist und aufs neue ihre
Herzen bekehrt hast.' Darauf fiel das Feuer des Herrn vom Himmel und verzehrte
das Opfer." Nun, Bruder, kannst du raten.»
Jakobus denkt gesenkten Hauptes
nach, und Jesus betrachtet ihn lächelnd. Sie gehen einige Meter, dann sagt
Jakobus: «Bezieht sich dies auf Elias oder auf meine Zukunft?»
«Auf deine Zukunft, natürlich...»
Jakobus denkt weiter nach, dann
flüstert er: «So werde ich dazu bestimmt sein, Israel aufzufordern, in der
Wahrheit einen Weg zu gehen? So werde ich der sein, der allein in Israel
zurückbleibt? Wenn ja, dann heißt es, daß die anderen verfolgt und vertrieben
werden und daß ... daß ich dich für die Bekehrung dieses Volkes bitten
werde... vielleicht als Priester... vielleicht als Opfer... Aber wenn es so
ist, dann entzünde mich jetzt schon, Jesus...»
«Du bist es schon. Aber du wirst
vom Feuer erfaßt werden wie Elias. Daher werden wir, ich und du, allein auf
den Karmel gehen, um miteinander zu reden.»
«Wann? Nach Ostern?»
«Ja, nach einem Ostern. Dann
werde ich dir viele Dinge sagen...»
Ein schöner kleiner Fluß, der zum
Meere fließt und durch den Frühjahrsregen und die Schneeschmelze Hochwasser
hat, hindert sie am Weitergehen. Petrus eilt herbei und sagt: «Die Brücke ist
weiter oben, dort wo die Straße von Ptolemais nach Engannim ist.»
Jesus kehrt willig zurück und
überschreitet den Bach auf einer starken Brücke aus Stein. Kurz darauf
erscheinen andere Berge und Hügel, aber sie sind nicht hoch.
«Werden wir gegen Abend in
Engannim sein?» fragt Philippus.
«Ganz bestimmt. Aber... jetzt
haben wir den Knaben. Bist du müde, Jabe?» fragt Jesus liebevoll. «Sei
aufrichtig wie ein Engel.»
«Ein wenig, Herr; aber ich will
mich anstrengen.»
«Dieses Kind ist geschwächt»,
sagt der Mann von Endor mit seiner tiefen Stimme.
«Das glaube ich gerne», ruft
Petrus. «Bei dem Leben, das es seit einigen Monaten führt! Komm, ich trage
dich.»
«O nein, Herr. Ermüde dich nicht.
Ich kann schon noch gehen.»
«Komm, komm, du bist bestimmt
nicht schwer. Du gleichst einem unterernährten Vöglein», und Petrus setzt ihn
auf seine Schultern und hält ihn an den Beinen fest.
Sie gehen rascher, denn die Sonne
ist schon heiß und treibt an, die schattigen Hügel zu erreichen.
Sie verweilen in einer Ortschaft,
die ich Mageddo nennen höre, und halten Rast bei einem sehr frischen Brunnen,
der viel Wasser hat, das
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geräuschvoll in ein dunkles
Steinbecken plätschert. Aber niemand aus dem Dorf kümmert sich um die
Wanderer, die namenlos wie viele andere mehr oder weniger reiche Pilger sind,
die zu Fuß oder auf Eseln nach Jerusalem zum Osterfest ziehen. Es herrscht
hier schon eine Freudenstimmung, und viele Kinder sind unter den Wanderern,
die der Gedanke der Zeremonie der "Volljährigkeit" heiter stimmt.
Zwei Knaben aus wohlhabenden
Familien, die zum Brunnen kommen, um zu spielen, während Petrus Jabe mit
tausend Kleinigkeiten zu ergötzen sucht, fragen den Jungen: «Gehst du auch
nach Jerusalem, um ein Sohn des Gesetzes zu werden?»
Jabe antwortet schüchtern: «Ja»;
aber er versteckt sich dabei hinter Petrus.
«Ist das dein Vater? Du bist arm,
nicht wahr?»
«Ich bin arm, ja.»
Die beiden Knaben, vielleicht
Söhne von Pharisäern, prüfen das Kind spöttisch und neugierig und sagen: «Das
sieht man!»
Ja, man sieht es... Sein Gewand
ist recht armselig! Vielleicht ist der Knabe gewachsen, und obgleich der
entfärbte braune Saum bereits ausgelassen worden ist, reicht das Kleid nur bis
zur Mitte der braungebrannten Waden und läßt die mageren Füße frei, die in
zwei unförmigen Sandalen stecken. Letztere werden von Schnüren gehalten, die
sicherlich Schmerzen bereiten.
Die Knaben, die in ihrem
Egoismus, der so vielen Kindern eigen ist, und in ihrer Grausamkeit als böse
Kinder unerbittlich sind, sagen nun: «Oh, dann hast du also kein neues Gewand
für das Fest! Wir hingegen! ... Nicht wahr, Joachim? Ich, ganz rot mit einem
gleichfarbigen Mantel. Er ganz himmelblau. Und wir haben Sandalen mit
silbernen Schnallen und einen kostbaren Gürtel und ein Talet von einer
goldenen Platte gehalten und ...»
«Und ein Herz aus Stein, sage
ich!» platzt Petrus heraus, der eben fertig ist, seine Füße zu erfrischen und
alle Flaschen mit Wasser zu füllen. «Ihr seid böse Buben. Die Zeremonie und
das Kleid sind keine Kröte wert, wenn das Herz nicht gut ist. Ich ziehe lieber
diesen meinen Buben vor! Macht, daß ihr weiterkommt, ihr Hochnäsigen! Geht zu
den Reichen und habt Ehrfurcht vor den Armen und Gerechten. Komm, Jabe! Das
Wasser tut deinen müden Füßchen gut. Komm, ich will sie dir waschen, dann
können wir nachher besser wandern. Oh, die Schnüre haben dir sehr weh getan.
Du darfst nicht mehr gehen. Ich werde dich tragen, bis wir in Engannim sind.
Dort werden wir einen Sandalenmacher finden, und ich werde dir ein Paar neue
Sandalen kaufen.»
Petrus wäscht und trocknet die
kleinen Füße, die schon lange keine solche Fürsorge mehr erfahren haben.
Das Kind sieht ihn an und zögert
etwas; dann aber beugt es sich über
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den Mann, der eben die kleinen
Sandalen schnürt, umarmt ihn mit seinen mageren Ärmchen und sagt: «Wie gut
bist du!» und küßt ihn auf die grauen Haare.
Petrus ist gerührt. Er setzt sich
auf den Boden, dort in die Nässe, wie es gerade kommt, nimmt das Kind auf den
Schoß und sagt: «Dann nenne mich "Vater".»
Es ist ein liebliches Bild. Jesus
nähert sich mit den anderen. Doch zuvor kommen die hochnäsigen Buben noch
einmal, die verwundert zugesehen hatten, und sagen: «Aber er ist doch nicht
dein Vater!»
«Er ist mir Vater und Mutter»,
sagt Jabe bestimmt.
«Ja, liebes Kind, das hast du gut
gesagt: Vater und Mutter! Und ihr, meine lieben Herrchen, ich versichere euch,
er wird nicht schlecht gekleidet zur Zeremonie gehen. Auch er wird ein
königliches Gewand haben, rot wie das Feuer, und einen Gürtel, grün wie das
Gras, und ein Talet, weiß wie der Schnee.»
Obwohl diese Zusammenstellung
nicht gerade harmonisch ist, setzt sie die beiden Hochnäsigen in Erstaunen und
treibt sie in die Flucht.
«Was machst du, Simon, in der
Nässe?» fragt Jesus lächelnd.
«Naß? Ach ja. Nun merke ich es.
Was ich tue? Ich mache mich zum Lamm mit der Unschuld im Herzen. Ach Meister,
Meister! Gut, gehen wir. Aber du mußt mich machen lassen mit diesem Kinde.
Später kannst du den Jungen haben. Aber solange er kein wahrer Israelit ist,
gehört er mir.»
«Aber ja. Du wirst immer sein
Vormund sein, wie ein alter Vater. Bist du zufrieden? Laßt uns gehen, damit
wir bis zum Abend nach Engannim kommen, ohne daß das Kind zu rasch gehen muß.»
«Ich werde ihn tragen. Mein Netz
ist schwerer als er. Er kann nicht gehen mit diesen zwei zerrissenen Sohlen.
Komm!» Und mit seinem Söhnchen beladen, macht sich Petrus glücklich wieder auf
den Weg. Durch nunmehr immer längere Schatten der Obstgärten beginnen sie die
Besteigung der sanften Hügel, von denen aus man einen schönen Ausblick über
die fruchtbare Ebene von Esdrelon hat.
Sie sind schon in der Nähe von
Engannim, das ein schönes Städtchen sein muß, gut mit Wasser versorgt durch
einen hohen, wahrscheinlich römischen Aquädukt. Eine militärische Reitertruppe
nähert sich; sie verlassen die Straße. Die Pferdehufe dröhnen auf der Straße,
die hier, in der Nähe der Stadt, mit einem leichten Pflaster versehen ist, das
man jedoch unter dem Staub und dem Unrat kaum sieht.
«Sei gegrüßt, Meister! Du in
dieser Gegend?» schreit Publius Quintillianus, steigt vom Pferd und geht mit
einem aufrichtigen Lächeln auf Jesus zu, indem er sein Pferd am Zügel hält.
Seine Soldaten gehen im Schritt, um sich ihrem Vorgesetzten anzupassen.
«Ich gehe nach Jerusalem zum
Osterfest.»
«Ich auch. Für die Festtage
werden die Wachen verstärkt, auch weil
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Pontius Pilatus in die Stadt
kommt, und Claudia dasein wird. Wir sind ihre Stafette. Die Wege sind so
unsicher. Die Adler treiben die Schakale in die Flucht», lacht der Soldat und
blickt Jesus an.
Dann sagt er leiser: «Doppelte
Wache dieses Jahr, um den Rücken des schmutzigen Antipas zu decken. Es
herrscht viel Unzufriedenheit über den Arrest des Propheten. Unzufriedenheit
in Israel und Unzufriedenheit unter uns. Aber... wir haben schon daran
gedacht, dem Hohenpriester und seinen Gesellen eine wohltätige Flötenmusik
blasen zu lassen», und mit flüsternder Stimme: «Geh daher unbesorgt! Alle
Krallen haben sich bereits in die Pfoten zurückgezogen. Ha, ha! Sie fürchten
uns. Es genügt schon, daß wir uns räuspern, und sie nehmen es schon für
Löwengebrüll. Wirst du in Jerusalem reden? Komm zum Prätorium. Claudia spricht
von dir als einem großen Philosophen. Das ist gut für dich, denn... der
Prokonsul ist Claudia.»
Er schaut um sich und sieht
Petrus schwerbeladen, rot und verschwitzt.
«Und dieses Kind?»
«Ein Waisenkind, das ich zu mir
genommen habe.»
«Aber dein Mann hier müht sich
zuviel ab. Kind, traust du dich, einige Meter auf dem Pferd zu reiten? Ich
werde dich mit mir auf den Sattel nehmen und langsam reiten. Ich werde dich
dann am Stadttor... diesem Manne zurückgeben.»
Das Kind wehrt sich nicht, es muß
sanft sein wie ein Lamm, und Publius hebt es zu sich in den Sattel. Während er
den Soldaten den Befehl gibt, langsam zu reiten, sieht er auch den Mann von
Endor. Er schaut ihn fest an und sagt: «Du bist hier?»
«Ja, ich habe es aufgegeben, den
Römern Eier zu verkaufen. Aber die Hühner sind noch dort. Nun bin ich mit dem
Meister...»
«Gut für dich. Da hast du mehr
Halt. Leb wohl! Sei gegrüßt, Meister, ich erwarte dich bei der Baumgruppe.»
Und er gibt die Sporen.
«Du kennst ihn, und er kennt
dich?» fragen mehrere Johannes von Endor.
«Ja, als Hühnerlieferant. Zuerst
kannte er mich nicht. Doch einmal wurde ich nach Naim beordert, um die Preise
auszumachen, und da war er dort. Seither hat er mich immer gegrüßt, wenn ich,
um Bücher oder sonstiges einzukaufen, nach Caesarea kam. Er nennt mich Zyklop
oder Diogenes. Er ist nicht böse, und obgleich ich diese Römer hasse, habe ich
ihn nie beleidigt, denn er konnte mir nützlich sein.»
«Hast du gehört, Meister? So hat
meine Einsprache beim Centurio in Kapharnaum etwas genützt. Nun bin ich
beruhigt», sagt Petrus.
Sie erreichen die Baumgruppe, in
deren Schatten die Reiter abgestiegen sind.
«Hier gebe ich dir den Knaben
zurück. Hast du etwas zu besorgen, Meister?»
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«Nein, Publius. Gott möge sich
dir zeigen.»
«Leb wohl!» Er steigt wieder auf,
gibt die Sporen, und die Seinen folgen ihm mit großem Hufgeklapper und
Eisengeklirr.
Sie betreten die Stadt; Petrus
geht mit dem Kind Sandalen kaufen.
«Dieser Mann stirbt am Wunsche
nach einem Sohne», sagt der Zelote, und er fügt hinzu: «Er hat recht.»
«Und ich werde sie ihm zu
Tausenden geben. Nun wollen wir uns nach einem Obdach umsehen, um morgen in
aller Frühe aufzubrechen.»
233. VON ENGANNIM NACH SICHEM IN
ZWEI TAGEN
Auf den Straßen, die immer mehr
mit Pilgern überfüllt sind, setzt Jesus seinen Weg nach Jerusalem fort. Ein
nächtlicher Wolkenbruch hat die Straße mit etwas Schlamm überzogen, doch
gleichzeitig die Luft vom Staub befreit. Die Felder gleichen einem vom Gärtner
wohlgepflegten Garten.
Alle gehen rascher, denn sie sind
nach dem Aufenthalt ausgeruht, und das Kind mit seinen neuen Sandalen muß nun
nicht mehr beim Gehen Schmerzen leiden, sondern beginnt immer vertrauensvoller
zu werden und redet mit diesem und mit jenem. Es vertraut Johannes an, daß
sein Vater auch Johannes und seine Mutter Maria geheißen haben, und daß es
deshalb Johannes sehr gern hat. «Aber», so beendet es sein Geplauder, «ich
habe schon alle sehr gern, und im Tempel werde ich viel, viel beten, für alle
und besonders für den Herrn Jesus.»
Es ist rührend zu sehen, wie
diese Gruppe meist kinderloser Männer so väterlich und voller Fürsorge für den
kleinsten Jünger Jesu ist. Selbst der Mann von Endor bekommt ein milderes
Aussehen, wenn er den Kleinen drängt, ein Ei auszutrinken, oder in die Wälder
hinaufsteigt, welche die Hügel und die immer höher werdenden Berge grün
erscheinen lassen; sie werden durch Täler getrennt, durch welche die
Hauptstraße führt... Der Mann pflückt Zweige mit säuerlichen Blättern oder
Stengeln von wildem Fenchel und gibt sie dem Kinde, damit es seinen Durst
stillen kann, der mit Wassertrinken nur noch größer würde; er lenkt den Knaben
von der Länge des Weges ab und macht ihn auf verschiedene Dinge und Aussichten
aufmerksam.
Der ehemalige Erzieher von Citium,
den menschliche Schlechtigkeit ruiniert hat, lebt für dieses Kind: für ein
Elend, wie er selbst ein Elend ist; er lebt wieder auf und glättet die Runzeln
des Unglücks und der Bitterkeit mit einem freundlichen Lächeln. Jabe ist nun
nicht mehr so armselig mit seinen neuen Sandalen und dem weniger traurigen
Gesicht, auf dem, ich weiß nicht welche apostolische Hand dafür gesorgt hat,
alle Zeichen eines
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während vieler Monate geführten
Lebens auszulöschen, indem sie ihm die Haare, die bis dahin unordentlich und
staubig waren, nach einer energischen Wäsche schön frisiert hat. Auch der Mann
von Endor, der immer noch staunt, wenn er sich Johannes nennen hört, dann aber
sein Haupt schüttelt mit einem verständnisvollen Lächeln über sein kurzes
Gedächtnis, ist sehr verändert. Tag für Tag verliert sein Gesicht immer mehr
von der Härte, die es hatte, und nimmt einen ernsten Ausdruck an, der keine
Angst einflößt. Natürlich vermehrt sich in beiden, die durch die Güte Jesu
wieder aufleben, die Liebe zum Meister. Die Gefährten sind gut, aber Jesus...
Wenn er sie betrachtet oder mit ihnen spricht, dann drücken ihre Gesichter
Glückseligkeit aus.
Sie haben nun das Tal und einen
schönen grünen Hügel hinter sich, von dessen Höhe man noch einmal die Ebene
von Esdrelon überblicken kann. Das hat den Knaben seufzen lassen: «Was wird
der alte Vater machen?» worauf er mit einem traurigen Seufzer und einem
Tränenschimmer in den braunen Augen hinzugefügt hat: «Oh, er ist nicht so
glücklich wie ich... und dabei ist er so gut!» Und die Klage des Knaben hat
über alle einen Schleier der Traurigkeit geworfen.
Nun gelangen sie in ein
fruchtbares Tal, dessen Felder und Ölgärten gepflegt sind. Der leise Wind
bedeckt das Erdreich mit den schneeweißen Blütchen der Reben und der ersten
Oliven. Die Ebene von Esdrelon ist nun endgültig den Augen entschwunden.
Eine kurze Rast für die Mahlzeit,
dann geht die Wanderung nach Jerusalem weiter. Es muß stark geregnet haben,
oder dies ist eine Gegend mit viel Grundwasser, denn die Wiesen gleichen einem
niedrigen Sumpf, soviel Wasser schimmert zwischen den dichten Kräutern. Und
selbst die etwas höher liegende Straße ist mit Schlamm bedeckt. Die
Erwachsenen schürzen sich die Gewänder, damit sie keine Schlammkruste
bekommen, und Judas Thaddäus nimmt das Kind auf die Schultern, damit es sich
ausruhen kann, und sie rascher aus dieser feuchten und vielleicht ungesunden
Gegend kommen. Sie überwinden noch einige Hügel und ein felsiges, trockenes
Tal, und der Tag neigt sich bereits, als sie ein Dorf erreichen, das auf einer
felsigen Anhöhe liegt. Sie bahnen sich einen Weg durch die Menge der Pilger
und suchen Unterkunft in einer sehr einfachen Herberge: einer Überdachung,
unter der viel Heu liegt, weiter nichts.
Die Pilgerfamilien, die da und
dort beim Abendessen sitzen, haben Kleine Lampen angezündet; arme Familien wie
die apostolische, denn die Reichen haben ihre Zelte außerhalb der Ortschaft
aufgeschlagen und vermeiden den Kontakt mit den Bewohnern des Dorfes und den
armen Pilgern.
Die Nacht ist hereingebrochen,
und rundherum wird es still... Der Erste, der in den Schlaf sinkt, ist der
Knabe, der müde im Schoß des Petrus liegt. Der Apostel bettet ihn auf das
Stroh und deckt ihn sorgfältig zu.
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Jesus versammelt die Erwachsenen
zum Gebet, dann wirft sich jeder auf sein Lager, um sich von dem weiten Weg
auszuruhen.
Am anderen Tage: Die
Apostelgruppe, die am Morgen aufgebrochen ist, trifft gegen Abend in Sichern
ein, nachdem sie Samaria hinter sich gelassen hat. Sichern ist eine schöne
Stadt, die mit einer Mauer umgeben ist und prächtige Bauten hat, um die sich
schöne Häuser ordentlich gruppieren. Ich habe den Eindruck, daß die Stadt, wie
Tiberias, erst vor kurzem nach römischem Muster neu aufgebaut worden ist. Die
Mauer ist von sehr fruchtbarem und gut bebautem Ackerland umgeben. Die Straße,
die aus Samaria nach Sichern führt, hat viele Kurven mit Stützmauern, was mich
an die Hügel von Fiesole erinnert; man hat von ihr eine herrliche Aussicht auf
grüne Berge im Süden und auf eine wunderschöne Ebene gegen Westen.
Die Straße neigt sich dem Tale
zu, doch ab und zu steigt sie wieder an, um über die Hügel zu führen, welche
die Gegend von Samaria beherrschen. Diese zeigt schöne Anpflanzungen von
Olivenbäumen, Getreide und Weingärten, über denen in der Höhe Eichenwälder und
andere Wälder mit hochgewachsenen Bäumen wachsen, die ein Segen sind und
verhindern, daß die Winde, die in den Tälern leicht Wirbel bilden, die
Kulturen verwüsten. Das erinnert mich an viele Stellen im Apennin um Amiata
herum, wenn das Auge die flachen und wächsernen Kulturen der Maremma, die
festlichen Hügel und die ernsten Berge betrachtet, die höher werden im Inneren
des Landes. Ich weiß nicht, wie heute die Landschaft von Samaria aussieht.
Damals war sie sehr schön.
Nun zeigt sich zwischen den
beiden hohen Bergen, den höchsten der Gegend, ein fruchtbares, wasserreiches
Tal und in dessen Mitte die Stadt Sichern.
Hier wird Jesus mit den Seinen
von der festlichen Karawane des Gefolges des Konsuls eingeholt, die sich
ebenfalls zum Fest nach Jerusalem begibt. Sklaven zu Fuß und Sklaven auf
Wagen, um den Transport der Gegenstände zu bewachen. Mein Gott, wieviel Zeug
konnten sie damals mitschleppen! Und wieder Wagen mit Sklaven und Wagen mit
allem Möglichen, auch kompletten Sänften und Reisewagen. Letztere sind
geräumig auf vier Rädern, gut gefedert und bedeckt, in denen die Damen reisen.
Und wieder Wagen und Sklaven...
Ein Vorhang wird von einer
ringgeschmückten Frauenhand bewegt, und es erscheint das ernste Profil der
Plautina, die wortlos grüßt, aber lächelt. Valeria macht es ebenso. Sie hat
ihre Kleine zwischen den Knien, die lacht und plappert. Ein zweiter, noch
pompöserer Reisewagen fährt vorbei, ohne daß der Vorhang bewegt wird. Doch als
er schon vorbeigefahren ist, erscheint auf seiner Rückseite zwischen den
zurückgezogenen Vorhängen das rosige Angesicht Lydias, die eine Geste der
Verneigung macht. Die Karawane entfernt sich.
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«Die reisen gut!» sagt Petrus,
der müde ist und schwitzt. «Aber mit Gottes Hilfe werden auch wir morgen in
Jerusalem sein.»
«Nein, Simon. Ich muß einen Umweg
über den Jordan machen.»
«Aber warum, Herr?»
«Des Kindes wegen. Es ist sehr
traurig, und es würde noch trauriger, wenn es den Berg des Unglücks
wiedersähe.»
«Aber wir werden ihn nicht sehen!
Oder besser: wir wollen ihn von einer anderen Seite sehen... und ich werde
dafür sorgen, daß der Knabe abgelenkt wird, ich und Johannes... Er läßt sich
sofort ablenken, dieses arme Täubchen ohne Nest. In Richtung Jordan gehen? O
weh! Besser, diesem direkten kurzen, sicheren Weg folgen. Nein, nein! Diesen,
diesen Weg! Siehst du, auch die Römerinnen nehmen ihn. Längs des Meeres und
des Flusses dampfen die Fieber nach diesen Regenfällen des Frühlings. Hier ist
es gesünder. Und... Wann würden wir ankommen, wenn wir den Weg noch
verlängern? Denk daran, wie erregt deine Mutter sein wird nach dem schlimmen
Vorfall mit dem Täufer! ...» Petrus setzt sich durch, und Jesus gibt nach.
«Wir werden uns bald und gut
ausruhen und morgen beim Sonnenaufgang aufbrechen, damit wir übermorgen in
Gethsemane sind. Dann wollen wir am Tag nach dem Freitag zur Mutter nach
Bethanien gehen, wo wir die Bücher des Johannes lassen, die euch sehr belastet
haben, und Isaak finden, dem wir diesen armen Bruder anvertrauen wollen.»
«Und das Kind, gibst du es gleich
weg?»
Jesus lächelt: «Nein, ich werde
es zur Mutter bringen, damit sie es für "sein" Fest vorbereitet. Dann nehmen
wir das Kind mit uns für Ostern. Doch nachher müssen wir es weggeben... Hänge
nicht zu sehr an ihm, oder besser, liebe es wie dein eigenes, aber im
übernatürlichen Sinne. Du siehst, es ist schwach und müde. Ich hätte es gerne
unterrichtet und, genährt von der Weisheit, heranwachsen lassen. Aber ich bin
der Unermüdliche, und Jabe ist zu jung und zu schwach, um unsere Mühen
durchzustehen. Wir werden durch Judäa ziehen, für Pfingsten nach Jerusalem
zurückkehren, und darauf, die Botschaft verkündend, wandern... Wir werden das
Kind im Sommer in unserer Heimat finden. Nun sind wir am Tore von Sichern. Geh
mit deinem Bruder und Simon des Judas voraus und besorge eine Unterkunft. Ich
gehe zum Marktplatz und erwarte dich dort.»
Sie trennen sich, und während
Petrus davoneilt, um eine Unterkunft zu suchen, kommen die anderen nur mühsam
auf der Straße voran, die verstopft ist von schreienden und gestikulierenden
Menschen, sowie von Eseln und Karren, die alle nach Jerusalem zum
bevorstehenden Osterfest ziehen. Stimmen, Rufe und Schimpfworte vermischen
sich mit den Eselsschreien, alles zusammen hallt in den Gassen wider und
bildet ein Geräusch, das an jenes erinnert, das man vernimmt, wenn man
bestimmte Muscheln ans Ohr hält. Das Echo hallt von Bogen zu Bogen, wo sich
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schon die Schatten vereinigen,
und die Leute suchen, vorwärtsgedrängt, nach einem Obdach, einem Platz, einer
Wiese, um dort die Nacht zu verbringen...
Jesus, das Kind an der Hand und
an einen Baum gelehnt, erwartet Petrus auf einem Platze, der bei solchen
Gelegenheiten stets voller Händler ist.
«Daß uns ja niemand sieht und
erkennt!» sagt Iskariot.
«Wie kann man ein Korn im Sand
erkennen?» antwortet Thomas. «Siehst du die Menschenmenge nicht?»
Petrus kommt. «Außerhalb der
Stadt gibt es ein Dach und darunter Heu. Ich habe nichts anderes gefunden.»
«Wir suchen nichts anderes! Es
ist schon zu schön für den Menschensohn.»
234. VON SICHEM NACH BEEROTH
Wie ein Fluß, der durch immer
neue Zuflüsse anschwillt, so wird auch die Straße von Sichern nach Jerusalem
von immer mehr Menschen aus den Nebenstraßen erfüllt, die alle zur heiligen
Stadt pilgern. Es ist so für Petrus leichter, das Kind abzulenken, das nahe an
den heimatlichen Hügeln vorbeikommt, in deren Erde die Eltern begraben sind.
Nach einem langen Marsch, der
erst unterbrochen wird, nachdem sie Silo auf seinem Berg linker Hand hinter
sich gebracht und in einem grünen, wasserreichen Tal etwas geruht und Speise
zu sich genommen haben, nehmen sie die Wanderung wieder auf und bezwingen
einen Kalkhügel, der beinahe kahl ist und auf den die Sonne unbarmherzig
brennt. Der Abstieg führt durch eine Reihe von schönen Weingärten, die mit
ihren Girlanden die Bergvorsprünge schmücken, jedoch die Gipfel sehen lassen.
Petrus gibt mit einem
verschmitzten Lächeln Jesus ein Zeichen, der ebenfalls lächelt. Das Kind merkt
nichts, denn es hört aufmerksam Johannes von Endor zu, der ihm von anderen
Ländern erzählt, die er gesehen hat, und in denen es zuckersüße Trauben gibt,
die jedoch weniger für den Wein benützt werden, als für Süßigkeiten, die
besser schmecken als Honigkuchen.
Nun kommt ein neuer mühsamer
Anstieg, da die Gruppe die staubige und überfüllte Hauptstraße verlassen und
eine waldige Abkürzung vorgezogen hat.
Als sie die Anhöhe erreicht
haben, sehen sie in der Ferne ein glänzendes Meer, das über einer weißen
Siedlung leuchtet, vielleicht von weiß gekalkten Häusern.
«Jabe», ruft Jesus. «Komm her.
Siehst du den goldenen Punkt? Es ist
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das Haus Gottes. Dort wirst du
schwören, dem Gesetz zu gehorchen. Aber kennst du es auch gut?»
«Mama hat mir davon gesprochen,
und mein Vater hat mich die Gebote gelehrt. Ich kann lesen und glaube noch
alles zu wissen, was sie mir vor ihrem Tod gesagt haben ...» Das Kind, das
lächelnd dem Ruf Jesu gefolgt ist, weint nun; es neigt das Köpfchen, und das
Händchen zittert in der Hand Jesu.
«Weine nicht. Höre! Weißt du, wo
wir sind? Dies hier ist Bethel. Hier hatte der heilige Jakobus seinen Traum
von den Engeln. Weißt du das? Erinnerst du dich daran?»
«Ja, Herr. Er sah eine Leiter,
die von der Erde bis zum Himmel reichte, auf der die Engel auf- und abstiegen,
und die Mama sagte, wenn man bis zur Stunde des Todes immer gut gewesen ist,
dann kann man das gleiche erfahren und auf der Leiter in das Haus Gottes
gehen. Viele Dinge hat mir die Mama gesagt... doch jetzt sagt sie nichts
mehr... Ich habe alles hier, und das ist alles, was ich von ihr habe...» Die
Tränen rinnen über das traurige Gesichtchen.
«Aber weine doch nicht so! Höre,
Jabe! Auch ich habe eine Mutter, die Maria heißt und die heilig und gut ist
und viele schöne Dinge weiß. Sie ist klüger als ein Lehrer und besser und
schöner als ein Engel. Nun wollen wir zu ihr gehen. Sie wird dich liebhaben.
Sie wird dir viele Dinge sagen. Und mit ihr ist die Mama des Johannes; auch
sie ist gut, und auch sie heißt Maria. Und die Mutter meines Vetters Judas;
auch sie ist gut wie Honigbrot und trägt den Namen Maria. Sie alle werden dich
liebhaben. Sehr lieb, denn du bist ein gutes Kind, aus Liebe zu mir, der ich
dich sehr liebhabe. Du wirst bei den drei Marien heranwachsen, und wenn du
groß bist, wirst du ein Heiliger Gottes sein und wie ein Gelehrter über Jesus
predigen, der dir wieder eine Mutter auf Erden gegeben hat, und der die
Pforten des Himmels für deine tote Mutter, deinen Vater und auch für dich
öffnen wird, wenn die Stunde gekommen ist. Du wirst es in der Stunde deines
Todes nicht einmal nötig haben, die lange Leiter zum Himmel hinaufzusteigen,
denn du wirst sie schon während deines Lebens erstiegen haben, da du ein guter
Jünger sein wirst; du wirst an der Schwelle des geöffneten Paradieses stehen,
und ich werde dort sein und zu dir sagen: "Komm, mein Freund und Kind Marias",
und dann werden wir beisammen bleiben.»
Das strahlende Lächeln Jesu, der
etwas gebeugt geht, um dem zu ihm aufblickenden Gesichtchen des Kindes, das
neben ihm geht und sein Händchen in Jesu Hand hat, näher zu sein, und die
wunderbare Erzählung trocknet die Tränen und lockt ein Lächeln hervor.
Das Kind, das bestimmt nicht dumm
ist, sondern nur verstört von soviel Leid und Entbehrungen, die es erdulden
mußte, hört aufmerksam zu und fragt dann: «Aber du sagst, daß du die Pforten
des Himmels öffnen
28
wirst. Sind sie denn nicht wegen
der großen Sünde verschlossen? Mama sagte mir, daß niemand eintreten kann,
bevor die Verzeihung erfolgt ist, und daß die Gerechten in der Vorhölle darauf
warten.»
«So ist es! Doch nachdem ich das
Wort Gottes verkündet und die Verzeihung für euch erlangt habe, werde ich zum
Vater gehen und zu ihm sagen: "Mein Vater, jetzt habe ich deinen Willen
erfüllt. Nun erbitte ich die Belohnung für mein Opfer. Es sollen die Gerechten
kommen, die auf dein Reich warten." Und der Vater wird zu mir sagen: "Es
geschehe, wie du willst." Und dann werde ich hinabsteigen und alle Gerechten
rufen, und die Vorhölle wird ihre Pforten öffnen beim Klang meiner Stimme, und
die heiligen Patriarchen, die erleuchteten Propheten, die gesegneten Frauen
von Israel und viele, viele Kinder werden jubelnd hinaufziehen. Weißt du, wie
viele Kinder? Wie eine Wiese voller Blumen jeglichen Alters! Und sie werden
singend mir folgen und aufsteigen in das schöne Paradies.»
«Und wird auch meine Mama unter
ihnen sein?»
«Ganz bestimmt.»
«Du hast nicht gesagt, daß sie
mit dir an der Pforte stehen wird, wenn ich gestorben bin ...»
«Sie, und mit ihr dein Vater,
haben es nicht nötig, an jener Pforte zu stehen. Wie leuchtende Engel fliegen
sie vom Himmel zur Erde, von Jesus zu ihrem kleinen Jabe, und wenn du im
Sterben liegst, dann werden sie es wie die Vöglein dort in jenen Hecken
machen. Siehst du sie?» Jesus nimmt das Kind in seine Arme, damit es besser
sehen kann. «Siehst du, wie sie auf ihren kleinen Eiern sitzen? Sie warten,
bis sich diese öffnen; dann werden sie ihre Flügel über die Brut breiten und
sie vor jeder Gefahr beschützen; dann, wenn die Kleinen größer und flügge
sind, tragen sie dieselben auf ihren starken Flügeln in die Höhe, immer höher,
der Sonne entgegen. So werden es deine Eltern mit dir tun.»
«Wird es genauso sein?»
«Genauso.»
«Aber wirst du es ihnen sagen,
damit sie nicht vergessen zu kommen?»
«Das ist nicht nötig, denn sie
lieben dich über alles; aber ich werde es ihnen sagen!»
«Oh, wie ich dich liebhabe!»
Das Kind, noch in den Armen Jesu,
legt ihm die Arme um den Hals und küßt ihn mit einer freudigen, rührenden
Bewegung. Jesus erwidert den Kuß und stellt das Kind auf den Boden.
«Gut. Nun gehen wir weiter zur
heiligen Stadt. Wir werden gegen morgen abend dort ankommen. Warum eine solche
Eile? Kannst du es mir sagen? Wäre es nicht einerlei, wenn wir übermorgen
ankommen würden?»
«Nein! Es wäre nicht dasselbe,
denn morgen ist Parasceve, und nach Sonnenuntergang darf man nicht mehr als
sechs Stadien gehen. Weiter darf man nicht gehen, denn der Sabbat und die Ruhe
haben begonnen.»
29
«So ist man also am Sabbat
müßig?»
«Nein, man betet den
Allerhöchsten, den Herrn, an.»
«Wie heißt er?»
«Adonai. Nur die Heiligen dürfen
seinen Namen nennen.»
«Auch die guten Kinder. Sag ihn,
wenn du ihn weißt!»
«Jahwe.» (Das Kind spricht das
Wort mit einem langgezogenen a aus.)
«Und warum betet man zum
Allerhöchsten Herrn am Sabbat?»
«Weil er es Moses befohlen hat,
als er ihm die Gesetzestafeln gegeben hat.»
«Ja? Und was hat er da gesagt?»
«Er hat gesagt, daß man den
Sabbat heiligen soll. "Du sollst sechs Tage arbeiten; doch am siebten Tage
sollst du ruhen und ausruhen lassen, denn auch ich habe es so gemacht nach der
Erschaffung der Welt."»
«Wie, der Herr hat sich
ausgeruht? Ist er denn bei der Schöpfung müde geworden? Hat er wirklich alles
erschaffen? Woher weißt du es? Ich weiß, daß Gott nie müde wird.»
«Er ist nicht müde geworden, denn
Gott braucht nicht zu gehen und seine Arme zu bewegen. Er hat es getan, um
Adam und uns zu belehren und um uns einen Tag zu geben, an dem wir an ihn
denken sollen. Er hat alles erschaffen, das ist sicher. Das Buch des Herrn
sagt es.»
«Aber ist das Buch von ihm
geschrieben worden?»
«Nein. Aber es ist die Wahrheit.
Und man muß daran glauben, uni nicht bei Luzifer zu enden.»
«Du hast gesagt, daß Gott nicht
geht und seine Arme nicht bewegt. Wie hat er dann erschaffen können? Wie ist
er denn? Eine Statue?»
«Er ist kein Götze. Er ist Gott.
Und Gott ist... Gott ist... laß mich nachdenken und mich daran erinnern, was
Mama gesagt hat, und besser noch als sie der Mann, der in deinem Namen die
Armen von Esdrelon besucht... Die Mama sagte, um mir Gott verständlich zu
machen: "Gott ist wie meine Liebe zu dir. Sie hat keinen Leib, und doch ist
sie." Und der kleine Mann mit dem so sanften Lächeln sagte: "Gott ist der eine
und dreieinige ewige Geist, und die zweite Person hat Fleisch angenommen aus
Liebe zu uns, zu uns Armen, und er hat den Namen..." Oh, Herr! Nun verstehe
ich... daß du es bist!» Und das erschrockene Kind wirft sich anbetend zur
Erde.
Alle kommen eilends herbei, da
sie annehmen, daß das Kind gefallen sei.
Doch Jesus fordert sie mit dem
Finger an den Lippen zum Schweigen auf und sagt dann: «Steh auf, Jabe! Die
Kinder brauchen vor mir keine Angst zu haben!»
Das Kind blickt ehrfürchtig zu
Jesus auf, ohne etwas sagen zu können, fast ängstlich. Doch Jesus lächelt,
reicht ihm die Hand und sagt: «Du bist ein kluger kleiner Israelit. Fahren wir
mit der Prüfung fort! Weißt du nun, da du mich erkannt hast, was über mich im
Buch geschrieben steht?»
30
«O ja, Herr! Von Anfang an bis
jetzt. Alles spricht von dir. Du bist der verheißene Erlöser. Nun verstehe
ich, weshalb du die Pforten der Vorhölle öffnen wirst. Oh, Herr, Herr! Und du
liebst mich wirklich sehr?»
«Ja, Jabe!»
«Nein, nicht mehr Jabe. Gib mir
einen Namen, der bedeutet, daß du mich geliebt und gerettet hast ...»
«Den Namen werde ich mit der
Mutter wählen. Ist es recht so?»
«Aber er soll genau diesen Sinn
haben. Und ich will den Namen annehmen an dem Tage, an dem ich Sohn des
Gesetzes werde.»
«Ja, du wirst ihn an diesem Tag
annehmen.»
Bethel liegt nun hinter ihnen,
und in einem kühlen Tal, wo es reichlich Wasser gibt, machen sie Rast und
halten eine Mahlzeit. Jabe ist noch ganz benommen von der Offenbarung; er ißt
schweigend und nimmt ehrfürchtig jeden Bissen entgegen, den Jesus ihm reicht.
Doch langsam wird das Kind gelöster, und nach einem heiteren Spiel mit
Johannes, während die anderen sich auf dem grünen Grase ausruhen, geht es mit
dem lächelnden Johannes zu Jesus zurück, und sie bilden eine Dreiergruppe.
«Du hast mir noch nicht gesagt,
wer über mich im Buch spricht.»
«Die Propheten, Herr. Und noch
zuvor spricht das Buch von dir bei der Vertreibung Adams und dann zu Jakob,
Abraham und Moses... Oh, mein Vater sagte, daß er zu Johannes gegangen war –
nicht zu diesem, zum anderen Johannes, dem vom Jordan – und daß er, der große
Prophet, dich Lamm genannt hatte... Nun verstehe ich das Lamm des Moses... Du
bist das Passahlamm!»
Johannes neckt ihn: «Aber welcher
Prophet hat ihn besser als Johannes vorausgesagt?»
«Isaias und Daniel. Aber mir
gefällt Daniel besser, nachdem ich dich nun wie meinen Vater liebe. Darf ich
es sagen? Darf ich sagen, daß ich dich liebe, wie ich meinen Vater geliebt
habe? Ja? Also, ziehe ich Daniel vor.»
«Und warum? Isaias ist es, der
von Christus spricht.»
«Ja, aber er spricht von den
Schmerzen Christi. Während Daniel vom schönen Engel und von deiner Ankunft
spricht. Ja, auch er sagt, daß Christus geopfert werden wird. Aber ich denke,
daß das Lamm mit einem Schlag getötet wird. Nicht wie Isaias und Daniel sagen.
Ich habe immer geweint, wenn ich dies gehört habe, und Mama hat es mir dann
nicht mehr vorgelesen.»
Das Kind weint beinahe wieder,
während es die Hand Jesu streichelt.
«Denk jetzt nicht daran! Höre!
Kennst du die Gebote?»
«Ja, Herr. Ich glaube, daß ich
sie kenne. Im Wald habe ich sie mir immer vorgesagt, damit ich sie nicht
vergesse und um mich der Worte Mamas und Vaters zu erinnern. Doch nun weine
ich nicht mehr (es ist wirklich ein großes Leuchten in den Augen), denn nun
habe ich dich.»
31
Johannes lächelt, umarmt seinen
Jesus und sagt: «Genau meine Worte! Alle, die ein kindliches Herz haben, reden
so.»
«Ja, denn ihre Worte entspringen
einer einzigen Weisheit. Jetzt müssen wir aber gehen, damit wir bald in
Beeroth sind. Die Menge wächst immer mehr an, und ein Gewitter zieht herauf.
Die Unterkünfte werden im Nu überfüllt sein. Ich will nicht, daß ihr krank
werdet.»
Johannes ruft die Gefährten, und
sie gehen weiter nach Beeroth durch eine Ebene, die nicht sehr bebaut, aber
auch nicht so öde ist, wie der Hügel hinter Silo.
235. VON BEEROTH NACH JERUSALEM
Es regnet. Petrus gleicht einem
umgekehrten Äneas, denn anstelle des eigenen Vaters hat er den kleinen Jabe
auf den Schultern, der ganz in seinen großen Mantel gehüllt ist. Über dem
grauen Kopf des Petrus sieht man das Köpfchen: Das Kind hat die Arme um seinen
Hals geschlungen und lacht, wenn Petrus in die Pfützen tappt.
«Das hätte uns erspart bleiben
können», nörgelt Iskariot, der nervös ist wegen des Wassers, das vom Himmel
fällt und vom Boden her die Kleider bespritzt.
«Oh, viele Dinge könnten uns
erspart bleiben», entgegnet Johannes von Endor und blickt mit seinem einzigen
Auge, das, wie mir scheint, für beide sieht, den schönen Judas fest an.
«Was meinst du damit?»
«Ich will sagen, daß es unnütz
ist, zu verlangen, daß die Elemente Rücksicht auf uns nehmen, wenn wir keine
Rücksicht auf unseresgleichen nehmen, in weit schwerwiegenderen Dingen als
zwei Tropfen Wasser und ein Spritzer Schlamm.»
«Das ist wahr. Aber ich möchte
die Stadt sauber betreten. Ich habe viele Freunde dort, und ziemlich oben ...»
«Paß nur auf, daß du nicht
hinunterfällst!»
«Willst du mich ärgern?»
«Nein, aber ich bin ein alter
Lehrer... und ein alter Schüler. Seit ich lebe, studiere und lerne ich. Zuerst
habe ich gelernt, dahinzuleben; dann habe ich das Leben beobachtet und die
Bitternis des Lebens kennengelernt und habe eine unnütze Gerechtigkeit
ausgeübt, die des "Einer" gegen Gott und gegen die ganze Gesellschaft. Gott
hat mich bestraft mit Gewissensbissen, die Gesellschaft mit Ketten, so daß ich
im Grunde selbst der Gerichtete gewesen bin. Endlich habe ich gelernt, lerne
ich nun, zu "leben". Da ich Lehrer und Schüler bin, wirst du begreifen, daß es
ganz natürlich ist, wenn ich die Lektion wiederhole.»
32
«Aber ich bin der Apostel...»
«Und ich unglücklich, ich weiß;
ich dürfte mir nicht erlauben, dich belehren zu wollen. Aber siehst du, man
weiß nie, was man noch alles tun wird. Ich hatte geglaubt, als ehrsamer und
verehrter Erzieher in Cypern zu sterben, und wurde zum Mörder und ein
lebenslänglicher Zuchthäusler. Aber als ich das Messer erhob, um mich zu
rächen, und als ich die Ketten nachschleppte und das Universum haßte, und wenn
man mir gesagt hätte, daß ich ein Jünger des Heiligen werde, so hätte ich am
Verstand dessen, der dies gesagt hätte, gezweifelt. Und doch, du siehst es!
Daher kann ich, wer weiß, auch dir, Apostel, eine gute Lehre erteilen. Aus
meiner Erfahrung, nicht wegen der Heiligkeit, an sie denke ich nicht.»
«Der Römer hatte recht, als er
dich Diogenes nannte.»
«Ja, aber Diogenes hat den
Menschen gesucht und ihn nicht gefunden. Ich bin glücklicher als er, ich habe
eine Schlange gefunden, als ich glaubte, es sei eine Frau, und einen Kuckuck,
statt einen Freund; aber, nachdem ich viele Jahre herumgeirrt bin und in
dieser Erkenntnis verrückt geworden bin, habe ich den Menschen, den Heiligen
gefunden.»
«Ich kenne nur die Weisheit
Israels.»
«Wenn es so ist, kannst du dich
schon retten. Nun hast du aber auch die Wissenschaft, vielmehr die Weisheit
Gottes.»
«Das ist dasselbe.»
«O nein! Das ist wie ein Regentag
im Vergleich zu einem Tag voll Sonne.»
«Also, du willst mich belehren?
Ich habe keine Lust dazu.»
«Laß mich ausreden. Zuerst habe
ich zu Kindern gesprochen: Sie waren unaufmerksam; dann zu den Schatten: Sie
verfluchten mich; dann zu den Hühnern: Sie waren schon besser als die beiden
ersten, viel besser. Jetzt spreche ich zu mir selbst, da ich noch nicht mit
Gott reden kann. Weshalb willst du mich daran hindern? Ich kann nur mit einem
Auge sehen, das Kreuz schmerzt mich wegen der Arbeit im Bergwerk, und das Herz
ist seit vielen Jahren krank. Erlaube, daß wenigstens mein Geist nicht steril
werde.»
«Jesus ist Gott.»
«Ich weiß es und ich glaube es.
Mehr als du. Denn ich bin durch seinen Eingriff wiedergeboren worden. Aber so
sehr er auch die Güte sein mag, er ist immer ER: Gott! Und ich, der arme
Unglückliche, wage es nicht, in einem so vertraulichen Ton zu ihm zu sprechen
wie du. Meine Seele spricht mit ihm, die Lippen wagen es nicht; nur die Seele,
und ich fühle, daß er sie kennt mit ihren Tränen der Dankbarkeit und ihrer
reuigen Liebe.»
«Das ist wahr, Johannes. Ich höre
deine Seele.» Jesus mischt sich in das Gespräch der beiden ein. Judas wird rot
vor Scham, der Mann aus Endor vor Freude.
33
«Ich höre deine Seele, das ist
wahr. Und ich spüre auch die Arbeit deines Geistes. Du hast gut gesprochen.
Wenn du dich durch mich bilden lassen hast, wird es dir von großem Nutzen
sein, daß du ein aufmerksamer Lehrer und Schüler gewesen bist. Sprich, sprich,
auch zu dir selbst...»
«Es ist noch nicht lange her,
Meister, da hast du gesagt, es sei nicht gut, mit dem eigenen Ich zu reden»,
bemerkt Judas unverschämt.
«Das ist wahr. Ich habe es
gesagt. Aber es war nur, weil du mit deinem eigenen Ich gemurrt hast. Dieser
Mann murrt nicht. Er denkt nach und mit einer guten Absicht. Er tut nichts
Böses.»
«Dann bin ich also im Unrecht!»
Judas wird aggressiv.
«Du hast nur einen Dorn im
Herzen. Es kann nicht immer gutes Wetter sein. Die Landleute wünschen auch
Regen. Und es ist Nächstenliebe, darum zu beten, daß er kommt. Auch dies ist
Liebe. Aber schau, welch schöner Regenbogen sich von Ataroth nach Rama spannt.
Wir haben Ataroth schon hinter uns. Das dunkle Tal ist überwunden, und alles
ist nun schön bebaut und lacht unter der Sonne, welche die Wolken zerreißt.
Wenn wir in Rama ankommen, dann haben wir nur noch 36 Stadien bis Jerusalem.
Wir werden es hinter dem Hügel sehen, dem Ort der schrecklichen Blutschande
der Gibeoniten. Eine schreckliche Sache, der Biß des Fleisches, Judas ...»
Judas antwortet nicht und läßt
seinem Zorn freien Lauf, indem er in die Wasserpfützen patscht.
«Aber was hat er denn heute?»
fragt Bartholomäus.
«Schweige, damit Simon des Jonas
es nicht hört. Wir wollen Streitereien vermeiden und Simon nicht die gute
Laune verderben. Er ist so glücklich mit dem Kind.»
«Ja, Meister, aber es ist nicht
recht. Ich werde es ihm sagen ...»
«Er ist jung, Nathanael. Auch du
warst es einmal ...»
«Ja, aber er sollte es nicht an
Achtung fehlen lassen ...» Ohne es zu wollen, hat er etwas lauter gesprochen.
Petrus kommt herbei: «Was gibt
es? Wer fehlt gegen die Ehrfurcht? Der neue Jünger?» und er schaut nach
Johannes von Endor, der sich still zurückgezogen hat, als er bemerkte, daß
Jesus den Apostel zurechtwies, und nun mit Jakobus des Alphäus und Simon dem
Zeloten spricht.
«Was denkst du! Er ist
ehrfürchtig wie ein Kind.»
«Ah, gut so... Wenn nicht, dann
wäre sein Auge in Gefahr! Dann ist es also Judas! ...»
«Höre, Simon, könntest du dich
nicht um den kleinen Jungen kümmern? Du hast ihn mir weggenommen, und nun
willst du dich in eine freundschaftliche Unterhaltung zwischen mir und
Nathanael mischen. Meinst du nicht, daß du zuviel auf einmal willst?»
Jesus lächelt so ruhig, daß
Petrus über seine Vermutung unsicher wird. Er schaut Bartholomäus an; doch
dieser hat sein Adlergesicht erhoben, um den Himmel zu prüfen... So läßt
Petrus seinen Verdacht fallen.
34
Der Anblick der nun nahen Stadt
mit all ihren Hügeln, Weingärten, Olivenhainen, Häusern und besonders dem
Tempel: ein Anblick, der immer noch Quelle der Rührung und des Stolzes für die
Israeliten sein muß, läßt alles andere vergessen. Die schon warme Aprilsonne
von Judäa hat rasch die Steine der Hauptstraße getrocknet. Jetzt muß man die
Pfützen direkt suchen. Die Apostel lösen am Stadtrand die geschürzten
Gewänder, waschen sich die Füße in einem klaren Bach, bringen ihre Haare in
Ordnung und hüllen sich in ihre Mäntel; Jesus tut dasselbe. Ich sehe, daß alle
Pilger es auch tun.
Der Einzug in Jerusalem mußte
eine wichtige Angelegenheit sein. Sich in dieser Zeit der Feste an den Mauern
der Stadt zu zeigen, kam einer Audienz bei einem Herrscher gleich. Die
"Heilige Stadt" war die wahre Königin der Israeliten; das begreife ich gut, da
ich auf dieser Landstraße die Menschenscharen und ihr Verhalten beobachten
kann. Hier bilden die Mitglieder der verschiedenen Familien zwei Gruppen: die
Frauen mit den Frauen, die Männer mit den Männern, und die Kinder mit den
einen oder den anderen; aber alle sehr ernst und gleichzeitig froh. Einige
legen den abgenützten Mantel zusammen und holen einen besseren aus dem
Reisesack hervor, einen neuen; manche wechseln auch die Sandalen. Dann wird
der Gang feierlich, hieratisch. In jeder Gruppe ist ein Vorbeter, der den Ton
angibt, und die alten, ruhmreichen Hymnen Davids werden angestimmt. Die
Menschen blicken sich mit freundlichen Augen an, die durch den Anblick des
Hauses Gottes sanfter geworden sind. Das heilige Haus, dieser enorme
Marmorwürfel, auf dem goldene Kuppeln thronen, liegt wie eine Perle im Inneren
der gewaltigen Umfassungsmauer des Tempels.
Die Apostelgruppe hat sich wie
folgt aufgestellt: Jesus und Petrus mit dem Kind in der Mitte; dahinter Simon,
Iskariot und Johannes; dann Andreas, der Johannes von Endor gezwungen hat,
zwischen ihm und Jakobus des Zebedäus zu gehen; in der vierten Reihe die
beiden Vettern des Herrn mit Matthäus; und als letzte Thomas mit Philippus und
Bartholomäus. Hier, in dieser Gruppe, stimmt Jesus mit seiner kräftigen und
schönen Stimme, einem wohlklingenden Bariton, die Gesänge an. Judas Iskariot
antwortet mit einem hellen Tenor, Johannes mit der klaren Stimme eines noch
sehr jungen Menschen, die beiden Vettern Jesu mit ihren Baritonstimmen, und
Thomas mit seinem Baß. Die anderen, die nicht so schöne Stimmen haben, stimmen
leise in den Chor jener ein, die meisterhaft singen können. (Die Psalmen sind
die bekannten Gradualpsalmen.) Der kleine Jabe, mit seiner engelgleichen
Stimme unter den starken Stimmen der Männer, singt sehr gut, vielleicht weil
er besser als die anderen den 121. Psalm kennt. «Wie habe ich mich gefreut,
als man mir sagte, "Ins Haus des Herrn wollen wir gehen."» Er strahlt vor
Freude über das ganze Gesicht, das vor wenigen Tagen noch so traurig war.
35
Nun sind die Mauern erreicht. Sie
sind vor dem Fischtor. Die Straßen sind überfüllt.
Sofort zum Tempel für ein erstes
Gebet. Dann der Friede im Frieden von Gethsemane, das Nachtmahl, die Ruhe.
Die Reise nach Jerusalem ist
beendet.
236. DER SABBAT IN GETHSEMANE
Der Vormittag des Sabbats ist von
den meisten dazu benützt worden, den müden Leib ausruhen zu lassen und die
staubigen und zerknitterten Reisekleider in Ordnung zu bringen. In den weiten
Zisternen von Gethsemane, die von den Regenfällen aufgefüllt sind, und im
Kedron, der auf den Steinen schäumt und seine Symphonie erklingen läßt, ist
nun soviel Wasser, daß alle geradezu hingezogen werden. Einer nach dem anderen
tauchen die Pilger, die sich nicht vor dem kalten Naß fürchten, ein und
kleiden sich dann neu von Kopf bis Fuß. Mit noch nassen Haaren holen sie
Wasser aus den Zisternen, um es in Becken zu schütten, in denen schon nach
Farben getrennt die schmutzigen Kleider liegen.
«Oh! Fein!» sagt Petrus
zufrieden. «So sind die vorgereinigt, und Maria hat weniger Mühe beim
Waschen.» (Ich nehme an, daß er die Frau des Bauern im Gethsemane meint.)
«Nur du, Kleiner, kannst dich
nicht umziehen. Aber morgen...» Das Kind hat ein sauberes Kleidchen an, das
aus seinem Sack genommen worden ist und für eine Puppe gerade groß genug wäre,
so kurz ist es. Es ist noch dünner und kürzer als das andere. Petrus
betrachtet es sorgenvoll und murmelt dabei: «Wie mache ich es bloß, dieses
Kind mit in die Stadt zu nehmen? Ich würde am liebsten meinen Mantel teilen,
denn so könnte man alles verdecken.»
Jesus, der das väterliche
Selbstgespräch hört, sagt: «Es ist besser, das Kind nun ausruhen zu lassen.
Heute abend gehen wir nach Bethanien ...»
«Aber ich will ihm das Gewand
kaufen. Ich habe es ihm versprochen ...»
«Das wirst du ganz bestimmt tun.
Aber es ist besser, sich mit der Mutter zu beraten... weißt du, die Frauen
haben mehr Erfahrung beim Einkaufen... und sie wird glücklich sein, sich um
ein Kind kümmern zu können; ihr werdet zusammen gehen.»
Der Gedanke, mit Maria zum
Einkaufen zu gehen, versetzt den Apostel in den siebten Himmel. Ich weiß
nicht, ob Jesus alles sagt, was er denkt, oder ob er einen Teil verschweigt;
also nicht sagt, daß seine Mutter einen besseren Geschmack hat und sich besser
auf Farbenzusammenstellung versteht. Auf jeden Fall erreicht Jesus seinen
Zweck, ohne Petrus zu kränken.
36
Sie zerstreuen sich auf dem
Ölberg, der an diesem herrlichen Apriltag wunderschön ist. Der Regen der
vergangenen Tage scheint die Oliven versilbert und Blumen gesät zu haben, denn
alles erscheint strahlend in der Sonne und zahlreiche Blumen blühen unter den
Ölbäumen. Die Vöglein singen und fliegen nach allen Richtungen. Die Stadt
liegt dort in westlicher Richtung, von Gethsemane aus gesehen.
Man kann das Menschengewühl im
Stadtinnern nicht erkennen, aber man sieht die Karawanen, die zum Fischtor und
zu anderen Toren, deren Namen ich nicht kenne, ziehen, und die dann von der
Stadt wie von einem hungrigen Bauch verschlungen werden.
Jesus wandelt umher und
beobachtet Jabe, der heiter mit Johannes und den jüngeren Aposteln spielt.
Auch Iskariot, dessen Ärger vom Vortage verflogen scheint, ist heiter und
spielt mit. Die älteren beobachten ihn und lächeln.
«Was wird deine Mutter zu diesem
Kind sagen?» fragt Bartholomäus.
«Ich sage, daß sie sagen wird:
"Es ist sehr mager"», sagt Thomas.
«O nein! Sie wird sagen: "Armes
Kind!"» meint Petrus.
«Sie wird zu dir sagen: "Ich
freue mich, daß du das Kind liebst"», bemerkt Philippus.
«Daran hätte die Mutter nie
gezweifelt. Aber ich meine, daß sie nichts sagen wird. Sie wird es an ihr Herz
ziehen», bemerkt der Zelote.
«Und du, Meister, was meinst du,
was sie sagen wird?»
«Sie wird tun, wie ihr sagt. Aber
vieles, vielmehr alles, wird sie in ihrem Herzen bewahren, und beim Küssen
wird sie nur sagen: "Du sollst gesegnet sein!" Sie wird das Kind pflegen, wie
ein aus dem Nest gefallenes Vöglein. Einmal, hört, erzählte sie mir von ihrer
Kindheit. Sie war noch nicht drei Jahre alt – sie war noch nicht im Tempel –
und ihr Herz floß über vor Liebe, wie Blumen und Oliven, die gepreßt werden,
ihren Wohlgeruch und Öl ausströmen. In der Verzückung dieser Liebe sagte sie
zu ihrer Mutter, daß sie, um dem Erlöser mehr zu gefallen, Jungfrau bleiben
wolle, daß sie aber auch Sünderin sein wolle, um erlöst zu werden; und sie
weinte beinahe, weil die Mutter sie nicht verstand und ihr nicht erklären
konnte, wie man gleichzeitig die "Reine" und "Sünderin" sein kann. Der Vater
schenkte ihr den Frieden wieder, indem er ihr einen kleinen Sperling brachte,
den er gerettet hatte, als er auf dem Brunnenrand in Gefahr war. Er erzählte
ihr das Gleichnis vom Vöglein und sagte, daß Gott sie im voraus vorweg
gerettet hätte und sie ihn daher zweimal preisen müsse. Und die kleine
Jungfrau Gottes, die herrliche Jungfrau Maria, übte ihre erste geistige
Mutterschaft über diesen Nestling aus, den sie fliegen ließ, als er kräftiger
geworden war. Das Vöglein aber verließ nie mehr den Garten von Nazareth und
tröstete mit seinen Flügen und seinem Gezwitscher das traurige Haus und die
traurigen Herzen von Anna und Joachim, nachdem Maria zum Tempel gebracht
worden war. Das Vöglein starb kurz
37
bevor Anna entschlief... Es hatte
seine Pflicht erfüllt... Meine Mutter hatte sich der Jungfräulichkeit aus
Liebe geweiht. Aber sie hatte, da sie ein vollkommenes Geschöpf war, die
Mütterlichkeit im Blut und im Geist; denn die Frau ist zur Mutterschaft
berufen, und es ist unnatürlich, wenn sie taub gegen dieses Gefühl ist, das
Liebe zweiten Grades ist...»
Auch die anderen sind nun leise,
leise näher gekommen.
«Was willst du sagen, Meister,
wenn du von Liebe zweiten Grades sprichst?» fragt Judas Thaddäus.
«Mein Freund, es gibt Liebe
verschiedener Art. Ersten Grades ist jene, die man Gott schenkt. Die Liebe
zweiten Grades ist die mütterliche oder väterliche Liebe. Denn wenn die erste
Liebe ganz geistig ist, so ist die zweite zu zwei Drittel geistig und zu einem
Drittel fleischlich. Hier mischt sich das menschliche Gefühl bei, aber es
herrscht das höhere vor; denn eine Mutter und ein Vater, die gesund und
heiligmäßig leben, beschränken sich nicht darauf, den Körper des Kindes zu
ernähren und zu liebkosen, sondern geben auch dem Geist und der Seele ihres
Geschöpfes Nahrung und Liebe. Es ist wahr, wenn ich sage, daß wer sich den
Kindern widmet, wenn auch nur, um sie zu unterrichten, sie schließlich liebt
wie sein eigenes Fleisch.»
«Ich habe meine Schüler sehr
geliebt», sagt Johannes von Endor.
«Ich habe verstanden, daß du ein
sehr guter Lehrer gewesen bist, als ich beobachtete, wie du mit Jabe umgehst.»
Der Mann von Endor neigt sich und
küßt die Hand Jesu, ohne zu antworten.
«Fahre fort, ich bitte dich, mit
der Klassifizierung der Liebe», bittet der Zelote.
«Es gibt die Gattenliebe, die
Liebe dritten Grades; sie ist zur Hälfte – ich spreche immer von einer
gesunden, heiligen Liebe – geistig und zur anderen Hälfte körperlich. Der Mann
ist für seine Frau außer dem Gatten ein Lehrer und ein Vater; und die Frau ist
für den Mann außer der Gattin ein Engel und eine Mutter. Dies sind die drei
Arten der höheren Liebe.»
«Und die Nächstenliebe? Irrst du
dich nicht? Oder hast du dies vergessen?» fragt Iskariot. Die anderen blicken
ihn erstaunt und entsetzt ob dieser Bemerkung an.
Aber Jesus antwortet ruhig.
«Nein, Judas! Aber schau, Gott wird geliebt, weil er Gott ist, und keine
Erklärung ist nötig, um von der Notwendigkeit dieser Liebe zu überzeugen. Gott
ist, der ist, also alles; und der Mensch ist das Nichts, das Anteil an dem
"alles" hat durch die vom Ewigen eingegossene Seele, ohne welche der Mensch
eines der vielen unvernünftigen Tiere wäre, die auf der Erde, im Wasser oder
in der Luft leben. Und der Mensch muß Gott anbeten, um zu verdienen, in dem
"alles" zu überleben; das heißt, verdienen, Teil des heiligen Volkes Gottes im
Himmel zu werden, Bürger des Jerusalem, das in alle Ewigkeit keine Schändung
und Zerstörung kennen wird.
38
Die Liebe des Menschen, besonders
der Frau zum Kind, hat den Ursprung im Befehl Gottes, der zu Adam und Eva
sagte, nachdem er sie gesegnet und festgestellt hatte, daß er "Gutes getan"
hatte an seinem fernen sechsten Tage, dem ersten sechsten Tage der Schöpfung:
"Wachst und mehrt euch und erfüllt die Erde..."
Ich kenne deine unausgesprochene
Entgegnung und antworte dir sofort wie folgt: Da in der Schöpfung vor dem
Sündenfall alles durch Liebe geregelt und auf die Liebe gegründet war, wäre
diese Vermehrung der Kinder eine heilige, mächtige und vollkommene Liebe
gewesen. Und Gott hat sie dem Menschen als erstes Gebot gegeben: "Wachst,
mehrt euch." Liebt also nach mir eure Söhne! Die Liebe, wie sie heute ist, die
jetzige Art, Kinder zu zeugen, gab es damals noch nicht. Es gab noch die
Bosheit nicht und darum die Sinnenlust nicht. Der Mann liebte die Frau, und
die Frau liebte den Mann auf natürliche Weise, nicht gemäß der Natur, wie ihr
Menschen sie versteht, sondern gemäß der Natur der Kinder Gottes, also
übernatürlicherweise.
Selige erste Tage der Liebe
zwischen den beiden, die Geschwister waren, da sie denselben Vater hatten, und
die doch auch Gatten waren und sich in der Liebe wie mit unschuldigen Augen
von Zwillingen in der Wiege ansahen. Der Mann empfand väterliche Liebe für die
Gefährtin: "Bein von seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch", so wie es
der Sohn von seinem Vater ist; und die Frau kannte die Freude, Tochter zu
sein, also beschützt von einer gar hohen Liebe; denn sie spürte, daß sie etwas
in sich hatte vom herrlichen Mann, den sie mit Unschuld und engelhafter
Leidenschaft in den schönen Gärten Edens liebte!
In der Ordnung der von Gott
seinen geliebten Kleinen mit einem Lächeln gegebenen Gebote fügt sich das
Gebot hinzu, das Adam, der durch die Gnade mit einer Intelligenz begabt wurde,
die nur von der Intelligenz Gottes übertroffen wurde, selbst bestätigte in
Bezug auf seine Gefährtin und in ihr für alle Frauen: den Ratschluß Gottes,
der sich deutlich im klaren Spiegel des Geistes Adams widerspiegelte und im
Gedanken und Wort aufblühte: "Der Mann verläßt seinen Vater und seine Mutter
und vereinigt sich mit seiner Gattin, und die beiden werden nur ein Fleisch
sein."
Wenn nicht die drei Säulen der
drei genannten Arten der Liebe wären, gäbe es eine Nächstenliebe? Nein! Es
könnte keine geben. Die Liebe zu Gott macht Gott zum Freund und lehrt die
Liebe. Wer Gott nicht liebt, der gut ist, kann seinen Nächsten nicht lieben,
der meist fehlerhaft ist. Wenn es keine Gatten- und Elternliebe auf der Welt
gäbe, dann gäbe es keinen Nächsten, denn der Nächste ist das Kind, das von den
Menschen geboren wird. Bist du nun überzeugt?»
«Ja, Meister. Ich hatte nicht
darüber nachgedacht.»
«Es ist nicht einfach, zu den
Quellen vorzudringen. Der Mensch ist
39
seit Jahrtausenden im Schlamm
eingesunken, und diese Quellen entspringen nur in den Höhen! Die erste Quelle
entspringt auf einem Abgrund von Höhe: Gott! Ich aber will euch an der Hand
nehmen und zu den Quellen geleiten. Ich weiß, wo sie sind...»
«Und die anderen Liebesarten?»
fragen Simon der Zelote und der Mann aus Endor gleichzeitig.
«Die erste der zweiten Reihe ist
die Nächstenliebe. In Wirklichkeit handelt es sich um die Liebe vierten
Grades. Dann kommt die Liebe zur Wissenschaft, und darauf die Liebe zur
Arbeit.»
«Sind das alle?»
«Das sind alle.»
«Aber es gibt noch viele andere
Arten der Liebe», ruft Iskariot aus.
«Nein, es gibt andere Gelüste.
Das sind keine Liebesarten. Sie sind gegen die Liebe. Sie leugnen Gott, sie
leugnen den Menschen. Es kann sich also nicht um Liebe handeln, denn sie sind
ihr Gegenteil, also Haß.»
«Wenn ich das Böse ablehne, ist
das denn Haß?» will Judas von Kerioth wissen.
«Oh, wir armen Tröpfe! Du bist ja
noch spitzfindiger als ein Schriftgelehrter! Willst du mir verraten, was du
hast? Ist es die sanfte Luft von Judäa, die deine Nerven wie ein Krampf
kitzelt?» ruft Petrus aus.
«Nein, ich möchte mich gerne
weiterbilden und viele klare Ideen haben. Hier kann man leicht ins Gespräch
mit Schriftgelehrten kommen. Ich möchte wissen, wie ich ihnen antworten kann.»
«Und du glaubst, in jedem
Augenblick, so wie du es gerade nötig hast, aus dem Fädengewirr deines
Lumpensacks die richtige Farbe herauszupfen zu können?» fragt Petrus.
«Lumpen, die Worte des Meisters?
Du lästerst!»
«Tue nicht so scheinheilig. In
seinem Munde sind es keine Lumpen; aber wenn seine Worte von uns mißbraucht
werden, dann werden sie es. Versuch einmal, ein kostbares Stück Damast in die
Hand eines Kindes zu geben. In kurzer Zeit ist es ein schmutziger und
zerrissener Fetzen. So geht es auch uns. Wenn du dir jetzt vornimmst, im
richtigen Augenblick den richtigen Flicken unter den teils zerrissenen, teils
schmutzigen herauszufinden, dann weiß ich nicht, wie du das kannst.»
«Das geht dich nichts an. Das ist
meine Angelegenheit!»
«Sei beruhigt, ich mache mir
darüber keine Gedanken. Mir genügen die eigenen. Und dann, ich bin schon
zufrieden, wenn du dem Meister keinen Schaden zufügst. Denn, in diesem Falle,
würde ich mich auch in deine Angelegenheiten mischen.»
«Wenn ich Böses tue, dann tue es.
Aber es soll nie geschehen, denn ich weiß, was ich tue... Ich bin kein
Dummkopf...»
«Aber ich bin einer, ich weiß.
Aber gerade weil ich es weiß, mache ich kein Durcheinander, damit ich im
rechten Augenblick nicht einen
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Blödsinn sage. Ich empfehle mich
Gott, und Gott wird mir helfen aus Liebe zu seinem Messias, dessen geringster
und getreuester Diener ich bin.»
«Wir sind alle treu!» entgegnet
Iskariot arrogant.
«Du Böser! Warum beleidigst du
meinen Vater? Er ist alt und gut. Du darfst es nicht tun. Du bist ein böser
Mann, und ich habe Angst vor dir», sagt Jabe ernst und bricht sein
aufmerksames Schweigen.
«Nun schon zwei», sagt Jakobus
des Zebedäus mit unterdrückter Stimme und stößt mit dem Ellbogen Andreas an.
Er hat es leise gesagt, doch
Iskariot hat es gehört. «Siehst du, Meister, daß die Worte des dummen Kindes
von Magdala Spuren hinter sich ziehen?» sagt Judas ärgerlich.
«Wäre es nicht besser, den
Unterricht des Meisters fortzusetzen, als vielen störrischen Ziegen zu
gleichen?» fragt der friedliche Thomas.
«Aber ja, Meister. Erzähle uns
von deiner Mutter. Ihre Kindheit ist so wunderbar! Die Seele reinigt sich,
wenn sie sich in ihr spiegelt, und ich armer Sünder habe das so nötig!» ruft
Matthäus aus.
«Was soll ich euch erzählen? Es
gibt viele Episoden, eine schöner als die andere ...»
«Hat sie sie dir erzählt?»
«Einige... aber viel mehr Joseph,
und auch Alphäus der Sara, der nur einige Jahre älter war als die Mutter, und
der ihr in den wenigen Jahren, in denen sie in Nazareth weilte, ein guter
Freund war. Dies waren die schönsten Erzählungen für mich als Kind.»
«Oh, erzähle...» bittet Johannes.
Alle sitzen im Kreis im Schatten der Ölbäume, und Jabe, der in der Mitte
sitzt, blickt Jesus immer fest an als lausche er einem paradiesischen
Märchen...
«Ich werde euch von einem
Beispiel der Keuschheit erzählen, das meine Mutter wenige Tage vor dem
Eintritt in den Tempel ihrem kleinen Freund und anderen gab.
An jenem Tag hatte sich in
Nazareth ein Mädchen verheiratet, eine Verwandte der Sara; auch Joachim und
Anna waren zur Hochzeit eingeladen, und mit ihnen die kleine Maria, die mit
anderen Kindern dazu bestimmt war, Blütenblätter auf den Weg der Braut zu
streuen. Man sagt, Maria sei als Kind wunderschön gewesen, und alle wollten
sie nach dem feierlichen Einzug der Braut bei sich haben. Es war nicht leicht,
Maria zu sehen, denn sie lebte sehr zurückgezogen und liebte mehr als jeden
anderen Ort eine kleine Grotte, die sie noch jetzt ihr "Brautgemach" nennt.
Wenn sie blond, rosig und lieblich, wie sie war, erschien, wurde sie mit
Liebkosungen überhäuft. Man nannte sie die "Blume von Nazareth" oder die
"Perle von Galiläa" oder den "Frieden Gottes", in Erinnerung an einen großen
Regenbogen, der sich bei ihrer Geburt am Himmel gebildet hatte. Sie war und
sie ist es tatsächlich, und sie ist noch mehr. Sie ist die Blume des Himmels
und der Schöpfung, sie ist die Perle des Paradieses,
41
sie ist der Friede Gottes... Ja,
der Friede! Ich bin der Friedvolle, denn ich bin der Sohn des Vaters und der
Sohn Marias: der unendliche Friede, der süße Friede.
An jenem Hochzeitstage wollten
alle sie küssen und auf den Schoß nehmen. Und sie, die eine gewisse Scheu vor
Küssen und Berührungen hatte, sagte mit höflichem Ernst: "Ich bitte euch,
zerknittert mich nicht." Alle glaubten, daß sie damit ihr Leinenkleidchen
meine, das mit himmelblauen Bändern in der Taille, an den Ärmelbündchen und am
Halse verziert war... oder das Kränzchen von blauen Blümchen, womit Anna sie
gekrönt hatte, um die Löckchen zu befestigen; sie versicherten ihr alle, daß
sie weder das Kleidchen noch das Kränzchen zerknittern wollten. Aber Maria,
eine sichere, kleine Frau von drei Jahren, inmitten eines Kreises von
Erwachsenen stehend, sagte ernst: "Ich denke nicht an das, was man wieder
gutmachen kann. Ich spreche von meiner Seele. Sie gehört Gott. Und ich will
nur von Gott berührt werden." Und sie entgegneten ihr: "Aber wir küssen dich,
nicht deine Seele." Und sie: "Mein Körper ist der Tempel der Seele und der
Geist ist dort Priester. Das Volk darf das Presbyterium nicht betreten. Ich
bitte euch darum: Betretet das Gehege Gottes nicht."
Alphäus, der damals acht Jahre
alt war und sie sehr gern hatte, war durch diese Antwort so betroffen, daß er
sie anderen Tages, als er sie in der Nähe ihrer Grotte Blumen pflückend sah,
fragte: "Maria, wenn du Frau geworden bist, willst du mich dann heiraten?"
In ihr war noch die ganze
Aufregung des Hochzeitsfestes, dem sie beigewohnt hatte, und so sagte sie:
"Ich habe dich sehr gern. Aber ich sehe dich nicht als Mann. Ich will dir ein
Geheimnis sagen. Ich sehe nur die Seele der Lebenden. Sie liebe ich sehr, mit
dem ganzen Herzen. Aber ich sehe nichts anderes als Gott, den 'wahren
Lebenden, dem ich mich schenken werde."
Dies ist eine Episode.»
«"Wahrhaft Lebender"! Aber weißt
du, das ist ein tiefes Wort!» ruft Bartholomäus aus.
Und Jesus demütig lächelnd: «Sie
war die Mutter der Weisheit.»
«Schon damals? ... War sie nicht
erst drei Jahre alt?»
«Sie war es, denn ich lebte schon
in ihr, da Gott seit ihrer Empfängnis in seiner vollkommensten Einheit und
Dreieinigkeit in ihr war.»
«Aber – verzeih, wenn ich
Schuldbeladener zu sprechen wage – aber Joachim und Anna, wußten sie denn, daß
sie die auserwählte Jungfrau war?» fragt Judas von Kerioth.
«Sie wußten es nicht.»
«Und wie konnte dann Joachim
behaupten, daß Gott sie im voraus erlöst hatte? Spielt das nicht auf ihr
Privileg betreffs der Sünde an?»
«Es spielt darauf an. Doch
Joachim sprach als Stimme Gottes, wie alle
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Propheten. Auch er verstand die
herrliche übernatürliche Weisheit nicht, die der Geist auf seine Lippen gelegt
hatte. Denn er war ein Gerechter, so sehr, daß er dieser Vaterschaft würdig
war. Und er war demütig. Wo nämlich Stolz herrscht, ist keine Gerechtigkeit.
Er war gerecht und demütig. Er tröstete die Tochter in seiner Vaterliebe, er
unterrichtete sie mit der Weisheit des Priesters, da er der Hüter der
Bundeslade war, und er weihte sie als Oberpriester mit dem schönsten Titel:
"Die Unbefleckte". Es wird der Tag kommen, da ein anderer ergrauter Oberhirte
der Welt sagen wird: "Sie ist die unbefleckte Empfängnis", und er wird den
Gläubigen diese Wahrheit schenken als unangreifbaren Glaubenssatz, damit in
der künftigen Welt, die immer mehr in einen grauen Nebel von Häresien und
Lastern versinken wird, vollkommen enthüllt sei die ganz Schöne Gottes, von
Sternen bekränzt und mit Mondstrahlen bekleidet, die ihr an Schönheit
nachstehen, und auf den Sternen ruhend, die Königin des Erschaffenen und des
Unerschaffenen. Denn Gott-König hat in seinem Reich Maria als Königin
bestellt.»
«Joachim war also ein Prophet?»
«Er war ein Gerechter. Seine
Seele sagte wie ein Echo das, was Gott zu seiner von Gott geliebten Seele
sprach.»
«Wann gehen wir zu dieser Mama,
Herr?» fragt der kleine Jabe mit sehnsüchtigen Augen.
«Heute abend. Was wirst du ihr
sagen, wenn du sie siehst?»
«"Ich grüße dich, Mutter des
Erlösers." Ist es gut so?»
«Sehr gut», bestätigt Jesus, das
Kind liebkosend.
«Gehen wir heute nicht zum
Tempel?» fragt Philippus.
«Bevor wir uns nach Bethanien
begeben, werden wir zum Tempel gehen. Du wirst aber ganz brav hierbleiben.
Nicht wahr?»
«Ja, Herr!»
Die Frau des Jonas, des
Verwalters des Ölgartens, ist leise eingetreten und sagt: «Warum nimmst du ihn
nicht mit? Das Kind wünscht es so sehr...»
Jesus schaut sie fest an, ohne zu
sprechen.
Die Frau versteht und sagt: «Ich
habe verstanden! Ich muß noch den kleinen Mantel von Markus haben. Ich will
ihn holen», und sie geht eilends hinaus.
Jabe zieht Johannes am Ärmel:
«Werden die Lehrer sehr streng sein?»
«O nein, hab keine Angst! Und
dann ist es nicht schon heute. In den wenigen Tagen, die du mit der Mutter
verbringst, wirst du gescheiter als ein Gelehrter werden», versichert ihm
Johannes. Die anderen hören es und lächeln über die Ängste Jabes.
«Wer aber wird ihn an Vaters
Statt vorstellen?» fragt Markus.
«Ich natürlich, vorausgesetzt,
daß der Meister es nicht selbst tun möchte», sagt Petrus.
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«Nein, Simon, ich werde es nicht
tun. Ich überlasse dir diese Ehre.»
«Danke, Meister. Wirst du auch
dabeisein?»
«Sicher! Alle werden wir
dabeisein. Es ist doch "unser" Kind ...»
Maria des Jonas kommt mit einem
dunkelvioletten Mantel zurück, der noch gut erhalten ist. Aber welch eine
Farbe! Sie selbst sagt es: «Markus hat ihn nie anziehen wollen, weil ihm die
Farbe nicht gefiel ...»
Das glaube ich gern, denn die
Farbe ist abscheulich. Und der arme Jabe, mit dem olivgrünen Gesichtsteint,
sieht in diesem schreienden Violett wie ein Ertrunkener aus. Aber er sieht
sich selbst nicht... und ist deshalb glücklich über diesen Mantel, in den er
sich wie ein Erwachsener einhüllen kann...
«Die Mahlzeit ist bereit,
Meister. Die Magd hat das Lamm vom Spieß genommen.»
«Dann wollen wir gehen.»
Und sie steigen zum Haus hinab
und begeben sich in die geräumige Küche zum Mahl.
237. IM TEMPEL ZUR STUNDE DES
OPFERS
Petrus betritt feierlich als
"Vater" den Vorhof des Tempels; er führt den kleinen Jabe an der Hand. Er
sieht sogar größer aus, so steif geht er voraus. Hinter ihm folgt die Gruppe
der anderen. Jesus als letzter. Er spricht mit dem Mann von Endor, der sich
anscheinend schämt, in den Tempel einzutreten.
Petrus fragt seinen Schützling:
«Bist du schon einmal hier gewesen?»und erhält die Antwort: «Als ich geboren
wurde, Vater, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern», was den Petrus
herzlich zum Lachen reizt, daß er es den anderen wiederholen muß, die dann
ihrerseits herzlich lachen und gutmütig und scherzhaft sagen: «Vielleicht hast
du geschlafen und deshalb ...»; oder: «Es geht uns allen wie dir. Wir können
uns alle nicht mehr daran erinnern, daß wir nach unserer Geburt hierher
gebracht worden sind.»
Auch Jesus stellt seinem
Schützling dieselbe Frage und erhält eine ähnliche Antwort. Denn Johannes von
Endor sagt: «Wir waren Bekehrte, und ich kam hierher auf den Armen meiner
Mutter, genau an einem Osterfest; denn ich wurde in den ersten Tagen des Adar
geboren, und die Mutter, die aus Judäa stammte, machte sich, sobald es ihr
möglich war, auf den Weg, um ihren Sohn rechtzeitig dem Herrn aufzuopfern.
Vielleicht zu früh... denn sie erkrankte bei dieser Reise und konnte sich
danach nicht mehr erholen. Ich war nicht ganz zwei Jahre alt, als ich ohne
Mutter blieb. Das erste Unglück meines Lebens. Aber ich war ihr
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Erstgeborener und war aufgrund
ihrer Krankheit ihr einziges Kind geblieben, und so war sie stolz darauf,
sterben zu müssen, weil sie das Gesetz beachtet hatte. Mein Vater sagte mir:
"Sie ist glücklich gestorben, weil sie sich im Tempel aufgeopfert hat"... Arme
Mutter! Was hast du aufgeopfert? Einen künftigen Mörder...»
«Johannes, sprich nicht so!
Damals warst du Felix, nun bist du Johannes. Denk daran, welch große Gnade dir
der Herr erwiesen hat, für immer! Aber vergiß die Demütigung der
Vergangenheit... Bist du nie mehr zum Tempel zurückgekehrt?»
«O ja. Mit zwölf Jahren, und von
da an immer... solange ich es konnte... Nachher, als ich es aufs neue hätte
tun können, tat ich es nicht mehr; denn ich sagte dir schon, ich hatte nur
einen Kult: den Haß! Und auch deswegen kann ich nicht mehr hier eintreten. Ich
fühle mich als Fremder im Haus des Vaters... Ich bin zu lange von ihm
ferngeblieben ...»
«Du kehrst zu ihm zurück, von mir
geführt, der ich der Sohn des Vaters bin. Wenn ich dich vor den Altar führe,
dann deshalb, weil ich weiß, daß dir alles verziehen worden ist.»
Johannes von Endor sagt mit einem
trockenen Schluchzen: «Danke, mein Gott!»
«Ja, danke dem Allerhöchsten!
Siehst du, daß deine Mutter den prophetischen Geist einer wahren Israelitin
hatte? Du bist der dem Herrn geopferte Erstgeborene, und nicht mehr der
Verstoßene. Du bist mein, du gehörst Gott, du bist Jünger und daher
zukünftiger Priester deines Herrn in der neuen Zeit und Religion, die meinen
Namen tragen wird. Ich spreche dich von allem los, Johannes! Geh ruhigen
Herzens auf das Heiligtum zu. Wahrlich, ich sage dir, unter denen, die
zwischen diesen Mauern wohnen, gibt es viele, die weit mehr schuldig sind als
du und weniger würdig, sich dem Altare zu nähern...»
Petrus gibt sich inzwischen Mühe,
dem Kind die bemerkenswertesten Dinge des Tempels zu zeigen; er ruft jedoch
die anderen zu Hilfe, die etwas gebildeter sind, besonders Bartholomäus und
Simon, denn er genießt inmitten der Älteren seine Würde als Vater.
Sie haben den Opfertisch
erreicht, um ihre Gaben darzubringen, als Joseph von Arimathäa ruft: «Ihr
hier? Seit wann?» fragt er nach der gegenseitigen Begrüßung.
«Seit gestern abend.»
«Und der Meister?»
«Er ist dort, mit einem neuen
Jünger. Er wird gleich kommen.»
Joseph betrachtet das Kind und
fragt Petrus: «Eines deiner Enkelkinder?»
«Nein... ja... Nun: nicht dem
Blute nach; vielmehr dem Glauben nach, alles der Liebe nach.»
«Ich verstehe dich nicht...»
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«Ein Waisenkind... daher nicht
dem Blut nach. Ein Jünger... daher viel dem Glauben nach. Ein Sohn... daher
alles der Liebe nach. Der Meister hat ihn aufgenommen... und ich habe ihn
gern. Er wird in diesen Tagen volljährig.»
«Schon zwölf Jahre alt? Und so
klein?»
«Nun... der Meister wird es dir
sagen... Joseph, du bist gut... einer der wenigen Guten hier drinnen... Sag
mir, würdest du mir bei dieser Angelegenheit helfen? Weißt du... ich stelle
ihn vor, als ob er mein Sohn wäre. Doch ich bin ein Galiläer und habe einen
schlimmen Aussatz am Leibe ...»
«Aussatz!» ruft der erschrockene
Joseph fragend aus und weicht zurück.
«Keine Angst. Mein Aussatz ist,
Jesus zu gehören; das ist das Schlimmste für die hier im Tempel, einige
ausgenommen.»
«Nein! Sag das nicht!»
«Es ist wahr und es muß gesagt
werden... Daher fürchte ich, daß sie grausam sein werden mit dem Kleinen,
meinetwegen und wegen Jesus. Ich weiß auch nicht, wie gut er das Gesetz kennt,
die Halacha, die Haggada und die Midraschot. Jesus sagt, er weiß genug ...»
«Nun, wenn Jesus es sagt, dann
keine Angst!»
«Aber, um mir Kummer zu bereiten,
werden sie...»
«Du mußt dieses Kind sehr lieb
haben! Wirst du es bei dir behalten?»
«Ich kann nicht! ... Wir sind
immer unterwegs... Das Kind ist klein und schwach ...»
«Aber ich würde gerne mit dir
gehen ...» sagt Jabe, der nun beruhigt ist, da Joseph ihn streichelt.
Petrus strahlt vor Freude ...
Doch er sagt: «Der Meister sagt, es geht nicht, und so lassen wir es ... Aber
wir werden uns trotzdem sehen... Joseph, wirst du mir helfen?»
«Aber ja! Ich werde mit dir
kommen. Vor mir erlauben sie sich keine Ungerechtigkeiten. Wann? Oh, Meister!
Gib mir deinen Segen!»
«Der Friede sei mit dir, Joseph.
Ich freue mich, dich bei guter Gesundheit zu sehen.»
«Ich auch, Meister. Und auch die
Freunde werden sich freuen, dich zu sehen. Bist du in Gethsemane?»
«Ich war dort. Nach dem Gebet
gehen wir nach Bethanien.»
«Zu Lazarus?»
«Nein, zu Simon. Auch meine
Mutter, die Mutter meiner Brüder und die des Johannes und des Jakobus werden
dort sein. Wirst du mich besuchen?»
«Du fragst? Es wird eine große
Freude und eine große Ehre für mich sein. Ich danke dir. Ich werde mit einigen
Freunden kommen...»
«Sei vorsichtig, Joseph, mit den
Freunden!» rät Simon der Zelote.
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«Oh, ihr kennt sie schon. Die
Klugheit sagt: "Die Luft soll es nicht hören." Aber sobald ihr sie seht,
werdet ihr verstehen, daß es Freunde sind.»
«Nun denn ...»
«Meister, Simon des Jonas sprach
zu mir wegen der Zeremonie für den Knaben. Du bist gerade gekommen, als ich
fragte, wann diese stattfinden soll. Ich möchte anwesend sein.»
«Am Mittwoch vor Ostern. Ich
möchte, daß er sein Ostern als Sohn des Gesetzes halte.»
«Sehr gut. Einverstanden! Ich
werde euch in Bethanien abholen. Doch am Montag möchte ich mit den Freunden
kommen.»
«Abgemacht.»
«Meister, ich verlasse dich nun.
Der Friede sei mit dir. Es ist die Stunde des Rauchopfers.»
«Leb wohl, Joseph. Der Friede sei
mit dir. Komm Jabe, dies ist die feierlichste Stunde des Tages. Es gibt eine
ähnliche am Morgen. Doch diese ist feierlicher. Der Morgen beginnt den Tag. Es
ist gut, daß der Mensch den Herrn preise, um während des Tages in allen seinen
Werken gesegnet zu sein. Doch am Abend ist es noch feierlicher. Die Sonne
sinkt, das Tagewerk ist vollbracht, und es kommt die Nacht. Das abnehmende
Licht erinnert an den Fall in die Sünde, denn die meisten Sünden werden in der
Nacht begangen. Warum? Weil der Mensch, der nicht mehr durch die Arbeit
abgelenkt wird, leichter vom Bösen angezogen werden kann, wenn er das Netz
seiner Verlockungen und Ängste auswirft. Daher ist es gut, daß man Gott, nach
dem Dank für den während des Tages gewährten Schutz, anruft, damit er die
Trugbilder der Nacht und die Versuchungen von uns fernhalte. Die Nacht und der
Schlaf sind Sinnbilder des Todes. Glücklich aber ist jener, der mit dem Segen
Gottes gelebt hat; denn er wird nicht in der Finsternis schlafen, sondern zu
einem strahlenden Morgen erwachen. Der Priester, der den Weihrauch opfert, tut
dies für uns alle. Er bittet für das ganze Volk in Vereinigung mit Gott, und
Gott vertraut ihm seinen Segen an für das Volk seiner Kinder. Siehst du, wie
hoch der Dienst des Priesters steht?»
«Er würde mir gefallen... Mir
würde sein, als wäre ich noch näher bei der Mama...»
«Wenn du immer ein guter Jünger
und ein guter Sohn des Petrus bist, dann wirst du es werden. Nun komm! Die
Posaunen künden an, daß die Stunde gekommen ist. Laßt uns mit Ehrfurcht Jehova
preisen.»
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238. BEGEGNUNG JESU MIT SEINER
MUTTER IN BETHANIEN
Auf der schattigen Straße, die
den Ölberg mit Bethanien verbindet – man könnte auch sagen, daß der Berg mit
seinen grünen Hängen bis zu den Feldern von Bethanien reicht – bewegt sich
Jesus mit den Seinen raschen Schrittes auf die Stadt des Lazarus zu. Kaum ist
er dort angelangt, da wird er schon erkannt, und freiwillige Boten eilen nach
allen Richtungen fort, um seine Ankunft zu verkünden. Daher kommen bald
Maximin und Lazarus von der einen Seite und Isaak mit Timoneus und Joseph von
einer anderen; als dritte erscheint Martha mit Marcella, die ihren Schleier
hochhebt, um das Gewand Jesu zu küssen; und gleich darauf kommen auch Maria
des Alphäus und Maria. Der kleine Jabe, immer an der Hand Jesu, beobachtet
erstaunt, wie all diese lebhaften Begrüßungen vor sich gehen, und während
Johannes von Endor, der sich fremd fühlt, sich in den Hintergrund zurückzieht,
kommt die Mutter auf dem Weg, der zum Hause Simons führt, daher.
Jesus läßt die Hand Jabes los und
schiebt sanft die Freunde beiseite, um ihr entgegenzueilen. Die beiden Worte
"Sohn" und "Mutter" durchdringen die Luft und erklingen wie ein Solo der Liebe
in dem Stimmengewirr der Leute. Sie küssen sich, und im Kuß von Maria liegt
die Sorge eines Menschen, der lange Zeit in Angst gelebt hat und nun bei der
Befreiung von dieser Angst die der Anstrengung folgende Müdigkeit empfindet
und in ihrem ganzen Ausmaße erkennt, wie groß die Gefahr gewesen ist.
Jesus, der sie versteht, liebkost
sie und sagt: «Außer meinem Engel hatte ich auch deinen, Mutter, der über mich
wachte; daher konnte mir kein Übel zustoßen.»
«Dafür sei der Herr gepriesen!
Aber ich habe sehr gelitten!»
«Ich wollte früher kommen, aber
ich mußte andere Wege nehmen, um dir zu gehorchen. Es war gut so, denn dein
Befehl, o meine Mutter, ist mir wie immer zum Segen geworden!»
«Dein Gehorsam, Sohn!»
«Dein weiser Befehl, Mutter ...»
Sie lächeln sich zu wie zwei Verliebte.
Aber ist es denn möglich, daß
diese Frau die Mutter dieses Mannes ist? Wo sind die sechzehn Jahre
Altersunterschied? Die Frische und die Anmut des Gesichtes und des
jungfräulichen Körpers machen aus Maria die Schwester ihres Sohnes, der die
Fülle seiner männlichen Schönheit erreicht hat.
«Warum fragst du nicht, weshalb
es zum Guten gereichte?» fragt Jesus immer noch lächelnd.
«Ich weiß, daß mein Sohn nichts
vor mir verbirgt.»
«Teure Mama!» Er küßt sie noch
einmal...
Die Leute halten sich in einer
gewissen Entfernung und tun so, als ob
sie diese Szene übersähen. Aber
ich wette, daß unter diesen Augen kein
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einziges ist, das nicht nach
dieser süßen Szene schielt, obgleich sie alle so tun, als ob sie in eine
andere Richtung blickten.
Am offensichtlichsten sieht Jabe
zu, den Jesus allein gelassen hat, als er zur Mutter geeilt ist und sie umarmt
hat; bei den vielen Fragen und Antworten hat sich niemand mehr um den Kleinen
gekümmert... Jabeschaut und schaut, dann läßt er den Kopf sinken, kämpft mit
den Tränen... und kann sich schließlich nicht mehr beherrschen, bricht in
Tränen aus und jammert: «Mama, Mama!»
Alle, Jesus und Maria als erste,
drehen sich um; alle wollen wieder gutmachen oder wissen, wer das Kind ist.
Maria des Alphäus eilt herbei, Petrus ebenfalls; sie waren beisammen und sagen
gleichzeitig: «Warum weinst du?»
Doch bevor Jabe in seinem tiefen
Schluchzen Atem holen kann, ist Maria herbeigeeilt und hat ihn in ihre Arme
genommen. Sie sagt: «Ja, mein Söhnchen, die Mama! Weine nicht mehr und
verzeih, daß ich dich nicht gleich gesehen habe. Das ist, Freunde, mein
Söhnchen ...» Es versteht sich, daß Jesus ihr schnell zugeflüstert hat: «Es
ist ein Waisenkind, das ich zu mir genommen habe.» Das Übrige hat Maria
erraten.
Das Kind weint immer noch, doch
nicht mehr so untröstlich, und da Maria es umarmt und küßt, verklärt sich das
von Tränen gewaschene Gesichtlein zu einem Lächeln.
«Komm, ich will alle diese Tränen
trocknen. Du sollst nicht mehr weinen. Gib mir einen Kuß...»
Jabe... wollte ja nichts anderes;
denn nach all den Liebkosungen von seiten der bärtigen Männer genießt er es,
die zarten Wangen Mariens zu küssen.
Jesus aber hat Johannes von Endor
gesucht und entdeckt; er holt ihn aus seiner Ecke. Während die Apostel Maria
begrüßen, kommt Jesus zu ihr, Johannes von Endor an der Hand, und sagt: «Hier,
Mutter, der andere Jünger. Diese beiden Söhne sind die Frucht deines
Befehles.»
«Deines Gehorsams, Sohn»,
wiederholt Maria; dann grüßt sie den Mann und sagt: «Der Friede sei mit dir!»
Der rauhe, unruhige Mann aus
Endor, der sich schon sehr geändert hat seit dem Morgen, an dem die Laune von
Judas Jesus nach Endor geführt hat, legt endlich seine Vergangenheit beiseite,
als er sich vor Maria verneigt. Ich glaube, es ist so, denn sein Antlitz
erscheint, als er sich nach der tiefen Verneigung wieder aufgerichtet hat,
heiter und wirklich "befriedet".
Nun begeben sich alle zum Hause
Simons. Maria mit Jabe, Jesus mit Johannes von Endor an der Hand; neben ihnen
und hintendrein Lazarus und Martha, die Apostel mit Maximinus, Isaak, Joseph
und Timoneus. Sie betreten das Haus, an dessen Schwelle der alte Diener Simons
Jesus und seinen Herrn begrüßt und ihnen Ehre erweist.
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verneigt
«Der Friede sei mit dir, Joseph,
und mit diesem Haus», sagt Jesus und erhebt die Hand zum Segen, nachdem er sie
zuerst auf das weiße Haupt des alten Dieners gelegt hat.
Lazarus und Martha sind nach der
ersten Freude etwas traurig, und Jesus fragt: «Warum, Freunde?»
«Weil du nicht bei uns bist, weil
alle mit dir gehen außer der Seele, von der wir wünschten, daß sie dir
gehörte.»
«Verstärkt eure Geduld, hofft und
betet! Und dann, ich bin ja bei euch. Dieses Haus hier ist nur das Nest, von
dem aus der Menschensohn jeden Tag zu seinen lieben Freunden fliegt, die nicht
weit entfernt, aber übernatürlich betrachtet unendlich näher in der Liebe
sind. Ihr seid in meinem Herzen und ich bin im eurigen. Kann man sich noch
näher sein? Doch heute abend werden wir beisammen sein. Nehmt an meinem Tisch
Platz.»
«Oh, ich Arme! Ich vertrödle hier
die Zeit! Komm, Salome, wir haben zu tun!» Der Aufschrei Marias des Alphäus
bringt alle zum Lachen, während die gute Verwandte von Jesus eilends aufsteht,
um an die Arbeit zu gehen.
Doch Martha holt sie ein: «Mache
dir keine Sorgen um die Mahlzeit, Maria. Ich werde gehen und Anweisung geben.
Du brauchst nur die Tische zu decken. Ich werde dir genügend Polster und alles
Nötige schicken. Komm, Marcella. Ich bin gleich wieder da, Meister!»
«Ich habe Joseph von Arimathäa
gesehen, Lazarus. Am Montag wird er mit Freunden hierherkommen.»
«Oh, dann gehörst du mir an
diesem Tag!»
«Ja, er kommt, damit wir
beisammen sein können; aber auch, um eine Zeremonie zu besprechen, die Jabe
betrifft. Johannes, bring das Kind auf die Terrasse; es wird sich freuen.»
Johannes des Zebedäus, immer
gehorsam, steht sofort auf, und kurz darauf hört man das Jauchzen des Kindes
und seine kleinen Schritte auf der Terrasse, die das Haus umgibt.
«Das Kind», erklärt Jesus der
Mutter, dem Freund und den Frauen, unter denen sich Martha befindet, die
sofort zurückgekehrt ist, um von der Freude, beim Meister zu sein, keine
Minute zu verlieren, «ist der Enkel eines Arbeiters von Doras. Ich bin an
Esdrelon vorbeigegangen ...»
«Ist es wahr, daß die Felder
verwüstet sind und er sie verkaufen will?»
«Verwüstet sind sie. Vom Verkauf
weiß ich nichts. Ein Arbeiter Jochanans hat es mir angedeutet. Aber ich weiß
nichts Genaueres darüber.»
«Wenn er sie verkaufen will...
würde ich sie gerne kaufen, um auch in diesem Schlangennest ein Obdach für
dich zu haben.»
«Ich glaube nicht, daß es dir
gelingen wird. Jochanan ist bereit, sie zu übernehmen.»
«Wir werden sehen... Doch fahre
mit dem Bericht fort. Um was für Arbeiter handelt es sich? Die er vorher
hatte, sind alle verstreut.»
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«Ja. Sie kommen von seinen Gütern
in Judäa, wenigstens der Alte, der Großvater des Kindes. Das Kind mußte im
Walde versteckt werden wie ein wildes Tier, damit Doras es nicht finde... es
war während des Winters dort ...»
«Oh, armes Kind. Aber warum
denn?» Die Frauen überfließen alle vor Mitleid.
«Weil sein Vater und seine Mutter
unter dem Erdrutsch bei Emmaus begraben liegen. Alle: Vater, Mutter und
Geschwister. Er hat überlebt, weil er nicht zu Hause war. Sie hatten ihn zum
Großvater gebracht. Aber was kann schon ein Arbeiter von Doras unternehmen?
Du, Isaak, hast
auch in diesem Falle von mir als
von einem Erlöser gesprochen.»
«Habe ich schlecht gehandelt,
Herr?» fragt Isaak demütig.
«Du hast gut gehandelt. Gott hat
es so gewollt. Aber der Alte hat mir das Kind gegeben, denn es soll in diesen
Tagen volljährig werden.»
«Das arme Geschöpf! So klein mit
zwölf Jahren! Mein Judas war im gleichen Alter doppelt so groß... Und Jesus
erst ...» sagt Maria des Alphäus.
Und Salome: «Auch meine Söhne
waren sehr groß.»
Martha flüstert: «Er ist wirklich
sehr klein! Ich nahm an, er sei noch keine zehn Jahre alt.»
«Nun, der Hunger ist schlimm! Das
Kind muß darunter gelitten haben, seit es auf der Welt ist. Und dann... was
hätte der Alte ihm geben können, wenn man dort Hungers stirbt?» sagt Petrus.
«Ja, es hat viel gelitten. Aber
es ist sehr gut und sehr intelligent. Ich habe es angenommen, um den Alten und
das Kind zu trösten.»
«Wirst du es adoptieren?» fragt
Lazarus.
«Nein, das geht nicht.»
«Dann werde ich es tun.»
Petrus, der seine Hoffnung
schwinden sieht, seufzt ehrlich: «Herr, alles ihm?»
Jesus lächelt: «Lazarus, du hast
schon soviel getan, und ich bin dir dankbar. Doch dieses Kind kann ich dir
nicht überlassen. Es ist "unser" Kind. Es gehört uns allen. Es ist die Freude
der Apostel und des Meisters. Hier würde es im Wohlstand aufwachsen. Ich will
ihm mein Königsgewand schenken: "die ehrbare Armut". Jene Armut, die der
Menschensohn für sich selbst gewollt hat, um sich all der vielen Nöte, ohne
jemand zu demütigen, nähern zu können. Du hast auch erst kürzlich eine Gabe
von mir erhalten ...»
«Ach ja, den alten Patriarchen
und seine Tochter. Die Frau ist sehr fleißig, und der Greis ist sehr gut.»
«Wo sind sie jetzt? Ich meine, an
welchem Ort?»
«Hier in Bethanien. Meinst du,
ich würde den Segen, den du mir schickst, weggeben? Die Frau arbeitet am
Webstuhl. Dazu braucht es
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leichte Hände, die bei dieser
Arbeit Erfahrung haben. Dem Greis, der unbedingt arbeiten wollte, habe ich die
Bienen anvertraut. Gestern – nicht wahr, Schwester – hatte er seinen langen
Bart ganz aus Gold. Die schwärmenden Bienen hatten sich auf ihm
niedergelassen, und er sprach zu ihnen wie zu Kindern. Er ist glücklich.»
«Das glaube ich. Sei gesegnet!»
sagt Jesus.
«Danke, Meister. Aber dieses Kind
wird dich etwas kosten. Erlaube mir wenigstens ...»
«Ich sorge schon für sein
Festkleid», schreit Petrus. Alle lachen über die Plötzlichkeit des Rufes.
«Gut so. Aber es wird auch andere
Kleider brauchen; Simon, sei lieb. Auch ich habe keine Kinder. Laß, daß ich
und Martha uns trösten, indem wir für die kleinen Gewänder sorgen.»
Petrus, so gebeten, wird sofort
weich und sagt: «Die anderen Kleider ja; aber das Gewand für Mittwoch besorge
ich. Der Meister hat es mir versprochen und gesagt, daß ich mit der Mutter
morgen zum Einkaufen gehen darf.» Petrus sagt alles aus Angst vor einer
Änderung zu seinen Ungunsten.
Jesus lächelt und sagt: «Ja,
Mutter, ich bitte dich, morgen mit Simon zu gehen. Sonst stirbt mir dieser
Mann aus Eifer. Du wirst ihn bei der Auswahl beraten.»
«Ich habe gesagt: rotes Gewand
und grüner Gürtel. Das wird sehr schön sein; besser als die Farbe, die er
jetzt trägt.»
«Rot wird sehr gut gehen. Auch
Jesus war in Rot gekleidet. Aber ich würde sagen, auf dem Rot wäre ein roter
Gürtel sehr schön, oder wenigstens ein mit Rot bestickter», sagt Maria sanft.
«Ich habe es gesagt, weil ich
sah, daß Judas, der dunkel ist, gut aussieht mit diesen grünen Streifen auf
dem roten Gewand.»
«Aber die sind nicht grün,
Freund!» lacht Iskariot.
«Nein? Was ist das denn für eine
Farbe?»
«Diese Farbe heißt: Achatader.»
«Wie kann ich das wissen? Mir
schien es grün zu sein. Ich habe diese Farbe auch an Blättern gesehen...»
Die heiligste Mutter mischt sich
sanft ein: «Simon hat recht. Es ist genau die Farbe, welche die Blätter beim
ersten Regen des Tischri bekommen ...»
«Na, also! Und da die Blätter
grün sind, sagte ich, daß es grün ist», schließt Petrus zufrieden. Die Gütige
hat Frieden und Freude auch in diese kleine Angelegenheit gebracht.
«Wollt ihr den Kleinen rufen?»
bittet Maria. Und das Kind eilt sofort mit Johannes herbei.
«Wie heißt du?» fragt Maria
liebevoll.
«Ich bin... ich war Jabe. Doch
nun warte ich auf meinen Namen...»
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«Du wartest?»
«Ja. Jabe möchte einen Namen, der
besagt, daß ich ihn gerettet habe. Du wirst ihn finden, Mutter. Einen Namen
der Liebe und des Heiles.»
Maria denkt nach... und sagt
dann: «Margziam (Maarhgziam). Du bist der kleine Tropfen im Meere der von
Jesus Erlösten. Gefällt er dir? Er erinnert an die Erlösung und auch an mich.»
«Er ist sehr schön», sagt das
Kind glücklich.
«Aber ist es nicht ein
Frauenname?» fragt Bartholomäus.
«Mit einem L am Ende, anstatt des
M. Wenn dieses Menschlein erwachsen sein wird, dann könnt ihr diesen Namen mit
einem L am Ende anstatt des M in einen Männernamen verwandeln. Jetzt trägt es
den Namen, den ihm die Mutter gegeben hat. Nicht wahr?»
Das Kind sagt ja, und die Mutter
liebkost es.
Die Schwägerin meint: «Die Wolle
ist sehr schön»; sie berührt dabei das Mäntelchen Jabes, «aber die Farbe! Wie
findet ihr sie? Ich werde es dunkelrot färben. So wird es schön werden.»
«Morgen abend wollen wir es
machen. Denn morgen wird es sein neues Gewand haben; dann können wir es ihm
nehmen.»
Martha sagt: «Willst du mit mir
kommen, Kind? Ich werde dir vieles zeigen, und dann kommen wir hierher zurück
...»
Jabe weigert sich nicht. Er lehnt
niemals etwas ab, aber er scheint etwas verängstigt, mit der noch fast
unbekannten Frau zu gehen. Er sagt daher schüchtern und höflich: «Könnte
Johannes mitkommen?»
«Aber sicher! ...»
Sie gehen. Während ihrer
Abwesenheit geht die Unterhaltung in den einzelnen Gruppen weiter: Beispiele,
Bemerkungen und Seufzer über die menschliche Hartherzigkeit.
Isaak berichtet, was er über den
Täufer in Erfahrung gebracht hat. Die einen sagen, er sei in Machaerus, die
anderen behaupten in Tiberias. Die Jünger sind noch nicht zurückgekommen...
«Waren sie ihm nicht gefolgt?»
«Ja, aber bei Doko haben die
Häscher mit dem Gefangenen den Fluß überquert; es ist nicht bekannt, ob sie
zum See hinauf- oder nach Machaerus hinabgegangen sind. Johannes, Matthäus und
Simon haben sich auf die Suche gemacht; werden nicht davon ablassen.»
«Und du, Isaak, wirst bestimmt
diesen neuen Jünger nicht mir überlassen. Für den Augenblick ist er bei mir.
Ich will, daß er mit mir Ostern feiert.»
«Ich werde das Fest in Jerusalem
im Haus Johannas feiern. Sie hat mich gesehen und mir einen Raum angeboten,
für mich und die Gefährten. Alle werden dieses Jahr kommen. Wir werden mit
Jonathan zusammen sein.»
«Auch mit denen von Libanon?»
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«Auch mit ihnen. Aber die Jünger
des Täufers kommen vielleicht nicht.»
«Weißt du, daß die Jochanans
kommen?»
«Wirklich? Ich werde mich an das
Tor stellen zu den Opferpriestern. Dort sehe ich sie gleich und nehme sie
mit.»
«Warte bis zum letzten Moment.
Ihre Zeit ist bemessen. Sie bringen das Lamm.»
«Ich auch. Herrlich! Lazarus hat
es mir gegeben. Wir werden es opfern; das andere, das ihre, wird ihnen für die
Rückkehr dienen.»
Martha kommt mit Johannes herein.
Das Kind trägt ein kleines Gewand aus weißem Linnen mit einem roten Überwurf.
Auf den Armen hat es einen roten Mantel.
«Erkennst du es, Lazarus? Siehst
du, wie alles nützlich sein kann?»
Die Geschwister lachen.
Jesus sagt – «Ich danke dir,
Martha.»
«Oh, mein Herr, ich habe die
Krankheit, alles aufzubewahren. Das habe ich von meiner Mutter geerbt. Ich
besitze noch viele Kleider von meinem Bruder. Sie sind mir lieb, denn Mutter
hat sie berührt. Ab und zu nehme ich ein Stück für irgendein Kind. Nun wird
sie Margziam bekommen. Sie sind noch etwas zu lang, aber man kann sie
umschlagen. Lazarus wollte sie nicht mehr, nachdem er volljährig geworden
war... Er war schon als Kind launenhaft... er blieb stets Sieger, denn meine
Mutter liebte ihren Lazarus über alles.»
Die Schwester streichelt
liebevoll ihren Lazarus, und dieser nimmt ihre schöne Hand, küßt sie und sagt:
«Und dich nicht?» Sie lächeln sich beide zu.
«Es ist eine wahre Vorsehung»,
bemerken viele.
«Ja, meine Launen haben Gutes
gebracht. Vielleicht wird mir deswegen verziehen werden.»
Das Nachtmahl ist aufgetragen;
jeder geht an seinen Platz...
... Es ist schon Nacht, als Jesus
endlich in Frieden mit der Mutter sprechen kann. Sie sind auf die Terrasse
gegangen und, Seite an Seite sitzend und sich gegenseitig die Hände haltend,
sprechen sie und hören sich gegenseitig an.
Zuerst erzählt Jesus, was alles
vorgefallen ist. Dann sagt Maria: «Sohn, nach deinem Weggang, gleich danach,
ist eine Frau zu mir gekommen... Sie suchte dich. Ein großes Elend. Und eine
große Bekehrung. Aber dieses Geschöpf verlangte nach deiner Vergebung, um in
seinem Vorsatz standhalten zu können. Ich habe sie Susanna anvertraut und
dieser gesagt, daß sie eine der von dir Geheilten ist. Es ist wahr. Ich hätte
sie bei mir behalten, wenn unser Haus nicht zu einem Meer geworden wäre, auf
dem alle segeln... und viele in böser Absicht. Die Frau empfindet nunmehr
Abscheu vor der Welt. Willst du wissen, wer es ist?»
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«Es ist eine Seele. Aber sag mir
ihren Namen, damit ich sie, ohne mich zu irren, empfangen kann.»
«Es handelt sich um Aglaia, die
Römerin, Schauspielerin und Sünderin, deren Rettung du bereits in Hebron
begonnen hast; sie hatte dich gesucht und beim "Trügerischen Gewässer"
gefunden; sie hat viel für ihre wiedergeborene Ehrbarkeit gelitten... Sie hat
mir alles erzählt... Wie schrecklich! ...»
«Ihre Sünden?»
«Ja! Aber noch viel mehr die
Welt. Oh, mein Sohn! Mißtraue den Pharisäern von Kapharnaum! Sie wollten die
Unglückliche mißbrauchen, um dir zu schaden. Auch sie...»
«Ich weiß es, Mutter... Wo ist
Aglaia?»
«Sie wird vor Ostern mit Susanna
eintreffen.»
«Gut so! Ich werde mit ihr reden.
Ich bin jeden Abend hier und werde, ausgenommen den Osterabend, den ich der
Familie vorbehalte, auf sie warten. Du mußt sie nur bei dir behalten, wenn sie
kommt. Es handelt sich um eine große Bekehrung, du hast es gesagt. Und eine
spontane! In Wahrheit sage ich dir, in wenigen Herzen hat mein Same mit
solcher Kraft Wurzeln schlagen können, wie auf diesem unglücklichen Boden.
Danach hat Andreas beim Heranwachsen bis zur endgültigen Reife geholfen.»
«Sie hat es mir gesagt.»
«Mutter, was hast du empfunden in
der Nähe dieser Ruine?»
«Abscheu und Freude. Mir war, als
ob ich an einem höllischen Abgrund stünde; doch gleichzeitig fühlte ich mich
in den Himmel erhoben. Wie sehr bist du Gott, mein Jesus, wenn du solche
Wunder wirkst!»
Sie bleiben stumm unter den
strahlenden Sternen und im Schein des Mondviertels, das schon bald Vollmond
sein wird. Sie schwiegen und sprachen wieder miteinander in der Liebe des
einen zum anderen.
239. DIE MACHT DES WORTES MARIAS
Der herrliche Morgen lädt
wirklich dazu ein, die Lagerstätten und die Häuser zu verlassen und
spazierenzugehen; die Bewohner des Hauses des Zeloten stehen wie viele Bienen
beim ersten Sonnenlicht auf, um die reine Luft im Obstgarten des Lazarus zu
genießen, der an das gastliche Haus grenzt. Bald gesellen sich auch jene dazu,
die bei Lazarus untergebracht sind, also Philippus, Bartholomäus, Matthäus,
Thomas, Andreas und Jakobus des Zebedäus. Die Sonne dringt festlich durch die
weitgeöffneten Türen und Fenster ein, und die einfachen, sauberen Räume hüllen
sich in ein Gold, das die Farben der Kleider, der Haare und der Augen belebt
und aufleuchten läßt.
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Maria des Alphäus und Salome
bedienen diese Männer mit gesundem Appetit; Maria hingegen beobachtet
aufmerksam einen Diener des Lazarus, der die Haare Margziams in Ordnung bringt
und sie mit mehr Geschick als sein erster Friseur in gleicher Länge schneidet.
«Für den Augenblick lassen wir sie so», sagt der Diener. «Dann, wenn du dem
Herrn deine Kinderlocken geopfert hast, werde ich dir das Haar kurz schneiden.
Bald kommt die Hitze, und du wirst dich besser fühlen mit freiem Hals. Deine
Haare sind spröde und brüchig, vernachlässigt: durch das Schneiden werden sie
kräftiger. Siehst du, Maria? Sie brauchen Pflege. Nun werde ich sie einfetten,
damit sie anliegen. Rieche einmal, Kind, welch ein feiner Duft! Es ist das Öl,
das Martha verwendet. Mandeln, Palmen und feinstes Mark mit seltenen Essenzen.
Es tut sehr gut. Meine Herrin hat gesagt, ich solle dieses Töpfchen für das
Kind verwenden. Oh! Nun siehst du wie der Sohn eines Königs aus», und der
Diener, der anscheinend der Barbier im Haus des Lazarus ist, gibt Margziam
einen kleinen Klaps, grüßt Maria und geht befriedigt weg.
«Komm, damit ich dich anziehen
kann», sagt Maria zum Knaben, der im Augenblick nur eine Art kleine Tunika mit
kurzen Ärmeln trägt. Ich glaube, es ist das Hemd oder jedenfalls das
Kleidungsstück, das damals als solches diente. Aus der Feinheit des Linnens
ersehe ich, daß es zur Ausstattung des Lazarus gehörte, als er noch ein Kind
war. Maria nimmt das Tuch weg, in das Margziam eingehüllt war, und legt ihm
das Unterkleid an mit den Krausen am Hals und an den Ärmeln und dann das tote
Obergewand aus Wolle mit dem weiten Ausschnitt und den weiten Ärmeln. Das
schneeweiße Linnen tritt leuchtend am Ausschnitt und an den Ärmeln unter dem
roten Stoff hervor. Die Hand Mariens muß während der Nacht die Länge des
Kleides und der Ärmel zurechtgeschneidert haben, denn alles paßt genau,
besonders nachdem die Taille mit einer weichen Binde umgürtet ist, die in
weißroten Wollquasten endet. Das Kind gleicht nicht mehr dem armen Wesen, das
es noch vor wenigen Tagen war.
«Geh nun spielen, ohne dich
schmutzig zu machen, während ich mich vorbereite», sagt Maria und liebkost
ihn.
Das Kind eilt hüpfend und
glücklich hinaus und sucht seine großen Freunde auf.
Der erste, der den Knaben sieht,
ist Thomas: «Wie schön du bist! Wie zur Hochzeit gekleidet! Du stellst mich ja
direkt in den Schatten», sagt der immer fröhliche, dickliche Thomas. Dann
nimmt er Margziam bei der Hand und sagt: «Komm, wir gehen zu den Frauen. Sie
haben dich schon gesucht, um dich zu füttern.»
Sie gehen in die Küche, und
Thomas läßt die beiden Marien auffahren, die über die Feuerstelle gebückt
sind, als er laut ausruft: «Hier ist ein junger Mann, der zu euch möchte», und
lachend stellt er das Kind vor, das sich hinter seiner beleibten Gestalt
versteckt hat.
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«Oh, mein Lieber! Komm, laß dich
küssen! Schau, Salome, wie gut es ihm steht», ruft Maria des Alphäus.
«Wahrhaftig! Nun muß er nur noch
etwas kräftiger werden. Doch dafür werde ich sorgen. Komm, laß dich auch von
mir küssen», sagt Salome.
«Aber Jesus will ihn zu den
Hirten führen ...» entgegnet Thomas.
«Kommt nicht in Frage! Darin irrt
sich mein Jesus. Was habt ihr Männer für Bedürfnisse? Ihr streitet – denn
nebenbei gesagt, seid ihr ziemlich streitsüchtig – ihr streitet wie die
Ziegen, die sich zanken und einander in die Hörner geraten; ihr eßt, redet,
habt noch tausend andere Bedürfnisse und verlangt vom Meister, daß er sich
immer um euch kümmert... sonst seid ihr beleidigt. Die Kinder brauchen Mütter.
Nicht wahr? ... Wie heißt du?»
«Margziam.»
«Ach ja, meine gebenedeite Maria!
Sie hätte dir einen einfacheren Namen geben sollen!»
«Er ist beinahe wie der ihre!»
ruft Salome aus.
«Ja, aber der ihre ist viel
einfacher. Er hat nicht die drei Konsonanten in der Mitte... Drei sind einfach
zuviel...»
Iskariot ist eingetreten und
sagt: «Sie hat den Namen mit der richtigen Bedeutung gegeben, nach dem alten
unverfälschten Sprachgebrauch.»
«Na, gut! Aber er ist schwierig,
und ich mache ihn kürzer und sage Margziam. Das ist leichter, und die Welt
wird deswegen nicht untergehen. Nicht wahr, Simon?»
Petrus, der gerade mit Johannes
von Endor sprechend am Fenster vorbeigeht, blickt herein und fragt: «Was ist
los?»
«Ich sagte, daß ich das Kind
Margziam nennen werde. Es ist leichter auszusprechen.»
«Du hast recht, Frau! Wenn es mir
die Mutter erlaubt, werde auch ich so sagen. Wie schön er aussieht! Aber auch
ich! Seht nur!»
Er ist tatsächlich gebürstet, an
den Wangen rasiert, die Haare und der Bart sind gekämmt und geölt, das Kleid
ist nicht zerknittert und die Sandalen sehen wie neu aus, so rein und glänzend
sind sie. Die Frauen bewundern ihn; Petrus lacht zufrieden.
Das Kind hat seine Mahlzeit
beendet und geht hinaus zu seinem großen Freund, den es immer "Vater" nennt.
Da kommt Jesus mit Lazarus aus
dem Haus desselben und sagt zum Kind, das ihm entgegeneilt: «Zwischen uns sei
Frieden, Margziam. Geben wir uns den Friedenskuß!»
Lazarus küßt und liebkost das
Kind und gibt ihm eine Süßigkeit.
Alle versammeln sich um Jesus.
Auch Maria, die nun in ein türkisfarbenes Wollkleid und den etwas dunkleren
Mantel eingekleidet ist, nähert sich lächelnd dem Sohne.
«So können wir also gehen», sagt
Jesus. «Du, Simon, mit meiner
57
Mutter und dem Kind, wenn du
unbedingt Geld ausgeben willst, nachdem Lazarus schon vorgesorgt hat.»
«Aber sicher! Und dann... werde
ich sagen können, daß ich einmal an der Seite deiner Mutter gehen durfte. Eine
große Ehre!»
«Geh nur! Du, Simon, wirst mich
zu deinen Freunden, den Aussätzigen begleiten ...»
«Wirklich, Meister! Wenn du
erlaubst, dann eile ich voraus, um sie zusammenzurufen... Du wirst mich später
erreichen. Du weißt ja, wo sie sind ...»
«Gut, gehe! Die anderen können
tun, was sie wollen. Ihr seid alle frei bis Mittwoch morgen. Zur dritten
Stunde wollen wir uns dann an der Goldenen Pforte treffen.»
«Ich komme mit dir, Meister»,
sagt Johannes.
«Ich auch», erklärt sein Bruder
Jakobus.
«Auch wir», sagen die beiden
Vettern.
«Auch ich komme», ruft Matthäus,
und ebenso Andreas.
«Und ich? Auch ich möchte kommen
... Aber wenn ich zum Einkaufen gehe, dann kann ich nicht mitkommen ...» sagt
Petrus unschlüssig.
«Es ist schon möglich. Zuerst
gehen wir zu den Aussätzigen; meine Mutter begibt sich in der Zwischenzeit mit
dem Kind in ein befreundetes Haus in Ophel. Dann treffen wir uns mit ihr, und
du kannst mit ihr gehen, während ich mich mit den anderen zu Johanna begebe.
Zur Mahlzeit sind wir dann alle in Gethsemane, und gegen Abend kehren wir
hierher zurück.»
«Wenn du erlaubst, dann besuche
ich einige Freunde ...» sagt Iskariot.
«Ich habe doch gesagt, daß ihr
tun könnt, was ihr wollt.»
«Dann begebe ich mich zu
Verwandten. Vielleicht ist mein Vater schon angekommen. Wenn er da ist, bringe
ich ihn zu dir», sagt Thomas.
«Wir zwei, was meinst du
Philippus? Wir könnten Samuel aufsuchen.»
«Gut so», entgegnet er
Bartholomäus.
«Und du, Johannes?» fragt Jesus
den Mann von Endor. «Ziehst du es vor, hierzubleiben, um deine Bücher
unterzubringen, oder willst du mit mir kommen?»
«Ehrlich gesagt, ziehe ich vor,
dich, das lebendige Buch, zu lesen.»
«Dann komm. Leb wohl, Lazarus
...»
«Auch ich komme mit. Meinen
Beinen geht es nun etwas besser, und ich werde mich von den Aussätzigen gleich
nach Gethsemane begeben und dort auf dich warten.»
«Gehen wir! Der Friede sei mit
euch, ihr Frauen!»
Bis kurz vor Jerusalem bleiben
alle beisammen. Dann trennen sie sich. Iskariot schlägt den Weg zum Tor, das
zum Turm Antonia führt, ein, während Thomas mit Philippus und Nathanael noch
einige Meter mit Jesus und den anderen gehen und dann im Vorort Ophel mit
Maria und dem Knaben die Stadt betreten.
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«Nun suchen wir die Unglücklichen
auf», sagt Jesus und kehrt der Stadt den Rücken, um sich zu einem abseits
gelegenen Ort zu begeben, der sich auf dem Abhang eines felsigen Hügels
zwischen den beiden Straßen, die von Jericho nach Jerusalem führen, befindet.
Ein eigenartiger Ort, stufenartig ansteigend, unwirtlich und öde, trostlos
anzusehen.
«Meister», ruft Simon der Zelote.
«Ich bin hier. Bleib stehen. Ich werde dir den Weg weisen ...»
Und der Zelote, der sich an den
Felsen gelehnt hatte, um im Schatten zu stehen, kommt heran und schlägt einen
stufenförmigen Weg ein, der in Richtung Gethsemane führt, doch von diesem
getrennt wird durch die Straße, die vom Ölgarten nach Bethanien führt.
«Hier sind wir. In den Gräbern
von Siloe habe ich gelebt, und hier sind meine Freunde. Einige von ihnen. Die
anderen sind in Ben Hinnom; doch sie können nicht kommen... Sie müßten die
Straße überqueren und könnten dabei gesehen werden.»
«Wir werden auch sie besuchen!»
«Danke, für sie und für mich.»
«Sind es viele?»
«Der Winter tötet die meisten.
Hier leben noch fünf von jenen, mit denen ich gesprochen habe. Sie erwarten
dich. Sie sind dort am Rand ihres Bereiches ...»
Es sind ungefähr zehn unheimliche
Gestalten. Ich sage ungefähr, denn fünf kann man gut sehen, da sie aufrecht
stehen, während die anderen wegen der grauen Hautfarbe, der Verunstaltung des
Gesichtes und ihres Dahinkriechens auf den Steinen kaum unterscheidbar sind.
Unter den Stehenden befindet sich auch eine Frau. Man erkennt sie nur an ihrem
grauen, wirren Haar, das steif und schmutzig über die Schultern bis zum Gürtel
fällt. Sonst unterscheidet sie sich nicht von den anderen, da die
fortgeschrittene Krankheit sie zum Skelett abmagern ließ und jede weibliche
Form vernichtete, wie auch von den Männern nur noch ein einziger Barthaare
aufweist. Die anderen sind infolge des zerstörerischen Übels ausgefallen.
Sie schreien: «Jesus, unser
Erlöser, erbarme dich unser!» und strecken ihm die unförmigen, wundbedeckten
Hände entgegen. «Jesus, Sohn Davids, erbarme dich!»
«Was wollt ihr von mir?» fragt
Jesus und blickt sie an.
«Daß du uns von der Sünde und von
der Krankheit heilst.»
«Von der Sünde rettet der Wille
und die Reue ...»
«Aber wenn du willst, kannst du
unsere Sünden auslöschen. Wenigstens dies, wenn du unsere Körper nicht heilen
willst.»
«Wenn ich euch sage: "Wählt
zwischen den beiden Dingen", um was bittet ihr mich dann?»
«Um die Vergebung Gottes, Herr,
damit sie uns zum Trost diene.»
59
Jesus macht ein Zeichen der
Zustimmung und lächelt verklärt; dann hebt er die Arme und ruft: «Seid erhört!
Ich will es!»
Erhört! Das kann sich sowohl auf
die Sünde wie auf die Krankheit als auch auf beide beziehen, und die fünf
Unglücklichen bleiben im Ungewissen. Aber im Ungewissen sind nicht die
Apostel, und sie können nur ihr Hosanna rufen, als sie sehen, wie rasch der
Aussatz verschwindet... wie Schneeflocken, die auf Feuer fallen. Und nun
begreifen die Fünf, daß sie voll erhört worden sind. Ihre Schreie klingen wie
ein Siegesruf. Sie umarmen sich gegenseitig, werfen Jesus Kußhände zu, da sie
nicht zu seinen Füßen eilen dürfen, und wenden sich dann an die Gefährten und
sagen: «Wollt ihr immer noch nicht glauben? Wie töricht seid ihr doch!»
«Seid gut, seid gut! Die armen
Brüder müssen erst nachdenken. Sagt nichts mehr. Den Glauben kann man nicht
aufzwingen. Man predigt ihn friedlich, mit Sanftmut, Geduld und Ausdauer. Das
werdet ihr nach eurer Reinigung tun, wie Simon es mit euch getan hat. Das
Wunder spricht ja für sich selbst. Ihr Geheilten geht zum Priester, so bald
als möglich! Ihr Kranken, erwartet uns am Abend. Wir werden euch Nahrung
bringen. Der Friede sei mit euch!»
Jesus steigt zur Straße hinab,
immer noch von den Segenswünschen aller gefolgt.
«Nun gehen wir nach Ben Hinnom»,
sagt Jesus.
«Meister... ich würde gern
mitkommen, aber ich weiß, daß ich es nicht schaffen werde. Ich gehe nach
Gethsemane», sagt Lazarus.
«Geh, Lazarus. Der Friede sei mit
dir!»
Während Lazarus sich langsam
entfernt, sagt der Apostel Johannes: «Meister, ich werde ihn begleiten. Er
kommt mühsam voran, und der Weg ist nicht sehr gut. Ich werde dich dann in Ben
Hinnom erreichen.»
«Geh nur! Laßt uns gehen.»
Sie überqueren den Kedron, nehmen
einen Weg, der den Südhang des Berges Tophet entlangführt, und kommen
schließlich in das kleine Tal, das ganz mit Gräbern und Unrat übersät ist.
Nirgendwo ein Baum oder etwas anderes, das vor der Sonne schützen könnte, die
auf dieser Mittagsseite vom Himmel sengt und das Gestein zum Glühen bringt. In
den Höhlen, die Einäscherungsöfen gleichen, aus denen stinkender Rauch
aufsteigt und die Hitze noch erhöht, befinden sich die armen Körper, die sich
verzehren... Siloe muß im Winter ein häßlicher Ort sein, da es feucht und
gegen Norden gelegen ist. Aber im Sommer ist es schrecklich...
Simon der Zelote stößt einen Ruf
aus, und gleich kommen drei, dann zwei, dann einer und schließlich noch einer,
wie sie können, bis zur vorgeschriebenen Grenze. Es sind zwei Frauen darunter;
eine führt an der Hand ein schreckliches Kind, das der Aussatz im Gesicht
befallen hat. Es ist schon blind...
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Auch ein Mann ist da, von
vornehmen Aussehen, trotz seiner erbärmlichen Verfassung. Er ergreift das Wort
für alle: «Der Messias des Herrn sei gepriesen, der in unsere Hölle gestiegen
ist, um ihr jene zu entreißen, die auf ihn hoffen. Rette uns, Herr, denn wir
gehen zugrunde! Rette uns, Erlöser! König aus dem Geschlechte Davids, König
Israels, hab Erbarmen mit deinen Untergebenen. O du Reis aus dem Geschlechte
Jesse, von dem gesagt worden war, daß zu seiner Zeit kein Übel mehr besteht;
strecke deine Hand aus und sammle die Ruinen deines Volkes. Befreie uns von
diesem Tod und trockne unsere Tränen, denn so ist von dir gesagt worden. Rufe
uns, Herr, auf deine köstlichen Weiden, zu deinen süßen Wassern, die wir so
sehr dürsten. Leite uns zu den ewigen Hügeln, wo es keine Schuld und keinen
Schmerz mehr gibt. Hab Erbarmen, Herr ...»
«Wer bist du?»
«Johannes, einer vom Tempel.
Vielleicht bin ich durch einen Aussätzigen angesteckt worden. Seit kurzem
erst, wie du siehst, hat mich die Krankheit befallen. Aber diese da! ... Unter
ihnen solche, die den Tod seit Jahren erwarten; und dieses kleine Mädchen kam
hierher, bevor es gehen konnte. Es kennt die Schöpfung Gottes nicht. Was es
kennt und an was es sich erinnert: das sind diese Gräber, die unbarmherzige
Sonne und die Sterne der Nacht. Habe Erbarmen mit den Schuldigen und den
Unschuldigen, Herr, unser Erlöser!» Alle knien nun nieder und strecken die
Hände aus.
Jesus weint ob soviel Elends,
dann öffnet er die Arme und ruft: «Vater! Ich will es: Heil, Leben, Augenlicht
und Gesundheit für sie!» Er bleibt mit erhobenen Armen stehen und betet
inbrünstig aus seinem ganzen Herzen. Er scheint sich im Gebet zu verklären und
zu erheben: eine Flamme der Liebe, weiß und mächtig unter dem mächtigen Gold
der Sonne.
«Mama, ich kann sehen!» ertönt
der erste Schrei, und es folgen der Schrei der Mutter, die ihr geheiltes
Mädchen an sich drückt, und dann die Ausrufe der anderen und der Apostel. Das
Wunder ist geschehen!
«Johannes, du, als Priester,
wirst die Gefährten zum Ritus geleiten. Der Friede sei mit euch. Auch euch
werden wir heute abend Nahrung bringen.» Er segnet sie und schickt sich zum
Gehen an.
Doch der aussätzige Johannes
schreit: «Ich will dir auf allen Wegen folgen. Sag mir, was ich tun muß, wohin
ich gehen soll, um dich zu verkünden!»
«Gehe in dieses trostlose
Geviert, das öde ist und sich zum Herrn bekehren muß. Die Stadt Jerusalem soll
dein Feld sein. Leb wohl.»
«Und jetzt kehren wir zur Mutter
zurück!» sagt Jesus zu den Aposteln.
«Aber wo ist sie?» fragen viele.
«In einem Haus, das Johannes
kennt. Im Haus des Mädchens, das voriges Jahr geheilt worden ist.»
Sie gehen in die Stadt zurück,
durchqueren einen großen Teil des
61
dichtbesiedelten Vorortes Ophel
und gelangen zu einem weißen Häuschen. Jesus tritt mit seinem lieben
Friedensgruß durch die unverschlossene Tür in das Haus, und gleich darauf
vernimmt man die sanfte Stimme Marias, die Silberstimme Annalias und die
kräftige ihrer Mutter. Das Mädchen wirft sich anbetend zu Boden, und die
Mutter läßt sich auf die Knie nieder. Maria erhebt sich.
Sie möchten den Meister und seine
Mutter noch zurückhalten. Aber Jesus verspricht, an einem anderen Tage
wiederzukommen, segnet sie und geht. Petrus geht mit Maria einkaufen. Sie
haben den Knaben in ihrer Mitte und gleichen einer glücklichen Familie. Viele
wenden sich bewundernd nach ihnen um. Jesus betrachtet sie lächelnd.
«Simon ist glücklich!» ruft der
Zelote.
«Warum lächelst du, Meister?»
fragt Jakobus des Zebedäus.
«Weil ich in dieser Gruppe eine
große Verheißung sehe.»
«Welche, Bruder? Was siehst du?»
fragt Thaddäus.
«Ich sehe, daß ich, wenn die
Stunde gekommen ist, ruhig scheiden kann. Ich werde mir um meine Kirche keine
Sorgen machen müssen. Sie wird dann noch klein und schmächtig wie Margziam
sein. Aber meine Mutter wird sie an der Hand halten und ihr Mutter sein,
während Petrus ihr Vater ist. In seine ehrliche, schwielenbedeckte Hand werde
ich ohne Sorge die Hand meiner jungen, neuen Kirche legen. Er wird ihr die
Kraft seines Schutzes geben, meine Mutter die Kraft ihrer Liebe. Und die
Kirche wird wachsen... wie Margziam... Er ist wahrlich das Kind des Symbols.
Gott segne meine Mutter, meinen Petrus und ihr und unser Kind! Laß uns nun zu
Johanna gehen ...»
... Es ist Abend; wir befinden
uns wieder im kleinen Haus von Bethanien. Die meisten haben sich schon
zurückgezogen. Petrus aber wandelt auf dem schmalen Wege hin und her und
blickt immer zur Terrasse hinauf, wo Jesus und Maria beisammensitzen und
miteinander reden. Johannes von Endor spricht unter einem in voller Blüte
stehenden Granatapfelbaum mit dem Zeloten.
Maria muß schon viel gesprochen
haben, denn ich höre von Jesus die Worte: «Alles, was du gesagt hast, ist
richtig; ich werde darauf Rücksicht nehmen. Auch dein Rat für Annalia ist gut.
Daß der Vater ihn so rasch angenommen hat, ist ein gutes Zeichen. Die Behörden
in Jerusalem sind wirklich voller Torheit und Haß. Aber unter dem bescheidenen
Volke gibt es Perlen von unbekanntem Wert. Ich bin froh, daß Annalia glücklich
ist. Sie ist ein Geschöpf, das sich mehr im Himmel als auf der Erde befindet,
und der Mann, der nun geistiger geworden ist, hat dies wohl verstanden, denn
er achtet sie, er verehrt sie fast. Sein Vorsatz, anderswohin zu ziehen, um
nicht mit einem menschlichen Gefühl das reine Gelübde seines Mädchens zu
beflecken, beweist dies.»
«Ja, mein Sohn, der Mann spürt
den Duft der Jungfräulichkeit... Ich
62
erinnere mich an Joseph. Ich
wußte nicht, wie ich es ihm sagen sollte. Er kannte mein Geheimnis nicht; doch
hat er mir mit der Empfindsamkeit eines Heiligen geholfen, es ihm zu sagen. Er
hatte den Duft meiner Seele gespürt. Siehst du, Johannes? ... Welcher Friede!
... Und alle kommen zu ihm, selbst Judas von Kerioth, obgleich... Nein, Sohn,
Judas hat sich nicht geändert. Ich weiß es, und auch du weißt es. Wir sagen
nur nichts, um keinen Krieg anzuzetteln. Aber, auch wenn wir nicht davon
reden, wissen wir es; auch wenn wir nichts sagen, ahnen die anderen es. Oh,
mein Jesus! Die Jungen haben es mir heute im Gethsemane erzählt: das
Vorkommnis in Magdala und das vom Sabbatmorgen. Die Unschuld spricht; denn sie
sieht mit den Augen ihres Engels. Aber auch die Alten durchschauen ihn. Sie
haben nicht unrecht. Er ist ein schlüpfriges Wesen. Alles in ihm ist
schlüpfrig... und ich habe Angst vor ihm, und auf meinen Lippen sind die Worte
Benjamins von Magdala und die des Margziam im Gethsemane; denn ich habe den
gleichen Abscheu vor Judas wie diese Kinder ...»
«Nicht alle können Johannes sein
...»
«Das verlange ich auch nicht!
Sonst hätten wir das Paradies auf Erden. Aber siehst du, du hast mir vom
anderen Johannes erzählt... von einem Mann, der gemordet hat. Ich habe nur
Mitleid mit ihm. Vor Judas aber habe ich Angst.»
«Liebe ihn, Mutter! Liebe ihn aus
Liebe zu mir!»
«Ja, Sohn! Aber auch meine Liebe
wird nichts nützen. Sie wird nur Schmerz für mich und Schuld für ihn sein. Oh,
warum ist er beigetreten! Er stört alle und beleidigt Petrus, der jede Achtung
verdient.»
«Ja, Petrus ist gut. Für ihn
würde ich alles tun, denn er verdient es.»
«Wenn er dich hören könnte, würde
er mit seinem offenen Lächeln sagen: "Ach, Herr, das stimmt nicht." Und er
hätte recht.»
«Warum, Mutter?» Jesus lächelt,
denn er hat verstanden.
«Weil du ihn nicht
zufriedenstellst und ihm keinen Sohn schenkst. Er hat mir alle seine
Hoffnungen und Wünsche... und deine Ablehnung anvertraut.»
«Und er hat dir die Gründe nicht
genannt, mit denen ich es rechtfertigte? ...»
«Doch, er hat sie mir genannt,
und hinzugefügt: "Es ist wahr... aber ich bin ein Mensch, ein armer Mensch.
Jesus besteht darauf, in mir einen besseren Menschen zu sehen. Aber ich weiß,
daß ich untauglich bin und deshalb... könnte er mir einen Knaben geben. Ich
heiratete, um Kinder zu haben... und werde sterben, ohne ein Kind zu
besitzen." Und dann hat er gesagt – indem er auf das Kind deutete, das
glücklich war über das von Petrus gekaufte Kleid; es küßte ihn und sagte:
"Geliebter Vater" – und dann fügte er bei: "Schau, wenn dieses Geschöpf, das
ich vor zehn Tagen noch nicht kannte, so zu mir spricht, dann werde ich
weicher als Butter
63
und süßer als Honig und weine...
denn jeder Tag, der vergeht, entfernt mich von diesem Kinde..."»
Maria schweigt und beobachtet
Jesus; sie studiert sein Gesicht und erwartet ein Wort... Aber Jesus hat seine
Ellbogen auf die Knie gestützt, hält sein Haupt zwischen den Händen und schaut
auf die grüne Fläche des Obstgartens.
Maria ergreift seine Hand,
streichelt sie und sagt: «Simon hat diesen großen Wunsch; während ich ihn
begleitete, hat er über nichts anderes gesprochen, und er hat so vernünftige
Gründe angeführt, daß ich nicht fähig war, ihn zum Schweigen zu bringen. Es
waren dieselben Gründe, die wir alle, Frauen und Mütter, haben. Das Kind ist
schwach. Wenn es so wäre, wie du gewesen bist... oh, dann hätte es dem Leben
als Jünger furchtlos entgegengehen können. Aber es ist so schwach... Sehr
intelligent, sehr gut... aber sonst nichts. Wenn eine junge Taube schwach ist,
dann kann sie nicht zum Fliegen gebracht werden, wie dies bei kräftigen
möglich ist. Die Hirten sind gut... aber sie sind dennoch Männer. Die Kinder
brauchen die Frauen. Warum läßt du es nicht Simon? Wenn du ihm ein von ihm
gezeugtes Kind verweigerst, so verstehe ich den Grund. Ein eigenes Kind ist
wie ein Anker. Und Simon, der zu Hohem bestimmt ist, kann keinen Anker
brauchen, der ihn bindet. Aber du mußt zugeben, daß er eines Tages der "Vater"
all der Kinder sein muß, die du ihm hinterläßt. Wie kann er jedoch Vater sein,
wenn er nicht die Schule mit einem Kind gemacht hat? Ein Vater muß gütig sein.
Simon ist gut, aber gütig ist er nicht. Er ist impulsiv und unnachgiebig. Nur
ein schwaches Geschöpf kann ihm die feine Kunst beibringen, mit den Schwachen
Mitleid zu haben... Denke an die Zukunft von Petrus... Er ist dein Nachfolger!
Oh, ich muß es aussprechen, dieses harte Wort! Aber wegen des großen
Schmerzes, den ich dabei empfinde, höre mich an! Nie würde ich dir etwas
raten, das nicht gut ist. Margziam... Du willst aus ihm einen vollkommenen
Jünger machen... Aber er ist noch ein Kind. Du... wirst uns verlassen, bevor
er ein Mann geworden ist. Wer wird dann seine Bildung besser vervollständigen
können als Petrus? Und schließlich, du weißt, wie der arme Petrus deinetwegen
von der Schwiegermutter geplagt worden ist; und doch hat er keinen Funken
seiner früheren Freiheit zurückverlangt, um seine Schwiegermutter
zufriedenzustellen, die nicht einmal du hast ändern können. Und sein armes
Weib? Oh, sie hat ein solches Verlangen zu lieben und geliebt zu werden. Die
Mutter... oh! ... Der Mann? Ein lieber Rechthaber... Niemals eine
Liebesbezeugung, ohne gleichzeitig viel zu verlangen... Arme Frau! Laß ihr das
Kind. Höre auf mich, mein Sohn. Vorerst nehmen wir es zu uns. Auch ich werde
nach Judäa gehen. Du wirst mich zu einer lieben Gefährtin des Tempels bringen,
die fast verwandt mit uns ist, da sie aus dem Geschlechte Davids stammt. Sie
lebt in Bethsur. Ich sehe sie gern wieder, wenn sie noch lebt. Dann, bei der
Rückkehr nach
64
Galiläa, werden wir ihn Porphyria
geben. Und wenn wir in die Nähe von Bethsaida gekommen sind, wird Petrus ihn
zu sich nehmen. Wenn wir hierher zurückgekehrt sind, wird das Kind bei ihr
sein. Ah! Nun lächelst du! Also stellst du deine Mutter zufrieden. Danke, mein
Jesus.»
«Ja, es geschehe nach deinem
Wunsch.» Jesus erhebt sich und ruft laut: «Simon des Jonas, komm her!»
Petrus erhebt sich und eilt die
Stufen hinauf: «Was willst du, Meister ?»
«Komm her, du Usurpator und
Eroberer!»
«Ich? Warum? Was habe ich getan,
Herr?»
«Du hast das Herz meiner Mutter
erobert. Daher wolltest du allein mit ihr sein. Was soll ich mit dir
anfangen?» Doch Jesus lächelt, und Petrus beruhigt sich.
«Oh», sagt er, «du hast mir
richtig Angst eingejagt. Aber nun lächelst du. Was willst du von mir, Meister?
Das Leben? Ich habe nur noch das, denn du hast mir alles genommen... Aber,
wenn du es willst, so gebe ich es dir.»
«Ich will nichts nehmen, sondern
geben. Aber nütze diesen Sieg nicht aus und gib das Geheimnis den anderen
nicht preis, du schlauer Mann, der du den Meister mit der Waffe des Wortes der
Mutter besiegt hast. Du wirst das Kind haben, aber ...»
Jesus kann nicht weiterreden,
denn Petrus, der auf den Knien war, springt auf und küßt Jesus mit solchem
Ungestüm, daß er ihm jedes weitere Wort abschneidet.
«Danke ihr, nicht mir! Aber
vergiß nicht, daß es dir eine Hilfe und kein Hindernis sein soll ...»
«Herr, du wirst das Geschenk
nicht bereuen. Oh, Maria! Sei immer gepriesen, du Heilige und Gute!»
Petrus, der wieder auf die Knie
gesunken ist, weint, während er die Hand Marias küßt...
240. AGLAIA BEIM MEISTER
Jesus geht allein ins Haus des
Zeloten. Der Abend bricht herein, heiter und friedlich nach soviel Sonne.
Jesus zeigt sich an der Küchentür, grüßt und geht ins obere Zimmer, um dort zu
meditieren. Der Saal ist schon für das Nachtmahl vorbereitet. Der Herr scheint
nicht sehr froh zu sein. Er seufzt öfters und geht auf und ab und wirft ab und
zu einen Blick auf die umliegende Landschaft, die man von den vielen Fenstern
und Türen dieses großen Saales aus, der wie ein Würfel auf dem Untergeschoß
sitzt, überblicken kann. Dann tritt er auf die Terrasse hinaus, geht um den
Saal
65
herum, bleibt regungslos stehen
und sieht Johannes von Endor zu, der höflich Wasser aus dem Brunnen schöpft,
um es der vielbeschäftigten Salome anzubieten.
Jesus betrachtet ihn, schüttelt
das Haupt und seufzt. Die Kraft seines Blickes zieht die Aufmerksamkeit von
Johannes an, und dieser wendet sich um und fragt: «Meister, brauchst du mich?»
«Nein, ich habe dir nur
zugeschaut.»
«Johannes ist so gut. Er hilft
mir», sagt Salome.
«Auch für diese Hilfe wird Gott
ihn belohnen.»
Nach diesen Worten geht Jesus in
den Raum zurück und setzt sich. Er ist so sehr in seine Betrachtung vertieft,
daß er das Geräusch der vielen Stimmen und Schritte im Korridor des
Untergeschoßes nicht hört, und noch weniger einige leichte Schritte, die auf
der Außentreppe sich dem Saale nähern. Erst als Maria ihn ruft, erhebt er das
Haupt.
«Sohn, Susanna ist mit ihrer
Familie aus Jerusalem angekommen und hat sogleich Aglaia zu mir gebracht.
Willst du sie anhören, solange wir allein sind?»
«Ja, Mutter, sofort! Und niemand
darf heraufkommen, bevor wir fertig sind. Ich hoffe, daß alles vor der
Rückkehr der anderen beendet ist. Aber ich bitte dich, darauf zu achten, daß
keine indiskrete Neugier aufkommt; bei niemand, und besonders nicht bei Judas
des Simon ...»
«Ich werde sorgfältig
aufpassen...»
Maria geht hinaus und kommt kurz
darauf, Aglaia an der Hand führend, zurück. Diese ist nicht mehr in ihren
großen, grauen Mantel eingehüllt und hat den Schleier nicht mehr über das
Gesicht gezogen; sie trägt auch nicht die hochgeschnürten, mit Schnallen und
Bändern verzierten Sandalen wie früher, sondern gleicht nun in allem einer
Hebräerin. Ihre Sandalen sind flach und so einfach wie die Marias. Über dem
dunkelblauen Kleid trägt sie den Mantel, während ein Schleier ihr teilweise
das Gesicht bedeckt: das gewöhnliche Gewand unzähliger Frauen. Und da sie sich
außerdem in einer Gruppe von Galiläern befindet, besteht keine Gefahr, erkannt
zu werden. Sie kommt geneigten Hauptes herein, wird bei jedem Schritt röter im
Gesicht; ich glaube, wenn Maria sie nicht sanft zu Jesus hinführen würde, wäre
sie auf der Schwelle niedergekniet.
«Hier, Sohn! Hier ist sie, die
dich schon lange sucht! Höre sie an», sagt Maria, als sie bei Jesus angelangt
ist, und sie zieht sich sogleich zurück, wobei sie die Vorhänge an den offenen
Türen und die Türe an der Treppe schließt.
Aglaia entledigt sich der Tasche,
die sie über der Schulter trägt, kniet dann zu Jesu Füßen nieder und bricht in
lautes Weinen aus. Sie läßt sich auf den Boden gleiten und weint, den Kopf auf
die am Boden gekreuzten Arme gelegt.
«Weine nicht! Die Zeit der Tränen
ist vorbei. Grund zum Weinen hattest
66
du, als Gott dir zürnte. Nicht
jetzt, da du ihn liebst und von ihm geliebt wirst.» Aber Aglaia fährt fort, zu
weinen...
«Glaubst du nicht, daß es so
ist?»
Die Stimme bricht sich Bahn unter
dem Schluchzen: «Ich liebe ihn, das ist wahr, so wie ich bin und wie ich
kann... Aber obgleich ich weiß und glaube, daß Gott die Güte ist, wage ich es
nicht zu hoffen, daß er meine Liebe erwidert. Ich habe zuviel gesündigt... Ich
werde seine Liebe vielleicht eines Tages haben... Aber ich muß noch viel
weinen... Vorerst bin ich noch allein mit meiner Liebe. Ich bin allein... Es
ist nicht die trostlose Einsamkeit der vergangenen Jahre. Es ist eine
Einsamkeit voll Verlangens nach Gott, also nicht mehr eine verzweifelte...
Doch ist sie so traurig, so traurig!»
«Aglaia, wie schlecht kennst du
doch den Herrn! Dieses Verlangen nach ihm ist der Beweis dafür, daß Gott deine
Liebe erwidert, daß er dir Freund ist, dich ruft, dich einlädt und dich will.
Gott ist unfähig der Liebe seines Geschöpfes zu widerstehen; denn diese Liebe
hat er selbst im Herzen erweckt; er, der Schöpfer und Herr aller Geschöpfe. Er
hat dieses Verlangen entzündet, denn er hat die Seele, die nun nach ihm
verlangt, mit Vorzug geliebt. Die Liebe Gottes geht immer der Liebe des
Geschöpfes voraus; denn er ist der Vollkommene: daher ist seine Liebe
unmittelbarer und brennender als die Liebe seines Geschöpfes.»
«Aber wie kann Gott meinen
Schmutz lieben?»
«Bemühe dich nicht, mit deinem
Verstande begreifen zu wollen. Er ist ein Abgrund der Barmherzigkeit, dem
menschlichen Geiste unbegreiflich. Aber dort, wo die menschliche Intelligenz
nicht mehr begreift, erkennt die Intelligenz der Liebe die Liebe des Geistes.
Sie versteht und dringt sicher in das Geheimnis, das Gott ist, und in das
Geheimnis der Begegnung der Seele mit Gott ein. Sie dringt ein, ich sage es
dir. Sie dringt ein, weil Gott es will.»
«O mein Erlöser! So bin ich also
losgesprochen? So werde ich also wirklich geliebt? Darf ich es glauben?»
«Habe ich dir je die Unwahrheit
gesagt?»
«O nein, Herr! Alles, was du in
Hebron zu mir gesagt hast, ist eingetroffen. Du hast mich erlöst, wie dies
dein Name sagt. Du hast mich arme, verlorene Seele gesucht. Du hast der toten
Seele, die ich in mir getragen habe, das Leben wiedergeschenkt. Du hast mir
gesagt, wenn ich dich suche, werde ich dich finden. Alles ist eingetroffen. Du
hast mir gesagt, daß du überall bist, wo der Mensch den Arzt und die Arznei
nötig hat. Es ist wahr! Alles, alles, was du zur armen Aglaia gesagt hast, von
jenen Worten des Junimorgens bis zu den anderen am "Trügerischen Gewässer"...»
«So mußt du auch den jetzigen
glauben!»
«Ja, ich glaube, ich glaube! Aber
sage mir: "Ich verzeihe dir"!»
«Ich verzeihe dir im Namen Gottes
und im Namen Jesu!»
67
«Danke... Aber nun... Was soll
ich nun tun? Sage mir, mein Erlöser, was soll ich tun, um das ewige Leben zu
erlangen? Der Mann wird schon verdorben, sobald er mich ansieht! Ich kann
nicht in der ständigen Angst leben, entdeckt und angesprochen zu werden... Auf
dieser Reise habe ich bei jedem Blick eines Mannes gezittert... Ich will nicht
mehr sündigen und nicht mehr zur Sünde verleiten! Sage mir den Weg, den ich
gehen muß. Wie er auch sei, ich werde ihn gehen. Du siehst, ich bin auch in
Entbehrungen stark... Wenn ich aufgrund einer zu großen Not sterben sollte,
ich habe keine Angst! Ich werde den Tod "meinen Freund" nennen, denn er wird
mich für immer von den Gefahren der Erde befreien. Sprich, mein Erlöser!»
«Geh an einen einsamen Ort.»
«Wohin, Herr?»
«Wohin du willst. Dorthin, wo
dein Geist dich hinführen wird.»
«Wird mein kaum gebildeter Geist
dazu fähig sein?»
«Ja, denn Gott wird dich leiten.»
«Und wer wird mir von Gott
sprechen?»
«Deine wiedererstandene Seele,
vorerst...»
«Werde ich dich nie mehr
wiedersehen?»
«Nie mehr auf dieser Erde. Doch
bald werde ich dich völlig erlöst haben und deinen Geist vorbereiten auf den
Anstieg zu Gott.»
«Wie wird meine vollständige
Erlösung erfolgen, wenn ich dich nicht wiedersehe? Wie wirst du sie mir zuteil
werden lassen?»
«Ich werde für alle Sünder
sterben!»
«Nein! Du darfst nicht sterben!»
«Um euch das Leben zu schenken,
muß ich den Tod auf mich nehmen. Ich bin deshalb Mensch geworden. Weine nicht!
Du wirst mich bald dort erreichen, wo ich nach meinem und deinem Opfer bin.»
«Mein Herr! So werde auch ich für
dich sterben?»
«Ja, aber auf andere Art. Dein
Fleisch wird von Stunde zu Stunde durch das Mitwirken deines Willens
absterben. Es ist schon beinahe ein Jahr, daß es abstirbt; wenn es ganz
abgetötet sein wird, dann werde ich dich rufen.»
«Werde ich die Kraft haben, mein
sündhaftes Fleisch zu vernichten?»
«In der Einsamkeit, in der Satan
dich wütend mit allen seinen Mitteln versucht, wirst du, je mehr du dem Himmel
gehörst, einen Apostel finden, der einst Sünder war und dann erlöst wurde.»
«Also nicht den Gesegneten, der
mir von dir gesprochen hat? Er ist zu gut, er kann kein Sünder gewesen sein!»
«Nicht er ist es, sondern ein
anderer. Er wird zu dir kommen, wenn die Zeit reif ist. Er wird dir sagen, was
du noch nicht wissen kannst. Geh in Frieden! Der Segen Gottes sei mit dir!»
Aglaia war die ganze Zeit auf den
Knien; sie neigt sich jetzt, um Jesus
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die Füße zu küssen. Mehr wagt sie
nicht. Dann nimmt sie ihre Tasche und leert sie aus. Es kommen einfache
Kleider zum Vorschein, ein kleines klingendes Säckchen und ein Töpfchen aus
feinstem Alabaster.
Aglaia legt die Kleider wieder in
die Tasche, nimmt das Säckchen und sagt: «Das ist für die Armen; der Rest
meiner Schmuckstücke. Ich behalte nur die Münzen für die Wegzehrung... denn,
auch wenn du es nicht gesagt hättest, wäre ich in die Einsamkeit gegangen. Und
dies ist für dich. Es ist nicht so herrlich, wie der Duft deiner Heiligkeit,
aber doch vom Besten, was die Erde bieten kann. Es hat mir geholfen, das
Schlimmste zu tun... Hier! Gott möge mir erlauben, vor deinem Angesicht
wenigstens im Himmel einen solchen Wohlgeruch zu verbreiten.» Sie öffnet das
Gefäß und schüttet den kostbaren Inhalt auf den Boden. Ein starker Rosenduft
erfüllt die Luft, und die Ziegelsteine am Boden saugen die wertvollen Essenzen
auf. Aglaia legt das leere Gefäß in die Tasche zurück. «Zum Andenken an diese
Stunde», sagt sie und verneigt sich nochmals, um Jesu Füße zu küssen. Dann
erhebt sie sich, geht rückwärts zur Tür, tritt auf die Terrasse hinaus und
schließt die Tür... Man hört ihre Schritte sich entfernen auf die Treppe zu,
und ihre Stimme, die einige Worte mit Maria wechselt, und schließlich das
Geräusch der Sandalen, die die Treppe hinuntersteigen. Dann nichts mehr.
Von Aglaia bleibt nur das
Säckchen zu Füßen Jesu und der durchdringende Duft, der den ganzen Saal
erfüllt.
Jesus steht auf... nimmt das
Säcklein und verbirgt es an der Brust; dann geht er auf das Fenster an der
Straßenseite zu und lächelt, als er die Frau allein, in ihren hebräischen
Mantel gehüllt, in Richtung Bethlehem wandern sieht. Er macht ein Zeichen des
Segens, geht dann auf die Terrasse und ruft: «Maria!»
Maria geht rasch die Treppe
hinauf. «Du hast sie glücklich gemacht, mein Sohn. Sie ist gegangen,
gekräftigt und mit Frieden im Herzen!»
«Ja, Mutter. Wenn Andreas
zurückkommt, schicke ihn sogleich zu mir.»
Es vergeht eine geraume Zeit,
dann hört man die Stimmen der Apostel, die zurückkehren... Andreas eilt
herbei: «Meister, verlangst du nach mir?»
«Ja, komm her. Niemand wird es
erfahren; aber dir will ich es gerechterweise sagen. Andreas, ich danke dir,
im Namen Gottes und einer Seele.»
«Danke? Wofür?»
«Riechst du nicht diesen Duft? Es
ist das Andenken der Verschleierten. Sie ist gekommen. Sie ist gerettet!»
Andreas wird rot wie eine
Erdbeere, rutscht auf die Knie und ist sprachlos; dann sagt er: «Nun bin ich
zufrieden! Der Herr sei gepriesen!»
«Ja. Steh auf und sag es niemand,
wer hiergewesen ist.»
69
«Ich werde schweigen, Herr.»
«Geh nun! Höre, ist Judas des
Simon noch da?»
«Ja, er wollte uns begleiten und
hat... viele Lügen gesagt. Warum tut er das, Herr?»
«Weil er ein verzogener Junge
ist. Sag mir die Wahrheit: habt ihr euch gestritten?»
«Nein! Mein Bruder ist zu
glücklich mit seinem Kind, als daß er Lust zum Streiten hätte, und die
anderen... du weißt... sind klüger. Aber ganz bestimmt fühlen wir uns im
Herzen abgestoßen. Nach dem Abendessen geht er wieder fort. Andere Freunde,
sagt er... Oh! Und er verabscheut die Dirnen! ...»
«Sei gut, Andreas. Auch du sollst
an diesem Abend glücklich sein...»
«Ja, Meister. Auch ich habe meine
unsichtbare, aber süße Vaterschaft. Ich gehe.»
Nach einer Weile kommen die
Apostel mit dem Kind und Johannes von Endor. Es folgen ihnen die Frauen mit
den Speisen und den Lampen. Zuletzt kommt Lazarus mit Simon. Kaum haben sie
den Saal betreten, rufen sie aus: «Ah, von hierher kommt er!» und ziehen die
vom Rosenparfüm gesättigte Luft ein; gesättigt, trotz der weitgeöffneten
Türen.
«Wer hat diesen Raum so
parfümiert? Vielleicht Martha?» fragen mehrere.
«Meine Schwester hat das Haus
heute nach dem Mahl nicht verlassen», antwortet Lazarus.
«Wer dann? Irgendein assyrischer
Satrap?» scherzt Petrus.
«Die Liebe einer Erlösten», sagt
Jesus ernst.
«Sie hätte sich diesen unnötigen
Rauch für ihre Erlösung ersparen und die Kosten für die Armen verwenden
können. Es sind so viele; sie wissen, daß wir helfen. Ich habe keinen Pfennig
mehr», sagt Iskariot verärgert. «Wir müssen das Lamm kaufen, die Miete für den
Abendmahlsaal bezahlen und...»
«Oh, ich habe euch alles
angeboten», sagt Lazarus.
«Das ist nicht richtig. Das
Schöne am Ritus geht dabei verloren. Das Gesetz sagt: "Kaufe das Lamm für dich
und dein Haus." Es sagt nicht: "Laß dir das Lamm schenken."»
Bartholomäus wendet sich brüsk um
und öffnet den Mund, schließt ihn aber dann wieder. Petrus wird karminrot
unter der Anstrengung, den Mund zu halten und zu schweigen.
Der Zelote aber, der sich in
seinem eigenen Haus befindet, fühlt, daß er etwas sagen muß: «Das sind
rabbinische Spitzfindigkeiten. Ich bitte dich, sie zu unterlassen und meinem
Freund Lazarus Achtung zu bezeugen.»
«Bravo, Simon!» Petrus wäre
geplatzt, hätte er noch länger geschwiegen. «Bravo! Mir scheint, daß man ein
bißchen zu oft vergißt, daß nur der
70
Meister das Recht hat, zu
belehren...» Petrus sagt dieses "man" mit einer heroischen Anstrengung, um
nicht zu sagen: «Judas vergißt ...»
«Das ist wahr... aber... ich bin
nervös, das ist alles. Entschuldige, Meister!»
«Ja. Und ich will dir auch
antworten. Die Dankbarkeit ist eine große Tugend. Ich bin Lazarus dankbar, wie
die Erlöste mir dankbar war. Ich, das Haupt von euch allen, ergieße über
Lazarus den Duft meines Segens, auch für jene unter meinen Aposteln, die es
nicht zu tun verstehen. Die Frau hat zu meinen Füßen die Freude, erlöst zu
sein, ausgegossen. Sie hat den König erkannt und sie ist zum König gekommen,
viel früher als viele andere, denen der König viel mehr Liebe erwiesen hat als
ihr. Laßt sie es tun, ohne sie zu tadeln. Sie kann nicht dabei sein, wenn man
mir zujubelt, noch bei meiner Salbung. Ihr Kreuz ist schon auf ihren
Schultern. Petrus, du hast gefragt, ob ein assyrischer Satrap hierher gekommen
sei. Ich sage dir: nicht einmal der Weihrauch der Weisen, so rein und kostbar
er auch war, war köstlicher und wertvoller als dieser Wohlgeruch. Die Essenz
ist mit Tränen vermischt und daher so durchdringend: die Demut fördert die
Liebe und läßt sie vollkommen werden. Nun nehmen wir an der Tafel Platz,
Freunde...»
Und mit dem Anbieten der Speisen
endet die Vision.
241. DIE PRÜFUNG MARGZIAMS
Es muß der Mittwochmorgen sein,
denn die Gruppe der Apostel und Frauen, von Jesus, Maria und dem Kleinen
angeführt, nähert sich dem Fischtor. Unter ihnen ist auch Joseph von
Arimathäa, der, getreu dem gegebenen Wort, ihnen entgegengegangen ist. Jesus
sucht mit den Blicken den Soldat Alexander, sieht ihn aber nicht.
«Auch heute ist er nicht da. Ich
möchte wissen, warum...»
Doch es sind so viele Leute da,
daß es nicht möglich ist, sich an die Soldaten zu wenden; es wäre vielleicht
auch unklug, denn die Judäer sind unerbittlicher denn je wegen des
bevorstehenden Festes und auch wegen der Gefangennahme des Täufers, bei der
sie auch Pilatus und seine Satelliten der Mithilfe verdächtigen. Ich entnehme
dies Schimpfworten und Beleidigungen, die am Tor zwischen Soldaten und
Bewohnern hin- und herfliegen; aus solchen erregten Wortgefechten können aber
leicht jeden Augenblick blutige Zusammenstöße aufflackern wie das Feuer aus
einem Feuerrad. Die Frauen von Galiläa sind entrüstet und hüllen sich fester
als sonst in ihre Schleier und Mäntel. Maria errötet, schreitet aber sicher
voran, aufrecht wie eine Palme und ihren Sohn betrachtend, der seinerseits
nicht einmal versucht, die aufgebrachten Hebräer zur Vernunft zu ermahnen
71
oder den Soldaten Nachsicht für
die Hebräer zu empfehlen. Da auch immer wieder wenig schöne Bemerkungen gegen
die Galiläer fallen, geht Joseph von Arimathäa zu Jesus nach vorne; die Menge,
die ihn erkennt, schweigt aus Respekt vor ihm.
Das Fischtor ist endlich
durchschritten, und der Menschenstrom, der sich wellenartig in die Stadt
ergießt und in dem auch Esel und andere Tiere zu erkennen sind, verläuft sich
in den Gassen...
«Hier sind wir, Meister!» grüßt
Thomas, der mit Philippus und Bartholomäus am Tor wartet.
«Ist Judas nicht da? Warum seid
ihr hier?» fragen einige.
«Nein. Wir sind hier seit dem
frühen Morgen aus Angst, daß du dein Kommen vorverlegen könntest. Aber ihn
haben wir nicht gesehen. Gestern bin ich ihm begegnet. Er war mit Sadok, dem
Schriftgelehrten, weißt du, Joseph? Der alte Magere mit dem Muttermal unter
dem Auge. Es waren auch andere dabei... junge. Ich habe ihm zugerufen: "Ich
grüße dich, Judas", aber er hat nicht geantwortet und getan, als ob er mich
nicht kenne. Ich sagte: "Aber was hat er denn?" Ich bin ihm einige Meter
nachgegangen. Er hat sich von Sadok getrennt, bei dem ein Levit war, und hat
sich anderen seines Alters angeschlossen, die bestimmt nicht Leviten waren...
Und nun ist er nicht da... Er wußte doch, daß wir beschlossen hatten, uns hier
zu treffen.»
Philippus sagt nichts.
Bartholomäus preßt die Lippen zusammen, bis sie ganz verschwinden, als ob er
eine Sperre bilden wollte für das Urteil, das ihm aus dem Herzen aufsteigt.
«Gut, gut! Wir gehen trotzdem!
Ich werde bestimmt wegen seiner Abwesenheit nicht weinen», sagt Petrus.
«Wir wollen noch ein wenig
warten. Er kann unterwegs aufgehalten worden sein», sagt Jesus ernst.
Sie bleiben an der Mauer im
Schatten stehen; die Frauen bilden eine Gruppe, die Männer eine andere. Alle
sind festlich gekleidet. Petrus sogar vornehm. Er hat eine neue Kopfbedeckung,
weiß wie Schnee und von einer Borte gehalten, die mit Rot und Gold bestickt
ist. Außerdem trägt er sein bestes dunkelgranatrotes Gewand, das von einem
neuen Gürtel gehalten wird, ähnlich der Borte der Kopfbedeckung. An diesem
Gürtel hängt sein Messer mit dem ziselierten Griff, das in einer Scheide aus
durchbrochenem Messing steckt, durch die das glänzende Eisen der Schneide
blinkt. Auch die anderen sind mehr oder weniger so bewaffnet. Nur Jesus hat
keine Waffe. Er trägt ein schneeweißes Leinenkleid mit einem hellblauen
Mantel, den Maria bestimmt während des Winters gewoben hat. Margziam ist
hellrot gekleidet, mit einer etwas dunkleren Borte am Hals, am Saum und an den
Ärmeln, und einer ebensolchen Borte, die bestickt ist, in der Höhe des Gürtels
und an den Rändern des Mantels, den das Kind zusammengefaltet über dem Arm
trägt und zufrieden streichelt.
72
Von Zeit zu Zeit erhebt es sein
Gesicht, das teils froh und teils besorgt aussieht... Auch Petrus hat ein
Paket in der Hand, das er sorgfältig hütet.
Die Zeit vergeht, doch Judas
kommt nicht.
«Er hat sich nicht
herabgelassen», brummt Petrus, und vielleicht würde er noch anderes
hinzufügen; doch der Apostel Johannes sagt: «Vielleicht erwartet er uns am
Goldenen Tor.»
Sie gehen zum Tempel, doch Judas
ist nicht dort.
Joseph von Arimathäa verliert die
Geduld. Er sagt: «Gehen wir.»
Margziam wird ein wenig bleich;
er küßt Maria und sagt: «Bete! ... Bete! ...»
«Ja, Liebes, hab keine Angst. Du
weißt alles ...»
Margziam hängt sich nun an
Petrus. Er drückt fest dessen Hand, und da er sich immer noch nicht sicher
fühlt, möchte er auch die Hand Jesu ergreifen. «Ich komme nicht, Margziam. Ich
bete für dich. Wir werden uns nachher sehen.»
«Du kommst nicht? Warum,
Meister?» fragt Petrus überrascht.
«Weil es besser so ist!» Jesus
ist sehr ernst, ich würde sagen traurig. Er schließt: «Joseph, der Gerechte,
kann mein Tun verstehen.» In der Tat, Joseph widerspricht ihm nicht und stimmt
mit seinem Schweigen und einem tiefen Seufzer zu.
«Also, gehen wir!» Petrus ist
etwas betrübt.
Margziam ergreift nun die Hand
von Johannes. Sie folgen Joseph, der ununterbrochen von allen Seiten mit
tiefen Verbeugungen gegrüßt wird. Mit ihnen gehen Simon und Thomas, die
anderen bleiben bei Jesus. Sie betreten den Saal, den seinerzeit auch Jesus
betreten hat. Ein Jüngling, der in einer Ecke schreibt, erhebt sich sofort als
er Joseph sieht, und verbeugt sich bis zur Erde.
«Gott sei mit dir, Zacharias! Geh
und rufe Asrael und Jakobus.»
Der Junge geht und kommt mit zwei
Rabbis zurück. Synagogenvorsteher? Schriftgelehrte? Ich weiß es nicht. Zwei
hochnäsige Persönlichkeiten' die ihren Dünkel nur vor Joseph fallen lassen.
Hinter ihnen kommen noch andere acht, weniger wichtige Personen. Sie setzen
sich, während sie die Bittsteller stehen lassen, den von Arimathäa
inbegriffen.
«Was willst du, Joseph?» fragt
der Älteste.
«Eurer Weisheit diesen Sohn
Abrahams vorstellen, der das vorgeschriebene Alter erreicht hat, um
gesetzmäßig zu werden und sich selbst zu leiten.»
«Ein Verwandter von dir?» Sie
schauen erstaunt.
«In Gott sind wir alle verwandt.
Doch der Junge ist Waise, und dieser Mann, für dessen Ehrbarkeit ich bürge,
hat ihn an Kindes Statt angenommen, da er keine eigenen Kinder hat.»
«Wer ist der Mann? Er antworte
selbst.»
«Simon des Jonas, aus Bethsaida
in Galiläa, verheiratet, ohne
73
Nachkommen, Fischer für die Welt,
Sohn des Gesetzes vor dem Allerhöchsten.»
«Galiläer, nimmst du die
Vaterschaft auf dich? Warum?»
«Das Gebot sagt, man soll sich
der Waisen und der Witwen annehmen. Ich tue dies.»
«Kann der Kleine das Gesetz so
gut kennen, um würdig zu sein... Du, Knabe, antworte. Wer bist du?»
«Jabe Margziam des Johannes, von
den Ländereien bei Emmaus, vor zwölf Jahren geboren.»
«Judäer also. Ist es erlaubt, daß
ein Galiläer für ihn sorgt? Laßt uns das Gesetz prüfen!»
«Aber wer bin ich denn? Ein
Aussätziger oder ein Verfluchter?» Das Blut des Petrus beginnt zu kochen.
«Sei still, Petrus! Ich werde
reden. Ich habe euch gesagt, daß ich für diesen Mann bürge. Ich kenne ihn, als
würde er zu meinem Haus gehören. Der "Älteste" Joseph würde niemals eine Sache
unterstützen, die gegen das Gesetz ist... oder auch nur gegen die
Vorschriften... Prüft also den Knaben mit Gerechtigkeit und Aufmerksamkeit.
Der Vorraum ist voller Knaben, die auf ihre Prüfung warten. Seid nicht so
langsam, nehmt Rücksicht auf alle.»
«Aber wer beweist uns, daß der
Junge zwölf Jahre alt und vom Tempel losgekauft ist?»
«Du kannst es mit den Schriften
beweisen. Eine langweilige Sucherei, aber man kann es tun. Junge, du hast
gesagt, daß du ein Erstgeborener bist?»
«Ja, Herr! Du kannst es
überprüfen, denn ich wurde dem Herrn geheiligt und mit den erforderlichen
Gaben losgekauft.»
«So wollen wir diese Eintragungen
suchen ...» sagt Joseph.
«Nicht nötig!» antworten trocken
die beiden Spitzfindigen.
«Komm hierher, Knabe. Sag die
Zehn Gebote»; das Kind sagt sie sicher auf. «Gib mir die Rolle, Jakob! So, nun
lies, wenn du lesen kannst.»
«Wo, Rabbi?»
«Wo du willst. Wo dein Auge
hinfällt», sagt Asrael.
«Nein! Hier. Gib her», sagt
Jakob, öffnet die Rolle bis zu einer gewissen Stelle und sagt dann: «Hier!»
«"Alsdann sagte er zu ihnen
insgeheim: 'Preist den Gott des Himmels und lobt ihn vor allen Lebenden, denn
er hat euch seine Barmherzigkeit erwiesen. Es ist gut, das Geheimnis des
Königs verborgen zu halten, aber es ist auch ehrenhaft, es zu offenbaren!"'»
«Genug! Genug! Was bedeuten
diese?» fragt Jakobus und deutet auf seine Fransen am Mantel.
«Die heiligen Fransen, Herr; wir
tragen sie, um uns an die Vorschriften des Allerhöchsten Herrn zu erinnern.»
74
«Ist es einem Israeliten erlaubt,
sich mit jedem Fleisch zu nähren?» fragt Asrael.
«Nein, Herr, nur mit solchem, das
als rein erklärt worden ist.»
«Sag mir die Vorschriften...»
Das fügsame Kind beginnt die
Litanei der: "Du sollst nicht..."
«Genug, genug! Als Galiläer weißt
du sogar zuviel. Mann, nun ist es an dir, zu schwören, daß der Sohn volljährig
ist...»
Petrus sagt mit all dem Anstand,
über den er nach der Marter noch verfügt, seinen kleinen väterlichen Spruch
auf: «Wie ihr habt beobachten können, ist mein Sohn nach Erreichung des
vorgeschriebenen Alters fähig, sich zu benehmen, da er das Gesetz, die Gebote,
die Gebräuche, die Überlieferungen, die Zeremonien, die Segnungen und die
Gebete kennt. Daher kann von mir und von ihm, wie ihr feststellt, die
Volljährigkeit gefordert werden. Das mußte wahrlich zuerst von mir gesagt
werden! Aber es sind hier die Gebräuche verletzt worden, nicht von uns
Galiläern, und der Knabe ist vor dem Vater befragt worden. Nun aber sage ich
euch, da ihr ihn als fähig und volljährig anerkennt: ich bin von nun an nicht
mehr verantwortlich für seine Taten, weder vor Gott noch vor den Menschen ...»
«Geht nun in die Synagoge.»
Die kleine Prozession begibt sich
vor den mißtrauischen Gesichtern der Rabbis, die Petrus zurechtgewiesen hat,
in die Synagoge. Aufrecht vor den Pulten und den Lampen stehend, läßt Margziam
den Haarschnitt über sich ergehen, der unterhalb der Ohren beginnt. Dann
öffnet Petrus sein Bündel und entnimmt diesem einen schönen roten, mit
Goldfäden bestickten Gürtel und bindet ihn dem Knaben um die Taille. Während
die Priester an der Stirne und am Arm die Lederstreifen anbringen, beeilt sich
Petrus, am Mantel, den ihm Margziam gereicht hat, die heiligen Fransen zu
befestigen. Petrus ist sehr gerührt, als er das Loblied an den Herrn anstimmt!
...
Die Zeremonie ist beendet. Sie
machen, daß sie rasch wegkommen, und Petrus sagt: «Gott sei Dank! Ich hätte
mich nicht länger beherrschen können. Hast du gesehen, Joseph? Sie haben nicht
einmal den Ritus eingehalten. Das ist bedeutungslos! Du... du, mein Sohn, hast
jemand, der dich weiht! Gehen wir, um ein Lämmlein für das Opfer zu kaufen zum
Lob des Herrn. Ein liebes Lämmlein, wie du. Ich danke dir, Joseph. Sage auch
du "Danke" zu diesem großen Freund! Ohne dich hätten sie uns noch schlechter
behandelt.»
«Simon, ich bin glücklich, daß
ich einem Gerechten wie dir nützlich sein konnte, und ich bitte dich, in mein
Haus nach Bezetha zum Mahl zu kommen. Und mit dir alle anderen,
selbstverständlich!»
«Wir wollen zum Meister gehen und
es ihm sagen. Für mich ist das zuviel Ehre!» sagt Petrus demütig; aber er
strahlt vor Freude.
75
Sie gehen durch die verschiedenen
Höfe bis zu dem der Frauen, wo Margziam von allen beglückwünscht wird. Dann
treten die Männer in den Vorhof der Israeliten, wo Jesus mit den Seinen weilt.
Sie versammeln sich alle in einer Gruppe voller Glück, und während Petrus
geht, sein Lämmlein zu opfern, erreichen sie durch die Hallen und Höfe die
äußerste Umfassungsmauer.
Wie glücklich ist Petrus mit
seinem Kind, das nun ein vollkommener Israelit ist! So glücklich, daß er die
Falte nicht bemerkt, welche die Stirne Jesu teilt. So glücklich, daß er das
bedrückende Schweigen der Gefährten nicht spürt. Erst im Saale des Hauses
Josephs, als das Kind auf die Frage, was es in Zukunft zu tun gedenke,
erklärt: «Ich will Fischer werden, wie mein Vater ...» kommt Petrus unter
Tränen zur Ernüchterung.
«Oh, Judas hat uns einen Tropfen
Gift in dieses Fest geträufelt... und du bist betrübt, Meister... und die
anderen sind traurig darüber. Verzeiht alle, daß ich es nicht eher bemerkt
habe... Ach! dieser Judas!»
Ich glaube, sein Seufzer ist in
allen Herzen... Aber, um das Gift von ihnen zu nehmen, bemüht Jesus sich zu
lächeln und sagt: «Sei nicht traurig, Petrus. Es fehlt nur deine Frau zum
Fest, und ich habe auch an sie gedacht... Sie ist so gut und immer
opferwillig! Aber bald wird sie ihre unerwartete Freude haben, und wer weiß,
wie glücklich sie sein wird. Denken wir an das Schöne auf der Welt. Komm!
Nicht wahr, Margziam hat gut geantwortet? Ich wußte es im voraus.»
Joseph kommt herein, nachdem er
den Dienern Anweisung gegeben hat. «Ich danke euch allen», sagt er, «daß ihr
mich mit dieser Zeremonie verjüngt habt und mir nun die Ehre erweist, den
Meister, seine Mutter, die Verwandten und euch, liebe Mitjünger, in meinem
Haus zu empfangen. Kommt in den Garten! Dort gibt es Luft und Blumen...»
Und alles ist zu Ende.
242. AM ABEND VOR OSTERN IM
TEMPEL
Osterabend! Jesus ist mit seinen
Aposteln allein, denn die Frauen sind nicht bei der Gruppe, und sie warten auf
die Rückkehr des Petrus, der das Osterlamm zum Opfer dargebracht hat. Während
sie warten, und Jesus dem Kind von Salomon erzählt, erscheint plötzlich Judas
im großen Hof. Er befindet sich in einer Gruppe von Jünglingen und redet mit
ausholenden Gesten und gekünstelter Haltung. Sein Mantel ist dauernd in
Bewegung; er hat ihn in seiner gesuchten Art umgehängt ... Ich bin sicher, daß
Cicero bei seinen Reden nicht eindrucksvoller war ...
«Sieh dort, Judas!» sagt
Thaddäus.
«Er ist in einer Gruppe von
"Saforim"», bemerkt Philippus.
76
Thomas erklärt: «Ich gehe und
höre, was er sagt» und geht, ohne darauf zu warten, daß Jesus sein
voraussehbares "Nein" sagen kann.
Jesus... Oh, welch einen
Gesichtsausdruck hat Jesus! Einen Ausdruck des wahren Leidens und des ernsten
Urteils! Margziam, der ihn schon vorher betrachtet hat, während er ihm sanft
und leicht betrübt vom großen König Israels erzählte, sieht diese Veränderung
und erschrickt. Er ergreift die Hand Jesu, damit dieser wieder zu sich selbst
kommt, und sagt: «Schau nicht hin! Schau nicht hin! Sieh mich an; ich habe
dich sehr lieb.»
Thomas gelingt es, sich Judas zu
nähern, ohne von ihm gesehen zu werden, und er folgt ihm einige Schritte. Ich
weiß nicht, was er zu hören bekommt, ich höre nur einen plötzlichen,
dröhnenden Ausruf, der viele aufschreckt, besonders Judas, der vor Zorn
erbleicht: «Aber wie viele Rabbis gibt es denn in Israel! Ich beglückwünsche
dich und mich, neues Licht der Weisheit!»
«Ich bin kein Kiesel, sondern ein
Schwamm. Ich sauge auf. Und wenn der Wunsch der nach Weisheit Hungernden es
verlangt, dann quetsche ich mich aus, um mich mit allen meinen Lebenssäften
hinzugeben.» Judas ist aufgeblasen und verächtlich.
«Du möchtest ein getreues Echo
sein. Aber das Echo muß, um anzudauern, bei der Stimme bleiben. Sonst stirbt
es, Freund. Und mir scheint, daß du dich von ihr entfernst. Er ist dort.
Kommst du nicht?»
Judas nimmt alle Farben und einen
wütenden und widerlichen Gesichtsausdruck an wie in seinen schlimmsten
Momenten. Aber er beherrscht sich. Er sagt: «Ich grüße euch, Freunde. Ich gehe
mit dir, Thomas, mein lieber Freund. Wir wollen sofort zum Meister gehen. Ich
wußte nicht, daß er im Tempel war. Wenn ich es gewußt hätte, dann hätte ich
ihn gesucht.» Und er legt einen Arm um die Schultern des Thomas, als ob er
eine große Zuneigung zu ihm spüre. Doch Thomas, der zwar friedlich, doch kein
Dummkopf ist, läßt sich nicht täuschen und fragt ein wenig spöttisch: «Wie,
weißt du nicht, daß Ostern ist? Und meinst du, daß der Meister das Gesetz
nicht einhält?»
«O nein! Aber im vergangenen
Jahre hat er sich gezeigt und gesprochen... Ich erinnere mich genau an diesen
Tag. Er hat mich angezogen durch seine königliche Gewalt... Nun kommt er mir
vor wie einer, der seine Kraft verloren hat. Meinst du nicht auch?»
«Mir scheint es nicht so. Mir
kommt er vor wie einer, der an Achtung verloren hat.»
«In seiner Mission? Du hast
recht,»
«Nein, du verstehst mich falsch.
Er hat bei den Menschen an Vertrauen verloren. Und du gehörst zu denen, die
dazu beitragen. Schäme dich!»Thomas lacht nicht mehr. Er ist tiefernst, und
sein «Schäme dich!» ist schneidend wie ein Peitschenhieb.
77
«Achte darauf, wie du redest!»
sagt Iskariot drohend.
«Achte darauf, was du tust. Wir
sind hier zwei Judäer ohne Zeugen. Und daher rede ich. Und ich sage dir
nochmals: "Schäme dich!" Aber jetzt schweige! Spiele nur nicht den Beleidigten
und Gekränkten, denn sonst rede ich vor allen. Dort sind der Meister und die
Gefährten. Richte dich danach.»
«Der Friede sei mit dir! Meister
...»
«Der Friede sei mit dir! Judas
des Simon.»
«Ich freue mich sehr, dich hier
zu sehen... Ich muß mit dir reden ...»
«Sprich!»
«Weißt du... Ich wollte dir
sagen... Willst du mich nicht abseits anhören?»
«Du bist unter Gefährten.»
«Aber ich möchte dich allein
sprechen.»
«In Bethanien stehe ich allen zur
Verfügung, die mich wollen und aufsuchen. Aber du suchst mich nicht. Du
weichst mir aus ...»
«Nein, Meister, das darfst du
nicht sagen.»
«Warum hast du gestern Simon und
mich und mit uns Joseph von Arimathäa, die Gefährten, meine Mutter und die
anderen beleidigt?»
«Ich? Aber ich habe euch doch
nicht gesehen!»
«Du hast uns nicht sehen wollen.
Warum bist du nicht gekommen, wie es vereinbart war, um dem Herrn für einen
Unschuldigen, der ins Gesetz aufgenommen wurde, zu danken? Antworte! Du hast
es nicht einmal für nötig gehalten, uns Bescheid zu geben, daß du nicht
kommst!»
«Da ist mein Vater!» schreit
Margziam, der Petrus entdeckt, mit seinem geschlachteten, ausgenommenen Lamm,
das wieder in sein Fell gehüllt ist. «Oh, es begleiten ihn Michäas und die
anderen! Ich gehe... Darf ich ihm entgegengehen, um von ihnen etwas über
meinen Großvater zu erfahren? ...»
«Geh, Sohn», sagt Jesus, ihn
liebkosend. Dann fügt er hinzu, indem er Johannes von Endor an der Schulter
berührt: «Ich bitte dich, begleite ihn und halte sie ein wenig auf.»
Schließlich wendet er sich aufs neue an Judas: «Ich warte auf deine Antwort!»
«Meister, eine unvorhergesehene
Verpflichtung... eine unumgängliche... Es tut mir leid... aber ...»
«Und es gab in Jerusalem keinen,
der deine Entschuldigung hätte überbringen können, angenommen, daß du eine
hattest? Und diese Entschuldigung wäre auf jeden Fall ein Fehler gewesen. Ich
möchte dich daran erinnern, daß erst kürzlich ein Mann darauf verzichtet hat,
seinen Vater zu begraben, um mir nachzufolgen, und daß diese meine Brüder
trotz der Verwünschungen das väterliche Haus verlassen haben, um mir zu
folgen. Simon und Thomas und mit ihnen Andreas, Jakobus, Johannes, Philippus
und Nathanael haben ihre Familien verlassen, Simon der Kananiter
78
hat auf seine Reichtümer
verzichtet, um sie mir zu geben, und Matthäus hat der Sünde den Rücken
gewendet, um mir nachzufolgen. Ich könnte fortfahren und weitere hundert Namen
aufzählen. Unter ihnen sind Männer, die ihr Leben hingeben, sogar das Leben,
um mir ins Himmelreich zu folgen. Aber da du wenig hochherzig bist, sei
wenigstens anständig. Du kennst keine Nächstenliebe, sei also wenigstens
höflich. Ahme, da sie dir gefallen, die falschen Pharisäer nach, die mich
verraten, die uns verraten, und sich dabei als gut erzogen erweisen. Deine
Pflicht wäre es gewesen, dich gestern für uns frei zu machen, um Petrus nicht
zu kränken. Denn ich verlange, daß er von allen geachtet wird. Du hättest
wenigstens eine Nachricht schicken können.»
«Ich habe gefehlt. Aber jetzt bin
ich eigens gekommen, um dich zu suchen und dir zu sagen, daß ich aus dem
gleichen Grund auch morgen nicht kommen kann. Weißt du... Ich habe Freunde
meines Vaters und...»
«Genug! Geh mit ihnen! Leb wohl!»
«Meister, zürnst du mir? Du hast
doch gesagt, daß du mir Vater sein willst... ich bin ein leichtfertiger Junge;
aber ein Vater verzeiht...»
«Ich verzeihe dir, ja. Doch nun
geh. Laß die Freunde deines Vaters nicht länger warten, wie auch ich die
Freunde des heiligen Jonas nicht länger warten lasse.»
«Wann wirst du Bethanien
verlassen?»
«Am Ende der ungesäuerten Brote.
Leb wohl!»
Jesus wendet sich um und geht zu
den Landarbeitern, die verzückt vor dem veränderten Margziam stehen. Er macht
nur einige Schritte, dann bleibt er auf den Rat von Thomas stehen: «Bei
Jehova! Er wollte dich in der königlichen Macht sehen! Er hat sie nun
erfahren.»
«Ich bitte euch alle, den Vorfall
zu vergessen, so wie ich mich bemühe, es zu tun. Ich befehle euch, vor Simon
des Jonas, Johannes von Endor und dem Kind zu schweigen. Aus Gründen, die zu
verstehen eure Intelligenz imstande ist, ist es besser, die drei nicht zu
betrüben und ihnen kein Ärgernis zu bereiten. Und schweigt darüber in
Bethanien vor den Frauen. Meine Mutter ist dort, denkt daran!»
«Sei beruhigt, Meister!»
«Wir wollen alles tun, um
wiedergutzumachen.»
«Und auch, um dich zu trösten»,
sagen alle.
«Danke... Oh, der Friede sei mit
euch allen! Isaak hat euch gefunden, das macht mir Freude. Genießt im Frieden
euer Osterfest! Meine Hirten werden euch gute Brüder sein. Isaak, bevor sie
fortgehen, bringe sie zu mir. Ich will sie nochmals segnen. Habt ihr das Kind
gesehen?»
«O Meister! Wie gut es ihm nun
geht! Es ist aufgeblüht. Oh, wir wollen es dem alten Vater berichten. Wie wird
er darüber glücklich sein! Dieser Gerechte hat uns gesagt, daß Jabe nun sein
Sohn ist... Eine Vorsehung! Wir werden alles erzählen.»
79
«Auch daß ich nun ein Sohn des
Gesetzes bin. Und daß ich glücklich bin. Und daß ich immer an ihn denke. Und
daß er meinetwegen und wegen Mama nicht weinen soll. Sie ist mir und auch ihm
nahe wie ein Engel, und in seiner Todesstunde wird sie bei ihm sein; sobald
Jesus die Pforten des Himmels geöffnet hat, wird die Mama, schöner als ein
Engel, dem alten Vater entgegengehen und ihn zu Jesus führen. Er hat es
gesagt. Wollt ihr es ihm wiederholen? Könnt ihr es ihm wiederholen?»
«Ja, Jabe.»
«Nein. Jetzt heiße ich Margziam.
Die Mama des Herrn hat mir diesen Namen gegeben. Es ist, wie wenn man ihren
Namen sagt. Sie ist so gütig. Sie bringt mich jeden Abend zu Bett und lehrt
mich die gleichen Gebete wie ihrem eigenen Kind. Sie weckt mich mit einem Kuß,
kleidet mich an und lehrt mich viele Dinge. Aber auch er. Sie gehen so leicht
ein, daß man sie ohne Mühe lernt. Mein Meister!» Das Kind drängt sich an Jesus
mit einer solchen Verehrung im Ausdruck und in der Bewegung, die tief bewegt.
«Ja, sagt alles und sagt auch,
daß der Alte die Hoffnung nicht aufgeben soll. Dieser Engel betet für ihn, und
ich segne ihn. Auch euch segne ich. Geht! Der Friede sei mit euch!»
Die Gruppen trennen sich, und
jeder geht seines Weges.
243. JESUS LEHRT DAS VATERUNSER
Jesus verläßt mit den Seinen ein
Haus in der Nähe der Mauer, wohl in der Gegend von Bezetha, denn beim
Verlassen der Stadt müssen sie am Haus Josephs vorbei, das sich am Herodestor
befindet. Die Stadt ist halb verlassen in dieser friedlichen, vom Mondschein
erhellten Nacht. Ich verstehe, daß das Ostermahl in einem der Häuser von
Lazarus eingenommen worden ist, jedoch auf keinen Fall in dem des
Abendmahlsaales. Es liegt gerade in der entgegengesetzten Richtung. Das eine
liegt im Norden, das andere im Süden Jerusalems.
An der Haustüre verabschiedet
sich Jesus auf seine freundliche Art von Johannes von Endor, den er zum Schutz
der Frauen zurückläßt; er dankt dafür. Er küßt Margziam, der ebenfalls an die
Türe gekommen ist, und geht dann zum Herodestor hinaus.
«Wohin gehen wir, Herr?»
«Kommt mit mir! Ich will das
Osterfest mit einer kostbaren und ersehnten Perle krönen. Daher wollte ich mit
euch allein sein. Mit meinen Aposteln! Danke, Freunde, für eure große Liebe zu
mir. Wenn ihr sehen könntet, wie sie mich tröstet, wäret ihr überrascht.
Schaut: ich schreite inmitten dauernder Sorgen und Enttäuschungen voran.
Enttäuschungen
80
für euch! Denn für mich, seid
dessen versichert, gibt es keine, da mir die Gabe des Nichtwissens nicht
beschieden ist... Auch aus diesem Grunde möchte ich euch raten, euch von mir
leiten zu lassen. Wenn ich einem dies oder jenes erlaube, dann hindert ihn
nicht! Wenn ich nichts unternehme, um einer Sache ein Ende zu setzen, so tut
es nicht eurerseits. Alles hat seine Zeit. Habt Vertrauen in mich, in allem.»
Sie befinden sich an der
nordöstlichen Ecke der Umfassungsmauern. Von dort aus gehen sie am Berg Moriah
entlang bis zur Stelle, wo sie auf einer kleinen Brücke den Kedron
überschreiten können.
«Gehen wir nach Gethsemane?»
fragt Jakobus des Alphäus.
«Nein, höher, auf den Ölberg.»
«Oh, oben ist es schön!» sagt
Johannes.
«Das hätte dem Kind auch
gefallen», murmelt Petrus.
«Es wird noch oft dorthin kommen.
Es war müde. Es ist ja noch ein Kind. Ich möchte euch etwas Großes geben, denn
die Zeit dafür ist reif.»
Sie steigen zwischen den Ölbäumen
hinauf, lassen Gethsemane zu ihrer Rechten und gehen weiter bis zum Gipfel,
auf dem die Ölbäume einen rauschenden Kamm bilden.
Jesus bleibt stehen und sagt:
«Machen wir etwas halt, meine teuren und lieben Jünger, meine künftigen
Nachfolger. Kommt in meine Nähe! Mehrmals habt ihr mir gesagt: "Lehre uns, zu
beten, wie du betest. Lehre uns, wie Johannes der Täufer die Seinen gelehrt
hat, damit wir Jünger mit den Worten des Meisters beten können." Ich habe euch
stets geantwortet: "Ich werde es tun, sobald ich in euch ein Mindestmaß an
notwendiger Vorbereitung sehe, damit dieses Gebet keine leere Formel
menschlicher Wörter sei, sondern wahres Gespräch mit dem Vater." Jetzt ist die
Zeit gekommen. Ihr seid genügend vorbereitet, um die Worte zu kennen, die
würdig sind, zu Gott gesagt zu werden. Und ich will sie euch heute abend
lehren, im Frieden und in der Liebe, die zwischen uns herrschen; im Frieden
und in der Liebe Gottes und mit Gott, denn wir haben als echte Israeliten das
Ostergebot und das göttliche Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten befolgt.
Einer von euch hat in diesen Tagen sehr gelitten. Gelitten wegen einer
unverdienten Behandlung und der Mühe, die er auf sich nahm, um das Ärgernis zu
überwinden. Ja, Simon des Jonas, komm her! Kein Zucken deines ehrbaren Herzens
ist verborgen geblieben und kein Leid gegeben, das ich nicht mit dir geteilt
habe. Ich und auch deine Gefährten...»
«Aber du, Herr, bist tiefer
beleidigt worden als ich! Das war für mich ein weit größerer Schmerz...
größer, nein spürbarer... Schau: daß Judas es für gut fand, nicht an meinem
Fest teilzunehmen, hat mich als Mensch gekränkt. Aber sehen zu müssen, daß du
betrübt und beleidigt warst, hat mir auf eine andere Art weh getan; deswegen
habe ich doppelt gelitten ... Ich... ich will mich nicht loben... indem ich
deine Worte gebrauche ...
81
Aber ich muß sagen – wenn ich
hochmütig bin, sage es mir – ich muß sagen, daß ich in meiner Seele gelitten
habe... und das tut viel mehr weh.»
«Das ist nicht Hochmut, Simon! Du
hast seelisch gelitten, weil Simon des Jonas, der Fischer von Galiläa, dabei
ist, sich in Petrus des Jesus zu verwandeln; in Petrus des Jesus, des Meisters
der Seele, durch den auch seine Jünger tätig und weise im Geiste werden. Und
für diesen deinen Fortschritt und für euren Fortschritt im Leben des Geistes,
will ich euch heute abend das Gebet lehren. Wie sehr habt ihr euch verändert,
seit unserem Aufenthalt in der Einsamkeit!»
«Alle, Herr?» fragt Bartholomäus
etwas ungläubig.
«Ich verstehe, was du sagen
willst... Aber ich spreche zu euch Elfen, nicht zu anderen...»
«Aber was hat denn Judas des
Simon, Meister? Wir verstehen ihn nicht mehr... Er schien so anders geworden
zu sein, und nun, seit wir den See verlassen haben ...», sagt Andreas ganz
untröstlich.
«Schweige, Bruder! Den Schlüssel
des Geheimnisses habe ich! Da hat sich ein Stückchen von Beelzebub
eingemischt. Er hat ihn in der Höhle von Endor aufgesucht, um ihn in Staunen
zu versetzen; er ist bedient worden! Der Meister hat es an jenem Tag gesagt...
In Gamala sind die Teufel in die Schweine gefahren. In Endor sind die Teufel,
die den unglücklichen Johannes verließen, in ihn hineingefahren... Es versteht
sich von selbst, daß... Laß es mich sagen, Meister! Es steckt mir im Halse,
und wenn ich es nicht sage, bleibt es drin und erstickt mich...»
«Simon, sei gut!»
«Ja, Meister... Und ich
versichere dir, daß ich nicht ungut zu ihm sein werde. Aber ich sage und
denke, daß Judas, der ein lasterhafter Mensch ist – alle haben wir das erkannt
– etwas vom Schweine hat, und man versteht, daß die Dämonen gerne Schweine für
ihren Wohnungswechsel wählen. So, nun habe ich es gesagt.»
«Du meinst, daß es so ist?» fragt
Jakobus des Zebedäus.
«Was soll es sonst sein? Es gibt
keinen anderen Grund dafür, daß er so unerträglich geworden ist. Schlimmer als
beim "Trügerischen Gewässer"! Damals konnte man noch annehmen, es seien der
Ort und die Jahreszeit, die ihn beunruhigten. Aber nun ...»
«Es gibt einen anderen Grund,
Simon ...»
«Sage ihn, Meister! Ich lasse
mich gerne eines Besseren belehren.»
«Judas ist eifersüchtig. Er ist
unruhig aus Eifersucht.»
«Eifersüchtig? Auf wen? Er hat
keine Frau, und wenn er eine hätte und es mit den Frauen hätte: ich glaube,
keiner von uns würde den Mitjünger deswegen verachten...»
«Er ist eifersüchtig auf mich.
Überlege: Judas hat sich nach Endor und Esdrelon verändert. Als er sah, daß
ich mich um Johannes und Jabe kümmere. Nun aber, da Johannes, vor allem
Johannes, sich entfernt, weil er
82
von mir weg zu Isaak geht, wirst
du sehen, daß Judas wieder fröhlich und gut wird.»
«Nun gut. Du wirst mir aber doch
nicht sagen wollen, daß er nicht von einem Teufelchen besessen ist. Und vor
allem... Nein, ich sage es! Und vor allem wirst du doch nicht behaupten
wollen, daß er sich in diesen Monaten gebessert hat. Auch ich bin letztes Jahr
eifersüchtig gewesen. Ich wollte keinen anderen mehr als uns sechs, die ersten
sechs, erinnerst du dich? Nun, nun... laß mich einmal Gott zum Zeugen meiner
Gedanken anrufen. Nun sage ich, daß ich um so glücklicher bin, je mehr Jünger
sich um dich scharen. Oh, ich möchte alle Menschen gewinnen und sie dir
bringen; ich möchte alle Mittel haben, um denen helfen zu können, die Not
leiden, damit das Elend keinem ein Hindernis sei, zu dir zu gelangen. Gott
sieht, daß ich die Wahrheit sage. Aber warum bin ich nun so? Weil ich mich von
dir habe ändern lassen. Er... hat sich nicht geändert. Im Gegenteil... Gib es
zu, Meister, daß ihn ein Teufelchen reitet ...»
«Sag dies nicht! Denke es nicht
einmal. Bete, daß er gesundet. Die Eifersucht ist eine Krankheit...»
«An deiner Seite wird jeder
gesund, wenn er es nur will. Ach, deinetwegen will ich ihn ertragen... Aber
welch eine Mühsal! ...»
«Ich habe dir den Lohn dafür
gegeben: das Kind! Und nun lehre ich dich das Beten.»
«O ja, Bruder. Sprechen wir
darüber. Mein Namensvetter soll nur genannt werden als ein Mensch, der das
Gebet nötig hat. Mir scheint, er hat schon seine Strafe. Er ist nicht bei uns,
in dieser Stunde», sagt Judas Thaddäus...
«Hört. Wenn ihr betet, sprecht
so: "Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich
komme auf Erden wie im Himmel, und auf Erden wie im Himmel geschehe dein
Wille. Gib uns heute unser tägliches Brot, vergib uns unsere Schuld, wie auch
wir vergeben unseren Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern
erlöse uns von dem Bösen."»
Jesus hat sich erhoben, um das
Gebet zu sprechen, und alle haben es ihm nachgetan, aufmerksam und bewegt.
«Anderes braucht es nicht, meine
Freunde. In diesen Worten ist alles, was der Mensch für die Seele, den Leib
und das Blut benötigt wie in einem goldenen Ring eingeschlossen. Mit diesem
Gebet bittet um das, was dem einen und den anderen nützlich ist; wenn ihr
darum bittet, werdet ihr das ewige Leben erlangen. Es ist ein so vollkommenes
Gebet, daß die Wellen der Häretiker und der Lauf der Jahrhunderte es nicht zu
ändern imstande sind. Das Christentum wird vom Biß Satans zerstückelt werden,
und viele Teile meines mystischen Leibes werden zerrissen und abgetrennt,
eigene Zellen bilden, im vergeblichen Verlangen, einen vollkommenen Leib zu
gestalten, wie es der mystische Leib Christi ist, in welchen alle Gläubigen
83
in der apostolischen Kirche
vereint sind und in der alleinigen wahren Kirche, die bestehen wird, so lange
die Erde besteht! Aber die abgetrennten Teilchen, denen die Gaben nicht
zukommen, die ich der Mutterkirche schenke, um meine Kinder zu nähren, werden
sich immer christlich nennen und sich dessen erinnern, daß sie auf Christus
zurückzuführen sind. Auch sie werden dieses universelle Gebet beten. Vergeßt
es nie und denkt stets darüber nach. Wendet es auf euer Wirken an. Es braucht
nichts anderes für die Heiligung. Wenn einer allein unter Heiden, ohne Kirche
und ohne Bücher wäre, hätte er alles, was zur Betrachtung erforderlich ist, in
diesem Gebet, und eine offene Kirche in seinem Herzen durch dieses Gebet. Er
hätte eine Regel und ein sicheres Mittel, sich zu heiligen.
"Vater unser"
Ich nenne ihn Vater. Er ist der
Vater des Wortes. Er ist der Vater des Menschgewordenen. Daher will ich, daß
auch ihr ihn so nennt; denn ihr seid eins mit mir, wenn ihr in mir bleibt. Es
hat eine Zeit gegeben, da mußte der Mensch sein Antlitz zur Erde werfen und
vor Schrecken zitternd flüstern: "Gott!" Wer nicht an mich und mein Wort
glaubt, befindet sich immer noch in dieser lähmenden Angst. Beobachtet, was im
Tempel geschieht. Nicht nur Gott, sondern sogar die Erinnerung an Gott ist
hinter dem dreifachen Schleier den Augen der Menschen verborgen. Trennung
durch Entfernung, Trennung durch Verschleierung. Alle Mittel werden angewandt,
um dem Beter zu sagen: "Du bist Staub. Er ist Licht. Du bist Verworfenheit. Er
ist Heiligkeit. Du bist Sklave. Er ist König."
Aber nun! ... Erhebt euch! Tretet
näher! Ich bin der Ewige Priester. Ich kann euch an der Hand nehmen und sagen:
"Kommt!" Ich kann den Vorhang der Verschleierung ergreifen und den
unbetretbaren Ort öffnen, der bisher verschlossen war. Verschlossen? Warum?
Verschlossen aufgrund der Schuld, ja! Aber noch mehr verschlossen durch das
niedrige Denken der Menschen. Warum aber verschlossen, wenn Gott die Liebe,
der Vater, ist? Ich kann, ich soll und ich will euch nicht in den Staub
treten, sondern ins Himmelsblau ziehen, nicht entfernen, sondern annähern,
nicht ins Gewand der Sklaven kleiden, sondern der Söhne am Herzen Gottes.
"Vater! Vater!" müßt ihr sagen. Ihr dürft nicht müde werden, dieses Wort zu
wiederholen. Wißt ihr denn nicht, daß jedesmal, wenn ihr es aussprecht, der
Himmel wegen der Freude Gottes aufleuchtet? Und wenn ihr nur das und mit
wahrer Liebe sagen würdet, sprächt ihr ein Gott wohlgefälliges Gebet. "Vater,
mein Vater!" sagen die Kinder zu ihrem Vater. Es sind die ersten Worte, die
sie sprechen: "Mutter, Vater." Ihr seid die Kinder Gottes. Ich habe euch aus
dem alten Menschen, der ihr wart, gebildet; ich habe ihn mit meiner Liebe
vernichtet, damit ein neuer Mensch, der Christ, daraus geboren werde. Ruft
also mit dem Wort, das die Kinder als erstes kennen, den heiligsten Vater an,
der im Himmel ist.
"Geheiligt werde dein Name"
84
Oh! Ein Name, der mehr als jeder
andere heilig und wohlklingend ist. Ein Name, den der Schrecken des
Schuldhaften unter anderen zu verbergen gelehrt hat. Nein, nicht mehr Adonai!
Gott ist es! Gott, der in einem Übermaß an Liebe die Menschen erschaffen hat.
Die Menschheit ruft ihn von nun an bei seinem Namen, mit den Lippen, die
gereinigt sind im Bad, das ich bereite; sie nennt ihn mit seinem Namen in der
Erwartung, die wahre Bedeutung des Unbegreiflichen in der Fülle der Weisheit
verstehen zu lernen, wenn die Menschheit in ihren besten Söhnen mit Ihm
vereint und angenommen wird im Reiche, das zu gründen ich gekommen bin.
"Dein Reich komme auf Erden wie
im Himmel"
Ersehnt mit all euren Kräften
diese Ankunft. Es wäre die Seligkeit auf Erden, wenn es käme: das Reich Gottes
in den Herzen, in den Familien, in den Bürgern und den Nationen. Leidet,
bemüht euch, opfert euch auch für dieses Reich. Die Erde soll in den Einzelnen
ein Spiegelbild des Lebens in den Himmeln sein. Es wird kommen. Eines Tages
wird alles kommen. Jahrhunderte um Jahrhunderte der Tränen und des Blutes, der
Irrtümer, der Verfolgungen, der Trümmer und des Nebels, in dem das Licht des
mystischen Leuchtturms meiner Kirche leuchtet, werden vergehen. Aber das
Schiff der Kirche wird nicht untergehen. Wie ein unerschütterlicher Fels wird
sie jedem Angriff standhalten und das Licht hochhalten, mein Licht, das Licht
Gottes. Erst danach wird die Erde das Reich Gottes besitzen. Und sie wird dann
wie das starke Aufflammen eines Sternes sein, der die Vollkommenheit seiner
Existenz erreicht hat und zerfällt; unermeßliche Blume der kosmischen Gärten,
um mit strahlendem Pulsschlag seine Existenz und seine Liebe zu Füßen seines
Schöpfers auszuhauchen. Es wird kommen, das Reich! Und es wird ein
vollkommenes Reich sein, das selige, ewige Reich des Himmels.
"Und auf Erden wie im Himmel
geschehe dein Wille"
Das Aufgeben des eigenen Willens
in einen anderen kann erst vollzogen werden, wenn die vollkommene Liebe das
Geschöpf erreicht. Das Sich Auflösen des eigenen Willens im Willen Gottes kann
nur erfolgen, wenn man die theologischen Tugenden in heroischer Weise besitzt.
Im Himmel, wo alles makellos ist, gilt nur der Wille Gottes. Versteht es, ihr
Kinder des Himmels, das zu tun, was im Himmel getan wird!
"Gib uns unser tägliches Brot"
Wenn ihr im Himmel seid, werdet
ihr euch nur in Gott nähren. Die Seligkeit wird eure Nahrung sein. Aber hier
habt ihr noch Brot nötig. Ihr seid die Kinder Gottes. Es ist daher richtig, zu
bitten: "Vater, gib uns Brot." Habt ihr Angst, nicht erhört zu werden? O nein.
Überlegt: Wenn einer von euch einen Freund hat und bemerkt, daß er kein Brot
hat, um einen anderen Freund oder Verwandten, der am Ende der zweiten
Nachtwache zu ihm kommt, zu sättigen, dann geht er zum ersten und sagt:
"Freund, leihe mir drei Brote, denn es ist ein Gast gekommen und ich
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habe nichts zu essen im Haus."
Wird er je die Antwort hören müssen: "Störe mich nicht, ich habe die Türe
schon geschlossen und den Riegel vorgelegt, und meine Kinder schlafen schon an
meiner Seite. Ich kann nicht aufstehen und dir geben, was du verlangst?" Nein.
Wenn er sich an einen wahren Freund gewandt hat und weiter bittet, wird er
bekommen, was er verlangt. Er würde es auch bekommen, wenn er sich an keinen
besonders guten Freund gewandt hätte. Er bekäme es schon wegen seines
Drängens; denn der um diesen Gefallen Ersuchte würde dem Drängen nachgeben, um
nicht länger belästigt zu werden.
Ihr aber wendet euch, wenn ihr
den Vater bittet, nicht an einen Freund dieser Erde, sondern an den
vollkommenen Freund, den Vater des Himmels! Daher sage ich euch: "Bittet, und
es wird euch gegeben werden; sucht, und ihr werdet finden; klopft an, und es
wird euch aufgemacht werden." Denn wer bittet, empfängt; wer sucht, der
findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet werden. Welches Menschenkind
bekommt einen Stein in die Hand gelegt, wenn es den eigenen Vater um Brot
bittet? Wird der Vater ihm anstelle eines gebratenen Fisches eine Schlange
geben? Ein Vater, der die eigenen Kinder so behandelt, wäre ein Verbrecher.
Ich habe es euch schon einmal gesagt, und ich wiederhole es nun, um in euch
die Güte und das Vertrauen zu stärken: wenn also einer, mit gesundem Verstand,
einen Skorpion anstelle eines Eies gibt, mit welch größerer Güte wird Gott
euch geben, um was ihr bittet! Denn er ist gut, während ihr mehr oder weniger
schlecht seid. Bittet also mit demütiger und kindlicher Liebe den Vater um das
tägliche Brot.
"Vergib uns unsere Schuld, wie
wir sie unseren Schuldigern vergeben"
Es gibt materielle und geistige
Schuld. Es gibt auch moralische Schuld. Eine materielle Schuld ist das Geld
oder die Ware, die geliehen ist und darum zurückgegeben werden muß. Eine
moralische Schuld ist die Ehrabschneidung, die nicht wiedergutgemacht wurde,
und erbetene, doch verweigerte Hilfe. Geistige Schuld ist der Gehorsam
gegenüber Gott, der viel verlangt, dem aber nur wenig gegeben wird. Er liebt
uns und muß geliebt werden wie eine Mutter, eine Gattin oder ein Sohn, von
denen man vieles verlangt. Der Egoist will haben, nicht geben. Aber der Egoist
gehört zur Gegenseite des Himmels.
Wir haben Schulden gegenüber
allen. Von Gott bis zum Verwandten, von diesem bis zum Freund, vom Freund bis
zum Nächsten, vom Nächsten bis zum Diener und Sklaven; denn sie alle sind
Geschöpfe, wie wir es sind. Wehe dem, der nicht verzeiht! Ihm wird nicht
vergeben werden. Gott kann – aus Gerechtigkeit – keine Schuld nachlassen, wenn
der Mensch nicht seinesgleichen verzeiht.
"Führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen"
Der Mann, der es nicht für nötig
hielt, mit uns das Ostermahl zu teilen, hat mich vor ungefähr einem Jahr
gefragt: "Wie? Du hast gebeten, nicht
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versucht zu werden, und um Hilfe
in den Versuchungen?" Wir beide waren allein; und ich habe ihm geantwortet.
Dann waren wir zu viert an einem einsamen Ufer, und ich habe noch einmal
geantwortet. Doch es war bisher ergebnislos; denn in einen widerspenstigen
Geist muß erst eine Bresche geschlagen und die bösartige Festung der
Starrköpfigkeit zerstört werden. Und darum will ich es noch einmal, zehnmal,
hundertmal sagen, bis alles vollzogen ist.
Aber ihr, die ihr euch nicht mit
unglücklichen Lehren und noch unglücklicheren Leidenschaften beschäftigt,
betet so: Betet mit Demut, daß Gott die Versuchungen verhindere. Oh, die
Demut! Sich als das zu erkennen, was man ist! Ohne darüber zu verzweifeln,
sondern um zu erkennen. Zu sagen: "Ich könnte nachgeben, obgleich ich keine
Lust dazu habe, denn ich bin ein unvollkommener Richter mir selbst gegenüber.
Darum, Vater, halte wenn möglich die Versuchungen von mir fern, indem du mich
so nahe bei dir hältst, daß der Böse keine Möglichkeit hat, mir zu schaden."
Denn, erinnert euch daran, es ist nicht Gott, der zum Bösen versucht, sondern
es ist der Böse, der versucht. Bittet den Vater, daß er euch in eurer Schwäche
unterstütze, um nicht den Versuchungen des Bösen zu unterliegen!
Ich habe gesprochen, meine
Auserwählten! Ich feiere mein zweites Ostern mit euch. Letztes Jahr haben wir
nur das Brot und das Lamm miteinander geteilt. Dieses Jahr schenke ich euch
das Gebet. Andere Gaben werde ich bei den kommenden Osterfesten mit euch
teilen, damit ihr, wenn ich dorthin gegangen bin, wo der Vater es will, ein
Andenken an mich, das Lamm, an jedem Fest des mosaischen Lammes besitzt.
Erhebt euch und laßt uns gehen!
Wir werden bei Sonnenaufgang in die Stadt zurückkehren. Besser: Morgen wirst
du, Simon, und du, mein Bruder (Judas Thaddäus), die Frauen und das Kind
hierherholen. Du, Simon des Jonas, und ihr anderen bleibt bei mir, bis sie
zurückkommen. Dann gehen wir zusammen nach Bethanien.»
Sie steigen nach Gethsemane hinab
und begeben sich ins Haus zur Ruhe.
244. JESUS UND DIE HEIDEN IN
BETHANIEN
Jesus ruht sich im Frieden des
Sabbats an einem blühenden Flachsfeld aus, das Lazarus gehört. Mehr als "an"
würde ich sagen "in"; denn er ist, am Rand einer Furche sitzend und in
Gedanken versunken, ganz vom hohen Flachs umgeben.
In seiner Nähe sind nur einige
lautlose Schmetterlinge und ein paar schleichende Eidechsen, die ihn mit ihren
Schalkaugen betrachten und
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das dreieckige Köpfchen vom
hellen, klopfenden Hals abheben. Sonst nichts. In dieser späten
Nachmittagsstunde schweigt auch der leiseste Windhauch zwischen den hohen
Halmen.
Von fern, vielleicht aus dem
Garten des Lazarus, ertönt das Lied einer Frau, und mit diesem vermischt, das
fröhliche Lachen eines spielenden Kindes. Dann eine, zwei und schließlich drei
Stimmen, die rufen: «Meister! Jesus!»
Jesus schüttelt sich und steht
auf. Obgleich der Flachs, der schon am Ende seines Reifens scheint, sehr hoch
ist, überragt Jesus nun doch dieses grün-blaue Meer.
«Dort ist er, Johannes», schreit
der Zelote.
Nun hört man Johannes rufen:
«Mutter, der Meister ist am Flachsfeld!»
Während Jesus sich auf dem Weg
nähert, der zu den Häusern führt, kommt Maria herbei.
«Was willst du, Mutter?»
«Mein Sohn, es sind Heiden
angekommen mit einigen Frauen. Sie sagen, sie hätten von Johanna erfahren, daß
du hier bist. Sie sagen auch, sie hätten dich in all diesen Tagen bei der Burg
Antonia erwartet ...»
«Ah, ich verstehe! Ich komme
sofort. Wo sind sie?»
«Im Haus des Lazarus, in seinem
Garten. Er ist bei den Römern beliebt; er verabscheut sie nicht wie wir. Er
ließ sie mit ihren Wagen in den großen Garten fahren, um jedes Ärgernis zu
vermeiden.»
«In Ordnung, Mutter! Es sind
römische Soldaten und Damen. Ich weiß es.»
«Was wollen sie von dir?»
«Was viele in Israel nicht
wollen: Licht!»
«Aber für was halten sie dich?
Für Gott, vielleicht?»
«Auf ihre Art, ja. Für sie ist es
einfach, die Idee der Menschwerdung eines Gottes in einem sterblichen Leib
anzunehmen; leichter als für uns.»
«Dann glauben sie also an
dich...»
«Noch nicht, Mama! Zuerst muß ich
ihren Glauben zerstören. Vorerst bin ich für sie ein Weiser, ein Philosoph,
wie sie sagen. Aber, ob es nun das Verlangen, philosophische Lehren
kennenzulernen, oder ihre Neigung, die Inkarnation eines Gottes für möglich zu
halten, ist, es hilft mir, sie zum wahren Glauben zu führen. Glaube mir, sie
sind in ihren Gedanken weit unverdorbener als viele in Israel.»
«Aber sind sie auch aufrichtig?
Man sagt, daß der Täufer ...»
«Nein, wenn es nach ihnen
gegangen wäre, dann wäre Johannes frei und in Sicherheit. Wer sich nicht
auflehnt, den lassen sie in Frieden. Vielmehr, bei ihnen ist der Prophet oder,
wie sie sagen, der Philosoph – denn die Erhabenheit der übernatürlichen
Weisheit ist für sie eine Philosophie – hochgeachtet. Sei nicht besorgt, Mama!
Von dort erfahre ich nichts Böses ...»
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«Aber die Pharisäer... wenn sie
davon hören, was werden sie von dir und von Lazarus sagen? Du bist du und mußt
das Wort in die Welt tragen. Aber Lazarus! ... Sie kränken ihn schon zu oft
...»
«Aber er ist unantastbar. Sie
wissen, daß er von Rom beschützt wird.»
«Ich verlasse dich, mein Sohn!
Hier kommt Maximinus; er führt dich zu den Heiden.»
Maria, die an der Seite Jesu
geschritten war, zieht sich rasch zurück und begibt sich ins Haus des Zeloten,
während Jesus durch ein offenes eisernes Türchen einen abgelegenen Teil des
Gartens betritt. Hier liegt der Obstgarten und ungefähr die Stelle, an der
Lazarus begraben werden wird.
Da steht nun auch Lazarus, sonst
niemand. «Meister, ich habe mir erlaubt, sie zu bewirten...»
«Du hast recht getan. Wo sind
sie?»
«Im Schatten der Buchs- und
Lorbeerbäume. Wie du siehst, sind sie mindestens fünfhundert Schritte vom Haus
entfernt.»
«Gut, gut! Das Licht möge euch
allen leuchten!»
«Sei gegrüßt, Meister!»
Quintillianus ist es, der bürgerlich gekleidet ist.
Die Damen erheben sich zur
Begrüßung. Es sind Plautina, Valeria, Lydia und eine ältere, die ich nicht
kenne und von der ich auch nicht weiß, ob sie ebenbürtig oder untergeordnet
ist. Alle sind sehr einfach gekleidet; nichts unterscheidet sie voneinander.
«Wir möchten dich anhören; du
bist nie gekommen. Ich hatte Wachdienst bei deiner Ankunft. Aber ich habe dich
nicht gesehen.»
«Ich habe den Soldaten auch nicht
gesehen, der am Fischtor mein Freund wurde. Er hieß Alexander ...»
«Alexander? Ich weiß nicht genau,
wer es ist. Ich weiß nur, daß wir vor kurzem einen namens Alexander ablösen
mußten, um die Juden zu beruhigen; einen Soldaten, der beschuldigt wurde, mit
dir gesprochen zu haben. Er ist jetzt in Antiochia. Vielleicht kommt er wieder
zurück. Uff! Wie lästig sie doch sind! Sie wollen auch jetzt noch befehlen, wo
sie unterworfen sind. Man muß sehr vorsichtig sein, damit nichts Schlimmes
passiert... Sie machen uns das Leben schwer, glaub es mir. Du aber bist gut
und weise. Wirst du zu uns sprechen? Vielleicht muß ich bald Palästina
verlassen. Ich möchte etwas hören, das mich an dich erinnert.»
«Ja, ich werde mit euch sprechen.
Ich enttäusche nie. Was möchtet ihr erfahren?»
Quintillianus blickt die Damen
fragend an...
«Was du willst», sagt Valeria.
Plautina steht auf und erklärt: «Ich habe viel nachgedacht... Ich müßte vieles
kennenlernen... alles, um urteilen zu können. Aber wenn es erlaubt ist zu
fragen, möchte ich wissen, wie ein Glaube aufgebaut wird – deiner zum Beispiel
– auf einem Erdreich, das
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nach deinen Worten keinen wahren
Glauben besitzt. Du hast gesagt, daß, was wir glauben, wertlos sei. Es bleibt
uns also nichts. Wie können wir zu etwas gelangen?»
«Ich werde etwas als Beispiel
nehmen, das auch ihr habt: die Tempel. Eure Heiligtümer sind wirklich schön.
Ihre einzige Unvollkommenheit ist, daß sie dem Nichts geweiht sind. Sie können
euch aber lehren, wie man zu einem wahren Glauben kommen kann. Also: Wo werden
sie errichtet? Welcher Ort wird, wenn möglich, für sie gewählt? Wie werden sie
gebaut? Der Ort ist meist weiträumig, gut zugänglich und etwas erhöht. Ist er
es nicht, dann schafft man einen; man reißt nieder, was stört und einengt.
Wenn er nicht erhöht ist, wird eine Erhöhung, die höher ist als die drei
Stufen, die bei Tempeln auf natürlichen Erhebungen üblich sind, errichtet.
Eingeschlossen in den heiligen Bezirk, der aus Säulengängen und Höfen besteht,
befinden sich die den Göttern heiligen Bäume, Brunnen und Altäre, Statuen und
Stelen, die die eigentliche Kultstätte umgeben, an der die Gebete für die
vermeintliche Gottheit verrichtet werden. Gegenüber liegt die Opferstätte;
denn das Opfer geht dem Gebet voraus. Oftmals, und besonders in den
großartigsten Tempeln, umgibt sie das Peristylium, die Zelle der
vermeintlichen Gottheit und das rückwärtige Vestibulum. Marmor, Statuen,
Fassaden, Stuck und Verzierungen, alles reich, kostbar und dekorativ, lassen
den Tempel auch dem ungebildeten Betrachter erhaben erscheinen. Ist es nicht
so?»
«So ist es, Meister! Du hast sie
gesehen und sehr gut studiert», bestätigt und lobt Plautina.
«Aber er hat doch noch nie
Palästina verlassen! ?» ruft Quintillianus aus.
«Ich bin noch nie in Rom oder
Athen gewesen. Aber ich kenne die römische und griechische Architektur, und im
Genius des Menschen, der den Parthenon ausgeschmückt hat, war ich gegenwärtig;
denn ich bin überall, wo Leben und Zeichen des Lebens sind. Dort, wo ein
Weiser denkt, ein Steinmetz meißelt, ein Dichter dichtet, eine Mutter über
einer Wiege singt, ein Mann sich mit einer Furche abmüht, ein Arzt mit
Krankheiten kämpft, ein Lebender atmet, ein Tier lebt, ein Baum hochwächst:
dort bin ich mit ihm, von dem ich komme. Im Donnern des Erdbebens und im
Zucken der Blitze, im Schein der Sterne oder in den Gezeiten der Meere, im
Fluge des Adlers oder im Summen der Fliege, bin ich gegenwärtig mit dem
allerhöchsten Schöpfer!»
«Somit... Du... du weißt alles?
Auch die Gedanken und das menschliche Tun kennst du?» fragt noch
Quintillianus.
«Ich kenne sie!»
Die Römer sehen sich verblüfft
an. Es folgt ein langes Schweigen; dann bittet Valeria schüchtern: «Lege uns
deine Gedanken genauer aus, Meister, damit wir wissen, was wir tun müssen.»
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«Ja! Den Glauben baut man auf wie
die Tempel, auf die ihr so stolz seid. Man schafft Platz für den Tempel, man
macht die Umgebung frei und man erstellt eine Erhöhung.»
«Aber den Tempel, in dem man den
Glauben, die wahre Gottheit, unterbringt, wo ist er?» fragt Plautina.
«Glaube ist keine Gottheit,
Plautina. Er ist eine Tugend. Es gibt keine Götter im wahren Glauben. Es gibt
nur einen einzigen und wahren Gott!»
«Dann ist er also dort oben in
seinem Olymp allein? Und was tut er, wenn er allein ist?»
«Er genügt sich selbst, er ist
besorgt um alles in der ganzen Schöpfung. Ich habe dir schon gesagt, daß Gott
auch im Summen der Mücke gegenwärtig ist. Er langweilt sich nicht; zweifle
nicht daran. Er ist kein armer Mensch, Herr eines riesigen Reiches, in dem er
sich gehaßt weiß und zitternd lebt. Er ist die Liebe und lebt, um zu lieben.
Sein Leben ist fortwährend Liebe. Er genügt sich selbst, denn er ist unendlich
und allmächtig; er ist die Vollkommenheit. Aber es gibt so viele erschaffene
Dinge, die durch sein beständiges Wollen leben, daß er gar keine Zeit hat,
sich zu langweilen. Die Langeweile ist die Frucht des Müßiggangs und des
Lasters. Im Himmel des wahren Gottes gibt es keinen Müßiggang und keine
Laster. Aber bald wird ihm nicht nur von den Engeln, die ihm dienen, sondern
auch von einem Volk der Gerechten zugejubelt werden, und immer mehr wird
dieses Volk anwachsen durch die künftig an den wahren Gott Glaubenden.»
«Die Engel sind wohl die
Schutzgeister?» fragt Lydia.
«Nein. Es sind geistige Wesen,
wie Gott es ist, der sie erschaffen hat.»
«Und was sind dann die
Schutzgeister?»
«So wie ihr sie euch vorstellt,
sind sie nur Lüge. Sie existieren nicht, so wie ihr sie euch vorstellt. Aber
der Mensch hat einen instinktiven Drang, nach der Wahrheit zu suchen. Den
Anstoß gibt die Seele, die auch in den Heiden lebt und in diesen leidet, weil
ihr Verlangen nicht gestillt wird; sie hungert in ihrer Sehnsucht nach dem
wahren Gott, an den sie sich erinnert in ihrem Körper, in dem sie wohnt und
der von einem heidnischen Geist geleitet wird. Auch ihr habt gespürt, daß der
Mensch nicht nur Leib ist und daß seinem vergänglichen Leib etwas
Unsterbliches innewohnt. Und so haben es die Städte und die Nationen
vernommen. Daher glaubt ihr, fühlt ihr, daß es notwendigerweise Schutzgeister
gibt. Und ihr gebt euch den individuellen Schutzgeist: den der Familie, der
Stadt, der Nation. Ihr habt den Schutzgeist von Rom. Ihr glaubt an den
Schutzgeist des Kaisers. Und ihr betet sie an als niedrigere Götter. Nehmt den
wahren Glauben an. Erkennt und befreundet euch mit dem wahren Engel, dem ihr
Verehrung, aber nicht Anbetung erweist. Nur Gott wird angebetet.»
«Du hast gesagt: "Der Anstoß der
Seele, die auch in den Heiden lebt und gegenwärtig ist, und die leidet, weil
sie enttäuscht wird." Aber die Seele, woher kommt sie?» fragt Publius
Quintillianus.
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«Von Gott. Er ist der Schöpfer!»
«Aber werden wir nicht vom Weib
durch Vereinigung mit dem Mann geboren? Auch unsere Götter wurden so erzeugt.»
«Eure Götter gibt es nicht! Es
sind Täuschungen eures Denkens, das das Bedürfnis hat, zu glauben. Und dieses
Bedürfnis ist zwingender als das Atmen. Auch wer sagt, daß er nicht glaubt,
glaubt. An irgendetwas glaubt man. Die Tatsache allein, daß er sagt: "Ich
glaube nicht an Gott", setzt einen anderen Glauben voraus. Den Glauben an sich
selbst oder mehr noch, an seinen eigenen hochmütigen Verstand. Aber an etwas
glaubt man immer. Das ist wie der Gedanke. Wenn ihr sagt: "Ich will nicht
denken" oder "Ich glaube nicht an Gott", so zeigt ihr mit diesen beiden
Sätzen, daß ihr denkt und daß ihr nicht an den glauben wollt, von dem ihr
wißt, daß er existiert. Über den Menschen müßtet ihr sagen, um den Begriff
genau auszudrücken: "Der Mensch wird erzeugt wie alle Tiere durch eine
Vereinigung zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen. Die Seele aber, also
das, was den Menschen vom unvernünftigen Tier unterscheidet, kommt von Gott.
Er erschafft sie jedesmal, wenn ein Mensch erzeugt, oder besser gesagt,
empfangen wird in einem Schoße und Gott die Seele in dieses Fleisch senkt, das
sonst nur Tier wäre."»
«Und auch wir haben sie? Wir
Heiden? Was man von deinen Landsleuten hört, scheint eher das Gegenteil zu
bestätigen», sagt Quintillianus ironisch.
«Jeder von der Frau Geborene hat
sie.»
«Du hast aber gesagt, daß sie
durch die Sünde getötet wird. Wie kann sie dann in uns Sündern lebendig sein?»
fragt Plautina.
«Ihr sündigt nicht gegen den
Glauben, da ihr glaubt, den wahren Glauben zu besitzen. Wenn ihr aber die
Wahrheit erkennt und im Irrtum verharrt, dann sündigt ihr. Gleicherweise sind
Dinge, die für die Israeliten Sünde sind, keine Sünde für euch; denn kein
göttliches Gesetz verbietet sie euch. Sünde ist, wenn sich jemand wissentlich
gegen die von Gott gegebene Ordnung auflehnt und sagt: "Ich weiß, daß das, was
ich tue, schlecht ist; aber ich will es trotzdem tun." Gott ist gerecht. Er
kann nicht jemand bestrafen, der Böses tut im Glauben, daß es gut sei. Er
bestraft jene, die gelernt haben, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, und
trotzdem das Böse wählen und darin verharren.»
«Also ist die Seele in uns
lebendig und gegenwärtig?»
«Ja.»
«Und sie leidet? Glaubst du
wirklich, daß sie sich an Gott erinnert? Wir erinnern uns nicht einmal mehr an
den Leib, der uns getragen hat. Wir können nicht sagen, wie es darin aussah.
Die Seele, wenn ich recht verstanden habe, ist geistigerweise von Gott gezeugt
worden. Kann sie sich denn an diesen erinnern, wenn der Körper sich nicht mehr
an den langen Aufenthalt im Schoße der Mutter erinnert?»
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«Die Seele ist nicht tierisch,
Plautina. Sie ist ewig, geistig und Gott ähnlich. Ewig vom Augenblicke an, da
sie von Gott erschaffen wird, während Gott der vollkommene Ewige ist und daher
weder Anfang noch Ende hat. Die Seele, hellsichtig, intelligent und geistig,
ein Werk Gottes, erinnert sich ihres Ursprungs. Sie leidet, weil sie nach Gott
verlangt, dem wahren Gott, von dem sie kommt, und sie hungert nach Gott. Daher
drängt sie den trägen Körper, sich Gott zu nähern.»
«Also haben auch wir eine Seele
wie sie, die ihr die Gerechten eures Volkes nennt? Wirklich eine ebensolche?»
«Nein, Plautina. Es kommt darauf
an, was du sagen willst. Wenn du sagen willst: gemäß Herkunft und Natur ist
sie in allem der Seele unserer Heiligen gleich. Wenn du sagen willst: was die
Bildung betrifft, so muß ich dir sagen, daß sie anders ist. Und wenn du weiter
sagen willst: hinsichtlich der vor dem Tod erreichten Vollkommenheit, dann
kann ein absoluter Unterschied bestehen. Aber dies betrifft nicht nur euch
Heiden. Auch ein Sohn dieses Volkes kann im künftigen Leben absolut
verschieden von einem Heiligen sein.
Die Seele erlebt drei Phasen. Die
erste ist die Erschaffung, die zweite die Wiedergeburt und die dritte die
Vollkommenheit. Die erste ist bei allen Menschen gleich. Die zweite ist den
Gerechten eigen, die mit ihrem Willen die Seele zu einer vollständigen
Wiedergeburt führen, wobei sie ihre guten Werke mit der Güte des Werkes Gottes
vereinigt; sie erhebt dadurch eine schon geistige Seele in einen
vollkommeneren Stand, und stellt so zwischen der ersten und der dritten Etappe
eine Verbindung her. Die dritte ist den Seligen, oder wenn es euch besser
gefällt, den Heiligen eigen, die tausend- und abertausendfach die
ursprüngliche, dem Menschen entsprechende Seele höher gebracht und aus ihr das
gemacht haben, was sie befähigt, in Gott zu ruhen...»
«Wie können wir Raum, Freiheit
und Erhöhung für die Seele schaffen ?»
«Durch die Ausschaltung aller
unnützen Dinge in eurem Ich. Durch dessen Befreiung von allen falschen Ideen
und, mit dem sich so ergebenden Schutt, durch den Aufbau des Hügels für den
heiligen Tempel. Die Seele muß auf den drei Stufen immer höher hinaufgetragen
werden.
Oh, ihr Römer, liebt die Symbole!
Betrachtet die drei Stufen im Lichte des Symbols. Sie können euch ihre Namen
sagen: Buße, Geduld, Beharrlichkeit; oder Demut, Reinheit, Gerechtigkeit;
oder: Weisheit, Großherzigkeit, Barmherzigkeit; so ergibt sich der herrliche
Dreiklang: Glaube, Hoffnung, Liebe. Betrachtet noch das Symbol der
Umfassungsmauer, die den Platz des Tempels ziert und machtvoll umgürtet. Auch
die Seele ist abzuschirmen, die Königin des Körpers, Tempel des ewigen Geistes
ist, mit einer Mauer, die sie schützt, die das Eindringen des Lichtes nicht
hindert, die aber die Sicht auf alles Häßliche ausschaltet. Eine sichere
Mauer,
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vom Wunsch der Liebessehnsucht
gemeißelt, das niedere Streben von Fleisch und Blut dem Höheren, dem Geist
dienstbar zu machen. Mit dem Willen zugerichtet durch Abschleifen der Kanten,
der Unebenheiten, der Flecken und Schwachstellen vom Marmor unseres Ichs,
damit die Umgebung der Seele vollkommen werde. Gleichzeitig kann die Mauer zum
Schutz des Tempels den Unglücklicheren barmherzige Zuflucht bieten, die nicht
wissen, was die Liebe ist. Die Vorhallen: das Sich-Ergießen der Liebe, der
Barmherzigkeit und des Willens, andere zu Gott zu führen; die Vorhallen sind
liebenden Armen gleich, die sich wie ein Schleier über die Wiege eines
Waisenkindes ausbreiten. Und jenseits der Mauern die schönsten, duftenden
Pflanzen, als Ehrenbezeugung an den Schöpfer. Sät auf dem nackten Erdreich und
pflegt dann die Pflanzen: die Tugenden jeder Art, als zweites, lebendiges und
blühendes Gehege rings um das Heiligtum, und zwischen den Pflanzen, zwischen
den Tugenden, die Brunnen: wiederum Liebe, nochmals Reinigung: bevor ihr euch
dem Allerheiligsten nähert und zum Altar hinaufsteigt, muß das Opfer des
Aufgebens aller Sinnlichkeit und jeder Unkeuschheit erbracht werden. Dann
weiter zum Altar schreiten, um das Opfer aufzulegen, und dann erst die Halle,
das Vestibül durchschreitend, sich zur Zelle begeben, in welcher Gott ist. Und
die Zelle, was wird sie sein? Ein Überfluß geistiger Reichtümer; denn nichts
ist zuviel, um Gott zu ehren.
Habt ihr verstanden? Ihr habt
mich gefragt, wie man den Glauben aufbaut. Ich habe euch geantwortet: auf
dieselbe Weise, wie man einen Tempel errichtet! Ihr seht, wie wahr es ist!
Habt ihr mich noch etwas zu fragen?»
«Nein, Meister. Ich glaube, daß
Flavia die Dinge, die du gesagt hast, niederschrieb. Claudia möchte sie auch
kennenlernen. Hast du geschrieben?»
«Jedes Wort», erwidert die Frau
und überreicht die Wachstäfelchen.
«Das wird uns bleiben, damit wir
es wieder lesen können», sagt Plautina.
«Es ist auf Wachs, die Schrift
kann ausgelöscht werden. Schreibt es in eure Herzen, dann wird es nicht mehr
ausgelöscht.»
«Meister, wir sind umgeben von
unnützen Tempeln. Wir vertauschen sie mit deinem Wort und begraben sie. Aber
es wird eine Arbeit von langer Dauer sein», sagt Plautina mit einem Seufzer.
Und sie endet: «Gedenke unser in deinem Himmel!»
«Geht beruhigt, ich werde es tun!
Euer Besuch hat mich erfreut! Leb wohl, Publius Quintillianus! Denk an Jesus
von Nazareth!»
Die Frauen grüßen und entfernen
sich als erste. Dann geht Quintillianus in Gedanken versunken. Jesus sieht
ihnen nach, wie sie sich in Begleitung von Maximinus zu den Wagen begeben.
«Was denkst du, Meister?» fragt
Lazarus.
«Daß es viele Unglückliche auf
der Welt gibt.»
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«Und ich bin einer von diesen.»
«Warum, mein Freund?»
«Weil alle zu dir kommen, nur
Maria nicht. Ist sie also der größte Trümmerhaufen?»
Jesus blickt ihn an und lächelt.
«Du lächelst? Schmerzt es dich
nicht, daß Maria sich nicht bekehrt? Schmerzt es dich nicht, daß ich leide?
Martha weint seit Montagabend. Wer war jene Frau? Weißt du, daß wir einen
ganzen Tag gehofft haben, daß sie es sei?»
«Ich lächle, weil du ein
ungeduldiges Kind bist. Und ich lächle, weil ich denke, daß ihr Kraft und
Tränen verschwendet. Wenn es sie gewesen wäre, dann hätte ich mich beeilt, es
euch zu sagen.»
«Sie war es also nicht?»
«Oh! Lazarus...»
«Du hast recht. Geduld! Und noch
einmal Geduld! ... Hier, Meister, die Schmuckstücke, die du mir zum Verkaufen
gegeben hast. Sie sind zu Geld geworden für die Armen. Sie waren sehr schön...
von einer Frau.»
«Sie waren von "jener" Frau.»
«Das habe ich mir gedacht. Oh,
wären sie doch von Maria gewesen!... Aber sie... aber sie... Ich verliere die
Hoffnung, mein Herr!»
Jesus schließt ihn wortlos in
seine Arme. Dann sagt er nach einer Weile: «Ich bitte dich, über die
Schmuckstücke gegenüber allen zu schweigen. Sie muß verschwinden vor
Bewunderungen und Gelüsten, wie die vom Wind verwehte Wolke, ohne daß eine
Spur von ihr im Himmelsblau zurückbleibt.»
«Sei beruhigt, Meister... und als
Gegendienst bringe mir Maria, unsere unglückliche Maria ...»
«Der Friede sei mit dir, Lazarus.
Was ich versprochen habe, das halte ich.»
245. DAS GLEICHNIS VOM VERLORENEN
SOHN
«Johannes von Endor, komm her zu
mir! Ich muß mit dir reden», sagt Jesus, der sich an der Türe zeigt.
Der Mann eilt herbei und läßt das
Kind stehen, dem er gerade etwas erklärte.
«Was hast du mir zu sagen,
Meister?» fragt er.
«Komm mit mir hinauf!»
Sie gehen zur Terrasse hinauf und
setzen sich in eine geschützte Ecke, denn, obwohl es noch Vormittag ist,
brennt die Sonne schon sehr heiß. Jesus läßt seinen Blick über die Landschaft
schweifen, in der das Korn von
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Tag zu Tag goldener wird und die
Früchte der Bäume anschwellen. Es scheint, als wolle er seine Gedanken aus
dieser Veränderung der Pflanzen schöpfen.
«Höre, Johannes! Ich glaube,
heute wird Isaak kommen, um mich zu den Landarbeitern Jochanans zu führen,
bevor sie abreisen. Ich habe Lazarus gebeten, ihnen einen Wagen zu leihen,
damit sie bei ihrer Rückkehr rascher vorwärtskommen und nicht wegen einer
Verspätung eine Strafe befürchten müssen. Lazarus wird es tun, denn Lazarus
tut alles, was ich ihm sage. Aber von dir möchte ich etwas anderes. Ich habe
hier eine Summe, die ich von einem Menschenkind für die Armen des Herrn
bekommen habe. Normalerweise hat einer meiner Apostel die Aufgabe, das Geld zu
verwalten und die Almosen zu verteilen. Gewöhnlich tut es Judas von Kerioth,
manchmal auch ein anderer. Judas ist abwesend. Die anderen brauchen nicht zu
wissen, was ich im Sinne habe. Auch Judas wird es diesesmal nicht erfahren. Du
wirst es in meinem Namen tun...»
«Ich, Herr? ... Ich... ich bin
nicht würdig ...»
«Du mußt dich daran gewöhnen, in
meinem Namen zu arbeiten. Bist du nicht deswegen gekommen?»
«Ja, aber ich dachte, an meiner
armen Seele arbeiten zu müssen.»
«Ich gebe dir die Möglichkeit
dazu. Wogegen hast du gefehlt? Gegen die Barmherzigkeit und die Liebe. Du hast
deine Seele mit Haß verwüstet. Mit Liebe und Barmherzigkeit sollst du sie
wiederaufbauen. Ich gebe dir das Material dazu. Ich werde dich besonders für
Werke der Barmherzigkeit und Liebe einsetzen. Du kannst auch heilen und reden.
Daher bist du imstande, dich um die physisch und moralisch Kranken zu kümmern.
Du wirst mit diesem guten Werk beginnen. Nimm die Börse. Du wirst sie Michäas
und seinen Freunden geben. Mache gleiche Teile, aber mache sie so, wie ich es
sage. Mache zehn Teile. Davon gibst du vier dem Michäas, einen für ihn, einen
für Saul, einen für Joel und einen für Isaias. Die anderen sechs Teile gibst
du Michäas, damit er sie dem alten Vater des Jabe bringt, für ihn und seine
Gefährten. Es wird ihnen ein kleiner Trost sein.»
«Gut, aber was werde ich ihnen
sagen, um es zu rechtfertigen?»
«Du kannst sagen: "Dies, damit
ihr euch daran erinnert, für eine Seele zu beten, die auf dem Weg zur Erlösung
ist."»
«Doch dann könnten sie glauben,
daß es sich um mich handelt. Das ist nicht recht!»
«Warum, willst du nicht gerettet
werden?»
«Es ist nicht recht, sie glauben
zu lassen, daß ich der Spender bin.»
«Laß nur und tue was ich sage!»
«Ich gehorche... aber erlaube mir
wenigstens, daß ich etwas dazulege. Ich brauche ja nicht mehr viel. Bücher
werde ich keine mehr kaufen, die Hühner brauche ich auch nicht mehr zu
füttern... Mir genügt sehr wenig... Nimm, Meister! Ich behalte nur eine kleine
Summe für die Sandalen ...»
96
und er entnimmt einem Beutel am
Gürtel viele Münzen und fügt sie den Münzen Jesu bei.
«Gott segne dich für deine
Barmherzigkeit... Johannes, bald werden wir uns trennen, denn du wirst mit
Isaak gehen.»
«Das tut mir weh, Meister, aber
ich werde gehorchen.»
«Auch mich schmerzt es, daß du
uns verläßt. Aber ich brauche dringend pilgernde Jünger. Meine Gegenwart
genügt nicht mehr. Bald werde ich die Apostel aussenden, und dann die Jünger.
Du wirst es recht gut machen. Dich behalte ich mir für besondere Aufgaben vor.
Inzwischen wirst du dich bei Isaak bilden. Er ist sehr gut, und der Geist des
Herrn hat ihn fürwahr während seiner langen Krankheit geformt. Er ist der
Mensch, der immer alles verziehen hat... Unsere Trennung bedeutet andererseits
nicht, daß wir uns nicht mehr sehen. Wir werden uns oft begegnen, und
jedesmal, wenn wir zusammenkommen, werde ich besonders für dich sprechen. Denk
daran!»
Johannes neigt sich vornüber,
verbirgt sein Antlitz in den Händen mit einem bitteren Schluchzen und seufzt:
«Oh, sag mir gleich irgendetwas, was mich davon überzeugt, daß mir verziehen
worden ist, daß ich Gott dienen kann... Wenn du wüßtest, wie ich nun, da der
Rauch des Hasses weg ist, meine Seele sehe... und wie ich an Gott denke...»
«Ich weiß es, weine nicht! Bleibe
demütig, aber betrübe dich nicht. Betrübnis ist eine andere Art des Hochmuts.
Nur Demut allein sollst du haben. Auf, weine nicht mehr ...»
Johannes von Endor beruhigt sich
langsam.
Als ihn Jesus beruhigt sieht,
sagt er: «Komm, laß uns unter das Blätterdach der Apfelbäume gehen und die
Frauen und die Gefährten versammeln. Ich werde zu allen sprechen, dir aber
sagen, wie Gott dich liebt.»
Sie gehen hinunter und scharen
die anderen um sich, so wie sie ihnen begegnen.
Dann setzen sie sich im Kreise in
den Schatten der Apfelbäume. Auch Lazarus, der mit dem Zeloten gesprochen
hatte, schließt sich der Gesellschaft an. Es sind im ganzen zwanzig Personen.
«Hört! Es ist ein schönes
Gleichnis, das euch in vielen Fällen mit seinem Licht leiten wird.
Ein Mann hatte zwei Söhne. Der
ältere war ernst, arbeitsam, liebevoll und gehorsam. Der andere war
intelligenter als der ältere, der etwas schwerfällig war und sich gerne
beraten ließ, um nicht die Sorge eigener Entscheidungen auf sich nehmen zu
müssen; aber der jüngere war auch widerspenstig, ausgelassen, Liebhaber der
Bequemlichkeit und des Vergnügens, verschwenderisch und müßig. Die Intelligenz
ist eine große Gabe Gottes; aber sie ist eine Gabe, die weise verwendet werden
muß. Sonst hat sie die Wirkung gewisser Arzneimittel, die, wenn falsch
benützt, nicht heilen, sondern töten. Der Vater hatte das Recht und die
97
Pflicht, ihn zu ermahnen, ein
geordnetes Leben zu führen. Aber alles war nutzlos. Er bekam nur böse
Antworten und erreichte, daß der Sohn in seinen schlechten Ansichten noch
verstockter wurde.
Eines Tages schließlich, nach
einem heftigen Wortwechsel, sagte der jüngere Sohn: "Gib mir meinen Erbanteil.
So brauche ich deine Ermahnungen und das Gejammer des Bruders nicht mehr zu
hören. Jedem das Seine, und damit setzen wir allem ein Ende."
"Schau" ' erwiderte der Vater,
"bald wirst du ganz unter den Rädern sein. Was wirst du dann tun? Denk daran,
daß ich deinetwegen nicht ungerecht bin und deinem Bruder keinen Pfennig
nehmen werde, um dir zu helfen..."
"Ich werde nichts von dir
verlangen. Sei beruhigt und gib mir meinen Teil!"
Der Vater ließ die Ländereien und
die wertvollen Gegenstände abschätzen, und da er sah, daß Geld und
Schmuckstücke genausoviel wert waren wie Haus und Grundbesitz, gab er dem
älteren die Felder und Weingärten, die Herden und Olivenhaine, und dem
jüngeren das Geld und die Wertsachen, welche dieser sofort in Geld umwandelte.
Nachdem er in wenigen Tagen alles geregelt hatte, machte er sich auf den Weg
nach einem fernen Land, wo er als großer Herr lebte und alles vergeudete in
Schwelgereien jeder Art und sich als Sohn eines Königs feiern ließ, weil er
sich schämte, zu sagen: "Ich bin ein Bauernsohn." Und somit verleugnete er
seinen Vater.
Feste, Freunde und Freundinnen,
Kleider, Wein, Spiele... ein ausschweifendes Leben... Bald sah er seine Mittel
schwinden und das Elend sich nähern. Und um das Elend noch zu vergrößern, kam
eine große Hungersnot über das Land, die sein letztes Geld aufzehrte. Nun wäre
der Sohn gern zu seinem Vater zurückgekehrt, aber sein Stolz hinderte ihn
daran. So ging er zu einem Wohlhabenden des Ortes, der in guten Zeiten sein
Freund gewesen war, und bat ihn: "Nimm mich unter deine Knechte auf in
Erinnerung an die Feste, an denen du teilgenommen hast." Seht, wie dumm der
Mensch ist! Er zieht es vor, sich unter die Peitsche eines Herrn zu ducken,
als zum Vater zu sagen: "Verzeih, ich habe gefehlt." Dieser Jüngling hatte
viele unnütze Dinge erlernt, dank seiner wachen Intelligenz, wollte aber den
Ausspruch Sirachs nicht lernen: "Wie niederträchtig ist der, der seinen Vater
verläßt, und wie verflucht von Gott der, der seine Mutter beunruhigt." Er war
intelligent, aber nicht weise.
Der Mann, an den er sich
hilfesuchend gewandt hatte, stellte den Dummkopf als Schweinehirt an, als Dank
für die mit ihm verbrachten genußvollen Stunden; denn sie waren in einem
heidnischen Land, und es gab dort viele Schweine. Schmutzig, zerlumpt,
stinkend und hungrig -denn die Nahrung war knapp wegen der vielen Diener,
besonders der bösartigen, und er, der ausländische Schweinehirt, wurde zu
alledem noch
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verlacht – sah er, daß die
Schweine sich mit Eicheln satt fraßen und jammerte: "Könnte ich doch meinen
Bauch mit diesen Früchten füllen. Aber sie sind zu bitter! Nicht einmal der
Hunger läßt sie mir besser schmecken." Er weinte, als er an die reichen Feste
voller Gelächter, Gesängen und Tänze dachte, die er noch vor kurzem als
Verschwender geboten hatte; und an die bescheidenen, doch sättigenden
Mahlzeiten in seiner fernen Heimat, an die Portionen, die der Vater immer
selbst nach den persönlichen Bedürfnissen austeilte, während er selbst stets
mit wenig zufrieden war und sich über den gesunden Appetit seiner Kinder
freute... Und der Sohn dachte an die gefüllten Teller, die der Gerechte seinen
Dienern zuteilte, und seufzte: "Auch die letzten Knechte meines Vaters haben
genügend Brot, und ich sterbe hier vor Hunger..."
Eine lange Arbeit des Überlegens,
ein langer Kampf, um den Stolz niederzuringen! Endlich kam der Tag, da er,
wiedergeboren in Demut und Weisheit, auf die Füße sprang und sagte: "Ich gehe
zu meinem Vater. Dieser Stolz ist Dummheit, die mich gefangen hält. Und wozu?
Warum körperlich und noch mehr seelisch leiden, wenn ich Verzeihung und
Erleichterung erhalten kann? Ich gehe zu meinem Vater. Es ist beschlossen!
Aber was werde ich ihm sagen? Nun, das, was ich in dieser Demütigung, in
diesem Schmutz, unter dem beißenden Hunger gelernt habe. Ich werde sagen:
'Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und gegen dich. Ich bin nicht mehr
wert, dein Sohn genannt zu werden, behandle mich daher wie deinen letzten
Knecht, aber laß mich unter deinem Dach weilen, damit ich dich vorbeigehen
sehen kann...' Ich werde nicht sagen können: 'Weil ich dich liebe...' denn er
würde es mir nicht glauben. Aber mein Leben soll es ihm sagen, und er wird
verstehen und mich vor seinem Tod noch segnen... Oh, ich hoffe es; denn mein
Vater liebt mich." Als er am Abend ins Dorf zurückkam, kündigte er seinem
Arbeitgeber, und, sich von Ort zu Ort durchbettelnd, kehrte er in seine Heimat
zurück. Da waren schon die väterlichen Ländereien... und das Haus... und der
Vater, der die Arbeit leitete, gealtert und abgemagert durch den Schmerz, aber
immer noch gütig. Der Schuldige blieb furchtsam stehen. Doch der Vater, der
umherschaute, erblickte ihn, eilte ihm entgegen, und als er ihn erreicht
hatte, schlang er die Arme um seinen Hals und küßte ihn. Nur der Vater hatte
in diesem traurigen Bettler seinen Sohn erkannt, und nur er hatte einen
Liebesantrieb verspürt.
Der Sohn in seinen Armen, den
Kopf an die väterliche Brust gelehnt, flüsterte unter Schluchzen: "Vater, laß
mich dir zu Füßen niederfallen." "Nein, mein Sohn! Nicht zu Füßen! An mein
Herz, das so viel ob deiner Abwesenheit gelitten hat und das wieder aufleben
muß mit dem Gefühl deiner Wärme an meiner Brust." Der Sohn weinte noch stärker
und sagte: "Oh, mein Vater! Ich habe gegen den Himmel und gegen dich
gesündigt, und ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. Aber erlaube mir,
daß
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ich unter deinen Knechten, unter
deinem Dache bleiben und dich sehen, dein Brot essen und deinen Wein trinken
kann. Bei jedem Bissen Brot, bei jedem deiner Atemzüge wird mein verdorbenes
Herz sich erneuern, und ich werde redlich werden..."
Doch der Vater, der ihn immer
noch in den Armen hielt, führte ihn zu den Dienern, die sich in einiger
Entfernung versammelt und die Szene beobachtet hatten, und sagte: "Bringt
rasch das schönste Gewand und ein Becken mit duftendem Wasser. Wascht ihn,
salbt ihn, kleidet ihn an, legt ihm neue Schuhe an und steckt ihm einen Ring
an den Finger. Dann nehmt ein gemästetes Kalb, schlachtet es und bereitet ein
Festmahl; denn dieser mein Sohn war tot und ist auferstanden; er war verloren,
und ist wiedergefunden worden. Ich will, daß auch er nun seine einfache
Kindesliebe wiederfindet, und meine Liebe und das Fest im Haus zu seiner
Rückkehr sollen sie ihm wiedergeben. Er soll verstehen, daß er für mich immer
der jüngste Sohn ist, wie er es in seiner fernen Kindheit war, als er an
meiner Seite ging und mich mit seinem Lächeln und Geplauder beglückte." Und
die Diener folgten dem Befehl.
Der ältere Sohn aber war auf dem
Feld und erfuhr nichts davon bis zu seiner Rückkehr. Am Abend, als er nach
Hause kam, sah er es hellerleuchtet und vernahm Musikinstrumente und
Tanzweisen. Er rief einen Diener, der vielbeschäftigt umherrannte, und fragte
ihn: "Was geschieht hier?" Und der Diener antwortete: "Dein Bruder ist
zurückgekehrt. Dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil er seinen
Sohn gesund und von seinem großen Übel geheilt wieder besitzt, und er hat ein
Festmahl angeordnet. Wir warten nur noch auf dich, um damit anzufangen." Der
Ältere aber erzürnte, denn er betrachtete es als eine Ungerechtigkeit, ein
solches Fest für den Jüngeren zu halten, zudem der Jüngere böse gewesen war;
er wollte nicht hineingehen, sondern schickte sich an, sich vom Haus zu
entfernen. Aber der Vater, der davon erfuhr, eilte hinaus, holte ihn ein und
versuchte, ihn zu überzeugen, und bat ihn, seine Freude nicht zu vergällen.
Der Erstgeborene antwortete seinem Vater: "Du willst, daß ich mich nicht
aufrege? Du bist gegen deinen Erstgeborenen ungerecht und setzest ihn herab.
Seit ich dazu fähig war, habe ich gearbeitet und dir gedient; es sind nun
schon viele Jahre. Ich habe immer alle deine Befehle ausgeführt und auch alle
deine Wünsche erfüllt. Ich bin immer in deiner Nähe gewesen und habe dich für
zwei geliebt, um die Wunde, die mein Bruder dir zugefügt hat, zu heilen. Und
du hast mir nicht einmal ein Ziegenböcklein geschenkt, damit ich es mit meinen
Freunden genießen könnte. Ihm hingegen, der dich beleidigt und verlassen hat,
der faul und verschwenderisch gewesen ist, der nur heimkehrt, weil er Hunger
leidet, ihn ehrst du, und für ihn läßt du das schönste Kalb schlachten. Es
lohnt sich also nicht, ein guter Arbeiter und ohne Laster zu sein! Das hättest
du mir nicht antun dürfen!" Da zog der Vater den älteren Sohn an seine
100
Brust und sagte: "Oh, mein Sohn!
Glaubst du, daß ich dich nicht liebe, weil ich keine Festfahne für deine
Arbeit hisse? Deine Werke sind gut, und die Menschen loben dich deswegen. Aber
dieser dein Bruder muß die Achtung der Welt und seiner selbst wiedererlangen.
Glaubst du, daß ich dich nicht liebe, weil ich dir keine sichtbare Belohnung
gebe? Morgens und abends, bei jedem Atemzug und Gedanken bist du in meinem
Herzen, und in jedem Augenblick segne ich dich. Du hast den dauernden Lohn,
immer bei mir zu sein, und was mein ist, das ist dein. Aber es war gerecht,
ein Mahl zu halten und ein Fest zu feiern für diesen deinen Bruder, der tot
war und zum Guten auferstanden ist, der verloren war und in unsere Liebe
zurückgeführt worden ist." Und der Ältere gab nach.
So, meine Freunde, geschieht es
auch im Haus des Vaters. Wer glaubt, dem jüngeren Bruder im Gleichnis zu
gleichen, der soll es ihm nachtun und zum Vater gehen, damit der Vater ihm
sagen kann: "Nicht zu meinen Füßen, sondern an mein Herz, das ob deiner
Abwesenheit gelitten hat und nun über deine Rückkehr glücklich ist." Wer dem
Erstgeborenen gleicht und ohne Schuld dem Vater gegenüber ist, soll nicht
eifersüchtig auf die väterliche Freude sein, sondern daran teilnehmen, indem
er dem erlösten Bruder Liebe schenkt.
Ich habe gesprochen. Bleib hier,
Johannes von Endor, und auch du, Lazarus. Die anderen können gehen und die
Tische decken. Wir werden gleich nachkommen.»
Alle ziehen sich zurück. Als
Jesus, Lazarus und Johannes allein sind, sagt Jesus den beiden: «So geschieht
es der teuren Seele, die du erwartest, Lazarus, und so geschieht es dir,
Johannes: die Güte Gottes übersteigt alle Maße.»
Die Apostel mit der Mutter und
den Frauen gehen zum Haus, ihnen voraus hüpft und springt Margziam. Doch schon
kommt er zurück, nimmt Maria bei der Hand und sagt: «Komm mit mir, ich muß dir
etwas sagen; dir allein!»
Maria stellt ihn zufrieden. Sie
wenden sich dem Brunnen zu, der sich in einer Ecke des Hofes befindet, unter
einer dichten Pergola verborgen, die sich vom Boden in einem Bogen bis zur
Terrasse hinzieht. Dort hinten wartet Iskariot.
«Judas, was willst du? Geh,
Margziam... Sprich, was willst du?»
«Ich fühle mich schuldig... Ich
wage es nicht, zum Meister zu gehen und den Gefährten zu begegnen... Hilf du
mir!»
«Ich will dir helfen... Aber
denkst du nicht daran, wieviel Schmerz du verursachst? Mein Sohn hat
deinetwegen geweint. Auch die Gefährten haben gelitten. Aber komm, niemand
wird dir etwas vorwerfen. Wenn du kannst, falle nicht mehr in diese Fehler
zurück. Es ist des Mannes unwürdig und ein Sakrileg gegen das Wort Gottes.»
«Und du, Mutter, kannst du mir
verzeihen?»
101
«Ich? Ich zähle nichts bei dir,
der du dir soviel einbildest. Ich bin die Geringste unter den Dienern des
Herrn. Wie kannst du dich um mich kümmern, wenn du kein Mitleid mit meinem
Sohn hast.»
«Weil auch ich eine Mutter habe,
und wenn ich deine Verzeihung erhalte, so kommt es mir vor, als hätte auch sie
mir verziehen.»
«Sie kennt diese deine Schuld
nicht.»
«Aber ich habe ihr schwören
müssen, gut zum Meister zu sein. Ich habe den Eid gebrochen. Ich spüre den
Vorwurf der Seele meiner Mutter.»
«Du spürst ihn? Und die Klage und
den Vorwurf des Vaters und des Wortes spürst du nicht? Du Unglücklicher,
Judas! Du säst in dir und in denen, die dich lieben, den Schmerz.»
Maria ist sehr ernst und traurig.
Sie spricht ohne Härte, doch mit großem Ausdruck in der Stimme. Judas weint.
«Weine nicht, sondern bessere
dich! Komm.»
Sie nimmt ihn an der Hand, und so
betreten sie die Küche. Das allgemeine Erstaunen ist groß. Aber Maria kommt
jeder unbarmherzigen Äußerung zuvor. Sie sagt: «Judas ist zurückgekehrt. Macht
es wie der Erstgeborene nach der Rede des Vaters. Johannes, geh und sag Jesus
Bescheid.»
Johannes des Zebedäus eilt weg.
Ein tiefes Schweigen lastet auf denen in der Küche. Schließlich sagt Judas:
«Verzeih mir, du, Simon, als erster. Du hast ein so väterliches Herz. Auch ich
bin ein Waisenkind.»
«Ja, ja, ich verzeihe dir. Bitte
rede nicht mehr davon. Wir sind Brüder und mir gefallen diese Ebben und Fluten
nicht, die Bitten um Verzeihung und die Rückfälle. Sie betrüben beide Teile.
Da kommt Jesus. Geh ihm entgegen. Das genügt.»
Judas geht, während Petrus sich
nicht anders zu helfen weiß, als hinauszugehen und wütend trockenes Holz zu
spalten...
246. DAS GLEICHNIS VON DEN ZEHN
JUNGFRAUEN
Jesus spricht vor den Arbeitern
Jochanans: Isaak, vielen Jüngern, den Frauen, unter ihnen Maria, die
allerheiligste Mutter, und Martha, sowie anderen Leuten von Bethanien. Alle
Apostel sind anwesend. Das Kind sitzt Jesus gegenüber und läßt sich kein Wort
entgehen. Die Predigt muß gerade erst begonnen haben, denn es kommen immer
noch Menschen...
Jesus sagt: «... Gerade wegen
dieser Angst, die ich so lebhaft in vielen von euch sehe, möchte ich euch
heute ein schönes Gleichnis erzählen. Ein Gleichnis, das für die Menschen
guten Willens süß und für die anderen bitter ist. Aber diese können sich vom
Bitteren befreien. Auch sie können guten Willens werden, und der Vorwurf, der
sich durch das Gleichnis im Gewissen regt, wird sich legen.
102
Das Himmelreich ist das Haus, in
dem sich die Vermählung Gottes mit den Seelen vollzieht, und der Augenblick
des Eintritts ist der Hochzeitstag.
So hört also. Bei uns ist es
Sitte, daß Jungfrauen den Bräutigam begleiten, um ihn mit Lichtern und
Gesängen mit seiner Braut ins Hochzeitshaus zu geleiten. Wenn der Hochzeitszug
das Haus der Braut verläßt, die sich verschleiert und gerührt als Königin zu
ihrem Platz begibt, in ein Haus, das nicht das ihrige ist, das aber in dem
Augenblick, da sie und der Bräutigam ein Fleisch werden, das ihrige wird, dann
eilen die Jungfrauen, meist Freundinnen der Braut, diesen beiden Glücklichen
entgegen, um sie mit einem Lichterkranz zu umringen.
Nun geschah es, daß in einem Dorf
eine Hochzeit gefeiert wurde. Während die Brautleute sich mit den Verwandten
und Freunden im Haus der Braut versammelten, gingen zehn Jungfrauen an ihren
Platz, in den Vorraum des Hauses des Bräutigams, bereit, ihm entgegenzueilen,
sobald der Klang der Zimbeln und Gesänge ankündigen würden, daß die Brautleute
das Haus der Braut verlassen, um zum Haus des Bräutigams zu gehen. Aber das
Mahl im Haus der Braut zog sich in die Länge, und die Nacht brach herein. Die
Jungfrauen, ihr wißt es, haben immer brennende Lampen, um im rechten
Augenblick keine Zeit zu verlieren. Nun waren unter diesen zehn Jungfrauen mit
brennenden Lampen fünf kluge und fünf törichte. Die Klugen hatten sich
weislich mit kleinen Gefäßen voll Öl eingedeckt, um ihre Lampen damit
auffüllen zu können, wenn die Wartezeit länger als vorgesehen sein würde,
während die Törichten nur ihre Lampen gut gefüllt hatten.
Eine Stunde verging nach der
anderen. Zuerst redeten sie miteinander, erzählten sich gegenseitig
Geschichten und machten Späße, um sich die Zeit zu vertreiben. Doch
schließlich wußten sie nichts mehr zu sagen und zu tun. Gelangweilt oder auch
einfach müde, setzten sich die zehn Mädchen bequem nieder, mit ihren
brennenden Lampen in der Nähe, und schliefen langsam alle ein. Es kam die
Mitternacht, und man hörte den Ruf: "Auf! Der Bräutigam kommt! Geht ihm
entgegen!" Die zehn Mädchen erhoben sich sofort, nahmen ihre Schleier und ihre
Blumenkränze und machten sich bereit; dann liefen sie zum Tisch, auf den sie
ihre Lampen gestellt hatten. Fünf von diesen waren bereits am Erlöschen... Der
Docht, der nicht mehr von Öl getränkt und daher verbraucht war, rauchte. Die
Flammen wurden immer schwächer und drohten beim leisesten Windhauch zu
erlöschen. Die fünf anderen Lampen hingegen, die vor dem Schlaf von den Klugen
aufgefüllt worden waren, hatten noch helle Flammen und strahlten noch heller,
nachdem neues Öl nachgefüllt worden war.
"Oh", baten die Törichten, "gebt
uns ein wenig von eurem Öl, sonst erlöschen unsere Lampen, sobald wir sie
bewegen. Eure leuchten so schön."
103
Aber die Klugen antworteten:
"Draußen bläst der nächtliche Wind, und der Regen fällt mit großen Tropfen.
Das Öl wird nicht ausreichen, um eine große Flamme zu machen, die dem Wind und
dem Regen standhält. Wenn wir davon abgeben, wird es geschehen, daß auch
unsere Lampen nur noch flackern, und der Brautzug wäre jämmerlich ohne das
Leuchten der Lampen! Lauft, geht zum nächsten Krämer, bittet, klopft an, damit
er aufsteht, um euch Öl zu geben."
Die fünf Törichten folgten dem
Rat der Gefährtinnen, wobei sie unterwegs die Kränze verloren, da sie immer
wieder in der Dunkelheit zusammenstießen und sich die Schleier zerknitterten
und die Kleider beschmutzten.
Doch während sie gingen, Öl zu
kaufen, erschien am Ende der Straße der Bräutigam mit der Braut. Die fünf
Jungfrauen eilten ihnen mit den brennenden Lampen entgegen und betraten mit
dem Bräutigam in ihrer Mitte das Haus, um dort die Feier abzuschließen, indem
sie die Braut ins Brautgemach geleiteten. Nach ihrem Eintritt wurde das Haus
geschlossen, und wer draußen war, mußte draußen bleiben. So fanden die fünf
Törichten, die endlich mit dem Öl angekommen waren, die Tür verschlossen und
klopften vergebens, sich die Hände verletzend und klagend: "Herr, Herr, öffne
uns! Wir gehören zum Hochzeitszuge. Wir sind die glückbringenden Jungfrauen,
dazu auserwählt, deinem Brautgemach Ehre und Glück zu bringen." Aber der
Bräutigam rief vom Obergeschoß des Hauses herab, nachdem er für einen
Augenblick die intimsten Eingeladenen verlassen hatte, mit denen er sich
gerade unterhielt, während die Braut sich in das Brautgemach zurückgezogen
hatte: "Wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch nicht. Ich weiß nicht, wer ihr
seid. Eure Gesichter waren nicht unter den Feiernden, die meine Geliebte
umgaben. Ihr seid nicht das, wofür ihr euch ausgebt, und sollt daher aus dem
Hochzeitshaus ausgeschlossen bleiben." Die fünf Törichten gingen weinend mit
den nun nutzlosen Lampen, den zerknitterten Kleidern, den zerrissenen
Schleiern und den aufgelösten oder verlorenen Blumenkränzen auf der finsteren
Straße fort.
Und nun hört die im Gleichnis
enthaltene Lehre! Ich habe euch anfangs gesagt, daß das Himmelreich das Haus
der Vereinigung der Seelen mit Gott ist. Zur himmlischen Hochzeit sind alle
Gläubigen geladen, denn Gott liebt alle seine Kinder. Die einen finden sich
früher, die anderen später zur Hochzeit ein, und wer dort ankommt hat großes
Glück.
Nun hört weiter! Ihr wißt, wie
die Mädchen es als Ehre und Glück betrachten, als Mägde der Braut eingeladen
zu werden. Wir wollen in unserem Fall die Rollen verteilen, so werdet ihr
besser begreifen. Der Bräutigam ist Gott. Die Braut ist die Seele eines
Gerechten, die die Zeit der Verlobung im Haus des Vaters, also in dessen
Fürsorge und im Gehorsam zu ihm und zur Lehre Gottes, in Gerechtigkeit
verbracht hat und nun zur
104
Hochzeit in das Haus des
Bräutigams gebracht wird. Die Jungfrauen sind die Seelen der Gläubigen, die
dem Beispiel der Braut folgend versuchen, zur selben Ehre zu gelangen, indem
sie nach Heiligkeit streben; denn die Tatsache, daß der Bräutigam die Frau
wegen ihrer Tugenden gewählt hat, ist ein Zeichen dafür, daß sie ein lebendes
Beispiel der Heiligkeit war. Diese Seelen haben ein weißes, reines und
frisches Gewand, weiße Schleier und sind mit Blumenkränzen gekrönt. Sie haben
brennende Lampen in den Händen. Die Lampen sind gereinigt, der Docht vom
feinsten Öl getränkt, damit es nicht übel riecht.
Im weißen Gewand. Die beharrlich
geübte Gerechtigkeit verleiht ein weißes Gewand, und bald kommt der Tag, an
dem es herrlich sein wird, ohne den leisesten Schimmer eines Makels, mit einem
übernatürlichen Glanz und einer engelhaften Reinheit.
In einem reinen Gewand. Es ist
nötig, durch die Demut das Kleid immer rein zu halten. Sehr leicht kann die
Reinheit des Herzens getrübt werden. Und wer nicht reinen Herzens ist, kann
Gott nicht sehen. Die Demut ist wie Wasser, das wäscht. Da sein Auge nicht vom
Rauch des Stolzes getrübt ist, wird der Demütige sich sofort bewußt, wenn sein
Gewand beschmutzt wird; er eilt zu seinem Herrn und sagt: "Ich habe mein Herz
der Reinheit beraubt. Ich weine, um mich zu reinigen; ich weine zu deinen
Füßen. Und du, meine Sonne, mache mit deinem gütigen Verzeihen, mit deiner
väterlichen Liebe, mein Kleid wieder weiß."
In frischem Gewand. Oh, die
Frische des Herzens! Die Kinder haben sie als Gabe Gottes. Die Gerechten haben
sie als Gabe Gottes und durch eigenen Willen. Die Heiligen haben diese Frische
als Gabe Gottes und aus eigenem, zum Heroismus gesteigerten Willen. Aber die
Sünder mit ihrer zerlumpten, angesengten, vergifteten und beschmutzten Seele;
werden sie nie mehr ein reines Gewand haben können? Oh doch, sie können es
haben! Sie beginnen, es wiederzubekommen in dem Augenblick, da sie sich mit
Abscheu betrachten, und es wird um so weißer, je mehr sie sich bemühen, ihr
Leben zu ändern. Sie vervollkommnen es, wenn sie sich mit der Buße reinigen
und entgiften und ihre arme Seele wieder aufrichten, immer betend um die Hilfe
Gottes, der seinen Beistand nie denen versagt, die darum bitten, und auch mit
dem eigenen Willen, der zum Heroismus gelangen muß; denn sie haben es nicht
nur nötig, das zu hüten, was sie haben, sondern sie müssen wiederaufbauen, was
sie abgebrochen haben, also doppelte, dreifache, siebenfache Mühe aufwenden.
Schließlich müssen sie mit unermüdlichen, unerbittlichen Bußübungen des
eigenen Ich, das gesündigt hat, ihre Seele zu einer neuen Frische der Kindheit
führen, die wertvoll wird durch die Erfahrung und sie zu Lehrern macht für die
anderen, die Sünder sind, wie sie selbst es zuvor gewesen sind.
Die weißen Schleier. Die Demut!
Ich habe gesagt: "Wenn ihr betet oder Buße tut, dann macht es so, daß die Welt
nichts davon bemerkt." In den
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Büchern der Weisheit steht
geschrieben: "Es ist nicht gut, das Geheimnis des Königs zu enthüllen." Die
Demut ist der weiße Schleier, der als Schutz über das Gute, das man tut, und
über das Gute, das Gott gewährt, ausgebreitet wird. Kein Rühmen für das
Privileg der Liebe, die Gott gewährt; kein törichter menschlicher Ruhm! Die
Gabe würde sofort entzogen. Vielmehr innerlicher Lobgesang des Herzens für
seinen Gott: "Hochpreise meine Seele den Herrn, denn er hat die Niedrigkeit
seiner Magd gesehen."»
Jesus macht eine kurze Pause und
wirft einen Blick auf seine Mutter, die sich fester in ihren Schleier hüllt
und sich tief beugt, als wolle sie die Haare des Kindes, das zu ihren Füßen
sitzt, in Ordnung bringen, in Wirklichkeit jedoch, um zu verbergen, wie tief
die Erinnerung sie bewegt...
Mit Blumen gekrönt. Die Seele muß
sich schmücken mit Girlanden täglicher Tugendhaftigkeit, denn vor dem Antlitz
des Allerhöchsten kann Fehlerhaftes nicht bestehen; man darf nicht nachlässig
werden. Täglich, habe ich gesagt! Denn die Seele weiß nicht, wann
Gott-Bräutigam erscheint, um zu sagen: "Komm!" Daher darf sie nie müde werden,
den Kranz zu erneuern. Habt keine Angst, wenn die Blumen verwelken. Die Blumen
der Tugendhaftigkeit welken nicht. Der Engel Gottes, den jeder Mensch an
seiner Seite hat, sammelt diese täglichen Kränze und trägt sie in den Himmel.
Dort zieren sie den Thron des neuen Seligen, wenn er als Braut in den
Hochzeitssaal eintritt.
Ihre Lampen brennen. Um den
Bräutigam zu ehren und für sich selbst den Weg zu beleuchten. Wie strahlend
ist der Glaube und welch ein holder Freund ist er! Er ist wie eine strahlende
Flamme, wie ein Stern, eine lachende Flamme, sicher ihrer Gewißheit; eine
Flamme, die auch das Gefäß, das sie trägt, leuchten läßt. Auch der menschliche
Körper, der vom Glauben genährt wird, scheint schon auf dieser Erde
strahlender, vergeistigter und immun gegen heftige Leidenschaften; denn wer
glaubt, richtet sich nach den Worten und Geboten Gottes, um Gott, sein Ziel,
zu besitzen; er flieht daher alles Verderbliche und kennt keine Unruhe, Ängste
und Selbstvorwürfe. Er braucht sich nicht anzustrengen, um sich seiner Lügen
zu erinnern oder seine bösen Taten zu verbergen, und er bleibt schön und jung
in der schönen Unberührtheit des Heiligen. Ein Fleisch und ein Blut, ein Geist
und ein Herz, gereinigt von aller Unzucht, um das Öl des Glaubens zu bewahren
und rauchfreies Licht zu spenden. Ein beständiger Wille, stets dieses Licht zu
nähren. Das tägliche Leben mit seinen Enttäuschungen, Feststellungen,
Berührungen, Versuchungen und Angriffen führt leicht zur Verminderung des
Glaubens. Das darf nicht geschehen! Geht täglich zu den Quellen des sanften
Öles, des weisen Öles, des göttlichen Öles.
Die wenig genährte Lampe kann vom
leisesten Windhauch und den schweren Regentropfen der Nacht ausgelöscht
werden. Die Nacht, die
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Stunde der Finsternis, der Sünde,
der Versuchung, kommt für alle. Es ist die Nacht der Seele. Aber wenn diese
voller Glauben ist, kann die Flamme nicht vom Wind der Welt und vom Nebel der
Sinnlichkeit gelöscht werden.
Wachsamkeit, Wachsamkeit,
Wachsamkeit! Wer unklug ist, vertraut unklugerweise und sagt: "Oh, Gott kommt
rechtzeitig, solange noch Licht in mir ist." Wer schläft statt zu wachen; wer
weiterschläft, ohne sich beim ersten Ruf sofort zu erheben; wer sich auf den
letzten Augenblick verläßt, um sich das Öl des Glaubens oder den starken Docht
des guten Willens zu verschaffen, lebt in der Gefahr, draußen bleiben zu
müssen, wenn der Bräutigam kommt. Wacht also mit Klugheit, Ausdauer, Reinheit
und Vertrauen, um immer bereit zu sein, wenn Gott euch ruft, denn ihr wißt
wirklich nicht, wann er kommen wird.
Meine lieben Jünger, ich will
nicht, daß ihr vor Gott zittert; vielmehr sollt ihr Vertrauen in seine Güte
haben. Sowohl ihr, die ihr bleibt, als auch ihr, die ihr nun geht, denkt alle
daran, daß ihr, wenn ihr es wie die klugen Jungfrauen macht, gerufen werdet,
nicht nur, um dem Bräutigam das Geleit zu geben, sondern wie die junge Esther,
die anstelle Waschtis Königin wurde, auserwählte Bräute zu sein, da der
Bräutigam in euch jede Anmut und Gunst vor jeder anderen gefunden hat. Ich
segne euch, die ihr gehen müßt. Tragt in euch und zu den Gefährten dieses mein
Wort. Der Friede des Herrn sei allezeit mit euch!»
Jesus nähert sich den
Landarbeitern, um sie noch einmal zu grüßen, aber Johannes von Endor flüstert
ihm zu: «Meister, Judas ist da ...»
«Das ist gleichgültig! Begleite
sie zum Wagen und tue, was ich dir aufgetragen habe.»
Die Versammlung löst sich langsam
auf. Viele reden noch mit Lazarus, und dieser wendet sich an Jesus, läßt die
Leute stehen und sagt: «Meister, bevor du uns verläßt, sprich noch einmal zu
uns. Die Leute von Bethanien wünschen es.»
«Der Abend sinkt hernieder. Er
ist friedlich und klar. Wenn ihr euch auf dem gemähten Heu versammeln wollt,
will ich noch einmal sprechen, bevor ich diesen freundlichen Ort verlasse.
Oder sonst morgen, bei Sonnenaufgang, denn es ist schon spät.»
«Später! Aber diesen Abend!»
schreien alle.
«Wie ihr wollt. Geht nun! Zur
Mitte der ersten Nachtwache werde ich zu euch reden ...»
107
247. DAS GLEICHNIS VOM KÖNIG, DER
SEINEM SOHN DIE HOCHZEIT BEREITET
Jesus ist wirklich unermüdlich.
Während die Sonne mit letztem rötlichen Schein verschwindet, und vereinzelt,
noch unsicher, die ersten Grillen zirpen, begibt sich Jesus auf ein erst vor
kurzem gemähtes Feld, auf dem das trocknende Gras einen dichten, weichen,
duftenden Teppich bildet. Ihm folgen die Apostel, die Marien, Martha und
Lazarus mit der Hausgemeinschaft, Isaak mit den Jüngern und, könnte man sagen,
ganz Bethanien. Unter den Bediensteten befinden sich auch der Greis und die
Frau, die beiden, die auf dem Berg der Seligkeiten Trost für ihre Tage
gefunden haben. Jesus bleibt stehen, um den Patriarchen zu segnen, der ihm
weinend die Hand küßt und das Kind streichelt, das an der Seite Jesu geht, und
ihm sagt: «Glücklich bist du, der du ihm folgen darfst! Sei brav und sei
aufmerksam, Sohn! Du hast ein großes Glück, ein großes Glück! Über deinem
Haupt schwebt eine Krone. Oh, du Glücklicher!»
Als alle Platz genommen haben,
beginnt Jesus zu reden: «Die armen Freunde sind abgereist. Sie hatten es so
nötig, in der Hoffnung, ja in der Gewißheit bestärkt zu werden; ein kleines
Wissen genügt, um in das Reich aufgenommen zu werden; es genügt ein Mindestmaß
an Wahrheit, auf welcher der gute Wille aufbauen kann. Nun spreche ich zu
euch, die ihr viel weniger unglücklich seid, da es euch materiell besser geht
und ihr eine größere Hilfe vom Wort erhält. Meine Liebe erreicht sie nur in
Gedanken. Euch erreicht meine Liebe auch mit dem Wort. Daher werdet ihr im
Himmel und auf Erden mit größerer Strenge behandelt; denn, wem viel gegeben
wurde, von dem wird auch viel verlangt. Sie, die armen Freunde, die in ihre
Galeere zurückkehren, können nur ein Minimum Gutes haben; und sie haben
dagegen ein Maximum an Leid. Ihnen gilt daher nur das Versprechen des
Wohlwollens, denn alles andere wäre überflüssig. Wahrlich, ich sage euch, ihr
Leben ist Buße und Heiligkeit, und mehr darf ihnen nicht zugemutet werden. Und
in Wahrheit sage ich euch, daß sie wie die klugen Jungfrauen ihre Lampen bis
zur Stunde der Abberufung nicht erlöschen lassen.
Erlöschen lassen? Nein! Ihr
ganzes Gut ist dieses Licht. Sie können es nicht erlöschen lassen. Wahrlich,
ich sage euch, so wie ich im Vater bin, so sind die Armen in Gott, und darum
wollte ich, das Wort des Vaters, arm geboren werden und arm bleiben. Denn
unter den Armen fühle ich mich dem Vater näher, der die Armen liebt und von
diesen mit ihrer ganzen Kraft geliebt wird. Die Reichen haben viele Dinge. Die
Armen haben nur Gott. Die Reichen haben Freunde. Die Armen sind allein. Die
Reichen haben vielen Trost. Die Armen haben keinen Trost. Die Reichen haben
Vergnügen. Die Armen haben nur ihre Arbeit. Für die Reichen wird alles durch
das Geld erleichtert. Die Armen haben das Kreuz der Angst vor
108
Krankheit und Mißernten; denn
diese bedeuten für sie Hunger und Tod. Aber die Armen haben Gott als ihren
Freund und Tröster. Er ist es, der sie ablenkt von ihrer betrüblichen
Gegenwart durch himmlische Hoffnungen. Er ist es, zu dem sie sagen können, und
sie tun es auch, weil sie arm, demütig und allein sind: "Vater, steh uns mit
deiner Barmherzigkeit bei."
Was ich hier auf dem Besitz des
Lazarus, meines und des Freundes Gottes sage, kann eigenartig klingen, da
Lazarus sehr reich ist. Doch Lazarus ist eine Ausnahme unter den Reichen; denn
Lazarus hat die Tugend erreicht, die am seltensten auf Erden zu finden ist und
noch seltener nach Anweisung anderer ausgeübt werden kann: die Tugend der
Freiheit vom Reichtum. Lazarus ist gerecht. Er fühlt sich jetzt nicht
beleidigt. Man kann ihn nicht beleidigen, denn er weiß, daß er der Reiche-Arme
ist und mein verdeckter rügender Vorwurf nicht ihm gilt. Lazarus ist gerecht.
Er anerkennt, daß es in der Welt der Großen so ist, wie ich sage. Daher
spreche ich und sage: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, leichter gelangt ein
Armer zu Gott als ein Reicher, und im Himmel meines und eures Vaters werden
viele Sitze von denen besetzt sein, die auf Erden verachtet wurden, weil sie
geringer als der Staub waren, der zertreten wird.
Die Armen bewahren in ihren
Herzen die Perlen der Worte Gottes. Sie sind ihr einziger Schatz. Wer nur
einen Schatz hat, der wacht darüber. Wer viele hat, langweilt sich und ist
zerstreut, ist hochmütig und sinnlich. Daher bewundert er nicht mit demütigen
und verliebten Augen den Schatz, den Gott ihm gegeben hat. Er mischt ihn unter
andere Dinge, die nur scheinbar wertvoll sind, Schätze, die den Reichtum der
Erde bilden, und denkt dabei: "Es ist eine Herablassung meinerseits, wenn ich
die Worte von einem annehme, der mir dem Fleische nach gleich ist." Er stumpft
seine Fähigkeit, das zu kosten, was übernatürlich ist, mit dem starken Geruch
der Sinnlichkeit ab. Starke Gerüche! Ja, sehr gewürzte; um den Gestank und
Verwesungsgeruch zu überdecken.
Aber hört, und ihr werdet besser
verstehen, warum Reichtümer und Schwelgereien den Eintritt ins Himmelreich
versperren.
Ein König bereitete die Hochzeit
seines Sohnes vor. Ihr könnt euch vorstellen, was das für ein Fest im
Königreich war. Er war sein einziger Sohn, und da er das richtige Alter
erreicht hatte, heiratete er seine Auserwählte. Der Vater und König wollte,
daß die Freude seines Sohnes, der endlich Bräutigam seiner Vielgeliebten war,
nur von Freude umgeben sei. Zu den vielen Feiern gehörte auch ein großes
Festmahl. Er ließ es gut vorbereiten und überwachte selbst alle Einzelheiten,
damit es herrlich und des Königssohnes würdig werde.
Er sandte auch rechtzeitig seine
Diener aus, um Freunde, Verbündete und auch die Vornehmen seines Reiches zu
unterrichten, daß die Hochzeit an einem festgelegten Tag stattfinde; daß sie
eingeladen seien und kommen sollten, um einen würdigen Hof für den Sohn zu
bilden. Aber die
109
Freunde, die Verbündeten und die
Vornehmen des Reiches nahmen die Einladung nicht an.
Der König, der im Zweifel darüber
war, daß die ersten Diener bestimmt genug gesprochen hatten, sandte noch
andere aus, die sagen sollten: "Aber kommt doch! Wir bitten euch! Alles ist
vorbereitet! Die Tafel ist gedeckt, kostbare Weine sind von überall her
gebracht worden; in der Küche ist schon das Fleisch der Rinder und gemästeten
Tiere aufgehäuft, um gebraten zu werden; Sklaven kneten den Teig für Süßwaren,
andere zerstoßen in den Mörsern die Mandeln, um daraus feinste Leckereien zu
backen, in die sie auserlesenste Aromen mischen. Die besten Tänzerinnen und
Musiker sind für das Fest bestellt. Kommt also, damit all dieser Aufwand nicht
vergeblich sei."
Aber die Freunde, die Verbündeten
und die Großen im Reich lehnten entweder ab oder sagten: "Wir haben anderes zu
tun." Einige taten so, als ob sie die Einladung annähmen, gingen dann aber
ihren Geschäften nach, die einen auf dem Feld, die anderen im Handel, wieder
andere auf weniger edlen Gebieten. Verärgerte nahmen sogar wegen des vielen
Drängens den Diener fest und töteten ihn, um ihn zum Schweigen zu bringen, da
er erklärt hatte: "Verweigere dem König diese Bitte nicht, denn es könnte dir
zum Schaden gereichen!"
Die Diener kehrten zum König
zurück und berichteten ihm alles. Der König wurde von Zorn erfüllt und sandte
seine Soldaten aus, um die Mörder seiner Diener zu bestrafen und auch jene,
die seine Einladung abgeschlagen hatten; und er nahm sich vor, jene zu
belohnen, die zu kommen versprochen hatten. Aber am Abend des Festes, zur
festgelegten Stunde, erschien kein einziger von allen. Der erzürnte König rief
seine Diener und sagte: "Es darf nicht geschehen, daß mein Sohn an diesem
Hochzeitsabend von niemand gefeiert wird. Das Hochzeitsmahl ist bereit, aber
die Eingeladenen sind dessen nicht wert. Das Hochzeitsmahl meines Sohnes muß
jedoch stattfinden. Geht daher auf die Straßen, stellt euch an die
Wegkreuzungen, haltet die Vorübergehenden auf, versammelt die Rastenden und
bringt sie hierher, damit der Saal voll werde mit feiernden Menschen."
Die Diener gingen hinaus auf die
Straßen, verstreuten sich auf die Plätze, stellten sich an die Wegkreuzungen
und versammelten alle, die sie finden konnten, Gute und Böse, Reiche und Arme.
Sie brachten sie zum königlichen Palast und gaben ihnen das Nötige, um würdig
im Saale des Hochzeitsmahles erscheinen zu können. Dann führten sie alle hin,
und der Saal füllte sich, wie der König es gewünscht hatte, mit fröhlichen
Menschen.
Doch als der König den Saal
betrat, um nachzusehen, ob das Fest beginnen könne, sah er einen, der
ungeachtet der von den Dienern geleisteten Hilfe kein Festkleid trug. Er
fragte ihn: "Warum bist du ohne Festkleid
110
hereingekommen?" Doch jener wußte
nichts zu antworten, denn es gab keine Entschuldigungsgründe. Da rief der
König die Diener herbei und sagte zu ihnen: "Nehmt diesen, bindet ihn an
Händen und Füßen und werft ihn hinaus aus meinem Haus in die Finsternis und
den eisigen Schlamm. Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen, wie er
es verdient hat aufgrund seines Undankes und der mir zugefügten Beleidigung.
Mehr noch als mich hat er meinen Sohn beleidigt, da er in ärmlichen,
schmutzigen Kleidern den Festsaal betreten hat, in den niemand eintreten darf,
der dessen und meines Sohnes nicht würdig ist."
Ihr seht also, daß die Interessen
der Welt, der Geiz, die Sinnlichkeit und Grausamkeit den Zorn des Königs
erwecken und den Menschen, die sich den Angelegenheiten der Welt widmen, den
Eintritt in den königlichen Palast versperren. Und ihr seht, daß auch unter
denen einer bestraft wird, die im Hinblick auf seinen Sohn gerufen worden
sind.
Wie vielen auf dieser Welt hat
Gott bis zum heutigen Tag sein Wort gesandt!
Die Verbündeten, die Freunde, die
Großen seines Volkes hat Gott wirklich durch seine Diener eingeladen, und er
wird sie immer dringender einladen, je näher die Stunde der Hochzeit rückt.
Aber sie werden die Einladung nicht annehmen, denn sie sind falsche
Verbündete, falsche Freunde und nur dem Namen nach Große; denn
Niederträchtigkeit steckt in ihnen.»
Jesus läßt seine Stimme immer
mehr anschwellen; seine Augen sind wahre Lichtbündel im Schein des Feuers, das
für ihn und seine Zuhörer angezündet worden ist, um den Abend zu erhellen, da
der im letzten Viertel stehende Mond erst spät aufgeht. «Ja,
Niederträchtigkeit steckt in ihnen, und daher verstehen sie nicht, daß es eine
Pflicht und eine Ehre für sie ist, der Einladung des Königs zu folgen.
Hochmut, Härte und Fleischeslust
bilden ein Bollwerk in ihren Herzen. Und – Unglückliche, die sie sind! – sie
hassen mich und wollen daher nicht zur Hochzeit kommen. Sie wollen nicht
kommen. Sie ziehen der Hochzeit schmutzige Verbindungen mit der Politik,
schmieriges Geld und schmutzigste Sinnenlust vor. Sie ziehen die schmählichen
Berechnungen, Verschwörungen, heimtückischen Verschwörungen, die Täuschung und
das Verbrechen vor.
Dies alles verurteile ich im
Namen Gottes. Und gerade deshalb haßt man die Stimme, die spricht, und die
Feste, zu welchen sie einlädt. In diesem Volk werden Henker der Diener Gottes,
der Propheten gesucht. Die Propheten waren die Diener Gottes bis jetzt; meine
Jünger sind die Diener von jetzt an. In diesem Volk werden Spötter Gottes
gesucht, die sagen: "Ja, wir kommen", während sie im Innern denken: "Nie und
nimmer." Das geschieht in Israel.
Damit der Sohn eine würdige
Hochzeitsfeier habe, schickt der König
111
des Himmels seine Diener an die
Wegkreuzungen, um jene einzuladen, die keine Freunde, keine Vornehmen und
keine Verbündeten sind, sondern einfaches, vorüberziehendes Volk. Durch meine
Hand, die Hand des Sohnes und Dieners Gottes, ist schon mit der Ernte begonnen
worden.
Wer es auch sein mag, kann
kommen... Es sind ihrer schon gekommen. Ich helfe ihnen, sich rein und schön
für das Hochzeitsfest zu machen. Aber es sind Menschen darunter, die zu ihrem
Unglück von der Hochherzigkeit Gottes Wohlgerüche und königliche Gewänder
annehmen, um sich selbst erscheinen zu lassen, was sie nicht sind. als reich
und würdig; sie mißbrauchen die Güte, um in unwürdiger Weise zu verführen und
zu verdienen... Individuen mit niederträchtiger Seele in den Fängen des
abstoßenden Polyps der Laster. Sie unterschlagen wohlriechende Essenzen und
Gewänder, um unerlaubten Gewinn daraus zu ziehen und sie nicht für die
Hochzeit des Königssohnes, sondern für ihre Hochzeit mit dem Satan zu
verwenden.
Dies alles wird geschehen, denn
viele sind berufen, aber nur wenige, die in der Berufung auszuharren
verstehen, auserwählt.
Es wird aber auch geschehen, daß
diese Hyänen, die das Aas der lebendigen Nahrung vorziehen, zur Strafe aus dem
Festsaal in die Finsternis des ewigen Sumpfes geworfen werden, in welchem
Satan bei jedem Sieg über eine Seele sein schreckliches Gelächter ausstößt,
und in dem auf ewig das Klagen der Verzweiflung der Törichten ertönt, die dem
Bösen folgten statt der Güte, die sie gerufen hatte.
Erhebt euch und laßt uns zur Ruhe
gehen. Ich segne euch alle, ihr Bewohner von Bethanien, alle. Ich segne euch
und schenke euch meinen Frieden. Und ich segne besonders dich, Lazarus, mein
Freund, und dich, Martha. Ich segne meine alten und meine neuen Jünger, die
ich in die Welt sende, um zur Hochzeit des Königs einzuladen. Kniet euch alle
nieder, ich will euch alle segnen.
Petrus, sag das Gebet, das ich
euch gelehrt habe; sage es hier, an meiner Seite stehend, denn so muß es von
dem gesagt werden, der von Gott dazu bestimmt ist.»
Die ganze Versammlung kniet
nieder im Heu. Nur Jesus steht in seinem Leinenkleid groß und schön da, Petrus
in seinem braunen Gewande neben ihm, ist aufgeregt, beinahe zitternd. Er betet
mit seiner nicht schönen, aber männlichen Stimme langsam, aus Angst, einen
Fehler zu machen: «Vater unser...»
Man hört vereinzelt Schluchzen...
von Männern, von Frauen... Margziam, der vor Maria kniet, die seine gefalteten
Händchen hält, blickt mit einem engelgleichen Lächeln zu Jesus auf und sagt
leise: «Schau, Mutter, wie schön er ist! Und wie schön ist auch mein Vater! Es
ist wie im Himmel... Wird auch meine Mama hier sein und uns sehen?»
112
Und Maria antwortet mit einem
Flüstern, das in einem Kuß endet: «Ja, Lieber, sie ist hier; sie lernt das
Gebet.»
«Und ich, lerne ich es auch?»
«Sie wird es dir in die Seele
flüstern, während du schläfst, und ich wiederhole es dir tagsüber.»
Das Kind legt das braune Köpfchen
zurück an die Brust Marias und bleibt so, während Jesus mit dem stets
feierlichen Segen des Moses segnet.
Dann erheben sich alle und gehen
in ihre Häuser. Nur Lazarus folgt Jesus und geht mit ihm in das Haus Simons,
um noch mit ihm zu sein. Auch die anderen treten ein. Iskariot setzt sich
beschämt in eine halbdunkle Ecke. Er wagt nicht, sich Jesus zu nähern, wie die
anderen...
Lazarus beglückwünscht Jesus. Er
sagt: «Oh, es tut mir so leid, dich fortgehen zu sehen. Aber ich bin sehr
glücklich, daß du uns nicht schon vorgestern verlassen hast!»
«Warum, Lazarus?»
«Du kamst mir so traurig und müde
vor... Du hast nicht gesprochen, hast kaum gelächelt... Gestern und heute bist
du wieder mein heiliger, guter Meister geworden; das erfüllt mich mit Freude
...»
«Ich war es auch, als ich
schwieg...»
«Du warst es. Aber du bist die
Abgeklärtheit und das Wort. Das erwarten wir von dir. Wir trinken an diesen
Quellen unsere Kraft. Und da schienen diese Brunnen versiegt zu sein; und
unser Durst war quälend... Du hast gesehen, daß auch die Heiden überrascht
waren und gekommen sind, dich aufzusuchen ...»
Iskariot, dem sich Johannes des
Zebedäus genähert hatte, wagt nun zu sprechen: «Stimmt, sie hatten auch mich
gefragt... denn ich war in der Nähe der Burg Antonia, in der Hoffnung, dich
dort anzutreffen.»
«Du wußtest, wo ich war»,
entgegnet Jesus kurz.
«Ich habe es gewußt; aber ich
hoffte, daß du nicht jene enttäuschst, die auf dich warteten. Auch die Römer
waren enttäuscht. Ich weiß nicht, warum du so gehandelt hast.»
«Und du fragst mich das? Bist du
nicht auf dem laufenden über die Umtriebe des Synedriums, der Pharisäer und
noch anderer, die mich betreffen?»
«Wie? Hattest du Angst?»
«Nein, Ekel. Letztes Jahr, als
ich allein war, einer allein gegen die ganze Welt, die nicht einmal wußte, daß
ich Prophet bin, habe ich bewiesen, daß ich keine Angst habe. Und du bist ein
Erwerb meiner Furchtlosigkeit. Ich habe meine Stimme erhoben gegen eine ganze
Menge von Schreihälsen. Ich habe dem Volk die Stimme Gottes vernehmen lassen,
welche sie vergessen hatte. Ich habe das Haus des Herrn vom materiellen
Schmutz gereinigt, der darin herrschte; ich habe nicht gehofft, es von noch
viel schlimmerem moralischem Schmutz, der sich dort eingenistet hat, reinigen
zu
113
können, weil ich die Zukunft der
Menschen kenne. Ich habe nur meine Pflicht erfüllt, im Eifer für das Haus des
ewigen Herrn, das in einen lärmigen Markt mit Händlern, Wucherern und Dieben
verwandelt worden war; ich wollte alle aus ihrer Trägheit aufrütteln, welche
die Jahrhunderte priesterlicher Nachlässigkeit in einen geistigen Todesschlaf
versetzt hatten. Ich habe mein Volk zusammengeläutet, um es zu Gott zu führen.
Dieses Jahr bin ich zurückgekehrt; ich habe gesehen, daß der Tempel um nichts
besser geworden ist... ja, noch schlimmer! Nicht mehr eine Spelunke der Diebe,
sondern ein Ort der Verschwörung ist er. Er wird ein Ort des Verbrechens, dann
eine Fuchshöhle und schließlich zerstört werden von einer Kraft, die mächtiger
ist als die Samsons; und eine Kaste wird zermalmt, die unwürdig ist, sich
heilig zu nennen. Es wäre unnütz, an diesem Ort zu reden, an dem mir – du
erinnerst dich – verboten wurde, zu reden. Glaubensloses Volk! Volk, in seinen
Häuptern vergiftet, verbietet, daß das Wort Gottes in seinem Haus spricht! Es
ist mir verboten worden. Ich habe geschwiegen aus Liebe zu den Kleinen.
Die Stunde meiner Hinrichtung ist
noch nicht gekommen. Zu viele brauchen mich noch, und meine Apostel sind noch
nicht kräftig genug, um meine Nachkommenschaft in ihre Arme schließen zu
können: die weit.
Weine nicht, Mutter! Verzeih
deinem Sohn, du Gute, sein Bedürfnis, jedem, der sich täuscht oder täuschen
lassen will, die Wahrheit zu sagen, die ich kenne... Ich schweige; aber wehe
denen, für die Gott schweigt! ... Mutter, Margziam, weint nicht! ... Ich bitte
euch. Niemand soll weinen.»
Aber in Wirklichkeit weinen alle
mehr oder weniger schmerzlich.
Judas, totenbleich in seinem
gelb-rot gestreiften Gewand, wagt noch mit einer kläglichen und lächerlichen
Stimme zu sagen: «Glaube mir, Meister, ich bin erstaunt und betrübt... Ich
weiß nicht, was das heißen soll... Ich weiß von nichts... Es ist wahr, daß ich
niemand im Tempel gesehen habe. Ich habe die Verbindungen zu allen
abgebrochen... Aber wenn du es sagst, muß es wahr sein...»
«Judas! ... Auch Sadok hast du
nicht gesehen?»
Judas läßt den Kopf sinken und
murmelt: «Er ist ein Freund. Als solchen habe ich ihn gesehen. Nicht als einen
vom Tempel ...»
Jesus antwortet nicht. Er wendet
sich an Isaak und Johannes von Endor und gibt ihnen noch Anweisungen über ihre
Arbeit.
Unterdessen trösten die Frauen
Maria, die weint, und das Kind weint, weil es Maria weinen sieht.
Auch Lazarus und die Apostel sind
traurig. Doch Jesus geht zu ihnen. Er hat wieder sein sanftes Lächeln; während
er die Mutter umarmt und das Kind liebkost, sagt er: «Nun lebt wohl, ihr, die
ihr hierbleibt; denn beim Morgengrauen wollen wir aufbrechen. Leb wohl,
Lazarus! Leb wohl, Maximinus! Joseph, ich danke dir für alle Aufmerksamkeit,
die du
114
meiner Mutter und den Jüngern
erwiesen hast, während sie auf mich gewartet haben. Danke für alles. Und du,
Lazarus, segne Martha noch einmal in meinem Namen. Ich werde bald
wiederkommen. Beruhige dich, Mutter! Auch ihr, Maria und Salome, wenn ihr
mitkommen wollt.»
«Natürlich kommen wir!» sagen die
beiden Marien.
«Dann zur Ruhe! Der Friede sei
mit allen. Gott sei mit euch.» Er macht ein Zeichen des Segens und geht
hinaus, das Kind an der Hand führend und die Mutter umarmend.
Der Aufenthalt in Bethanien ist
zu Ende.
248. NACH BETHLEHEM MIT DEN
APOSTELN UND DEN JÜNGERN
Beim ersten Morgengrauen sind sie
von Bethanien aufgebrochen; Jesus geht mit seiner Mutter, Maria des Alphäus
und Maria Salome nach Bethlehem, gefolgt von den Aposteln, denen Jabe
vorauseilt und sich an allem, was er sieht, erfreut: an den aufgescheuchten
Schmetterlingen, den zwitschernden Vögeln, die auf dem Weg Körnchen picken, an
den Blumen, die mit diamantenen Tautropfen bedeckt sind, an einer
herankommenden Herde mit vielen blökenden Lämmern. Nachdem sie den rauschenden
Bach überquert haben, der im Süden von Bethanien fröhlich schäumend über die
Steine fließt, schlagen sie die Richtung nach Bethlehem ein. Sie befinden sich
nun zwischen zwei Hügelketten, die ganz von grünen Olivenhainen und Weinbergen
bedeckt sind, während kleine goldfarbene Äcker schon darauf warten, gemäht zu
werden. Das Tal ist kühl, und der Weg einigermaßen bequem.
Simon des Jonas geht rascher und
holt die Gruppe Jesu ein. Er fragt: «Geht es hier nach Bethlehem? Johannes
sagt, das letzte Mal habt ihr einen anderen Weg genommen.»
«Das ist wahr», antwortet Jesus.
«Damals kamen wir von Jerusalem. Dieser Weg ist kürzer. Am Grabmal der Rachel,
das die Frauen sehen wollen, werden wir uns trennen, wie wir es schon
besprochen haben. Wir werden uns dann in Bethsur wiedersehen, wo meine Mutter
etwas bleiben möchte.»
«Ja, das haben wir, wie gesagt,
vorgesehen. Aber es wäre schön, wenn wir alle nach Bethlehem gingen... ganz
besonders die Mutter... denn schließlich ist sie die Königin von Bethlehem und
von der Grotte, und sie weiß alles ganz genau... Wenn wir es von ihr hörten,
wäre es doch etwas ganz anderes.»
Jesus lächelt und blickt Simon
an, der seinen Wunsch so liebevoll ausspricht.
115
«Welche Grotte, Vater?» fragt
Margziam.
«Die Grotte, in der Jesus geboren
wurde.»
«Oh, schön, da gehe ich mit! ...»
«Es wäre wirklich schön», sagen
Maria des Alphäus und Salome.
«Sehr schön! ... Es wäre ein
Zurückkehren in die Zeit, als die Welt dich noch nicht kannte, das ist wahr...
aber dich auch noch nicht haßte. Da könnten wir die Liebe der Einfachen
wiederfinden, die nichts anderes kannten, als glauben und lieben in Demut und
Vertrauen... Da könnte ich die Last der Bitterkeit ablegen, die auf meinem
Herzen liegt, seit ich dich so gehaßt weiß, und sie niederlegen dort in deine
Krippe... Es muß dort noch etwas von der Süßigkeit deines Blickes, deines
Atems und deines noch unsicheren Lächelns zurückgeblieben sein. Das würde mein
Herz erfreuen... Es ist ja so verbittert...» sagt Maria leise voller Sehnsucht
und Trauer.
«So wollen wir hingehen, Mama. Du
wirst uns führen. Heute bist du die Lehrerin; ich bin das Kind, das lernt.»
«Oh, Sohn! Nein, du bist stets
der Lehrer...»
«Nein, Mama, Simon des Jonas hat
es gut gesagt. In Bethlehem bist du die Königin. Es ist dein erstes Schloß.
Maria aus dem Geschlechte Davids, führe dieses kleine Volk in dein Haus.»
Iskariot möchte reden, doch er
schweigt. Jesus, der seine Bewegung bemerkt und verstanden hat, sagt: «Wenn
jemand aus Müdigkeit oder aus einem anderen Grund nicht mitkommen will, kann
er selbstverständlich nach Bethsur gehen.» Niemand erwidert etwas darauf.
Sie folgen der Straße durch das
grüne Tal in Richtung Ost-West. Dann biegen sie leicht nach Norden ab, an
einem Hügel entlang, der vorsteht, und erreichen so die Straße, die von
Jerusalem nach Bethlehem führt, gerade in der Nähe des mit einer Kuppel
gekrönten Würfels des Grabmals der Rachel. Dort verweilen sie in ehrfürchtigem
Gebet.
«Hier haben Joseph und ich Rast
gemacht... Es ist alles noch so wie damals. Nur die Jahreszeit ist nicht
dieselbe. Damals war es ein kalter Tag im Kislew. Es hatte geregnet, und die
Straßen waren schlammig geworden. Ein eisiger Wind wehte, und in der Nacht war
Rauhreif entstanden. Die Straßen waren hart gewesen; jetzt aber sind sie
voller Furchen von Karren und Menschenscharen. Sie waren wie ein Meer voller
Schiffe; mein Eselchen hatte große Mühe...»
«Und du nicht, meine Mutter?»
«Oh, ich hatte dich! ...» und sie
blickt ihn mit solch glückstrahlenden Augen an, daß es alle rührt. Dann fährt
sie fort: «Der Abend kam, und Joseph war sehr in Sorge. Es kam ein immer
stärkerer, bissiger Wind auf... Die Leute hatten es eilig, nach Bethlehem zu
kommen; sie stießen und drängten einander, und viele schimpften auf mein
Eselchen, das so langsam lief und vorsichtig abtastete, wohin es seine Hufe
setzte... Es war,
116
als ob es gewußt hätte, daß du
dabei warst und einen letzten Schlummer in der Wiege meines Schoßes hieltest.
Es war sehr kalt. Doch mein Herz glühte. Ich spürte dich kommen. Kommen? Du
könntest sagen: "Ich war schon seit neun Monaten bei dir, Mama! Ja, aber nun
war es, als ob du vom Himmel kämest. Die Himmel neigten sich über mich; ich
sah ihren Lichterglanz... Ich sah die Gottheit leuchten in ihrer Freude über
deine bevorstehende Geburt; und Gluten drangen in mich ein, sie entflammten
mich, sie enthoben mich allem... Kälte, Wind, Mensch! Nichts! Ich sah Gott...
Ab und zu gelang es mir, meinen Geist auf die Erde zurückzurufen, und ich
lächelte Joseph zu, der meinetwegen Angst vor der Kälte und der Anstrengung
hatte; er führte das Eselchen und befürchtete ständig, es könnte stolpern. Er
hüllte mich in die Decke ein aus Angst, ich könnte mich erkälten... Doch mir
konnte nichts geschehen. Die Stöße spürte ich nicht. Ich hatte das Gefühl, auf
einem Sternenpfad zu wandeln, zwischen leuchtenden Wolken und von Engeln
getragen... Und ich lächelte... zuerst dir zu... Ich schaute dich an, durch
die Schranken des Fleisches, wie du mit geschlossenen Fäustchen in deinem
Bettchen von lebenden Rosen schlummertest, meine Lilienknospe! Dann lächelte
ich dem so betrübten Bräutigam zu, um ihn zu ermutigen... dann den Leuten, die
nichts ahnten von der Morgenröte ihres Erlösers.
Wir machten am Grabmal der Rachel
Rast, um das Eselchen ausruhen zu lassen und ein wenig Brot und Oliven, unsere
Nahrung der Armen zu essen. Aber ich hatte keinen Hunger. Ich konnte keinen
Hunger haben; ich wurde genährt von meiner Freude... Wir nahmen den Weg wieder
auf... Kommt, ich zeige euch, wo wir dem Hirten begegnet sind... Habt keine
Angst, daß ich mich irre. Ich erlebe diese Stunde und finde jeden Ort wieder;
denn ich sehe alles durch ein großes engelhaftes Licht. Vielleicht ist die
Schar der Engel wieder hier, dem Körper unsichtbar, aber den Seelen mit ihrem
leuchtenden Schein gut sichtbar, und alles enthüllt sich, und alles wird
gezeigt. Sie können nicht irren, und sie führen mich, zu meiner und zu eurer
Freude. Hier... Vom Feld dort zu diesem hier kam Elias mit seinen Schafen, und
Joseph bat ihn um Milch für mich. Da auf der Wiese machten wir Rast, während
er die warme Milch melkte, die mich erquickte, und Joseph seine Weisungen
erteilte.
Kommt, kommt! Hier, hier ist der
Pfad durch das letzte Tälchen vor Bethlehem. Wir haben diesen genommen, denn
die Hauptstraße in der Nähe der Stadt war zu sehr von Leuten und Reittieren
überfüllt... Dort ist Bethlehem! Oh, liebe, teure Erde meiner Väter, die du
mir den ersten Kuß meines Sohnes geschenkt hast. Du hast dich geöffnet,
duftend wie gutes Brot, von dem du den Namen trägst (Bethlehem bedeutet Haus
des Brotes), um der an Hunger sterbenden Menschheit das wahre Brot zu geben!
Du hast mich umschlungen, du, in der die mütterliche Liebe Rachels erhalten
geblieben ist, wie eine Mutter; heilige Erde des davidischen Bethlehem,
117
erster Tempel des Erlösers,
Morgenstern aus Jakob geboren, um die Öffnung der Himmel über der ganzen
Menschheit kundzutun! Betrachtet Bethlehem, wie schön es im Frühjahr ist! Aber
auch damals war es schön, obgleich die Felder öde und die Weingärten kahl
waren. Ein leichter Schleier von Rauhreif verwandelte die nackten Zweige, und
sie schienen mit Diamanten bestreut, als wären sie in einen unberührbaren,
paradiesischen Schleier gehüllt. Jedes Haus rauchte wegen des bevorstehenden
Nachtmahls aus seinem Kamin, und der Rauch, der in Schwaden bis zum Hügel dort
aufstieg, ließ die Stadt ebenfalls verschleiert erscheinen. Alles war keusch,
gesammelt, in Erwartung... Auf dich, auf dich, mein Sohn! Die Erde spürte dein
Kommen... Und auch die Bethlehemiten hätten dich gespürt, denn sie sind nicht
böse, auch wenn ihr es nicht glauben wollt. Sie konnten uns nicht
beherbergen... In den guten und ehrbaren Häusern Bethlehems drängten sich
jene, die wie immer arrogant, taub und hochmütig waren und es auch noch heute
sind; sie konnten dich nicht spüren... Wie viele Pharisäer, Sadduzäer,
Herodianer, Schriftgelehrte und Essener waren da! Oh, ihr starrsinniges Wesen
von heute kommt daher, daß sie schon damals so hartherzig waren. Sie haben an
jenem Abend ihr Herz der Liebe für ihre arme Schwester verschlossen; sie sind
so geblieben und werden auch in Zukunft in der Finsternis bleiben. Sie haben
Gott schon damals abgewiesen, da sie nichts von der Liebe zum Nächsten wissen
wollten.
Kommt, laßt uns zur Grotte gehen!
Es ist unnötig, in die Stadt zu treten. Die liebsten Freunde meines Kindes
sind nicht mehr. Es genügt die Freundin Natur mit ihren Felsen, ihrem Bach und
ihrem Gehölz, um Feuer machen zu können. Die Natur hat das Kommen ihres Herrn
gespürt. Kommt! Hier muß man abbiegen... Dies sind die Trümmer des
Davidsturmes. Oh, sie sind uns teurer als ein Königreich! Gesegnete Ruinen!
Gesegneter Bach! Gesegneter Baum, der du dich wie durch ein Wunder im Wind
vieler Zweige entledigtest und uns Holz botest, um Feuer zu machen!»
Maria geht behend zur Grotte
hinab, übersteigt den kleinen Bach auf einem Brett, das als Brücke dient, eilt
auf den Platz vor den Trümmern und fällt am Eingang der Grotte auf die Knie.
Sie neigt sich und küßt den Boden. Alle anderen folgen ihr. Sie sind
erschüttert... Das Kind, das sie nicht einen Augenblick aus den Augen läßt,
scheint einer wunderbaren Geschichte zu lauschen, und seine schwarzen Äuglein
trinken die Worte und Gesten Marias, ohne auch nur eine davon zu verlieren.
Maria erhebt sich und geht
hinein. «Alles, alles wie damals! ... Doch damals war es Nacht! Joseph machte
Licht, als ich eintrat. Da, und nur da, als ich vom Eselchen abstieg, spürte
ich, wie müde und durchfroren ich war... Ein Ochse begrüßte uns, und ich ging
zu ihm hin, um mich ein wenig zu wärmen... um mich aufs Heu zu legen... Hier,
wo ich stehe, breitete
118
Joseph das Heu aus, um mir ein
Lager herzurichten; er trocknete es für mich, wie auch für dich, Jesus, am
Feuer, das dort in der Ecke brannte; denn er war gut wie ein Vater in seiner
Liebe als Bräutigam-Engel... Wir hielten uns bei den Händen wie zwei verirrte
Geschwister im Dunkel der Nacht; und wir aßen unser Brot und unseren Käse;
dann ging er hin, das Feuer zu schüren. Er legte den Mantel ab, um ihn zum
Schutz vor die Öffnung zu hängen... In Wirklichkeit senkte er einen Schleier
vor die Herrlichkeit Gottes, die vom Himmel kam... du, mein Jesus!
Ich lag auf dem Heu in der Wärme
der beiden Tiere, eingehüllt in einen Mantel und die Wolldecke... Mein lieber
Bräutigam!
In der angstvollen Stunde, in der
ich allein war mit dem Geheimnis der ersten Mutterschaft, die immer voller
Ungewißheit für eine Frau ist und es auch für mich in meiner einzigen
Mutterschaft war, geheimnisvoll auch, den Sohn Gottes aus sterblichem Fleisch
erstehen zu sehen! Er, Joseph, war mir wie eine Mutter, war wie ein Engel; und
er war mir Trost... damals und immer!
Und dann das Schweigen und der
Schlummer, die niedersanken, um den Gerechten einzuhüllen, damit er nicht
sehen konnte, was für mich der tägliche Kuß Gottes war... Und für mich, nach
der Unterbrechung für die leiblichen Bedürfnisse, Wogen, unermeßliche Wogen
der Ekstase, die aus dem paradiesischen Meer kamen und mich aufs neue
emporhoben auf den leuchtenden und immer höheren Kämmen, die mich trugen,
hinauf, hinauf, hinauf, in einen Ozean voller Licht und Freude, voll des
Friedens und der Liebe, bis ich mich verlor im Meer Gottes, im Schoße
Gottes... Noch eine Stimme von der Erde: "Schläfst du, Maria?" Oh, so weit
entfernt! Ein Echo, eine Erinnerung an die Erde! Und so schwach, daß die Seele
nicht erschrickt und nicht weiß, was sie antworten soll, während ich
aufsteige, aufsteige in diesen Abgrund des Feuers, der unendlichen Seligkeit,
der Vorahnung Gottes... bis zu ihm, zu ihm! Oh, aber du bist es, der mir
geboren wurde, oder bin ich es, die von den drei Flammen dieser Nacht geboren
wurde? Bin ich es, die dich geschenkt hat, oder hast du mich aufgesogen, um
mich zu schenken? Ich weiß es nicht...
Dann der Abstieg, von Engelschor
zu Engelschor, von Stern zu Stern, von Sphäre zu Sphäre, süß, sacht, selig,
friedlich... wie eine Blume, die von einem Adler in die Höhe getragen und dann
freigegeben, langsam auf den Flügeln der Lüfte niederschwebt, noch schöner
geworden durch die Perlen des Taus und ein Stückchen Regenbogen am Himmel, das
sie mitgenommen hat, um sich auf der heimatlichen Scholle wiederzufinden...
Mein Diadem: du! Du an meinem Herzen...
Ich saß dort, nachdem ich dich
auf den Knien angebetet hatte, und liebte dich! Endlich konnte ich dich
liebhaben ohne die Schranken des Fleisches, und von dort habe ich dich zu dem
getragen, der wie ich würdig war, dich als einer der ersten zu liebkosen.
Dort, zwischen den beiden
119
rohen Säulen, habe ich dich dem
Vater aufgeopfert. Und dort hast du zum ersten Mal am Herzen Josephs geruht...
Dann habe ich dich in Windeln
gewickelt, und zusammen haben wir dich dorthin gebettet. Ich wiegte dich in
den Schlaf, während Joseph Heu am Feuer trocknete und es warmhielt, indem er
es an seine Brust legte... Dann haben wir dich angebetet, so, über dich
gebeugt, wie ich es jetzt tue, um deinen Atem zu trinken, um zu sehen, zu
welcher Selbstverleugnung die Liebe führen kann; um aus Freude zu weinen, wie
man nur im Himmel aus der unerschöpflichen Freude, Gott sehen zu dürfen,
weinen kann.»
Maria, die beim Erzählen hin- und
hergegangen ist, um die Stellen zu zeigen, von Liebe überwältigt, mit einem
Tränenschimmer in den blauen Augen und einem Lächeln der Freude auf den
Lippen, beugt sich nun über ihren Jesus, der sich auf einen großen Stein
gesetzt hatte, während sie ihre Erinnerungen erzählt, und küßt ihn weinend auf
die Haare, anbetend wie einst...
«Und dann die Hirten... sie hier
drinnen, um mit ihrer guten Seele und dem großen Seufzer der Erde, der mit
ihnen hereingekommen war, mit ihrem Geruch der Menschlichkeit, der Herden und
des Heus, dich anzubeten; und draußen und überall die Engel, um dich mit ihrer
Liebe, ihren Gesängen, die kein menschliches Geschöpf nachahmen kann, und der
Liebe des Himmels, den Lüften des Himmels, die mit ihnen hereinwehten und die
sie in ihrem Glanz mit sich trugen, zu preisen... Das war deine Geburt,
Gesegneter!»
Maria ist an der Seite des Sohnes
niedergekniet und weint vor Erregung, das Haupt auf seinen Knien... Niemand
wagt eine Weile zu reden. Mehr oder weniger bewegt blicken die Anwesenden
umher, als erwarteten sie, zwischen den Spinnweben und dem roten Gestein die
beschriebene Szene gemalt zu sehen...
Maria erholt sich und sagt: «Nun
habe ich die unendlich einfache und überaus großartige Geburt meines Sohnes
geschildert, mit meinem Frauenherzen, nicht mit der Weisheit des Lehrers. Mehr
gibt es nicht zu sagen, obwohl es das größte Weltereignis, verborgen unter den
gewöhnlichsten Umständen, war!»
«Aber am Tag danach? Und an den
darauffolgenden Tagen?» fragen mehrere, unter ihnen die beiden Marien.
«Am Tag danach? Oh, ganz einfach!
Da war ich die Mutter, die das Kind stillte, es wusch und wickelte, wie es
alle Mütter tun. Ich wärmte das Wasser vom Bach am Feuer, das draußen brannte,
damit der Rauch die blauen Äuglein nicht zum Weinen reizte, und dann wusch ich
mein Kind in einer geschützten Ecke in einer alten Schüssel und legte ihm
frische Wäsche an. Und ich ging zum Bach, um die Windeln zu waschen und hängte
sie zum Trocknen in der Sonne auf. Dann, die größte aller Freuden, legte
120
ich Jesus an die Brust, und er
trank und wurde rosig und glücklich... Am ersten Tag setzte ich mich auch in
der wärmsten Stunde draußen hin, um ihn besser betrachten zu können. Drinnen
war Zwielicht; Licht und Flamme gaben den Dingen ein verzerrtes Aussehen. Ich
ging hinaus in die Sonne und betrachtete das fleischgewordene Wort. Da
erkannte die Mutter den Sohn, und die Dienerin Gottes ihren Herrn. Und ich war
Mutter und Anbeterin... Dann das Haus Annas. Die Tage an deiner Wiege, deine
ersten Schritte, deine ersten Worte. Doch das geschah später, zu seiner Zeit.
Nichts kam der Stunde deiner Geburt gleich ... Erst bei meiner Rückkehr zu
Gott werde ich diese Fülle wiederfinden ...»
«Aber warum seid ihr so spät
abgereist? Welch eine Unvorsichtigkeit! Warum konntet ihr nicht warten? Das
Dekret sah doch einen verlängerten Termin für Ausnahmefälle, wie Geburten oder
Krankheiten, vor! Alphäus sagte es ...» erklärt Maria des Alphäus.
«Warten? O nein! Am gleichen
Abend, als Joseph die Nachricht brachte, hüpften wir, ich und du, Sohn, vor
Freude. Das war der Ruf... denn hier, nur hier, solltest du geboren werden,
wie es die Propheten vorhergesagt hatten. Das unvorhergesehene Dekret war wie
ein barmherziger Himmel, der in Joseph auch die Erinnerung an seinen Verdacht
auslöschte. Das war es, was ich erwartet hatte, deinetwegen und seinetwegen,
für die jüdische Welt und für die zukünftige Welt, bis zum Ende der Zeiten. Es
war vorhergesagt worden! Und so, wie es vorhergesagt war, so ist es geschehen!
Warten? Kann eine Braut lange auf ihren Hochzeitstraum warten? Warum denn
warten?»
«Aber was hätte alles passieren
können!» sagt wieder Maria des Alphäus.
«Ich hatte keine Angst. Ich ruhte
in Gott.»
«Aber hast du denn gewußt, daß
alles so kommen werde?»
«Niemand hat es mir gesagt, und
ich habe auch nicht darüber nachgedacht; um Joseph zu ermutigen, ließ ich ihn
und auch euch im Zweifel über die Zeit der Niederkunft. Aber ich wußte, dies
wußte ich, daß am Fest der Lichter das Licht der Welt geboren werde.»
«Warum hast du denn Maria nicht
begleitet, Mutter? Und der Vater, warum hat er nicht daran gedacht? Auch ihr
mußtet euch nach Bethlehem begeben! Sind denn nicht alle gegangen?» fragt
Judas Thaddäus seine Mutter streng.
«Dein Vater hatte beschlossen,
nach dem Lichterfest hierherzukommen, und sagte es seinem Bruder. Aber Joseph
wollte nicht warten.»
«Aber du wenigstens...» fängt
Judas Thaddäus wieder an.
«Rüge sie nicht, Judas! Wir
hatten es gemeinsam für richtig gehalten, einen Schleier über das Geheimnis
dieser Geburt zu breiten.»
«Aber wußte Joseph denn, daß es
nach diesen Anzeichen geschehen werde? Wenn du es nicht gewußt hast, wie
konnte er es wissen?»
121
«Wir wußten nur, daß er geboren
werde.» «Und dann?»
«Und dann hat uns die göttliche
Weisheit so geleitet, wie es richtig war. Die Geburt Jesu, sein Erscheinen auf
der Welt, sollte ohne Aufsehen erfolgen; denn ein allgemeines Aufsehen hätte
Satan nur gereizt... Ihr seht, daß die augenblickliche Ablehnung des Messias
in Bethlehem eine Folge der ersten Erscheinung Christi ist. Die Wut Satans
benützte die Offenbarung, um Blut zu vergießen und durch das Blutvergießen Haß
zu erzeugen! Bist du zufrieden, Simon des Jonas, weil du so still bist und
kaum atmest ?»
«Sehr... So sehr, daß es mir
vorkommt, außerhalb der Welt zu sein, an einem noch heiligeren Ort als hinter
dem Tempelvorhang... So sehr, daß ich nun, da ich dich an diesem heiligen Ort
im Lichte von damals gesehen habe, befürchte, dir nicht genügenden Respekt
bezeugt zu haben; wie einer großen Frau, aber eben doch wie einer Frau... Nun
werde ich nicht mehr wagen wie bisher Maria zu dir zu sagen. Vorerst bist du
für mich die Mutter meines Meisters. Jetzt habe ich dich auf dem Kamm der
himmlischen Wellen als Königin gesehen; ich Armseliger werde dies tun als
Sklave, der ich bin.» Er wirft sich zu Boden und küßt Maria die Füße.
Nun sagt Jesus: «Simon, steh auf!
Komm her zu mir!»
Petrus geht auf die linke Seite
Jesu, denn Maria steht rechts.
«Was sind wir nun?» fragt Jesus.
«Wir? Nun, wir sind Jesus, Maria
und Simon.» «Gut, aber wie viele sind wir?» «Drei, Meister.»
«Eine Dreiheit also. Eines Tages
entstand in der göttlichen Dreifaltigkeit im Himmel ein Gedanke: "Jetzt ist
die Zeit gekommen, daß das Wort auf die Erde gehe." Und in einem Herzschlag
der Liebe kam das Wort zur Erde. Es trennte sich also vom Vater und vom
Heiligen Geist. Es kam, um auf der Erde zu wirken. Im Himmel betrachteten die
beiden Zurückgebliebenen die Werke des Wortes, und sie bleiben mehr denn je
vereinigt, um in das auf der Erde wirkende Wort Gedanken und Liebe zu
ergießen. Es wird der Tag kommen, an dem vom Himmel der Befehl ergehen wird:
"Es ist Zeit, daß du zurückkehrst, denn alles ist erfüllt"; dann wird das Wort
zum Himmel zurückkehren, so... (Jesus zieht sich einen Schritt zurück, während
Maria und Simon stehen bleiben), und aus den Höhen des Himmels wird es dann
die Werke der beiden auf der Erde Zurückgebliebenen betrachten, die aus
heiligen Beweggründen sich enger zusammenschließen, um Macht und Liebe
auszugießen und sie zum Mittel zu machen, mit dem der Wunsch des Wortes
erfüllt wird: "Die Erlösung der Welt durch andauernde Unterweisung seiner
Kirche." Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist werden aus ihren Strahlen
ein Band machen, um die beiden auf der Erde Zurückgebliebenen immer fester
aneinander zu ketten:
122
meine Mutter, die Liebe, und dich
Petrus, die Macht! Daher mußt du Maria wohl als Königin behandeln, ja, aber
nicht wie ein Sklave. Meinst du nicht auch?»
«Ich will alles, was du willst.
Ich bin vernichtet! Ich die Macht? Oh, wenn ich die Macht sein soll, dann muß
ich mich auf sie stützen! Oh, Mutter meines Herrn, verlasse mich nicht! Nie!
Nie! Nie!»
«Hab keine Angst. Ich werde dich
immer an der Hand halten, so wie ich es mit meinem Kind tat, solange es nicht
allein gehen konnte.»
«Und nachher?»
«Dann werde ich dir mit meinem
Gebet beistehen. Auf, Simon, zweifle nie an der Macht Gottes! Ich habe nie
daran gezweifelt; Joseph ebenfalls nicht. Auch du darfst nicht zweifeln. Gott
hilft uns Stunde für Stunde, wenn wir demütig und treu bleiben... Nun kommt
hinaus zum Bach, in den Schatten des guten Baumes, der uns, wenn der Sommer
fortgeschritten wäre, außer dem Schatten auch seine Äpfel spenden würde.
Kommt, wir wollen etwas essen, bevor wir weitergehen... Wohin, mein Sohn?»
«Nach Jala. Es ist nicht weit
dorthin. Morgen werden wir nach Bethsur gehen.»
Sie setzen sich in den Schatten
des Apfelbaumes, und Maria lehnt sich an den kräftigen Stamm.
Bartholomäus blickt sie unentwegt
an, die junge und noch ganz in der Erinnerung verzückte Mutter, wie sie nun
vom Sohn die gesegneten Speisen empfängt und ihm mit liebevollen Blicken
zulächelt und er flüstert: «"In seinem Schatten habe ich mich ausgeruht, und
seine Speise ist meinem Gaumen süß."»
Judas Thaddäus antwortet ihm:
«Wahrlich, sie sehnt sich nach Liebe; aber man kann gewiß nicht sagen, daß sie
unter einem Apfelbaum geweckt wurde.»
«Warum nicht, Bruder? Was wissen
wir von den Geheimnissen des Königs?» entgegnet Jakobus des Alphäus.
Jesus sagt lächelnd: «Die neue
Eva ist vom Gedanken zu Füßen des paradiesischen Apfelbaums empfangen worden,
damit vor ihrem Lachen und ihrem Weinen die Schlange fliehe und die vergiftete
Frucht entgiftet werde. Sie ist zum Baum der Frucht der Erlösung geworden.
Kommt, Freunde, und eßt davon; denn sich nähren mit ihrer Süßigkeit heißt,
sich mit dem Honig Gottes nähren.»
«Meister, erfülle mir einen alten
Wunsch und antworte mir auf die Frage: Bezieht sich das Hohelied, das wir
zitiert haben, auf sie?» fragt Bartholomäus leise, während Maria sich des
Kindes annimmt und mit den Frauen spricht.
«Vom Anfang des Buches an ist von
ihr die Rede, und von ihr werden die zukünftigen Bücher reden, bis das Wort
des Menschen sich in das ewige
123
Hosanna der ewigen Stadt Gottes
verwandelt», und Jesus wendet sich den Frauen zu.
«Wie spürt man doch, daß es von
David abstammt! Welche Weisheit, welche Poesie!» sagt der Zelote zu den
Gefährten.
«Nun», mischt sich Iskariot ein,
der noch unter dem Eindruck des Vortages steht und wenig spricht, obgleich er
schon versucht, sich die üblichen Freiheiten herauszunehmen. «Nun, ich möchte
wissen, warum die Menschwerdung erfolgen mußte. Nur Gott kann so reden, daß
Satan machtlos wird. Nur Gott hat die Macht, die Erlösung zu bringen. Daran
zweifle ich nicht. Ich meine nur, es wäre nicht nötig gewesen, daß das Wort
sich so sehr erniedrige und selbst Mensch werde, sich allen Beschwerden der
Kindheit und des Menschseins aussetze usw. Hätte es nicht in der Gestalt eines
erwachsenen Menschen erscheinen können? Oh, wenn es absolut eine Mutter haben
wollte, hätte es sich eine Adoptivmutter aussuchen können, wie es für den
Nährvater geschehen ist. Ich glaube, diese Frage schon einmal gestellt zu
haben, aber Jesus hat mir nicht ausführlich geantwortet, oder ich muß die
Antwort vergessen haben.»
«Frag ihn doch! Wir sind noch
beim Thema...» sagt Thomas.
«Ich tue es nicht. Ich habe ihn
gekränkt und fühle, daß mir noch nicht vergeben worden ist. Fragt ihr ihn an
meiner Stelle.»
«Aber entschuldige! Wir nehmen
alles an ohne viele Erklärungen; jetzt sollen wir für dich fragen? Das ist
nicht recht!» entgegnet Jakobus des Zebedäus.
«Was ist nicht recht?» fragt
Jesus.
Erst herrscht betretenes
Schweigen, dann macht sich der Zelote zum Sprecher für alle und wiederholt die
Fragen des Judas von Kerioth und die Antworten der anderen.
«Ich kenne keinen Groll; das fürs
erste. Ich mache die notwendigen Bemerkungen, leide und verzeihe. Dies für
den, der infolge seiner Verwirrung Angst hat. Über meine Menschwerdung sage
ich: "Es ist gut, daß es so gewesen ist." In Zukunft werden viele in bezug auf
meine Menschwerdung dem Irrtum verfallen, mir Formen zuzuschreiben, die Judas
irrtümlicherweise in mir sehen möchte. Man wird zum Beispiel sagen, daß ich
scheinbar einen materiellen Körper hatte, in Wirklichkeit aber ungreifbar wie
eine Lichterscheinung. Man wird behaupten, daß ich nicht wirklich Fleisch
geworden bin, und daß die Mutterschaft Marias keine wirkliche gewesen ist. In
Wahrheit aber bin ich Fleisch und in Wahrheit ist Maria die Mutter des
fleischgewordenen Wortes. Wenn die Stunde der Geburt nur eine Ekstase war,
dann deshalb, weil sie die neue Eva ohne die Last der Sünde und ohne die
Erbschaft der Strafe ist. Aber es war für mich nicht erniedrigend in ihr zu
ruhen. War denn vielleicht das im Tabernakel eingeschlossene Manna entehrt?
Nein, es war vielmehr geehrt in dieser Behausung. Andere werden sagen, daß
ich, weil ich nicht wirklich Fleisch
124
war, nicht gelitten habe und
nicht gestorben bin während meines Aufenthalts auf Erden. Ja, da man nicht
leugnen kann, daß ich auf Erden war, wird man meine wirkliche Menschwerdung
oder meine wahre Gottheit verneinen. Doch ich bin in Wirklichkeit auf ewig
eins mit dem Vater, und ich bin im Fleisch mit Gott vereinigt, denn die Liebe
hat wahrhaftig in ihrer Vollkommenheit das Unerreichbare erreicht und sich mit
Fleisch bekleidet, um das Fleisch zu erlösen. Eine Antwort auf alle die
Irrlehren ist mein ganzes Leben, das von der Geburt bis zum Tod Blut vergossen
und sich allem unterworfen hat, was menschlich ist, außer der Sünde. Geboren,
ja, von ihr! Und zu eurem Wohl. Ihr wißt nicht, wie sehr die Gerechtigkeit
besänftigt worden ist, seit sie, die Frau, Mitwirkende ist. Habe ich dich
zufriedengestellt, Judas?»
«Ja, Meister.»
«Nun tue du dasselbe mit mir.»
Iskariot neigt das Haupt,
verwirrt und vielleicht auch wirklich etwas betroffen von so viel Güte.
Der Aufenthalt verlängert sich im
kühlen Schatten des Apfelbaums. Die einen schlafen, die anderen träumen. Maria
aber steht auf und geht in die Grotte zurück; Jesus folgt ihr...
249. AUF DEM WEG ZU ELISA IN
BETHSUR
«Wir werden sie sicher finden,
wenn wir einige Zeit dem Weg nach Hebron folgen. Ich bitte euch darum. Geht zu
zweit auf die Suche nach ihnen auf den Gebirgspfaden. Von hier zu den Teichen
Salomons, von dort nach Bethsur. Wir werden nachkommen. Hier ist ihr
Weidegebiet», sagt der Herr zu den Zwölfen, und ich verstehe, daß er von den
Hirten spricht.
Die Apostel schicken sich an,
jeder mit seinem Lieblingsgefährten zu gehen, und nur das fast unzertrennliche
Paar Johannes und Andreas bleibt nicht bestehen, denn beide gehen zu Iskariot
und sagen: «Ich schließe mich dir an!» Judas antwortet: «Ja, komm Andreas! Es
ist besser so, Johannes. Wir beide kennen die Hirten; es ist daher besser,
wenn du mit einem anderen gehst.»
«Dann kommt der Junge mit mir»,
sagt Petrus und verläßt Jakobus des Zebedäus, der ohne Widerrede mit Thomas
geht, während der Zelote mit Judas Thaddäus, Jakobus des Alphäus mit Matthäus
und die beiden Unzertrennlichen, Philippus und Bartholomäus, zusammen gehen.
Das Kind bleibt bei Jesus und den Marien.
Die Straße ist kühl und schön
inmitten der grünen Berge, die mit Sträuchern und Wiesen bewachsen sind. Man
begegnet Herden, die sich im bleichen Morgenlicht zu ihren Weiden begeben.
125
Bei jedem Glöckchengeklingel hört
Jesus auf zu reden und schaut sich um; er fragt die Hirten, ob Elias, der
Hirte von Bethlehem, sich in der Gegend befinde. Ich verstehe, daß Elias
nunmehr der "Bethlehemit" genannt wird. Obgleich es andere Hirten von dort
gibt, ist er von Rechts wegen oder zum Scherz der "Bethlehemit". Doch keiner
weiß, wo er sich aufhält. Sie antworten, indem sie die Herden stehen lassen
und aufhören, auf ihren einfachen Flöten zu spielen. Die Jungen haben fast
alle primitive Rohrflöten, was Margziam in Entzücken versetzt, bis ein guter,
alter Hirte ihm die Flöte seines Enkels schenkt und sagt: «Er kann sich eine
andere machen.» Margziam geht glücklich mit seinem am Hals hängenden
Instrument weiter, auch wenn er es vorerst noch nicht zu benützen versteht.
«Ich würde mich sehr freuen, ihm
zu begegnen!» ruft Maria aus.
«Wir werden ihn bestimmt finden.
Zu dieser Jahreszeit sind sie immer in der Gegend von Hebron.»
Der Junge hat Interesse an den
Hirten, die Jesus als Kind gesehen haben; er stellt Maria tausend Fragen, die
sie liebevoll und geduldig beantwortet.
«Aber warum hat man sie bestraft?
Sie taten doch nur Gutes!» sagt er, nachdem ihm von ihrem Schicksal berichtet
worden ist.
«Weil der Mensch oft Fehler macht
und Unschuldige des Übels bezichtigt, das ein anderer angerichtet hat. Da die
Hirten aber gut waren und zu verzeihen wußten, liebt sie Jesus so sehr. Man
muß immer verzeihen!»
«Aber alle diese Kinder, die
umgebracht worden sind, wie haben sie dem Herodes verzeihen können?»
«Sie sind kleine Märtyrer,
Margziam, und die Märtyrer sind Heilige. Sie verzeihen nicht nur ihrem Mörder,
sondern lieben ihn, weil er ihnen den Himmel öffnet.»
«Aber sind sie denn im Himmel?»
«Nein, noch nicht. Aber sie sind
in der Vorhölle, zur Freude der Patriarchen und der Gerechten!»
«Warum?»
«Weil sie gesagt haben, als sie
dort angekommen sind mit ihrer von Blut purpurroten Seele: "Wir sind die
Herolde des Erlösers Christus. Freut euch, die ihr wartet, denn er ist schon
auf der Erde." Und alle liebten die Künder dieser guten Botschaft.»
«Die gute Botschaft, hat mein
Vater gesagt, ist auch das Wort Jesus. Wenn also mein Vater in die Vorhölle
kommt, nachdem er das Wort auf Erden verkündet hat, und wenn auch ich dorthin
gelange, werden wir dann ebenfalls geliebt?»
«Du wirst nicht in die Vorhölle
kommen, Kleiner.»
«Warum?»
«Weil Jesus dann schon in den
Himmel zurückgekehrt ist und diesen
126
geöffnet hat, so daß alle Guten
sofort nach dem Tod in den Himmel eingehen.»
«Ich will gut sein, ich
verspreche es dir. Und Simon des Jonas auch, nicht wahr? Ich will nicht zum
zweiten Mal Waisenkind werden.»
«Auch er will es nicht, sei
dessen versichert. Aber im Himmel gibt es keine Waisen. Wir haben Gott, und
Gott ist alles. Auch hier sind wir nicht allein, denn der Vater ist immer bei
uns.»
«Aber Jesus sagt in dem schönen
Gebet, das du mich am Tag, und meine Mama mich in der Nacht lehrt: "Vater
unser, der du bist im Himmel." Wir sind aber noch nicht im Himmel. Wie können
wir dann bei ihm sein?»
«Wir sind bei ihm, weil Gott
allgegenwärtig ist, mein Sohn. Er wacht über das Kind, das auf die Welt kommt,
und über den Greis, der stirbt. Das Kind, das in diesem Augenblick am
äußersten Ende der Welt geboren wird, hat das Auge Gottes und seine Liebe über
sich und wird sie bis ans Lebensende haben.»
«Auch wenn es böse ist, wie
Doras?»
«Auch dann.»
«Aber kann denn Gott, der gut
ist, Doras lieben, der böse ist und den alten Vater zum Weinen bringt?»
«Er schaut auf ihn mit Abscheu
und Schmerz. Aber wenn er sich bekehrt und bereut, dann würde er zu ihm
sprechen wie der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Du solltest beten,
daß er sich bekehrt und ...»
«O nein, Mutter! Ich werde beten,
daß er stirbt!» sagt das Kind, entrüstet. Wenn diese Antwort kaum engelgleich
ist, so ist doch die Inbrunst derart ehrlich, daß die anderen nur herzlich
lachen können.
Doch dann nimmt Maria wieder
ihren sanften Ernst als Lehrerin an: «Nein, mein Lieber, so darf man einen
Sünder nicht behandeln. Wir müssen dem Nächsten, auch wenn er sehr böse ist,
das Beste wünschen. Das Leben ist ein Gut; denn es gibt dem Menschen die
Möglichkeit, Verdienste in den Augen Gottes zu erwerben.»
«Aber wenn einer böse ist, dann
begeht er Sünden.»
«Man muß beten, daß er sich
bessert!»
Das Kind denkt nach. Doch die
Unterweisung befriedigt Margziam nicht, und er schließt: «Doras wird sich nie
bessern, auch wenn ich bete. Er ist zu böse! Nicht einmal, wenn alle
Märtyrer-Kinder mit mir beteten, würde er sich bekehren. Weißt du nicht...
weißt du nicht... daß er den alten Vater einmal mit einer Eisenrute geschlagen
hat, weil er ihn während der Arbeitszeit sitzend angetroffen hatte? Er konnte
nicht mehr stehen, denn er fühlte sich krank, und Doras hat ihn geprügelt, bis
er wie tot am Boden lag, und dann hat er ihm einen Fußtritt ins Gesicht
gegeben... Ich hatte es gesehen, denn ich war hinter einer Hecke verborgen...
Ich war bis dorthin gegangen, denn niemand hatte mir seit zwei Tagen Brot
gegeben,
127
und ich hatte Hunger... Ich mußte
fortlaufen, um nicht entdeckt zu werden, denn ich habe laut geweint, als ich
den alten Vater so liegen sah, mit Blut im Bart, wie tot... Ich bin weinend
fortgelaufen und habe um Brot gebettelt... aber dieses Brot habe ich immer
noch hier... denn es riecht nach dem Blut meines Vaters und nach seinen Tränen
und meinen und dem Blut von allen Gemarterten. Ich kann jene nicht lieben, die
quälen. Ich würde Doras gern prügeln, damit er spürt, wie Schläge wehtun; ohne
Brot würde ich ihn lassen, damit er begreift, was Hunger ist, und in der
heißen Sonne würde ich ihn arbeiten lassen, im Schlamm, unter der Drohung des
Aufsehers und ohne Nahrung, damit er erkennt, was er den Armen antut... Ich
kann ihm nicht gut sein, denn er bringt meinen heiligen Vater um, und ich...
wenn ich euch nicht gefunden hätte... wem würde ich gehören?» Das Kind klagt
und weint, es zittert, ist verstört und ballt die kleinen Hände zur Faust,
schlägt in die Luft, da es den Schinder nicht schlagen kann.
Die Frauen sind erstaunt und
gerührt und versuchen Jabe zu beruhigen. Er aber macht eine wahrhaft
schmerzvolle Krise durch und hört auf nichts. Er schreit: «Ich kann nicht! Ich
kann ihn nicht lieben und ihm nicht verzeihen. Ich hasse ihn, für alle hasse
ich ihn, ich hasse ihn, ich hasse ihn!»
Es ist mitleiderregend und
beängstigend. Es ist die Erregung eines Geschöpfes, das zuviel gelitten hat.
Und Jesus sagt: «Das ist das größte Verbrechen des Doras: daß er ein
unschuldiges Kind zum Hassen gebracht hat ...»
So schließt er das Kind in seine
Arme und sagt: «Höre, Margziam. Willst du eines Tages mit der Mama, dem Vater,
den Geschwistern und dem alten Vater zusammen sein?»
«Jaaa!»
«Dann darfst du niemand hassen.
Wer haßt, kann nicht in den Himmel eintreten. Kannst du jetzt für Doras nicht
beten? Dann bete eben nicht; aber hasse auch nicht! Weißt du, was du kannst?
Schau einfach nicht mehr zurück, denke nicht mehr an das Vergangene ...»
«Aber der Vater, der leidet, ist
nicht Vergangenheit.»
«Das ist wahr. Aber schau,
Margziam, versuch einmal, so zu beten: "Vater unser, der du bist im Himmel,
denk du an das, was ich so sehr wünsche..." Du wirst sehen, daß der Vater dich
auf die beste Weise erhören wird. Wenn du Doras umbringen würdest, was würdest
du damit erreichen? Du würdest die Liebe Gottes, den Himmel und die
Wiedervereinigung mit Vater und Mutter verlieren, du würdest und könntest dem
Greis, den du liebst, die Leiden nicht nehmen. Du bist zu klein, um dies zu
tun. Aber Gott kann es! Sag es ihm. Sag: "Du weißt, wie ich den armen Vater
liebe, wie ich alle liebe, die unglücklich sind. Sorge du für sie, der du
alles vermagst." Wie? Willst du nicht die gute Botschaft verkünden? Aber sie
128
spricht von Liebe und Verzeihen!
Wie kannst du einem anderen sagen: "Hasse nicht! Verzeih!" wenn du selbst
nicht lieben und verzeihen kannst? Laß den lieben Gott machen, und du wirst
sehen, wie gut er vorsorgt. Willst du es tun?»
«Ja, denn ich habe dich lieb.»
Jesus küßt das Kind und stellt es
auf die Erde.
Die Episode ist zu Ende, und auch
die Straße. Die drei großen in den Bergfelsen gehauenen Becken, wahrhaftig ein
wundervolles Werk, leuchten an der klaren Oberfläche. Vom ersten Becken fällt
das Wasser in das zweite, größere und von diesem in das dritte, das einem
kleinen See gleicht, von dem aus Wasserleitungen bis zu fernen Städten führen.
Aufgrund der Feuchtigkeit in dieser Gegend ist der ganze Berg, von der Quelle
bis zum Stausee und von dort bis zu den Feldern, von einer beeindruckenden
Fruchtbarkeit, und verschiedene Blumen zieren zusammen mit seltenen, duftenden
Kräutern die grünen Ufer. Es scheint, daß hier vom Menschen Gartenblumen und
Würzkräuter gesät werden, die dank der warmen Sonne die Luft mit ihrem Duft
von Zimt, Kampfer, Nelken, Lavendel und anderen würzigen, starken und
wohltuenden Gerüchen erfüllt: eine herrliche Mischung feinster Wohlgerüche der
Erde! Ich würde sagen, es ist eine Symphonie der Wohlgerüche, ein Hymnus von
Kräutern und Blumen in Farben und Düften.
Alle Apostel sitzen im Schatten
eines Baumes mit großen, weißen Blüten, dessen Name mir unbekannt ist. Die
Blüten gleichen großen Glocken aus weißem Email und schwingen beim leisesten
Windhauch hin und her; sie strömen zugleich einen süßen Duft aus. Die Blüte
erinnert mich an den Strauch, der in Kalabrien wächst und der "Bottaro" heißt;
aber dies hier ist ein Baum mit einem starken Stamm und kein Strauch.
Jesus ruft die Apostel, und sie
eilen herbei.
«Joseph haben wir fast sofort
gefunden, da er von einem Markt zurückkehrte. Heute abend werden sie alle in
Bethsur sein. Wir haben uns wiedervereinigt, indem wir uns laut zugerufen
haben, und warteten hier im Schatten», erklärt Petrus.
«Welch ein schöner Ort! Ein
wahrer Garten! Wir haben uns darüber unterhalten, ob er auf natürliche Weise
entstanden ist oder nicht; die einen vertreten hartnäckig die eine Ansicht,
und die anderen die andere», sagt Thomas.
«Die Erde Judäas hat diese
Herrlichkeiten», sagt Iskariot, von allem unvermeidlich zum Stolz veranlaßt,
sogar von Blumen und Kräutern.
«Ja, aber... Ich glaube, wenn man
zum Beispiel den Garten Johannas in Tiberias sich selbst überlassen und
verwildern ließe, besäße auch Galiläa die Pracht herrlicher Rosen zwischen
Ruinen», entgegnet Jakobus des Zebedäus.
«Da hast du recht. In dieser
Gegend waren die Gärten Salomons, die
129
weltberühmt wurden wie seine
Paläste. Vielleicht hat er hier das Hohelied ersonnen und auf die Heilige
Stadt alle die hier nach seinem Willen entstandenen Schönheiten übertragen»,
sagt Jesus.
«Dann hatte ich also recht!» sagt
Thaddäus.
«Du hattest recht! Weißt du
Meister, er zitierte aus dem Ekklesiastikus und vereinigte die Idee der Gärten
mit jener der Wasserbecken und schloß: "Aber er erkannte, daß alles
vergänglich ist und nichts unter der Sonne Bestand hat, außer dem Worte meines
Jesus"», sagt der andere Vetter, Jakobus.
«Ich danke dir. Aber laßt uns
auch Salomon danken, ob die Blumen nun von ihm stammen oder nicht. Sicher ist,
daß es seine Wasserbecken sind, die Gras und Menschen versorgen. Er sei dafür
gepriesen! Gehen wir zum großen Rosenstock, dessen Ranken sich von Baum zu
Baum schlingen und eine blühende Überdachung bilden. Dort wollen wir Rast
halten. Wir sind bereits auf halbem Weg.»
... Zur neunten Stunde wird die
Wanderung fortgesetzt, da nun die Schatten der Bäume in dieser gut bebauten
Gegend schon länger werden. Man hat das Gefühl, durch einen weitangelegten
botanischen Garten zu wandeln, denn jede Pflanze, ob es sich nun um Bäume für
Brennholz, um Obstbäume oder Zierpflanzen handelt, ist hier vertreten. Nicht
selten treffen sie Landarbeiter an, die aber kein Interesse für
vorüberziehende Gruppen zeigen. Es ist ja auch nicht die einzige. Andere
Gruppen von Hebräern befinden sich auf dem Rückweg vom Osterfest.
Die Straße ist einigermaßen gut,
obwohl sie sich zwischen den Bergen hindurchschlängelt; die immer wechselnde
Landschaft belebt die Einförmigkeit der Wanderung. Bäche und Wildbäche
zeichnen Kommas aus flüssigem Silber und schreiben Wörter, die in den
tausenden von Windungen singen, während sie unter Gebüsche gleiten oder in
Höhlen verschwinden, um an anderer Stelle noch schöner hervorzustürzen. Es
scheint, als spielten sie wie fröhliche Kinder mit Pflanzen und Steinen. Auch
Margziam, der vollkommen beruhigt ist, spielt und übt sich auf seinem
Instrument, die Vögel nachzuahmen. Doch seine Musik ist kein Singen, sondern
ein verstimmtes Gejammer, das einigen in der Gruppe ziemlich auf die Nerven
geht, wie Bartholomäus aufgrund seines Alters und Judas Iskariot aus vielerlei
Gründen. Doch niemand sagt es offen, und das Kind pfeift, dahin und dorthin
hüpfend. Nur zweimal deutet es auf ein Dörflein, das mitten im Wald gelegen
ist, und fragt: «Ist dies mein Dorf?» und wird dabei ganz blaß. Doch Simon,
der immer in seiner Nähe bleibt, antwortet: «Deines ist weit entfernt von
hier. Komm, laß uns diese schöne Blume pflücken, um sie Martha zu bringen»,
und lenkt ihn damit ab.
Die Dämmerung bricht herein, als
Bethsur auf seinem Hügel sichtbar wird. Fast gleichzeitig erscheinen auf einem
Nebenweg Herden, die Hirten
130
eilen herbei. Als Elias sieht,
daß auch Maria da ist, erhebt er erstaunt die Arme zum Himmel, steht
fassungslos da und wagt es nicht zu glauben.
«Der Friede sei mit dir, Elias!
Ich bin es wirklich. Es ist dir versprochen worden, und es war nicht möglich
uns in Jerusalem zu treffen... Doch denk nicht daran. Jetzt sehen wir uns»,
sagt Maria mit sanfter Stimme.
«Oh, Mutter! Mutter! ...» Elias
ist unfähig, andere Worte zu finden. Dann faßt er sich endlich: «Jetzt feiere
ich mein Osterfest! Ja, das Fest, besser noch...»
«Ja, Elias! Wir haben gut
verkaufen können. Wir können ein Lamm schlachten. Oh, seid die Gäste unseres
armen Mahles», bitten Levi und Joseph.
«Heute abend sind wir müde.
Morgen. Hört, kennt ihr eine gewisse Elisa, die Frau Abrahams des Samuel?»
«Ja. Sie ist in ihrem Haus in
Bethsur. Doch Abraham ist tot, und im letzten Jahr sind auch ihre beiden Söhne
nach kurzer Krankheit gestorben. Woran der erste gestorben ist, hat man nie
herausgefunden. Der andere ist langsam dahingesiecht, und nichts hat das Übel
aufhalten können. Wir haben ihm Milch einer zum erstenmal Mutter gewordenen
Ziege gegeben; denn die Ärzte hatten dies für den Kranken empfohlen. Er hat
viel davon getrunken, und alle Hirten haben ihn damit versorgt, denn die arme
Mutter hatte überall nach einer Ziege herumgefragt, die zum erstenmal Milch
gab. Aber es war alles nutzlos. Als wir wieder hierherkamen, konnte der Junge
nichts mehr zu sich nehmen. Und als wir im Adar zurückkehrten, war er schon
zwei Monate tot.»
«Meine arme Freundin! Sie war so
gut zu mir im Tempel... Sie war eine entfernte Verwandte... Sie war gut... Sie
verließ den Tempel, um Abraham zu heiraten, dem sie von Kindheit an
versprochen war, zwei Jahre vor mir, und ich erinnere mich an sie, als sie
kam, um ihren Erstgeborenen dem Herrn aufzuopfern. Sie hat mich rufen lassen;
nicht nur mich allein, aber dann wollte sie lange Zeit mit mir allein sein...
Und nun ist sie allein. Oh, ich muß mich beeilen, um sie zu trösten! Ihr
bleibt zurück. Ich werde mit Elias gehen und allein eintreten. Der Schmerz
verlangt Achtung in seiner Umgebung...»
«Auch ich nicht, Mutter?»
«Du immer. Aber die anderen...
Nicht einmal du, Kleiner. Es würde ihr Schmerz bereiten. Komm, komm, Jesus!»
«Erwartet uns auf dem Dorfplatz.
Sucht eine Unterkunft für die Nacht. Lebt wohl», befiehlt Jesus.
Nur von Elias begleitet, gehen
Jesus und die Mutter bis zu einem großen Haus, das verschlossen und schweigend
dasteht. Dort klopft der Hirte mit seinem Stock an die Tür. Ein Dienerin zeigt
ihr Gesicht am kleinen Fenster und fragt, wer da sei. Maria geht nach vorne
und sagt: «Maria des Joachim und ihr Sohn aus Nazareth. Sag es deiner Herrin.»
131
«Es ist unnütz. Sie will niemand
sehen. Sie wird in der Trauer sterben.»«Versuche es!»
«Nein. Ich weiß, daß sie mich
fortjagt, wenn ich versuche, sie abzulenken und zu zerstreuen. Sie will
niemand sehen und mit niemand sprechen. Sie spricht nur mit der Erinnerung
ihrer Söhne...»
«Geh, Frau! Ich befehle es dir!
Sage ihr: "Die kleine Maria von Nazareth ist gekommen, die dir im Tempel
Tochter war..." Du wirst sehen, sie wird mich empfangen.»
Die Frau geht kopfschüttelnd
fort. Maria erklärt dem Sohn und den Hirten: «Elisa war viel älter als ich.
Sie wartete im Tempel auf die Rückkehr des Bräutigams, der in
Erbschaftsangelegenheiten nach Ägypten gegangen war, sie blieb darum über das
übliche Alter hinaus. Sie ist etwa zehn Jahre älter als ich. Die Lehrerinnen
gaben immer die jüngsten Zöglinge den ältesten zur Betreuung... Und sie war
meine Lehr-Gefährtin. Sie war gut und... Da kommt die Frau!»
Tatsächlich eilt die erstaunte
Dienerin herbei und öffnet weit das Tor. «Komm herein, komm herein!» sagt sie.
Und dann mit leiser Stimme: «Sei gesegnet, weil du sie aus der Kammer
herausholst!»
Elias verabschiedet sich, und
Maria begibt sich mit Jesus in das Haus.
«Aber dieser Mann...
Barmherzigkeit! Er ist im gleichen Alter wie Levi ...»
«Laß ihn eintreten. Er ist mein
Sohn und wird sie besser trösten können als ich.»
Die Frau zuckt mit den Schultern
und geht ihnen im langen Vestibül eines schönen, aber traurigen Hauses voraus.
Alles ist sauber, aber alles scheint auch tot zu sein...
Eine hochgewachsene Frau, gebeugt
in ihren dunklen Gewändern, kommt ihnen im Halbdunkel entgegen.
«Elisa! Liebe! Ich bin Maria!»
sagt Maria, ihr entgegeneilend und sie umarmend.
«Maria, du? ... Ich dachte, auch
du wärst gestorben. Man hatte es mir erzählt... Wann? Ich weiß es nicht mehr.
Ich habe eine Leere im Kopf... Es war mir gesagt worden, du seist mit vielen
anderen Müttern nach der Ankunft der Weisen gestorben. Aber wer hat mir
gesagt, daß du die Mutter des Erlösers bist?»
«Vielleicht die Hirten...»
«Oh, die Hirten!» Die Frau bricht
in ein angstvolles Weinen aus. «Sag diesen Namen nicht. Er erinnert mich an
die letzte Hoffnung für Levi. Und doch... ja... ein Hirte erzählte mir vom
Erlöser, und ich habe meinen Sohn getötet, weil ich ihn dorthin brachte, wo
angeblich der Erlöser sein sollte: zum Jordan. Aber es war niemand dort... und
mein Sohn ist gerade rechtzeitig zurückgekehrt, um zu Hause zu sterben... Die
Mühe, die Kälte... Ich habe ihn getötet... Aber ich wollte doch keine Mörderin
sein.
132
Man hatte mir gesagt, daß er, der
Messias, Krankheiten heilen kann... und ich habe es deswegen getan... Nun
klagt mich mein Sohn an, daß ich ihn getötet habe...»
«Nein, Elisa, das bildest du dir
nur ein. Höre! Ich glaube, dein Sohn hat mich an der Hand genommen und gesagt:
"Komm zu meiner lieben Mama. Bringe ihr den Erlöser. Mir geht es hier besser
als auf Erden. Aber sie fühlt nur ihren Schmerz, und sie hört meine Worte
nicht, die ich ihr unter den Küssen zuflüstere. Arme Mama! Sie scheint von
einem Dämon besessen, der sie zur Verzweiflung bringen will, um uns zu
trennen. Während wir für immer vereint wären, wenn sie sich ergeben und
glauben wollte, daß Gott für alles seine guten Gründe hat; dann wären wir für
immer mit dem Vater und dem Bruder vereint. Jesus kann es tun." Und so bin ich
gekommen... mit Jesus... Willst du ihn nicht sehen? ...» Maria hat gesprochen
und die Unglückliche immer in den Armen gehalten und sie auf die grauen Haare
geküßt mit einer Zartheit, die nur sie besitzt.
«Oh, wenn das wahr wäre! Aber
warum, warum ist Daniel nicht früher zu dir gegangen, um dir zu sagen, daß du
zu mir kommen sollst? Wer hat mir erzählt, du seiest schon lange tot? Ich weiß
es nicht mehr... Ich kann mich nicht mehr erinnern... Auch deshalb habe ich so
lange gewartet, zum Messias zu gehen. Aber sie hatten gesagt, daß er, du und
ihr alle in Bethlehem umgekommen seid...»
«Denk nicht daran, wer dir dies
gesagt haben könnte. Komm und sieh, hier ist mein Sohn. Geh zu ihm! Stelle
deine Söhne und deine Maria zufrieden. Wisse, daß wir leiden, dich so zu
sehen.» Maria führt sie zu Jesus, der sich in eine dunkle Ecke gestellt hatte,
und erst jetzt ins Licht einer Lampe tritt, welche die Dienerin auf ein hohes
Regal gestellt hat.
Die arme Mutter hebt das Haupt...
und ich sehe jetzt, daß Elisa auch unter den frommen Frauen auf dem
Kalvarienberg war. Jesus streckt ihr seine Hände entgegen mit einer Geste
voller Liebe. Die Unglückliche zögert ein wenig, gibt ihm dann ihre Hände und
läßt sich schließlich jammernd an Jesu Brust fallen: «Sag mir, sag mir du, daß
ich am Tod Levis nicht schuldig bin! Sag mir, daß sie nicht auf ewig verloren
sind; sag mir, daß ich auch bald bei ihnen bin ...»
«Ja, gewiß! Höre mich an! Sie
frohlocken jetzt, da du in meinen Armen bist. Bald werde ich bei ihnen sein,
was soll ich ihnen sagen? Daß du dich dem Herrn nicht ergibst? Soll ich das
sagen? Die Frauen Israels, die Frauen Davids, so stark und so klug, sollen
durch dich ihren guten Ruf verlieren? Nein! Du leidest, weil du allein
gelitten hast. Dein Schmerz und du. Du und dein Schmerz. Das kannst du nicht
ertragen. Erinnerst du dich nicht mehr an die Worte der Hoffnung für jene, die
der Tod uns genommen hat? "Ich werde euch aus den Gräbern holen und euch in
das Land Israel führen. Und ihr werdet erkennen, daß ich der Herr bin, wenn
ich eure Gräber geöffnet und euch herausgeholt habe. Wenn ich euch meinen
133
Geist eingehaucht habe, werdet
ihr das Leben besitzen." Das Land Israel ist für die im Herrn Entschlafenen
das Reich Gottes. Ich werde es öffnen und jenen geben, die es erwarten.»
«Auch meinem Daniel? Meinem Levi?
... Er hat sich so vor dem Tod gefürchtet! ... Er konnte sich nicht
vorstellen, weit weg von seiner Mama zu sein. Deshalb wollte ich sterben, um
im Grab an seiner Seite zu sein ...»
«Aber dort sind sie nicht mit
ihrem lebendigen Sein. Dort sind die toten Gebeine, die dich nicht hören.
Deine Söhne sind am Ort des Wartens ...»
«Gibt es ihn wirklich? Nimm kein
Ärgernis an mir. Mein Gedächtnis hat sich in Tränen aufgelöst. Ich habe nur
das Rauschen der Tränen und das Röcheln der Söhne im Kopf. Welch ein Röcheln!
Welch ein Röcheln! ... Es hat mir das Gehirn erweicht... ich höre hier drinnen
nichts anderes als dieses Röcheln ...»
«Ich gebe dir die Worte des
Lebens. Ich werde das Leben säen, wo der Tod ist, denn ich bin das Leben! Denk
an den großen Judas Makkabäus, der ein Opfer für die Toten verlangt hat. Er
dachte mit Recht, daß sie für die Auferstehung bestimmt sind, und daß man mit
Opfern ihren Frieden beschleunigen kann. Wenn Judas, der Makkabäer, nicht von
der Auferstehung überzeugt gewesen wäre, hätte er dann für die Toten gebetet
und beten lassen? Er dachte daran, wie es geschrieben steht, welch große
Belohnung jenen verheißen ist, die selig sterben, so wie deine Söhne gut
gestorben sind... Siehst du, daß du ja sagst! Darum verzweifle nicht, sondern
bete fromm für deine Toten, damit ihnen die Sünden vergeben werden, bevor ich
zu ihnen komme. Dann werden sie, ohne länger warten zu müssen, mit mir in den
Himmel eingehen. Denn ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, und ich
führe zur Wahrheit und verkünde die Wahrheit und gebe das Leben dem, der an
meine Wahrheit glaubt und mir nachfolgt. Sage mir, haben deine Söhne an das
Kommen des Messias geglaubt?»
«Aber gewiß! Sie hatten von mir
gelernt, daran zu glauben.»
«Und Levi, hat er seine Heilung
durch meinen Willen für möglich gehalten?»
«Ja, Herr! Wir haben auf dich
gehofft... aber es war vergeblich... und er ist ungetröstet gestorben, obwohl
wir so gehofft hatten...»
Die Frau beginnt aufs neue zu
weinen, ruhiger, aber untröstlicher in ihrer Ruhe als zuvor in ihrer
Verzweiflung.
«Sage nicht, es war vergeblich.
Wer an mich glaubt, wird ewig leben, auch wenn er schon gestorben ist... Der
Tag neigt sich, Frau. Ich muß zu meinen Aposteln gehen. Ich lasse dir meine
Mutter hier ...»
«Oh, bleib auch du! ... Ich habe
Angst, daß mich die Unruhe wieder überkommt, wenn du fortgehst ... Langsam,
langsam beruhigt sich der Sturm beim Klang deiner Worte ...»
134
«Hab keine Angst! Maria bleibt
bei dir! Morgen komme ich wieder. Ich muß den Hirten einiges sagen. Kann ich
ihnen auch sagen, daß sie dich in deinem Haus aufsuchen können?»
«O ja! Sie kamen auch im letzten
Jahr für meinen Sohn... Hinter dem Haus ist ein Garten und ein einfacher Hof.
Sie können dorthin gehen, wie sie es damals taten, um ihre Herden
zusammenzuhalten ...»
«Gut so! Ich werde kommen. Sei
tapfer! Denk daran, daß Maria dir im Tempel anvertraut war. Ich vertraue sie
dir für diese Nacht an.»
«Ja, sei beruhigt! Ich werde mich
um sie kümmern... Ich werde an ihr Abendessen und an ihre Nachtruhe denken...
Wie lange ist es her, seit ich nicht mehr an solche Dinge gedacht habe! Maria,
willst du in meinem Zimmer schlafen, wie Levi es während seiner Krankheit tat?
Ich im Bett des Sohnes, du in meinem. Es wird mir dann sein, als hörte ich
seinen Atem... Er hielt mich immer bei der Hand...»
«Ja, Elisa. Zuvor werden wir aber
noch über viele Dinge sprechen.»
«Nein! Du bist müde! Du mußt
schlafen!»
«Du auch ...»
«Oh, ich... Ich schlafe schon
seit Monaten nicht mehr. Ich weine... weine... Ich kann nichts anderes tun...»
«Heute abend werden wir beten und
dann zu Bett gehen, und du wirst schlafen... Wir werden Hand in Hand schlafen,
wir zwei... Geh nur, Sohn, und bete für uns!»
«Ich segne euch! Der Friede sei
mit euch und mit diesem Haus!»
Jesus geht mit der Dienerin weg,
die erstaunt ist und dauernd wiederholt: «Welch ein Wunder, Herr! Welch ein
Wunder! Nach vielen Monaten hat sie endlich gesprochen, hat sie gedacht... Oh,
welch ein Zustand! ... Man sagte, sie werde als Irre sterben... Das tat mir
immer weh, denn sie ist gut!»
«Ja, sie ist gut, und Gott wird
ihr deswegen helfen. Leb wohl, Frau! Der Friede sei auch mit dir!»
Jesus geht auf die halbdunkle
Straße hinaus, und alles ist zu Ende.
250. IM HAUS ELISAS: «LASST EURE
LEIDEN FRUCHTBAR WERDEN!»
Die Nachricht, daß Elisa ihre
tragische Trübsinnigkeit überwunden hat, muß sich im Dorf verbreitet haben,
denn als Jesus, gefolgt von den Aposteln und den Jüngern, sich zum Haus
begibt, betrachten ihn viele Menschen aufmerksam, und einige stellen diesem
oder jenem Hirten Fragen über Jesus; sie wollen wissen, warum er gekommen ist,
wer seine Begleiter, das Kind und die Frauen sind, welche Medikamente er Elisa
135
gegeben hat, um sie so plötzlich
der geistigen Verwirrung zu entreißen, was er tut oder was er sagt...
Die letzte Frage lautet: «Können
wir nicht mitkommen?» Worauf die Hirten antworten: «Das wissen wir nicht, da
müßt ihr den Meister fragen. Geht zu ihm.»
«Wenn er uns aber abweist?»
«Er weist nicht einmal die Sünder
ab. Geht nur, er wird sich freuen.»
Eine Gruppe von Männern und
Frauen, fast alle im Alter Elisas, hält Rat. Schließlich nähern sie sich
Jesus, der gerade mit Petrus und Bartholomäus spricht, und wenden sich etwas
unsicher an ihn: «Meister...»
«Was wollt ihr?» fragt
Bartholomäus.
«Mit dem Meister reden und ihn
etwas fragen ...»
«Der Friede komme zu euch! Was
wollt ihr mich fragen?»
Sie werden durch sein Lächeln
ermutigt und sagen: «Wir sind alle Freunde Elisas und ihres Hauses. Wir haben
gehört, daß sie geheilt ist. Wir möchten sie sehen... und dich hören. Dürfen
wir kommen?»
«Mich hören, gern! Sie sehen
nicht, Freunde! Haltet mit eurer Freundschaft zurück, und auch mit eurer
Neugier; denn auch diese ist dabei. Habt Ehrfurcht vor einem großen Schmerz,
der nicht wieder aufgeweckt werden darf.»
«Ist sie denn nicht geheilt?»
«Sie wendet sich dem Licht zu.
Aber, wenn die Nacht endet, ist es dann gleich Mittag? Wenn ein erloschenes
Feuer angefacht wird, brennt es sofort stark? Das gleiche gilt für Elisa. Wenn
ein plötzlicher Wind auf eine Flamme bläst, löscht er sie nicht aus? Seid
daher klug! Die Frau ist eine einzige Wunde. Auch die Freundschaft könnte sie
erregen; sie hat Ruhe, Schweigen und Einsamkeit nötig; keine tragische
Einsamkeit wie die bisherige, sondern eine ergebene, um zu sich selbst
zurückzufinden ...»
«Wann werden wir sie sehen
können?»
«Früher als ihr denkt. Sie ist
auf dem Weg zur Besserung. Aber wenn ihr wüßtet, was es heißt, aus ihrer
Finsternis zu kommen! Sie ist schlimmer als der Tod. Und wer aus ihr kommt,
schämt sich ihrer und darüber, daß die Welt davon weiß.»
«Bist du ein Arzt?»
«Ich bin der Meister.»
Sie sind beim Haus angelangt.
Jesus wendet sich den Hirten zu: «Geht in den Hof. Wer will, kann mit euch
gehen. Daß mir niemand Lärm schlägt und weiter als in den Hof eindringt! Wacht
auch ihr darüber», sagt er zu den Aposteln. «Und ihr (er spricht zu Salome und
Maria des Alphäus) sorgt dafür, daß das Kind keinen Lärm macht. Lebt wohl!» Er
klopft an die Türe, während die anderen in einem Gäßchen verschwinden.
Die Dienerin öffnet. Jesus tritt
vor der sich ständig verbeugenden Dienerin in das Haus ein.
136
«Wo ist deine Herrin?»
«Bei deiner Mutter... und denk
nur, sie ist in den Garten hinabgestiegen! Ein Ereignis, ein Ereignis! Gestern
abend ist sie in den Speisesaal gekommen. Sie hat geweint, aber sie ist
gekommen! Ich hatte gehofft, sie werde die Mahlzeit einnehmen anstelle des
üblichen Tropfens Milch, aber es ist mir nicht gelungen.»
«sie wird es schon noch tun.
Bestehe jetzt nicht darauf. Sei auch in deiner Liebe geduldig mit der Herrin!»
«Ja, Erlöser, ich werde alles
tun, was du sagst.»
Ich glaube in der Tat, daß die
Frau, auch wenn Jesus unbegreifliche Dinge von ihr verlangte, sie
widerspruchslos tut; denn sie ist fest davon überzeugt, daß Jesus Jesus ist
und daß alles, was er tut, gut ist. Sie begleitet ihn in einen großen Garten
mit vielen Obstbäumen und Blumen. Doch während die Obstbäume sich selbst mit
Blättern und Blüten bedecken und kleine Früchte gebildet haben, sind die armen
Blumengewächse, die seit mehr als einem Jahre nicht mehr gepflegt werden, zu
einer Wildnis geworden, in welcher die größeren Pflanzen die niedrigeren und
schwächeren ersticken. Beete und Wege bilden ein einziges chaotisches
Durcheinander. Nur im Hintergrund, wo die Dienerin Salat und Gemüse gesät hat,
herrscht etwas Ordnung.
Maria sitzt mit Elisa unter einer
wirren Laube, deren Zweige und Ranken bis zur Erde reichen. Jesus bleibt
stehen und beobachtet seine junge Mutter, die sehr geschickt den Geist Elisas
weckt und ihn auf Dinge lenkt, die nichts mit den Gedanken der Trauernden von
gestern zu tun haben.
Die Dienerin geht zur Herrin und
sagt: «Der Erlöser ist gekommen.»
Die Frauen wenden sich um und
gehen ihm entgegen, die eine mit ihrem sanften Lächeln, die andere mit einem
müden und verlegenen Gesicht.
«Der Friede sei mit euch! Dieser
Garten ist schön ...»
«Er war es ...» sagt Elisa.
«Der Boden ist fruchtbar. Schau,
wieviel schönes Obst am Reifen ist! Wie viele Blüten der Rosenstock hat! Und
dort? Sind das nicht Lilien?»
«Ja, rund um ein Becken, an dem
meine Kinder so gern gespielt haben. Aber damals wurden sie noch gepflegt...
Jetzt ist hier alles verwüstet. Und es scheint mir nicht mehr der Garten
meiner Kinder zu sein.»
«In wenigen Tagen wird er wie
damals sein. Ich werde dir helfen. Nicht wahr, Jesus? Du läßt mich einige Tage
hier bei Elisa. Wir haben so viel zu tun ...»
«Alles, was du willst, Mutter,
will auch ich.»
Elisa sieht ihn an und flüstert:
«Danke!»
Jesus läßt seine Hand über das
graue Haupt gleiten und verabschiedet sich dann, um zu den Hirten zu gehen.
Die Frauen bleiben im Garten. Doch kurz darauf, als man in der Stille die
Stimme Jesu vernimmt, der die Anwesenden grüßt, nähert sich Elisa langsam, wie
von einer
137
unwiderstehlichen Kraft
angezogen, einer sehr hohen Hecke, hinter der sich der Vorhof befindet.
Jesus spricht zuerst zu den drei
Hirten. Er steht ganz nahe an der Hecke, vor sich die Apostel und die Bewohner
von Bethsur, die ihnen nachgegangen sind. Die Marien mit dem Kind sitzen in
einer Ecke.
Jesus sagt: «Seid ihr durch einen
Vertrag gebunden, oder könnt ihr euch jederzeit von euren Pflichten befreien?»
«Ja, wir sind freie Knechte. Aber
es wäre nicht schön von uns, wenn wir sofort unseren Dienst aufgäben; denn die
Herden benötigen gerade jetzt große Pflege, und es ist schwer, andere Hirten
zu finden.»
«Nein, das wäre nicht schön von
euch. Aber es ist auch nicht sofort nötig. Ich werde euch rechtzeitig Bescheid
sagen, damit ihr gewissenhaft vorsorgen könnt. Ich will, daß ihr freie
Menschen werdet, euch mit den Jüngern vereinigt und mir Hilfe bieten könnt...»
«Oh, Meister!» Die drei sind vor
Freude wie verzückt. «Aber werden wir dazu imstande sein?» fragen sie dann.
«Daran zweifle ich nicht. Also,
habt ihr verstanden? Sobald es euch möglich ist, begebt ihr euch zu Isaak.»
«Ja, Meister.»
«Geht nun zu den anderen. Ich
werde zwei Worte zu den Leuten sagen.»
Und er wendet sich ab von den
Hirten und dem Volk zu.
«Der Friede sei mit euch! Gestern
habe ich von zwei Unglücklichen sprechen gehört. Der eine befindet sich im
Morgenrot seines Lebens, der andere hat schon den Lebensabend erreicht: zwei
Seelen, die weinten in ihrer Verzweiflung. Ich weinte im Herzen mit ihnen,
weil ich sah, wieviel Elend es auf der Erde gibt; ein Elend, das nur Gott, das
genaue Wissen um Gott, seine große, unendliche Güte, seine ständige Gegenwart
und seine Verheißungen erleichtern können. Ich habe gesehen, wie der Mensch
von Menschen gequält und durch den Tod in Trauer versetzt werden kann, was
Satan dazu benützt, den Schmerz zu vergrößern und alles zu zerstören. Da habe
ich mir gesagt: "Die Kinder Gottes sollen nicht neben solchen Torturen noch
die Schmerzen weiterer Torturen erleiden. Wir wollen jenen das Wissen von Gott
geben, die es noch nicht haben; wir wollen es jenen wiedergeben, die es unter
dem Ansturm der Schmerzen vergessen haben." Aber ich habe auch erkannt, daß
ich allein den unzähligen Nöten der Brüder nicht genüge. So beschloß ich,
viele zu berufen, in immer steigender Zahl, damit alle, die den Trost Gottes
benötigen, ihn bekommen.
Diese zwölf sind die ersten. Als
mein zweites Ich sind sie fähig, andere zu mir, also zum Trost, zu führen;
alle, die von einer zu großen Leidenslast niedergedrückt sind. In Wahrheit
sage ich euch: Kommt alle zu mir die ihr traurig, mutlos, verwundeten Herzens
und müde seid, ich werde an eurem Schmerz teilnehmen und euch den Frieden
schenken. Kommt zu
138
mir durch meine Apostel und meine
Jünger und Jüngerinnen, deren Zahl sich von Tag zu Tag durch neue Freiwillige
vergrößert. Ihr werdet Trost finden in euren Leiden, Begleiter in euerer
Einsamkeit, brüderliche Liebe, die euch den Haß der Welt vergessen läßt; ihr
werdet vor allem den besten Tröster, den vollkommensten Gefährten: die Liebe
Gottes, finden. Ihr werdet über nichts mehr im Zweifel sein. Ihr werdet nie
mehr sagen: "Für mich ist alles zu Ende!" sondern: "Alles beginnt für mich in
einer übernatürlichen Welt, welche die Entfernungen und die Trennungen
aufhebt", so daß die Waisenkinder mit ihren Eltern, die in dem Schoß Abrahams
sind, vereinigt werden, und die Väter und die Mütter, die Ehefrauen und die
Witwen ihre verlorenen Söhne und den verlorenen Gatten wiederfinden.
In diesem Lande Judäa, nahe bei
Bethlehem Noemis, erinnere ich euch daran, daß die Liebe den Schmerz lindert
und Freude schenkt.
Betrachtet, ihr Weinenden, die
Trostlosigkeit Noemis, als ihr Haus männerlos geworden war. Hört ihre an Orfa
und Ruth gerichteten traurigen Worte: "Kehrt zurück in das Haus eurer Mutter.
Der Herr möge euch Barmherzigkeit erweisen, wie ihr ihnen, die tot sind, und
auch mir Barmherzigkeit erwiesen habt." Hört ihr müdes Drängen. Sie erhoffte
nichts mehr vom Leben; sie, die einst die schöne Noemi gewesen war. Sie war
die tragische Noemi geworden, vom Schmerz zerrissen und vom einzigen Wunsch
erfüllt, zum Ort zurückzukehren, an dem sie in ihrer Jugend zwischen der Liebe
des Gatten und den Küssen der Kinder glücklich gewesen war. Sie sagte: "Geht,
geht. Es hat keinen Sinn, zu mir zu kommen... Ich bin wie eine Tote... Mein
Leben ist nicht mehr hier, sondern dort, im anderen Leben, wo sie sind. Opfert
eure Jugend nicht an der Seite eines Dinges, das im Sterben liegt; denn ich
bin wahrhaftig nur noch ein Ding. Alles ist mir gleichgültig! Gott hat mir
alles genommen... Ich bin zur Angst geworden, und der Herr könnte mich
deswegen zur Rechenschaft ziehen, er, der mich so stark geschlagen hat; es
wäre Egoismus, euch junge Menschen bei mir, einer Toten, zurückzuhalten. Geht
zu euren Müttern!..."
Aber Ruth blieb, um dem leidenden
Alter Stütze zu sein; denn sie hatte begriffen, daß es immer größere Schmerzen
als die eigenen gibt und daß ihr Schmerz als junge Witwe immer noch geringer
war als jener der Frau, die außer dem Mann noch die beiden Söhne verloren
hatte; so wie der Schmerz dessen, der aus vielerlei Gründen dazu kommt, die
Welt zu hassen und in jedem Menschen einen Feind zu sehen, den er fürchtet und
gegen den er sich verteidigen muß, größer als alle anderen Schmerzen ist; denn
er trifft nicht allein das Fleisch, das Blut und den Geist, sondern die Seele
mit ihren übernatürlichen Pflichten und Rechten; er läuft Gefahr, zugrunde zu
gehen. Wie viele kinderlose Mütter für mutterlose Kinder gibt es auf der Welt!
Wie viele Witwen ohne Nachkommen gibt es, die sich barmherzigerweise einsamer
Alter annehmen können! Wie viele gibt
139
es, die keine menschliche Liebe
kennen und unglücklich werden in ihrem Bedürfnis nach Liebe; sie möchten alles
geben, um den Haß in der unglücklichen Menschheit, die immer mehr leidet, zu
bekämpfen, weil der Haß immer stärker wird.
Schmerz ist Kreuz, aber auch
Flügel. Die Trauer entblößt, aber um neu zu bekleiden. Erhebt euch, ihr, die
ihr weint! Öffnet die Augen und schüttelt die Bedrängnisse, die Finsternis und
den Egoismus ab! Bedenkt: Die Welt ist die Erde, auf der man weint und stirbt.
Die Welt ruft: "Hilf mir!" durch den Mund der Waisen, der Kranken, der
Einsamen, der Zweifelnden, durch den Mund der Verratenen oder der Opfer der
Grausamkeit, der Gefangenen infolge einer Rache. Geht zu ihnen, die rufen!
Vergeßt euch selbst unter den Vergessenen! Gesundet unter den Kranken! Hofft
mit den Hoffnungslosen! Die Welt steht allen offen, die guten Willens sind, um
Gott im Nächsten zu dienen und den Himmel zu gewinnen, der die Vereinigung mit
Gott und die Wiedervereinigung mit allen ist, die wir beweinen. Hier ist der
Kampfplatz, dort ist der Sieg. Kommt. Ahmt in allen euren Leiden Ruth nach!
Sagt auch ihr: "Ich bleibe bei dir bis zum Tode." Und wenn euch die
Unglücklichen, die sich unheilbar glauben, antworten: "Nennt mich nicht mehr
Noemi, sondern Mara; denn Gott hat mich mit Bitterkeit erfüllt" ' harrt aus!
In Wahrheit sage ich euch, eines Tages werden diese Unglücklichen eure
Ausdauer mit dem Ausruf belohnen: "Gepriesen sei der Herr, der mich von der
Bitterkeit, der Traurigkeit und der Einsamkeit befreit hat mit Hilfe eines
Geschöpfes, das verstanden hat, seinen Schmerz für das Gute fruchtbar zu
machen. Gott möge dieses Geschöpf auf ewig segnen, denn es ist mir zum Retter
geworden."
Die gute Tat Ruths an Noemi hat –
denkt daran – der Welt den Messias geschenkt, denn von David des Isai, von
Isai des Obed, kommt der Messias, wie Obed des Booz, Booz des Salmon, Salmon
des Nahasson, Nahasson des Amminadab, Amminadab des Aram, Aram des Esron und
Esron des Fares. Sie alle waren berufen, das Land von Bethlehem zu bevölkern
und die Vorfahren des Herrn vorzubereiten. Jede gute Tat ist der Ursprung
großer Dinge, die ihr euch nicht vorstellen könnt. Der Sieg eines Menschen
über den eigenen Egoismus kann eine Welle der Liebe auslösen, die fähig ist,
aufzusteigen, aufzusteigen und in ihrer hellen Klarheit jenen zu halten, der
sie ausgelöst hat, um ihn zum Fuße des Altares, zum Herzen Gottes,
hinzutragen.
Gott möge euch seinen Frieden
geben!»
Ohne durch die in der Hecke
befindliche Türe in den Garten zu gehen, wacht Jesus darüber, daß niemand sich
der Hecke nähert, hinter welcher ein lautes Weinen hörbar ist... Erst als alle
Bewohner von Bethsur sich entfernt haben, geht auch er mit den Seinen, ohne
das heilsame Weinen zu stören...
140
251. AUF DEM WEG NACH HEBRON; DIE
ABSICHTEN DER WELT UND DIE ABSICHTEN GOTTES
«Ihr wollt doch nicht eine
Wallfahrt zu allen Orten, die dem Volk Israel heilig sind, unternehmen», sagt
spöttisch Iskariot; er unterhält sich mit einer Gruppe, in der sich Maria des
Alphäus und Salome, sowie Andreas und Thomas befinden.
«Warum nicht? Wer verbietet es
uns?» fragt Maria Kleophä.
«Aber ich... Meine Mutter
erwartet mich schon längst... !»
«Geh doch zu deiner Mutter. Wir
kommen dann nach», sagt Salome; es scheint, als füge sie in Gedanken hinzu:
«Niemand wird wegen deiner Abwesenheit traurig sein!»
«Nein, das geht nicht! Ich will
mit dem Meister zu ihr gehen. Die Mutter wird nicht mitkommen, wie es
abgemacht war. Das hätte nicht geschehen dürfen, denn es war mir versprochen
worden, daß sie dabeisein werde.»
«Sie ist in Bethsur
zurückgeblieben, um ein gutes Werk zu tun. Die Frau dort war sehr
unglücklich.»
«Jesus konnte sie sofort heilen,
ohne sie langsam, Schritt für Schritt, zu sich kommen zu lassen. Ich verstehe
nicht, warum er keine aufsehenerregenden Wunder mehr wirken will.»
«Wenn er es getan hat, wird er
seine heiligen Gründe dafür haben», sagt Andreas ruhig.
«Ja, aber so verliert er Jünger.
Der Aufenthalt in Jerusalem! Welch eine Enttäuschung! Je mehr hochtönende
Dinge nötig wären, desto mehr verbirgt er sich im Schatten. Ich habe so fest
damit gerechnet, etwas zu sehen, etwas zu bekämpfen ...»
«Entschuldige die Frage... Was
wolltest du sehen und wen wolltest du bekämpfen?» fragt Thomas.
«Was? Wen? Nun, ich wollte seine
Wunderwerke sehen und so die Möglichkeit haben, jenen zu trotzen, die
behaupten, er sei ein falscher Prophet oder ein vom Dämon Besessener. Denn so
spricht man von ihm, verstehst du? Sie sagen, wenn Beelzebub ihn nicht
unterstützt, ist er ein armer Mensch. Und da die Launenhaftigkeit Beelzebubs
bekannt ist, und man weiß, daß es ihm Spaß macht zu fassen und zu lassen, wie
es der Leopard mit der Beute macht, und da die Tatsachen diese Überlegung
rechtfertigen, bin ich beunruhigt, wenn ich daran denke, daß er nichts tut.
Schön stehen wir da: als Apostel eines Meisters... voller Lehre, das kann man
nicht leugnen, aber sonst nichts.» Das plötzliche Innehalten des Judas nach
dem Worte "Meister" gibt zu denken, daß er noch Schwerwiegenderes sagen
wollte.
Die Frauen sind bestürzt; Maria
des Alphäus, als Verwandte Jesu, sagt deutlich: «Ich wundere mich nicht über
dich; es wundert mich vielmehr, daß er dich duldet, Bube!»
141
Andreas, der stets sanftmütige
Andreas, verliert die Geduld und schreit rot vor Wut, einmal ganz seinem
Bruder gleichend: «Aber so geh doch! Stell dich nicht immer bloß, wegen des
Meisters! Wer hat dich gerufen? Uns hat er gewollt. Dich nicht! Du hast
mehrere Male bitten und betteln müssen, bevor er dich angenommen hat. Du hast
dich aufgedrängt. Ich weiß nicht, was mich zurückhält, den anderen alles zu
berichten ...»
«Mit euch kann man nicht reden.
Man hat recht, wenn man euch raufsüchtig und dumm nennt...»
«Wahrlich, auch ich verstehe
wirklich nicht, wo der Fehler des Meisters liegt. Ich wußte nichts von diesen
launenhaften Umtrieben des Dämons. Armer Kerl! Er muß wirklich ein seltsames
Wesen sein. Wenn er vernünftiger wäre, hätte er sich nicht gegen Gott
aufgelehnt. Doch ich will es mir merken», sagt Thomas ironisch, um den
aufkommenden Sturm zu besänftigen.
«Spotte nicht. Ich spaße nicht.
Kannst du vielleicht behaupten, daß er in Jerusalem besonders aufgefallen ist?
Übrigens, auch Lazarus hat es gesagt...»
Thomas bricht in ein schallendes
Gelächter aus. Dann sagt er, immer noch lachend, und sein Lachen hat Iskariot
bereits verwirrt: «Er soll nichts getan haben? Geh, und frage die Aussätzigen
von Siloe und Hinnom. Nun, in Hinnom wirst du keinen mehr finden, denn sie
sind alle geheilt. Wenn du nicht dabei warst, weil du es eilig hattest, zu
den... Freunden zu gehen, und daher nichts davon weißt, so hindert das nicht,
daß in den Tälern Jerusalems und in vielen anderen die Hosanna der Geheilten
ertönen», endet Thomas ernst. Immer noch ernst fügt er hinzu: «Du bist
gallenkrank, Freund. Darum bist du verbittert und siehst überall grün. Es muß
eine stets wiederkehrende Krankheit in dir sein. Glaube uns, es ist nicht
angenehm, mit einem wie du zusammenzuleben. Mäßige dich. Ich werde den anderen
nichts erzählen, und wenn diese guten Frauen auf mich hören, werden auch sie
schweigen, und mit ihnen Andreas. Aber du, beherrsche dich! Spiele nicht den
Enttäuschten, denn es gibt keine Enttäuschung. Es ist nicht nötig, denn der
Meister weiß, was er tut. Versuche nicht, der Meister des Meisters zu sein.
Wenn er die arme Frau Elisa so behandelt hat, dann kannst du daraus schließen,
daß es gut war. Laß die Schlangen zischen und spucken, soviel sie wollen.
Bemühe dich nicht, den Vermittler zwischen ihnen und ihm zu spielen, und noch
weniger darfst du dich entwürdigt fühlen, mit ihm zu sein. Selbst wenn er
nicht einmal einen Schnupfen mehr heilte, wäre er trotzdem mächtig. Sein Wort
allein ist ein fortwährendes Wunder. Gib dich zufrieden! Wir haben keine
Bogenschützen hinter uns! Wir werden unser Ziel erreichen. Laß nur, wir werden
erreichen, daß die Welt sich überzeugt, daß Jesus Jesus ist. Sei auch davon
überzeugt, daß Maria deine Mutter besuchen wird, wenn sie es versprochen hat.
142
Wir pilgern indessen durch diese
schönen Gegenden; das ist unsere Arbeit! Ganz bestimmt! Wir stellen auch die
Jüngerinnen zufrieden und besuchen das Grab Abrahams und seinen Baum und
darauf das Grab des Jesse und... was habt ihr sonst noch gesagt?»
«Man sagt, hier sei der Ort, wo
Adam gelebt hat und Abel getötet worden ist.»
«Die üblichen sinnlosen Legenden!
...» murrt Judas Iskariot.
«Nach hundert Jahren wird man
sagen, daß die Grotte von Bethlehem und viele andere Dinge Legende sind! Und
dann, entschuldige bitte, du wolltest doch das stinkende Loch von Endor
besuchen, das, wie mir scheint, nicht einem heiligen Zyklus angehört, meinst
du nicht auch? Und man kommt hierher, weil man sagt, daß hier das Blut und die
Asche von Heiligen ruhen. Endor hat uns Johannes geschenkt, und wer weiß...»
«Schönes Geschenk, der Johannes!»
spottet Iskariot.
«Im Gesicht ist er es nicht. In
der Seele aber kann er besser sein als wir es sind.»
«Daß ich nicht lache! Mit dieser
Vergangenheit!»
«Schweige! Der Meister hat
gesagt, daß wir sie vergessen sollen.»
«Das ist bequem! Ich möchte
sehen, ob ihr, wenn ich derartiges täte, alles vergessen würdet!»
«Leb wohl, Judas! Es ist besser,
du bleibst allein. Du bist zu unruhig. Wenn du wenigstens selber wüßtest, was
dir fehlt!»
«Was mir fehlt, Thomas? Ich muß
zusehen, wie wir, die wir zuerst gekommen sind, vernachlässigt werden. Ich muß
zusehen, wie alle anderen mir vorgezogen werden. Ich muß erkennen, daß man auf
meine Abwesenheit gewartet hat, um das Gebet zu lehren. Glaubst du, all dies
mache mir Freude?»
«Nein, das glaube ich nicht! Aber
ich möchte dich darauf aufmerksam machen, daß du, wenn du mit uns an Ostern
zum Abendmahl gekommen, auch auf dem Ölberg mit uns gewesen wärest, als der
Meister uns das Gebet gelehrt hat. Ich sehe nicht, inwiefern wir zuerst
Gekommenen vernachlässigt werden. Weil dieses unschuldige Kind hier spricht?
Oder weil der unglückliche Johannes mit uns ist?»
«Wegen des einen und des anderen.
Jesus spricht fast nicht mehr mit uns. Wie du siehst, auch jetzt! Er verbringt
seine Zeit, um mit dem Kind zu reden. Er wird doch lange warten müssen, bevor
er es unter die Jünger einreihen kann! Und der andere, der wird nie ein
Jünger. Er ist zu stolz, zu gebildet, zu verhärtet und hat schlechte
Neigungen. Und doch: "Johannes hier, Johannes da!..."»
«Vater Abraham, laß mich nicht
die Geduld verlieren! Warum glaubst du, daß der Meister andere dir vorzieht?»
«Siehst du es auch jetzt nicht?
Es ist an der Zeit, Bethsur zu verlassen, wo er drei Hirten unterweisen
wollte, die gut von Isaak hätten unterwiesen
143
werden können; und wen läßt er
bei seiner Mutter zurück? Mich? Dich? Nein! Er läßt den Simon da. Einen Alten,
der kaum einmal spricht!....»
«Aber das Wenige, das er sagt,
sagt er immer gut», entgegnet Thomas, der nunmehr allein ist, da die Frauen
sich mit Andreas von ihnen getrennt haben und, wie um zu fliehen, und um ein
Stück des Weges allein zu sein, eilenden Schrittes vorangehen.
Die beiden Apostel sind so
aufgeregt, daß sie nicht bemerken, wie Jesus sich ihnen nähert; denn das
Geräusch seiner Schritte verliert sich völlig im Staub der Straße. Aber wenn
er kein Geräusch macht, so schreien die beiden für zehn, und Jesus hört sie.
Hinter ihm kommen Petrus, Matthäus, die beiden Vettern des Herrn, Philippus
und Bartholomäus, sowie die beiden Söhne des Zebedäus, die Margziam in ihrer
Mitte haben.
Jesus spricht: «Das hast du gut
gesagt, Thomas! Simon spricht wenig, aber das Wenige ist immer gut. Er ist ein
ruhiger Geist und hat ein ehrliches Herz. Und vor allem hat er viel guten
Willen. Darum habe ich ihn bei meiner Mutter gelassen. Er ist ein wahrer
Ehrenmann, der Anstand hat, der gelitten hat und alt ist. Daher – ich sage
dies absichtlich, denn ich vermute, daß jemand die Wahl ungerecht nennt –
daher war er der Geeignetste, zu bleiben. Ich konnte nicht erlauben, Judas,
meine Mutter allein bei einer armen, kranken Frau zurückzulassen. Und es war
richtig, sie zurückzulassen. Die Mutter wird das Werk vollenden, das ich
begonnen habe. Aber ich konnte sie auch nicht mit meinen Brüdern, noch mit
Andreas, Jakobus, Johannes oder mit dir zurücklassen. Wenn du meine Gründe
nicht verstehst, weiß ich nicht, was ich dir sagen soll ...»
«Weil es deine Mutter ist, jung,
schön, und die Leute...»
«Nein! Die Leute haben immer
Unrat in den Gedanken, auf den Lippen, an den Händen und besonders im Herzen.
Schlechte Menschen sehen in allem nur das, was sie selber sind. Aber über
diesen Unrat mache ich mir keine Gedanken. Der fällt von selbst ab, wenn er
trocken ist. Ich habe Simon vorgezogen, weil er alt ist und nicht zu sehr an
die toten Söhne der untröstlichen Witwe erinnert. Ihr Jungen hättet sie eurer
Jugend wegen stets daran erinnert. Simon kann wachen, ohne sich bemerkbar zu
machen; er ist anspruchslos, verständnisvoll und weiß sich zu beherrschen. Ich
hätte Petrus nehmen können. Wer paßt besser als er zu meiner Mutter? Aber er
ist immer noch zu impulsiv. Du siehst, ich kann es ihm ins Gesicht sagen, er
ist deswegen nicht beleidigt. Petrus ist aufrichtig und liebt die Wahrheit,
auch wenn sie zu seinem Nachteil ist. Ich hätte Nathanael nehmen können. Aber
er ist noch nie in Judäa gewesen. Simon kennt Judäa gut; dies wird von Vorteil
sein, wenn er die Mutter nach Kerioth begleiten wird. Er weiß, wo dein
Landhaus ist, und auch das Haus in der Stadt; er wird nicht ...»
«Aber, Meister... Wird deine
Mutter wirklich meine Mutter besuchen ?»
144
«So ist es beschlossen; wenn
etwas beschlossen ist, dann wird es auch gemacht. Wir gehen langsam und halten
uns im einen und anderen Dorf auf, um zu predigen. Möchtest du nicht, daß ich
Judäa die Frohe Botschaft verkünde?»
«Ja, natürlich, Meister... Aber
ich glaubte... ich dachte ...»
«Vor allem quälst du dich mit
Hirngespinsten, die du nur träumst. Beim zweiten Mondviertel des Ziw werden
wir alle bei deiner Mutter sein. Wir – also auch meine Mutter mit Simon! Nun
verkündet sie die Frohe Botschaft in Bethsur, der Stadt in Judäa, so wie
Johanna es in Jerusalem tut; mit ihr ein Mädchen und ein Priester, der zuvor
aussätzig gewesen war; so wie es Lazarus mit Martha und der alte Ismael in
Bethanien und Sara in Jutta tun, wie deine Mutter bestimmt in Kerioth vom
Messias spricht. Du kannst also nicht sagen, daß ich Judäa ohne Belehrung
verlasse. Im Gegenteil, ich gebe den Judäern, die verschlossener und stolzer
als die Bewohner anderer Gebiete sind, die zartesten Stimmen, die Stimmen der
Frauen und des heiligmäßigen Isaak und meines Freundes Lazarus. Die Frauen
sagen ihre Worte in feiner Frauenart; sie sind Meisterinnen in der Kunst, die
Seelen dorthin zu führen, wohin sie wollen. Du sagst nichts mehr? Warum weinst
du beinahe, du großes, launenhaftes Kind? Was hast du davon, dich mit Schatten
zu vergiften? Hast du noch andere Gründe zur Beunruhigung? Auf, so rede!»
«Ich bin schlecht... und du bist
so gut. Deine Güte trifft mich immer; sie ist stets so frisch, so neu... Ich
weiß nie, wann ich sie auf meinem Weg finde...»
«Du hast die Wahrheit gesagt. Du
kannst es nicht wissen! Aber das kommt daher, weil sie nicht frisch und neu,
sondern ewig ist, Judas. Sie ist allgegenwärtig, Judas... Oh, nun sind wir in
der Nähe von Hebron; Maria, Salome und Andreas winken uns zu. Laßt uns
weitergehen! Sie sprechen mit Männern. Sie werden sich nach den
geschichtlichen Stätten erkundigt haben. Deine Mutter verjüngt sich bei diesen
Erinnerungen, mein Bruder!»
Judas Thaddäus lächelt dem Vetter
zu, der ebenso lächelt.
«Wir verjüngen uns alle», sagt
Petrus. «Mir scheint, als sei ich in der Schule. Aber es ist eine schöne
Schule! Besser als die des Nörglers Elisäus. Erinnerst du dich, Philippus?
Oje, die Geschichte der Abstammung: "Sagt die Städte der Stämme!"; "Ihr habt
sie nicht im Chor gesagt... Fangt wieder von vorne an..."; "Simon, du gleichst
einem verschlafenen Frosch. Du bleibst zurück. Beginnt noch einmal von vorne."
Oje! Ich war völlig zu Städtenamen aus lang vergangenen Zeiten geworden und
wußte nichts anderes. Hier hingegen! Hier lernt man wirklich etwas. Weißt du,
Margziam, in ein paar Tagen wird dein Vater die Prüfung ablegen; er weiß
Bescheid ...»
Alle lachen und gehen Andreas und
den Frauen entgegen.
145
252. FESTLICHE BEGRÜSSUNG IN
HEBRON
Sie sitzen alle im Kreise in
einem Hain bei Hebron, essen und reden miteinander. Judas, der nun davon
überzeugt ist, daß Maria seine Mutter besuchen wird, ist in bester Stimmung
und versucht, die Erinnerung an seine schlechte Laune bei Gefährten und Frauen
mit tausend Aufmerksamkeiten auszulöschen. Er hat anscheinend im Dorf die
Einkäufe besorgt, denn er erzählt, daß er es sehr verändert vorgefunden hat
seit dem letzten Jahr: «Die Kunde von den Predigten und Wundern Jesu ist bis
hierher gedrungen; die Menschen haben angefangen, über viele Dinge
nachzudenken. Weißt du, Meister, daß sich in dieser Gegend ein Besitz des
Doras befindet? Auch die Frau Chuzas hat auf diesen Hügeln Ländereien und eine
Burg: ihre Mitgift. Man sieht, daß ein wenig sie und ein wenig die
Landarbeiter des Doras die Leute hier vorbereitet haben. Er, Doras, hat
Schweigen geboten. Aber sie! ... Ich glaube, daß sie nicht einmal bei Strafe
schweigen würden. Der Tod des alten Pharisäers hat eine Erschütterung
ausgelöst, weißt du! Und erst die gute Gesundheit Johannas, die vor Ostern
hierhergekommen ist! Oh, auch der Liebhaber der Aglaia hat dir genützt. Weißt
du, daß Aglaia entflohen ist, kurz nachdem wir hier vorbeigekommen waren? Er,
der Liebhaber, hat den Teufel gespielt und sich an vielen Unschuldigen
gerächt. Darum glaubt das Volk endlich an dich als an den Rächer der
Unterdrückten und verlangt nach dir. Ich meine die Besten ...»
«Rächer der Unterdrückten! Ja,
das bin ich. Aber auf der übernatürlichen Ebene. Keiner von denen, die mich
mit Szepter und Weltkugel in der Hand als König und Richter irdischer Dinge
sehen, sieht mich richtig. Natürlich bin ich gekommen, um von der
Unterdrückung zu befreien. Von der Sünde, der schlimmsten aller
Unterdrückungen, von Krankheiten, Trostlosigkeit, Unwissenheit und Egoismus!
Viele werden lernen, daß es nicht recht ist, zu unterdrücken, wenn das
Schicksal sie über andere gestellt hat. Sie werden lernen, ihre
gesellschaftliche Stellung dazu zu nützen, um den Untergeordneten zu helfen.»
«Lazarus tut es, und auch
Johanna. Aber es sind nur zwei gegen Hunderte!» sagt Philippus traurig.
«Die Flüsse sind an der Quelle
nicht so breit wie an der Mündung: Tropfen, Wasserfäden, aber dann... Es gibt
Flüsse, die an der Mündung einem Meer gleichen.»
«Der Nil, nicht wahr?! Deine
Mutter hat es mir erzählt nach der Rückkehr aus Ägypten. Sie sagte immer: "Ein
Meer, glaub es mir, ein grün-blaues Meer! Ihn bei Hochwasser zu sehen, ist ein
Traum!" Und sie erzählte mir von den Pflanzen, die aus dem Wasser zu wachsen
scheinen, und von all dem Grün, das sich zeigte, wenn das Wasser sich
zurückzog ...» sagte Maria des Alphäus.
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«Und so sage ich euch: Wie der
Nil an der Quelle ein Wasserfaden ist und dann zum Riesen wird, so wird auch
das Fädchen, das heute mit Liebe und aus Liebe den Geringsten dient, zu einer
Vielfalt werden. Johanna, Lazarus, Martha jetzt, und dann viele, viele!» Jesus
scheint alle zu sehen, die sich den Brüdern barmherzig erweisen, und lächelt,
in seine Vision versunken.
Judas verrät, daß der
Synagogenvorsteher mit ihm kommen wollte, es aber nicht gewagt hatte, von sich
aus eine Entscheidung zu treffen: «Erinnerst du dich, Johannes, wie er uns im
letzten Jahre vertrieben hat?»
«Ich erinnere mich, aber sage es
doch dem Meister!»
Jesus antwortet, daß sie sich
Hebron nähern. Wenn die Bewohner sie wollten, werde man sie rufen, und sie
werden bleiben; wenn nicht, werden sie sogleich weiterziehen.
«So können wir das Haus des
Täufers sehen. Wem gehört es jetzt?»
«Dem, der es will, glaube ich.
Schammai ist fortgezogen und nicht zurückgekehrt. Er hat Diener und Möbel
weggebracht. Um sich zu rächen, haben die Bürger die Umfassungsmauer
abgebrochen; das Haus gehört nun allen. Wenigstens der Garten. Sie versammeln
sich dort, um ihren Täufer zu verehren. Man sagt, daß Schammai ermordet worden
ist. Ich weiß nicht, weshalb... es scheint wegen einer Frauengeschichte...»
«Irgendeine Intrige am Hof,
bestimmt!» murmelt Nathanael in seinen Bart.
Die Gruppe erhebt sich und geht
nach Hebron, zum Haus des Täufers. Dort angekommen, finden sie eine
geschlossene Menge von Bürgern vor. Sie kommen ihnen etwas unsicher, neugierig
und überrascht entgegen. Jesus grüßt sie lächelnd. Sie machen sich Mut, gehen
auseinander, und aus der Gruppe löst sich der Synagogenvorsteher, der im
vergangenen Jahr so unhöflich war.
«Der Friede sei mit dir!» grüßt
Jesus gleich. «Erlaubst du uns, in deiner Stadt zu verweilen? Ich bin mit
allen meinen bevorzugten Jüngern hier, und einige ihrer Mütter sind dabei.»
«Meister, hast du keinen Groll
gegen uns, gegen mich?»
«Groll? Ich kenne so etwas nicht;
auch wüßte ich nicht, weshalb ich grollen sollte.»
«Letztes Jahr habe ich dich
beleidigt...»
«Du hast den Unbekannten
beleidigt und hast geglaubt, dazu berechtigt zu sein. Dann aber hast du
begriffen und bereut, es getan zu haben. Das ist vorbei. So wie die Reue die
Schuld tilgt, so löscht die Gegenwart die Vergangenheit aus. Ich bin für dich
nicht mehr der Unbekannte. Welche Gefühle hast du nun für mich?»
«Ehrfurcht, Herr, Verlangen...»
«Verlangen? Was willst du von
mir?»
«Dich besser kennenlernen.»
147
«Wie? Auf welche Art?»
«Durch deine Worte und deine
Werke. Die Kunde von dir, von deiner Lehre und deiner Macht hat uns erreicht;
und man hat uns gesagt, daß du an der Befreiung des Täufers nicht unbeteiligt
warst. Du hast ihn also nicht gehaßt, hast nicht versucht, unseren Johannes zu
verdrängen! ... Er selbst hat nicht verneint, daß er dank dir das Tal des
heiligen Jordan wiedergesehen hat. Wir sind bei ihm gewesen, haben von dir
gesprochen, und er hat uns gesagt: "Ihr wißt nicht, wen ihr vertrieben habt.
Ich mußte euch tadeln; doch ich verzeihe euch, denn er hat mich gelehrt, zu
verzeihen und sanftmütig zu sein. Wenn ihr also nicht vom Herrn und von mir,
seinem Diener, verflucht werden wollt, so liebt den Messias. Zweifelt nicht!
Sein Zeugnis ist: Geist des Friedens, vollkommene Liebe, höhere Weisheit als
jede andere, himmlische Lehre, absolute Sanftmut; Macht über alle Dinge,
vollkommene Demut und engelgleiche Keuschheit. Ihr könnt nicht fehlgehen. Wenn
ihr Frieden in der Nähe eines Menschen atmet, der von sich sagt, daß er der
Messias ist; wenn ihr Liebe trinkt, die Liebe, die von ihm ausgeht; wenn ihr
aus eurem Dunkel ins Licht eingeht; wenn ihr seht, daß Sünden vergeben und
Leiber geheilt werden, dann saget: 'Dieser ist wahrlich das Lamm Gottes!"' Wir
wissen, daß deine Werke es sind, von denen unser Johannes gesprochen hat.
Daher verzeihe uns, liebe uns, gib uns das, was die Welt von dir erwartet.»
«Ich bin deswegen gekommen; ich
komme von sehr weit her, um auch der Stadt des Johannes das zu geben, was ich
jedem Ort, der mich aufnimmt, gebe. Sagt daher, was ihr von mir wollt!»
«Auch wir haben Kranke, und
unwissend sind wir. Besonders, was Liebe und Güte betrifft, sind wir
unwissend. Johannes hat mit seiner vollkommenen Gottesliebe eine eiserne Hand
und Feuer-Worte; er will alle biegen, wie ein Riese einen Grashalm biegt.
Viele verfallen der Mutlosigkeit, denn der Mensch ist mehr Sünder als
Heiliger. Es ist schwierig, heilig zu sein. Man sagt, daß du nicht biegst,
sondern aufrichtest, nicht verwundest, sondern Balsam auflegst, nicht
schlägst, sondern streichelst. Man sagt, daß du väterlich bist mit den Sündern
und Macht über die Krankheiten hast, wie sie auch heißen, besonders über die
des Herzens. Die Rabbis verstehen es nicht mehr.»
«Bringt mir eure Kranken und
versammelt euch dann in diesem Garten, der verlassen und von der Sünde
entweiht ist, nachdem er einmal der Tempel der Gnade war, die hier gewohnt
hat.»
Die Hebroniten entfernen sich in
alle Richtungen, wie Schwalben; nur der Synagogenvorsteher bleibt. Er geht mit
Jesus und den Jüngern innerhalb der Abgrenzung des Gartens in den Schatten
einer Laube, die mit wild wuchernden Rosen und Weinreben überwachsen ist. Die
Hebroniten kommen bald zurück. Sie bringen einen Gelähmten auf einer Bahre,
ein blindes Mädchen, einen Taubstummen und zwei Kranke, die an
148
irgendeiner mir unbekannten
Krankheit leiden und von Begleitern geführt werden.
«Der Friede sei mit dir», grüßt
Jesus jeden ankommenden Kranken. Dann die sanfte Frage: «Was wollt ihr, daß
ich tue?» Und es antwortet der Klagechor der Unglücklichen; jeder möchte seine
eigene Geschichte erzählen.
Jesus, der dagesessen hatte,
erhebt sich und geht zum Stummen, dem er die Lippen mit seinem Speichel
befeuchtet und dem er das große Wort sagt: «Öffne dich!» Ebenso sagt er zur
Blinden, deren geschlossene Lider er mit dem von Speichel befeuchteten Finger
berührt. Dann gibt er dem Gelähmten die Hand und sagt: «Steh auf!» Zum Schluß
legt er den beiden Kranken seine Hände auf mit den Worten: «Werdet gesund, im
Namen des Herrn!»
Der Stumme, der zuvor nur
unverständliche Laute von sich gab, sagt klar und deutlich «Mama», während das
Mädchen die entsiegelten Lider dem Lichte öffnet, sie wieder schließt und
wieder öffnet und mit den Fingern zur unbekannten Sonne deutet, lacht und
weint, sich die Augen reibt, da es die Sonne nicht gewöhnt ist, und auf die
Erde, die Personen und besonders auf Jesus schaut. Der Gelähmte steigt sicher
von der Bahre, und seine barmherzigen Träger halten dieselbe leer in die Höhe,
um den entfernt Stehenden zu verstehen zu geben, daß die Gnade gewährt worden
ist, während die beiden Kranken vor Freude weinen und niederknien, um ihren
Retter zu verehren.
Die Menschen brechen in
begeisterte Hosannarufe aus. Thomas, der nahe bei Judas steht, blickt ihn fest
und mit einem so vielsagenden Ausdruck an, daß dieser ihm antwortet: «Ich war
töricht, verzeih!»
Nachdem die Rufe nachgelassen
haben, beginnt Jesus zu reden.
«Der Herr sprach zu Josua und
sagte: "Sprich zu den Kindern Israels und sage zu ihnen: Teilt die Städte mit
den Flüchtigen, von denen ich durch Moses zu euch gesprochen habe, damit sich
dorthin flüchten kann, wer unfreiwillig jemand getötet hat und sich dem Zorn
der Verwandten und den Bluträchern entziehen will!" Hebron ist eine dieser
Städte.
Es wird weiter gesagt: "Und die
Ältesten der Stadt sollen den Unschuldigen nicht dem ausliefern, der ihn zu
töten sucht, sondern sie sollen ihn aufnehmen und ihm eine Wohnung geben,
damit er bis zum Gericht und solange der betreffende Hohepriester nicht
gestorben ist, dort bleiben kann. Danach kann er in seine Stadt und in sein
Haus zurückkehren."
In diesem Gesetz ist schon die
barmherzige Liebe zum Nächsten berücksichtigt und befohlen. Dieses Gebot hat
Gott gegeben, da es nicht erlaubt ist, zu töten, ohne vorher den Angeklagten
verhört zu haben; es ist auch nicht erlaubt, im Zorn zu töten.
Dies gilt auch für die
moralischen Vergehen und Anschuldigungen. Es ist nicht erlaubt, zu
beschuldigen, wenn man nicht genau untersucht hat,
149
oder zu richten, bevor man den
Angeklagten angehört hat. Doch heute kommen zu den bisherigen Anklagen und
Verurteilungen für begangene oder vermutete Taten neue hinzu: solche, die sich
gegen Menschen richten, die im Namen Gottes auftreten. In den Jahrhunderten
ist das gegen die Propheten vorgekommen; heute erhebt man sich gegen den
Vorläufer des Christus und gegen Christus. Ihr selbst könnt es feststellen.
Mit Hinterlist aus dem Gebiet von Sichern gelockt, erwartet der Täufer in den
Kerkern von Herodes den Tod; denn er wird nie in eine Lüge und in Kompromisse
einwilligen, selbst wenn er geköpft werden sollte: nichts wird seine
Ehrlichkeit zerstören und seine Seele von der Wahrheit trennen können, der er
in allen ihren verschiedenen Formen, den göttlichen, den übernatürlichen und
den moralischen treu gedient hat. Genauso wird Christus verfolgt, mit
doppelter und zehnfacher Wut, da er sich nicht darauf beschränkt, Herodes zu
sagen: "Es ist dir nicht erlaubt", sondern überall dort, wo er eintretend
Sünde antrifft oder weiß, daß Sünde vorliegt, sagt: "Es ist dir nicht
erlaubt", ohne daß er eine Kategorie im Namen Gottes und zur Ehre Gottes
ausschließt. Wie kann dies geschehen? Gibt es keine Diener Gottes mehr in
Israel? Ja, es gibt sie. Aber sie verehren Götzen!
Im Brief des Jeremias an die
Exilierten stehen unter anderem diese Dinge. Ich rufe sie euch ins Gedächtnis,
da jedes Wort des Briefes Lehre ist, die sich vom Augenblick an, in dem der
Geist sie infolge eines Ereignisses der Gegenwart niederschreiben läßt, auch
auf ein zukünftiges Vorkommnis bezieht. Es steht also geschrieben: "Wenn ihr
nach Babylon kommt, werdet ihr Götzen aus Gold, Silber, Stein und Holz
sehen... Hütet euch davor, das Tun der Fremden nachzuahmen oder sie zu
fürchten oder Angst zu haben... sagt in eurem Herzen: 'Dich allein, o Herr,
müssen wir anbeten!"' Und der Brief beschreibt diese Idole in allen
Einzelheiten; diese Idole, die eine künstliche Zunge haben und sich dieser
nicht bedienen, um ihre falschen Priester zu tadeln, die sie berauben, um mit
dem Gold des Idols die Dirnen zu kleiden; diesen aber nehmen sie das Gold
wieder ab, das beschmutzt ist durch die Prostitution, um das Idol damit wieder
zu bedecken; diese Idole, die Rost und Gewürm zerstören, und die nur sauber
und ordentlich sind, wenn der Mensch ihr Gesicht wäscht und sie kleidet;
während sie allein nichts vermögen, selbst wenn sie Szepter und Waage in der
Hand halten. Und der Prophet endet: "Fürchtet sie daher nicht!" Dann fährt er
fort: "Unnütz wie zerbrochene Gefäße sind diese Götter. Ihre Augen sind voll
vom aufgewirbelten Staub der Tempelbesucher; sie sind immer geschlossen, wie
in einem Grab oder wie die Augen dessen, der den König beleidigt hat; jeder
Mensch kann sie ihrer kostbaren Gewänder berauben. Sie sehen das Licht der
Lampen nicht, daher sind sie im Tempel wie Balken, und die Lampen sind nur
dazu da, um sie mit Ruß zu bedecken, während Käuzchen, Schwalben und andere
Vögel auf ihren Kopf fliegen und ihn mit ihrem Kot beschmutzen; die Katzen
150
machen aus ihren Gewändern ihr
Lager und zerfetzen sie. Nein, diese Idole sind nicht zu fürchten; sie sind
tote Dinge. Nicht einmal das Gold nützt ihnen; es dient nur als Schmuck, und
wenn es nicht geputzt wird, dann glänzt es nicht. Sie haben auch nichts
gespürt, als sie hergestellt wurden. Das Feuer hat sie nicht zum Leben
erweckt. Sie sind für namhafte Summen gekauft worden und werden dort
aufgestellt, wo der Mensch sie haben will; denn sie sind in beschämender Weise
ohnmächtig... Warum werden sie dann Götter genannt? Weil man sie anbetet und
ihnen Opfer darbringt in Schauspielen falscher Zeremonien, an die weder die
Ausführenden noch die Beiwohnenden glauben. Wenn ihnen Gutes oder Böses
angetan wird, vergelten sie es nicht; sie sind unfähig, einen König zu
ernennen oder abzusetzen; sie können weder Reichtum noch Übel verteilen; sie
können einen Menschen nicht vor dem Tod bewahren und einen Schwachen nicht vor
dem Mächtigen schützen. Sie haben auch kein Mitleid mit den Witwen und den
Waisen. Sie gleichen den Felsen im Gebirge..." Das sagt der Brief so ungefähr.
Seht, auch wir haben Idole, aber
keine Heiligen mehr in den Reihen der Diener des Herrn. Daher kann sich das
Böse gegen das Gute erheben. Das Böse, das den Verstand und das Herz der nicht
mehr Heiligen mit Schmutz bespritzt und sich einnistet in ihre falschen
Gewänder der Güte.
Sie können die Worte Gottes nicht
mehr aussprechen. Das ist natürlich! Sie haben eine von Menschen angefertigte
Zunge und sagen Menschenworte, wenn sie nicht Satansworte sagen; sie sprechen
nichts anderes aus als unvernünftige Vorwürfe an Unschuldige und Arme, und
schweigen dort, wo sie Verdorbenheit von Mächtigen sehen. Denn sie sind alle
verdorben und können sich daher nicht gegenseitig dieselbe Schuld vorwerfen.
Sie arbeiten eifrig, nicht für den Herrn, sondern für Mammon und nehmen das
Gold der Unzucht und des Verbrechens an, feilschend, stehlend und von einer
Gier besessen, die jede Grenze und alles Maß übersteigt. Jeglicher Staub
bleibt auf ihnen liegen, gärt auf ihnen, und wenn sie dem Herrn ein
gewaschenes Gesicht zeigen, so sieht das Auge Gottes ein sehr schmutziges
Herz. Der Rost des Hasses und das Gewürm der Sünde nagt an ihnen; sie tun
nichts, um sich zu retten. Sie gehen um mit Verfluchungen wie mit Szepter und
Schwert; aber sie wissen nicht, daß sie selbst verflucht sind. Eingeschlossen
in ihr Denken und ihre Süchte wie Leichen in ihren Gräbern oder Gefangene in
ihrem Kerker, stehen sie da und klammern sich an die Eisenstangen ihrer Zelle
aus Angst, daß eine Hand sie von dort herausholen könnte; denn da sind diese
Toten immer noch etwas: Mumien, aber nicht Mumien mit einem menschlichen
Aussehen, sondern zu vertrocknetem Holz verdorrte Leiber; draußen wären sie
überholte Dinge von der Welt, die das Leben sucht, die das Leben nötig hat,
wie der Säugling die Brust, und die den sucht, der Leben schenkt und nicht
Leichengeruch.
151
Sie stehen im Tempel, ja, und der
Rauch der Lampen: der Ehren, bedeckt sie mit seinem Ruß; aber das Licht dringt
nicht in sie hinein; alle Leidenschaften nisten sich in ihnen ein wie Vögel
und Katzen; doch keine Begeisterung für ihre Aufgabe entzündet in ihnen die
mystische Unruhe nach Gott. Sie weisen die Liebe ab. Das Feuer der Liebe
entzündet sie nicht, so wie die Liebe sie nicht mit ihrem herrlichen Goldglanz
umkleidet; die doppelte Liebe in Form und Ursprung: Liebe zu Gott und dem
Nächsten die Form; Liebe zu Gott und dem Menschen die Quelle. Denn Gott
entfernt sich vom Menschen, der nicht liebt, und die Quelle versiegt; und es
entfernt sich der Mensch vom bösen Menschen, und somit versiegt auch die
zweite Quelle. Alles wird dem Menschen ohne Liebe von dem, der die Liebe ist,
genommen. Sie lassen sich kaufen für verfluchtes Geld, und sie lassen sich
dorthin bringen, wo der Nutzen und die Macht sie haben wollen.
Nein! Nein, das ist nicht
erlaubt! Es gibt keine Münze, mit der man das Gewissen kaufen kann, und
besonders nicht das der Priester und der Lehrer. Es ist nicht erlaubt, in
Dingen der Erde nachgiebig zu sein, wenn diese zu Handlungen verführen, die
gegen die von Gott festgelegte Ordnung verstoßen. Das ist geistige Impotenz,
und es steht geschrieben: "Der Eunuch kann nicht in die Versammlung des Herrn
eintreten." Wenn aber in der Natur Impotente nicht zum Volk Gottes gehören
können, kann dann der im Geiste Impotente ein Minister Gottes werden? In
Wahrheit sage ich euch, daß viele Priester und Lehrer jetzt von schuldhaftem
geistigen Eunuchentum befallen sind, denn sie sind verstümmelt in ihrer
geistigen Männlichkeit. Viele, allzuviele!
Überlegt! Beobachtet! Vergleicht!
Ihr werdet sehen, daß wir viele Idole haben und wenige Diener des Guten, das
Gott ist. Daher sind die Zufluchtsstädte keine Zufluchtsstätten mehr. Nichts
wird mehr geachtet in Israel, und die Heiligen sterben, da sie von den
Unheiligen gehaßt werden.
Aber ich lade euch ein: "Kommt!"
Ich rufe euch im Namen eures Johannes, der schmachtet, weil er heilig war; der
bestraft wird, weil er mein Vorläufer ist und versucht hat, den Weg des Lammes
vom Schmutz zu säubern.
Kommt, um Gott zu dienen! Die
Zeit ist nahe! Seid nicht unvorbereitet für die Erlösung. Macht, daß der Regen
auf das besäte Feld falle. Sonst ist er umsonst vergossen worden. Ihr, ihr von
Hebron, an der Spitze müßt ihr stehen! Habt ihr nicht mit Zacharias und
Elisabeth gelebt? Diese Heiligen haben vom Himmel den Johannes verdient, und
hier hat Johannes den Wohlgeruch der Gnade mit der wahren Reinheit seiner
Kindheit verbreitet, und aus seiner Wüste hat er euch den Verderben
verhindernden Weihrauch seiner Gnade gesandt, die zum Wunder der Buße geworden
ist. Enttäuscht euren Johannes nicht! Er hat die Nächstenliebe auf eine fast
göttliche Stufe gebracht, indem er den letzten Bewohner der Wüste, wie
152
euch, seine Mitbürger, liebt.
Gewiß erfleht er für euch das Heil. Und das Heil besteht darin, der Stimme des
Herrn zu folgen und an sein Wort zu glauben. Kommt zahlreich aus dieser
Priesterstadt zum Dienst des Herrn! Ich gehe vorüber und rufe euch. Steht den
Dirnen nicht nach, denen ein Wort der Barmherzigkeit genügt, um den bisherigen
Weg zu verlassen und auf den Weg des Guten zu kommen.
Bei meiner Ankunft bin ich
gefragt worden: "Aber hegst du uns gegenüber keinen Groll?" Groll? O nein!
Liebe habe ich für euch! Und ich habe die Hoffnung, euch in den Reihen meines
Volkes zu sehen; des Volkes, das ich im neuen Exodus zu Gott führe, zum wahren
Land der Verheißung: zum Reich Gottes durch das Rote Meer der Sinne und durch
die Wüste der Sünde, frei von jeder Sklaverei, zum ewigen Land voller
Herrlichkeit und Frieden... Kommt! Es ist die Liebe, die vorüberzieht! Wer
will, kann ihr folgen; denn um von ihr angenommen zu werden, ist nur der gute
Wille nötig.»
Jesus hat in einem unerwarteten
Schweigen geendet. Viele scheinen die gehörten Worte abzuwägen, durchzudenken
und zu vergleichen.
Während dies geschieht und Jesus
sich müde und erhitzt niedergesetzt hat und sich mit Johannes und Judas
unterhält, ertönt ein Geschrei jenseits der Umzäunung des Gartens. Wirre
Schreie erst, und dann ganz klar: «Ist er der Messias? Ist er da?» Und nachdem
dies bestätigt worden ist, wird ein Krüppel herangeführt, der wie ein S
aussieht, so verwachsen ist er.
«Oh, es ist Masala!»
«Aber der ist doch zu sehr
verkrüppelt; was kann er noch erhoffen?»
«Seine Mutter, die Unglückliche,
ist auch da!»
«Meister, der Mann hat diese Frau
verstoßen wegen dieser Mißgeburt; sie lebt hier von Almosen. Aber jetzt ist
sie alt und wird nicht mehr lange leben ...»
Eine Mißgeburt, wahrlich! Sie ist
bei Jesus angelangt. Der Krüppel kann Jesus nicht einmal ins Gesicht sehen, so
sehr ist er verkrümmt. Er gleicht der Karikatur eines Menschenaffen oder einem
vermenschlichten Kamel. Die Mutter, alt und arm, sagt kein Wort, sie seufzt
nur: «Herr, Herr... ich glaube ...»
Jesus legt seine Hände auf die
schiefen Schultern des Mannes, der ihm nur bis zur Taille reicht, hebt sein
Antlitz zum Himmel und ruft aus: «Steh auf und wandle auf dem Weg des Herrn!»
Der Mann schüttelt sich und richtet sich auf wie ein normaler Mensch. Die
Bewegung erfolgt so plötzlich, daß man meint, die Feder, die ihn in diese
abnormale Position gezwungen hat, sei zerbrochen. Er reicht nun Jesus bis an
die Schultern, schaut ihn an und sinkt zusammen mit der Mutter auf die Knie.
Sie küssen die Füße des Retters.
Was jetzt unter dem Volk
geschieht, ist unbeschreiblich. Allem
153
Widerstand zum Trotz wird Jesus
gezwungen, in Hebron Aufenthalt zu nehmen; denn das Volk schickt sich an, alle
Ausgänge zu besetzen, um sein Weggehen zu verhindern.
So begibt sich Jesus in das Haus
des alten Synagogenvorstehers, der seit dem letzen Jahr völlig verändert ist.
253. IN JUTTA; PREDIGT IM HAUS
ISAAKS
Ganz Jutta ist Jesus
entgegengekommen mit Feld- und Waldblumen seiner Hügel und den Frühgemüsen
seiner Kulturen, mit dem Lächeln seiner Kinder und den Segenswünschen seiner
Bewohner. Bevor Jesus den Fuß in die Ortschaft setzen kann, ist er schon von
diesen Guten umringt, die von den vorausgesandten Judas Iskariot und Johannes
benachrichtigt worden und herbeigeeilt sind mit allem, was ihnen am
geeignetsten schien, um den Erlöser zu ehren, und vor allem mit ihrer Liebe.
Jesus kann nichts anderes tun,
als dieser Menge von Erwachsenen und Kindern mit Wort und Geste den Segen zu
erteilen; dieser Menge, die sich an und um ihn drängt, ihm das Gewand und die
Hände küßt und Säuglinge auf die Arme legt, damit er sie mit seinem Kuß segne.
Die erste, die dies tut, ist Sara, die ihm ein prächtiges Kind von ungefähr
zehn Monaten reicht, das von jetzt an Jesai heißt.
Die Liebe hindert Jesus am
Weitergehen, denn sie ist so überwältigend wie eine hochgehende Woge. Ich
glaube, Jesus wird mehr von dieser Woge als von den eigenen Füßen getragen,
und sein Herz ist hochgestimmt in der Freude, die ihm diese Liebe schenkt.
Sein Antlitz leuchtet wie in den Augenblicken der lebhaften Freude als
Gottmensch. Es ist nicht der mächtige Ausdruck mit dem magnetischen Blick der
Stunden der Wunder, nicht das majestätische Antlitz, das er zeigt, wenn er
seine beständige Vereinigung mit dem Vater offenbart. Es ist auch nicht das
strenge Antlitz, das er hat, wenn er eine Schuld tadelt: alles Reflexe
verschiedener Lichter. Dies aber ist das Leuchten der Stunden der Entspannung
seines ganzen "ICHS", das von so vielen Seiten angegriffen und gezwungen wird,
jede kleinste Geste, jedes Wort, von ihm selbst oder von anderen, zu
überwachen; es wird verwickelt in die Umtriebe der Welt, die wie eine
bösartige Spinne ihre satanischen Fäden um den göttlichen Schmetterling, den
Gottmensch, spinnt und hofft, ihn dadurch am Flug zu hindern und den Geist zu
lähmen, damit er die Welt nicht rette; sie hofft, seine Worte verstümmeln zu
können, damit er die sündhafte Unwissenheit der Erde nicht belehre; die hofft,
ihm die Hände zu binden, damit diese Hände des Ewigen Priesters die Menschen
nicht heiligen, die vom Satan und vom Fleisch verdorben worden sind; die ihm
die Augen verschleiern möchten,
154
damit die Vollkommenheit seines
Blickes – der ein Magnet, Verzeihung, Liebe und bezwingend ist – der mit jedem
nicht vollkommen satanischen Widerstand fertig wird, die Herzen nicht an sich
ziehe.
Oh, steht es nicht immer noch so
um Christus durch das Wirken der Feinde Christi? Immer noch versuchen
Wissenschaft und Häresie, Haß und Neid und die aus derselben Menschheit
geborenen Feinde der Menschheit, wie vergiftete Zweige einer gesunden Pflanze,
alles, um die Menschheit zu vernichten; diese Menschheit, die sie noch mehr
hassen als Christus; denn sie hassen sie konkret, indem sie alles unternehmen,
um sie durch die Entchristlichung ihrer Freude zu berauben, da sie Christus
nichts nehmen können, denn er ist Gott, und sie sind nur Staub.
Ja, sie tun es! Aber Jesus zieht
sich in die treuen Herzen zurück, wacht von dort aus über sie und spricht zu
ihnen. Von dort aus segnet er die Menschheit, und dann... dann gibt er sich
diesen Herzen, und sie... und sie berühren den Himmel mit seiner Seligkeit,
hierbleibend, aber brennend, bis ihr ganzes Sein von einer wunderbaren Unruhe
erfüllt ist: in den Sinnen und den Organen, in den Gefühlen und den Gedanken
und endlich im Geist... Tränen und Lächeln, Seufzer, Gesang und Erschöpfung;
gleichzeitig sind die dringenden Notwendigkeiten des Lebens unsere Begleiter
oder vielmehr unser Sein selbst; denn wie die Knochen im Fleisch, die Venen
und die Nerven unter der Haut sind, und alles zusammen den Menschen bildet, so
sind auch die Dinge, die sich an Jesus entzündet haben und geschenkt wurden,
in uns, in unserer armseligen Menschlichkeit. Was sind wir in jenen Momenten,
die nicht ewig dauern können, denn sollten sie mehr als einen Augenblick
dauern, würde man verbrannt und vernichtet sterben? Wir sind keine Menschen
mehr. Wir sind nicht mehr die mit Vernunft begabten Tiere, die auf Erden
leben. Wir sind, wir sind: oh, Herr! Laß es mich einmal sagen, nicht aus
Stolz, sondern um deine Herrlichkeit zu rühmen; denn dein Blick verbrennt mich
und versetzt mich in Verzückung... Wir sind dann Seraphim. Und es wundert
mich, daß keine Flammen aus uns kommen, spürbar für die Menschen und für die
Materie, wie das bei den Erscheinungen der Verdammten der Fall ist. Denn, wenn
es wahr ist, daß das höllische Feuer so ist, daß ein einziger von einem
Verdammten ausgelöster Reflex genügt, um Holz zum Brennen und Metalle zum
Schmelzen zu bringen: was ist dann dein Feuer, o Gott, der du alles hast, was
unendlich und vollkommen ist?
Nein, man stirbt nicht am Fieber,
man verbrennt nicht an ihm und man wird nicht vom Fieber der Übel des
Fleisches verzehrt. Du bist das Fieber in uns, Liebe! Und an ihr verbrennt
man, stirbt man, verzehrt man sich, und in ihr zerreißen die Fasern des
Herzens, das so viel nicht mehr aushalten kann. Ich habe mich schlecht
ausgedrückt; denn die Liebe ist Delirium, die Liebe ist eine Sturzflut, die
Deiche bricht und alles überschwemmt, was nicht sie ist; Liebe ist, seinen
Geist anfüllen mit wahren Gefühlen, die alle da sind; denn die Hand ist nicht
schnell genug, das vom Herzen empfundene Gefühl in Gedanken niederzuschreiben.
Es ist nicht wahr, daß man stirbt. Man lebt. In einem verzehnfachten Leben.
Mit einem verdoppelten Leben als Mensch und als Seliger: das Leben der Erde
und das des Himmels. Man erreicht und überhöht, oh, dessen bin ich sicher, das
Leben ohne Schaden, ohne Verminderung noch Begrenzung; denn Du, Vater, Sohn
und Heiliger Geist, du, Gott, Schöpfer und Dreieiniger, hast Adam das Leben
gegeben als Präludium für das Leben nach der Aufnahme durch dich in den
Himmel, nach einem friedvollen Übergang von dem irdischen Paradies zum
himmlischen und einem Sprung in die liebenden Arme der Engel; so wie es der
süße Schlummer und die süße Auffahrt Marias in den Himmel war, um zu dir zu
gelangen, zu dir, zu dir, zu dir!
Man lebt das wahre Leben. Dann
findet man sich wieder hier, und, wie es mir geschehen ist, man staunt, man
schämt sich, sich mit soviel anderem beschäftigt zu haben und man sagt: «Herr,
ich bin nicht würdig. Verzeih, Herr!» Man klopft sich an die Brust voller
Schrecken, eine Hochmutssünde begangen zu haben; und man senkt einen dichteren
Schleier über das Leuchten, das, wenn es aus Mitleid mit unserer Begrenztheit
nicht mit einer
155
außergewöhnlichen Flamme
weiterbrennt, im Mittelpunkt unseres Herzens weiterglüht, bereit, in einem
neuen Augenblick, einem von Gott gewollten Augenblick der Seligkeit, wieder
kräftig aufzuflackern. Man senkt den Schleier über das Heiligtum, in dem Gott
brennt mit seinem Feuer, seinem Licht, seiner Liebe... und erschöpft und doch
wiederbelebt, setzt man seinen Weg fort, wie... betrunken von einem starken
und kräftigenden Wein, der den Verstand nicht benebelt, sondern ihn davor
bewahrt, Augen und Gedanken zu haben für das, was nicht der Herr ist; du, mein
Jesus, Verbindungsglied zwischen unserem Elend und der Gottheit, Mittler der
Erlösung von unserer Schuld, Schöpfer der Seligkeit für unsere Seele, du,
Sohn, der mit den durchbohrten Händen unsere Hände in die geistigen Hände des
Vaters und des Heiligen Geistes legt, damit wir in euch seien, jetzt und für
immer. Amen.
Aber wohin bin ich gegangen, als
Jesus mich aufflammen läßt und die Bewohner von Jutta mit seinem Blick der
Liebe entzündet? Sie werden bemerkt haben, daß ich nicht mehr oder nur selten
von mir rede. Wieviel Dinge könnte ich sagen! Aber körperliche Müdigkeit und
Schwäche, die mich sofort nach den Diktaten befallen, und geistige Scham, die
immer stärker wird, je mehr ich voranschreite, überzeugen, ja, verpflichten
mich zu schweigen. Aber heute... bin ich zu hoch gestiegen, und man weiß, daß
die Stratosphärenluft die Kontrolle verlieren läßt... Und ich bin weit über
die Stratosphäre hinausgegangen, und da konnte ich mich nicht mehr
beherrschen... Und dann glaube ich, daß wir, wenn wir jedesmal schweigen
würden, wenn wir von diesem Wirbel der Liebe erfaßt werden, schließlich
explodierten wie Geschosse, oder besser, wie überhitzte, geschlossene
Kessel...
Verzeihen Sie mir, Pater. Nun
fahren wir fort.
Jesus betritt Jutta, wird zum
Marktplatz begleitet und von dort zum armen Häuschen, in dem Isaak dreißig
Jahre lang gelitten hat. Man erklärt ihm: «Hierher kommen wir, um von dir zu
reden und um zu beten, wie in einer wahren, wirklichen Synagoge. Denn hier
begann unsere Bekanntschaft, und hier riefen dich die Gebete eines Heiligen zu
uns. Tritt ein! Schau, wie wir es eingerichtet haben.»
Das Häuschen, das vor einem Jahre
noch aus frei durchlöcherten Zimmern bestand (im ersten bettelte der kranke
Isaak, das zweite war ein Ablageraum, und das dritte eine Küche, die zum Hof
führte), ist nun in einen einzigen Raum verwandelt worden, in dem Bänke stehen
für die Leute, die hier zusammenkommen. In einer Hütte im Hof sind die wenigen
Einrichtungsgegenstände Isaaks wie Reliquien aufgestellt; die Ehrfurcht der
Bewohner von Jutta hat den Hof zu einem etwas weniger traurigen Ort gemacht.
Schlinggewächse bilden den Anfang einer Pergola; sie winden sich an Seilen,
die wie ein Netz gespannt sind, bis in die Höhe des niedrigen Daches hinauf.
Jesus lobt sie und sagt: «Hier
wollen wir bleiben. Ich bitte euch, nur die Frauen und das Kind zu
beherbergen.»
«Oh, Meister, das soll niemals
geschehen! Wir kommen mit dir hierher, und du wirst zu uns sprechen; aber du
und die Deinen, ihr alle seid unsere Gäste! Schenk uns die Gnade, dich und die
Diener Gottes aufnehmen zu können. Es ist nur bedauerlich, daß es ihrer nicht
so viele sind, wie Häuser zur Verfügung stehen...»
Jesus gibt nach und verläßt das
Häuschen, um sich zum Haus der Sara
156
zu begeben, die an niemand ihr
Recht, Jesus und den Seinen eine Mahlzeit anzubieten, abgibt...
.. . Jesus spricht im Haus
Isaaks. Die Leute füllen den Raum, den Hof und benötigen auch noch den Platz;
und, um von allen verstanden zu werden, stellt sich Jesus in die Mitte des
Raumes, so daß seine Stimme auch im Hof und auf dem Platz vernommen wird.
Es muß sich um ein Thema handeln,
das aufgrund vorhergegangener Fragen oder Vorkommnisse bereits erörtert worden
ist. Jesus sagt: «... Aber zweifelt nicht daran. Wie Jeremias sagt, werden sie
selbst erfahren, wie bitter und schmerzvoll es ist, den Herrn verlassen zu
haben. Für gewisse Verbrechen, meine Freunde, gibt es kein Nitrat oder Borit,
die fähig sind, das Mal auszumerzen. Nicht einmal das höllische Feuer löscht
dieses Zeichen aus. Es ist unzerstörbar.
Auch hier muß man die Richtigkeit
der Worte von Jeremias anerkennen. Unsere Großen Israels scheinen wirklich die
wilden Esel zu sein, von denen der Prophet spricht. Verwahrloste in der Wüste
ihres Herzens; denn, glaubt es mir, solange jemand mit Gott ist – auch wenn er
arm wie Job, allein und nackt ist – ist er nie allein, arm und entblößt, nie
in der Wüste. Doch sie haben Gott aus ihren Herzen entfernt und befinden sich
daher in einer öden Wüste. Wie wilde Eselinnen wittern sie im Wind den Geruch
der Esel; was hier in unserem Fall, wegen der Begehrtheit Macht, Geld und
außerdem mit Recht Unzucht heißt: deren Geruch laufen sie nach bis zum
Verbrechen. Ja, sie folgen ihm und werden ihm mehr und mehr folgen. Sie wissen
nicht, daß nicht ihr Fuß, sondern ihr Herz nackt ist in den Augen Gottes, der
ihr Verbrechen bestrafen wird. Wie werden Könige und Fürsten, Priester und
Schriftgelehrte überrascht sein, die in Wahrheit zu dem, was nichts ist, oder
schlimmer noch, was Sünde ist, gesagt haben und sagen: "Du bist mein Vater. Du
hast mich erschaffen!"
Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch, daß Moses im Zorn die Gesetzestafeln zerschlug, als er das Volk
Götzendienst treiben sah, und dann auf den Berg stieg, um zu beten, anzubeten;
und er wurde erhört. So geht es seit Jahrhunderten. Aber noch ist er nicht
verschwunden und er wird auch nicht verschwinden, sondern wie Hefe im Mehl
aufgehen: der Götzendienst in den Herzen der Menschen. Fast jeder Mensch hat
sein eigenes goldenes Kalb. Die Erde ist eine Wildnis von Götzenbildern, weil
jedes Herz ein Altar ist, auf dem nur selten Gott ist. Wer nicht eine böse
bestimmte Leidenschaft hat, hat eine andere. Wer nicht die eine Begierde hat,
folgt einer mit anderem Namen. Wer nicht alles nur des Geldes wegen tut, tut
alles für seine gesellschaftliche Stellung. Wer nicht ganz für das Fleisch
lebt, lebt ganz für den Egoismus. Wie viele "Ich" werden wie goldene Kälber in
den Herzen angebetet! Der Tag wird kommen, an dem sie erschüttert zum Herrn
rufen und die Antwort erhalten: "Wende dich an deine Götter, ich kenne dich
nicht!" Ich kenne dich nicht! Schreckliches
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Wort, wenn es von Gott zu einem
Menschen gesprochen wird! Gott hat das Menschengeschlecht erschaffen und kennt
jeden einzelnen Menschen. Wenn er daher sagt: "Ich kenne dich nicht" ' dann
ist dies ein Zeichen, daß er kraft seines Willens diesen Menschen in seinem
Gedächtnis ausgelöscht hat. Ich kenne dich nicht! Ist Gott mit diesem Urteil
zu streng? Nein! Der Mensch hat zum Himmel geschrien: "Ich kenne dich nicht",
und der Himmel hat dem Menschen geantwortet: "Ich kenne dich nicht." Getreu
wie ein Echo...
Erwägt doch: der Mensch ist
verpflichtet, Gott zu erkennen aus Dankbarkeit und mit Rücksicht auf den
eigenen Verstand.
Aus Dankbarkeit: Gott hat den
Menschen erschaffen. Er hat ihm die unschätzbare Gabe des Lebens geschenkt und
ihn mit der unermeßlichen Gabe der Gnade versehen. Wenn diese durch eigene
Schuld verlorengegangen ist, dann hört der Mensch in sich das große
Versprechen: "Ich will dir die Gnade wieder schenken." Gott, der Beleidigte,
ist es, der so zum Beleidiger spricht, als ob er, Gott, der Schuldige und
verpflichtet wäre, wiedergutzumachen. Gott hält sein Versprechen. Ich bin
hier, um den Menschen die Gnade wieder zu schenken. Gott begnügt sich nicht
damit, nur das Übernatürliche zu geben; er beugt seine geistige Wesensheit, um
für die bedrückenden Bedürfnisse des Fleisches und Blutes des Menschen zu
sorgen, und gibt Sonnenwärme, Erquickung des Wassers, des Getreides, der
Reben, der verschiedensten Früchte und der verschiedenartigsten Tiere. So hat
der Mensch von Gott alle Mittel zum Leben. Er ist der Wohltäter. Man muß ihm
dankbar dafür sein und ihm diese Dankbarkeit zeigen mit der Bemühung, ihn zu
erkennen.
Rücksicht auf den eigenen
Verstand: Der Irre und der Schwachsinnige sind ihren Betreuern nicht dankbar,
denn sie verstehen den wahren Wert der Pflege nicht und hassen den, der sie
wäscht und füttert, sie führt oder zu Bett bringt, sie überwacht und vor
Gefahren hütet; sie hassen ihn, weil sie aufgrund ihrer Geisteskrankheit die
Pflege mit Quälerei verwechseln. Der Mensch, der gegen Gott fehlt, entehrt
sich selbst, weil er mit Verstand begabt ist. Nur die Schwachsinnigen oder die
Irren sind unfähig, den Vater vom Fremden, den Wohltäter vom Feind zu
unterscheiden. Der intelligente Mensch aber erkennt seinen Vater und seinen
Wohltäter; er freut sich, ihn immer besser kennenzulernen, auch in Dingen, die
er nicht kennt, da sie vielleicht geschehen sind, bevor er geboren wurde oder
bevor er vom Vater oder vom Wohltäter beschenkt worden ist. So muß man es auch
mit dem Herrn halten: beweisen, daß man Verstand hat und kein Tier ist. Aber
viele in Israel gleichen den Irren, die den Vater und den Wohltäter nicht
erkennen.
Jeremias fragt sich: "Kann jemals
eine Jungfrau ihr Geschmeide vergessen und eine Braut ihren Gürtel?" O ja! In
Israel gibt es viele dieser irren Jungfrauen, dieser schamlosen Bräute, die
das Geschmeide und den
158
ehrbaren Gürtel vergessen, um
sich den Tand der Dirnen anzuziehen; es geschieht in einem immer größeren
Maße, je höher man in den Klassen steigt, die Vorbild für das Volk sein
sollten! Der Tadel Gottes gilt ihnen, der Schmerz und die Tränen Gottes:
"Warum strengst du dich an, deinen Wandel als gut hinzustellen, um Liebe zu
suchen, du, der du die Bosheit lehrst und dessen Gewandesränder Blutspuren der
Armen und Unschuldigen aufweisen?"
Freunde, die Entfernung kann
etwas Gutes und etwas Böses bedeuten. Sehr weit vom Ort entfernt zu sein, wo
ich oft rede, ist ein Nachteil, der hindert, die Worte des Lebens zu
vernehmen. Ihr beklagt euch deswegen. Es ist wahr. Aber die Entfernung hat
auch etwas Gutes an sich, denn sie hält euch fern von Orten, an welchen die
Sünde kocht und das Verderben gärt und Fallen gestellt werden, mir zu schaden,
mich in meiner Arbeit zu stören und in die Herzen Zweifel und Lügen über mich
zu legen.
Darum ist es mir lieber, euch
fern von Verdorbenen zu wissen. Ich werde sorgen für eure Bildung. Ihr seht,
Gott hat schon vorgesorgt, bevor wir uns kennengelernt und deswegen geliebt
haben. Ich war euch bekannt, bevor wir uns gesehen haben. Isaak ist mein Bote
gewesen. Ich werde viele Isaak senden, um euch meine Botschaft verkünden zu
lassen. Ihr müßt übrigens wissen, daß Gott überall allein mit der Seele des
Menschen sprechen und sie in seiner Lehre heranbilden kann.
Fürchtet nicht, daß das
Alleinsein euch in Irrtümer führe! Nein! Wenn ihr es nicht wollt, werdet ihr
dem Herrn und seinem Christus nicht untreu. Übrigens, wer absolut nicht fern
vom Messias sein kann, der wisse, daß der Messias ihm Herz und Arme öffnet und
sagt: "Kommt!" Kommt ihr alle, die ihr kommen wollt. Bleibt zurück, ihr, die
ihr zurückbleiben wollt. Aber predigt Christus, die einen wie auch die anderen
durch ein reines, ehrbares Leben. Predigt ihn gegen die Ehrlosigkeit, die sich
in zu vielen Herzen einnistet. Predigt ihn gegen die Leichtfertigkeit der
Unzähligen, die nicht treu bleiben können; die ihren Schmuck und ihren Gürtel
vergessen als Seelen, die zur Hochzeit mit Christus berufen sind. Glücklich
habt ihr gesagt: "Seit du zu uns gekommen bist, haben wir keine Kranken und
Toten mehr. Dein Segen hat uns beschützt." Ja, die Gesundheit ist eine große
Sache. Aber seht zu, daß mein jetziges Kommen euch alle gesunden Geistes
macht, für immer und in allem! Daher segne ich euch und gebe euch meinen
Frieden, euch, euren Kindern, den Feldern, den Häusern, den Ernten, den
Herden, den Obstbäumen. Bedient euch ihrer in Heiligkeit; lebt nicht für sie,
sondern durch sie; gebt den Überfluß den Bedürftigen, um damit ein volles Maß
des Segens eures Vaters und einen Platz im Himmel zu erwerben. Geht! Ich will
noch bleiben, um zu beten ...»
159
254. IN KERIOTH; JESUS SPRICHT IN
DER SYNAGOGE
Das Innere der Synagoge von
Kerioth. An derselben Stelle, wo Saul tot hingelegt wurde, nachdem er die
künftige Herrlichkeit des Christus gesehen hatte. Und an dieser Stelle, in
einer geschlossenen Gruppe, die von Jesus und Judas überragt wird, den zwei
größten, beide leuchtenden Gesichtes, der eine aufgrund seiner Liebe, der
andere in der Freude darüber, daß seine Stadt dem Meister noch immer treu ist
und ihm mit all dieser Aufmachung Ehre erweist, befinden sich die Vornehmen
von Kerioth und dann, etwas weiter von Jesus entfernt, aber doch dicht
aneinander gedrängt wie Samen in einem Säckchen, die Bürger; sie füllen die
Synagoge, in der man trotz der geöffneten Türen nicht atmen kann. Um den
Meister zu ehren und um ihn zu hören, geraten sie in ein schönes Durcheinander
und machen einen Lärm, in dem man nichts versteht.
Jesus erträgt und schweigt. Die
anderen aber werden unruhig, fuchteln mit den Armen und schreien: «Ruhe!» Der
Ruf verliert sich im Geschrei wie ein Hilferuf am Strand während eines
Sturmes.
Judas macht keine langen
Geschichten. Er steigt auf einen hohen Schemel und klopft an die Lampen, die
wie Trauben herunterhängen. Das hohle Metall tönt, und die Ketten klirren wie
Musikinstrumente. Die Leute beruhigen sich, und man kann endlich Jesus reden
hören.
Er sagt zum Synagogenvorsteher:
«Gib mir die zehnte Rolle aus dem Regal.» Als er sie erhält, löst er das Band
und gibt sie dem Synagogenvorsteher zurück und sagt: «Lies das 4. Kapitel des
II. Buches der Makkabäer.»
Der Synagogenvorsteher liest
gehorsam. Und die Wechselfälle des Onias und die Irrtümer des Jason und die
Verrätereien und Diebereien des Menelaus ziehen im Geist der Anwesenden
vorüber. Das Kapitel ist beendet. Der Synagogenvorsteher blickt auf Jesus, der
aufmerksam zugehört hat.
Jesus gibt ein Zeichen, daß
soweit die Lesung genügt und wendet sich zum Volk: «In der Stadt meines lieben
Jüngers will ich nicht die üblichen Worte der Belehrung benützen. Wir werden
einige Tage hier verweilen, und ich möchte, daß auch er zu euch spricht. Denn
von nun an soll ein direkter, fortwährender Kontakt zwischen den Aposteln und
dem Volk stattfinden. Das ist im oberen Galiläa beschlossen worden, und dort
hat es bereits den ersten Erfolg gebracht. Aber die Demut meiner Jünger ließ
sie dann in den Schatten zurücktreten, denn sie fürchten, unfähig und unwürdig
zu sein, meinen Platz einzunehmen. Aber sie müssen es tun, und sie werden es
gut machen und so ihrem Meister helfen. Hier also soll die wahre apostolische
Verkündigung ihren Anfang nehmen, und die galiläisch-phönizischen Grenzen mit
den Gebieten von Judäa, den südlichsten, die an die Länder der Sonne und des
Sandes grenzen, in einer einzigen
160
Liebe verbinden; denn der Meister
genügt den Bedürfnissen der Scharen nicht mehr. Und es ist gerecht, daß die
Jungadler ihren Horst verlassen und die ersten Flugversuche machen, solange
die Sonne noch mit ihnen ist und starke Flügel sie beschwingen.
Ich werde also in diesen Tagen
euer Freund und euere Ermutigung sein. Sie sind das Wort und streuen den Samen
aus, den ich ihnen gegeben habe. Ihr werdet also nicht Worte allgemeiner
Belehrung von mir erhalten; ich will euch etwas Besonderes schenken. Eine
Prophezeiung! Erinnert euch in künftigen Zeiten daran, wenn das schrecklichste
Ereignis der Menschheit die Sonne verfinstert, und die Herzen in der
Finsternis einem irrigen Urteil verfallen könnten. Ich will nicht, daß ihr zu
einem Irrtum verleitet werdet, die ihr vom ersten Augenblick an gut zu mir
gewesen seid. Ich will nicht, daß die Welt sagen kann: "Kerioth war Christus
feindlich gesinnt." Ich bin gerecht. Ich kann nicht zulassen, daß die Kritik,
die für oder grollend und lieblos gegen mich spricht, euch aus verschiedenen
Gründen der Schuld mir gegenüber bezichtige. So wie man bei einer großen
Familie nicht gleiche Heiligkeit aller Kinder verlangen kann, so kann man dies
auch nicht von einer bevölkerten Stadt verlangen. Aber es wäre ungerecht, wenn
man wegen eines ungeratenen Kindes oder eines schlechten Bürgers sagt: "Die
ganze Familie oder die ganze Stadt ist ein Fluch."
Hört also zu, erinnert euch
daran, seid immer treu, und so wie ich euch liebe und euch vor einer
ungerechten Anklage verteidige, so sollt auch ihr die Unschuldigen lieben. Wer
auch immer sie sind. Wie auch ihre Verwandtschaftsbeziehung zu Schuldigen sein
möge. Nun hört! Es wird eine Zeit kommen, in der in Israel Verräter des
Schatzes und des Vaterlandes sich befinden, die in der Hoffnung, Freunde der
Ausländer zu werden, schlecht über den wahren Hohenpriester reden und ihn
anklagen, mit den Feinden Israels verbündet zu sein und die Kinder Gottes
schlecht zu behandeln. Und um dies zu erreichen, sind sie fähig, Verbrechen zu
begehen und die Verantwortung dafür auf den Unschuldigen zu schieben. Es wird
die Zeit kommen, da wiederum in Israel, mehr noch als zur Zeit des Onias, ein
Verbrecher behauptet, der Hohepriester zu sein, zu den Mächtigen in Israel
geht und sie mit Gold und, was noch niederträchtiger ist, mit lügenvollen
Worten bestechen will. Er wird die Wahrheit verdrehen und nicht gegen
Mißstände auftreten; vielmehr wird er seine unwürdigen Ziele verfolgen und
versuchen, die Sitten zu zerstören, um leichter die Seelen zu gewinnen, die
die Freundschaft Gottes nicht mehr besitzen; alles nur, um sein Ziel zu
erreichen. Und es wird ihm gelingen. Oh, gewiß! Denn wenn in demselben Gebäude
auf dem Berge Moriah nicht Arenen nach dem Vorbild Jasons sind, so sind sie in
Wirklichkeit in den Herzen der Bewohner des Berges, die für die Freiheit
bereit sind, das zu verkaufen, was mehr als ein Landstück, sondern ihr eigenes
Gewissen ist. Die Früchte des alten Irrtums treten dann zutage, und wer Augen
hat zu sehen, wird
161
erkennen, daß dies gerade dort
geschieht, wo Liebe, Reinheit, Gerechtigkeit, Güte und heilige Religion
herrschen müßten. Aber wenn jene Früchte schon erzittern lassen, so werden die
Früchte, die aus ihren Samen hervorgehen, nicht nur schreckenerregend sein,
sondern auch den göttlichen Fluch erregen.
Und nun die eigentliche
Prophezeiung. In Wahrheit sage ich euch, daß der Mann, der listig,
vertrauenerweckend und im Ablauf eines langen, hinterhältigen Spiels
angenommen worden ist, den Hohenpriester, den wahren Priester, für Geld den
Feinden überliefern wird. Getäuscht durch Liebesbezeugungen und den Mördern
bezeichnet mit einer Liebesgeste wird der wahre Hohepriester, ohne jede
Berücksichtigung der Gerechtigkeit, getötet. Welche Anklage wird gegen
Christus erhoben – ich spreche von mir – um die Hinrichtung zu rechtfertigen?
Welches Los ist denen vorbehalten, die solches tun? Ein unmittelbares
Schicksal schrecklicher Gerechtigkeit. Ein Schicksal, das sich nicht
individuell, sondern kollektiv an den Komplizen des Verräters vollziehen wird.
Ein Schicksal, das entfernter und schrecklicher sein wird als das des
Menschen, den die Reue dazu treibt, seinen dämonisierten Geist mit einem
letzten Verbrechen gegen sich selbst zu krönen. Dieses Verbrechen ist in einem
Augenblick beendet. Diese letzte Strafe aber wird lang und schrecklich sein.
Ihr findet sie in den Worten: "... und von Zorn entbrannt, ließ er Andronikus
sofort den Purpurmantel wegnehmen, die Kleider herunterreißen und ihn durch
die Stadt führen bis zum Platz, wo er sich gegen Onias vergangen hatte" (2
Makk 4, 38).
Ja, die priesterliche Kaste wird
in den Söhnen bestraft werden, nicht nur in den Ausführenden. Und das Los der
Komplizen könnt ihr aus diesen Worten erfahren: "Die Stimme dieses Blutes
schreit von der Erde zu mir. Du sollst daher verflucht sein..." (Gen 4, 9).
Gott wird es zum ganzen Volk sagen, daß es das Geschenk des Himmels nicht mehr
zu bewahren verstand; denn, wenn es wahr ist, daß ich gekommen bin, um zu
erlösen, dann wehe jenen, die Mörder und nicht Erlöste sein werden in diesem
Volk, das als erste Erlösung mein Wort hat.
Ich habe gesprochen. Erinnert
euch dieser Worte! Wenn ihr hört, daß man sagt, ich sei ein Übeltäter, dann
entgegnet: "Nein. Er hat es gesagt. Das ist seine Prophezeiung, die sich
erfüllt, und er ist das für die Sünden der Welt getötete Opfer."»
Die Synagoge leert sich, und alle
gestikulieren und reden über die Weissagung und die Hochachtung, die Jesus
Judas erweist. Die Bewohner von Kerioth fühlen sich geehrt, weil der Messias
die Heimatstadt eines Apostels, und überdies die des Apostels von Kerioth für
den Beginn des apostolischen Wirkens und auch für das Geschenk der Weissagung
gewählt hat. Obwohl diese Prophezeiung traurigen Inhalts ist, ist es doch eine
große Ehre, sie erhalten zu haben und mit ihr die Worte der Liebe, die ihr
vorausgegangen sind...
162
In der Synagoge bleiben Jesus und
die Gruppe der Apostel. Sie gehen zusammen in das Gärtchen, das zwischen der
Synagoge und dem Haus des Synagogenvorstehers liegt. Judas hat sich
niedergesetzt und weint.
«Warum weinst du? Ich sehe keinen
Grund dafür...» sagt der andere Judas.
«Aber ja, fast möchte auch ich
weinen... Habt ihr gehört? Jetzt sollen wir reden ...» sagt Petrus.
«Nun, ein wenig haben wir es
schon auf dem Berg getan. Wir werden es immer besser tun. Du und Johannes, ihr
seid sofort dazu fähig gewesen», sagt Jakobus des Zebedäus, um ihn zu
ermutigen.
«Ich bin am schlimmsten dran...
doch Gott wird mir helfen. Nicht wahr, Meister?» fragt Andreas.
Jesus, der in den Rollen liest,
die er mitgenommen hat, dreht sich um und fragt: «Was hast du gesagt?»
«Daß Gott mir helfen wird, wenn
ich reden soll. Ich werde versuchen, deine Worte so gut wie möglich zu
wiederholen. Aber mein Bruder hat Angst, und Judas weint.»
«Du weinst? Warum?» fragt Jesus.
«Weil ich wirklich gesündigt
habe. Andreas und Thomas können es bezeugen. Ich habe dich verleumdet, und du
zeichnest mich aus, nennst mich "deinen lieben Jünger" und willst mich als
Lehrer hier haben... Wieviel Liebe!»
«Aber hast du denn nicht gewußt,
daß ich dich liebe?»
«Ja, aber... Danke, Meister. Ich
werde nie mehr murren, denn ich bin wahrlich die Finsternis und du bist das
Licht!»
Der Synagogenvorsteher kehrt
zurück und lädt sie in sein Haus ein. Im Gehen sagt er: «Ich denke über deine
Worte nach. Wenn ich recht verstanden habe, hast du in Kerioth einen Liebling
gefunden, unseren Judas des Simon, und du prophezeist, daß du einen Unwürdigen
hier findest. Das betrübt mich. Wenigstens wird Judas ein Ausgleich für den
anderen sein ...»
«Mit meinem ganzen Sein», sagt
Judas, der sich wieder erholt hat.
Jesus sagt nichts; er betrachtet
seine Gesprächspartner, macht eine Geste und breitet die Arme, als wollte er
sagen: «So ist es!»
255. IM HAUS DES JUDAS VON
KERIOTH
Jesus ist gerade dabei, mit all
den Seinen im schönen Haus des Judas zu Tisch zu gehen. Er sagt zur Mutter des
Judas, die in ihr Landhaus gekommen ist, um den Meister würdig zu beherbergen:
«Nein, auch du, Mutter, sollst mit uns zusammen sein. Wir sind hier eine
Familie. Es ist nicht das
163
einfache, kalte Mahl, das
zufälligen Gästen angeboten wird. Ich habe dir einen Sohn genommen, und ich
wünsche, daß du mich wie einen Sohn annimmst, so wie ich dich wie eine Mutter
betrachte; denn du bist dessen würdig. Nicht wahr, Freunde, so fühlen wir uns
wohler und wie zu Hause?»
Die Apostel und die beiden Marien
bestätigen es aufs wärmste. Und die Mutter des Judas, mit ihren stark
glänzenden Augen, muß sich zwischen ihren Sohn und den Meister setzen, dem
gegenüber Margziam mit den beiden Frauen sitzt. Die Dienerin bringt die
Speisen, und Jesus opfert, segnet und teilt sie aus; denn darauf besteht die
Mutter des Judas. Er teilt aus, indem er jeweils bei ihr beginnt, was die Frau
immer mehr bewegt und Judas stolz macht und gleichzeitig nachdenklich stimmt.
Man spricht über verschiedene
Dinge, und Jesus versucht, die Mutter des Judas dafür zu interessieren und sie
mit den beiden Jüngerinnen bekanntzumachen. Margziam hilft ihm dabei; er
erklärt, daß er die Mutter des Judas sehr gern hat, «weil sie Maria heißt wie
alle guten Frauen.»
«Und die Frau, die uns am See
erwartet, die liebst du wohl nicht, du Schlingel?» fragt Petrus halb ernst.
«Oh, sehr, wenn sie gut ist.»
«Dessen kannst du sicher sein.
Alle sagen es, und auch ich muß es sagen; immer hat sie Geduld mit ihrer
Mutter und auch mit mir gezeigt; das besagt, daß sie gut ist. Aber sie heißt
nicht Maria, mein Sohn. Sie hat einen eigenartigen Namen; denn ihr Vater gab
ihr den Namen der Ware, die ihm zum Reichtum verholfen hat, und nannte sie
Porphyria. Der Purpur ist schön und kostbar. Meine Frau ist nicht schön; aber
sie ist kostbar wegen ihrer Güte. Ich liebe sie, denn sie ist sehr ruhig,
keusch und schweigsam: drei Tugenden, die nicht leicht zu finden sind! Ich
beobachtete sie schon, als sie noch ein kleines Mädchen war. Oft ging ich mit
Fischen nach Kapharnaum und fand sie bei den Netzen oder am Brunnen oder auch
im Hausgarten schweigsam bei der Arbeit; und sie war nicht ein
herumflatternder Schmetterling, der da- und dorthin fliegt; auch nicht eine
dumme Henne, die ihre Augen verdreht bei jedem Kikeriki des Hahnes. Sie hob
nie den Kopf, wenn sie Männerstimmen hörte, und als ich, in ihre Güte und ihre
herrlichen Zöpfe verliebt, und auch... und auch aus Mitleid mit ihrem
Sklavendasein in der Familie, meine ersten Grußworte an sie richtete – sie war
damals sechzehn Jahre alt – da hat sie kaum geantwortet, hat ihren Schleier
noch weiter heruntergezogen und ist ins Haus gegangen. Oh, es hat lange
gedauert, bis ich begriff, daß ich ihr nicht wie ein Bär erschien und mit
meiner Werbung Ernst machen konnte! ... Aber ich bereue es nicht. Ich hätte
die ganze Welt durchwandern können, ohne eine wie sie zu finden. Nicht wahr,
Meister, sie ist gut?»
«Sehr gut. Ich bin sicher, daß
Margziam sie lieben wird, auch wenn sie nicht Maria heißt. Nicht wahr,
Margziam?»
164
«Ja; sie wird "Mama" genannt; die
Mütter sind gut und müssen geliebt werden!»
Dann erzählt Judas, was er
tagsüber tat. Ich verstehe, daß er die Mutter über die Ankunft Jesu und der
Jünger unterrichtete. Darauf hat er auf den Feldern von Kerioth zu reden
begonnen, mit Andreas als Begleiter. Dann sagt er: «Morgen möchte ich, daß ihr
alle kommt. Ich will nicht allein glänzen. Wir wollen, soweit als möglich zu
zweit, jeweils ein Judäer und ein Galiläer, zusammen gehen. Ich zum Beispiel
mit Johannes und Simon mit Thomas. Wenn nur der andere Simon käme! Ihr – er
zeigt auf die Söhne des Alphäus – gehört zusammen. Ich habe allen, auch
solchen, die es nicht wissen wollten, mitgeteilt, daß ihr Vettern des Meisters
seid. Jedoch ihr beiden (er deutet auf Philippus und Bartholomäus) könnt
miteinander gehen. Ich habe gesagt, daß Nathanael Rabbi ist und zum Gefolge
Jesu gehört. Das macht Eindruck. So bleiben drei übrig. Sobald jedoch der
Zelote da ist, kann man ein Paar mehr bilden. Dann wechseln wir ab; denn ich
will, daß euch alle kennenlernen...» Judas ist voller Schwung. «Ich habe über
die Zehn Gebote gesprochen, Meister, und versucht, besonders jene Teile zu
erklären, gegen welche in diesem Gebiet am meisten gesündigt wird.»
«Sei nicht grob in deinen Worten,
ich bitte dich! Denke stets daran, daß man mit Sanftmut mehr erreicht als mit
Härte, und daß auch du ein Mensch bist. Darum prüfe dich und überlege, wie
leicht auch du fallen kannst und wie du dich aufregst, wenn du zu offen
getadelt wirst», sagt Jesus, während die Mutter des Judas das Haupt neigt und
errötet.
«Hab keine Angst, Meister. Ich
will mich bemühen, dich in allem nachzuahmen. Jedoch im Dorf, das wir von
dieser Tür aus sehen können (sie essen bei offenen Türen, und man sieht von
diesem oberen Raum aus eine schöne Landschaft), ist ein Kranker, der geheilt
werden möchte. Man kann ihn nicht hierher bringen. Würdest du mit mir kommen?»
«Morgen, Judas. Morgen früh, ganz
bestimmt! Wenn es noch andere Kranke gibt, so sagt es mir und führt mich zu
ihnen.»
«Willst du wirklich meiner Heimat
Wohltaten erweisen, Meister?»
«Ja, damit man nicht sagen kann,
daß ich ungerecht bin gegen jene, die mir nichts Böses angetan haben. Ich
wirke auch für Böse Gutes. Warum also nicht für Gute in Kerioth? Ich will ein
unauslöschbares Andenken an mich hinterlassen...»
«Aber wie? Werden wir nie mehr
nach Kerioth kommen?»
«Wir kommen wieder, aber ...»
«Da ist die Mutter, die Mutter
mit Simon!» zwitschert das Kind, das Maria und Simon die Treppe heraufkommen
sieht, die zur Terrasse führt, auf der sich der Saal befindet.
Alle stehen auf und gehen den
beiden entgegen. Man hört Ausrufe, Begrüßungen und Stühlerücken. Maria geht
direkt auf Jesus zu und grüßt
165
ihn, dann die Mutter von Judas,
die sich tief verneigt, während Maria sie aufrichtet und umarmt wie eine liebe
Freundin, die sich nach langer Abwesenheit wiedertreffen.
Sie gehen in den Saal zurück, und
Maria des Judas ordnet der Dienerin an, Speisen für die Neuangekommenen zu
bringen.
«Sieh, Sohn, der Gruß Elisas»,
sagt Maria und gibt Jesus eine kleine Rolle, die er öffnet und liest, worauf
er sagt: «Ich habe es gewußt. Ich war dessen sicher. Ich danke dir, Mutter.
Meinerseits und für Elisa. Du bist wirklich "das Heil der Kranken".»
«Ich? Du, Sohn, nicht ich.»
«Du, und du bist meine größte
Hilfe.» Dann wendet sich Jesus an die Apostel und die Jüngerinnen und sagt:
«Elisa schreibt: "Komm zurück, mein Friede. Ich will dich nicht nur lieben,
sondern dir auch dienen." Somit haben wir ein Geschöpf von der Angst und der
Traurigkeit befreit und eine Jüngerin gewonnen. Ja, wir werden zurückkehren.»
«Sie möchte auch die Jüngerinnen
kennenlernen. Sie macht langsam, aber sicher Fortschritte. Arme Teure! Von
Zeit zu Zeit wird sie noch von einer angstvollen Verwirrung erfaßt. Nicht
wahr, Simon? Eines Tages versuchte sie, mit mir auszugehen. Da begegnete sie
einem Freund ihres Daniel, und wir hatten große Mühe, sie wieder zu beruhigen.
Aber Simon ist so tüchtig! Er hat mir vorgeschlagen, Johanna zu rufen, da
Elisa den Wunsch äußerte, auszugehen; Bethsur aber ist voller Erinnerungen für
sie. So ist Simon gegangen Johanna zu holen, Sie war nach den Festtagen nach
Bether, zu ihren herrlichen Rosengärten in Judäa zurückgekehrt. Simon sagt,
daß es traumhaft schön gewesen sei, über die mit Rosenstöcken bedeckten Hügel
zu schreiten, und daß er das Gefühl hatte, im Paradies zu sein. Sie ist sofort
gekommen. Johanna möchte Elisa überzeugen, Bethsur zu verlassen und auf ihr
Schloß zu kommen. Es wird ihr gelingen, denn sie ist sanft wie eine Taube,
aber auch hart wie Granit in ihrem Wollen.»
«Wir werden bei der Rückkehr nach
Bethsur gehen und uns dann trennen. Die Jüngerinnen bleiben für einige Zeit
bei Elisa und Johanna. Wir gehen nach Judäa; und an Pfingsten treffen wir uns
in Jerusalem...»
Maria, die Hochheilige, und
Maria, die Mutter des Judas, sind beisammen. Nicht im Stadthaus, sondern im
Haus auf dem Land. Sie sind allein.
Die Apostel sind mit Jesus
auswärts, und die Jüngerinnen halten sich mit dem Kind im herrlichen
Obstgarten auf. Man hört ihre Stimmen und das Geräusch von Wäschestücken, die
auf die Mauern geschlagen werden. Vielleicht haben sie große Wäsche, während
das Kind spielt.
Die Mutter des Judas, die in
einer Ecke des halbdunklen Raumes neben Maria sitzt, sagt: «Diese Tage des
Friedens werden wie ein süßer Traum in mir bleiben. Zu kurz, zu kurz sind sie.
Ich verstehe, daß man nicht egoistisch sein darf, und ich verstehe, daß ihr zu
dieser armen Frau und zu
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vielen anderen Unglücklichen
gehen müßt. Ach, wenn ich nur könnte! Wenn ich die Zeit anhalten oder mit euch
gehen könnte! ... Aber ich kann nicht! Ich habe außer meinem Sohn keine
anderen Verwandten, und ich muß die Güter des Hauses hüten ...»
«Ich verstehe... Dich vom Sohn zu
trennen, ist ein Schmerz für dich. Wir Mütter möchten immer bei unseren
Kindern sein. Aber wir geben sie Ihm aus einem ganz bestimmten Grunde, so
verlieren wir sie nicht. Nicht einmal der Tod nimmt sie uns, wenn sie und wir
in den Augen Gottes im Stand der Gnade sind. Aber wir haben sie noch auf der
Erde, auch wenn der Wille Gottes sie uns von der Brust reißt, um sie der Welt
zu ihrem Wohl zu geben. Wir können sie immer erreichen, und auch das Echo
ihrer Werke ist wie eine Liebkosung für unser Herz; denn ihre Taten sind der
Wohlgeruch ihrer Seele.»
«Was bedeutet dein Sohn für dich,
Frau?» fragt Maria des Judas leise.
Maria, die Hochheilige, antwortet
bestimmt: «Er ist meine Freude!»
«Deine Freude! ...» Dann ein
Tränenausbruch, und die Mutter des Judas neigt sich nach vornüber, um die
Tränen zu verbergen. Sie berührt beinah mit der Stirn die Knie, so sehr neigt
sie sich vornüber.
«Warum weinst du, meine arme
Freundin? Warum? Sag es mir! Ich bin glücklich in meiner Mutterschaft, aber
ich kann auch die Mütter verstehen, die nicht glücklich sind ...»
«Ja, nicht glücklich... Ich
gehöre zu diesen. Dein Sohn ist deine Freude... Mein Sohn ist mein Schmerz. Er
ist es bisher gewesen. Nun, seit er bei deinem Sohn ist, betrübt er mich
weniger. Oh, unter all denen, die für dein heiliges Geschöpf beten, damit es
Wohlergehen und Erfolg erlebe, ist, außer dir, du Glückliche, niemand, der so
viel betet wie die Unglückliche, die mit dir spricht. Sag mir die Wahrheit:
was denkst du von meinem Sohn? Wir sind zwei Mütter, und nur Gott kann uns
hören. Wir reden von unseren Söhnen. Für dich ist es leicht, von deinem Sohn
zu sprechen. Aber ob mir dieses Gespräch Freude oder Schmerz bringt, es hat
gewiß eine Erleichterung bewirkt, mich ausgesprochen zu haben...
Die Frau von Bethsur ist beinahe
wahnsinnig geworden wegen des Todes ihrer Söhne, nicht wahr? Aber ich schwöre
dir, daß ich manchmal meinen Sohn betrachte und denke... er ist schön, gesund
und intelligent, aber nicht gut, nicht tugendhaft und nicht aufrichtigen
Herzens; ich zöge es in diesen Augenblicken vor, ihn als einen Toten beweinen
zu müssen, als ihn von Gott verflucht zu wissen! Sage mir, was denkst du über
meinen Sohn? Sei aufrichtig! Mehr als ein Jahr schon brennt mir diese Frage
auf dem Herzen. Aber wen kann ich fragen? Die Mitbürger? Sie wußten nicht
einmal, daß der Messias schon gekommen ist und daß Judas mit ihm gehen wollte.
Ich habe es gewußt. Er hatte es mir gesagt, als er nach Ostern hierher kam,
überheblich und gewalttätig wie immer, wenn er seine Launen hat, und immer
abfällig gegen den Rat seiner Mutter. Soll ich seine
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Freunde in Jerusalem fragen? Eine
heilige Klugheit und eine fromme Hoffnung halten mich zurück. Ich will denen,
die ich nicht liebe, da sie alles andere als heilig sind, nicht sagen: "Judas
folgt dem Messias." Ich hoffte, daß es sich um eine seiner üblichen,
kurzlebigen Launen handle, die wohl Tränen und Schmerz kosten, aber bald
vergehen. Die Liebe so mancher Mädchen hier oder anderswo hat er sich
gewonnen, und dann aber nie eines zur Frau genommen.
Weißt du, daß es Orte gibt, an
die er nicht mehr hinzugehen wagt, weil er einer gerechten Strafe
entgegenginge? Auch seine Zugehörigkeit zum Tempel war eine Laune. Er weiß
nicht, was er will. Sein Vater, Gott möge es ihm verzeihen, hat ihn verdorben.
Ich hatte in meinem Haus nie etwas zu sagen; ich konnte nur weinen und unter
Demütigungen aller Art versuchen, wiedergutzumachen. Als Johanna starb, wußte
ich, obgleich niemand davon gesprochen hat, daß sie aus Gram gestorben war,
nachdem sie ihre ganze Jugendzeit gewartet hatte, und Judas schließlich
erklärte, daß er nicht heiraten wolle; zur gleichen Zeit aber sandte er
Freunde nach Jerusalem, um eine reiche Frau mit Handelsverbindungen bis nach
Zypern um die Hand ihrer Tochter zu bitten. Ich habe mich als Mitschuldige
betrachtet. Nein! Nein, ich bin es nicht! Aber er hört nicht auf mich.
Im vergangenen Jahr, als der
Meister hier war, begriff ich, daß er alles wußte, und ich wollte mit ihm
reden. Aber es ist schmerzvoll für eine Mutter, sagen zu müssen: "Nimm dich
vor meinem Sohn in acht. Er ist ruhmsüchtig, hartherzig, lasterhaft, stolz und
wankelmütig." Ja, so ist er! Ich bete, daß dein Sohn, der so viele Wunder
wirkt, auch bei meinem Judas eines vollbringe... Aber du, sage mir: was denkst
du von ihm?»
Maria, die schweigend und mit
einem mitleidigen Gesichtsausdruck die mütterlichen Klagen angehört hat, kann
mit ihrer aufrichtigen Seele nicht lügen und sagt leise: «Arme Mutter! ... Was
ich denke? Ja, dein Sohn hat nicht die reine Seele von Johannes, noch die
Sanftmut von Andreas; er hat auch nicht die Stärke des Matthäus, der sich
ändern wollte und dem es auch gelungen ist. Judas ist... launenhaft. Ja, so
ist es! Aber wir wollen viel für ihn beten, ich und du. Weine nicht!
Vielleicht siehst du ihn in deiner Mutterliebe, die sich seiner gerne rühmen
würde, noch schlimmer als er ist ...»
«Nein, nein, ich sehe richtig und
habe große Angst.»
Das Zimmer ist voll von den
Klagen der Mutter von Judas; und in der Dämmerung leuchtet das Antlitz Marias,
das noch bleicher als sonst ist nach diesem mütterlichen Bekenntnis, das den
Verdacht der Mutter des Herrn bestätigt. Aber sie beherrscht sich. Sie zieht
die unglückliche Mutter an sich und liebkost sie, während diese, da nun alle
Deiche der Zurückhaltung gebrochen sind, verwirrt und atemlos von den
Lieblosigkeiten, Ansprüchen und Gewalttaten ihres Judas erzählt und schließt:
«Ich erröte seinetwegen, wenn dein Sohn mir sein Wohlwollen bekundet. Ich
bitte
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ihn nicht darum, aber ich bin
sicher, daß er es in seiner Güte tut, um Judas damit zu sagen: "Denk daran, so
behandelt man die Mutter." Jetzt ist er, wie es scheint, in sich gegangen...
Oh, wenn es nur wahr wäre! Hilf mir, hilf mir mit Gebet, du, die du heilig
bist, damit mein Sohn nicht der großen Gnade, die Gott ihm gewährt, unwürdig
werde. Wenn er mich nicht lieben will, wenn er mir, die ich ihn geboren und
erzogen habe, nicht dankbar ist, so spielt das keine Rolle. Aber daß er Jesus
liebt und ihm in Treue und Dankbarkeit dient! Wenn nicht, dann möge ihm Gott
sein Leben nehmen. Ich würde ihn lieber im Grab sehen... so würde er endlich
mein... denn seit er seinen Verstand zu gebrauchen versteht, habe ich wenig
von ihm gehabt. Besser tot, als ein schlechter Apostel! Kann ich so beten? Was
sagst du?»
«Bete zu Gott, daß er alles zum
Besseren wende. Weine nicht mehr. Ich habe Dirnen und Heiden zu Füßen meines
Sohnes gesehen, und mit diesen Zöllner und Sünder. Sie sind alle durch seine
Gnade zu Lämmern geworden. Hoffe, Maria, hoffe! Die Leiden der Mutter retten
die Söhne, weißt du das nicht?»
Mit dieser tröstlichen Frage ist
alles zu Ende.
256. DAS LAUNENHAFTE MÄDCHEN VON
BETHGINNA
Ich sehe weder die Rückkehr nach
Bethsur, noch die Rosenhügel von Bether, die ich so gern gesehen hätte. Jesus
ist allein mit den Aposteln. Auch Margziam, der sicherlich bei der Mutter
Gottes und den Jüngerinnen geblieben ist, fehlt. Die Gegend ist sehr gebirgig;
die dichten Pinienwälder verbreiten den balsamischen und belebenden Duft ihres
Harzes. Durch diese grünen Wälder wandert Jesus, mit dem Rücken nach Osten,
zusammen mit den Seinen. Ich höre, wie sie über Elisa reden, die sich sehr
verändert hat und nun entschlossen ist, Johanna auf ihr Landgut in Bether zu
folgen, weil sie von der Güte Johannas überzeugt ist. Sie reden auch von der
neuen Reise zu den fruchtbaren Ebenen, die dem Meer vorgelagert sind. Und
Namen vergangener Herrlichkeit klingen auf und erwecken Erzählungen, Fragen,
Erklärungen und gutmütige Diskussionen.
«Wenn wir auf dem Gipfel dieses
Hügels angelangt sind, will ich euch von der Höhe aus alle Dörfer zeigen, die
euch interessieren. Ihr könnt daraus Gedanken schöpfen, die euch beim Reden
zum Volk nützlich sein werden.»
«Aber wie denn, mein Herr? Ich
bin nicht fähig dazu», seufzt Andreas, und ihm schließen sich Petrus und
Jakobus an. «Wir sind die Armseligsten!»
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«Ach! Auch ich bin nicht besser.
Wenn es sich um Gold und Silber handelte, könnte ich reden; aber von diesen
Dingen ...» sagt Thomas.
«Und ich, wer war ich?» fragt
Matthäus.
«Du hast keine Angst vor den
Leuten, du kannst diskutieren», entgegnet Andreas.
«Aber leider nur über andere
Dinge», sagt Matthäus.
«Ach ja! Aber... auf jeden Fall,
du weißt schon, was ich sagen will, und nimm an, ich hätte es gesagt. Tatsache
ist, daß du fähiger bist als wir», sagt Petrus.
«Aber meine Lieben! Es ist doch
nicht nötig, sich ins Erhabene zu erheben. Sprecht einfach aus eurer vollen
Überzeugung, was ihr denkt. Glaubt mir, wenn einer überzeugt ist, dann
überzeugt er auch», sagt Jesus.
Aber Judas von Kerioth bittet
ihn: «Gib uns viele Anhaltspunkte. Eine gute Idee kann in vielen Situationen
nützlich sein. Diese Dörfer wissen noch nichts von dir, wie mir scheint; denn
niemand zeigt, daß er dich kennt.»
«Das kommt daher, weil hier noch
viel Wind von Moriah her weht, der alles unfruchtbar macht...» antwortet
Petrus.
«Das kommt daher, weil hier noch
nicht gesät worden ist. Aber wir werden säen», entgegnet Iskariot
selbstsicher; er ist noch glücklich über seine ersten Erfolge.
Der Kamm des Hügels ist erreicht.
Eine weite Rundsicht öffnet sich vor ihnen; es ist herrlich, diese Gegend im
Schatten der dichten Sträucher stehend zu betrachten. Wechselreiche und
sonnige Gebirgsketten, die sich in allen Richtungen dahinziehen wie
versteinerte Wellen eines Ozeans, der vom Gegenwind aufgewühlt wird und einer
ausgedehnten Ebene vorgelagert ist, aus der sich, einsam wie der Leuchtturm im
Hafen, ein Berg erhebt.
«Seht das Dorf, das bis zum
Gipfel aufsteigt, als wollte es die Sonne bis zu ihrem Untergang genießen;
dort wollen wir Aufenthalt nehmen; es ist wie der Mittelpunkt eines
Strahlenkranzes geschichtlicher Orte. Kommt her! Dort, im Norden, liegt
Jerimot. Erinnert ihr euch an Josua? Und an die Niederlage der Könige, die das
Lager der Israeliten, welche von den Gibeoniten unterstützt wurden, angreifen
wollten? Daneben Bethsames, die priesterliche Stadt Judas, in der die
Bundeslade von den Philistern zurückgegeben wurde, zusammen mit den
Goldgeschenken, die von den Orakeln und den Priestern dem Volk auferlegt
worden waren zur Befreiung von den Plagen, welche die schuldbeladenen
Philister getroffen hatten. Dort, voll in der Sonne, Saraä, die Heimat
Samsons, und, etwas weiter östlich, Timnata, wo er sich eine Frau nahm, viele
Heldentaten vollbrachte und viel Unfug trieb. Dann Azeco und Soco, einst
Feldlager der Philister. Etwas weiter unten liegt Zanoe, eine der Städte
Judas. Dreht euch jetzt um, so seht ihr das Tal des Terebinto, wo David gegen
Goliath
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gekämpft hat; näher liegt
Magedda, wo Josua die Amoriter besiegt hat. Dreht euch noch einmal um. Seht
ihr den einsamen Berg in der Mitte der Ebene, die einst den Philistern
gehörte? Dort ist Geth, die Heimat Goliaths, und der Ort, an dem David bei
Achis Zuflucht suchte, um der fürchterlichen Wut Sauls zu entgehen, und wo
auch der kluge König Wahnsinn vortäuschte, da die Welt Verrückte statt die
Klugen verteidigt. Am Horizont seht ihr die Ebene mit der fruchtbaren Erde der
Philister. Wir werden dorthin ziehen, bis nach Ramle. Jetzt begeben wir uns
nach Bethginna. Du, ja du, Philippus, der du mich so bittend anblickst, wirst
mit Andreas durch das Dorf gehen. Wir machen Rast, während ihr euch zum
Brunnen oder zum Marktplatz begebt.»
«Oh, Herr, schicke uns nicht
allein! Komm du mit», bitten die beiden.
«Geht, habe ich gesagt. Der
Gehorsam wird euch mehr helfen als meine stumme Gegenwart.»
... So gehen also Philippus und
Andreas durch das Dorf, bis sie eine kleine Herberge finden, die mehr Stall
als Herberge ist; es sind Käufer darin, die mit Hirten über Schafe verhandeln.
Sie treten ein und bleiben stumm im Hof stehen, der mit einem einfachen
Säulengang umgeben ist.
Der Wirt eilt herbei. «Was wollt
ihr? Unterkunft?»
Die zwei beraten sich mit einem
Blick, einem sehr verlegenen Blick. Anscheinend fällt ihnen keines der
wohlüberlegten Worte mehr ein. Doch gerade Andreas faßt sich als erster wieder
und antwortet: «Ja, Unterkunft für uns und den Rabbi von Israel.»
«Was für ein Rabbi? Deren gibt es
viele. Aber sie sind große Herren. Sie kommen nicht in arme Dörfer, um den
Armen ihre Weisheit zu bringen. Die Armen müssen zu ihnen gehen und es als
eine Gnade ansehen, daß sie uns in ihrer Nähe dulden.»
«Es gibt nur einen Rabbi in
Israel! Er kommt gerade, um den Armen die Frohe Botschaft zu bringen; je ärmer
und je sündhafter sie sind, um so mehr sucht er sie auf und nähert sich
ihnen», antwortet Andreas sanft.
«Er verdient hier aber kein
Geld!»
«Er sucht keine Reichtümer. Er
ist arm und gut. Sein Tag ist voll, wenn er eine Seele retten kann», antwortet
wiederum Andreas.
«Hm, das erste Mal, daß ich höre,
ein Rabbi sei arm und gut. Der Täufer ist arm, aber streng. Alle anderen sind
streng und reich und gierig wie Blutsauger. Habt ihr gehört? Kommt her, ihr,
die ihr durch die Welt zieht. Diese Männer hier sagen, daß es einen armen
Meister gibt, der gut ist und der kommt, um die Armen und die Sünder
aufzusuchen.»
«Oh, dann muß es der sein, der
weiß gekleidet geht wie ein Essener. Ich habe ihn vor einiger Zeit in Jericho
gesehen», sagt ein Makler.
«Nein, der wandert allein. Es muß
der andere sein, von dem Thomas erzählt hat; er hatte zufällig mit Hirten vom
Libanon über ihn gesprochen», antwortet ein großer und kräftiger Hirte.
171
«Ja, sicher. Jetzt ist er vom
Libanon bis hierher gekommen, um deine Katzenaugen zu sehen!» ruft ein anderer
aus.
Während der Wirt spricht und mit
seinen Kunden zuhört, sind die Apostel in der Mitte des Hofes stehengeblieben
wie zwei Säulen. Schließlich sagt ein Mann: «Ihr da! Kommt her! Wer ist es?
Woher kommt er, von dem ihr redet?»
«Es ist Jesus des Joseph, von
Nazareth», sagt Philippus ernst und steht da wie einer, der darauf wartet,
ausgelacht zu werden. Aber Andreas fügt hinzu: «Er ist der verheißene Messias.
Ich beschwöre euch zu eurem eigenen Besten, hört ihn an! Ihr habt den Täufer
genannt. Gut, ich war bei ihm, und er hat uns auf Jesus, der vorbeiging,
aufmerksam gemacht und sagte: "Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die
Sünden der Welt." Als Jesus zur Taufe in den Jordan stieg, da öffnete sich der
Himmel, und eine Stimme rief: "Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein
Wohlgefallen habe!" Und die Liebe Gottes stieg wie eine Taube herab und
erstrahlte über seinem Haupt.»
«Siehst du, so ist es doch der
Nazarener! Aber sagt einmal, ihr, die ihr euch seine Freunde nennt...»
«Freunde? Nein! Apostel, Jünger
sind wir und von ihm gesandt, um seine Ankunft anzukünden; denn wer Rettung
braucht, soll zu ihm gehen», verbessert Andreas.
«Gut, gut! Aber sagt einmal: ist
er wirklich so, wie einige sagen, ein Heiliger, der heiliger als der Täufer
ist, oder ist er ein Dämon, wie andere sagen? Ihr, die ihr bei ihm seid, weil
ihr seine Jünger seid, sagt einmal ehrlich: ist es wahr, daß er ein Lüstling
und Gauner ist? Daß er die Dirnen und die Zöllner liebt? Daß er ein Wahrsager
ist und bei Nacht Geister anruft, um Geheimnisse der Herzen zu erfahren?»
«Warum stellst du diesen Männern
all diese Fragen? Frag doch lieber, ob er gut ist. Diese beiden werden
beleidigt fortgehen und dem Meister von unserer schlechten Redensart
berichten, und wir werden verflucht. Man kann nie wissen... Gott oder Teufel,
wer er auch sein mag, es ist immer besser, gut mit ihm umzugehen.»
Diesmal antwortet Philippus: «Wir
können aufrichtig antworten, denn es gibt nichts Böses zu verbergen. Er ist
unser Meister; er ist der Heilige unter den Heiligen! Seine Tage sind erfüllt
von den Mühen der Unterweisung. Unermüdlich geht er von Ort zu Ort auf der
Suche nach den Seelen. Seine Nacht verbringt er im Gebet für uns. Er verachtet
Tisch und Freundschaft nicht; aber nicht aus Eigensucht, sondern um sich denen
zu nähern, die anders nicht zugänglich sind. Er weist Zöllner und Dirnen nicht
zurück; aber nur, um sie zu erlösen. Sein Weg ist gezeichnet mit Wundern der
Erlösung und Wundern bei Kranken. Ihm gehorchen die Winde und die Meere. Er
braucht niemand, um Wunder zu wirken, und keine Geister, um in den Herzen
lesen zu können.»
172
«Und wie kann er das? ... Du hast
gesagt, daß ihm die Meere und die Winde gehorchen. Aber diese Dinge haben
keinen Verstand. Wie kann er ihnen gebieten?» fragt der Wirt.
«Antworte mir, Mann: was meinst
du, ist schwieriger, dem Wind oder dem Tod zu gebieten?»
«Bei Jehova! Aber dem Tod
befiehlt man doch nicht! Das Meer kann man mit Öl beruhigen; man kann ihm
Segel entgegensetzen; man kann klugerweise davon absehen, auf das Meer
hinauszufahren. Den Wind kann man durch Schlösser an den Türen abhalten. Aber
dem Tod kann man nicht gebieten! Es gibt kein Öl, das ihn besänftigt. Es gibt
kein Segel, das, an unserem Lebensschiff befestigt, so schnell dahinsegelt,
daß es dem Tod entflieht. Es gibt auch keine Schlösser, um den Tod
auszuschließen. Wenn er kommen will, dann kommt er, auch wenn die Riegel
vorgeschoben sind. Niemand kann diesem König befehlen.»
«Doch, unser Meister befiehlt
ihm. Nicht nur, wenn der Tod in der Nähe ist, auch wenn er seine Beute schon
erfaßt hat. Ein Jüngling von Naim sollte gerade in die schrecklichen Tiefen
des Grabes gelegt werden; da sagte der Messias: "Ich sage dir, steh auf" ' und
der Jüngling kam ins Leben zurück. Naim liegt nicht außerhalb der Welt. Ihr
könnt hingehen und nachsehen.»
«Aber wie? In Gegenwart aller?»
«Auf dem Weg, in Anwesenheit von
ganz Naim.»
Wirt und Gäste betrachten sich
schweigend. Dann sagt der Wirt: «Aber solche Dinge wird er wohl nur für seine
Freunde tun.»
«Nein, Mann! Für alle, die an ihn
glauben, und nicht nur für sie. Er ist die Barmherzigkeit auf der Erde, glaube
mir! Niemand wendet sich umsonst an ihn. Hört alle zu! Ist niemand unter euch,
der leidet und klagt wegen einer Krankheit in der Familie, wegen eines
Zweifels, wegen einer Reue, wegen Versuchungen oder wegen Unwissenheit? Wendet
euch an Jesus, den Messias der Frohen Botschaft. Heute ist er hier! Morgen
wird er anderswo sein. Laßt die Gnade des Herrn nicht unnütz vorübergehen»,
sagt Philippus, der immer sicherer geworden ist.
Der Wirt fährt sich mit der Hand
durch die Haare, öffnet und schließt den Mund, spielt mit den Fransen seines
Gürtels... Und sagt schließlich: «Ich will es versuchen! ... Ich habe eine
Tochter. Bis zum letzten Sommer ging es ihr gut. Dann wurde sie launenhaft;
sie steht wie ein stummes Tier in einer Ecke, immer dort, und nur mit Mühe
gelingt es der Mutter, sie zu kleiden und zu füttern. Einige Ärzte behaupten,
ihr Hirn sei verbrannt von zuviel Sonne; andere sagen, wegen einer
unglücklichen Liebe. Andere Leute meinen, sie sei besessen. Aber wie ist das
möglich, wenn das Mädchen nie von hier weg gewesen ist? Wo hat sie den Dämon
hergenommen? Was sagt dein Meister? Kann der Dämon sich auch einer
Unschuldigen bemächtigen?»
173
Philippus antwortet sicher: «Ja,
um die Eltern zu quälen und zur Verzweiflung zu treiben.»
«Und... kann er die Launenhaften
heilen? Darf ich hoffen?»
«Du mußt glauben!» erwidert
Andreas rasch. Er erzählt das Wunder von Gerasa und endet: «Wenn dort eine
Legion von Dämonen aus den Herzen der Sünder geflohen ist, wie wird dann erst
der fliehen, der in das jugendliche Herz eingedrungen ist! Ich sage dir, Mann:
wer an ihn glaubt, für den wird das Unmögliche einfach wie das Atmen. Ich habe
die Werke meines Meisters gesehen und bezeuge seine Macht.»
«Oh! Wer von euch geht ihn
holen?»
«Ich selbst, Mann! Ich bin gleich
zurück.» Andreas eilt davon, während Philippus bleibt, um weiterzureden.
Als Andreas Jesus unter einem
Torbogen entdeckt, wo er sich vor der unerbittlichen Sonne schützt, die den
Dorfplatz erhitzt, eilt er ihm entgegen und sagt: «Komm, Meister, komm! Die
Tochter des Herbergevaters ist launisch. Der Vater bittet dich um ihre
Heilung.»
«Aber kannte er mich?»
«Nein, Meister! Wir haben
versucht, dich bekannt zu machen...»
«Und es ist euch gelungen. Wenn
einer so weit kommt, daß er glaubt, daß ich eine unheilbare Krankheit heilen
kann, ist er im Glauben schon fortgeschritten. Und ihr hattet Angst, es nicht
fertigzubringen. Was habt ihr gesagt?»
«Das könnte ich dir gar nicht
sagen. Wir haben gesagt, was wir über dich und deine Werke denken. Vor allem
haben wir gesagt, daß du die Liebe und die Barmherzigkeit bist. Die Welt kennt
dich so schlecht!»
«Aber ihr kennt mich gut, das
genügt.»
Die kleine Herberge ist erreicht.
Alle Gäste stehen neugierig an der Tür. In ihrer Mitte steht der Wirt mit
Philippus. Der Wirt führt ununterbrochen Selbstgespräche, bis er Jesus sieht
und ihm entgegeneilt: «Meister, Herr, Jesus... ich... ich glaube, ich glaube
fest, daß du es bist, daß du alles weißt, daß du alles siehst, daß du alles
kennst, daß du alles kannst. Ich glaube es so fest, daß ich zu dir sage: Habe
Erbarmen mit meiner Tochter, obwohl ich viele Sünden auf dem Herzen habe.
Nicht auf mein Geschöpf komme die Strafe dafür, daß ich so unredlich in meinem
Geschäft war. Ich werde nicht mehr betrügen, ich schwöre es! Du siehst mein
Herz mit seiner Vergangenheit und seiner jetzigen Reue. Verzeihung und
Barmherzigkeit, Meister, und ich werde von dir reden zu allen, die hierher
kommen, in meine Herberge...» Der Mann ist auf die Knie gefallen.
Jesus sagt: «Steh auf und bleibe
beim Vorsatz von heute! Bring deine Tochter zu mir!»
«Sie ist in einem Stall, Herr.
Die Hitze macht sie noch kränker. Sie will nicht herauskommen.»
174
«Das macht nichts. Ich gehe zu
ihr. Es ist nicht die Hitze. Es ist der Dämon, der mich kommen hört.»
Sie gehen durch den Hof in einen
dunklen Stall. Alle folgen. Das ungekämmte, schmutzige Mädchen wirft sich im
dunkelsten Winkel hin und her; als es Jesus bemerkt, schreit es: «Geh fort,
geh fort! Störe mich nicht! Du bist der Christus des Herrn, ich einer von
denen, die du verstoßen hast. Laß mich in Ruhe! Warum stellst du dich in
meinen Weg?»
«Fahre aus diesem Geschöpf! Fort
mit dir! Ich will es! Gib Gott deine Beute zurück und schweige!»
Ein erschütternder Schrei, ein
Aufbäumen, dann ein auf das Stroh niedersinkender Körper... und schließlich
die ruhigen, traurigen, erstaunten Fragen: «Wo bin ich? Warum denn hier? Wer
sind sie?» Und der Ruf: «Mama!» des Mädchens, das sich schämt, weil es ohne
Schleier und mit zerrissenem Kleid vor den Augen so vieler Fremder steht.
«Oh, ewiger Herr, sie ist
geheilt!» Es ist ergreifend zu sehen, wie der grobe , rotwangige Wirt wie ein
Kind weint... Er ist glücklich und weint, indem er fortwährend die Hände Jesu
küßt; die Mutter weint ebenfalls, umringt von einer Schar erstaunter Kinder;
sie küßt ihre vom Dämon befreite Älteste. Die Anwesenden sind ein einziges
Stimmengewirr, und noch andere kommen dazu, um das Wunder zu sehen. Der Hof
ist voller Menschen.
«Bleibe, Herr, der Abend sinkt
hernieder. Verweile unter meinem Dach!»
«Wir sind dreizehn, Mann!»
«Auch wenn ihr dreihundert wäret,
wäre es mir recht! Ich weiß, was du sagen willst. Aber der geizige, unehrliche
Samuel ist tot, Herr! Auch mein Dämon ist aus mir gefahren. Nun lebt ein neuer
Samuel. Er wird weiterhin Wirt, aber ein heiliger Wirt sein. Komm, komm mit
mir! Ich will dich ehren wie einen König, wie einen Gott, der du auch bist.
Oh, gesegnet sei die heutige Sonne, die dich zu mir geführt hat.»
257. IN DER EBENE AUF DEM WEG
NACH ASKALON
Eine Ebene, der Sonne ausgesetzt,
die das reifende Korn röstet und ihm einen Duft entlockt, der schon an Brot
erinnert. Der Geruch der Sonne, der frischen Wäsche, der Ernte, der Geruch des
Sommers.
Jesus geht durch das reife Korn.
Der Tag ist heiß, das Gebiet verlassen. Man sieht keinen Menschen auf den
Feldern. Nur reife Ähren und da und dort Bäume. Sonne, Getreide, Vögel,
Eidechsen, grünes Gebüsch in der ruhigen Luft: das ist es, was Jesus umgibt.
Die Hauptstraße, auf der Jesus dahinschreitet, ist wie ein staubiges und
blendend weißes Band zwischen
175
wogenden Ähren; auf der einen
Seite ein kleines Dorf, auf der anderen ein Bauernhof, sonst nichts.
Alle gehen schweigend und sind
erhitzt. Sie haben ihre Mäntel ausgezogen, aber sie leiden trotzdem in ihren
Wollgewändern, obgleich sie leicht sind. Nur Jesus, die beiden Vettern und
Iskariot sind in Leinwand oder Hanf gekleidet. Sicher sind die Gewänder Jesu
und des Judas aus weißem Linnen; die der Söhne des Alphäus kommen mir wegen
ihrer Steifheit schwerer als Leinwand vor; sie haben dieselbe satte
Elfenbeinfarbe, die das Tuch aus ungebleichtem Hanf hat. Die anderen sind wie
üblich gekleidet und trocknen sich den Schweiß mit dem Linnen, das ihnen als
Kopfbedeckung dient.
An einer Wegkreuzung kommen sie
zu einer kleinen Baumgruppe. Sie machen im wohltuenden Schatten Rast und
trinken gierig Wasser aus ihren Flaschen.
«Es ist so heiß, als ob es von
Feuer käme», brummt Petrus.
«Wenn es wenigstens einen kleinen
Bach gäbe! Aber nichts, nichts!» seufzt Bartholomäus. «Meine Flasche ist bald
leer.»
«Beinahe möchte ich sagen, das
Gebirge ist besser», seufzt Jakobus des Zebedäus, dem die Hitze das Blut in
den Kopf treibt.
«Am besten ist doch das Boot:
kühl, beruhigend, sauber, ach!» Das Herz des Petrus hängt an seinem See und an
seiner Barke.
«Ihr habt alle recht. Aber die
Sünder sind sowohl im Gebirge als auch in der Ebene zu finden. Wenn sie uns
nicht vom "Trügerischen Gewässer" vertrieben hätten und auf den Fersen gefolgt
wären, wäre ich zwischen Tebet und Schebat hierher gekommen. Doch bald sind
wir am Ufer des Meeres. Dort kühlt der Wind der Bucht die Luft», tröstet
Jesus.
«Ja, das wäre schön. Hier
gleichen wir sterbenden Hechten. Wie kann das Getreide so schön sein, obwohl
es kein Wasser gibt?» fragt Petrus.
«Es gibt hier Grundwasser,
welches das Erdreich feucht hält», erklärt Jesus.
«Es wäre besser, wenn das Wasser
oben und nicht unten wäre. Was nützt es mir, wenn ich oben bin? Ich bin doch
keine Wurzel», sagt Petrus impulsiv, und alle lachen.
Dann aber wird Judas Thaddäus
ernst und sagt: «Der Boden ist ein Egoist wie es die Menschen sind; er ist
auch gefühllos. Hätten sie uns in jener Ortschaft ausruhen und den Sabbat dort
verbringen lassen, dann hätten wir Schatten, Wasser und Ruhe. Aber sie haben
uns vertrieben ...»
«Auch Nahrung war vorhanden. Und
jetzt haben wir nichts mehr zu essen. Ich habe solchen Hunger. Wenn es doch
nur Früchte gäbe! Aber die Obstbäume sind in der Nähe der Häuser. Wer wagt
sich schon dorthin? Wenn alle so mürrisch sind, wie die dort...» meint Thomas
und zeigt nach Osten zum Dorf hin, das sie verlassen haben.
«Nimm meine Portion, ich habe nie
großen Hunger», sagt der Zelote.
176
«Nehmt auch meine», sagt Jesus,
«wer den größten Hunger hat, soll essen.»
Doch zusammengelegt bilden die
Portionen von Jesus, dem Zeloten und Nathanael ein recht kleines Häufchen; die
bestürzten Augen des Thomas und der Jüngeren bestätigen es. Doch schweigend
verzehrt jeder seine mikroskopische Portion.
Der geduldige Zelote geht zu
einer Stelle, wo einige grüne Pflanzen auf dem trockenen Erdreich auf
Feuchtigkeit schließen lassen. Auf dem Grund des Kiesbettes fließt tatsächlich
ein dünner Wasserfaden, der sicher bald versickern wird. Simon ruft die
anderen, und alle eilen herbei und begeben sich in den spärlichen Schatten
einer Reihe von Bäumen, die am Ufer des halbvertrockneten Baches wachsen. Sie
können sich nun die staubigen Füße erfrischen, das schwitzende Antlitz waschen
und vor allem die Flaschen füllen, die sie dann im Schatten ins Wasser legen,
damit sie kühl bleiben. Sie setzen sich am Fuß eines Baumes nieder und
schlummern müde ein.
Jesus betrachtet sie voller Liebe
und Mitleid und schüttelt das Haupt. Der Zelote, der noch einmal trinken
gegangen ist, sieht ihn und fragt: «Was hast du, Meister?»
Jesus steht auf, geht zu ihm und
legt ihm einen Arm auf die Schultern. Er führt ihn zu einem anderen Baume und
sagt: «Was ich habe? Ich bin besorgt, weil ihr müde seid. Wenn ich nicht
wüßte, was ich mit euch vorhabe, fände ich keine Ruhe wegen des Ungemachs, das
ich euch zumute.»
«Ungemach? Nein, Meister! Es ist
für uns eine Freude. Nichts ist eine Mühe, wenn wir mit dir gehen dürfen. Wir
sind alle glücklich, glaube es mir. Es gibt kein Nachtrauern, es gibt kein...»
«Schweige, Simon. Das Menschliche
schreit auch in den Guten. Menschlich gesprochen, habt ihr nicht unrecht, zu
schreien. Ich habe euch euren Häusern, den Familien und den Geschäften
entzogen; ihr seid gekommen und habt euch das Mir-Nachfolgen ganz anders
vorgestellt. Aber euer jetziges Schreien, euer innerliches Aufbegehren, wird
sich eines Tages beruhigen; dann versteht ihr, daß es schön war, durch Nebel
und Schlamm, durch Staub und unter brennender Sonne verfolgt, dürstend, müde
und ohne Nahrung dem verfolgten, unbeliebten, verleumdeten Meister
nachzugehen. Alles wird euch schön erscheinen; denn ihr werdet dann anders
denken und alles in einem anderen Lichte sehen. Ihr werdet mir dankbar sein,
daß ich euch auf meinen schweren Weg geführt habe...»
«Du bist traurig, Meister. Und
deine Traurigkeit wegen der Welt ist gerechtfertigt. Aber wir sind nicht
traurig, wir sind alle glücklich!»
«Alle? Bist du sicher?»
«Denkst du anders?»
«Ja, Simon, anders. Du bist immer
glücklich, denn du hast begriffen.
177
Viele andere nicht! Siehst du sie
dort, die schlafen? Weißt du, wie viele und was für Gedanken sie im Schlaf
wiederkauen? Und manche unter den Jüngern? Glaubst du, daß sie mir treu
bleiben, bis alles erfüllt ist?
Schau, laß uns das alte Spiel
machen, das du bestimmt schon als Kind gespielt hast. (Jesus pflückt einen
runden Löwenzahn, der zwischen den Steinen hervorragt und der zur vollkommenen
Reife gelangt ist. Er führt ihn vorsichtig an den Mund und bläst; das zarte
Gebilde löst sich in winzig kleine Schirmchen auf, die sich in die Luft
erheben.) Siehst du? Schau... wie viele sind in meinen Schoß gefallen, als ob
sie mich liebten? Zähle sie... Es sind dreiundzwanzig. Im ganzen waren es
bestimmt dreimal soviel. Und die anderen? Schau! Einige fliegen noch, andere
sind anscheinend durch ihre Schwere schon auf dem Boden gelandet; einige
steigen mit ihrem silbernen Haarbusch stolz empor, andere fallen in den
Schlamm, den wir mit unseren Flaschen erzeugt haben. Nun... schau, auch von
den dreiundzwanzig, die mir in den Schoß gefallen waren, sind sieben
weggeflogen! Diese Hornisse genügte, sie mit ihrem Flugwind fortzuwehen. Was
hatten sie zu befürchten? Wer hat sie entführt? Vielleicht der Stachel oder
vielleicht die schönen Farben schwarz und gelb, das anmutige Aussehen, die
schimmernden Flügel... Sie sind weggeflogen... hinter einer trügerischen
Schönheit her...
Simon, so wird es mit meinen
Jüngern sein. Der eine aufgrund seiner Unruhe; der andere wegen mangelnder
Ausdauer; dieser anhand seiner Schwerfälligkeit; jener aus Stolz oder
Leichtsinn; einer aus Lust am Schmutz, ein anderer aus Angst oder
Ungeschicklichkeit; sie werden mich verlassen.
Glaubst du, daß alle, die jetzt
zu mir sagen: "ich folge dir nach", in der entscheidenden Stunde meiner
Sendung an meiner Seite bleiben? Es waren mehr als siebzig Samenhütchen am
Löwenzahn, den mein Vater erschaffen hat, und nun sind nur noch sieben in
meinem Schoße; die leichteren sind in einem Lufthauch weggeflogen... So wird
es sein. Und ich denke an eure inneren Kämpfe, um mir treu zu bleiben... Komm,
Simon! Laß uns hingehen und den schönen Libellen zusehen, die über dem
Wasserspiegel schweben, wenn du dich nicht lieber ausruhen willst.»
«Nein, Meister, deine Worte
machen mich traurig. Aber ich hoffe, daß der geheilte Aussätzige, der
verfolgte Mann, den du gerechtfertigt hast, damit er Liebe finden und schenken
kann, dich nicht verlassen wird... Meister... Was denkst du von Judas? Im
letzten Jahr hast du, mit mir, seinetwegen geweint. Ich weiß nicht... Meister,
laß die zwei kleinen Libellen sein, schau mich an, höre mich an! Ich würde
dies niemand sagen... Nicht den Gefährten und auch nicht den Freunden. Aber
dir sage ich es. Es will mir nicht gelingen, Judas zu lieben. Ich muß es
bekennen! Er lehnt meinen Wunsch, ihn zu lieben, ab. Nicht, daß er mich
verachtet; nein, er ist sogar höflich zum alten Zeloten, den er aufgrund
seiner Menschenkenntnis für
178
erfahrener als die anderen hält.
Aber seine Art zu handeln! Glaubst du, daß er aufrichtig ist? Sage es mir.»
Jesus schweigt einen Augenblick
und betrachtet entzückt die beiden Libellen, die an der Wasseroberfläche mit
den irisierenden Flügeln einen kleinen Regenbogen bilden; einen kostbaren
Regenbogen, der dazu dient, ein neugieriges Mücklein anzuziehen, das von einem
dieser kleinen und flinken Insekten verschlungen wird, das seinerseits von
einer Kröte oder einem Frosch geschnappt wird, der nun Insekt und Mücklein
zusammen verspeist. Jesus erhebt sich, denn er hatte sich hingekauert, um das
kleine Naturdrama besser beobachten zu können, und sagt: «So ist es! Die
Libelle hat ihre starken Kiefer, um sich von Gräsern zu ernähren, und ihre
starken Flügel, um Fliegen zu fangen, und der Frosch einen breiten Schlund, um
die Libelle zu verschlingen. Jeder hat das Seine und benützt das Seine. Laß
uns gehen, Simon! Die anderen erwachen.»
«Du hast mir nicht geantwortet,
Herr. Du hast mir nicht antworten wollen.»
«Aber ich habe dir doch
geantwortet! Mein alter Gelehrter, denke nach, so wirst du finden ...»
Jesus verläßt das Kiesbett und
begibt sich zu den Jüngern, die eben erwachen und ihn suchen.
258. IM STREIT MIT DEN
PHARISÄERN;
JESUS HERR AUCH ÜBER DEN SABBAT
Immer noch derselbe Ort; die
Sonne brennt nicht mehr so unerbittlich, denn es geht auf den Abend zu.
«Wir müssen uns beeilen, das Haus
zu erreichen», sagt Jesus.
Sie gehen und erreichen es. Sie
bitten um Brot und Obdach, aber der Verwalter weist sie hart zurück.
«Philisterbande! Natterngezücht!
Immer dieselben! Sie sind auf dem gleichen Stamm gewachsen und geben giftige
Früchte», murren die hungrigen und müden Jünger. «Es wird euch zurückgegeben,
was ihr gebt.»
«Aber warum verfehlt ihr euch
gegen die Liebe? Es ist nicht mehr die Zeit des "Auge um Auge und Zahn um
Zahn". Gehen wir weiter. Noch ist es nicht Nacht, und ihr seid noch nicht am
Verhungern. Ein kleines Opfer, weil diese Seelen Hunger nach mir empfinden»,
mahnt Jesus.
Aber die Jünger – ich glaube mehr
aus Trotz als wegen unerträglichen Hungers – gehen ziemlich weit in ein
Weizenfeld hinein und pflücken Ähren, zerreiben sie in den Handflächen und
essen die Körner.
«Sie sind gut, Meister», ruft
Petrus. «Nimmst du keine? Sie schmecken doppelt so gut... Ich würde am
liebsten das ganze Feld aufessen.»
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«Du hast recht! Dann würde es
ihnen leid tun, uns kein Brot gegeben zu haben», erwidern die anderen zwischen
den Ähren und essen mit Genuß. Jesus geht allein auf der staubigen Straße.
Fünf oder sechs Meter hinter ihm sind der Zelote und Bartholomäus im Gespräch.
An einer Wegkreuzung steht eine
Gruppe finster blickender Pharisäer. Sie sind vermutlich auf dem Heimweg von
den Gebeten des Sabbat, denen sie im kleinen Dorf beigewohnt haben, das man am
Ende der Seitenstraße sieht, das breit und flach wie ein großes vor seiner
Höhle kauerndes Tier daliegt.
Jesus bemerkt die Pharisäer,
schaut sie sanft und lächelnd an und grüßt: «Der Friede sei mit euch!»
Statt den Gruß zu erwidern, fragt
ein Pharisäer arrogant:
«Wer bist du?»
«Jesus von Nazareth.»
«Seht ihr, er ist es!» sagt einer
zu den anderen. Inzwischen gesellen sich Nathanael und Simon zum Meister,
während die anderen, in den Furchen gehend, auf die Straße zukommen. Sie kauen
noch und haben Getreidekörner in den Händen.
Der Pharisäer, der zuerst
gesprochen hat, vielleicht der einflußreichste, fängt wieder an, mit Jesus zu
reden, der stehenblieb, um ihn weiter anzuhören.
«So, du bist der berühmte Jesus
von Nazareth. Warum bist du bis hierher gekommen?»
«Weil es auch hier Seelen zu
retten gibt.»
«Dafür genügen wir. Wir verstehen
unsere und die unserer Untergebenen zu retten.»
«Wenn es so ist, ist es gut! Aber
ich bin gesandt worden, die Frohe Botschaft zu verkünden und zu retten.»
«Gesandt, gesandt! Und wer
beweist es uns? Deine Werke sicherlich nicht!»
«Warum sprichst du so? Fürchtest
du nicht für dein Leben?»
«Ach ja, du lieferst alle dem Tod
aus, die dich nicht anbeten. Du willst die ganze priesterliche Klasse
umbringen, die Pharisäer, die Schriftgelehrten und viele andere, weil sie dich
nicht und niemals anbeten. Niemals, verstehst du! Niemals werden wir, die
Auserwählten Israels, dir huldigen... oder dich gar lieben.»
«Ich zwinge euch nicht, mich zu
lieben; ich sage euch nur: Betet Gott an, denn...»
«Also dich, denn du bist Gott,
nicht wahr? Aber wir sind nicht wie der lausige galiläische Pöbel, wir sind
nicht die Dummköpfe Judäas, die hinter dir herlaufen und unsere Rabbis
vergessen ...»
«Rege dich nicht auf, Mann! Ich
verlange nichts. Ich erfülle meine Sendung; ich lehre, Gott zu lieben; ich
wiederhole die Gebote, die zu oft
180
vergessen werden, und was noch
schlimmer ist, die schlecht befolgt werden. Ich will das Leben geben. Das
ewige Leben. Ich wünsche niemand den leiblichen Tod und noch weniger den
geistigen. Ich fragte dich, ob du nicht befürchtest, dein Leben zu verlieren;
ich meinte damit das Leben deiner Seele; denn ich liebe deine Seele, auch wenn
sie mich nicht liebt. Ich bin betrübt, wenn ich sehe, daß du sie tötest, wenn
du Gott beleidigst und seinen Messias verachtest.»
Der Pharisäer scheint von
Krämpfen befallen zu werden, so erregt ist er; er zerrt an seinen Kleidern,
reißt die Fransen aus, nimmt die Kopfbedeckung ab, rauft sich die Haare und
schreit: «Hört, Hört! Zu mir, Jonathan des Uziel, dem direkten Nachkommen
Simons des Gerechten, zu mir sagt er dies! Ich den Herrn beleidigen! Ich weiß
nicht, was mich zurückhält, dich zu verfluchen, aber...»
«Die Angst hält dich zurück. Aber
tue es nur. Ich werde dich trotzdem nicht zu Asche werden lassen. Zu gegebener
Zeit wirst du nach mir rufen. Aber zwischen mir und dir wird dann ein roter
Bach sein: mein Blut!»
«Gut! Aber wie kannst du, der
sich heilig nennt, gewisse Dinge zulassen? Du, der du dich Meister nennst,
warum belehrst du nicht zuerst deine Apostel? Schau sie an, hinter dir! ...
Sie haben noch das Mittel zur Sünde in den Händen! Siehst du, sie haben Ähren
gesammelt, und es ist doch Sabbat. Sie haben Ähren gesammelt, die ihnen nicht
gehören. Sie haben den Sabbat entheiligt und gestohlen.»
«Sie haben Hunger. Wir baten im
Dorf, wo wir gestern abend angekommen sind, um Herberge und Brot. Man hat uns
fortgejagt. Nur eine Greisin gab uns ihr Brot und eine Handvoll Oliven. Gott
möge es ihr hundertfach vergelten, denn sie gab alles, was sie besaß, und
wollte dafür nur den Segen. Wir sind eine Meile gegangen, dann ruhten wir, dem
Gesetz entsprechend, und tranken Wasser. Darauf begaben wir uns bei Einbruch
der Dämmerung zum Haus dort; wir wurden wiederum weggejagt. Du siehst, wir
hatten den Willen, das Gesetz zu beachten!» antwortet Petrus.
«Aber ihr habt es nicht getan. Es
ist nicht erlaubt, am Sabbat Handarbeit zu verrichten und nie ist es zulässig
zu nehmen, was anderen gehört. Ich und meine Freunde sind darüber empört!»
«Ich nicht! Habt ihr nicht
gelesen, wie David in Nob die geweihten Brote nahm, um sich und seine
Begleiter zu nähren? Die heiligen Brote gehörten Gott und befanden sich in
seinem Haus; sie waren durch ein ewiges Gesetz für die Priester bestimmt. Es
steht geschrieben: "Sie sollen Aaron und seinen Söhnen gehören, die sie am
heiligen Ort essen werden; denn sie sind eine heilige Sache." Und doch nahm
David sie für sich und seine Gefährten; denn sie hatten Hunger. Wenn also der
heilige König in das Haus Gottes eingetreten ist und die geweihten Brote am
Sabbat gegessen hat – er, dem es nicht erlaubt war, sie zu essen -; wenn es
ihm nicht als Sünde angerechnet worden ist – denn Gott liebte ihn auch nachher
181
noch – wie kannst du sagen, daß
wir Sünder sind, wenn wir auf dem Grund und Boden Gottes die durch seinen
Willen gewachsenen und reifgewordenen Ähren pflücken? Diese Ähren gehören auch
den Vögeln, und du willst verbieten, daß sich damit Menschen, die Kinder des
Vaters, nähren ?» fragt Jesus.
«Sie hatten um Brote gebeten. Sie
hatten sie nicht ohne Erlaubnis genommen. Das ist ein Unterschied. Und dann
ist es nicht wahr, daß Gott dies dem David nicht als Sünde angerechnet hat.
Gott hat ihn hart bestraft!»
«Aber nicht deswegen, sondern
wegen der Unzucht und der Volkszählung», entgegnete Thaddäus.
«Oh, nun aber genug! Es ist nicht
erlaubt, es ist verboten! Ihr habt kein Recht das zu tun, und ihr tut es
trotzdem! Geht fort. Wir wollen euch nicht in unserem Gebiet. Wir brauchen
euch nicht. Wir wissen nicht, was wir mit euch tun sollen.»
«Wir gehen», sagt Jesus und
verhindert somit eine weitere Gegenrede.
«Und für immer, damit Jonathan
des Uziel dich nie mehr unter die Augen bekommt. Geh!»
«Ja, wir gehen. Doch werden wir
uns wiedersehen. Dann ist es Jonathan, der mich sehen will, um das Urteil zu
wiederholen und die Welt für immer von mir zu befreien. Aber dann wird es der
Himmel sein, der zu dir sagen wird: "Es ist dir nicht erlaubt!" Und dieses "Es
ist dir nicht erlaubt" wird dir wie ein Trompetenschall im Herzen nachklingen,
dein ganzes Leben lang und darüber hinaus. Wie an den Tagen des Sabbat die
Priester im Tempel das Gebot der Sabbatruhe übertreten und doch nicht
sündigen, so können auch wir, die Diener des Herrn, wenn der Mensch uns die
Nächstenliebe verweigert, Liebe und Hilfe vom heiligsten Vater empfangen, ohne
deswegen zu sündigen.
Hier ist einer, der viel größer
als der Tempel ist, und daher nehmen kann, was er will von dem, was Gott
erschaffen und zum Schemel für sein Wort gesetzt hat. Ich nehme und gebe. So
auch die Ähren des Vaters, die auf der großen Tafel, die die Erde ist, liegen.
Ich nehme und gebe. Den Guten wie den Bösen. Denn ich bin die Barmherzigkeit.
Wenn ihr wüßtet, was es heißt, daß ich die Barmherzigkeit bin, würdet ihr auch
verstehen, daß ich nichts anderes als sie will. Wenn ihr wüßtet, was
Barmherzigkeit ist, dann hättet ihr keine Unschuldigen verurteilt. Aber ihr
wißt es nicht! Ihr wißt nicht einmal, daß ich euch nicht verurteile; daß ich
euch verzeihe und den Vater für euch um Verzeihung bitte, denn ich will
Barmherzigkeit und nicht Bestrafung. Aber ihr wißt es nicht. Ihr wollt es
nicht wissen! Das ist eine größere Sünde als die, die ihr mir zuschreibt; als
die, von der ihr sagt, daß diese Unschuldigen sie begangen haben. ]Übrigens
sollt ihr wissen, daß der Sabbat für den Menschen gemacht worden ist und nicht
der Mensch für den Sabbat, daß der Menschensohn auch Herr über den Sabbat ist.
Lebt wohl ...»
182
Er wendet sich an die Jünger:
«Kommt, laßt uns ein Lager im Sand suchen; es ist nicht weit. Die Sterne
werden uns Gesellschaft leisten und der Tau wird uns erfrischen. Gott, der
Israel das Manna schenkte, wird auch uns ernähren, die wir arm und ihm treu
sind.» Und Jesus läßt die feindselige Gruppe stehen und geht mit den Seinen
weiter, während der Abend mit seinen ersten violetten Schatten anbricht.
Sie finden endlich eine Hecke von
Kaktusfeigen, auf deren stacheligen Schaufeln bereits reife Früchte sitzen.
Alles ist gut für den, der Hunger hat. So sammeln sie, obwohl sie sich dabei
stechen, die reifen Feigen und gehen weiter, bis die Felder zu Ende sind und
die sandigen Dünen beginnen. Von ferne hört man das Rauschen des Meeres.
«Wir wollen uns hier ausruhen.
Der Sand ist weich und warm. Morgen werden wir Askalon erreichen», sagt Jesus;
alle legen sich am Fuße einer hohen Düne nieder.
259. JESUS UND DIE SEINEN AUF DEM
WEG NACH ASKALON
Der Morgen weckt mit seinem
kühlen Hauch die Schläfer. Sie erheben sich von ihrem Lager im Sand, auf dem
sie im Schutz einer mit seltenen, vertrockneten Gräsern bedeckten Düne
geschlafen haben, und klettern dieselbe hinauf. Vor ihnen liegt ein sandiger
Meeresstrand, während links und rechts davon sich schöne, bestellte Äcker
aneinanderreihen. Ein ausgetrocknetes Flußbett zeichnet sich mit seinen weißen
Steinen auf dem goldenen Sand ab und verläuft mit diesem Weiß trockener
Knochen bis zum Meer, das in der Weite glänzt mit seinen durch die
morgendliche Flut geschwollenen Wogen, die durch den Nordwestwind, der den
Ozean durchkämmt, noch größer werden.
Sie gehen am Rand der Düne
entlang bis zum ausgetrockneten Bachbett, überqueren es, gehen schräg auf den
Dünen weiter, die unter den Schritten einfallen und, gewellt wie sie sind,
aussehen wie eine Fortsetzung der Meeresfläche mit festem und trockenem
Material anstelle des bewegten Wassers. Sie erreichen den feuchten Strand und
gehen rascher voran.
Während Johannes entzückt das
grenzenlose Meer betrachtet, auf dem die ersten Sonnenstrahlen aufglühen, und
sichtlich diese Schönheit genießt, die das Blau seiner Augen noch blauer zu
färben scheint, zieht Petrus, der praktisch veranlagte Petrus, seine Sandalen
aus, hebt das Gewand hoch, patscht in die kleinen Wellen des Ufers und hält
Ausschau nach einer kleinen Krabbe oder einer Muschel zum Ausschlürfen.
In etwa zwei Kilometer Entfernung
liegt eine schöne Stadt am Meer, die sich längs dem Ufer hinzieht, auf einem
halbmondförmigen Felsenriff, an
183
das Wind und Wellen den Sand
getrieben haben. Der Fels kommt nun auch hier zum Vorschein, nachdem die Flut
zurückgegangen ist, und zwingt die Wanderer, auf den trockenen Sand
zurückzukehren, um die nackten Füße nicht zu verletzen.
«Auf welcher Seite können wir in
die Stadt gelangen, Herr? Von hier aus sieht man nur ein festes Mauerwerk. Von
der Seeseite aus kann man sie nicht betreten. Die Stadt liegt am tiefsten
Punkt des Bogens», sagt Philippus.
«Kommt! Ich weiß, wo man
hineingeht.»
«Bist du denn schon hier
gewesen?»
«Einmal, als kleines Kind; ich
erinnere mich nicht mehr; aber ich weiß, wo der Eingang ist.»
«Eigenartig! Schon oft habe ich
es beobachtet... Du verfehlst nie den Weg. Manchmal sind wir es, die dich
falsch zu wählen veranlassen. Aber du! Es scheint, als ob du immer am Ort
gelebt hättest, an dem du dich gerade aufhältst», bemerkt Jakobus des
Zebedäus.
Jesus lächelt, antwortet aber
nicht. Er geht sicher bis zu einem kleinen ländlichen Vorort, wo Gärtner
Gemüse für die Städter anpflanzen. Die kleinen Äcker und die Beete sind
gleichmäßig angelegt und gut gepflegt. Frauen und Männer bearbeiten sie und
schütten Wasser in die Furchen. Sie ziehen das Wasser mit großer Mühe aus dem
Brunnen herauf; andere benützen die alte und quietschende Methode der Eimer,
die von einem armen Esel, der mit verbundenen Augen um den Brunnen herumläuft,
heraufgezogen werden. Aber die Leute sagen nichts. Jesus grüßt: «Der Friede
sei mit euch.» Die Leute aber bleiben stumm, nicht ablehnend, doch
teilnahmslos.
«Herr, hier läuft man Gefahr,
Hungers zu sterben. Sie verstehen deinen Gruß nicht. Nun will ich es
versuchen», sagt Thomas. Er nähert sich dem ersten Gärtner, den er sieht, und
sagt: «Ist dein Gemüse sehr teuer?»
«Nicht teurer als anderswo. Teuer
oder billig, das hängt davon ab, wie dick die Börse ist.»
«Du hast recht. Aber wie du
siehst, sterbe ich noch nicht an Unterernährung. Ich bin auch ohne dein Gemüse
dick und rosig. Ein Zeichen, daß meine Börse eine gute Brust ist. Kurz, wir
sind dreizehn und wir können kaufen. Was hast du zu verkaufen?»
«Eier, Gemüse, Frühmandeln,
Äpfel, die schon ganz runzlig sind, Oliven... alles was du willst.»
«Gib mir Eier, Äpfel und Brot für
alle.»
«Brot habe ich nicht; das findest
du in der Stadt.»
«Ich habe aber jetzt Hunger,
nicht erst in einer Stunde. Ich glaube dir nicht, daß du kein Brot hast.»
«Ich habe noch keines. Die Frau
ist erst am Backen. Aber siehst du den Alten dort? Er hat immer Brot, da er
viel auf der Straße ist und oft von
184
Pilgern danach gefragt wird. Geh
zu Ananias und frag ihn. Ich bringe dir gleich die Eier. Aber paß auf, sie
kosten einen Denar das Paar.»
«Dieb! Deine Hühner legen wohl
goldene Eier?»
«Nein, aber es ist nicht schön,
im Gestank des Hühnerstalles zu leben, und für nichts tut man nichts. Und
außerdem, seid ihr nicht Juden? Dann zahlt!»
«Behalte deine Eier. So bist du
schon bezahlt», und Thomas dreht ihm den Rücken zu.
«Warte, Mann! Komm, ich will sie
dir billiger geben. Drei für einen Denar.»
«Und wenn du mir vier gäbest...
Trink sie selbst, sie sollen dir im Hals steckenbleiben.»
«Komm her! Höre, was willst du
mir geben?» Der Gärtner läuft Thomas nach.
«Nichts! Ich will keine mehr
haben. Ich wollte nur einen kleinen Imbiß nehmen, bevor ich in die Stadt gehe.
Aber es ist besser so! Ich will weder Worte vergeuden noch mir den Appetit
verderben, um die Geschichte des Königs zu singen und in der Herberge eine
schöne Mahlzeit zu halten.»
«Ich gebe dir das Paar für eine
Zehnteldrachme.»
«Uff, du bist lästiger als eine
Wanze. Gib mir deine Eier! Aber frische, sonst komm ich zurück und mach dir
dein Maul noch gelber als es schon ist!»
Und Thomas geht mit ihm und kommt
mit mindestens zwei Dutzend Eiern im Mantelzipfel zurück. «Habt ihr gesehen?
Von nun an werde ich in diesem Land der Diebe einkaufen. Ich weiß, wie man sie
behandelt. Sie kommen mit Haufen von Geld zu uns, um für ihre Frauen
einzukaufen; und die Armreifen sind nie groß genug, und sie feilschen tagelang
um den Preis. Nun kann ich mich rächen. Nun gehen wir zum anderen Skorpion.
Komm, Petrus! Du, Johannes, nimm die Eier!»
Sie gehen zum Alten, dessen
Garten längs der Hauptstraße liegt, die von der Stadt nach Norden führt, an
deren beiden Seiten sich die Häuser des Vororts aneinanderreihen. Eine schöne,
gut gepflegte Straße, bestimmt ein Werk der Römer. Das Stadttor an der
Ostseite ist nunmehr ganz nahe; man sieht hindurch; die gerade Straße jenseits
der Mauern ist kunstvoll von großen, schattigen Portiken umsäumt, die von
Marmorsäulen getragen werden und in deren kühlem Schatten die Menschen
wandeln, während die Straßenmitte den Eseln, Kamelen, Hunden und Pferden
überlassen wird.
«Gruß dir! Verkaufst du Brot?»
fragt Thomas.
Der Alte hört nicht oder will
nicht hören. Das Kreischen der Räder ist so durchdringend, daß beides möglich
ist. Petrus verliert die Geduld und schreit: «Halt deinen Samson an! So kann
er wenigstens verschnaufen und bricht nicht vor meinen Augen zusammen. Höre
uns an!»
185
Der Mann hält den Maulesel an und
blickt schief auf den Fragenden; doch Petrus entwaffnet ihn und sagt: «Na, ist
es vielleicht nicht recht, einen Maulesel Samson zu nennen? Wenn du Philister
bist, muß der Name dir gefallen, denn dann ist es eine Beleidigung für Samson.
Wenn du aus Israel bist, muß er dir gefallen, weil er dich an einen Sieg über
die Philister erinnert. Du siehst also...»
«Ich bin Philister und bin stolz
darauf.»
«Du hast recht. Auch ich werde
dich rühmen, wenn du uns Brot gibst.»
«Aber bist du nicht Jude?»
«Ich bin Christ!»
«Wo liegt dieser Ort?»
«Das ist kein Ort. Es ist eine
Person. Und ich gehöre dieser Person.»
«Bist du ihr Sklave?»
«Ich bin freier als jeder andere
Mensch; denn wer dieser Person gehört, untersteht nur Gott.»
«Sagst du die Wahrheit? Auch
nicht Caesar?»
«Pah... was ist denn Caesar im
Vergleich zu ihm, dem ich nachfolge, dem ich gehöre und in dessen Namen ich
dich um Brot bitte?»
«Wo ist dieser Mächtige?»
«Es ist der Mann dort, der
hierherschaut und lächelt. Er ist Christus, der Messias. Hast du noch nie von
ihm reden gehört?»
«Ja, er ist der König von Israel.
Wird er Rom besiegen?»
«Rom? Die ganze Weit und auch die
Hölle!»
«Ihr seid seine Generäle? So
gekleidet? Vielleicht um den Verfolgungen der niederträchtigen Juden zu
entgehen.»
«Ja und nein. Aber gib mir Brot;
während wir essen, will ich es dir erklären.»
«Brot? Aber auch Wasser, Wein und
Stühle im Schatten für dich und deinen Begleiter und für deinen Messias. Hole
ihn!»
Und Petrus geht rasch zu Jesus
und sagt: «Komm, komm! Der alte Philister dort gibt uns, was wir wollen. Ich
fürchte jedoch, daß er dich mit Fragen bestürmen wird... Ich habe ihm gesagt,
wer du bist... so ungefähr habe ich es ihm gesagt. Aber er ist gutwillig.»
Sie gehen alle zusammen in den
Garten, wo der Mann schon unter einer dichten Weinlaube Bänke um einen
einfachen Tisch aufgestellt hat.
«Der Friede sei mit dir, Ananias!
Die Erde möge dank deiner Nächstenliebe erblühen und dir reiche Ernte bringen
...»
«Danke, auch dir Frieden! Setz
dich, setzt euch. Anibe, Nubi! Wein, Brot und Wasser, rasch!» befiehlt der
Alte zwei Frauen, die bestimmt Afrikanerinnen sind; denn die eine ist ganz
schwarz mit dicken Lippen und krausen Haaren, und die andere sehr dunkel,
obgleich sie mehr ein europäischer Typ ist. Der Alte erklärt: «Die Töchter der
Sklavinnen meiner Frau, Sie ist tot, und tot sind auch sie, die mit ihr
gekommen waren.
186
Aber die Töchter sind mir
geblieben. Oberer und unterer Nil. Meine Frau stammte von dort. Verboten,
nicht wahr? Aber ich schere mich nicht darum. Ich bin nicht aus Israel, und
die Frauen der niederen Rasse sind sanft.»
«Du bist nicht aus Israel?»
«Gezwungenermaßen bin ich es;
denn Israel hat man am Hals wie ein Joch. Aber bist du ein Israelit und
beleidigt über das, was ich sage? ...»
«Nein, ich bin nicht beleidigt.
Ich möchte nur, daß du die Stimme Gottes anhörst.»
«Er spricht nicht zu uns!»
«Das sagst du! Ich rede mit dir,
und das ist seine Stimme!»
«Aber du bist doch der König von
Israel.»
Die Frauen, die gerade mit Brot,
Wasser und Wein ankommen und von einem König reden hören, bleiben erstaunt
stehen und betrachten den blonden, lächelnden, vornehmen jungen Mann, den man
Herr König nennt; sie ziehen sich zurück, fast kriechend vor Ehrfurcht.
«Danke, Frauen! Auch euch
Frieden!» Dann wendet sich Jesus dem Greis zu: «Sie sind jung... du kannst
ruhig deine Arbeit fortsetzen.»
«Nein, die Erde ist begossen und
kann warten. Anibe, binde den Esel los und führe ihn in den Stall. Und du,
Nubi, leere die letzten Eimer und dann... Willst du verweilen, Herr?»
«Laß dich nicht stören. Ich werde
ein wenig Speise zu mir nehmen und dann nach Askalon gehen.»
«Du störst mich nicht. Geh ruhig
in die Stadt. Aber am Abend komm! Wir werden das Brot brechen und das Salz
teilen. Bewegt euch, ihr! Du gehst zum Brot und du rufst Geteo, damit er ein
Böcklein schlachtet und es für heute abend vorbereitet. Geht!» Die beiden
Frauen gehen schweigend fort.
«Du bist also König. Aber die
Waffen? Herodes Grausamkeit kennt keine Grenzen. Er hat uns Askalon wieder
aufgebaut, aber zum eigenen Ruhm. Und nun! ... Aber du kennst die Schande
Israels besser als ich. Wie wirst du vorgehen?»
«Ich habe nur die Waffe, die von
Gott kommt.»
«Das Schwert Davids?»
«Das Schwert meines Wortes.»
«Oh, armer Träumer! Es wird am
Metall der Herzen abprallen!»
«Glaubst du? Ich strebe kein
Königreich auf dieser Welt an. Für euch alle strebe ich nach dem Himmelreich.»
«Für uns alle? Auch für mich
Philister? Auch für meine Sklavinnen?»
«Für alle, für dich, für sie und
selbst für den Wildesten im Innern des afrikanischen Urwaldes.»
«Willst du denn ein so großes
Reich gründen? Warum nennst du es "Himmelreich"? Du könntest es doch Weltreich
nennen.»
«Nein, du mußt mich richtig
verstehen. Mein Reich ist das Reich des wahren Gottes. Gott ist im Himmel.
Darum ist es das Reich des Himmels. Jeder Mensch ist eine mit einem Körper
bekleidete Seele, und die Seele kann nur im Himmel leben. Ich will eure Seelen
heilen, die Irrtümer und den Groll aus ihr entfernen und sie durch die Güte
und die Liebe zu Gott führen.»
«Das gefällt mir sehr. Die
anderen... ich gehe nicht nach Jerusalem, aber ich weiß, daß die anderen von
Israel seit Jahrhunderten nicht so sprechen. So haßt du uns also nicht?»
«Ich hasse niemand.»
Der Alte denkt nach... dann fragt
er: «Und haben die beiden Sklavinnen auch eine Seele, wie ihr von Israel?»
«Gewiß. Sie sind keine gefangenen
Tiere. Sie sind unglückliche Geschöpfe. Wir müssen sie lieben. Liebst du sie?»
«Ich behandle sie nicht schlecht.
Ich verlange Gehorsam, aber ich verwende keine Peitsche. Ein schlecht
genährtes Tier arbeitet nicht, sagt man. Aber auch ein schlecht genährter
Mensch ist kein gutes Geschäft. Außerdem sind sie im Haus geboren! Ich habe
sie heranwachsen sehen. Jetzt werden nur sie zurückbleiben; denn ich bin sehr
alt, weißt du, beinahe achtzig. Sie und Geteo sind das, was von meinem
einstigen Haus übrigbleibt. Ich habe sie liebgewonnen wie Möbelstücke. Sie
werden mir die Augen schließen...»
«Und dann?»
«Und dann... Ich weiß es nicht.
Sie werden einen anderen Herrn finden, und das Haus wird geschlossen werden.
Es tut mir leid. Ich habe es mit meiner Arbeit reich gemacht. Die Äcker werden
veröden... Der Weingarten... Meine Frau und ich haben ihn gepflanzt. Dieser
Rosenstrauch... Er ist ägyptischer Herkunft, Herr, und ich spüre den Duft
meiner Frau in ihm... Er ist für mich wie ein Sohn... Der einzige Sohn, jetzt
schon Staub, ist zu seinen Füßen begraben... Schmerzen... Es ist besser, jung
zu sterben und dies und den Tod, der sich nähert, nicht sehen zu müssen.»
«Dein Sohn und deine Frau sind
nicht tot; ihr Geist überlebt. Das Fleisch ist tot. Der Tod darf nicht
erschrecken. Der Tod ist Leben für den, der auf Gott vertraut und als
Gerechter lebt. Denkt daran... Ich gehe in die Stadt. Ich werde heute abend
zurückkommen und möchte dich um die Vorhalle bitten, um mit den Meinen dort zu
schlafen.»
«Nein, Herr! Ich habe viele leere
Zimmer. Ich stelle sie dir zur Verfügung.»
Judas legt Münzen auf den Tisch.
«Nein! Ich will sie nicht. Ich
bin aus dieser Gegend, die euch verhaßt ist. Aber vielleicht bin ich besser
als sie, die uns beherrschen. Leb wohl, Herr!»
«Der Friede sei mit dir,
Ananias!»
188
Die zwei Sklavinnen sind mit
Geteo, einem kräftigen, alten Landarbeiter, herbeigekommen, um Jesus weggehen
zu sehen.
«Auch euch Frieden! Seid gut!
Lebt wohl.» Und Jesus läßt leicht seine Hand über die krausen Haare von Nubi
und die glänzenden, glatten Haare von Anibe gleiten, lächelt dem Mann zu und
entfernt sich.
Bald danach betreten sie auch die
Straße mit den beidseitigen Säulengängen, die direkt in Askalons Zentrum
führt. Die Stadt ist mit ihren Becken und Brunnen, mit ihren Plätzen, die als
Forum dienen, und ihren Türmen längs der Mauer eine Nachäffung Roms. Überall
der Name von Herodes, von ihm selbst angebracht, um sich selbst zu feiern,
denn die Askaloniten feiern ihn nicht.
Es herrscht eine große Bewegung
in den Straßen, die sich steigert, je mehr die Zeit vergeht und man ins
Zentrum der Stadt gelangt. Diese Stadt ist offen und luftig mit dem Meer als
Hintergrund, das wie ein Türkis in einer Zange aus rosafarbenen Korallen liegt
zwischen den Häusern, die sich an der tiefen Bucht aneinanderreihen, bis zur
Küste; sie bildet keinen Golf, sondern einen echten Bogen, einen Halbkreis,
den die Sonne in einem bleichen Rosarot leuchten läßt.
«Wir wollen uns in vier Gruppen
teilen. Ich gehe, das heißt, ich lasse euch gehen. Dann wähle ich. Geht! Nach
der neunten Stunde treffen wir uns am Tor, durch das wir gekommen sind. Seid
klug und geduldig!»
Jesus schaut ihnen nach. Er ist
mit Judas Iskariot allein geblieben, der erklärt hat, daß er hier nicht reden
wird, da die Leute schlimmer als die Heiden sind.
Als er aber hört, daß Jesus da
und dorthin gehen will, ohne zu reden, überlegt er es sich anders und sagt:
«Mißfällt es dir nicht, allein zu bleiben? Ich möchte mit Matthäus, Jakobus
und Andreas gehen; sie sind die Unbeholfensten...»
«Geh nur! Leb wohl!»
Und Jesus wandelt allein durch
die Stadt. Er durchschreitet sie der Länge und der Breite nach, ohne daß die
geschäftigen Menschen auf ihn aufmerksam werden. Nur zwei oder drei Kinder
heben neugierig den Kopf, und eine nachlässig gekleidete Frau kommt ihm
entschlossen und mit einem zweideutigen Lächeln entgegen. Doch Jesus blickt
sie so streng an, daß sie purpurrot wird und, weitergehend, die Augen
niederschlägt. An der Ecke wendet sie sich noch einmal um, und da ein Mann,
der die Szene beobachtet hat, ihr beißende Worte des Spottes für ihre
Niederlage zuwirft, hüllt sie sich in ihren Mantel und eilt davon.
Die Kinder jedoch umringen Jesus,
sehen zu ihm auf und erwidern sein Lächeln. Das mutigste unter ihnen fragt:
«Wer bist du?»
«Jesus», antwortet er, indem er
es liebkost.
«Was machst du?»
«Ich warte auf Freunde.»
189
«Von Askalon?»
«Nein, aus meinem Dorf und aus
Judäa.»
«Bist du reich? Ich bin es. Mein
Vater hat ein schönes Haus, in dem er Teppiche anfertigt. Komm, ich will es
dir zeigen; es ist in der Nähe.»
Jesus folgt dem Kind in einen
langen Hausflur, der wie eine überdachte Gasse ist. Im Hintergrund des
halbdunklen Hausflurs glänzt ein Stückchen Meer in der Sonne. Sie begegnen
einem schmächtigen Mädchen, das weint.
«Das ist Dina. Sie lebt arm,
weißt du? Meine Mutter gibt ihr zu essen. Ihre Mutter kann nichts mehr
verdienen. Der Vater ist schon gestorben, auf dem Meer. Bei einem Gewitter,
als er von Gaza zum Hafen des großen Flusses fuhr, um Waren abzuliefern und
andere zu holen. Da die Waren meinem Vater gehörten, und der Vater der Dina
einer unserer Seeleute war, sorgt meine Mama nun für sie. Doch viele sind auf
diese Weise ohne Vater geblieben... Was sagst du dazu? Es muß schlimm sein,
ein Waisenkind und arm zu sein. Hier ist mein Haus. Sage nicht, daß ich auf
der Straße war. Ich hätte in der Schule sein müssen; aber man hat mich
weggeschickt, weil ich die Kameraden mit dem da zum Lachen brachte...» Er
zieht ein wirklich lustiges, geschnitztes Püppchen aus dem Gewand, mit einem
wahrhaft karikaturistischen, vorstehenden Kinn und einer langen Nase.
Jesus hat ein Lächeln auf den
Lippen, aber er beherrscht sich und sagt: «Das ist doch nicht der Lehrer,
nicht wahr? Und auch kein Verwandter! Das wäre nicht recht.»
«Nein, es ist der
Synagogenvorsteher der Juden. Er ist alt und häßlich; wir ärgern ihn immer.»
«Auch das ist nicht recht. Er ist
bestimmt viel älter als du und...»
«Oh, er ist ein sehr alter Mann,
bucklig und blind; aber er ist so häßlich... Ich kann doch nichts dafür, daß
er so häßlich ist!»
«Nein. Aber es ist schlecht, über
einen Alten zu spotten. Auch du wirst als alter Mann häßlich sein; denn du
wirst gebückt gehen, wenig Haare auf dem Kopf haben, halb blind sein; du wirst
an Stöcken gehen und genauso ein Gesicht haben... Und dann? Würde es dir
gefallen, von einem respektlosen Jungen verspottet zu werden?
Warum ärgerst du den Lehrer und
störst die Kameraden? Das ist nicht recht! Wenn dein Vater es wüßte, würde er
dich strafen und deine Mutter würde es schmerzen. Ich sage ihnen nichts. Aber
du mußt mir sofort zwei Dinge geben: das Versprechen, nicht mehr solche Späße
zu machen und diesen Hampelmann. Wer hat ihn gemacht?»
«Ich, Herr ...» sagt der Junge
beschämt, nunmehr der Schwere seiner Fehler bewußt. Er fügt hinzu: «Ich mache
sehr gerne Holzschnitzereien! Manchmal verfertige ich Blumen, wie sie auf
Teppichen dargestellt sind, oder Drachen, Sphinxe und andere Tiere...»
190
«Das sollst du tun. Es ist so
viel Schönes auf der Erde. Also gib mir dein Versprechen und den Hampelmann.
Sonst sind wir keine Freunde mehr. Ich behalte ihn als Andenken an dich und
werde für dich beten. Wie heißt du?»
«Alexander. Und du, was gibst du
mir?»
Jesus hat immer so wenig! Aber er
erinnert sich, daß er am Gewand eine sehr schöne Schnalle hat. Er sucht in
seiner Tasche, findet sie, trennt sie vom Gewand ab und gibt sie dem Knaben.
«Und nun gehen wir. Aber paß auf, auch wenn ich fortgehe, weiß ich doch alles.
Wenn ich merke, daß du böse bist, dann komme ich zurück und erzähle alles
deiner Mutter.» Das Bündnis ist geschlossen.
Sie treten in das Haus. Dem
Vorhof folgt ein weiter Hof, auf drei Seiten von Hallen umgeben, in denen
Webstühle stehen. Die Dienerin, die geöffnet hat, ist erstaunt, den Jungen mit
einem Unbekannten zu sehen. Sie benachrichtigt die Herrin, und diese, eine
hochgewachsene Frau mit zartem Antlitz, eilt herbei und fragt: «Hat mein Sohn
sich nicht wohlgefühlt?»
«Nein, Frau! Er hat mich hierher
geführt, um mir deine Webstühle zu zeigen. Ich bin ein Fremder.»
«Willst du einkaufen?»
«Nein, ich habe kein Geld. Aber
ich habe Freunde, welche schöne Dinge lieben und auch Geld haben.»
Die Frau blickt diesen Mann
erstaunt an, der ohne Umschweife bekennt, daß er arm ist, und sagt: «Ich habe
angenommen, daß du ein Herr bist. Du hast das Benehmen und das Aussehen eines
großen Herrn.»
«Ich bin jedoch nur ein Rabbi aus
Galiläa: Jesus von Nazareth.»
«Wir treiben Handel und kennen
keine Vorurteile. Komm und schau!»
Sie führt ihn zu den Webstühlen,
an denen Mädchen unter der Anleitung der Herrin arbeiten. Die Teppiche sind
wirklich kostbar, was Zeichnung und Farben betrifft. Dick und weich, wie sie
sind, gleichen sie Blumenbeeten oder einem Kaleidoskop von Edelsteinen. Andere
haben von Blumen umgebene allegorische Figuren wie Einhörner, Sirenen, Drachen
oder heraldische Vögel, wie sie bei uns üblich sind.
Jesus drückt seine Bewunderung
aus: «Du bist sehr tüchtig. Es freut mich, daß ich dies gesehen habe. Und ich
freue mich, daß du gut bist.»
«Woher weißt du das?»
«Man liest es dir im Gesicht, und
der Junge hat mir von Dina erzählt. Gott möge es dir vergelten. Auch wenn du
es nicht glaubst, du bist sehr nahe an der Wahrheit, denn du hast
Nächstenliebe.»
«Welche Wahrheit?»
«Die Wahrheit des allerhöchsten
Herrn! Wer den Nächsten liebt und in der Familie und bei den Untergebenen
Nächstenliebe übt und sie auf die Armen ausdehnt, hat die Religion schon in
sich. Das Mädchen ist Dina, nicht wahr?»
191
«Ja. Ihre Mutter liegt im
Sterben. Nach ihrem Tod werde ich das Mädchen zu mir nehmen; aber nicht für
den Webstuhl. Sie ist zu klein und zu schwach. Begrüße diesen Herrn, Dina!»
Das Mädchen mit dem traurigen
Gesicht unglücklicher Kinder kommt zögernd näher. Jesus liebkost es und sagt:
«Begleitest du mich zu deiner Mutter? Du möchtest, daß sie gesund wird, nicht
wahr? Dann führe mich zu ihr! Leb wohl, Frau! Leb wohl, Alexander! Bleibe
brav!»
Jesus geht mit dem Kind an der
Hand hinaus. Er fragt: «Bist du allein?»
«Ich habe drei Geschwister. Das
Kleinste hat den Vater nicht mehr gekannt.»
«Weine nicht. Kannst du glauben,
daß Gott deine Mutter heilen kann? Du weißt, daß es nur einen Gott gibt, der
seine Geschöpfe, die Menschen und besonders die guten Kinder liebt, nicht
wahr? Und daß er alles kann...»
«Ich weiß es, Herr; denn früher
ging mein Bruder Tolme zur Schule, und in der Schule hat er sich unter die
Juden gemischt. Er weiß daher viele Dinge. Ich weiß, daß es einen Gott gibt
und daß er Jahwe heißt; und daß er uns bestraft hat, weil die Philister böse
gegen ihn waren. Das werfen uns die hebräischen Kinder immer vor. Ich war aber
damals noch nicht geboren, und die Mama und der Vater ebenfalls nicht. Warum
also...»Das Weinen macht ein Weiterreden unmöglich.
«Weine nicht, Gott liebt auch
dich, und er hat mich deinetwegen und deiner Mama wegen hierher geführt. Weißt
du, daß die Israeliten auf den Messias warten, der kommen wird, um das
Himmelreich zu gründen, das Reich Jesu, des Erlösers und Heilands der Welt?»
«Ich weiß es, Herr. Und sie
drohen uns damit und sagen: "Dann wird es euch schlecht gehen."»
«Und weißt du, was der Messias
tun wird?»
«Er wird Israel groß machen und
uns sehr schlecht behandeln!»
«Nein! Er wird die Welt erlösen,
sie von der Sünde befreien und die Menschen anleiten, nicht mehr zu sündigen.
Er wird die Armen, die Kranken und die Traurigen lieben und sie aufsuchen. Er
wird die Reichen, die Gesunden und die Glücklichen lehren, sie zu lieben. Er
wird alle ermahnen, gut zu sein, um das ewige Leben zu erlangen und im Himmel
selig zu sein. Das wird er tun, und er wird niemand unterdrücken.»
«Und woran wird man erkennen, daß
er es ist?»
«Daran, daß er alle liebt und die
Kranken heilt, die an ihn glauben; daß er die Sünder losspricht und Liebe
lehrt!»
«Oh, wenn er doch kommen würde,
bevor die Mama stirbt. Wie würde ich glauben! Wie würde ich ihn bitten! Ich
würde gehen und ihn suchen, bis ich ihn gefunden hätte, und würde ihm sagen:
"Ich bin ein armes Mädchen ohne Vater, und meine Mutter liegt im Sterben! Ich
hoffe auf
192
dich!" Ich weiß, daß er mich
erhören würde, obgleich ich eine Philisterin bin.»
Ein einfacher und starker Glaube
schwingt mit in der Stimme des Mädchens. Jesus lächelt und blickt auf die
Arme, die an seiner Seite geht. Das Mädchen kann dieses strahlende Lächeln
nicht sehen, da es geradeaus zum nunmehr nahen Haus schaut.
Sie kommen zu einem armen
Häuschen am Ende einer Sackgasse. «Hier ist es, Herr! Tritt ein!» Ein
einfacher Raum, ein Strohsack, auf dem ein erschöpfter Körper liegt, und drei
Kinder im Alter von drei bis zehn Jahren sitzen neben dem Strohsack. Alles
drückt Armut und Hunger aus.
«Der Friede sei mit dir, Frau!
Rege dich nicht auf! Bemühe dich nicht! Ich habe dein Mädchen getroffen und
weiß, daß du krank bist. Ich bin gekommen. Möchtest du gesund werden?»
Die Frau antwortet mit ihrer
schwachen Stimme: «Oh, Herr! ... Ich bin am Ende», und sie weint.
«Deine Tochter glaubt, daß der
Messias dich heilen kann. Und du?»
«Oh, auch ich würde glauben. Aber
wo ist der Messias?»
«Ich bin es, der zu dir spricht.»
Und Jesus, der sich über den Strohsack gebeugt und seine Worte über das
Antlitz der Geschwächten geflüstert hatte, richtet sich auf und ruft: «Ich
will! Sei geheilt!»
Die Kinder fürchten sich beinahe
vor seiner mächtigen Gestalt und stehen mit erstaunten Gesichtern um das
mütterliche Lager herum. Dina drückt ihre Hände an die kleine Brust. Ein Licht
der Seligkeit, der Hoffnung huscht über ihr Gesicht. Sie atmet fast schwer, so
sehr ist sie erregt. Der kleine Mund ist geöffnet für ein Wort, welches das
Herz schon flüstert, und als sie sieht, daß die Mutter, die noch eben
wachsbleich und kraftlos dalag, sich zum Sitzen aufrichtet, als ob eine Kraft
sie anziehen und in sie übergehen würde, und wie sie dann, immer die Augen auf
jene des Erlösers gerichtet, aufsteht, einen Freudenschrei ausstößt:
«Mama!»Das Wort, welches das Herz gefüllt hatte, ist ausgesprochen! ... Und
dann ein zweites: «Jesus!» Dina umarmt die Mutter, zwingt sie niederzuknien
und sagt dabei: «Bete an, bete an! Er ist es, den der Lehrer Tolmes den
verheißenen Erlöser nannte.»
«Betet den wahren Gott an, seid
gut und erinnert euch meiner. Lebt wohl!» Und Jesus geht rasch hinaus, während
die beiden Glücklichen noch am Boden knien...
193
260. DIE PREDIGTEN UND DIE WUNDER
IN ASKALON
Gehorsam der erhaltenen Weisung
folgend, kommen die kleinen Gruppen der Apostel eine nach der anderen zum
Stadttor. Jesus ist noch nicht da. Doch bald kommt auch er aus einer Gasse
längs der Mauer.
«Der Meister scheint guten Erfolg
erzielt zu haben», sagt Matthäus. «Seht wie er lächelt.»
Sie gehen ihm entgegen und
verlassen dann die Stadt auf der Hauptstraße. Die Gemüsegärten des Vorortes
säumen diese auf beiden Seiten. Jesus fragt die Seinen: «Nun, wie ist es euch
ergangen? Was habt ihr getan?» «Sehr schlecht», sagen Iskariot und
Bartholomäus gleichzeitig. «Warum? Was ist vorgefallen?»
«Man hätte uns beinahe
gesteinigt. Wir mußten weglaufen. Verlassen wir dieses Land der Barbaren! Laß
uns dorthin gehen, wo man uns liebt. Ich rede nicht mehr! Ich wollte vorerst
nicht reden. Doch dann habe ich mich dazu verleiten lassen; du hast mich nicht
zurückgehalten, obwohl du wußtest ...» Iskariot ist aufgeregt.
«Aber was ist denn passiert?»
«Oh, ich war mit Matthäus,
Jakobus und Andreas. Wir sind bis zum Gerichtsplatz gegangen; denn dort sind
bessere Leute, die Zeit zu verlieren haben und zuhören können, wenn jemand
reden will. Wir hatten beschlossen, daß Matthäus sprechen sollte, da er am
fähigsten ist, mit Zöllnern und ihrer Kundschaft umzugehen. Er hat auch
angefangen; er sagte zweien, die sich in einer Erbschaftsangelegenheit um
einen Acker stritten: "Haßt euch nicht wegen einer Sache, die vergänglich ist
und die ihr nicht mit ins andere Leben nehmen könnt. Liebt euch, um ewige
Güter genießen zu können, für die ihr nichts anderes zu tun braucht als den
bösen Leidenschaften zu widerstehen, um Gewinner und Besitzer des Guten zu
werden." Du hast doch so gesagt, nicht wahr?» Und dann fuhr er fort zu reden,
während zwei oder drei sich näherten, um zuzuhören. "Hört auf die Wahrheit,
die dieser Aufruf die Welt lehrt, damit die Welt im Frieden lebe. Ihr habt
erfahren, daß man wegen übertriebenen Interesses an vergänglichen Dingen
leidet. Aber die Welt ist nicht alles! Es gibt auch den Himmel, und im Himmel
ist Gott, so wie jetzt auf Erden sein Messias ist, den er gesandt hat, um euch
zu verkünden, daß die Zeit der Barmherzigkeit gekommen ist, und kein Sünder
mehr sagen kann: 'Niemand hört mich an'; denn wenn er wahrhaft bereut, dann
erhält er Verzeihung; er wird erhört, geliebt und ins Reich Gottes
eingeladen."
Viele Menschen hatten sich
inzwischen angesammelt; es waren Leute darunter, die ehrfürchtig zuhörten, und
andere, die Fragen stellten und damit Matthäus verwirrten. Ich antworte nie
sofort, sondern erst am Ende der Predigt. Die Leute merkten sich ihre Fragen
und stellten sie mir am Schluß. Matthäus jedoch wollte sofort antworten...
Auch uns hat man
194
Fragen gestellt. Manche aber
sagten grinsend: "Noch ein Verrückter! Der kommt bestimmt aus der Höhle von
Israel. Die Juden sind wie Kletten, die sich überall anhängen. Immer ihre
ewigen Märchen! Sie haben Gott als Gevatter. Hört sie nur! Er ist auf der
Schneide ihres Schwertes und in der Bitterkeit ihrer Zunge. Ja, ja, nun kommen
sie mit ihrem Messias daher. Ein anderer Irrer, der uns beunruhigen will, wie
es schon seit Jahrhunderten geschieht. Die Pest soll ihn und seine Rasse
holen!"
Da habe ich die Geduld verloren.
Ich habe den Matthäus zurückgezogen, der immer noch lächelnd weitersprach, als
ob man ihm Ehren erwiese, und ich habe zu reden begonnen und Jeremias zum
Thema meiner Rede genommen. "Sieh, Wasser steigen auf aus dem Norden; sie
werden zum
schwellenden Gießbach und
überfluten das Land .. Bei ihrem Lärm",
habe ich gesagt, "- die Strafe
Gottes über euch, verfluchte Rasse, wird dem Rauschen vieler Wasser gleichen;
doch werden es Waffen und Bewaffnete der Erde und himmlische Reiter sein, die
dem Befehl der Häupter des Volkes Gottes folgen, um euch für eure Schandtaten
zu bestrafen – bei ihrem Lärm werdet ihr die Kraft verlieren; euer Hochmut,
eure Herzen, eure Arme, eure Gefühle und alles wird zusammenbrechen.
Ausgerottet werdet ihr, ihr Überbleibsel der Insel der Sünde, Tor der Hölle!
Seid ihr wieder hochmütig geworden, weil Herodes eure Stadt hat wieder
aufbauen lassen? Aber ihr werdet noch mehr geschoren werden und bald
hoffnungslose Kahlköpfe sein; in euren Städten und Dörfern, in den Tälern und
Ebenen werdet ihr von allen Übeln heimgesucht werden. Die Weissagung ist noch
nicht tot"; und ich wollte so fortfahren, aber sie sind auf uns losgestürmt;
und nur weil gerade eine Karawane aus einer Seitenstraße kam, konnten wir uns
retten, denn schon flogen die ersten Steine. Sie haben die Kamele und die
Kameltreiber getroffen, und es hat eine Rauferei gegeben, so daß wir fliehen
konnten. Dann haben wir uns in einem kleinen Hof des Vorortes still verhalten.
Oh! Ich komme nicht mehr hierher ...»
«Aber entschuldige, du hast sie
beleidigt! Die Schuld liegt bei dir! Jetzt verstehe ich, warum sie wütend auf
uns losgestürmt sind, um uns fortzujagen!» ruft Nathanael aus. Er fährt fort:
«Höre, Meister. Wir, also Simon des Jonas, ich und Philippus sind zum Tor
gegangen, das zum Meer führt. Dort waren Seeleute und Schiffsbesitzer, die
Waren nach Zypern, nach Griechenland und in fernere Länder verluden. Sie
schimpften auf die Sonne, den Staub und die Mühen. Sie verfluchten ihr Los als
Philister und Sklaven ihrer Unterdrücker, da sie doch Könige hätten sein
können. Sie verfluchten die Propheten, die Tempel und uns allesamt. Ich wollte
weggehen, aber Simon war dagegen und sagte: "Nun erst recht nicht! Gerade sie
sind die Sünder, denen wir uns nähern müssen. Der Meister würde es tun, darum
müssen auch wir es tun." "Dann rede du", sagten Philippus und ich. "Und wenn
ich es nicht kann?" entgegnete Simon. "Dann werden wir dir helfen",
antworteten wir.
195
Simon ist also lächelnd auf zwei
Seeleute zugegangen, die sich schwitzend auf einen großen Ballen gesetzt
hatten, den sie nicht mehr auf das Schiff zu hissen vermochten, und sagte.
"Der ist schwer, nicht wahr?" "Mehr als schwer, und wir sind müde. Wir müssen
mit dem Beladen des Schiffes fertig werden, denn der Herr hat es befohlen. Er
will zur Zeit der Ebbe den Anker lichten; denn heute abend wird das Meer
bewegter sein, und da müssen die Riffe hinter uns sein." "Riffe im Meer?" "Ja,
dort, wo das Wasser brandet. Schlimme Stelle!" "Strudel? Natürlich, denn der
Mittagswind dreht und stößt dort mit der Strömung zusammen." "Bist du
Seemann?" "Fischer, im Süßwasser. Doch Wasser ist immer Wasser, und Wind ist
Wind. Auch ich habe schon mehr als einmal Wasser getrunken und nicht selten
den ganzen Fang verloren. Unser Handwerk hat seine guten und seine bösen
Seiten. So ist es in allen Dingen! Nirgendwo leben nur böse Menschen. Mit ein
bißchen gutem Willen kann man sich immer verständigen, und überall gibt es
gute Menschen. Los, ich will euch helfen." Und Simon hat Philippus gerufen:
"Komm, faß den Ballen hier an, ich nehme ihn dort, und diese guten Leute
führen uns zum Lagerraum auf dem Schiff."
Zuerst wollten die Philister
nicht; doch dann ließen sie uns gewähren. Nachdem wir den Ballen und noch
weitere, die auf der Brücke lagen, im Lagerraum untergebracht hatten, begann
Simon, wie nur er es kann, das Schiff und die schöne Stadt am Meer zu loben
und sich für die Seefahrt und die Städte anderer Länder zu interessieren. Und
alle haben ihn umringt, um ihm zu danken und ihn zu loben, bis einer zu fragen
anfing. "Aber du, woher kommst du denn? Vom Nil?" "Nein, vom galiläischen
Meer. Aber wie ihr seht, bin ich kein grausamer Mensch. Das ist wahr." "Suchst
du Arbeit?" "Ja." "Ich nehme dich sofort, wenn du willst. Ich sehe, daß du ein
tüchtiger Seemann bist", sagte der Herr, "Und ich nehme dich." "Mich? Hast du
nicht gesagt, daß du Arbeit suchst?" "Das ist wahr. Aber meine Arbeit besteht
darin, die Menschen zum Messias Gottes zu führen. Du bist ein Mensch. Also
bist du Arbeit für mich." "Aber ich bin ein Philister. Was bedeutet das?" "Das
bedeutet, daß ihr uns haßt und seit jeher verfolgt. Eure Oberhäupter haben es
uns immer wieder gesagt .. Die Propheten, nicht wahr? Aber jetzt sind die
Prophetenstimmen verstummt. Jetzt gibt es nur noch den einen, den großen, den
heiligen Jesus. Er schreit nicht, sondern ruft mit der Stimme eines Freundes.
Er verflucht nicht, sondern segnet. Er bringt kein Übel, sondern beseitigt es.
Er haßt nicht und will nicht, daß man haßt; er liebt alle und will, daß wir
auch unsere Feinde lieben. In seinem Reiche gibt es keine Sieger und Besiegte
mehr, keine Freien und Sklaven, keine Freunde und Feinde. Es gibt dort
Unterschiede nicht mehr, die nur Böses verursachen und zur menschlichen
Bosheit führen. Dort gibt es nur mehr seine Nachfolger, also Menschen, die in
der Liebe und der Freiheit leben, Sieger über alles,
196
was Übel und Schmerz ist. Ich
bitte euch, glaubt meinen Worten und verlangt nach ihm. Weissagungen wurden
geschrieben. Aber er ist viel größer als die Propheten, und für alle, die ihn
lieben, gelten die Prophezeiungen nicht mehr. Seht ihr eure schöne Stadt?
Schöner noch werdet ihr sie im Himmel wiederfinden, wenn es euch gelingt, den
Herrn, unseren Christus, den Christus Gottes zu lieben."
So hat Simon gesprochen, gutmütig
und zur gleichen Zeit erleuchtet; alle haben ihm aufmerksam und voller Achtung
zugehört. Ja, voller Achtung! Dann sind plötzlich aus einer Seitenstraße
schreiende Bürger hergestürmt, mit Stöcken und Steinen bewaffnet. Sie haben
uns gesehen und an unserer Kleidung erkannt, daß wir Fremde sind, und... Nun
verstehe ich erst... Fremde deiner Art, Judas! Sie müssen geglaubt haben, daß
wir sind wie du. Wenn uns die vom Schiff nicht geholfen hätten, wäre es um uns
geschehen! Sie haben eine Schaluppe niedergelassen, haben uns auf dem Meer
weggefahren und uns dann bei den Gärten im Süden ausgebootet; von dort sind
wir in die Stadt zurückgekehrt, zusammen mit den Blumenzüchtern für die
Reichen hier. Aber du, Judas, verdirbst alles! Ist das die Art zu überzeugen?»
«Es ist die Wahrheit.»
«Die man zu benützen verstehen
muß. Auch Petrus hat keine Lügen gesagt; aber er hat zu reden verstanden»,
entgegnet Nathanael.
«Oh, ich... Ich habe nur
versucht, mich in den Meister zu versetzen, und gedacht: "Er ist sanft, also
muß auch ich es sein"», sagt Petrus schlicht.
«Ich ziehe eben die harte Art
vor. Sie ist vornehmer.»
«Deine übliche Einbildung! Du
hast unrecht, Judas! Seit einem Jahr sucht der Meister dich von dieser
Einbildung zu kurieren; aber du bist nicht bereit, dich zu bessern. Auch
beharrst du hartnäckig im Irrtum, wie die Philister, die du beschimpfst», ruft
Simon der Zelote.
«Wann hat er mich
zurechtgewiesen? Außerdem, jeder hat seine Art und handelt danach.»
Simon der Zelote fährt zusammen,
als er diese Worte hört und schaut auf Jesus, der aber schweigt und dann auf
diesen vielsagenden Blick mit einem verständnisvollen Lächeln antwortet.
«Das ist kein Grund», sagt
Jakobus des Alphäus ruhig und fährt fort: «Wir sind hier, um uns zu bessern,
bevor wir andere zu bessern suchen. Der Meister ist unser Lehrer. Er wäre es
nicht, hätte er nicht gewollt, daß wir unsere Gewohnheiten und unsere
Ansichten ändern.»
«Er war Meister in seiner
Weisheit ...»
«War? Er ist es», sagt Thaddäus
ernst.
«Wieviel Haarspalterei! Ja, er
ist es!»
«Er ist in allem der Meister.
Nicht nur in der Weisheit. Seine Belehrung bezieht sich auf alles, was in uns
ist. Er ist vollkommen, wir sind unvollkommen. Strengen wir uns also an,
vollkommener zu werden», schlägt Jakobus des Alphäus sanft vor.
«Ich sehe nicht ein, daß ich
Fehler gemacht habe. Es ist so gekommen, weil es eine verfluchte Rasse ist.
Sie sind alle verdorben.»
«Nein, das kannst du nicht
sagen», bricht Thomas hervor. «Johannes ist zu den Geringsten gegangen: zu den
Fischern, die ihre Fische auf den Markt brachten. Siehst du diesen feuchten
Sack? Es ist vortrefflicher Fisch darin. Sie haben auf den Verdienst
verzichtet und ihn uns geschenkt. Aus Furcht, daß der, den sie in der Frühe
gefangen hatten, nicht mehr frisch sein könnte, sind sie noch einmal aufs Meer
hinausgefahren und haben uns mitnehmen wollen. Es war wie auf dem See von
Galiläa, und ich versichere dir, wenn die Gegend und auch die Barken voller
aufmerksamer Gesichter uns daran erinnerten, ließ uns Johannes noch mehr daran
erinnern. Er glich Jesus. Die Worte quollen ihm süß wie Honig aus dem Mund,
und sein Gesicht leuchtete wie die Sonne. Wie sehr hat er dir geglichen,
Meister! Ich war ganz gerührt. Drei Stunden waren wir auf dem Meer und
warteten, bis die ausgespannten Netze voller Fische waren; es waren drei
Stunden der Seligkeit. Dann verlangten alle, dich zu sehen. Aber Johannes
sagte: "Wir werden uns in Kapharnaum wiedersehen" ' so als ob er sagen würde:
"Wir treffen uns auf dem Marktplatz eures Dorfes." Und sie haben versprochen:
"Wir kommen." Wir mußten uns wehren, daß sie uns nicht zuviel Fisch aufluden.
Sie haben uns vom Feinsten gegeben. Wir wollen ihn gleich kosten. Heute abend
halten wir ein großes Gastmahl, um uns vom gestrigen Fasttag zu erholen.»
«Aber was sagst du denn! Auch
Johannes hat die Propheten genannt; doch er hat sie auf den Kopf gestellt»,
erklärt Thomas.
«Auf den Kopf gestellt?» fragt
Iskariot erstaunt.
«Ja. Du hast das Bittere an den
Propheten gewählt, er das Sanfte; denn ihre Strenge ist letztlich Liebe, eine
außerordentliche, heftige Liebe, wenn du willst; aber dennoch Liebe für die
Seelen, die nach ihrem Wunsch dem Herrn treu sein wollen. Ich weiß nicht, ob
du jemals darüber nachgedacht hast, du, der du von den Schriftgelehrten
ausgebildet worden bist. Ich wohl, obgleich ich Goldschmied bin. Auch das Gold
hämmert und bearbeitet man, um es schöner zu machen. Nicht aus Haß, sondern
aus Liebe! So tun es die Propheten mit den Seelen. Ich kann das verstehen,
vielleicht weil ich Goldschmied bin. Johannes hat Zacharias zitiert, und zwar
die Weissagung, die sich auf Hadrach und Damaskus bezieht, und an der Stelle
angekommen: "Bei diesem Anblick wird Askalon erschaudern, und Gaza wird vor
Angst gewaltig erbeben, und auch Ekron, denn seine Hoffnung ist zuschanden
worden. Gaza wird keinen König mehr haben", hat er erklärt, wie dies alles
eingetroffen ist, weil der Mensch sich von Gott entfernt hat; und darauf hat
er von der Ankunft des Messias gesprochen, der Vergebung und Liebe ist und
verspricht, daß die auf ein
198
armes, weltliches Königtum
hoffenden Menschen, die der Lehre des Messias nachfolgen, ein ewiges und
unendliches Königtum im Himmel erwerben werden. Das zu sagen, ist nichts; aber
es gehört zu haben! Es war, als ob man eine Musik hörte und von Engeln nach
oben getragen würde. Und daher haben uns die Propheten, die dir Prügel gegeben
haben, eine Menge köstlicher Fische geschenkt!»
Judas schweigt betroffen.
«Und ihr?» fragt der Meister die
Vettern und den Zeloten.
«Wir sind zu den Werftarbeitern
gegangen, wo die Schiffsausbesserer arbeiten. Auch wir haben es vorgezogen, zu
den Armen zu gehen. Aber es waren auch reiche Philister dort, die den Bau
ihrer Schiffe überwachten. Wir waren uns nicht schlüssig, wer von uns reden
sollte. So haben wir wie die Kinder um Punkte gespielt. Judas hatte sieben
Finger, ich vier und Simon zwei geöffnet. So hat es also Judas getroffen. Er
hat gesprochen», erklärt Jakobus des Alphäus.
«Was hast du gesagt?» fragen
alle.
«Ich habe mich offen als den zu
erkennen gegeben, der ich bin, und habe gesagt, daß ich von ihrer
Gastfreundschaft die Güte erbitte, das Wort des Pilgers anzuhören, der in
ihnen seine Brüder sieht, weil wir einen gemeinsamen Ursprung und dasselbe
Ziel haben; weil mich die nicht gemeinsame, aber liebevolle Hoffnung erfüllt,
sie ins Haus des Vaters mitnehmen und auf ewig in der unendlichen
Glückseligkeit des Himmels Brüder nennen zu können. Ich habe dann weiter
gesagt: "Sophonias, unser Prophet sagt: 'Die Region des Meeres wird ein Ort
der Hirten werden... dort werden sie ihre Weiden haben, und am Abend werden
sie in den Häusern von Askalon ruhen."' Und ich habe meine Gedanken dargelegt
und gesagt: "Der höchste Hirte ist unter euch, nicht mit Pfeilen bewaffnet,
sondern mit Liebe. Er bietet euch seine Hand an und führt euch auf seine
heiligen Weiden. Er erinnert sich der Vergangenheit nur, um die Menschen des
großen Leides wegen zu bemitleiden, das sie sich wie unvernünftige Kinder mit
Haß zugefügt haben, während sie doch mit gegenseitiger Liebe viele Schmerzen
aus der Welt schaffen könnten; denn sie sind Brüder. Dieses Gebiet", habe ich
gesagt, "wird zum Weideland der heiligen Hirten, der Diener des höchsten
Hirten; denn sie wissen schon, daß sie hier die fruchtbarsten Weiden und die
besten Herden besitzen, und ihr Herz wird sich an ihrem Lebensabend ausruhen
im Gedanken an eure Herzen, an die eurer Söhne, wie auch der Angehörigen eurer
befreundeten Häuser, denn sie werden als Herrn unseren Herrn haben." Sie haben
mich verstanden. Sie haben mir, vielmehr uns, Fragen gestellt. Und Simon hat
seine Heilung geschildert, mein Bruder deine Güte zu den Armen. Der Beweis:
hier, diese gefüllte Börse für die Armen, denen wir unterwegs begegnen. Auch
uns haben die Propheten nichts zuleide getan...»
Iskariot ist sprachlos.
199
«Nun», tröstet ihn Jesus, «das
nächste Mal wird es Judas besser machen. Er hat gemeint, recht zu handeln. Er
hat in gutem Glauben gesprochen und daher in keiner Weise gesündigt. Ich bin
auch mit ihm zufrieden. Apostel sein, ist nicht leicht; doch man kann es
lernen. Etwas tut mir allerdings leid, und zwar, daß ich dieses Geld nicht
schon vorher erhalten und euch nicht gefunden habe. Ich hätte es für eine arme
Familie gut brauchen können.»
«Wir können ja zurückgehen, es
ist noch früh... Aber entschuldige, Meister, wie hast du das Volk hier
gefunden? Was hast du getan? Wirklich nichts? Hast du deine Botschaft nicht
verkündet?»
«Ich? Ich bin spazierengegangen.
Schweigend sagte ich zu einer Dirne: "Befreie dich von deiner Sünde!" Ich traf
einen Jungen, einen echten Lausbuben; ich belehrte ihn, indem ich Geschenke
mit ihm ausgetauscht habe. Ich habe ihm die Spange gegeben, die mir Maria
Salome in Bethanien an das Kleid geheftet hatte; er schenkte mir diese seine
Arbeit.» Jesus nimmt die spöttische Holzfigur aus seinem Gewand. Alle
betrachten sie und lachen. «Dann sah ich herrliche Teppiche, die eine Frau in
Askalon anfertigt, um sie in Ägypten oder sonstwo zu verkaufen. Darauf
tröstete ich ein kleines vaterloses Mädchen und heilte seine Mutter. Das ist
alles!»
«Das scheint dir wenig zu sein?»
«Ja, denn ich hätte auch Geld
benötigt; ich hatte keines.»
«Gehen wir doch zurück, denn...
wir haben niemand belästigt», sagt Thomas.
«Und der Fisch?» scherzt Jakobus
des Zebedäus.
«Der Fisch? Nun, ihr mit dem
Fluch auf dem Buckel, geht zum Alten, der uns beherbergt, um den Fisch
vorzubereiten. Wir gehen in die Stadt.»
«Ja», sagt Jesus. «Ich will euch
das Haus aus der Ferne zeigen. Es werden Leute dort sein. Ich komme nicht mit,
man würde mich aufhalten. Ich will den Gastgeber, der uns erwartet, nicht
beleidigen. Jede Unhöflichkeit ist stets Mangel an Liebe.»
Iskariot senkt sein Haupt noch
tiefer und wird purpurrot; er wechselt beständig seine Farbe, weil er sich
erinnert, wie oft er schon in diesen Fehler gefallen ist.
Jesus wiederholt: «Ihr geht in
das Haus und sucht das Mädchen; es ist dort das einzige, ihr könnt nicht
irren. Ihr gebt dem Mädchen diese Börse und sagt: "Das schickt dir Gott, weil
du Glauben bezeugt hast. Es ist für dich, die Mama und die Geschwister."
Darauf kommt ihr sofort zurück. Nun, gehen wir.»
Die Gruppe trennt sich. Jesus
begibt sich mit Johannes, Thomas und den Vettern in die Stadt, während die
anderen zum Haus des Gärtners, des Philisters, gehen.
200
261. JESUS VERBRENNT IN MAGDALGAD
EIN HEIDNISCHES GÖTZENBILD
Askalon und seine Gärten sind
schon Erinnerung. In den frühen Stunden eines herrlichen Morgens kehrt Jesus
dem Meer den Rücken und geht mit den Seinen auf die freundlichen, nicht sehr
hohen, grünen Hügel zu, die sich in einer fruchtbaren Ebene erheben. Seine
ausgeruhten, zufriedenen Apostel sind alle frohgestimmt und sprechen von
Ananias, seinen Sklavinnen, von Askalon und dem Durcheinander, das in der
Stadt herrschte, als sie zurückkehrten, um Dina die Geldspende zu bringen.
«Es war bestimmt, daß ich den
Druck der Philister erleben sollte. Der Haß und die Liebe haben, wenn man so
will, dieselben Kundgebungen. Und ich, der ich den Haß der Philister nicht
kennenlernte, erlag beinahe ihrer Liebe. Sie hätten uns beinahe eingesperrt,
um aus uns herauszupressen, wo der Messias sich befinde, sie alle vom Wunder
Begeisterten. Und welch ein Geschrei! Nicht wahr, Johannes? Die Stadt kochte
wie ein Kessel. Aufgeregte wollten keine Vernunft annehmen, sondern die Juden
finden, um sie zu verprügeln. Die Beschenkten und die Freunde der Beschenkten
wollten die Erstgenannten überzeugen, daß ein Gott vorübergegangen sei. Welch
ein Durcheinander! Sie haben Gesprächsstoff für Monate. Das Übel bei dem
Ganzen ist, daß sie mehr mit den Prügeln als mit der Zunge diskutierten. Nun,
das ist ihre Sache! Sie sollen tun, was sie wollen», sagt Thomas.
«Aber sie sind nicht schlecht»,
bemerkt Johannes.
«Nein, sie sind nur verblendet,
aus vielen Gründen», antwortet der Zelote.
Jesus redet nicht während einer
langen Wegstrecke. Dann sagt er: «Ich begebe mich in das kleine Dorf auf dem
Hügel dort; ihr geht weiter nach Azot. Seid vorsichtig! Seid höflich, sanft
und geduldig! Wenn sie euch verspotten, ertragt es in Frieden, wie Matthäus es
gestern tat, und Gott wird euch helfen. Bei der Dämmerung geht hinaus zum
Weiher, der in der Nähe von Azot liegt; dort werden wir uns treffen.»
«Aber Herr, ich lasse dich nicht
allein gehen!» ruft Iskariot aus. «Sie sind gewalttätig... Es wäre unklug.»
«Sorgt euch nicht um mich. Geh,
geh, Judas, aber sei klug. Lebt wohl! Der Friede sei mit euch!»
Die Zwölf gehen wenig begeistert
weiter. Jesus sieht ihnen nach und schlägt dann den Pfad, der kühl und
schattig ist, zum Hügel ein. Der Hügel selbst ist bedeckt mit Wäldern von Öl-,
Nuß- und Feigenbäumen und Reben, die gut gepflegt sind und schon eine reiche
Ernte versprechen. In den flachen Gebieten sind Getreidefelder, an den Hängen
weiden blonde Ziegen in dem grünen Gras.
Jesus erreicht die ersten Häuser
des Ortes. Er ist gerade daran, das Dorf
201
zu betreten, als ihm eine
eigenartige Prozession entgegenkommt. Es sind schreiende Frauen und
stimmkräftige Männer, die einen klagenden Wechselgesang leiern und um einen
Widder tanzen, der mit verbundenen Augen daherkommt, geschlagen wird und schon
an den Knien blutet, da er auf dem steinigen Pfad gestolpert und gefallen ist.
Eine andere ebenfalls schreiende Gruppe tanzt um ein geschnitztes, sehr
häßliches Götzenbild und hält Pfannen mit glühenden Kohlen in die Höhe, in die
Harz und Salz gestreut werden; so kommt es mir wenigstens vor, denn das eine
duftet nach brennendem Harz und das andere knistert, wie es das Salz tut. Eine
letzte Gruppe von Menschen umringt einen Zauberer, vor dem sie sich unentwegt
verneigen und schreien: «Durch deine Macht!» (Die Männer.) «Du allein kannst
es!» (Die Frauen.) «Flehe Gott an!» (Die Männer.) «Entkräfte die
Verwünschung!» (Die Frauen.) «Befiehl der Gebärenden!» «Rette die Frau!» Und
alle zusammen mit einem höllischen Geschrei: «Tod der Hexe!» Schließlich
wieder von vorne mit einer Abwandlung: «Durch deine Macht!» «Du allein kannst
es!» «Befiehl Gott!» «Daß er sehen lasse!» «Befiehl dem Widder!» «Daß er die
Hexe zeige!»Und mit einem Ruf der Verzweiflung: «Die das Haus des Fara haßt!»
Jesus hält einen aus der letzten
Gruppe an und fragt ihn sanft: «Was ist geschehen? Ich bin fremd ...»
Da die Prozession einen
Augenblick zum Stillstand kommt, um den Widder zu schlagen, Harz auf die
Kohlen zu streuen und Atem zu holen, erklärt ihm der Mann: «Die Frau Faras,
des Großen von Magdalgad, stirbt unter den Geburtswehen. Eine haßt sie und hat
den bösen Blick auf sie geworfen. Die Eingeweide haben sich verschlungen; das
Kind kann nicht geboren werden. Wir suchen die Hexe, um sie zu töten. Nur so
kann die Frau Faras gerettet werden. Wenn wir die Hexe nicht finden, werden
wir den Widder opfern, um die höchste Barmherzigkeit der Göttin der Gebärenden
zu erflehen.» (Man versteht nun, daß die primitive Puppe eine Göttin
darstellt.)
«Haltet an. Ich kann die Frau
heilen und den Sohn retten. Teilt es dem Priester mit», sagt Jesus zu dem Mann
und zu zwei anderen, die hinzugetreten sind.
«Bist du Arzt?»
«Mehr als das.»
Die drei bahnen sich einen Weg
durch die Menge und gehen zum Götzenpriester. Sie sprechen mit ihm. Die Leute
diskutieren erregt. Die Prozession, die sich wieder in Bewegung gesetzt hatte,
hält an. Der Priester, imponierend in seinen vielfarbigen Gewändern, gibt
Jesus ein Zeichen und sagt: «Junger Mann, komm her!» Und als er in seiner Nähe
ist: «Ist das, was du sagst, wahr? Nimm dich in acht, wenn das, was du sagst,
nicht eintrifft, müssen wir annehmen, daß der Geist der Hexe auf dich
übergegangen ist, und dich statt sie töten.»
202
"Es ist wahr! Bringt mich sofort
zur Frau und gebt mir den Widder! Ich brauche ihn. Nehmt ihm die Binde ab und
bringt ihn hierher.»
Sie folgen seinen Anweisungen.
Das arme Tier, verstört, wankend und blutend, wird zu Jesus gebracht, der sein
dichtes Fell streichelt.
«Gehorcht mir jetzt ohne
Widerrede! Tut ihr es?»
«Ja», schreit die Menge.
«Gehen wir. Hört auf mit dem
Geschrei und verbrennt kein Harz mehr. Ich befehle es.»
Sie brechen auf, betreten das
Dorf und begeben sich auf der besten Straße zu einem Haus, das inmitten eines
Obstgartens steht. Schreie und Weinen dringen aus den weit geöffneten Türen,
und alles wird von dem jämmerlichen Klagen der Frau, die nicht gebären kann,
übertönt.
Fara wird benachrichtigt, der
erschüttert aus dem Haus kommt, und von weinenden Frauen und machtlosen
Götzendienern umringt ist, die Weihrauch und Kräuter auf Kupferschalen
verbrennen. «Rette meine Frau!» «Rette meine Tochter!» «Rette sie, rette sie!»
schreien abwechselnd der Mann, eine Alte und das Volk.
«Ich will sie retten und mit ihr
deinen Sohn; denn es ist ein Sohn, er ist gesund und hat zwei sanfte Augen von
der Farbe reifer Oliven und einen Kopf mit Haaren, die schwarz sind wie dieses
Fell.»
«Wie kannst du das wissen? Siehst
du auch in die Eingeweide?»
«Ich sehe alles, und mein Blick
durchdringt alles. Ich kenne alles und kann alles. Ich bin Gott!»
Hätte er einen Blitz aufleuchten
lassen, es hätte weniger Eindruck gemacht. Alle werfen sich wie tot zu Boden.
«Steht auf und hört mich an! Ich
bin der mächtige Gott und dulde keine anderen Götter neben mir! Zündet ein
Feuer an und werft dieses Gebilde hinein!»
Die Leute weigern sich. Sie
beginnen am geheimnisvollen Gott zu zweifeln, der die Verbrennung der Göttin
verlangt. Die Priester sind aufgebracht. Aber Fara und die Mutter der Frau,
die um das Leben der Tochter bangt, widersprechen der feindlich gesinnten
Menge; da Fara aber die einflußreichste Person im Dorf ist, beruhigt sich die
Menge. Der Mann fragt: «Wie kann ich glauben, daß du ein Gott bist? Gib mir
ein Zeichen, dann will ich den Befehl geben, daß getan wird, was du willst.»
«Schau her! Siehst du die Wunden
des Widders? Sie sind offen, nicht wahr? Sie bluten, nicht wahr? Das Tier ist
am Verenden, nicht wahr? Ich aber will, daß dies nicht geschieht ... Schau
her!»
Der Mann beugt sich und schaut
... und schreit: «Der Widder hat keine Wunden mehr!» Er wirft sich zu Boden
und fleht: «Meine Frau, meine Frau!»
Doch der Priester, der die
Prozession anführt, sagt: «Fürchte dich, Fara! Wir wissen nicht, wer dieser
ist. Fürchte die Rache der Götter!»
203
Der Mann wird nun von zwei
Ängsten erfaßt: die Götter... die Frau... Er fragt: «Wer bist du?»
«Ich bin, der ich bin im Himmel
und auf Erden. Alle Mächte sind mir untertan, jeder Gedanke ist mir bekannt.
Die Bewohner des Himmels beten mich an, die Bewohner der Hölle fürchten mich,
und wer an mich glaubt, kann Wunder aller Art erleben!»
«Ich glaube, ich glaube! Wie
heißt du?»
«Jesus Christus, der
menschgewordene Herr. Werft das Götzenbild ins Feuer! Ich dulde keine Götter
vor meinem Angesicht. Löscht den Weihrauch in den Schalen aus! Nur mein Feuer
will und vermag alles. Gehorcht oder ich zünde selbst das unnütze Götzenbild
an und gehe meines Weges, ohne zu heilen.»
Jesus ist erschreckend anzusehen
in seinem Leinenkleid, von dessen Schultern der lange, im Wind sich bewegende
blaue Mantel herunterhängt; sein Arm ist zum Befehl erhoben, das Antlitz
leuchtet. Die Leute haben Angst. Niemand spricht. Im Schweigen hört man den
schwächer werdenden, erschütternden Schrei der Gebärenden. Aber man zögert
noch, zu gehorchen. Das Antlitz Jesu wird immer unerträglicher anzusehen. Es
ist wahrhaft ein Feuer, das Dinge und Seelen verbrennt. Die Kupferpfannen sind
die ersten, die diesem Willen gehorchen. Ihre Träger müssen sie wegwerfen; sie
können die Hitze nicht mehr ertragen, obwohl die Kohlen erloschen zu sein
scheinen... Dann folgen die Träger des Götzenbildes, die das Traggestell auf
den Boden stellen müssen, da die Stangen auf den Schultern zu glühen beginnen,
als ob eine geheimnisvolle Flamme sie erfaßt hätte; kaum steht die Trage auf
dem Boden, geht das Götzenbild in Flammen auf.
Die Leute fliehen erschreckt...
Jesus wendet sich an Fara:
«Kannst du nun an meine Macht glauben?»
«Ich glaube, ich glaube! Du bist
Gott! Du bist der Gott Jesus.»
«Nein, ich bin das Wort des
Vaters, des Jahwe Israels, gekommen in Fleisch, Blut, Seele und Gottheit, um
die Welt zu erlösen und ihr den Glauben an den wahren Gott, den einen und
dreieinigen Gott in den höchsten Himmeln, zu bringen. Ich bin gekommen, um den
Menschen Hilfe und Barmherzigkeit zu erweisen, damit sie sich vom Irrtum
abwenden und zur Wahrheit gelangen, welche der eine Gott Moses und der
Propheten ist. Kannst du noch glauben?»
«Ich glaube, ich glaube!»
«Ich bin gekommen, um den
Menschen Weg, Wahrheit und Leben zu eröffnen, um die Götzen niederzuwerfen, um
die Weisheit zu lehren. Durch mich wird die Welt erlöst; denn ich werde
sterben aus Liebe für die Welt und für das ewige Heil der Menschen. Kannst du
noch glauben?»
«Ich glaube, ich glaube!»
«Ich bin gekommen, um den
Menschen zu sagen, daß sie, wenn sie an
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den wahren Gott glauben, das
ewige Leben haben werden im Himmel, beim Allerhöchsten, welcher der Schöpfer
jedes Menschen, Tieres und Planeten ist. Kannst du noch glauben?»
«Ich glaube, ich glaube!»
Jesus geht nicht einmal in das
Haus hinein. Er streckt nur die Arme in Richtung des Zimmers der Leidenden
aus, wie bei der Auferweckung von Lazarus, und ruft: «Komm an das Licht, um
das göttliche Licht kennenzulernen und auf Befehl des Lichtes, das Gott ist!»
Ein tönender Befehl, auf den kurz darauf das Echo eines Triumphgeschreis
folgt, in dem Angst und Freude mitklingt. Dann wird das schwache, aber
deutliche und immer lauter werdende Weinen eines Neugeborenen hörbar.
«Dein Sohn weint und begrüßt die
Erde. Geh zu ihm und sag ihm, jetzt und später, daß nicht die Erde seine
Heimat ist, sondern der Himmel. Laß ihn wachsen und wachse du mit ihm für den
Himmel. Es ist die Wahrheit, die dir dies sagt. Diese dort (Jesus zeigt auf
die Kupferschalen, die, wie trockene Blätter zusammengeschmolzen und nutzlos
geworden, am Boden liegen, und auf die Asche, die den Platz bezeichnet, wo das
Traggestell mit dem Götzen stand) sind die Lüge, die nicht helfen und nicht
retten kann. Leb wohl!»
Und Jesus schickt sich an zu
gehen. Doch da kommt eine Frau aus dem Haus mit einem lebhaften Neugeborenen,
der in Linnen gewickelt ist, und schreit: «Es ist ein Knabe, Fara! Schön,
stark, mit Augen wie reife Oliven, und Löckchen, schwärzer und feiner als die
eines heiligen Böckleins. Die Mutter schlummert selig. Sie leidet nicht mehr,
als ob nichts geschehen wäre. Eine plötzliche Veränderung ist eingetreten,
denn sie lag schon im Sterben, aber nach jenen Worten ...»
Jesus lächelt, und da der Mann
ihm den Neugeborenen zeigt, berührt er das Köpfchen mit den Fingerspitzen. Die
Leute kommen näher, um den Neugeborenen zu betrachten und Jesus anzusehen. Die
Priester sind erzürnt weggegangen, als sie sahen, daß Fara nachgab.
Fara möchte Jesus Geld und Werte
für das Wunder geben; doch er sagt sanft und bestimmt: «Ich will nichts! Das
Wunder bezahlt man nur mit der Treue zu Gott, der es gewirkt hat. Ich behalte
nur diesen Widder als Andenken an deine Stadt.» Und er geht mit dem Widder,
der neben ihm trottet als ob Jesus sein Herr wäre. Das Tier ist gesund,
glücklich und blökt vor Freude, mit jemand zu sein, der nicht schlägt. Sie
steigen einen Abhang hinunter und gelangen auf die Hauptstraße, die nach Azot
führt...
Am Abend dann, beim schattigen
Weiher, sieht Jesus die ankommenden Jünger, und das Erstaunen ist gegenseitig:
sie sehen Jesus mit dem Widder, und Jesus sieht ihre enttäuschten Gesichter,
die besagen, daß sie keinen Erfolg hatten.
«Welch eine Niederlage, Meister!
Sie haben uns zwar nicht geschlagen,
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aber aus der Stadt gejagt. Wir
sind zwischen den Feldern herumgeirrt und haben nur für teures Geld Nahrung
erhalten. Aber wir sind sanft geblieben», berichten sie traurig.
«Das ist unwichtig. Auch in
Hebron haben sie uns im vergangenen Jahr vertrieben, dieses Jahr aber mit
Ehren empfangen. Ihr dürft den Mut nicht verlieren.»
«Und du, Meister? Warum das
Tier?» fragen sie.
«Ich bin nach Magdalgad gegangen.
Ich verbrannte ein Götzenbild und die Weihrauchgefäße desselben; ich ließ
einen Knaben zur Welt kommen, ich verkündete den wahren Gott durch Wunder, und
als Belohnung nahm ich den Widder, der für den Götzendienst bestimmt war.
Armes Tier, es war eine einzige Wunde!»
«Aber jetzt geht es ihm gut. Ein
sehr schönes Tier!»
«Ein heiliges Tier, für den
Götzendienst bestimmt. Gesund... ja. Das erste Wunder, um sie zu überzeugen,
daß ich der Mächtige bin, und nicht ihr Stück Holz.»
«Was machst du mit dem Tier?»
«Ich bringe es Margziam. Ein
Hampelmann gestern, ein Böcklein heute! Er wird sich freuen.»
«Aber willst du den Widder bis
nach Bether mitnehmen?»
«Ja! Ich sehe nicht, was
Schreckliches daran ist. Wenn ich der Hirte bin, darf ich auch einen Widder
haben. Wir werden ihn den Frauen geben. Sie nehmen ihn mit nach Galiläa, und
sie werden eine Ziege finden. Simon, du wirst Hirt werden. Besser wären
Schafe... Aber in der Welt gibt es mehr Böcke als Schafe... Es ist ein Symbol,
mein Petrus. Denk daran... Durch dein Opfer wirst du aus den Böcken viele
Lämmer machen. Kommt, wir wollen das von Obstgärten umgebene Dorf erreichen.
Dort werden wir uns in den Häusern oder bei den Garben, die schon gebunden auf
den Feldern liegen, ausruhen. Und morgen werden wir nach Jabnia gehen.»
Die Apostel sind erstaunt,
betrübt und entmutigt. Erstaunt über die Wunder; betrübt, weil sie nicht
dabeisein konnten; entmutigt wegen ihrer Unfähigkeit, während Jesus alles
kann. Jesus hingegen ist glücklich! Es gelingt ihm, sie davon zu überzeugen,
daß nichts unnütz ist. Nicht einmal der Mißerfolg. Denn er macht demütig,
während das Reden dazu dient, einen Namen, den seinen, bekannt zu machen, ein
Andenken in den Herzen zu hinterlassen. Und Jesus ist so überzeugend und so
strahlend vor Freude, daß die Apostel sich beruhigen.
Nun möchte ich Ihnen (Ihrem
Seelenführer) etwas sagen, sonst wird es mir zur fixen Idee. Vor zwei Wochen
oder auch früher sagte die teure Stimme in meinem Herzen: «Denk an die
getrennten Brüder! Denk daran, daß du auch für sie Opferseele bist. Denk daran
daß sie unterstützt wurden von deiner Freundin Gabriella im
Trappistinnenkloster. Denk daran, daß das Hindernis der Kriegszeit beseitigt
ist. Denk daran, daß man den Seelen nicht nur
206
durch das Gebet hilft. Denk
daran, daß ich der Christus für alle bin, daß alle Christen Christus gehören.
Denk daran, daß deine Sendung weit über die verwandtschaftlichen und
gefühlsmäßigen Bande hinausgeht. Du bist die Trägerin der Stimme, und die
Stimme richtet sich an alle. Das kannst du nicht leugnen. Denk daran, daß ich
– du hast es selbst erkannt – mit mehr Ehrfurcht von Angehörigen anderer
Bekenntnisse als von euch geliebt werde. Es ist nur ein Schritt, um in den
einen Schafstall unter dem einen Hirten einzutreten. Es braucht eine Hand, die
sich ihnen über den trennenden Bach entgegenstreckt und ihnen beim Kommen
hilft. Der Durst nach mir ist dort sehr groß...»
Aber ich, was kann ich tun? Ich
verliere den Schlaf, der mir bleibt, wegen dieser ständigen Mahnung, die mir
keinen Frieden läßt. Ich verliere die Ruhe, weil ich nicht weiß, wie ich es
machen soll; denn ich sträube mich, es zu tun, und spüre gleichzeitig, daß ich
Jesus mißfalle, wenn ich es nicht tue. Von den getrennten Brüdern kenne ich
nur dem Namen nach jene der Nashdom Abbey. Und was soll ich tun? Was soll ich
sagen? Ich spreche nicht Englisch. Warum verlangt Jesus von mir Dinge, die
meine Fähigkeiten übersteigen und meinen Neigungen entgegengesetzt sind?
Wollen Sie mir daher helfen? Denn wenn Jesus will, dann will er und gibt sich
nicht zufrieden, bis ich ihn zufriedengestellt habe. Jesus sagt: «Als Ersatz
für die fehlende Eintracht zwischen den Völkern soll wenigstens Eintracht
unter den Christen herrschen, denn die Zeit der Christusgegner naht, und die
Vorhersage muß erfüllt werden.» Nun gut... Aber wie? Ich opfere auf jeden Fall
alle meine Leiden auf und behalte nur ein Körnchen für andere Zwecke zurück.
Doch scheint mir, daß dies nicht genügt, und ich vermag keine weiteren Leiden
denen, die ich schon habe, hinzuzufügen. Was soll ich also tun?
262. BELEHRUNGEN DER APOSTEL AUF
DEM WEG NACH JABNIA
«Gehen wir von Jabnia nach
Acron?» fragen die Apostel auf dem Weg durch eine fruchtbare Landschaft, in
der das Getreide seinen letzten Schlaf unter der Sommersonne, die es zur Reife
gebracht hat, schläft. Dieses Getreide liegt in Garben auf den abgemähten
Feldern, die traurig wie riesige Totenbetten keine Ähren mehr als Gewänder
tragen, sondern "Kornleichen", die darauf warten, weggebracht zu werden.
Sind aber die Felder kahl, so
erscheinen die Apfelbäume festlich gekleidet. Ihre Früchte haben es eilig, vom
kleinen, grünen, harten Apfel zur saftigen, gelblichen, rötlichen, wie mit
Wachs polierten Frucht heranzureifen, während die Feigen, deren elastische
Haut an gewissen Stellen schon platzt, den süßen Schrein der Frucht-Blüte
öffnen und durch den grünweißen oder violettweißen Spalt die durchsichtige
Gallerte sehen lassen, die mit den dunkleren Samenkörnchen gefüllt ist. Ein
leichter Wind schüttelt die ovalen, jadegrünen Tropfen an den Ölbäumen, die im
Silbergrün der Zweige hängen; die feierlichen Nußbäume halten ihre Früchte,
die unter dem Flaum der Hülle anschwellen, am starken Stiel fest, während die
Mandelbäume die ihren zur Reife bringen unter der Verpackung, deren Samt
bereits Runzeln bekommt und die Farbe wechselt; die Reben schwellen ihre
Beeren, und einige Trauben, die günstig hängen, lassen
207
schon den durchsichtigen Topas
und den zukünftigen Rubin der reifen Beere ahnen, während die Kakteen in der
Ebene oder auf den ersten Abhängen die täglich lebhaftere Dekoration ihrer
Koralleneier hochhalten, die von einem fröhlichen Dekorateur in den bizarrsten
Zusammenstellungen auf die fetten Schaufeln gesetzt worden sind; letztere
gleichen Händen, welche dem Himmel ihre Früchte, die sie heranwachsen und
-reifen lassen haben, anbieten.
Vereinzelte Palmen und große
Johannisbrotbäume erinnern schon sehr an das nahe Afrika, und während erstere
mit ihren harten Blättern, die runden Kämmen gleichen, wie Kastagnetten
klappern, sind die anderen mit dunkelgrünem Email bedeckt und stehen stolz und
würdevoll in ihrem schönen Gewand da. Blonde und schwarze Ziegen, groß und
flink mit langen, gebogenen Hörnern und sanften forschenden Augen, sättigen
sich an Kakteengewächsen und fleischigen Agaven mit den enormen Pinseln aus
harten Blättern, aus deren Mitte, wie bei geöffneten Artischocken,
kandelaberartige, riesige Stengel mit sieben Armen emporragen, auf denen die
zart duftenden gelben und roten Blüten leuchten.
Afrika und Europa reichen sich
die Hand, indem sie den Erdboden mit pflanzlicher Schönheit bedecken, und
kaum, daß die Apostelgruppe die Ebene verläßt, um einen Pfad einzuschlagen,
der sich an einem Hügel hochschlängelt, der an dieser, dem Meer zugewandten
Seite, buchstäblich mit Reben bedeckt ist – es handelt sich um eine felsige,
kalkreiche Küste, auf der die Weintrauben wunderbar gedeihen und einen süßen
Wein geben müssen – zeigt sich das Meer, mein Meer, das Meer des Johannes, das
Meer Gottes mit seiner grenzenlosen Fläche aus gekräuselter blauer Seide; es
ruft die Erinnerung an die Unendlichkeit und die Macht Gottes wach und singt
dabei mit dem Himmel und der Sonne das Terzett der Herrlichkeiten der
Schöpfung. Die wellenartige Ebene dehnt sich in ihrer ganzen Schönheit vor
ihnen aus mit kaum angedeuteten, nur wenige Meter hohen Erhebungen,
darauffolgenden ebenen Landstrichen und goldenen Dünen, die bis zu den Städten
und Dörfern am Meer reichen, deren Weiß vor dem Blau des Wassers beinahe
blendet.
«Wie schön, wie schön», flüstert
Johannes entzückt.
«Aber, mein Herr! Dieser Knabe
lebt vom Blau des Wassers. Du mußt ihn dafür bestimmen. Es scheint, als
erblicke er die Braut, wenn er das Meer sieht!» sagt Petrus, der nicht viel
Unterschied macht zwischen dem Wasser des weiten Meeres und dem Wasser eines
Sees. Er lacht gutmütig.
«Er ist schon dafür bestimmt,
Simon. Ihr alle habt schon eure Bestimmung.»
«Oh, schön! Wohin schickst du
mich?»
«Oh, du! ...»
«Sag es mir, sei lieb!»
208
«An einen Ort, der größer ist als
deine und meine Stadt, Magdala und Tiberias zusammen.»
«Da verliere ich mich!»
«Keine Angst! Du wirst einer
Ameise auf einem riesigen Skelett gleichen. Aber unermüdlich hin- und
herwandernd, wirst du das Skelett vom Tod erwecken.»
«Ich verstehe dich nicht...
Drücke dich bitte klarer aus.»
«Du wirst es noch verstehen!»
Jesus lächelt.
«Und ich?» «Und ich?» Alle sind
neugierig.
«Ich werde es so machen.» Jesus
bückt sich – sie gehen am kiesigen Ufer eines noch ziemlich wasserreichen
Baches entlang – und nimmt eine Handvoll kleiner Kieselsteine. Er wirft sie in
die Höhe; jeder von ihnen landet beim Herunterfallen an einer anderen Stelle.
«Seht, nur dieses Steinchen ist in meinen Haaren hängengeblieben. Auch ihr
werdet verstreut.»
«Du, Bruder, stellst Palästina
dar, nicht wahr?» fragt Jakobus des Alphäus ernst.
«Ja.»
«Ich möchte wissen, wer in
Palästina bleibt», fragt wiederum Jakobus.
«Nimm dieses Steinchen als
Erinnerung»; Jesus gibt ihm das Kieselsteinchen, das in seinen Haaren
hängenblieb; er lächelt dabei.
«Könntest du mich in Palästina
lassen? Ich bin dafür am besten geeignet, denn ich bin der Unbeholfenste, und
zu Haus finde ich mich noch etwas zurecht. In der Fremde hingegen...» sagt
Petrus.
«Nein, du eignest dich am
wenigsten für Palästina. Ihr seid gegen den Rest der Welt voreingenommen und
glaubt, daß es einfacher sei, im Land der Gläubigen die Frohe Botschaft zu
verkünden als bei Götzendienern und Heiden. Das Gegenteil ist wahr.
Wenn ihr darüber nachdächtet, was
uns das wahre Palästina in seinen hohen und niedrigen Klassen bietet, wobei
das Volk weniger schlimm ist, und wenn ihr daran dächtet, daß wir hier an
Orten, in welchen der Name Palästinas und der Name Gottes verhaßt und in ihrer
wahren Bedeutung unbekannt sind, nicht schlechter aufgenommen werden als in
Judäa, in Galiläa und der Dekapolis, dann würdet ihr von euren Vorurteilen
abkommen und erkennen, daß ich recht habe, wenn ich sage, daß es einfacher
ist, jene zu bekehren, die das wahre Wort nicht kennen, als jene des Volkes
Gottes, die scheinheiligen, schuldigen Götzendiener, die sich hochmütig für
vollkommen halten und so bleiben möchten wie sie sind. Wie viele Edelsteine,
wie viele Perlen sieht mein Auge dort, wo ihr nur Land und Meer seht! Das Land
der Völker, die nicht Palästina sind. Das Meer der Menschheit, das nicht
Palästina ist und das als Meer nur auf die Perlenfischer wartet, um ihnen
diese Perlen zu überlassen, so wie das Erdreich umgegraben werden muß, um die
Edelsteine freizugeben. Überall
209
gibt es Schätze; aber sie müssen
gesucht werden. Jede Scholle kann einen Schatz verbergen und einen Samen
nähren; jede Tiefe eine Perle bergen. Wie? Erwartet ihr vielleicht, daß ein
gewaltiger Sturm das Meer aufwühlt und die Perlenmuscheln auf die Klippen
spült, damit sie dort von selbst aufspringen und dem Faulen, der sich nicht
bemühen will und dem Kleinmütigen, der keine Gefahr laufen will, Schätze vor
die Füße legen? Wünscht ihr, daß die Erde aus einem Sandkorn eine Pflanze
hervorbringe, die Früchte ohne Samen trägt? Nein, meine Lieben. Anstrengung,
Arbeit und Begeisterung sind nötig. Und vor allem Unvoreingenommenheit.
Ich weiß, daß ihr, die einen
mehr, die anderen weniger, mit dieser Reise zu den Philistern einverstanden
seid. Nicht einmal der Ruhm, an den dieses Land erinnert, der Ruhm Israels,
der aus diesen Feldern spricht, die gedüngt sind mit dem Blute der Hebräer,
das vergossen wurde, um Israel groß zu machen; nicht einmal der Anblick dieser
Städte, die eine nach der anderen den Feinden abgerungen wurden, um Judäa zu
krönen und zu einer mächtigen Nation zu machen, lassen in euch Liebe für diese
Pilgerfahrt aufkommen. Ich sage euch nicht: Nicht einmal der Gedanke, den
Boden vorzubereiten, damit er das Evangelium aufnehmen könne, und die
Hoffnung, die Seelen zu retten, macht sie euch sinnvoll. Ich sage es nicht, um
euch von der Wichtigkeit der Reise zu überzeugen, da dies eure Gedanken weit
übersteigt. Doch eines Tages werdet ihr es begreifen. Dann werdet ihr sagen:
"Wir glaubten es sei eine Laune; wir glaubten es wäre eine Zumutung; wir
dachten es wäre ein Mangel an Liebe des Meisters uns gegenüber, uns so weit
gehen zu lassen; uns eine lange und mühselige Wanderung zuzumuten, die mit
großen Gefahren verbunden wäre. Dagegen war es Liebe, Vorsorge und ein
Wegbereiten für die Zeit, da er nicht mehr bei uns weilt, und wir uns noch
mehr als Verirrte fühlen werden. Damals waren wir wie Ranken, die nach allen
Richtungen streben, aber wissen, daß der Rebstock sie nährt und der starke
Pfahl sie stützt, während wir nunmehr Ranken sind, die allein eine Laube
bilden müssen; sie werden noch von ihrem Stamm Nahrung erhalten; aber kein
Pfahl ist mehr vorhanden, auf den sie sich stützen können." So werdet ihr
sprechen und mir dankbar sein.
Außerdem... Ist es nicht schön,
so zu wandern und Funken von Licht, himmlische Klänge, Kränze und Wohlgerüche
der Wahrheit im Dienst und zum Lob Gottes auf das Land fallenzulassen, das in
Finsternis eingehüllt ist, in stumme Herzen, in unfruchtbare Seelen, die einer
Wüste gleichen, um den Gestank der Lüge zu besiegen und so miteinander, ich
und ihr, ihr und ich, der Meister und die Apostel, ein Herz und eine Seele,
ein einziges Streben, einen einzigen Willen zu bilden? Damit Gott erkannt und
geliebt werde! Damit Gott alle Völker in seinem Himmel versammle! Damit da, wo
er ist, wir alle seien! Das ist die Hoffnung, der Wunsch, das Verlangen
Gottes! Und das ist die Hoffnung, der Wunsch, das Verlangen
210
der Seelen, die nicht
verschiedenen Rassen angehören, sondern eine einzige Rasse bilden, die Gott
erschaffen hat. Da alle Kinder eines Einzigen sind, haben alle die gleichen
Wünsche, die gleichen Hoffnungen, das gleiche Verlangen nach dem Himmel, der
Wahrheit, der wirklichen Liebe...
Es scheint als hätten die
Irrtümer der Jahrhunderte den Instinkt der Seelen geändert. Aber es ist nicht
so. Der Irrtum umnebelt den Verstand. Da der Verstand mit dem Fleisch
verbunden ist, spürt er das Gift, das von Satan in den tierischen Menschen
eingeträufelt wird. So kann der Irrtum auch das Herz einhüllen, denn auch es
ist in das Fleisch eingebettet und spürt das Gift. Die dreifache Begierde
bedrängt die Sinne, die Gefühle und die Gedanken. Der Geist aber ist nicht mit
dem Fleisch verwachsen. Er kann zwar von den Fäusten Satans und von der
Lüsternheit bedrängt werden. Er kann geblendet werden durch die Angriffe des
Fleisches und von Spritzern kochenden Blutes des Menschen-Tieres, das in ihm
lebt. Doch sein Verlangen nach dem Himmel, nach Gott, ist nicht
verlorengegangen. Dies Verlangen kann sich nicht ändern. Seht ihr das reine
Wasser dieses Baches? Es ist vom Himmel gefallen und wird zum Himmel
zurückkehren durch den von Sonne und Wind geförderten Prozeß der Verdunstung.
Es kommt herab und steigt wieder auf. Das Element verbraucht sich nicht, es
kehrt zu seinem Ursprung zurück.
Die Seele kehrt zu ihrem Ursprung
zurück. Wenn dieses Wasser hier zwischen den Steinen reden könnte, würde es
euch sagen, daß es sich danach sehnt, in die Höhen des Himmels zurückzukehren,
um von den Winden in den schönen Gefilden des Firmaments als weiche, weiße
Wolke zu schweben, die sich im Morgenschein rötlich, am Abend wie glühendes
Kupfer und beim Aufgehen der Sterne violett färbt; es würde euch sagen, daß es
wie Stratuswolken einen Schleier über Sterne und Mond breiten möchte, damit
sie nicht die nächtlichen Häßlichkeiten mitansehen müssen; es möchte nicht
zwischen den Steinen rinnen, der Gefahr ausgesetzt, sich in Schlamm zu
verwandeln, gezwungen, vielleicht die Bosheit der Nattern und Kröten
kennenzulernen, daß es die einsame Freiheit der Atmosphäre liebt. Auch die
Geister, wenn sie reden könnten, würden alle dasselbe sagen: "Gebt uns Gott!
Gebt uns die Wahrheit!" Aber sie sagen es nicht, da sie wissen, daß der Mensch
nicht auf sie hört, sie nicht versteht und das Flehen der "großen Bettler",
der Seelen, die Gott suchen in ihrem großen Verlangen nach Wahrheit, verlacht.
Die Götzendiener, die Römer, die Gottlosen, die Unglücklichen, denen wir
unterwegs begegnen, und denen ihr immer begegnen werdet, diese in ihrem
Verlangen nach Gott Verachteten, sei es aus politischen Gründen, aus
familiärem Egoismus oder aus Häresie, die im eiternden Herzen geboren wurde
und sich dann über eine ganze Nation ausbreitet: sie haben Hunger! Sie
hungern! Und ich erbarme mich ihrer. Sollte ich nicht Erbarmen haben, da ich
bin, der ich bin? Wenn ich den Menschen Nahrung beschaffe und mich des
211
Sperlings erbarme, sollte ich
mich dann nicht erst recht der Seelen erbarmen, die ohne eigene Schuld die
Wahrheit Gottes nicht gefunden haben, die aber die Arme ihres Geistes
ausstrecken und rufen: "Wir haben Hunger!" Haltet ihr sie für böse? Für
verwildert? Für unfähig, Gott zu lieben? Da seid ihr im Irrtum. Es sind
Seelen, die Liebe und Licht erwarten.
Heute morgen wurden wir vom
drohenden Blöken des Widders geweckt, der den großen Hund verjagen wollte,
welcher gekommen war, mich zu beschnüffeln. Ihr habt gelacht als ihr sahet,
wie der Widder seine Hörner hob, nachdem er sich vom Strick losgerissen hatte,
mit dem er am Baume, unter dem wir geschlafen hatten, angebunden war; mit
einem Sprung stellte er sich zwischen mich und den großen Hund, ohne darauf zu
achten, daß dieser ihn angreifen könnte und der ungleiche Kampf zu seinem
Schaden ausgegangen wäre. So werden auch die Völker, die in euren Augen wilden
Widdern gleichen, mutig den Glauben Christi verteidigen, wenn sie erkannt
haben, daß Christus die Liebe ist, die sie einlädt, ihm zu folgen. Sie
einlädt, ja! Und ihr müßt ihnen helfen, zu mir zu kommen.
Hört ein Gleichnis.
Ein Mann verheiratete sich, und
seine Frau schenkte ihm viele Kinder. Eines davon aber kam verkrüppelt zur
Welt und schien einer anderen Rasse anzugehören. Der Mann hielt es für eine
Schande und liebte das Geschöpf nicht, obwohl es unschuldig war. Der Junge
wuchs vernachlässigt unter den geringsten Knechten heran, war also auch
minderwertig in den Augen seiner Brüder. Die Mutter war bei seiner Geburt
gestorben; sie konnte darum die Härte des Vaters nicht mildern, den Spott der
Brüder nicht verhindern, und die irrigen Gedanken, die sich in dem
ungebildeten Kind entwickelt hatten, nicht berichtigen. Ein kleines wildes
Tier, das im Haus der Söhne des Herzens kaum geduldet wurde.
Der Knabe wuchs so zum Mann
heran. Der spät entwickelte Verstand, der nun endlich zur Reife gekommen war,
begriff, daß man nicht Sohn ist, wenn man in einem Stall lebt mit einem
Brocken Brot und einem Lumpen als Gewand, und nie einen Kuß erhält, nie ein
Wort, nie eine Einladung ins väterliche Haus. Er litt, litt und klagte in
seiner Höhle: "Vater, Vater!" Er aß sein Brot, aber der große Hunger im Herzen
blieb ungestillt. Er bedeckte sich mit den Lumpen, aber in seinem Herzen blieb
eine große Kälte. Im Herzen fühlte er sich einsam.
"Vater! Vater!"... Die Diener,
die Brüder, die Nachbarn hörten ihn immer klagen wie einen Irren. Man nannte
ihn verrückt. Endlich ging ein Diener zum verstoßenen Sohn und sagte: "Warum
wirfst du dich nicht zu Füßen des Vaters nieder?" "Ich würde es tun, aber ich
wage es nicht..." "Warum kommst du nicht ins Haus?" "Ich habe Angst!" "Aber
möchtest du es tun?" "O ja, denn danach sehne ich mich; deswegen friere ich
212
und fühle mich einsam wie in
einer Wüste. Aber ich weiß nicht, wie man im Haus des Vaters lebt."
Der gute Diener begann den jungen
Mann zu unterrichten, sein Aussehen menschlicher zu gestalten und ihm die
Angst zu nehmen, vom Vater gescholten zu werden. Er sagte: "Dein Vater möchte
dich wohl haben; aber er weiß nicht, ob du ihn liebst. Du läufst ihm immer
weg... Nimm von deinem Vater den Vorwurf, daß er zu streng gehandelt hat, und
den Schmerz, dich verkümmert zu wissen. Komm! Auch deine Brüder werden dich
nicht mehr verachten, denn ich habe ihnen von deinem Kummer erzählt." So begab
sich der arme Sohn eines Abends, vom guten Diener begleitet, ins Haus des
Vaters und rief: "Vater, ich liebe dich! Laß mich eintreten!..." Der alte,
traurige Vater, der an seine Vergangenheit und an seine ewige Zukunft dachte,
zuckte zusammen, als er die Stimme hörte, und sagte: "Mein Schmerz läßt nach,
denn ich habe in der Stimme des Krüppels meine eigene wiedererkannt, und seine
Liebe beweist, daß er Blut von meinem Blut und Fleisch von meinem Fleisch ist.
Er trete ein und nehme seinen Platz an der Seite der Brüder ein; gesegnet sei
der gute Knecht, der meine Familie vereinigt und den verstoßenen Sohn mit den
Söhnen des Vaters zusammengeführt hat."
Dies ist das Gleichnis. Aber bei
der Auslegung desselben müßt ihr daran denken, daß der Vater der geistigen
Krüppel Gott ist; denn die geistigen Krüppel sind die Schismatiker, die
Häretiker, die Getrennten, und sie haben Gott gezwungen, hart zu sein, und
ihre Krüppelhaftigkeit selbst gewollt. Doch Gottes Liebe hat nie nachgelassen.
Er erwartet sie immer! Bringt sie zu ihm! Es ist eure Pflicht!
Ich habe euch zu beten gelehrt:
"Gib uns heute unser tägliches Brot, o unser Vater." Aber wißt ihr auch, was
dieses "unser" bedeutet?
Es bezieht sich nicht nur auf
euch zwölf; nicht nur auf die Jünger Christi, sondern auf alle Menschen. Auf
alle Menschen, die gegenwärtigen und die zukünftigen. Auf sie, die Gott
kennen, und auf die anderen, die Gott nicht kennen. Auf sie, die Gott und
seinen Christus lieben, und auf die anderen, die ihn nicht oder schlecht
lieben. Ich habe das Gebet für alle auf eure Lippen gelegt. Das ist eure
Aufgabe. Ihr, die ihr Gott und seinen Christus kennt und liebt, ihr müßt für
alle beten. Ich habe euch gesagt, daß mein Gebet allumfassend ist und dauern
wird, solange die Erde dauert. Aber ihr müßt umfassend beten, indem ihr eure
Stimmen und eure Herzen als Apostel und Jünger der Kirche Jesu mit jenen der
Angehörigen anderer Kirchen, die christlich, doch nicht apostolisch sind,
vereinigt. Ihr müßt darauf bestehen – da ihr Brüder seid im Haus des Vaters,
sie außerhalb des gemeinsamen Hauses mit ihrem Hunger und ihrem Heimweh – daß
auch ihnen, wie euch, das "wahre Brot" gegeben werde, das Christus, der Herr
ist, verwaltet auf den apostolischen Altären, nicht auf anderen, auf denen es
mit unreinen Speisen vermischt wird. Ihr müßt
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darauf drängen, bis der Vater zu
diesen "verkrüppelten Brüdern" sagen kann: "Mein Schmerz läßt nach, denn in
euch, in eurer Stimme, habe ich die Stimme und die Worte meines Eingeborenen
und Erstgeborenen vernommen. Gesegnet seien die Diener, die euch ins Haus des
Vaters zurückgebracht haben, auf daß meine Familie vollständig sei." Als
Diener eines unendlichen Gottes müßt ihr die Unendlichkeit in alle eure
Absichten legen.
Habt ihr verstanden? Hier ist
Jabnia. Einst kam hier die Bundeslade vorbei auf dem Weg nach Acron, das sie
nicht beschützen konnte und sie nach Bethsemes zurücksandte. Jetzt kehrt die
Bundeslade nach Acron zurück. Johannes, komm mit mir; ihr bleibt in Jabnia und
bemüht euch, nachzudenken und zu reden. Der Friede sei mit euch!»
Jesus geht. Es folgen ihm
Johannes und der Widder, der ihm bellend wie ein Hund nachläuft.
263. JESUS UND DIE SEINEN AUF DEM
WEG NACH MODIN
Nach Jabnia werden die Hügel in
Richtung Ost immer höher und höher. In der Ferne heben sich die grünen und
violetten Joche des Gebirges von Judäa gegen den fast nächtlichen Himmel ab.
Der Tag ist schnell zu Ende gegangen, wie es in südlichen Ländern der Fall
ist. Das Lichtbad des Abendrots ist in weniger als einer Stunde vom
Aufstrahlen der ersten Sterne abgelöst worden, und es scheint
unwahrscheinlich, wie schnell das Feuermeer ausgelöscht und von einem Schleier
in der Farbe des blutroten Amethystes bedeckt worden ist. Sehr bald hat der
Himmel die Farbe einer blasser werdenden Malve angenommen, ist immer
durchsichtiger und unwirklicher geworden, nicht blau, sondern schwach grün, um
sich schließlich zu verdunkeln und blaugrün wie der junge Hafer zu werden, ein
Vorspiel für das Dunkel, das die Nacht beherrscht, indem es sich mit Diamanten
bedeckt wie ein Königsmantel.
Die ersten Sterne zeigen sich im
Osten zusammen mit der Mondsichel im ersten Viertel.
Die Erde wird mehr und mehr zum
Paradies unter dem Gleißen der Sterne und dem Schweigen der Menschen. Nun
singen die Dinge, die nicht sündigen können: die Nachtigallen, die Gewässer,
die Blätter, die leise rauschen, die Grillen, die zirpen, und die Frösche, die
mit Oboenstößen den Tau begrüßen. Vielleicht singen auch die Sterne in der
Höhe... Sie sind den Engeln viel näher als wir.
Die Erde kühlt sich langsam in
der Nachtluft ab, die taufrisch ist und den Pflanzen, den Menschen und den
Tieren so wohltut.
Jesus hat am Fuße eines Hügels
die von Jabnia kommenden Apostel
214
erwartet, die von Johannes
abgeholt worden sind; er spricht jetzt mit Iskariot, übergibt ihm Geldbörsen
und weist ihn an, wie er das Geld zu verteilen hat. Hinter ihm geht Johannes
mit dem Widder, schweigend zwischen dem Zeloten und Bartholomäus, die über
Jabnia reden, wo Andreas und Philippus sich mutig verhalten haben. Weiter
hinten alle anderen in einer Gruppe, eine laute Schar, die über alle
Erlebnisse im Lande der Philister spricht und offen ihre Freude über die
baldige Rückkehr nach Judäa für das Pfingstfest äußert.
«Gehen wir sofort weiter?» fragt
Philippus, der sehr müde vom Gehen im heißen Sande ist.
«So sagte es der Meister. Du hast
es doch gehört», antwortet Jakobus des Alphäus.
«Mein Bruder weiß es; aber er
sieht so verträumt aus. Was die beiden in den fünf Tagen gemacht haben, ist
ein Geheimnis», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Ja, ich sterbe vor Verlangen, es
zu erfahren. Als Belohnung wenigstens für die Plage, in Jabnia fünf Tage lang
auf jedes Wort, auf jeden Blick oder Schritt achten zu müssen, um nicht in
Schwierigkeiten zu kommen», sagt Petrus.
«Aber es ist uns gelungen! Nun
fangen wir an, unser Handwerk zu verstehen», sagt Matthäus zufrieden.
«Um die Wahrheit zu sagen...
zwei- oder dreimal habe ich richtig gezittert. Dieser verdammte Bursche, Judas
des Simon! ... Wird er je lernen, sich zu beherrschen?» sagt Philippus.
«Wenn er alt ist, vielleicht.
Aber man kann auch sagen, daß er es in guter Absicht versucht. Hast du gehört?
Auch der Meister hat es gesagt. Er tut es mit Eifer...» will Andreas Iskariot
entschuldigen.
«Ach! Der Meister sagt nur so,
weil er die Güte und die Klugheit ist. Aber ich glaube nicht, daß er es
gutheißt und mit ihm zufrieden ist», entgegnet Petrus.
«Er lügt nicht», entgegnet
Thaddäus.
«Lügen tut er nicht; aber er
versteht es, in seine Antworten die ganze Klugheit zu legen, die uns abgeht;
er sagt die Wahrheit, ohne jemand das Herz bluten zu lassen, ohne Verachtung
und Vorwürfe hervorzurufen. Nun ja, er ist eben Er!» seufzt Petrus.
Schweigend gehen sie im
Mondschein weiter. Dann sagt Petrus zu Jakobus des Zebedäus: «Versuche einmal,
Johannes zu rufen. Ich weiß nicht, weshalb er uns meidet!»
«Das kann ich dir gleich sagen:
weil er weiß, daß wir darauf bestehen, daß er uns alles erzählt», antwortet
Thomas.
«So ist es! Deswegen bleibt er
bei den beiden, die am klügsten und weisesten sind», bestätigt Philippus.
«Versuche es trotzdem, Jakobus!
Sei lieb», bettelt Petrus.
215
Und Jakobus gibt nach und ruft
dreimal Johannes, der nicht hört oder nicht hören will. Da wendet sich aber
Bartholomäus um, dem Jakobus aufträgt: «Sag meinem Bruder, er soll zu mir
kommen», und sich dann Petrus zuwendet: «Ich glaube nicht, daß wir etwas von
ihm erfahren.»
Johannes kommt sogleich und
fragt: «Was wollt ihr?»
«Wissen, ob dieser Weg direkt
nach Judäa führt», sagt sein Bruder.
«Der Meister bejahte es. Er
wollte erst nicht nach Acron zurückkehren und schickte mich, euch zu holen.
Doch dann zog er es vor, zu den letzten Abhängen zu gelangen... Man kann auch
von hier aus Judäa erreichen.»
«Über Modin?»
«Über Modin!»
«Es ist ein unsicherer Weg.
Straßenräuber lauern hier auf Karawanen und überfallen sie», bemerkt Thomas.
«Oh... mit ihm! ... Ihm kann
nichts widerstehen!» Johannes hebt sein Gesicht zum Himmel, das aufgrund weiß
Gott welcher Erinnerungen verzückt zu sein scheint und lächelt. Alle
beobachten ihn; Petrus fragt: «Sag mal, liest du eine selige Geschichte am
Sternenhimmel, weil du so ein Gesicht machst?»
«Ich? ... Nein!»
«Na, geh schon! Die Steine sogar
sehen, daß du fern von der Erde bist. Sag, was ist in Acron passiert?»
«Aber nichts, Simon! Ich
versichere es dir. Ich wäre nicht so glücklich, wenn etwas Peinliches passiert
wäre.»
«Nicht etwas Peinliches. Im
Gegenteil! Los... rede!»
«Aber ich habe nichts zu sagen,
was er noch nicht gesagt hätte. Sie waren gut, wie Menschen, die über die
Wunder erstaunt sind. Das ist alles. Genau, wie er es gesagt hat.»
«Nein.» Petrus schüttelt das
Haupt. «Nein, du kannst nicht lügen. Du bist klar wie Quellwasser. Nein, du
wechselst die Farbe. Ich kenne dich von klein auf. Du hast nie lügen können.
Aus Unfähigkeit des Herzens, des Gewissens, der Zunge und sogar der Haut,
welche die Farbe wechselt. Daher habe ich dich so lieb. Los, komm her zu
deinem alten Simon des Jonas, deinem Freund. Erinnerst du dich noch, du warst
ein Kind und ich schon ein Mann? Wie ich dich verwöhnt habe! Du wolltest
Geschichten hören und Spielzeugboote aus Kork haben, die nie Schiffbruch
erleiden, sagtest du, und mit denen du in die Ferne fahren könntest... Auch
jetzt, auch jetzt gehst du weit fort und läßt den armen Simon am Ufer zurück.
Und dein Boot wird nie untergehen. Es gleitet dahin, mit Blumen gefüllt, wie
jene, die du als Kind schwimmen ließest zu Bethsaida im Fluß, damit der Fluß
sie zum See trage. Erinnerst du dich noch daran? Ich habe dich lieb, Johannes!
Wir alle lieben dich! Du bist unser Segel. Du bist unser Boot, das nicht
untergeht. Nimm uns in dein Kielwasser. Warum erzählst du uns das Wunder von
Acron nicht?»
216
Petrus hat gesprochen, indem er
Johannes einen Arm um die Taille gelegt hat, und dieser versucht die Fragen zu
umgehen und sagt: «Und du, das Haupt, warum sprichst du nicht zum Volk mit
dieser überzeugenden Nachdrücklichkeit, die du bei mir anwendest? Das Volk muß
überzeugt werden, nicht ich.»
«Weil ich mich in deiner
Gegenwart wohl fühle. Ich habe dich lieb. Die anderen kenne ich nicht»,
entschuldigt sich Petrus.
«Und du liebst sie nicht. Das ist
dein Fehler. Du mußt sie lieben, auch wenn du sie nicht kennst. Sage dir
selbst: "Ich gehöre unserem Vater"; du wirst sehen, daß du sie kennen- und
liebenlernst. Sieh in jedem einen Johannes...»
«Das ist schnell gesagt. Als ob
man Nattern und Igel mit dir vergleichen könnte, du ewiges Kind.»
«O nein, ich bin wie alle!»
«Nein, Bruder, nicht wie alle.
Wir, Bartholomäus, Andreas und der Zelote vielleicht ausgenommen, hätten schon
alles erzählt, auch den Gräsern, was wir erlebten und was uns glücklich macht.
Du schweigst; aber mir, deinem großen Bruder, kannst du es doch sagen. Ich bin
wie ein Vater», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Der Vater ist Gott, der Bruder
ist Jesus, die Mutter Maria», sagt Johannes.
«Das Blut bedeutet dir also
nichts mehr?» schreit Jakobus aufgeregt.
«Reg dich nicht auf. Ich segne
das Blut und den Leib, die mich gebildet haben: Vater und Mutter; und ich
segne dich, Bruder, der mir im Blut gleich ist. Sie beide, weil sie mich
gezeugt und erzogen und mir dadurch die Möglichkeiten gegeben haben, dem
Meister nachzufolgen, und dich, weil du ihm folgst. Die Mutter, seit sie
Jüngerin ist, liebe ich auf zwei Arten: im Fleisch und im Blut als Sohn; im
Geist als ihr Mitjünger. Oh, welch eine Freude, in der Liebe zu ihm verbunden
zu sein! ...»
Jesus ist zurückgekommen, da er
die aufgeregte Stimme von Jakobus gehört hat; die letzten Worte klären ihn
über den Vorfall auf.
«Laßt Johannes in Ruhe! Ihr quält
ihn umsonst. Er hat eine große Ähnlichkeit mit meiner Mutter. Er wird nicht
reden.»
«Dann mußt du es uns sagen,
Meister», betteln alle.
«Nun denn, es sei. Ich habe
Johannes mit mir genommen, denn er war am besten geeignet für das, was ich im
Sinn hatte. Er war mir eine Hilfe und hat sich vervollkommnet. Das ist alles!»
Petrus, Jakobus, der Bruder des
Johannes, Thomas und Iskariot blicken sich an und verziehen den Mund: sie sind
enttäuscht. Judas Iskariot beschränkt sich nicht darauf, enttäuscht zu sein,
sondern sagt: «Warum ihn vervollkommnen, der doch schon der Beste ist?»
Jesus antwortet ihm: «Du hast
gesagt: "Jeder hat seine Art und handelt danach." Ich habe meine Art. Johannes
hat die seine, die der meinen
217
sehr gleicht. Meine Art kann
nicht vervollkommnet werden. Seine schon. Und das ist es, was ich wünsche;
denn es ist gut, daß es geschehe. Darum habe ich ihn mitgenommen. Ich brauchte
jemand, der diese Art und diese Seele hat. Daher keinen Unmut und keine
Neugier! Wir gehen nach Modin. Die Nacht ist heiter, kühl und hell. Wir werden
wandern, solange der Mond scheint; dann schlafen wir bis zum Morgengrauen. Ich
werde die beiden Judas zu den Gräbern der Makkabäer führen, deren ruhmvollen
Namen sie tragen.»
«Nur wir allein mit dir!» sagt
Iskariot glücklich.
«Nein, mit allen. Aber der Besuch
am Grab der Makkabäer findet euretwegen statt, damit ihr lernt, sie in
übernatürlicher Weise nachzuahmen, in Kämpfen und Siegen auf einem ganz
geistigen Feld.»
264. JESUS SPRICHT ZU
WEGELAGERERN
«Im Ort, zu dem wir gehen, werde
ich reden», sagt Jesus, während die Gruppe immer tiefer in Täler eindringt,
die das Gebirge mit schwierigen, steinigen, engen Pfaden durchziehen. Sie
steigen an und fallen ab, die Aussicht verdeckend und wieder freigebend,
solange, bis sie zu einem tiefen Tale gelangen nach einem steilen Abstieg, auf
dem sich nur der Widder wohl fühlt, wie Petrus sagt. Die Gruppe rastet dort
und nimmt an einer wasserreichen Quelle ihre Mahlzeit ein.
Andere Leute sind auf den Wiesen
und im Wald und halten Mahlzeit wie Jesus und die Seinen. Es muß ein
bevorzugter Rastplatz sein, er ist vor Winden geschützt, hat weiche Rasen und
Wasser. Es sind Pilger da, auf dem Weg nach Jerusalem. Reisende, die sich
vielleicht zum Jordan begeben, Händler mit Lämmern, die für den Tempel
bestimmt sind, und Hirten mit ihren Herden. Einige machen die Reise auf
Reittieren, die meisten jedoch zu Fuß. Es kommt auch ein festlich geschmückter
Hochzeitszug. Gold leuchtet unter dem Schleier, der die Braut verhüllt. Sie
ist noch fast ein Mädchen, das von mit glitzernden Armreifen und Halsketten
behangenen zwei Matronen und von einem Mann, anscheinend dem Brautführer,
sowie zwei Dienern begleitet wird. Sie sind auf Eseln angekommen, die mit
Bändern und Glöckchen geschmückt sind; alle lassen sich in einer Ecke zum
Essen nieder, als ob sie fürchteten, daß die Blicke der Anwesenden das
Bräutchen beunruhigen könnten. Der Brautführer oder Verwandte hält Wache,
während die Frauen beim Essen sind.
Die Neugier der Anwesenden ist
tatsächlich sehr lebhaft und mit der Entschuldigung, um etwas Salz, ein Messer
oder einen Tropfen Essig zu bitten, geht der eine zum anderen, um von ihm zu
erfahren, wer die Braut sei, wohin sie wohl gehe und viele andere Dinge...
218
Es ist einer da, der das Woher
und das Wohin kennt und glücklich ist, alles, was er weiß, erzählen zu können,
angespornt von einem anderen, der ihm immer mehr die Zunge löst mit
großzügigem Füllen des Weinfasses. So kommen die bestgehüteten Geheimnisse der
beiden Familien ans Licht. Man erfährt von der Aussteuer, welche die Braut in
den beiden großen Kisten mit sich führt; von Reichtümern, die im Haus des
Bräutigams auf sie warten, und so weiter. Man erfährt auch, daß die Braut
Tochter eines reichen Händlers von Joppe ist; daß sie zur Hochzeit mit dem
Sohn eines reichen Händlers nach Jerusalem geht; daß der Bräutigam
vorausreist, um das Hochzeitshaus zu schmücken, bevor die Braut ankommt; daß
ihr Begleiter, der Freund des Bräutigams, der Sohn eines Händlers und zwar
Abrahams ist, der Perlen und Edelsteine bearbeitet, während der Bräutigam
Goldschmied ist und der Vater der Braut mit Wolle, Linnen, Teppichen und
Vorhängen handelt.
Da der Schwätzer in der Nähe der
apostolischen Gruppe sitzt, hört ihn Thomas und fragt: «Ist vielleicht
Nathanael des Levi der Bräutigam?»
«Jawohl, er ist es! Kennst du
ihn?»
«Ich kenne den Vater sehr gut
durch Geschäftsverbindung. Nathanael etwas weniger. Eine reiche Heirat!»
«Und eine glückliche Braut! Sie
ist in Gold gehüllt. Abraham, Verwandter der Brautmutter und Vater des
Freundes des Bräutigams, hat es sich etwas kosten lassen, wie auch der
Bräutigam und sein Vater. Man sagt, daß in den Kisten Dinge im Wert von vielen
Goldtalenten liegen.»
«Alle Achtung!» ruft Petrus aus
und pfeift durch die Zähne. Dann fügt er bei: «Ich will hingehen und
nachsehen, ob die Hauptware dem Rest entspricht.» Zusammen mit Thomas steht er
auf; sie gehen um die Brautgruppe herum, wobei sie die drei Frauen aufmerksam
betrachten: ein Haufen von Stoffen und Schleiern; nur Hände und geschmückte
Handgelenke sind sichtbar sowie der Schmuck an Ohren und Hals. Sie betrachten
auch den prahlerischen Brautführer, der anscheinend einen Ansturm von Korsaren
auf das Jüngferchen abzuwehren hat, so wichtig fühlt er sich. Er blickt die
beiden Apostel böse an. Doch Thomas bittet ihn, Nathanael des Levi im Namen
des Thomas, auch Didimus genannt, Grüße zu bestellen. Und der Friede ist
geschlossen, und zwar so sehr, daß das Bräutchen Gelegenheit findet, sich
bewundern zu lassen; es steht auf, läßt den Mantel und die Schleier fallen und
zeigt sich im vollen Charme seines Körpers und der Gewänder und in seinem
Reichtum wie ein Götzenbild. Die Braut ist höchstens fünfzehn Jahre alt und
hat listige Augen. Sie bewegt sich anmutig, trotz des Unwillens der Matronen;
sie läßt die Zöpfe herunter und steckt sie dann mit kostbaren Nadeln wieder
hoch; sie zieht ihren mit Edelsteinen besetzten Gürtel fester an; sie löst die
Sandalen aus Ziegenleder, zieht sie aus und wieder an und schmückt die kleinen
Füße mit goldenen Spangen; es gelingt ihr auch, die schönen, wohlfrisierten
219
Haare, die schönen Hände, die
weichen Arme, die enge Taille, die Brust und die wohlgeformten Hüften, die
zarten Füßchen und alle die Schmuckstücke, die im letzten Tageslicht und beim
Schein der Flammen der ersten Lagerfeuer klingen und glitzern, zu zeigen.
Petrus und Thomas kehren zurück.
Thomas sagt: «Ein schönes Mädchen!»
«Eine vollkommene Verführerin!
Ich weiß nicht... aber ich glaube, dein Freund Nathanael wird bald
dahinterkommen, daß sie das Bett und er das Gold warmhält, um es zu schmieden.
Sein Freund ist ein völliger Dummkopf. Er hat das Bräutchen dem Rechten
anvertraut!» endet Petrus und setzt sich zu den Gefährten.
«Mir hat der Mann nicht gefallen,
der den anderen Dummkopf dort zum Reden gebracht hat. Nachdem er alles
erfahren hatte, was er wissen wollte, ist er den Bergpfad hinaufgegangen...
Wir sind in einer gefährlichen Gegend. Und die Stunde ist günstig für einen
Überfall der Wegelagerer. Die Mondnacht, die ermüdende Hitze des heutigen
Tages, die dichtbelaubten Bäume... Hm! Mir gefällt dieser Platz nicht», murrt
Bartholomäus. «Wir hätten besser daran getan, weiterzugehen.»
«Dazu das Großmaul, das von
soviel Reichtum geschwätzt hat! Der andere, der den Helden und den Wächter
über Schatten spielt, aber die wirklichen Gestalten übersieht! Nun, ich will
bei den Feuern Wache halten. Wer kommt mit mir?» fragt Petrus.
«Ich, Simon», antwortet der
Zelote. «Ich widerstehe dem Schlaf mühelos.»
Viele der Lagernden, besonders
die Alleinreisenden, haben sich erhoben und sind aufgebrochen. Es bleiben die
Hirten mit den Herden, die Braut mit ihren Begleitern, die apostolische Gruppe
und die drei Händler mit Lämmern, die schon schlafen. Auch die Braut schläft
mit den Matronen in einem Zelt, das die Diener aufgerichtet haben. Die Apostel
suchen sich einen Platz. Jesus zieht sich zum Gebet zurück. Die Hirten zünden
inmitten der Wiese, wo sie sich aufhalten, ein großes Feuer an. Petrus und
Simon bereiten ein anderes vor beim Pfad, den der Mann eingeschlagen hat, der
Bartholomäus mißtrauisch machte.
Die Stunden vergehen, und wer
nicht schnarcht, läßt den Kopf sinken. Jesus betet. Es herrscht völlige
Stille. Sogar die Quelle, die im Mondlicht glänzt, scheint zu schweigen. Der
Mond steht jetzt hoch am Himmel und beleuchtet den ganzen Platz, während die
Ränder im Schatten des dichten Gebüsches liegen.
Ein großer Schäferhund knurrt.
Ein Hirt hebt den Kopf. Der Hund steht auf, sträubt das Fell, wittert etwas
und nimmt eine abwehrende Haltung ein. Er zittert; das Knurren in seinem
Innern wird immer stärker. Auch Simon hebt den Kopf und rüttelt Petrus wach,
der eingeschlummert ist. Ein leises Rascheln kommt aus dem Wald.
220
«Wir wollen zum Meister gehen und
ihn zu uns herholen», sagen die beiden.
Inzwischen weckt der Hirte seine
Kameraden. Alle lauschen, ohne selbst ein Geräusch zu verursachen. Jesus hat
sich erhoben, schon bevor er gerufen wurde; er geht den beiden Aposteln
entgegen. Sie versammeln sich mit den Gefährten bei den Hirten, deren Hund
immer erregter ist.
«Ruft die Schlafenden. Alle! Sagt
ihnen, sie sollen hierher kommen, ohne Lärm zu machen; besonders die Frauen
und die Diener mit den Kisten. Sagt ihnen, daß vielleicht Räuber in der Nähe
sind. Nicht den Frauen, aber allen Männern!»
Die Apostel entfernen sich, dem
Meister gehorchend, der den Hirten sagt: «Schürt das Feuer zu einer großen
Flamme!»
Die Hirten gehorchen; da sie
aufgeregt sind, sagt Jesus: «Fürchtet euch nicht! Es wird euch kein
Wollflöckchen weggenommen!»
Die Händler kommen herbei und
flüstern: «Oh, unser ganzer Verdienst», und fügen eine Litanei von
Schimpfwörtern bei auf die römische Verwaltung und die Juden, die die Welt von
den Räubern nicht säubern.
«Habt keine Angst, ihr verliert
auch nicht die kleinste Münze», tröstet sie Jesus.
Die ängstlichen Frauen kommen.
Sie weinen, denn der mutige Brautführer zittert vor Angst und jammert ohne
Unterlaß: «Das ist der Tod! Der Tod von Räuberhand!»
«Fürchtet euch nicht. Ihr werdet
nicht einmal von einem Blick gestreift», tröstet Jesus die Frauen und führt
sie in die Mitte der kleinen Versammlung von Männern und verängstigten Tieren.
Die Esel schreien, der Hund
heult, die Schafe blöken, die Frauen schluchzen, die Männer fluchen und
klagen, mehr sogar als die Frauen, in einem unverständlichen lautstarken
Geschwätz. Jesus ist ruhig, als ob nichts bevorstände. Das Geräusch im Wald
ist bei diesem Lärm nicht mehr vernehmbar. Aber Äste, die gebrochen werden,
oder die Steine, die ins Rollen geraten, verraten, daß im Wald Räuber sich
nähern.
«Ruhe!» gebietet Jesus. Er sagt
es auf eine Weise, daß sofort Ruhe herrscht. Jesus verläßt seinen Platz und
geht zum Waldrand, wo er zu reden beginnt.
«Das bösartige Verlangen nach
Gold verleitet die Menschen zu verwerflichen Taten. Das Gold entlarvt den
Menschen mehr als alles andere. Seht, wieviel Unheil dieses Metall mit seinem
gleißenden, unnützen Glanz anrichtet. Ich glaube, daß die Luft der Hölle die
Farbe des Goldes hat, so höllisch scheint es zu sein seit der Mensch zum
Sünder geworden ist. Der Schöpfer hatte es in die Eingeweide des enormen
Lapislazuli, der die Erde ist, eingebettet, bei der Erschaffung, damit es dem
Menschen diene und den Tempel schmücke. Aber Satan, der die Augen Evas küßte
und das Ich des Mannes befleckte, gab dem unschuldigen Metall einen bösartigen
221
Geschmack. Seitdem mordet und
sündigt man des Goldes wegen. Die Frau wird des Goldes wegen zur Verführerin
und ist zur Sünde des Fleisches bereit. Der Mann wird seinetwegen zum Dieb,
zum Wucherer und Mörder; er wird hartherzig gegen seinen Nächsten und seine
eigene Seele, die er ihres wahren Erbes beraubt; er bringt sie um den ewigen
Schatz, für einige gleißende, wertlose Splitter, die er am Tag des Todes
zurücklassen muß.
O ihr, die ihr des Geldes wegen
mehr oder weniger schwer sündigt! Je mehr ihr sündigt, um so mehr verspottet
ihr, was eure Mütter oder eure Lehrer euch gelehrt haben: daß es einen Lohn
oder eine Strafe gibt für das während des Lebens Getane. Ihr denkt nicht
daran, daß ihr wegen der Sünden den Schutz Gottes, das ewige Leben und die
ewige Glückseligkeit verliert; daß Gewissensbisse und Fluch das Herz belasten
und die Angst eure Begleiterin ist; die Angst vor menschlichen Strafen, die
immer doch ein Nichts sind im Vergleich zur Angst, die ihr haben müßt und
nicht habt: der heilsamen Angst vor der göttlichen Strafe. Ihr denkt nicht
daran, daß euer Ende schrecklich sein wird als Strafe für eure Untaten, wenn
sie Verbrechen geworden sind; und das Ende ist um so schrecklicher, weil es
ewig dauert, selbst wenn ihr bei euren Untaten aus Liebe zum Gold nicht bis
zum Blutvergießen gegangen seid, sondern nur das Gesetz der Liebe und der
Achtung des Nächsten mißachtet habt, statt jenen zu helfen, die hungern wegen
eures Geizes, eurer Laster und eurer Habgier. Nein, ihr denkt nicht daran! Ihr
sagt: "Das sind Märchen. Ich habe diese Märchen unter dem Gewicht meines
Goldes begraben. Sie leben nicht mehr." Aber es sind keine Märchen, es ist die
Wahrheit!
Sagt nicht: "Wenn ich tot bin,
ist alles zu Ende." Nein, dann beginnt alles! Das andere Leben ist kein
Abgrund ohne Sinn und ohne Erinnerung an die gelebte Vergangenheit, ohne
Verlangen nach Gott, wie ihr euch die Zeitspanne der Erwartung des Erlösers
vorstellt. Das andere Leben ist selige Erwartung für die Gerechten, geduldige
Erwartung für die Büßenden, qualvolle Erwartung für die Verdammten. Für die
ersteren in der Vorhölle, für die zweiten im Fegfeuer, und für die letzten in
der Hölle. Und während für die ersten die Erwartung mit dem Einzug des
Erlösers in den Himmel endet, wird bei den zweiten die Erwartung nach dieser
Stunde durch die Hoffnung viel tröstlicher, während für die dritten die
Erwartung mit der schrecklichen Gewißheit der ewigen Verdammnis endet. Denkt
daran, ihr Sünder! Es ist nie zu spät, um zu bereuen. Ändert das Urteil, das
im Himmel für euch geschrieben wird, durch eine wahre Reue. Das Fegfeuer wird
für euch nicht die Hölle, sondern reuevolle Erwartung sein. Nicht Dunkel,
sondern Morgendämmerung. Nicht Trennung, sondern Heimweh. Nicht Verzweiflung,
sondern Hoffnung.
Geht! Versucht nicht, gegen Gott
zu kämpfen. Er ist der Starke und der Gute. Schändet den Namen eurer Eltern
nicht. Hört, wie diese Quelle
222
seufzt; ein Seufzer, gleich dem,
der die Herzen eurer Mütter zerreißt, wenn ihr zu Mördern werdet. Hört, wie
der Wind in der Schlucht pfeift. Es scheint, daß er droht und verflucht, wie
euch der Vater verflucht wegen des Lebens, das ihr führt. Hört, wie das
Gewissen in euren Herzen heult. Warum wollt ihr leiden, wenn ihr mit wenig im
Frieden auf Erden leben könntet, um dann im Himmel alles zu haben? Gebt eurer
Seele Frieden! Gebt Frieden den angstvollen Menschen, die euch wie Raubtiere
fürchten müssen! Gebt euch Frieden, ihr armen Unglücklichen! Erhebt den Blick
zum Himmel, entfernt den Mund von der vergifteten Speise und reinigt die
Hände, die vom Blut des Bruders triefen. Reinigt euer Herz!
Ich vertraue euch! Daher rede ich
zu euch. Denn wenn die ganze Welt euch haßt und fürchtet, ich hasse und
fürchte euch nicht. Ich strecke euch die Hand entgegen, um euch zu sagen:
"Erhebt euch! Kommt! Kehrt friedlich zu den Menschen zurück, als Menschen zu
Menschen." Ich fürchte euch so wenig, daß ich jetzt zu diesen Leuten sagen
kann: "Kehrt zur Ruhe zurück, ohne Haß gegen die armen Brüder. Betet für sie.
Ich bleibe hier, um sie mit den Augen der Liebe anzublicken, und ich schwöre
euch, daß nichts geschieht; denn die Liebe entwaffnet die Gewalttätigen und
sättigt die Gierigen. Die Liebe, die wahre Macht in der Welt, sei gepriesen!
Diese unbekannte Macht! Eine Macht, die Gott gehört."»
Dann wendet Jesus sich an alle:
«Geht, geht! Fürchtet euch nicht. Es sind keine Landstreicher mehr hier,
nurmehr erschütterte, weinende Männer! Wer weint, tut nichts Böses. Gebe Gott,
daß sie bleiben, wie sie jetzt sind! Es wäre ihre Rettung!»
265. DIE ANKUNFT IN BETHER
Die Apostelgruppe hat in ihrem
Tier-Gefolge eine Veränderung erlebt. Anstelle des Widders sehe ich ein Schaf
mit zwei Lämmlein. Das Schaf ist fett und hat ein volles Euter, die Lämmlein
sind fröhlich wie zwei Büblein. Eine kleine Herde mit einem weniger magischen
Aussehen als der tiefschwarze Widder; alle sind zufrieden.
«Ich hatte euch gesagt, daß eine
Ziege komme, um aus Margziam einen kleinen, glücklichen Hirten zu machen.
Anstelle der Ziege – da ihr Ziegen und Böcke nicht leiden könnt – sind nun die
Schafe da. Sie sind weiß. Genauso, wie Petrus es gewünscht hat.»
«Aber gewiß! Mir schien immer,
daß ich Beelzebub hinter mir herschleppe», sagt Petrus.
«Tatsache ist, daß eigenartige
Dinge sich ereignet haben, während das Tier mit uns war. Er war der Zauber,
der uns verfolgte», bestätigt Iskariot erregt.
223
«Ein guter Zauber also! Was ist
uns Böses zugestoßen?» antwortet Johannes ruhig.
Alle erheben gleichzeitig die
Stimme, um ihn zu tadeln wegen seiner Blindheit: «Aber hast du in Modin nicht
gesehen, wie alle uns verspotteten?» «Und mir scheint, der Sturz meines
Bruders zähle für dich nicht? Er hätte Schaden erleiden können. Wie hätten wir
ihn weggetragen, wenn er sich die Beine oder das Rückgrat gebrochen hätte?»
«Und die letzte Nacht ist dir wohl wie ein schönes Zwischenspiel vorgekommen?»
«Ich habe alles gesehen. Ich habe
alles überlegt und den Herrn gepriesen, weil uns kein Unheil zugestoßen ist.
Das Übel ist auf uns zugekommen, dann ist es geflüchtet, wie immer, und die
Begegnung hat dazu gedient, Samen des Guten sowohl in Modin als auch bei den
Winzern zu hinterlassen, die mit der Gewißheit zu Hilfe gekommen sind,
wenigstens einen Verwundeten vorzufinden, und mit dem Bedauern, lieblos
gewesen zu sein, so daß sie wiedergutmachen wollten. Und auch bei den Räubern
in der vergangenen Nacht ist guter Same hinterlassen worden. Sie haben uns
nichts Böses zugefügt, und Petrus hat die Lämmer im Tausch gegen den Widder
und als Geschenk dafür, daß sie gerettet worden sind, erhalten. Die Armen
haben nun genügend Geld durch die Börsen, die die Händler uns gegeben haben,
und durch die Spenden der Frauen. Und was noch mehr Wert hat: alle haben das
Wort Jesu aufgenommen.»
«Johannes hat recht», sagen der
Zelote und Judas Thaddäus. Dieser fügt hinzu: «Es scheint wirklich, daß alles
eintrifft in klarer Vorausschau der kommenden Dinge. Aufgrund der durch meinen
Sturz verursachten Verspätung sind wir mit den schmuckbehangenen Frauen, den
Hirten mit der großen Herde und den Händlern, die im Geld ersticken,
zusammengestoßen. Herrliche Beute für die Diebe! Bruder, sag mir, wußtest du,
daß dies alles geschehen sollte?» fragt der Thaddäus den Meister.
«Ich habe euch schon oft gesagt,
daß ich in den Herzen lese, und, wenn der Vater nichts anderes bestimmt, dann
ist mir nicht unbekannt, was geschehen wird.»
«Aber warum machst du dann
manchmal den Fehler, zu feindseligen Pharisäern oder in Städte mit
feindseliger Bevölkerung zu gehen?» fragt Judas Iskariot.
Jesus schaut ihn fest an und sagt
dann ruhig und langsam: «Das sind keine Fehler! Es sind notwendige Aufgaben
meiner Sendung. Den Arzt haben die Kranken nötig und den Lehrer die
Unwissenden. Sowohl die einen als auch die anderen weisen manchmal den Arzt
oder den Lehrer zurück. Aber wenn es gute Ärzte oder gute Lehrer sind, gehen
sie trotzdem zu jenen, die sie abgewiesen haben; es ist ihre Pflicht, sie
aufzusuchen. Ich gehe. Ihr wollt, daß überall, wo ich mich zeige, jeder
Widerstand falle. Ich könnte es machen. Aber ich zwinge niemanden. Ich
überzeuge. Zwang soll nur in ganz besonderen Fällen angewandt werden, und nur,
224
wenn der von Gott erleuchtete
Geist versteht, daß es dazu dienen kann, zu überzeugen, daß Gott ist und daß
er der Stärkere ist... oder in Fällen von vielfacher Rettung.»
«Wie gestern abend, nicht wahr?»
fragt Petrus.
«Gestern abend hatten die Diebe
Angst, als sie uns bereit sahen, sie zu empfangen», sagt Iskariot mit
sichtlicher Verachtung.
«Nein, sie sind durch Worte
überzeugt worden», sagt Thomas.
«Ja, ganz gewiß! Das sind
wirklich zarte Seelen, die sich mit zwei Worten überzeugen lassen, auch wenn
sie von Jesus kommen! Das weiß ich von damals, als ich mit der ganzen Familie
und vielen anderen von Bethsaida in der Schlucht von Adummim überfallen
wurde!» entgegnet Philippus.
«Meister, sag einmal, seit
gestern schon möchte ich dich fragen – "Sind es deine Worte oder dein Wille,
die den Überfall verhindert haben?"» fragt Jakobus des Zebedäus.
Jesus lächelt und schweigt.
Matthäus antwortet: «Ich glaube,
es ist sein Wille, der die Härte dieser Herzen überwunden und sie förmlich
gelähmt hat, damit Jesus zu ihnen reden und sie retten konnte.»
«Auch ich sage, daß es so ist.
Aus diesem Grund ist er dort allein geblieben, um in den Wald hineinzusehen.
Er hat sie mit seinem Blick unterworfen, mit seinem Vertrauen in sie und
seiner unerschütterlichen Ruhe besiegt. Er hatte nicht einmal einen Stock!»
sagt Andreas.
«Gut. Aber dies alles sagen wir.
Es sind unsere Gedanken. Ich aber möchte es vom Meister hören», sagt Petrus.
Es beginnt eine lebhafte
Diskussion; Jesus läßt sie gewähren. Unter anderem wird gesagt, Jesus habe
erklärt, er zwinge niemand, er habe auch diesen Räubern gegenüber keine Gewalt
angewandt. Dies sagt Bartholomäus, während Iskariot, von Thomas unterstützt,
behauptet, daß er nicht glaube, daß der Blick eines Menschen so viel vermöge.
Matthäus entgegnet: «Das und noch mehr! Ich bin von seinem Blick bekehrt
worden, noch bevor mich seine Worte berührt haben.» Die "Ja" und die "Nein"
stehen sich hart gegenüber, da ein jeder an seiner Meinung festhält. Johannes
schweigt wie Jesus und lächelt, das Haupt gesenkt, um sein Lächeln zu
verbergen. Petrus geht aufs neue zum Angriff über, denn keine Meinung und
Ansicht der Gefährten kann ihn überzeugen. Er denkt und sagt, daß der Blick
Jesu verschieden ist von dem irgend eines anderen Menschen; er will wissen, ob
dies so ist, weil er Jesus, der Messias, oder weil er immer Gott ist.
Jesus sagt: «In Wahrheit sage ich
euch, daß nicht ich allein, sondern jeder, der mit Gott in Heiligkeit,
Reinheit und tiefem Glauben vereinigt ist, dies und noch mehr tun kann. Der
Blick eines Kindes, dessen Seele mit Gott vereinigt ist, kann heidnische
Tempel zum Einsturz bringen, ohne
225
die Kraft Samsons zu benötigen;
kann mit Sanftmut wilden Tieren und wilden Menschen befehlen; kann den Tod
abweisen und Krankheiten der Seele besiegen; wie das Wort eines Kindes, das
mit Gott verbunden und Werkzeug des Herrn ist, auch Krankheiten heilen,
Schlangen das Gift nehmen und jedes Wunder wirken kann. Denn Gott wirkt in
ihm!»
«Ah, nun habe ich verstanden!»
sagt Petrus. Er schaut, schaut, schaut Johannes an. Und er faßt dann das
Ergebnis seiner Gedanken in die Worte zusammen: «Also, du, Meister, hast es
gekonnt, weil du Gott bist und weil du als Mensch mit Gott vereinigt bist. Und
so kann es geschehen, daß jemand dasselbe erreichen kann oder schon erreicht
hat, weil er mit Gott vereint ist. Ich habe verstanden! Ich habe wirklich
verstanden!»
«Aber du fragst nicht nach dem
Schlüssel dieser Vereinigung und nach dem Geheimnis dieser Macht? Nicht alle
Menschen erreichen sie, obwohl alle die gleichen Voraussetzungen haben.»
«Richtig! Wo ist der Schlüssel
dieser Kraft, die einen mit Gott vereinigt und den Dingen befiehlt? Handelt es
sich um ein Gebet oder geheime Worte?»
«Vor kurzem hat Judas des Simon
den Widder zum Sündenbock für alle die Unannehmlichkeiten, die uns zugestoßen
sind, gemacht. Die Tiere können nicht hexen. Befreit euch von diesem
Aberglauben; er ist Götzendienst und kann Unglück verursachen. Da es keine
Formeln gibt, um Hexereien zu vollbringen, so gibt es auch keine geheimen
Worte, um Wunder zu wirken. Es gibt nur die Liebe. Wie ich schon gestern abend
gesagt habe, besänftigt die Liebe die Grausamen und sättigt die Geizigen. Die
Liebe: Gott! Mit Gott in euch, ganz in Besitz genommen durch das Verdienst
einer vollkommenen Liebe, wird das Auge zum Feuer, das jedes Götzenbild in
Flammen aufgehen läßt und die Götzen zu Boden wirft, und das Wort wird Macht.
Weiter: Das Auge wird zur Waffe, die entwaffnet. Man kann Gott, der Liebe,
nicht widerstehen. Nur der Dämon widersteht ihr, denn er ist der vollkommene
Haß, und mit ihm widerstehen ihr seine Söhne. Die anderen, die Schwachen, die
von einer Leidenschaft besessen sind, aber sich nicht freiwillig an den Dämon
verkauft haben, widerstehen ihr nicht. Was auch ihre Religion oder ihre
Glaubenslosigkeit sei, welches auch das Niveau ihrer geistigen Niedrigkeit
sei, sie werden von der Liebe getroffen, welche die große Siegerin ist. Suche
sie zu erreichen, und zwar bald, dann wirst du das tun können, was die Kinder
Gottes und die Träger Gottes tun.»
Petrus und der Zelote wenden ihre
Augen nicht von Johannes ab; auch die Söhne des Alphäus und Jakobus mit
Andreas beginnen zu verstehen.
«Aber Herr», sagt Jakobus des
Zebedäus, «was ist mit meinem Bruder geschehen? Du sprichst von ihm. Ist er
das Kind, das Wunder wirkt? Das hast du gemeint, nicht wahr?»
«Was er getan hat? Er hat ein
Blatt im Buch des Lebens umgewendet
226
und neue Geheimnisse
kennengelernt. Sonst nichts! Er ist euch vorausgegangen, denn er hält sich
nicht damit auf, jedes Hindernis zu bewerten, jede Schwierigkeit abzuwägen,
jeden Nutzen zu berechnen. Er sieht die Erde nicht mehr. Er sieht das Licht
und geht auf es zu, rastlos. Aber laßt ihn in Ruhe. Die Seelen, die mehr Feuer
verbrauchen, kann man nicht stören in ihrem Brand, der erfreut und verzehrt.
Man muß sie brennen lassen. Es ist für sie höchste Freude und höchste
Belastung zugleich. Gott gibt ihnen auch Augenblicke der Nacht; denn er weiß,
daß der Brand die Seelenblüte versengt, wenn sie einer andauernden Sonne
ausgesetzt ist. Gott gewährt Schweigen und mystischen Tau den Seelenblüten,
wie den Blumen des Feldes. Laßt den Athleten der Liebe im Frieden, wenn ihn
Gott ihm gewährt. Macht es den Sportlehrern nach, die ihren Schülern die
nötige Ruhe gewähren. Wenn ihr erreicht, was er schon erreicht hat und noch
weiter, denn weiter werdet ihr gehen wie er auch, dann versteht ihr das
Bedürfnis nach Achtung, Schweigen und Schatten, das die Seelen empfinden,
welche die Liebe zu ihrer Beute und zu ihrem Werkzeug gemacht hat. Denkt
nicht: "Ich werde mich dann freuen, wenn es bekannt wird; Johannes ist
töricht, denn die Seelen der Nächsten wie jene der Kinder wollen vom
Wunderbaren ergriffen werden." Nein! Wenn ihr dort angekommen seid, habt ihr
das gleiche Bedürfnis nach Schweigen und Verborgenheit, das Johannes jetzt
hat. Und wenn ich nicht mehr unter euch bin, denkt daran, daß ihr zur
Bemessung einer Bekehrung und der Macht der Heiligkeit immer die Demut als
Maßstab nehmen müßt. Wenn in einem der Stolz anhält, dann laßt euch nicht
täuschen und glaubt nicht, daß er sich bekehrt hat. Wenn von einem gesagt
wird, daß er ein "Heiliger" sei, aber stolz ist, dann könnt ihr sicher sein,
daß es sich nicht um einen Heiligen handelt. Er könnte wie ein Scharlatan
scheinheilig den Heiligen spielen und Wunder vortäuschen; aber er ist kein
Heiliger. Der Anschein ist Scheinheiligkeit, die Wunder sind Satanismus. Habt
ihr verstanden?»
«Ja, Meister.» ... Sie schweigen
alle nachdenklich. Aber wenn auch der Mund schweigt, so sind die Gedanken
leicht in ihren Blicken und Gesichtsausdrücken zu lesen. Ein großes Verlangen
nach Erkenntnis zittert wie aus ihnen strömender Äther um sie herum.
Der Zelote bemüht sich, die
Gefährten zu zerstreuen, um Zeit zu gewinnen und mit jedem einzeln reden zu
können. Bestimmt will er ihnen raten, vorläufig zu schweigen. Ich habe den
Eindruck, daß der Zelote diese Aufgabe oft in der apostolischen Gruppe hat. Er
ist der Mäßiger, der Versöhner, der Berater der Gefährten, und außerdem
versteht er den Meister sehr gut. Nun sagt er: «Wir sind schon auf dem
Besitztum Johannas. Das Dorf in der Mulde ist Bether. Der Palast auf dem
Gipfel ist ihr Geburtsschloß. Spürt ihr den Duft? Es sind die Rosengärten, die
in der Morgensonne zu duften beginnen. Am Abend ist es eine Fülle von Düften.
Aber
227
jetzt ist die Zeit, sie zu sehen.
In der Kühle des Morgens sind sie noch mit Tau bedeckt, wie wenn Millionen von
Diamanten in Millionen Blütenkelche, die sich gerade öffnen, geschüttet worden
wären. Wenn die Sonne untergeht, werden die voll aufgeblühten Rosen gepflückt.
Kommt! Ich will euch von einem Brunnen aus die Rosengärten zeigen, die vom
Gipfel aus wie ein Wasserfall bis zum anderen Hügel hinfluten. Ein Wasserfall
von Blumen, der dann wieder wie eine Welle nach oben zu den beiden anderen
Hügeln steigt. Ein Amphitheater, ein Meer von Blumen! Herrlich! Die Straße ist
steiler. Aber es ist der Mühe wert, sie zu gehen, denn von dieser Anhöhe
überblickt man das ganze Paradies. So gelangen wir auch schneller zum Schloß.
Johanna lebt hier frei inmitten ihrer Landarbeiter, die einzigen Wächter all
dieses Reichtums. Doch die Arbeiter lieben ihre Herrin, die aus diesen Tälern
ein Eden der Schönheit und des Friedens macht, so sehr, daß sie mehr wert sind
als alle Wachen des Herodes. Schau, Meister! Schaut, Freunde!» Er zeigt auf
die im Halbkreis liegenden Hügel, die völlig mit Rosenpflanzen bewachsen sind.
Überall sieht das
umherschweifende Auge unter sehr hohen Bäumen, die vor Hagelschlag, Winden und
der stechenden Sonne schützen, auf den Terrassen Rosensträucher über
Rosensträucher. Die Sonne umspielt sie und auch der Wind unter dem leuchtenden
Dache, das abschirmt, aber nicht bedrückt, und sie werden von den Gärtnern in
der nötigen Ordnung gehalten; unter bester Pflege gedeihen hier die schönsten
Rosensträucher der Welt. Es sind Tausende und Abertausende von Rosen jeder
Art: Zwergrosen, niedrige, hohe und langstielige. Wie mit Blumen bestickte
Kissen liegen sie zu Füßen der Bäume auf dem grünen Rasen oder hängen in den
Hecken längs der Wege; an den Ufern der Bäche, rings um die
Bewässerungsbecken, die über diesen Park mit seinen Hügeln verstreut sind,
ranken sie sich hoch und bilden über die Äste Bögen und Girlanden. Eine
wirklich traumhafte Schönheit! Alle Größen und alle Schattierungen sind
vorhanden und miteinander verflochten, die elfenbeinfarbene Teerose neben der
blutroten Blütenkrone, während zahlenmäßig die eigentlichen Rosen in der Farbe
einer Kinderwange, die an den Rändern mit Weiß und Rosa bekränzt sind,
vorwiegen.
Alle sind beeindruckt von soviel
Schönheit.
«Aber was macht Johanna denn mit
diesem Riesengarten?» fragt Philippus.
«Sie erfreut sich daran»,
antwortet Thomas.
«Nein! Sie gewinnt aus den Blüten
duftende Öle und gibt somit Hunderten von Gartenarbeitern Arbeit. Die Römer
sind begierig auf diese Öle. Jonathan sagte es mir und zeigte mir die
Rechnungen der letzten Ernte. Aber hier ist Maria des Alphäus mit dem Kinde.
Sie haben uns gesehen und rufen die anderen herbei...»
Tatsächlich kommt Johanna mit den
beiden Marien, die von Margziam
228
überholt werden, der mit den zur
Umarmung geöffneten Armen auf Jesus und Petrus zueilt. Alle werfen sich vor
Jesus nieder.
«Der Friede sei mit euch allen!
Wo ist meine Mutter?»
«Zwischen den Rosensträuchern,
mit Elisa. Oh, sie ist nun geheilt. Sie kann der Welt entgegentreten und dir
nachfolgen. Ich danke dir, daß du mich dazu verwendet hast.»
«Ich danke dir, Johanna. Siehst
du, wie nötig es war, nach Judäa zu kommen? Margziam, hier sind Geschenke für
dich! Diese hübsche Puppe und die schönen Lämmlein. Gefallen sie dir?»
Das Kind ist sprachlos vor
Freude. Es hält sich an Jesus fest, der sich gebückt hat, um ihm die Puppe zu
geben, und in dieser Haltung verblieben ist, um ihm ins Gesicht zu schauen; er
umarmt und küßt ihn mit aller nur möglichen Herzlichkeit.
«So wirst du sanft wie die
Schäflein, und später wirst du ein guter Hirte für die an Christus Glaubenden
sein, nicht wahr?»
Margziam sagt: «Ja, ja, ja ...»
mit stockendem Atem und vor Freude glänzenden Augen.
«Nun geh zu Petrus, denn ich
suche meine Mutter auf. Ich sehe einen Schleierzipfel längs der Rosenhecke
daherkommen.»
Und Jesus eilt Maria entgegen und
zieht sie an der Biegung des Weges an sein Herz. Nach dem ersten Kuß, noch
ganz atemlos, erklärt Maria: «Dahinten kommt Elisa! Ich bin vorausgeeilt, um
dich zu küssen; dich nicht zu küssen, Sohn, brächte ich nicht fertig; und dich
vor ihren Augen küssen, das wollte ich nicht... Sie ist sehr verändert. Aber
das Herz schmerzt immer noch bei den Freuden der anderen, die ihr immer
versagt worden sind.»
Elisa macht rasch die letzten
Schritte und kniet nieder, um das Gewand Jesu zu küssen. Sie ist nicht mehr
die verzweifelte Frau von Bethsur, sondern eine ernste Greisin, vom Schmerz
gezeichnet und eindrucksvoll durch die Spuren, die der Schmerz auf dem Antlitz
und im Blick hinterlassen hat.
«Sei gebenedeit, mein Meister,
jetzt und immer, da du mir das wiedergegeben hast, was ich verloren hatte.»
«Immer mehr Frieden für dich,
Elisa! Ich freue mich, dich hier zu finden. Steh auf!»
«Auch ich freue mich. Ich habe
dir viele Dinge zu berichten und dich vieles zu fragen, Herr.»
«Wir haben Zeit, denn ich werde
hier einige Tage rasten. Komm, damit ich dich mit den Mitjüngern bekanntmachen
kann.»
«Oh, so hast du also schon
verstanden, was ich dir sagen wollte? Daß ich zu neuem Leben wiedergeboren
werden möchte; mir wieder eine Familie schaffen möchte; die deine, die deiner
Söhne, wie du gesagt hast, als du von Noemi gesprochen hast in meinem Haus zu
Bethsur. Die neue
229
Noemi bin ich durch deine Gnade,
mein Herr; sei gepriesen! Ich bin nicht mehr verbittert und unglücklich. Ich
werde wieder Mutter sein. Und, wenn Maria es erlaubt, auch ein wenig deine
Mutter in der Schar der Jünger deiner Lehre.»
«So soll es sein! Maria ist nicht
eifersüchtig, und ich werde dich so lieben, daß es dich nicht zu reuen
braucht, gekommen zu sein. Wir wollen jetzt zu denen gehen, die dir sagen
möchten, daß sie dich wie Brüder lieben.» Und Jesus nimmt Elisa bei der Hand
und führt sie ihrer neuen Familie zu.
Die Reise in Erwartung des
Pfingstfestes ist zu Ende.
266. DER GELÄHMTE AM TEICH VON
BETHSAIDA
Jesus befindet sich in Jerusalem,
genauer gesagt in der Umgebung der Burg Antonia. Bei ihm sind alle Apostel mit
Ausnahme von Judas Iskariot. Eine große Menschenmenge bewegt sich eilenden
Schrittes zum Tempel. Alle sind festlich gekleidet, die Apostel wie die
anderen Pilger, und ich nehme an, daß gerade das Pfingstfest gefeiert wird.
Viele Bettler mischen sich unter das Volk mit ihrem mitleidheischenden
Gejammer! Sie sind auf dem Weg zu den besten Plätzen, d.h. zu den Toren des
Tempels und den Wegkreuzungen, an denen die Leute vorbei müssen. Jesus geht,
Almosen austeilend, an ihnen vorüber, während sie ihm all ihr Elend aufzählen
und beschreiben. Ich habe den Eindruck, daß Jesus bereits im Tempel gewesen
ist; denn ich höre die Apostel über Gamaliel reden, der tat, als ob er Jesus
nicht sähe, obwohl sein Schüler Stephanus ihn auf seine Ankunft aufmerksam
gemacht hat.
Ich vernehme auch, wie
Bartholomäus seine Gefährten fragt: «Was hat der Schriftgelehrte wohl mit dem
Satz gemeint: "Eine Hammelherde für einen billigen Schlachthof?"»
«Er wird von einem seiner
Geschäfte gesprochen haben», antwortet Thomas.
«O nein, er meinte uns damit. Ich
habe es wohl gemerkt. Denn der folgende Satz bestätigt den Sinn des ersten:
"Bald wird auch er als Lamm zur Schur und zur Schlachtbank geführt werden."»
«Ja, auch ich habe es gehört»,
bestätigt Andreas.
«Stimmt! Ich hätte große Lust,
zurückzukehren und den Begleiter des Schriftgelehrten zu fragen, was er von
Judas des Simon weiß», sagt Petrus.
«Was wird er schon wissen! Judas
ist diesmal nicht dabei, weil er tatsächlich krank ist. Wir wissen es.
Vielleicht hat ihn die Reise wirklich zu sehr angestrengt. Wir sind kräftiger.
Er hat immer ein bequemes Leben geführt und wird schnell müde», meint Jakobus
des Alphäus.
230
«Ja, wir wissen es; aber der
Schriftgelehrte hat auch gesagt: "Es fehlt das Chamäleon der Gruppe." Ist das
Chamäleon nicht das Tier, das seine Farbe wechseln kann sooft es will?» fragt
Petrus.
«Ja, Simon. Aber sie haben sicher
damit gemeint, daß er immer neue Kleider trägt. Er hält etwas darauf, er ist
noch jung. Man muß Mitleid mit ihm haben...» beruhigt ihn der Zelote.
«Auch das stimmt. Jedoch! ...
Welch eigenartige Bemerkungen!»schließt Petrus.
«Er glaubt immer, er sei
bedroht», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Auch wir glauben immer, bedroht
zu sein, und sehen Gefahren, wo keine sind!» bemerkt Judas Thaddäus.
«Und wir sehen Fehler, wo keine
sind», schließt Thomas.
«Ach ja, mißtrauisch zu sein, ist
schlimm... Wer weiß, wie es Judas heute geht? Er wird sich wie im Paradies
vorkommen, bei diesen Engeln... Um diese Wonne genießen zu können, möchte auch
ich beinahe krank sein!» sagt Petrus, und Bartholomäus antwortet: «Hoffen wir,
daß er bald wieder gesund wird. Wir müssen wirklich bald ans Ziel unserer
Reise kommen, denn die Hitze beginnt drückend zu werden.»
«Oh, an Pflege wird es ihm nicht
fehlen, und außerdem denkt ja auch der Meister an ihn, wenn etwas geschähe»,
versichert Andreas.
«Er hatte hohes Fieber, als wir
ihn verlassen haben. Ich weiß nicht, wie er es bekommen hat ...» sagt Jakobus
des Zebedäus, und Matthäus fügt hinzu: «Wie man eben Fieber bekommt! Es mußte
wohl kommen. Aber es wird nichts passieren. Der Meister hat keinerlei
Bedenken. Wenn er etwas Schlimmes vermutete, hätte er das Schloß Johannas
nicht verlassen.»
Jesus ist tatsächlich unbesorgt.
Er unterhält sich mit Margziam und Johannes, während er vorausgeht und Almosen
verteilt. Gewiß erklärt er dem Knaben viele Dinge, denn ich sehe, wie er auf
dieses und jenes hinweist. Er geht dem Ende der Tempelmauer zu, zur
Nord-Ost-Ecke. Dort sind viele Menschen, die sich zu einem von mehreren Säulen
umgebenen Platz begeben. Dieser Platz befindet sich vor einem Tor, das ich
"Herdentor" nennen höre.
«Hier ist der Teich der Prüfung:
der Teich von Bethsaida. Nun schau gut auf das Wasser. Siehst du, es liegt
jetzt völlig still. Bald wird es steigen bis oben zum noch feuchten Rand.
Siehst du? Dann steigt der Engel des Herrn herab, das Wasser spürt es und
verehrt ihn, wie es kann. Er bringt dem Wasser den Befehl, den zu heilen, der
bereit ist, darin unterzutauchen. Siehst du die vielen Menschen? Aber viele
sind nicht genügend aufmerksam und sehen die erste Bewegung des Wassers nicht;
oder aber die Stärkeren stoßen in liebloser Weise die Schwächeren zurück. Man
darf sich von den Zeichen Gottes nicht ablenken lassen. Man muß die Seele
immer wachsam halten, denn man weiß nie, wenn Gott sich zeigt oder seinen
Engel schickt. Und man darf nie selbstsüchtig sein, nicht einmal, um
231
der Gesundheit willen. Oft
geschieht es, daß diese Unglücklichen darüber streiten, wer das Wasser zuerst
berühren darf oder wer es am nötigsten hat; so bringen sie sich um die Wohltat
der Ankunft des Engels», erklärt Jesus geduldig dem kleinen Margziam, der ihn
mit weitgeöffneten Augen aufmerksam anschaut und zugleich auch das Wasser im
Auge behält.
«Kann man den Engel sehen? Das
würde mir gefallen.»
«Levi, der Hirte, der in deinem
Alter ist, sieht ihn. Paß auch du gut auf und sei bereit, ihn zu preisen!»
Der Knabe läßt sich nun von
nichts mehr ablenken. Seine Augen blicken bald auf das Wasser, bald über das
Wasser; anderes sieht und hört er nicht mehr.
Indessen betrachtet Jesus das
kleine Volk der Kranken, Blinden, Krüppel und Gelähmten, die warten.
Auch die Apostel schauen
aufmerksam zu. Die Sonne spielt mit ihrem Licht auf dem Wasser und bemächtigt
sich als Königin auch der fünf Säulengänge, welche die Becken umgeben.
«Schau da, schau!» jubelt
Margziam. «Das Wasser steigt, es bewegt sich, es funkelt! Was für ein Licht!
Der Engel!»... und das Kind wirft sich auf die Knie.
Tatsächlich kommt Bewegung in das
Wasser im Becken, das wie ein Spiegel in der Sonne gleißt und nun plötzlich
anschwillt und bis zum Beckenrand ansteigt. Für einen Augenblick ein
blendender Glanz! Ein Lahmer ist bereit, sich ins Wasser zu tauchen; gleich
darauf steigt er wieder heraus, und das Bein, das durch eine große Narbe
verunstaltet war, ist völlig geheilt. Die anderen beklagen sich und streiten
mit dem Geheilten und werfen ihm vor, daß er nicht arbeitsunfähig war, wie sie
es sind. Der Streit dauert an.
Jesus sieht sich um und erblickt
einen Gelähmten, der auf seiner Bahre leise vor sich hinweint. Er nähert sich
ihm, beugt sich über ihn und fragt: «Du weinst?»
«Ja. Niemand denkt an mich. Ich
bin immer hier. Alle werden geheilt, ich nie. Schon achtundreißig Jahre liege
ich auf dem Rücken. Ich habe meine ganze Habe aufgezehrt; meine Angehörigen
sind gestorben, und nun bin ich bei einem entfernten Verwandten, der mich
morgens hierher bringt und am Abend wieder abholt... Ich bin für ihn eine
große Belastung! Oh, ich möchte sterben!»
«Verliere nur nicht den Mut. Du
hast viel Geduld und Glauben bewiesen, Gott wird dich erhören!»
«Ich hoffe es... Aber es kommen
Augenblicke der Trostlosigkeit. Du bist gut, aber die anderen... Wer geheilt
ist, sollte sich Gott dankbar erweisen, hierbleiben, um den armen Brüdern zu
helfen.»
«Das sollte er wirklich tun. Doch
habe deswegen keinen Groll in deinem
232
Herzen. Sie denken nicht daran.
Es ist keine Bosheit ihrerseits. Die Freude, geheilt zu sein, macht sie zu
Egoisten. Verzeih ihnen ...»
«Du bist gut. Du würdest nicht so
handeln. Ich gebe mir Mühe, mich auf den Händen hinzuschleppen, wenn das
Wasser aufwallt; doch es kommt mir immer ein anderer zuvor; am Rand kann ich
mich nicht aufhalten, ich würde niedergetrampelt werden. Aber selbst wenn ich
mich dort aufhalten würde, wer würde mich ins Wasser tauchen? Wenn ich dich
früher gesehen hätte, hätte ich dich darum gebeten ...»
«Willst du wirklich geheilt
werden? Dann erhebe dich! Nimm dein Bett und gehe!» Jesus hat sich erhoben, um
diesen Befehl zu erteilen, und es scheint, als habe er auch den Gelähmten
erhoben; denn dieser stellt sich auf seine Füße und macht ein, zwei, drei
Schritte – er kann es kaum fassen – hinter Jesus her, der sich entfernt; und
da er nun gewahr wird, daß er wirklich gehen kann, stößt er einen Schrei aus,
so daß sich alle umwenden.
«Aber wer bist du? Im Namen
Gottes, sage es mir! Bist du vielleicht der Engel des Herrn?»
«Ich bin mehr als ein Engel. Mein
Name ist "Erbarmen". Geh im Frieden!»
Alle drängen sich herbei. Sie
wollen sehen. Sie wollen reden. Sie wollen geheilt werden. Aber da kommen
schon die Tempelwachen herbei, die anscheinend auch den Teich überwachen, und
stoßen die schreiende Menge unter Drohungen zurück.
Der Gelähmte nimmt sein Bett:
zwei Stangen auf zwei Paar kleinen Rädern und ein zerrissenes Tuch, das auf
die Stangen genagelt ist; er geht glücklich davon und ruft Jesus zu: «Ich
werde dich wiederfinden! Ich werde dein Gesicht und deinen Namen nicht
vergessen.»
Jesus ist unter die Menge
getreten; er geht in entgegengesetzter Richtung der Stadtmauer zu. Aber er hat
die letzte Säulenhalle noch nicht verlassen, da hält ihn auch schon eine
Gruppe von Juden der übelsten Klasse, wie von einer wilden Furie gepeitscht,
an, alle vereint im Verlangen, Jesus Unverschämtheiten zu sagen. Sie suchen,
sie schauen umher, sie forschen. Aber es gelingt ihnen nicht, zu erfahren, was
vorgefallen ist, und Jesus geht weg, während die Juden, enttäuscht, sich auf
einen Hinweis der Wächter auf den armen, glücklichen Geheilten stürzen und ihm
vorwerfen: «Warum trägst du das Bett? Es ist Sabbat! Das ist dir nicht
erlaubt!»
Der Mann schaut sie an und sagt:
«Ich verstehe euch nicht. Ich weiß nur, daß er, der mich geheilt hat, sagte:
"Nimm dein Bett und wandle." Das weiß ich!»
«Es war sicher ein Dämon, der dir
befohlen hat, den Sabbat zu entheiligen. Wie sah er aus? Wer war es? Ein Jude?
Ein Galiläer? Ein Proselyt?»
«Ich weiß es nicht. Er war hier.
Er sah mich weinen und kam zu mir. Er
233
sprach mit mir. Er heilte mich.
Er ging mit einem Kind an der Hand weg. Ich glaube, es war sein Sohn; denn er
ist alt genug, um einen Sohn jenes Alters zu haben.»
«Ein Kind? So war er es nicht!
... Wie war sein Name? Hast du ihn nicht gefragt? Lüge nicht!»
«Er hat mir gesagt, daß er
"Erbarmen" heißt.»
«Du Dummkopf! Das ist doch kein
Name!»
Der Mann hebt die Schultern und
geht fort.
Die anderen sagen: «Er war es
ganz bestimmt. Die Schriftgelehrten Ananias und Zachäus sahen ihn im Tempel.»
«Aber er hat doch keine Kinder!»
«Und doch ist er es. Er war mit
seinen Jüngern da.»
«Aber Judas war nicht dabei, den
kennen wir gut! Die anderen... sie können allerlei Volk sein.»
«Nein, sie gehören zu ihm!»
Der Wortstreit geht weiter,
während die Säulenhallen sich wieder mit Kranken anfüllen...
Jesus kehrt von einer anderen
Seite in den Tempel zurück. Von der Westseite her, die besonders mit der Stadt
verbunden ist. Die Apostel folgen ihm. Jesus blickt umher und sieht
schließlich das, was er sucht: Jonathan, der ihn ebenfalls sucht.
«Es geht ihm besser, Meister. Das
Fieber sinkt. Deine Mutter sagt, daß sie hofft, bis zum kommenden Sabbat
kommen zu können.»
«Danke Jonathan. Du bist
pünktlich gewesen.»
«Nicht sehr. Maximinus des
Lazarus hat mich aufgehalten. Er ist auf der Suche nach dir. Er ist zur
Säulenhalle Salomons gegangen.»
«Ich werde ihn einholen. Der
Friede sei mit dir, und bringe meinen Frieden der Mutter und den frommen
Frauen, und auch Judas.»
Jesus geht eilends zur
Säulenhalle Salomons, wo er tatsächlich Maximinus vorfindet.
«Lazarus hat erfahren, daß du
hier bist. Er möchte dich sehen, um dir etwas Wichtiges mitzuteilen. Wirst du
kommen?»
«Ohne Zweifel. Und zwar sehr
bald. Du kannst ihm sagen, daß er mich in dieser Woche erwarten kann.»
Maximinus geht, nachdem sie noch
einige Worte gewechselt haben.
«Beten wir noch etwas, da wir bis
hierher zurückgekommen sind», sagt Jesus und geht auf den Vorhof der Hebräer
zu.
Dort aber begegnet er dem
geheilten Gelähmten, der dem Herrn im Tempel gedankt hat. Der Geheilte
entdeckt Jesus in der Menge, begrüßt ihn freudig und erzählt, was ihm nach
seinem Weggehen zustieß. Er schließt mit den Worten: «Einer, der sehr erstaunt
über meine Heilung war, hat mir gesagt, wer du bist. Du bist der Messias. Ist
das wahr?»
«Ich bin es! Aber auch, wenn du
durch das Wasser oder eine andere
234
Macht geheilt worden wärest,
hättest du immer dieselbe Verpflichtung Gott gegenüber gehabt: jene, die
Gesundheit zu guten Werken benützen. Du bist nun geheilt. Kehre daher mit
guten Vorsätzen zu den täglichen Pflichten zurück. Und sündige nicht mehr,
damit Gott dich nicht noch einmal strafen muß.
Geh in Frieden!»
«Ich bin alt... ich kann
nichts... Aber ich möchte dir folgen, um dir zu dienen und um zu lernen.
Willst du mich?»
«Ich weise niemand ab. Überlege
es dir jedoch, bevor du kommst. Und wenn du dich entschlossen hast, dann
komm!»
«Wohin? Ich weiß nicht, wohin du
gehst ...»
«Durch die Welt. Überall wirst du
Jünger finden, die dich zu mir führen. Der Herr erleuchte dich zu deinem
Wohl!»
Jesus geht an seinen Platz und
betet...
Ich weiß nicht, ob der Geheilte
spontan zu den Juden tritt oder ob diese, auf der Lauer, ihn anhalten, um zu
erfahren, ob der Mann, mit dem er soeben gesprochen hat, ihn auch auf
wunderbare Weise heilte. Ich weiß nur, daß er sich mit den Juden unterhält und
dann weitergeht, während sie sich zur Treppe begeben, die Jesus hinabsteigen
muß, um zu den anderen Höfen und zum Ausgang des Tempels zu gelangen.
Als Jesus kommt, sagen sie zu
ihm, ohne ihn zu grüßen: «Du fährst also fort, den Sabbat zu schänden nach all
den Rügen, die dir schon erteilt worden sind! Und dann verlangst du noch, daß
man dich als einen Gesandten Gottes achtet?»
«Als Gesandten? Noch viel mehr:
als Sohn Gottes; denn Gott ist mein Vater. Wenn ihr mich nicht achten wollt,
dann laßt es eben bleiben. Aber ich werde deswegen nicht aufhören, meine
Mission auszuüben. Gott hört keinen Augenblick auf, tätig zu sein. Auch jetzt
ist mein Vater tätig, und ich bin ebenfalls tätig; denn ein guter Sohn tut,
was sein Vater tut, und ich bin gekommen, um auf Erden zu wirken.»
Das Volk hat sich angesammelt, um
den Disput mitanzuhören. Es sind Leute darunter, die Jesus kennen, andere, die
von ihm Wohltaten empfangen haben, und wieder andere, die ihn zum erstenmal
sehen; einige lieben ihn, andere hassen ihn, die meisten sind unschlüssig. Die
Apostel umringen den Meister. Margziam hat Angst, und sein Gesichtsausdruck
verrät, daß er den Tränen nahe ist.
Die Juden, Schriftgelehrten,
Pharisäer und Sadduzäer schreien laut und verärgert: «Du wagst es? Oh, du
nennst dich Sohn Gottes? Sakrileg! Gott ist, der da ist, und er hat keinen
Sohn! Ruft doch Gamaliel und holt Sadok! Versammelt die Rabbis, damit sie
hören und widerlegen.»
«Regt euch nicht auf! Ruft sie,
und sie werden euch sagen, ob es wahr ist, daß Gott der Eine und Dreieinige
ist: Vater, Sohn und Heiliger Geist, und daß das Wort, also der Sohn des
Gedankens, gekommen ist, wie es
235
prophezeit ist, um Israel und die
Welt von den Sünden zu erlösen. Das Wort bin ich! Ich bin der verheißene
Messias! Es ist daher keine Gotteslästerung, wenn ich den Vater meinen Vater
nenne. Ihr seid beunruhigt, weil ich Wunder wirke; weil ich dadurch die Menge
an mich ziehe und sie überzeuge. Ihr klagt mich an, ein Dämon zu sein, weil
ich Wunder wirke. Aber Beelzebub ist schon seit Jahrhunderten auf der Welt,
und wahrlich, es fehlt ihm nicht an Anbetern... Warum tut er denn nicht, was
ich tue?»
Das Volk flüstert: «Das stimmt!
Das ist wahr! Niemand tut, was er tut.»
Jesus fährt fort: «Ich sage euch:
es kommt daher, daß ich weiß, was er nicht weiß, und kann, was er nicht kann.
Wenn ich die Werke Gottes vollbringe, dann deshalb, weil ich sein Sohn bin.
Niemand kann etwas tun, was er nicht vorher einen anderen hat tun sehen. Ich,
der Sohn, tue nur das, was ich den Vater habe tun sehen, da ich von Ewigkeit
zu Ewigkeit eins mit ihm bin, und weder im Wesen noch im Wirken verschieden
von ihm bin. Alle Dinge, die der Vater tut, vollbringe auch ich, da ich sein
Sohn bin. Weder Beelzebub noch andere können das tun, was ich tue, weil weder
Beelzebub noch die anderen das wissen, was ich weiß. Der Vater liebt mich,
seinen Sohn, und er liebt mich ohne Maß, wie auch ich ihn liebe. Deshalb zeigt
er mir immer alles, was er tut, damit ich das tue, was er tut: Ich auf der
Erde in dieser Zeit der Gnade, er im Himmel seit den Zeiten, als es die Erde
noch nicht gab. Und er wird mir immer noch größere Werke zeigen, die ich
vollbringen soll, damit ihr euch darüber wundert.
Sein Gedanke ist unerschöpflich
im Ausdenken. Ich ahme ihn nach, da ich unerschöpflich bin in der Erfüllung
dessen, was der Vater denkt und in Gedanken wünscht. Ihr wißt noch nicht, was
die unerschöpfliche Liebe alles vermag. Wir sind die Liebe. Und es gibt keine
Begrenzung für uns, und es gibt nichts, was nicht angewendet werden könnte auf
die drei Grade des Menschen: den niedrigen, den höheren und den geistigen. Und
wahrlich, so wie der Vater die Toten erweckt und ihnen das Leben wiedergibt,
so kann auch ich, der Sohn, das Leben denen geben, die ich erwecken will. Mehr
noch, durch die unendliche Liebe des Vaters für den Sohn ist es mir erlaubt,
nicht nur dem niederen, sondern auch dem höheren Grad das Leben wiederzugeben,
durch die Befreiung des Gedankens und des Herzens des Menschen von den
Irrtümern seines Verstandes und den bösen Leidenschaften; und was den
geistigen Teil betrifft, so kann ich die Befreiung von den Sünden bewirken,
denn der Vater verurteilt niemanden, sondern hat das Gericht dem Sohne
übergeben, da der Sohn es ist, der durch sein eigenes Opfer die Menschheit
erkauft, um sie zu erlösen; und das tut der Vater aus Gerechtigkeit, denn es
ist nur gerecht, dem zu geben, der mit eigener Münze zahlt, und damit alle den
Sohn ehren, wie sie bereits den Vater ehren.
Wißt also, wenn ihr den Vater vom
Sohn trennt oder den Sohn vom
236
Vater und euch der Liebe nicht
erinnert, dann liebt ihr Gott nicht, wie es ihm gebührt: mit Wahrheit und
Weisheit; sondern ihr verfällt der Irrlehre, sofern ihr nur einem allein die
Ehre gebt, während sie eine wunderbare Dreifaltigkeit bilden. Wer den Sohn
nicht ehrt, ist wie einer, der den Vater nicht ehrt: denn der Vater, Gott,
nimmt es nicht hin, daß nur ein Teil von ihm angebetet wird. Er will in seiner
Ganzheit angebetet werden. Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt den Vater nicht, der
ihn als seinen vollkommenen Gedanken der Liebe gesandt hat. Er leugnet daher,
daß Gott seine Werke recht zu machen weiß.
In Wahrheit sage ich euch: wer
mein Wort hört und an den glaubt, der mich gesandt hat, der wird das ewige
Leben haben und nicht verdammt werden, sondern vom Tod zum Leben übergehen;
denn an Gott glauben und mein Wort annehmen bedeutet, in sich das Leben
aufnehmen, das nicht stirbt.
Die Stunde ist im Kommen, für
viele ist sie bereits gekommen, in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes
hören, und wer sie im Grunde des Herzens als Lebensspenderin vernommen hat,
der wird leben.
Was sagst du, Schriftgelehrter?»
«Ich sage, daß die Toten nichts
mehr hören und daß du von Sinnen bist.»
«Der Himmel wird dich überzeugen,
daß es nicht so ist und daß dein Wissen nichts ist im Vergleich zum Wissen
Gottes. Ihr habt die übernatürlichen Dinge so sehr vermenschlicht, daß ihr den
Worten keine andere Bedeutung mehr gebt als eine unmittelbare und irdische.
Ihr habt die Haggada gelehrt, auf bestimmte Formeln festgelegt, und zwar eure
eigenen, ohne euch zu bemühen, die Allegorien in ihrer Wahrheit zu erfassen;
und jetzt, da euch der Druck der Menschlichkeit, die über den Geist
triumphiert, ermüdet hat, glaubt ihr das nicht mehr, was ihr selbst lehrt. Und
das ist der Grund, weshalb ihr nicht mehr gegen die finsteren Mächte ankämpfen
könnt.
Der Tod, von dem ich spreche, ist
nicht der Tod des Fleisches, sondern der des Geistes. Es werden jene kommen,
die mit den Ohren mein Wort hören, und es in ihr Herz aufnehmen und in die Tat
umsetzen. Diese werden, auch wenn sie geistig tot sind, zum Leben erweckt;
denn mein Wort ist Leben, das vergeistigt. Und ich kann es geben, wem ich
will, denn in mir ist die Fülle des Lebens, und wie der Vater in sich das
vollkommene Leben hat, so hat auch der Sohn das Leben vom Vater in sich
selbst, das vollkommene, vollständige, ewige, unerschöpfliche und übertragbare
Leben. Und mit dem Leben hat mir der Vater die Gewalt gegeben zu richten; denn
der Sohn des Vaters ist der Menschensohn, und er kann und muß den Menschen
richten.
Wundert euch nicht über diese
erste, geistige Auferstehung, die ich mit meinem Wort bewirke. Ihr werdet noch
viel größere Dinge sehen, größer
237
für eure schwerfälligen Sinne,
denn in Wahrheit sage ich euch, es gibt nichts Größeres als die unsichtbare,
doch wirkliche Auferstehung eines Geistes. Bald kommt die Stunde, daß die
Gräber von der Stimme des Gottessohnes durchdrungen werden, und alle, die in
den Gräbern sind, werden sie hören. Und die Gutes getan haben, werden
hervorgehen zur Auferstehung des ewigen Lebens, und die Böses getan haben, zur
Auferstehung der ewigen Verdammung.
Ich will damit nicht sagen, daß
ich es aus mir selbst und durch meinen eigenen Willen tue: ich handle durch
den Willen meines Vaters, der mit dem meinigen vereinigt ist. Ich spreche und
urteile gemäß dem, was ich höre, und mein Urteil ist richtig, weil ich nicht
meinen Willen suche, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.
Ich bin nicht vom Vater getrennt.
Ich bin in ihm, und er ist in mir, und ich kenne seine Gedanken und setze sie
in Wort und Tat um.
Was ich da sage, um für mich
Zeugnis abzulegen, kann für euren ungläubigen Geist unannehmbar sein, der in
mir nichts anderes sehen will als einen Menschen, der euch allen gleich ist.
Noch einen anderen gibt es, der für mich Zeugnis ablegt und von dem ihr sagt,
daß ihr ihn als großen Propheten verehrt. Ich weiß, daß sein Zeugnis wahr ist.
Aber ihr, die ihr sagt, daß ihr ihn verehrt, nehmt das Zeugnis nicht an, weil
es euch nicht gefällt und ihr mir feindlich gesinnt seid. Ihr nehmt das
Zeugnis des gerechten Mannes, des letzten Propheten Israels, nicht an, in
allem, was euch nicht gefällt, und ihr sagt, auch er sei nur ein gewöhnlicher
Mensch und könne irren.
Ihr habt Johannes fragen lassen
in der Hoffnung, daß er, was mich betrifft, nach euren Gedanken antworten
werde. Aber Johannes hat ein der Wahrheit entsprechendes Zeugnis abgelegt, und
ihr habt es nicht angenommen. Denn der Prophet sagt, daß Jesus von Nazareth
der Sohn Gottes ist; ihr aber sagt – doch nur im Herzen, denn ihr fürchtet die
Menschen – daß der Prophet ein Wahnsinniger ist, wie es auch Christus ist. Ich
selbst jedoch erhalte kein Zeugnis vom Menschen, auch wenn es sich um den
Heiligsten von Israel handelt; ich sage euch: er war die brennende und
leuchtende Lampe, ihr aber habt nur für kurze Zeit ihr Licht genutzt. Als
dieses Licht sich über mich verbreitet hat, um euch Christus erkennen zu
lassen als das, was er ist, da habt ihr die Leuchte unter den Scheffel
gestellt. Vorher habt ihr schon zwischen euch und dem Licht eine Mauer
errichtet, um im Schein des Lichtes nicht den Gesalbten des Herrn erkennen zu
müssen.
Ich bin Johannes für sein Zeugnis
dankbar, und auch der Vater ist ihm dafür dankbar. Und Johannes wird großen
Lohn für dieses sein Zeugnis erhalten. Er wird daher im Himmel leuchten. Als
die erste Sonne wird er strahlen, strahlen wie alle, die der Wahrheit treu und
hungrig nach der Gerechtigkeit gewesen sind. Aber ich habe noch ein größeres
Zeugnis als das
238
des Johannes, und das ist das
Zeugnis meiner Werke. Denn die Werke, die der Vater mir zu erfüllen
aufgetragen hat, verrichte ich, und diese bezeugen, daß der Vater mich gesandt
und mir jede Macht gegeben hat. Und so ist es der Vater selbst, der mich
gesandt hat, der zu meinen Gunsten Zeugnis ablegt.
Ihr habt seine Stimme nie
vernommen noch sein Antlitz geschaut. Aber ich habe ihn gesehen und sehe ihn
immer. Ich habe ihn gehört und höre ihn. In euch wohnt nicht sein Wort, weil
ihr nicht an ihn glaubt, der mich gesandt hat.
Ihr forscht in der Schrift, weil
ihr glaubt, durch ihre Kenntnis das ewige Leben erwerben zu können. Und ihr
seht nicht, daß gerade die Schriften es sind, die von mir sprechen. Und warum
wollt ihr immer noch nicht zu mir kommen, um das Leben zu besitzen? Ich sage
es euch: wenn ihr etwas findet, das euren verknöcherten Ideen widerspricht,
weist ihr es zurück. Es fehlt euch die Demut! Ihr bringt es nicht über euch,
zu sagen: "Ich habe gefehlt; dieser oder dieses Buch sagen die Wahrheit, und
ich bin im Irrtum." So habt ihr es mit Johannes getan, so mit den Schriften,
so mit dem Wort, das zu euch spricht. Ihr könnt nicht mehr sehen und
verstehen, weil ihr in eurem Hochmut eingehüllt und von euren eigenen Stimmen
besessen seid.
Glaubt ihr, daß ich so zu euch
spreche, weil ich von euch verherrlicht werden möchte? Nein, wißt, ich suche
und nehme kein Lob von den Menschen an. Was ich suche und will, ist euer
ewiges Heil. Das ist die Ehre, die ich suche. Mein Ruhm als Erlöser kann kein
anderer sein als Erlöste zu haben, und ich werde um so größer sein, je mehr
Erlöste ich habe. Das ist die Ehre, die mir gegeben werden muß von den
geretteten Seelen und vom Vater und vom Heiligen Geist. Aber ihr werdet nicht
gerettet werden. Ich habe euch erkannt wie ihr wirklich seid. Ihr habt keine
Gottesliebe in euch. Ihr seid ohne Liebe. Und deswegen gelangt ihr nicht zur
Liebe, die zu euch spricht, und deswegen geht ihr nicht ins Reich der Liebe
ein. Dort seid ihr unbekannt. Der Vater kennt euch nicht, weil ihr mich nicht
anerkennt, der ich im Vater bin. Ihr wollt mich nicht erkennen.
Ich bin im Namen meines Vaters
gekommen, und ihr habt mich nicht aufgenommen, während ihr bereit seid, einen
jeden aufzunehmen, der im eigenen Namen kommt, vorausgesetzt, daß er euch nach
dem Mund redet. Ihr sagt, daß in euren Seelen der Glaube zuhause ist. Nein,
das ist nicht wahr. Wie könnt ihr glauben, ihr, die ihr um irdische Ehre
bettelt, und nicht den Ruhm des Himmels sucht, der von Gott allein ausgeht?
Den Ruhm, der die Wahrheit ist, und nicht ein Interessenspiel, das nicht über
die weltlichen Dinge hinausgeht und nur der lasterhaften Menschlichkeit der
entarteten Söhne Adams schmeichelt.
Ich werde euch beim Vater nicht
anklagen. Denkt so etwas nie! Es ist schon einer da, der euch anklagt. Es ist
Moses, auf den ihr hofft. Er wird
239
euch vorwerfen, daß ihr nicht an
ihn glaubt, weil ihr nicht an mich glaubt; denn er hat von mir gesprochen, und
ihr erkennt mich nicht an dem, was er schriftlich hinterlassen hat. Ihr glaubt
nicht an die Worte von Moses, der doch jener Große ist, bei dem ihr schwört!
Wie könnt ihr an die Worte des Menschensohnes glauben, der für euch ein
Gotteslästerer ist? Menschlich gesprochen ist das logisch. Aber hier befinden
wir uns auf dem Gebiet des Geistes, und eure Seelen sind im Widerspruch zu
ihm. Gott beobachtet sie im Licht meiner Werke, und er vergleicht eure
Handlungen mit dem, was ich euch zu lehren gekommen bin. Und Gott richtet
euch.
Ich gehe jetzt. Lange Zeit werdet
ihr mich nicht wiedersehen. Wißt, daß dies kein Sieg ist, sondern eine Strafe.
Gehen wir!»
Und Jesus durchschreitet die
Menge, die teils verstummt ist, teils aus Furcht vor den Pharisäern beifällig
flüstert, und entfernt sich.
267. IN BETHANIEN; «MEISTER,
MARIA HAT MARTHA GERUFEN»
Jesus geht an einem wunderschönen
Sommermorgen in Begleitung des Zeloten in den Garten des Lazarus. Die
Morgenröte ist noch nicht erloschen und daher ist alles noch frisch und
strahlend.
Der Gartendiener eilt herbei, um
den Meister zu empfangen, weist auf den Zipfel eines weißen Gewandes hin, das
hinter einer Hecke verschwindet, und sagt: «Lazarus geht mit Schriftrollen zur
Jasminlaube, um zu lesen. Ich rufe ihn sofort.»
«Nein, ich gehe selbst zu ihm!
Ganz allein.»
Und Jesus folgt behende einem
Pfad, der von blühenden Hecken eingesäumt ist. Das Gras am Wegrand dämpft das
Geräusch der Schritte, und Jesus sucht gerade auf diesem zu gehen, um Lazarus
zu überraschen.
Das gelingt ihm auch. Lazarus
steht aufrecht da, die Schriftrollen auf einem Marmortisch ausgebreitet, und
betet mit lauter Stimme: «Enttäusche mich nicht, o Herr. Laß sie wachsen,
diese Hoffnung, die in meinem Herzen entsprungen ist. Gewähre mir, um was ich
dich unter Tränen zehn- und hundertmal gebeten habe. Das, um das ich dich auch
mit meinen Handlungen, meinem Verzeihen und meinem ganzen Ich gebeten habe!
Gib es mir und nimm mein Leben dafür! Gib es mir im Namen deines Jesu, der mir
den Frieden versprochen hat. Kann er je die Unwahrheit sagen? Soll ich
annehmen, daß sein Versprechen nur leeres Wort war? Ist denn seine Macht
geringer als der Sündenabgrund meiner Schwester? Sage es mir, Herr, und ich
werde mich um deiner Liebe willen damit abfinden ...»
240
«Ja, ich sage es dir!» sagt
Jesus.
Lazarus wendet sich mit einem
Ruck um und ruft: «Oh, mein Herr! Aber wann bist du gekommen?» Dann beugt er
sich nieder, um das Gewand Jesu zu küssen.
«Vor einigen Minuten.»
«Allein?»
«Mit Simon dem Zeloten. Aber
hierher, wo du bist, wollte ich allein gehen. Ich weiß, daß du mir etwas
Wichtiges zu sagen hast. Sage es mir also.»
«Nein! Antworte mir zuerst auf
die Fragen, die ich an Gott richte. Entsprechend deiner Antwort werde ich es
dir sagen.»
«Sage sie mir, sage sie mir,
diese deine große Neuigkeit. Du kannst sie mir sagen ...» Und Jesus lächelt,
während er in einladender Weise seine Arme ausbreitet.
«Allerhöchster Gott! Aber ist es
wirklich wahr? Du weißt also, daß es wahr ist?!» und Lazarus sinkt Jesus in
die Arme, um ihm seine wichtige Neuigkeit anzuvertrauen.
«Maria hat Martha nach Magdala
gerufen. Und Martha ist besorgt abgereist, da sie fürchtete, daß etwas
Schlimmes vorgefallen sei... Ich bin hier mit der gleichen Angst
zurückgeblieben. Aber Martha hat mir durch den sie begleitenden Diener einen
Brief zukommen lassen, der mich mit Hoffnung erfüllt. Schau, ich habe ihn hier
an meiner Brust. Ich bewahre ihn hier auf, denn er ist mir der kostbarste
Schatz. Es sind nur wenige Worte, aber ich lese sie immer wieder, um sicher zu
sein, daß sie wirklich geschrieben worden sind. Schau ...» Lazarus nimmt eine
kleine Schriftrolle, die mit einem violetten Band gebunden ist, aus seinem
Gewand und öffnet sie. «Siehst du? Lies, lies! Mit lauter Stimme. Von dir
vorgelesen, überzeugen die Worte mich mehr!»
«"Lazarus, mein Bruder. Friede
und Segen sei über dich. Ich bin schnell und gut angekommen. Und mein Herz
schlägt nicht mehr aus Furcht vor neuem Unglück, denn ich habe Maria gesehen,
unsere Maria, gesund und... darf ich es dir sagen? ... in ihrem Aussehen nicht
mehr so zügellos wie vorher. Sie hat an meinem Herzen geweint. Heftig
geweint... Und dann in der Nacht, im Zimmer, in das sie mich geführt hatte,
hat sie mich viele Dinge über den Meister gefragt. Ich will dir nicht mehr
darüber sagen; aber da ich das Antlitz von Maria gesehen und ihre Worte gehört
habe, ist in meinem Herzen eine Hoffnung erwacht. Bete, Bruder! Hoffe! Oh!
Möchte es doch wahr sein! Ich bleibe noch etwas, denn ich fühle, daß sie mich
in ihrer Nähe haben will, als Schutz gegen die Versuchung. Und um zu lernen...
Was? Das, was wir schon kennen. Die unendliche Güte Jesu. Ich habe ihr von
jener Frau erzählt, die nach Bethanien gekommen ist... Ich sehe, daß Maria
nachdenkt und nachdenkt... Jesus müßte hier sein. Bete. Hoffe. Der Herr sei
mit dir."» Jesus legt die Rolle zusammen und gibt sie Lazarus zurück.
241
«Meister ...»
«Ich werde hingehen. Kannst du
Martha benachrichtigen, daß sie mir in ungefähr vierzehn Tagen bis nach
Kapharnaum entgegenkommen soll?»
«Das ist möglich, Herr. Und ich?»
«Du bleibst hier, denn auch
Martha werde ich hierher schicken.»
«Warum?»
«Weil Bekehrungen mit tiefer
Scham verbunden sind. Und nichts ist beschämender als das Auge der Eltern oder
der Geschwister. Ich sage dir darum: "Bete, bete, bete!"»
Lazarus weint an der Brust
Jesu... Nachdem er sich beruhigt hat, erzählt er von seiner Aufregung und
seinen Entmutigungen...
«Es ist fast ein Jahr, daß ich
hoffe... und verzweifle... Wie lange dauert die Zeit der Auferstehung! ...»
ruft er aus. Jesus läßt ihn reden, reden, reden... bis Lazarus merkt, daß er
seine Pflicht der Gastfreundschaft vernachlässigt, und sich erhebt, um Jesus
ins Haus zu bitten. Auf dem Weg kommen sie an einer dichten Hecke blühenden
Jasmins vorbei, auf dessen sternförmigen Blüten goldfarbene Bienen schwirren.
«Ah! Ich vergaß dir zusagen...
Der alte Patriarch, den du mir geschickt hast, ist in den Schoß Abrahams
zurückgekehrt. Maximinus hat ihn hier sitzend vorgefunden, das Haupt an diese
Hecke gestützt, als ob er bei den Bienenstöcken eingeschlafen wäre, die er
immer versorgt hat, als ob es Häuser voll goldener Kinder wären. Er nannte die
Bienen Kinder. Es schien, als verständen sie sich gegenseitig.
Und als Maximinus den im Frieden
des guten Gewissens entschlafenen Greis fand, schien er mit einem kostbaren
Schleier kleiner goldener Körper bedeckt zu sein. Alle Bienen hatten sich auf
ihrem Freund niedergelassen. Die Diener hatten große Mühe, sie zu entfernen.
Er war so gut, daß er den Bienen Honig zu sein schien... Er war so tugendhaft;
für die Bienen wie eine unbefleckte Blüte... Es war für mich sehr schmerzhaft.
Ich hätte ihn noch gerne länger in meinem Haus behalten. Er war ein Gerechter
...»
«Beweine ihn nicht. Er ist im
Frieden, und in seinem Frieden betet er für dich, der du ihm die letzten Tage
erhellt hast. Wo ist er begraben?»
«Im Hintergrund des Gartens. Ganz
in der Nähe seiner Bienenstöcke. Komm, ich will dich hinführen ...»
Sie gehen durch einen kleinen
Wald von wachshaltigen Lorbeerbäumen zu den Bienenstöcken, von denen ein
emsiges Gesumme zu ihnen dringt...
23. Juli, 8 Uhr, vormittags.
Es ist ein gar bleicher Judas,
der vom Wagen steigt zusammen mit der Madonna und den Jüngerinnen, also den
Marien, Johanna und Elisa...
... Aufgrund des Durcheinanders,
der diesen Morgen in meinem Haus geherrscht hat, habe ich nicht schreiben
können, während ich die Schauung hatte, und daher kann ich jetzt,
242
gegen 18 Uhr, nur sagen, daß ich
begriffen und gehört habe, daß der genesende Judas zu Jesus zurückkehrt und
daß er sich in Gethsemane befindet mit Maria, die ihn gepflegt hat, und mit
Johanna, die darauf besteht, daß die Frauen und der Genesende mit dem Wagen
nach Galiläa zurückkehren. Jesus ist damit einverstanden und ordnet an, daß
auch der Knabe mit ihnen reise. Johanna und Elisa bleiben noch einige Tage in
Jerusalem; dann wird Elisa nach Bethsur und Johanna nach Bether zurückkehren.
Ich erinnere mich, daß Elisa sagte: «Jetzt habe ich den Mut, dorthin
zurückzukehren, weil mein Leben nicht mehr sinnlos ist. Ich werde dafür
sorgen, daß meine Freunde dich lieben.» Und ich erinnere mich, daß Johanna
hinzufügte: «Dasselbe will ich auf meinen Ländereien tun, solange Chuza mich
hierläßt. Das wird immer ein Dir-Dienen sein, obwohl ich es vorzöge, dir zu
folgen.»
Ich erinnere mich auch, daß Judas
sagte, er habe sich nicht einmal in den schlimmsten Stunden seiner Krankheit
nach seiner Mutter gesehnt, weil, wie er sagte: «Deine Mutter mir eine wahre,
gütige und liebevolle Mutter gewesen ist, was ich ihr niemals vergessen
werde.»Das Übrige ist wirr (was die Worte betrifft), und daher will ich es
nicht sagen; denn es wären meine Worte und nicht die Worte der Personen, die
in der Vision sprechen.
268. MARGZIAM WIRD PORPHYRIA, DER
FRAU DES PETRUS, ANVERTRAUT
Jesus ist zusammen mit seinen
Aposteln auf dem See von Galiläa. Es ist früher Morgen. Alle Apostel sind
anwesend. Auch Judas, der nun vollkommen geheilt ist und nach der Krankheit
und dank der Pflege einen milderen Gesichtsausdruck hat. Margziam ist
ebenfalls dabei, etwas beeindruckt von seinem ersten Aufenthalt auf dem
Wasser. Er will es nicht merken lassen, aber bei jedem stärkeren Wellenstoß
umklammert er mit einem Arm den Hals des Schafes, das seine Furcht teilt und
jämmerlich blökt, während der andere Arm nach dem greift, was er gerade fassen
kann: Mastbaum, Bänke, Ruder oder auch ein Bein des Petrus, des Andreas oder
der Schiffsjungen, die vorübergehen. Er schließt dabei die Augen, vielleicht
in der Überzeugung, daß seine letzte Stunde gekommen sei.
Petrus sagt ihm bisweilen mit
einem kleinen Klaps auf die Wangen: «Hast du etwa Angst, he? Ein Jünger darf
nie Furcht haben.» Das Kind verneint mit einer Kopfbewegung. Da jedoch der
Wind stärker und das Wasser unruhiger werden, je mehr das Boot sich der
Jordanmündung nähert, klammert es sich fester an und schließt öfter die Augen,
bis ihm bei einem plötzlichen Schiefliegen des Bootes infolge einer Flutwelle
ein Angstschrei entschlüpft.
Einige lachen und scherzen über
Petrus, der einen Sohn angenommen hat, der nicht in einem Boot aufrecht stehen
kann; andere scherzen über Margziam, der immer davon spricht, daß er über Land
und Meer reisen will, um von Jesus zu predigen, und sich dann fürchtet, wenn
er einige Stadien auf dem See zurücklegen muß. Aber Margziam verteidigt sich
mit den Worten: «Ein jeder hat Furcht vor den Dingen, die er nicht kennt. Ich
vor dem Wasser, und Judas vor dem Tod...»
243
Ich schließe daraus, daß Judas
große Furcht vor dem Sterben haben muß, und ich wundere mich, daß er nicht auf
die Bemerkung eingeht und nur sagt: «Das hast du gut gesagt. Man fürchtet sich
vor dem, was man nicht kennt. Jetzt aber sind wir am Ziel. Bethsaida ist nur
wenige Stadien entfernt. Du darfst sicher sein, daß du hier Liebe finden
wirst. Auch ich möchte meinem väterlichen Haus nahe sein, um sicher zu gehen,
Liebe zu finden!» Er sagt es müde und traurig.
«Hast du kein Gottvertrauen?»
fragt Andreas erstaunt.
«Nein, ich mißtraue mir selbst.
In diesen Tagen der Krankheit, umgeben von vielen reinen und guten Frauen,
habe ich mich so klein gefühlt! Viel habe ich da nachgedacht! Ich sagte mir:
"Wenn sie noch arbeiten, um besser zu werden und den Himmel zu erwerben, was
muß ich dann wohl tun?" Denn sie, die mir schon alle als Heilige erscheinen,
fühlten sich noch Sünderinnen. Und ich? ... Werde ich dies jemals erreichen,
Meister ?»
«Mit gutem Willen kann man
alles!»
«Aber mein Wille ist sehr
unvollkommen.»
«Die Hilfe Gottes kann das
Fehlende ergänzen, um heilig zu werden. Deine augenblickliche Demut stammt aus
der Krankheit. Du siehst also, daß der gute Gott dafür gesorgt hat, dir
mittels eines schmerzlichen Zwischenfalles etwas zu geben, was du vorher nicht
kanntest.»
«Es ist wahr, Meister. Aber diese
Frauen! Was für vollkommene Schülerinnen! Von deiner Mutter ganz zu schweigen.
Man kennt sie! Ich meine die anderen. Oh, die sind uns wahrlich überlegen! Ich
bin eines der ersten Beispiele für ihre künftige Mission. Aber glaube mir,
Meister, du kannst dich auf sie verlassen. Ich und Elisa waren in ihrer
Pflege; sie ist mit geheiltem Gemüt nach Bethsur zurückgekehrt, und ich hoffe,
ich hoffe, mich zu bessern, nachdem sie an meiner Seele gearbeitet haben ...»
Judas, noch geschwächt, beginnt zu weinen. Jesus, der sich neben ihn gesetzt
hat, legt die Hand auf sein Haupt und gibt den anderen ein Zeichen, nicht zu
reden.
Petrus und Andreas sind sehr mit
den letzten Landungsmanövern beschäftigt und sprechen nicht, und auch der
Zelote, Matthäus, Philippus und Margziam sind nicht versucht, zu reden, teils
wegen der ängstlichen Erwartung der Landung, teils aus Klugheit.
Die Barke lenkt in die Mündung
des Jordan ein und liegt bald fest auf dem Kies. Während die Burschen
aussteigen, um sie an einem großen Stein zu befestigen und das Brett, das als
Landebrücke dient, anzubringen, legen Petrus und Andreas ihre langen Gewänder
an. Die andere Barke macht dasselbe Landungsmanöver, und die anderen Apostel
steigen aus. Auch Jesus und Judas steigen aus, während Petrus dem Knaben das
Gewand anzieht und ihn in Ordnung bringt, um ihn seiner Frau vorzustellen.
244
Jetzt sind alle an Land, die
Lämmer eingeschlossen.
«Und nun gehen wir», sagt Petrus,
aufgeregt. Er nimmt den ebenfalls aufgeregten Knaben bei der Hand, der sogar
die Schäflein vergißt, deren sich nun Johannes annimmt. Der Knabe fragt in
einem plötzlichen Anfall von Angst: «Aber wird sie mich auch haben wollen? Und
wird sie mich wirklich liebhaben?» Petrus beruhigt ihn; doch vielleicht
überträgt sich die Angst auch auf ihn, denn er sagt zu Jesus: «Sprich du,
Meister, mit Porphyria. Ich glaube, daß ich es nicht gut sagen würde.» Jesus
lächelt, verspricht jedoch, daß er sich der Sache annehmen will. Dem kiesigen
Ufer folgend ist das Haus bald erreicht. Durch die offene Tür hört man, daß
Porphyria gerade ihre häuslichen Arbeiten verrichtet.
«Der Friede sei mit dir!» sagt
Jesus, der sich an der Küchentüre zeigt, wo die Frau gerade ihr Geschirr in
Ordnung bringt.
«Meister! Simon!» Die Frau eilt
herbei, um sich Jesus und ihrem Ehemann zu Füßen zu werfen. Dann steht sie auf
und sagt mit ihrem gutmütigen, wenn auch nicht schönen Gesicht, errötend: «Wie
sehr habe ich mich nach euch gesehnt! Seid ihr alle wohlauf? Kommt! Kommt! Ihr
werdet müde sein ...»
«Nein! Wir kommen von Nazareth,
wo wir einige Tage verbracht haben, und in Kana haben wir nochmals
haltgemacht. In Tiberias lagen die Barken. Du siehst, daß wir nicht müde sind.
Wir haben ein Kind bei uns. Und Judas des Simon ist immer noch von seiner
Krankheit geschwächt.»
«Ein Kind? Einen kleinen Jünger?»
«Ein Waisenkind, das wir auf dem
Weg mitgenommen haben.»
«Oh, Liebling! Komm Schatz, laß
mich dich küssen!»
Der Knabe, der sich schüchtern
halb hinter Jesus versteckt hatte, läßt sich ohne Widerstreben von der Frau
umarmen und küssen, die niedergekniet ist, um auf der gleichen Höhe zu sein.
«Und nun nehmt ihr ihn immer mit
euch, obwohl er noch so klein ist? Das wird ihn ermüden ...» Die Frau hat
Mitleid mit dem Kind. Sie umarmt es und legt ihre Wange an die seine.
«Eigentlich hatte ich eine andere
Absicht. Ich wollte ihn einer Jüngerin anvertrauen, wenn wir uns von Galiläa
und vom See entfernen ...»
«Warum nicht mir? Ich habe nie
Kinder gehabt. Dafür aber Neffen und Nichten, und ich weiß mit Kindern
umzugehen. Ich bin die Jüngerin, die nicht zu reden versteht, und die nicht so
kräftig und gesund ist, um dir wie die anderen folgen zu können. Oh, du weißt
es! Ich bin auch wankelmütig; aber du weißt, in welcher Klemme ich mich
befinde. Habe ich Klemme gesagt? Ich bin zwischen zwei Stricken, die mich in
entgegengesetzte Richtungen ziehen, und ich habe nicht den Mut, einen von den
beiden zu durchschneiden. Laß mich dir wenigstens in etwas dienen und die
Mama-Jüngerin dieses Kindes sein. Ich werde ihm alles beibringen, was die
vielen anderen lehren... dich zu lieben! ...»
245
Jesus legt ihr die Hand aufs
Haupt, lächelt und sagt: «Wir haben das Kind hierhergebracht, weil es hier
eine Mutter und einen Vater finden soll. Sieh her, jetzt bilden wir die
Familie.» Und Jesus legt die beiden Hände des Margziam in die Hand des Petrus,
der mit glänzenden Augen dasteht, und in die Hand der Porphyria: «Erzieht mir
diesen Unschuldigen heiligmäßig!»
Petrus weiß ja schon Bescheid;
deshalb beschränkt er sich darauf, mit dem Handrücken eine Träne abzuwischen.
Seine Frau aber, die diese Überraschung nicht erwartet hat, bleibt eine Weile
stumm vor Staunen. Dann kniet sie wiederum nieder und sagt: «Oh, mein Herr! Du
hast mir meinen Mann genommen und mich fast zur Witwe gemacht. Nun aber gibst
du mir einen Sohn... Du gibst meinem Leben alle Rosen zurück; nicht nur jene,
die du mir genommen hast, sondern auch andere, die ich nie besessen habe. Sei
darum gepriesen! Mehr als ein eigenes soll mir dieses Kind lieb sein, denn es
kommt von dir!» Und die Frau küßt das Gewand Jesu, küßt das Kind und setzt es
sich auf den Schoß. Sie ist glücklich...
«Überlassen wir sie nun ihren
Gefühlsergüssen», sagt Jesus.
«Bleibe auch du hier, Simon. Wir
wollen in die Stadt gehen, um zu predigen. Wir werden am späten Abend
zurückkommen und dich um Speise und ein Lager bitten.»
Jesus geht mit seinen Aposteln
hinaus, und die drei bleiben im Frieden zurück...
Johannes sagt: «Mein Herr, Simon
ist heute selig!»
«Möchtest du auch ein Kind?»
«Nein! Ich möchte nur ein Paar
Flügel, die mich bis an die Pforte des Himmels tragen, und ich möchte die
Sprache des Lichtes erlernen, um sie den Menschen wiederholen zu können», und
er lächelt.
Sie bringen die Schafe im
Hintergrund des Gartens, beim Schuppen der Netze unter, geben ihnen Blätter
und Gras und dazu Wasser aus dem Brunnen. Dann begeben sie sich in die Stadt.
269. JESUS SPRICHT IN BETHSAIDA
Jesus spricht vom Haus des
Philippus aus. Viel Volk ist dort vor Jesus versammelt, der aufrecht auf der
Schwelle steht, zu welcher zwei hohe Stufen führen.
Die Neuigkeit vom Adoptivsohn des
Petrus, der mit seinem kleinen Reichtum von drei Schäflein gekommen ist und
den großen Reichtum einer Familie vorgefunden hat, hat sich wie ein Tropfen Öl
auf einem Gewebe ausgebreitet. Alle reden davon und flüstern, je nach ihrer
246
Denkungsart, die entsprechenden
Bemerkungen. Wer Petrus und Porphyria gut gesinnt ist, teilt ihre Freude. Der
Mißgünstige sagt: «Damit sie ihn annehmen, mußte er ihn mit einer Mitgift
ausstatten.» Der Gutgesinnte sagt: «Wir wollen alle diesen Kleinen lieben, den
Jesus liebt.» Der Bösartige meint: «Die Großmut des Petrus! Aber sicher! Er
wird gewiß einen Gewinn daraus schlagen, andernfalls! ...»
Andere Habgierige: «Auch ich
hätte es getan, wenn ich die drei Schäflein zum Kind dazubekommen hätte. Drei,
habt ihr verstanden?! Das gibt eine kleine Herde. Und schön sind sie! Wolle
und Milch sind gesichert; man kann die Lämmlein verkaufen oder aufziehen!
Jedenfalls ein Reichtum! Der Junge kann dienen, kann arbeiten ...»
Andere erheben laut die Stimme:
«Oh, Schande! Sich eine Wohltat bezahlen lassen? Simon hat bestimmt nicht
daran gedacht. In seiner bescheidenen Wohlhabenheit als Fischer haben wir ihn
immer als großherzig den Armen und besonders den Kindern gegenüber gekannt. Es
ist nur recht und billig, daß er jetzt, da er weniger durch den Fischfang
verdient und eine Person mehr in der Familie hat, auf andere Weise noch etwas
dazuverdient.»
Während so ein jeder seine
Bemerkung macht, indem er aus seinem eigenen Herzen hervorzieht, was an Gutem
oder Bösem darin verborgen ist und es in Worte kleidet, unterhält sich Jesus
mit jemandem aus Kapharnaum, der ihn bittet, sobald als möglich in diese Stadt
zu kommen, da die Tochter des Synagogenvorstehers im Sterben liege und
außerdem seit einigen Tagen eine von einer Dienerin begleitete Dame nach ihm
suche. Jesus verspricht, am nächsten Morgen hinzugehen. Das betrübt die Leute
von Bethsaida, die ihn gerne einige Tage in ihrer Mitte sehen würden.
«Ihr braucht mich weniger als die
anderen. Laßt mich gehen! Übrigens werde ich während des Sommers in Galiläa
bleiben und oft in Kapharnaum sein. Wir werden uns leicht sehen können. Dort
befinden sich ein Vater und eine Mutter in Ängsten. Die Liebe verlangt, ihnen
zu helfen. Ihr lobt die Güte Simons gegenüber einem Waisenkind, wenigstens die
Guten unter euch. Nur das Urteil der Guten hat einen Wert. Den Bösen, mit
ihren von Gift und Lüge gefärbten Ansichten, soll man kein Gehör schenken. So
müßt ihr Guten auch meine Güte billigen und mich hingehen lassen, um einen
Vater und eine Mutter von ihrem Kummer zu befreien. Sorgt dafür, daß eure
Zustimmung nicht unfruchtbar bleibt, sondern zur Nachahmung anspornt.
Wieviel Gutes durch eine gute Tat
entstehen kann, sagen euch die Seiten der Schrift. Denken wir an Tobias. Er
hat es verdient, daß der Erzengel den jungen Tobias in seinen Schutz nahm und
ihn anleitete, dem Vater das Augenlicht wiederzugeben. Doch wieviel rechte
Nächstenliebe ohne eigene Interessen hat der rechtschaffene Tobias geübt,
trotz der tadelnden Worte seiner Frau und der Gefahren für sein Leben! Und
erinnert euch
247
der Worte des Erzengels: "Eine
gute Sache ist, verbunden mit Fasten und Almosengeben, Gebet: es ist mehr wert
als Berge von Goldschätzen, denn das Almosen befreit vom Tod, reinigt von den
Sünden, läßt Barmherzigkeit und das ewige Leben finden... Als du unter Tränen
gebetet und die Toten begraben hast... habe ich deine Gebete zum Herrn
getragen."
Wahrlich ich sage euch, mein
Simon wird in vielen Dingen die Tugenden des alten Tobias übertreffen. Er wird
wie ein Vormund eurer Seelen in meinem Leben sein, wenn ich gegangen bin.
Jetzt beginnt er mit seiner Vaterschaft für die Seelen, um morgen der heilige
Vater aller mir treu ergebenen Seelen zu sein. Murrt daher nicht! Aber wenn
ihr eines Tages ein Waisenkind wie einen aus dem Nest gefallenen Vogel auf
eurem Weg findet, nehmt es auf. Der Bissen Brot, den ihr mit einem Waisenkind
teilt, wird das Mahl der eigenen Kinder nicht schmälern; vielmehr bringt das
Waisenkind dem Haus den Segen Gottes. Tut dies, da Gott der Vater der Waisen
ist und sich in ihnen anbietet, und helft ihnen, das Nest wieder herzurichten,
das der Tod zerzaust hat. Tut dies, weil es das Gesetz vorschreibt, das Moses,
der unser Gesetzgeber ist, von Gott bekommen hat. Er hat im Land der Feinde
und der Götzen als Kind ein erbarmungsvolles Herz gefunden, das ihn vor dem
Tod bewahrt, das ihn aus dem Wasser gezogen und vor den Verfolgungen beschützt
hat, weil Gott ihn dazu bestimmt hatte, dereinst der Befreier Israels zu sein.
Ein Akt der Barmherzigkeit hat Israel den Führer geschenkt. Die Folgen einer
guten Tat sind wie Tonwellen, die sich vom Sendepunkt ausbreiten, oder, wenn
euch das besser gefällt, wie der Wind, der verlorene Samenkörner fern auf
fruchtbare Erdschollen trägt. Geht nun. Der Friede sei mit euch!»
270. DIE BLUTFLÜSSIGE FRAU UND
DIE TOCHTER DES JAIRUS
Jesus befindet sich auf einer
sonnenbeschienenen, staubigen Straße, die am Ufer des Sees entlang führt. Er
geht auf eine Ortschaft zu, in der ihn eine große Menschenmenge erwartet, die
ihn sofort umringt, obgleich die Apostel mit Armen und Schultern arbeiten, um
ihm Raum zu schaffen und mit lauter Stimme das Volk auffordern, Platz zu
machen.
Doch Jesus ist keineswegs wegen
dieses großen Durcheinanders beunruhigt. Einen Kopf größer als die Menge, die
ihn umgibt, schaut er mit sanftem Lächeln auf die ihn Umdrängenden, erwidert
ihre Grüße, liebkost das eine oder andere Kind, dem es gelingt, sich durch die
Menge der Erwachsenen zu nähern, und legt seine Hand auf die Köpfchen der
Säuglinge, welche die Mütter ihm über die Köpfe der Umstehenden
entgegenhalten, damit er sie berühre. Inzwischen geht er weiter, langsam und
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geduldig inmitten des Geschreies
und des ständigen Gedränges, das jeder andere als lästig empfinden würde.
Eine Männerstimme ruft: «Macht
Platz, macht Platz!» Es ist eine kummervolle Stimme, die jedoch von vielen
erkannt und als die einer einflußreichen Person geachtet wird; denn die Menge
weicht auseinander, nur mit Mühe, weil sie so dicht gedrängt steht, und läßt
einen Mann um die Fünfzig durch, der mit einem langen, wallenden Gewand und
einem weißen Kopftuch, dessen Zipfel längs des Gesichtes und den Rücken
hinunterfallen, daherkommt.
Bei Jesus angelangt, wirft er
sich ihm zu Füßen und sagt: «Oh, Meister, weshalb bist du so lange weggewesen?
Mein Töchterlein ist sehr krank. Keinem gelingt es zu helfen. Du allein bist
meine und seiner Mutter Hoffnung. Komm, Meister! Ich habe dich mit unendlicher
Sehnsucht erwartet. Komm, komm schnell! Mein einziges Kind liegt im Sterben
...» und er weint.
Jesus legt seine Hände auf das
Haupt des Weinenden, auf das gebeugte und vom Schluchzen geschüttelte Haupt,
und antwortet: «Weine nicht! Habe Vertrauen! Dein Töchterlein wird leben. Wir
wollen zu ihm gehen. Steh auf! Gehen wir!» Diese beiden letzten Worte klingen
wie ein Befehl. Zuvor war er der Tröster. Jetzt ist es der Herrscher, der
spricht.
Sie setzen sich in Bewegung.
Jesus hat den weinenden Vater an der Seite und hält ihn an der Hand. Als ein
lautes Schluchzen den starken Mann schüttelt, sehe ich, wie Jesus ihn anblickt
und ihm die Hand drückt. Er tut nichts anderes, aber wieviel Kraft muß in eine
Seele einfließen, wenn sie sich von Jesus betreut fühlt! Vorher war Jakobus an
der Stelle des Vaters gewesen. Aber Jesus hat ihn aufgefordert, dem armen
Vater seinen Platz zu überlassen. Petrus ist auf der anderen Seite. Johannes
geht neben Petrus und sucht mit ihm einen Damm gegen den Andrang der Menge zu
bilden. Dasselbe tun Jakobus und Iskariot auf der anderen Seite, auf der sich
der weinende Vater befindet. Die übrigen Apostel sind teils vor, teils hinter
Jesus. Doch mit geringem Erfolg. Besonders den dreien hinter ihnen, unter
welchen ich Matthäus erkenne, gelingt es kaum, die lebende Mauer
zurückzudrängen. Aber als sie zu murren und die aufgeregte Menge zu
beschimpfen anfangen, wendet Jesus das Haupt und sagt sanft: «Laßt diese meine
Kleinen nur gewähren! ...»
In einem gewissen Augenblick
jedoch dreht er sich plötzlich um, läßt sogar die Hand des Vaters los und
bleibt stehen. Er wendet nicht nur das Haupt, sondern macht mit dem ganzen
Körper kehrt. Er scheint auch viel größer, denn er hat eine königliche Haltung
angenommen. Mit strengem und forschendem Blick prüft er die Menge. Seine Augen
haben ein nicht hartes, sondern majestätisches Leuchten. «Wer hat mich
berührt?» fragt er.
Niemand gibt Antwort.
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«Wer hat mich berührt, wiederhole
ich?» besteht Jesus auf seiner Frage.
«Meister», antworten die Jünger,
«siehst du nicht, wie die Menge dich von allen Seiten umdrängt? Alle berühren
dich, trotz all unserer Anstrengungen.»
«Wer hat mich berührt, um ein
Wunder zu erhalten, will ich wissen. Ich habe gespürt, daß Wunderkraft von mir
ausgegangen ist; denn ein gläubiges Herz hat danach verlangt. Wer ist es?»
Die Augen Jesu blicken, während
er redet, zwei- oder dreimal auf eine kleine Frau von etwa vierzig Jahren, die
ärmlich gekleidet ist und sehr abgehärmt aussieht. Sie versucht in der Menge
zu verschwinden und zu entkommen. Aber diese Augen müssen auf ihr brennen. Sie
begreift, daß ein Entkommen unmöglich ist, kehrt zurück und wirft sich Jesus
zu Füßen, das Gesicht beinah im Staub und die Hände emporstreckend, ohne
jedoch Jesus zu berühren.
«Verzeihung! Ich bin es. Ich war
krank. Zwölf Jahre war ich krank! Alles ist vor mir geflohen. Mein Mann hat
mich verlassen. Ich habe mein ganzes Hab und Gut aufgewandt, um nicht der
Abscheu meiner Mitmenschen zu sein; um leben zu können wie alle anderen. Aber
niemand hat mich heilen können. Siehst du, Meister? Ich bin vor der Zeit
gealtert. Die Kraft ist von mir gewichen mit meinem unheilbaren Blutfluß und
auch der Friede. Man hat mir gesagt, daß du gut bist. Ein Aussätziger, der
durch dich geheilt worden ist, hat es mir gesagt; die Menschen haben ihn viele
Jahre hindurch gemieden; er hatte keinen Abscheu vor mir. Ich habe nicht
gewagt, es dir vorher zu sagen. Darum bitte ich dich um Verzeihung. Ich habe
mir gedacht, daß ich dich nur zu berühren brauche, um geheilt zu werden. Ich
habe dich aber nicht unrein gemacht. Ich habe kaum den Saum deines Gewandes
angefaßt, dort, wo er die Erde berührt, den Schmutz am Boden... Ich bin auch
nur Schmutz... Aber ich bin geheilt, und du sollst gepriesen sein! In dem
Augenblick, da ich dein Kleid berührte, ist das Übel von mir gewichen. Ich bin
wieder wie alle! Nun werde ich nicht mehr von allen verabscheut werden. Mein
Mann, meine Kinder, meine Verwandten können jetzt bei mir sein, und ich werde
sie liebkosen dürfen. Ich werde wieder im Haus nützlich sein. Danke Jesus,
guter Meister! Du sollst in Ewigkeit gepriesen sein!»
Jesus betrachtet sie mit
unendlicher Güte. Er lächelt ihr zu und sagt zu ihr: «Geh in Frieden, Tochter!
Dein Glaube hat dir geholfen! Sei für immer geheilt. Sei gut und glücklich.
Geh!»
Während er noch spricht, kommt
ein Mann herbei, anscheinend ein Knecht, der sich an den Vater wendet. Dieser
ist die ganze Zeit in einer ehrfürchtigen Erwartung neben Jesus gewandelt,
obgleich er ein gequältes Gesicht hat als stände er auf heißen Kohlen. «Deine
Tochter ist tot! Es ist zwecklos, weiterhin den Meister zu belästigen. Sie hat
den Geist
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aufgegeben, und die Frauen halten
schon die Totenklage. Die Mutter läßt dir dies sagen und dich bitten, sofort
zu kommen.»
Der arme Vater schluchzt laut. Er
führt seine Hände zur Stirne, drückt sich die Augen zu und krümmt sich, wie
von einem Hieb getroffen.
Jesus, der aufmerksam mit der
Frau gesprochen hat und anderes zu sehen und zu hören scheint, dreht sich
jetzt um, legt seine Hand auf die gebeugten Schultern des armen Vaters und
sagt: «Mann, ich habe es dir doch gesagt, habe Glauben! Ich wiederhole, habe
Glauben! Hab keine Angst, dein Kind wird leben. Gehen wir zu ihm.» Und er geht
weiter und drückt den vernichteten Mann an sich. Die Menge bleibt vor diesem
Schmerz und der bereits erfolgten Heilung erschrocken stehen, teilt sich, läßt
Jesus und die Seinen ungehindert durch und folgt wie Kielwasser der Gnade, die
vorausgeht.
Sie gehen etwa hundert Meter,
vielleicht auch mehr – ich kann es nicht gut schätzen – und kommen immer näher
zur Stadtmitte. Eine große Menge hat sich vor einem bürgerlichen Haus
versammelt. Mit lauten Stimmen wird der Todesfall im Haus beklagt und auf die
lauten Rufe geantwortet, die aus der weitgeöffneten Tür kommen. Es sind
schrille, auf einer Höhe bleibende Töne, und sie scheinen von einer
beherrschenden Stimme vorgetragen und von einer Gruppe schwacher und einer
Gruppe stärkerer Stimmen beantwortet zu werden. Ein Lärm, der auch Gesunde
umzubringen imstande ist.
Jesus gibt den Seinen die
Weisung, vor dem Ausgang stehenzubleiben, und ruft Petrus, Jakobus und
Johannes zu sich. Mit ihnen geht er in das Haus, den weinenden Vater immer
noch am Arm festhaltend.
Es scheint, daß er ihm die
Gewißheit geben will, daß er da ist, und ihn glücklich machen möchte mit
dieser Umklammerung. Die Klagenden (ich würde sie eher die Heulenden nennen)
verdoppeln ihr Geschrei beim Anblick des Hausvaters und des Meisters. Sie
klatschen in die Hände, hauen auf die Pauken, schlagen an die Triangeln und
auf diese... Musik stützen sie ihr Gejammer.
«Schweigt!» sagt Jesus. «Hier ist
kein Grund zum Weinen. Das Mädchen ist nicht gestorben, es schläft nur!»
Die Frauen stoßen noch stärkere
Schreie aus, und einige wälzen sich auf der Erde, zerkratzen sich, reißen sich
die Haare aus (oder besser gesagt, tun so als ob ... ), um zu beweisen, daß
die Tochter wirklich tot ist. Die Musikanten und die Freunde schütteln den
Kopf über die Illusion Jesu. Aber er wiederholt: «Schweigt», und zwar in einem
so energischen Ton, daß der Lärm zwar nicht aufhört, doch sehr abnimmt. Dann
schreitet er weiter vorwärts.
Er betritt eine kleine Kammer.
Auf dem Lager liegt ein totes Mädchen ausgestreckt. Mager und totenbleich
liegt es mit sorgfältig geordneten Haaren, bekleidet da. Die Mutter steht
weinend auf der rechten Seite des
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Bettes und hält die wächserne
Hand der Toten. Jesus! ... Oh, wie schön ist er jetzt! So habe ich ihn selten
gesehen! Jesus nähert sich eilig. Es scheint, als schwebe er über dem Boden,
so schnell eilt er auf das Bettlein zu.
Die drei Apostel stehen an der
Türe und schließen sie vor den Augen der Neugierigen. Der Vater bleibt am
Fußende des Bettes stehen.
Jesus geht auf die linke Seite
des Lagers, streckt seine linke Hand aus und erfaßt damit das leblose Händchen
des Kindes. Die linke Hand. Ich habe es gut gesehen. Es ist sowohl die linke
Hand Jesu als auch die linke Hand des Kindes. Er hebt den recht