Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben
Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise
kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht
verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte.
Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es
ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle
stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu
halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte
Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren
Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.
Das Werk kann man hier
in Buchform erwerben:
Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch
Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
Band III:
Erstes Jahr des öffentlichen Lebens Jesu (Fortsetzung)
161. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer': "Du sollst Vater und Mutter ehren".
S. 9
162. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer': "Du sollst nicht Unkeuschheit
treiben". S. 19
163. Die Verschleierte beim 'Trügerischen Gewässer'. S. 27
164. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer':"Du sollst die Feiertage heiligen". S.
32
165. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer':"Du sollst nicht töten"- Tod des
Doras. S. 37
166. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer': Die drei Jünger des Täufers. S. 45
167. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer':"Du sollst nicht begehren deines
Nächsten Frau". S. 51
168. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer': Er heilt den besessenen Römer; Er
spricht zu den Römern. S. 56
169. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer':"Du sollst kein falsches Zeugnis
ablegen". S. 63
170. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer':"Du sollst nicht begehren deines
Nächsten Gut". S. 69
171. Jesus beim 'Trügerischen Gewässer': Abschluss der Erklärungen zum 'De
profundis' und 'Miserere'. S. 73
172. Jesus verlässt das 'Trügerische Gewässer' und geht nach Bethanien. S. 80
173. Die Heilung der krebskranken Jerusa von Doko. S. 89
174. In Bethanien: Im Haus des Simon des Zeloten. S. 94
175. Das Lichterfest im Hause des Lazarus in Anwesenheit der Hirte. S. 102
176. Rückkehr zum 'Trügerischen Gewässer'. S. 116
177. Ein neuer Jünger; Aufbruch nach Galiläa. S. 122
178. Auf den Bergen bei Emmaus. S. 126
179. Im Hause des Synagogenvorstehers Kleophas. S. 131
Band III: Zweites Jahr des öffentlichen Lebens Jesu
180. Unterweisung der Jünger auf dem Weg nach Arimathäa. S. 141
181. Auf dem Weg nach Samaria; Unterweisung der Apostel. S. 144
182. Die Samariterin Fotinai. S. 146
183. Bei den Bewohners von Sichar. S. 152
184. Verkündigung der Heilsbotschaft in Sichar. S. 155
185. Der Abschied von den Bewohnern Sichars. S. 158
186. Unterweisung der Apostel; Wunder an der Frau von Sichar. S. 161
187. Jesus besucht den Täufer bei Ennon. S. 165
188. Jesus unterweist die Apostel. S. 168
189. Jesus in Nazareth;"Sohn, ich werde mit dir kommen". S. 172
190. In Kana im Haus der Susanna; Der königliche Beamte. S. 174
191. Im Haus des Zebedäus; Salome angenommen als Jüngerin. S. 176
192. Jesus spricht zu den Seinen vom Apostolat der Frau. S. 178
193. Jesus in Caesarea am Meer. Er spricht zu den Galeerensklaven. S. 180
194. Heilung der kleinen Römerin in Caesarea. S. 186
195. Annalia legt das Gelübte der Jungfräulichkeit ab. S. 193
196. Die Unterweisungen der Jüngerinnen in Nazareth. S. 198
197. Jesus spricht auf dem See mit Johanna des Chuza. S. 205
198. Jesus in Gergesa; Die Jünger des Johannes. S. 209
199. Von Nephtalis nach Gischala; Begegnung mit dem Rabbi Gamaliel. S. 213
200. Die Heilung des Enkels des Pharisäer in Kapharnaum. S. 219
201. Jesus im Hause von Kapharnaum nach dem Wunder an Elisäus. S. 223
202. Das Mahl im Hause des Pharisäers Eli in Kapharnaum. S. 228
203. Unterwegs in die Einsamkeit der Berge vor der Erwählung der Apostel. S.
232
204. Die Erwählung der zwölf Jünger zu Aposteln. S. 235
205. Die erste Predigt Simon des Zeloten und des Johannes. S. 241
206. Im Haus der Johanna des Chuza; Jesus und die Römerinnen. S. 250
207. Aglaia im Hause Mariens in Nazareth. S. 260
208. Die Bergpredigt"Ihr seid das Salz der Erde". S. 270
209. Die Bergpredig: Die Seligpreisungen (Erster Teil). S. 278
210. Die Bergpredigt: Die Selipreisungen (Zweiter Teil). S. 289
211. Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Dritter Teil). S. 295
212. Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Vierter Teil). S. 305
213. Die Bergpredigt: Die Seligpreisungen (Fünfter Teil). S. 312
214. Heilung eines Aussätzigen am Fusse des Berges. S. 333
215. Am Sabbat nach der Berg Fusse des Berges. S. 337
216. Der Diener des Centurio wird. S. 342
217. "Lass die Toten ihre Toten begraben". S. 344
218. Das Gleichnis vom Sämann. S. 347
219. In der Küche des Petrus; Belehrung Jesu und Ankündigung der Gefangennahme
des Täufer. S. 355
220. Das Gleichnis vom guten Weizen und vom Unkraut. S. 365
221. Jesus spricht auf dem Weg nach Magdala zu Hirten. S. 372
222. Jesus in Magdala; Zweite Begegnung mit Magdalena. S. 376
223. Zu Magdala im Hause der Mutter Benjami. S. 380
224. Jesus gebietet dem Sturm auf dem See. S. 388
225. "Heimsuchungen dienen dazu, dass ihr euch eures Nichts bewusst werden".
S. 390
226. Die besessenen Gerasener. S. 392
227. Von Tarichäa zum Tabor; Die zweite Osterreise beginnt. S. 398
228. In Endor; In der Grotte der Wahrsagerin; Bekehrung von Felix, der hierauf
Johannes genannt wird. S. 403
229. Auferweckung des Sohn es der Witwe von Naim. S. 413
161. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST VATER UND MUTTER EHREN»
Jesus wandelt langsam am Flußufer
auf und ab. Es muß sehr früh am Morgen sein, denn der Nebel eines trüben,
winterlichen Tages lastet noch auf dem Schilf der Ufer. Niemand ist an den
Ufern des Jordan, so weit man sehen kann. Niedriger Nebel, Rauschen des
Wassers durch das Schilf, Murmeln des Wassers, das infolge der Regenfälle der
letzten Tage bewegter ist; einzelne Vogelrufe: kurz, traurig, wie es ist, wenn
die Jahreszeit der Brunst vorbei ist und die Gefiederten wegen des schlechten
Wetters und des knappen Futters lustlos und nicht zum Singen aufgelegt sind.
Jesus lauscht ihnen und scheint
sich für den Lockruf eines Vögleins zu interessieren, das mit der
Regelmäßigkeit einer Uhr das Köpfchen nordwärts neigt, sein klagendes "Ciwit"
ausstößt und dann den Kopf nach der anderen Seite dreht, um sein fragendes "Ciwit"
zu wiederholen, ohne eine Antwort zu erhalten. Endlich scheint das Vöglein im
"Cip", das vom anderen Ufer kommt, doch noch eine Antwort zu bekommen, und
fliegt davon; es fliegt über den Fluß und stößt dabei ein kleines
Freudengezwitscher aus. Jesus macht eine Gebärde, als wolle er sagen: «Nun
geht es besser!» Dann nimmt er seinen Spaziergang wieder auf.
«Störe ich dich, Meister?» fragt
Johannes, der von den Wiesen kommt.
«Nein, was willst du?»
«Ich wollte dir sagen... es
scheint mir, daß dir die Nachricht zum Trost gereichen würde; darum bin ich
gleich gekommen, um mich mit dir darüber zu beraten.
Ich war gerade dabei, unsere
Räume zu kehren, da ist Judas Iskariot hereingekommen und hat zu mir gesagt:
"Ich helfe dir." Ich bin darüber sehr erstaunt gewesen, denn er macht diese
niedrige Arbeit immer nur unfreiwillig und auf Geheiß. Aber ich habe weiter
nichts gesagt als: "Oh, danke. So wird es schneller und besser gehen."
Er hat sich daran gemacht, zu
kehren, und so sind wir schnell fertig geworden. Dann hat er gesagt: "Gehen
wir in den Wald! Es sind immer die Alten, die Holz holen. Das ist nicht recht.
Gehen wir! Ich verstehe nicht viel davon, aber wenn du es mir beibringen
willst..." So sind wir gegangen. Während ich mit ihm die Reisigbündel band,
hat er mir gesagt: "Johannes, ich möchte dir etwas sagen." "Sprich" ' habe ich
entgegnet, und irgend eine Kritik erwartet. Er hat jedoch gesagt: "Ich und du,
wir sind die Jüngsten. Es wäre gut, wenn wir vereinter wären. Du hast beinahe
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Angst vor mir und du hast recht,
denn ich bin nicht gut. Aber glaube mir, ich tue dies alles nicht absichtlich.
Manchmal habe ich das Bedürfnis, böse zu sein. Vielleicht, weil man mich
verwöhnt hat, da ich ein Einzelkind war. Ich möchte gut werden. Die Alten, ich
weiß es, sehen mich nicht gerne. Die Vettern Jesu sind beleidigt, weil ... ja,
ich habe viel gegen sie gefehlt und auch gegen ihren Vetter. Doch du bist gut
und geduldig. Sei mir gut gesinnt! Nimm mich wie einen Bruder an, der zwar
böse ist, ja... aber man muß auch die Bösen lieben. Auch der Meister sagt, daß
man es tun muß. Wenn du siehst, daß ich nicht gut bin, dann sage es mir und
laß mich nicht immer allein. Wenn ich ins Dorf gehe, dann komme mit. Du wirst
mir helfen, nichts Unrechtes zu tun. Gestern habe ich sehr gelitten. Jesus hat
mit mir gesprochen, und ich habe ihn beobachtet. In meinem dummen Groll habe
ich weder auf mich noch auf die anderen geachtet. Gestern habe ich ihn
angeschaut und gesehen... sie haben recht, wenn sie sagen, daß Jesus leidet,
und ich spüre, daß es auch meine Schuld ist. Das soll sich aber jetzt ändern.
Komm mit mir! Willst du? Wirst du mir helfen, weniger böse zu sein?"
So hat er gesprochen, und ich
gestehe dir, ich hatte ein Herz, das schlug wie jenes eines Sperlings, den ein
Junge gefangen hat. Es schlug vor Freude, denn ich freue mich, wenn Judas sich
bessert. Deinetwegen freut es mich! Aber es klopfte auch ein wenig aus Angst,
denn ich möchte nicht so werden wie Judas. Dann kam mir in den Sinn, was du
damals zu mir gesagt hattest, am Tage, an dem du Judas angenommen hattest, und
ich habe geantwortet: "Gewiß werde ich dir helfen, doch ich muß gehorchen, und
wenn ich andere Anweisungen bekomme..." Ich dachte, ich will es erst dem
Meister sagen, und wenn er es will, dann tue ich es, wenn er es nicht will,
dann werde ich mir Anweisung geben lassen, mich nicht vom Haus zu entfernen.»
«Höre, Johannes! Ich lasse dich
gehen. Du mußt mir jedoch versprechen, daß du, wenn du spürst, daß irgend
etwas dich beunruhigt, zu mir kommst und es mir sagst. Du hast mir große
Freude bereitet, Johannes. Hier kommt Petrus mit seinem Fisch. Geh, Johannes.»
Jesus wendet sich Petrus zu:
«Guter Fang?»
«Hm, nicht so sehr. Nur kleine
Fische, doch es ist auch so recht. Jakobus ist verärgert, denn irgendein Tier
hat den Strick zernagt, und ein Netz ist verlorengegangen. Ich habe gesagt:
"Darf es denn nicht auch fressen? Hab Mitleid mit dem armen Tier!", doch
Jakobus meint es nicht so», sagt Petrus lachend.
«Das sage ich von einem, der ein
Bruder ist. Und ihr bringt es nicht fertig!»
«Sprichst du von Judas?»
«Ich spreche von Judas. Er
leidet. Er hat gute Vorsätze und verderbte Neigungen. Aber sag einmal, du
erfahrener Fischer: Wenn ich mit dem
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Boot auf dem Jordan zum See
Genesareth fahren wollte, wie könnte ich das anstellen? Würde es mir
gelingen?»
«Es wäre eine schwere Arbeit.
Doch du könntest es mit einem flachen Boot schaffen. Sehr mühsam, weißt du...
und langwierig! Man müßte immer den Grund abmessen und die Augen offen halten
an den Ufern und Strudeln, an den schwimmenden Büschen und bei Strömungen. Das
Segel nützt da gar nichts, im Gegenteil... Aber willst du auf dem Fluß wieder
zum See zurückkehren? Schau, gegen den Strom schwimmen, ist schwer. Man muß
für ein solches Unternehmen viele sein, sonst ...»
«Du hast es gesagt. Wenn einer
lasterhaft ist, dann muß er, um gut zu werden, gegen den Strom schwimmen und
allein wird er dazu nicht imstande sein. Judas ist genau einer von diesen, und
ihr helft ihm nicht. Der Arme fährt allein stromaufwärts, stößt auf den Grund,
umgeht die Untiefen, verfängt sich in den schwimmenden Pflanzen und wird von
Wirbeln erfaßt. Anderseits, wenn er die Tiefe mißt, dann kann er nicht
gleichzeitig das Steuer oder das Ruder halten. Warum also rügt man ihn, wenn
er nicht vorwärts kommt? Ihr habt Mitleid mit Fremden und mit ihm, eurem
Gefährten, nicht! Das ist nicht recht. Schau, dort gehen Johannes und er zum
Dorfe, um Brot und Gemüse zu holen. Er hat darum gebeten, nicht allein gehen
zu müssen, und er hat Johannes darum gebeten, denn er ist nicht dumm und weiß,
wie ihr Alten über ihn denkt.»
«Hast du ihn geschickt? Wenn er
nun auch Johannes verdirbt?»
«Wen? Meinen Bruder? Warum
verderben?» fragt Jakobus, der mit dem wieder herausgefischten Netz
daherkommt.
«Weil Judas mit ihm geht.»
«Seit wann?»
«Seit heute; ich habe es
erlaubt.»
«Nun, wenn du es erlaubt hast!»
«Ja, ich will es sogar allen
raten. Ihr laßt ihn zuviel allein. Seid nicht immer nur seine Richter. Er ist
nicht schlimmer als viele andere. Aber er ist in seiner Kindheit mehr verwöhnt
worden.»
«Ja, es muß so sein. Hätte er als
Vater und Mutter Zebedäus und Salome gehabt, dann wäre er anders. Meine Eltern
sind gut. Aber sie vergessen nicht, daß sie den Kindern gegenüber Rechte und
Pflichten haben.»
«Das hast du richtig gesagt.
Heute will ich gerade darüber sprechen. Laßt uns gehen! Ich sehe schon Leute,
die über die Wiesen herkommen.»
«Ich weiß nicht mehr, wie wir
leben sollen. Es gibt keine Essens-, Bet- und Ruhezeit mehr... und es kommen
immer mehr Menschen», sagt Petrus halb bewundernd, halb verärgert.
«Bedauerst du es? Es ist doch ein
Zeichen dafür, daß es immer noch Menschen gibt auf der Suche nach Gott.»
«Ja, Meister, aber du leidest
darunter. Gestern hattest du nichts gegessen,
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und letzte Nacht hast du außer
deinem Mantel keine anderen Decken gehabt. Wenn das deine Mutter wüßte!»
«Sie würde Gott preisen, der so
viele Getreue zu mir führt.»
«Und sie würde mich tadeln, dem
sie dich anempfohlen hat», schließt Petrus. Nun kommen Philippus und
Bartholomäus gestikulierend auf sie zu, und wie sie Jesus sehen, beschleunigen
sie den Schritt. Sie sagen: «Oh, Meister, was sollen wir tun? Es ist ein
wahrer Pilgerzug: Kranke, Weinende, Arme ohne Mittel,... die meisten sind von
weither gekommen.»
«Wir werden Brot kaufen. Die
Reichen geben Almosen, und das muß dafür verwendet werden.»
«Die Tage sind kurz. Der Schuppen
ist bereits dicht angefüllt mit biwakierenden Leuten. Die Nächte sind feucht
und kalt.»
«Philippus hat recht. Wir werden
uns alle in einen Raum zusammendrängen. Es wird schon gehen. Dann richten wir
die anderen beiden Räume für jene her, die heute nicht nach Hause gehen
können.»
«Ich habe verstanden. Demnächst
müssen wir noch die Gäste um Erlaubnis bitten, wenn wir Kleider wechseln
wollen. Sie sind so aufdringlich, daß sie uns in die Flucht treiben», brummt
Petrus.
«Du wirst noch andere Fluchten
erleben, mein Petrus! Was hat die Frau?» Sie sind am Dreschplatz angekommen,
als Jesus eine weinende Frau bemerkt.
«Ach, sie war schon gestern hier,
und auch gestern hat sie geweint. Als du mit Manaen sprachst, hat sie sich
aufgemacht, um dir entgegenzugehen, dann ist sie jedoch weggegangen. Sie muß
im Dorf oder in der Nähe wohnen, denn sie ist zurückgekommen. Krank scheint
sie nicht zu sein...»
«Der Friede sei mit dir, Frau»,
sagt Jesus und geht nahe an ihr vorüber. Sie antwortet leise: «Und mit dir»,
sonst nichts.
Es sind ungefähr dreihundert
Personen anwesend. Unter dem Schutzdach sind Lahme, Blinde, Stumme, einer ist
vom Zittern befallen, ein Jugendlicher, der offensichtlich einen Wasserkopf
hat, wird von einem Mann geführt. Er heult nur, geifert und bewegt seinen
großen Kopf mit stumpfsinnigem Ausdruck unruhig hin und her.
«Ist er vielleicht der Sohn jener
Frau?» fragt Petrus.
«Ich weiß es nicht. Simon kümmert
sich um die Pilger und weiß es.»
Sie rufen den Zeloten und fragen
ihn. Doch der Mann gehört nicht zur Frau. Diese ist allein. «Sie weint nur und
betet. Vorher hat sie mich gefragt: "Heilt der Meister auch die Herzen?"»,
berichtet der Zelote.
«Vielleicht eine betrogene
Gattin?» meint Petrus.
Während sich Jesus zu den Kranken
begibt, gehen Bartholomäus und Matthäus mit vielen Pilgern zur Reinigung.
Die Frau in ihrer Ecke weint und
rührt sich nicht.
Jesus verweigert niemandem das
Wunder. Schön ist das Wunder am Schwachsinnigen, dem Jesus mit dem Atem den
Verstand einhaucht,
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indem er den großen Kopf zwischen
seinen schmalen Händen hält. Alle drängen sich hinzu. Auch die Verschleierte
wagt es, vielleicht, weil viele Menschen da sind, näher zu kommen und stellt
sich neben die weinende Frau. Jesus sagt zum Schwachsinnigen: «Ich will in dir
das Licht des Verstandes um damit den Weg für das Licht Gottes zu bahnen.
Höre, sage mit mir: "Jesus" ' sage es, ich will es!»
Der Schwachsinnige, der zuvor wie
ein Tier heulte, es war wirklich nichts anderes als ein Heulen, stammelt nun
mühsam: «Jesus», nein, «Jeschu».
«Noch einmal!» befiehlt Jesus und
hält immer noch den unförmigen Kopf zwischen seinen Händen und beherrscht ihn
mit seinem Blick. «Tsesu.» «Noch einmal!» «Jesus», sagt der Schwachsinnige
endlich. Seine Augen sind nicht mehr so ausdruckslos, und der Mund hat ein
anderes Lächeln.
«Mann», sagt Jesus zum Vater, «du
hast Glauben gehabt. Dein Sohn ist geheilt. Befrage ihn. Der Name Jesus wirkt
Wunder gegen Krankheiten und Leidenschaften.»
Der Mann fragt seinen Sohn: «Wer
bin ich?»
Der Junge antwortet: «Mein
Vater.» Der Mann drückt seinen Sohn an sein Herz und erklärt: «Er ist so auf
die Welt gekommen. Meine Frau ist bei seiner Geburt gestorben, und er war im
Verstand und im Sprechen gestört. Nun seht her! Ich habe geglaubt, ja, ich
komme von Joppe. Was kann ich für dich tun, Meister?»
«Gut sollst du sein, und mit dir
dein Sohn. Sonst nichts ...»
«Und dich lieben. Oh, laß uns
sofort gehen, Sohn, und es der Mutter deiner Mutter erzählen. Sie hat mich zu
diesem Schritt überredet, gesegnet sei sie dafür!» Die beiden gehen glücklich
fort. Vom früheren Übel bleibt nur noch der große Kopf. Ausdruck und
Sprechvermögen sind normal.
«Aber ist er nun durch deinen
Willen oder durch die Macht deines Namens geheilt worden?» wollen viele
erfahren.
«Durch den Willen des Vaters, der
immer dem Sohne wohlgesinnt ist. Doch auch mein Name bedeutet Rettung. Ihr
wißt es, Jesus heißt Retter. Die Rettung betrifft die Seele und den Leib. Wer
den Namen Jesus mit wahrem Glauben ausspricht, steht von Krankheiten und Sünde
auf, weil in jeder geistigen oder körperlichen Krankheit die Krallen Satans
sind. Er erzeugt die körperlichen Leiden, um den Menschen durch die Leiden des
Fleisches zur Auflehnung und zur Verzweiflung zu bringen und durch die
moralischen oder geistigen Krankheiten versucht er, ihn in die Verdammnis zu
stürzen.»
«Also ist nach deinem Dafürhalten
an jeder Plage des Menschen Beelzebub nicht unbeteiligt?»
«Nein, er ist nicht unbeteiligt.
Seinetwegen sind Krankheit und Tod in
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die Welt gekommen. Auch
Verbrechen und Verderbtheit sind durch ihn in die Welt gekommen. Wenn ihr
einen von irgendeinem Unglück Geplagten seht, dann denkt daran, daß er wegen
Satan zu leiden hat. Wenn ihr seht, daß einer Ursache des Unglücks ist, dann
wißt, daß er ein Werkzeug Satans ist.»
«Aber die Krankheiten kommen doch
von Gott.»
«Die Krankheiten sind eine
Unordnung in der Ordnung, denn Gott hat den Menschen gesund und vollkommen
erschaffen. Die Unordnung wurde von Satan in die von Gott gegebene Ordnung
gebracht und hat die Gebrechen des Fleisches und deren Folgen, also den Tod
und die verhängnisvolle Vererbung, mit sich gebracht. Der Mensch hat von Adam
und Eva die Erbsünde geerbt. Aber nicht nur sie. Dieser Makel breitet sich
immer mehr aus und beherrscht schließlich die drei Bereiche des Menschen: Das
Fleisch wird immer lasterhafter und damit schwach und krank; die Moral stets
stolzer und daher verderbter, der Geist immer ungläubiger und dadurch immer
götzendienerischer. Daher ist es notwendig, wie ich es mit dem Schwachsinnigen
getan habe, den Namen Jesus zu lehren, der Satan in die Flucht schlägt, ihn in
Herz und Sinn einzuprägen und ihn wie ein Eigentumssiegel auf das eigene Ich
zu setzen.»
«Aber gehören wir denn dir? Wer
bist du, daß du dir so viel einbildest?»
«Wenn es nur so wäre! Aber dem
ist nicht so. Würde ich euch besitzen, so wäret ihr schon gerettet. Es wäre
mein Recht, denn ich bin der Retter und müßte meine Geretteten besitzen...
Doch jene, die an mich glauben, werde ich retten.»
«Johannes – ich komme von
Johannes – hat mir gesagt: "Gehe zu jenem, der bei Ephraim und Jericho predigt
und tauft. Er hat die Macht, zu lösen und zu binden, während ich dir nur sagen
kann: 'Tue Buße, um deine Seele zu beflügeln, damit sie dem Heil folgen kann"'
' sagt ein durch ein Wunder Geheilter, der zuvor auf Krücken gehen mußte und
sich nun gut bewegen kann.»
«Leidet der Täufer nicht
darunter, das Volk zu verlieren?» fragt einer. Der Mann, der eben gesprochen
hat, antwortet: «Leiden? Er sagt zu allen: Geht! Geht!... Ich bin der
untergehende Stern. Er ist der Stern, der aufgeht und auf ewig in seiner
Herrlichkeit bestehen bleibt. Damit ihr nicht in der Finsternis bleibt, geht
zu ihm, bevor mein Flämmchen erlischt.»
«Die Pharisäer reden nicht so.
Sie sind voller Neid, weil du das Volk anziehst. Weißt du es?»
«Ich weiß es», antwortet Jesus
kurz.
Es entsteht nun eine Diskussion,
ob die Pharisäer mit ihrer Handlungsweise im Recht oder Unrecht sind. Doch
Jesus bricht sie ab mit einem kurzen: «Ihr sollt nicht urteilen», was keine
Widerrede duldet.
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Bartholomäus und Matthäus kommen
mit den Getauften zurück.
Jesus beginnt zu reden.
«Der Friede sei mit euch allen!
Ich habe gedacht, am Morgen zu
euch von Gott zu sprechen, da ihr nun schon am Morgen hierher kommt, es wäre
auch besser, wenn ihr zur Mittagszeit wieder abreisen könntet. Ich habe auch
gedacht, die Pilger zu beherbergen, die nicht mehr am selben Tage nach Hause
gelangen. Ich selbst bin auch ein Pilger und besitze nicht mehr als das
Unentbehrlichste, das mir durch die Barmherzigkeit eines Freundes gegeben
wurde. Johannes hat noch weniger als ich. Doch zu Johannes kommen Gesunde oder
Leichtkranke, Betrübte, Blinde, Stumme und nicht Fieberkranke oder gar
Sterbende wie zu mir. Sie gehen zu ihm, um die Bußtaufe zu empfangen. Zu mir
kommt ihr auch für die Heilung des Körpers. Das Gesetz sagt: "Liebe deinen
Nächsten wie dich selbst." Ich überlege und sage: Wie könnte ich beweisen, daß
ich die Brüder liebe, wenn ich ihren Nöten und Bedürfnissen, auch den
leiblichen gegenüber, mein Herz verschließen würde? Deshalb werde ich ihnen
geben, was mir gegeben worden ist. Ich halte den Reichen die Hand hin und
bitte sie um Brot für die Armen; ich verzichte auf mein Ruhelager und nehme
den Müden und den Leidenden auf.
Wir sind alle Brüder und die
Liebe wird nicht durch Worte, sondern durch Taten bewiesen. Derjenige, welcher
seinem Nächsten gegenüber sein Herz verschließt, hat ein Herz wie Kain. Der
Lieblose ist ein Rebell gegen Gottes Gebot. Wir sind alle Brüder, und trotzdem
sehe ich, und ihr seht es ebenfalls, daß auch in einer Familie Haß und
Feindschaft herrschen kann, dort, wo doch das gleiche Fleisch und Blut, das
wir von Adam übernommen haben, uns zu einer brüderlichen Gemeinschaft in der
Abstammung verbindet. Brüder sind gegen Brüder, Kinder gegen Eltern, Eheleute
sind einander feindlich gesinnt.
Doch, um sich als Brüder nicht
allezeit feindlich gesinnt zu sein, und um nicht eines Tages ehebrecherische
Gatten zu werden, muß man von frühester Kindheit an die Achtung vor der
Familie lernen, dem kleinsten und zugleich bedeutendsten Gebilde der Welt. Es
ist das kleinste im Vergleich zum Gebilde einer Stadt, eines Gebietes, einer
Nation, eines Erdteils; das bedeutsamste hingegen, weil es das älteste ist und
von Gott zu einer Zeit geschaffen wurde, da der Begriff der Heimat und des
Landes noch nicht bestand. Da war dieser Kern der Familie als Ursprung der
Rasse, als kleines Reich, in dem der Mann der König, die Frau die Königin ist
und die Kinder die Untertanen sind, bereits lebendig und tätig. Doch kann
jemals ein Reich andauern, wenn Gehorsam, Achtung, Sparsamkeit, guter Wille,
Fleiß und Liebe fehlen?
"Du sollst Vater und Mutter
ehren", heißt es in den Zehn Geboten.
Wie ehrt man sie? Warum muß man
sie ehren? Man ehrt sie mit echtem
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Gehorsam, wahrer Liebe,
vertrauensvoller Achtung, mit einer Ehrfurcht, die die Vertrautheit nicht
ausschließt, und die es gleichzeitig den Eltern nicht gestattet, uns wie
Diener und Unterlegene zu behandeln. Man muß sie ehren, denn nach Gott sind
die Eltern es, die das Leben vermitteln und für die materiellen Bedürfnisse
sorgen. Sie sind die ersten Lehrer und die ersten Freunde des Kindes. Man
sagt: "Gott möge dich segnen," und man sagt: "Danke" jenen, die uns einen auf
den Boden gefallenen Gegenstand aufheben oder ein Stück Brot schenken. Jenen,
die sich in der Arbeit aufreiben, um unseren Hunger zu stillen, um uns die
Kleider zu weben und sie sauber zu halten, jenen, die sich erheben, um unseren
Schlaf zu überwachen, die sich selbst die Ruhe versagen, um uns zum pflegen,
die uns an ihrer Brust wieder Trost und Kraft schöpfen lassen, wenn wir im
schmerzlichsten Überdruß verzagen... sollten wir ihnen nicht-- mit Liebe
zurufen: "Gott segne euch" und "ich danke euch?"
Sie sind unsere Lehrer. Der
Lehrer wird gefürchtet und geachtet. Doch übernimmt er uns erst, wenn wir
bereits über die nötigste Kenntnis verfügen, um uns zurechtzufinden,
selbständig essen und die wichtigsten Dinge benennen können, und er entläßt
uns, wenn uns die wichtigste Lehre des Lebens, nämlich die "Kunst" zu leben,
noch beigebracht werden muß. Der Vater und die Mutter sind es, die uns zuerst
auf die Schule und dann auf das Leben vorbereiten.
Sie sind unsere Freunde. Gibt es
denn einen besseren Freund als einen Vater? Und eine bessere Freundin als es
die Mutter ist? Müßt ihr vor ihnen zittern? Könnt ihr sagen: "Ich bin von ihm
oder von ihr verraten worden?" Doch, wie töricht ist der Junge und noch
törichter das Mädchen, die sich Fremde zu Freunden machen und Vater und Mutter
ihr Herz verschließen, sich Geist und Herz durch Verbindungen verderben, die
unklug sind, wenn nicht gar schuldhaft und so zur Ursache von Tränen der
Eltern werden und wie Tropfen flüssigen Bleis ihre Herzen durchfurchen. Diese
Tränen aber, sage ich euch, fallen nicht in den Staub und geraten nicht in
Vergessenheit. Gott sammelt sie und zählt sie. Das Martyrium eines
zurückgestoßenen Vaters oder einer zurückgestoßenen Mutter wird vom Herrn
belohnt werden. Aber die Tat eines Sohnes, der seine Eltern quält, wird nicht
vergessen werden, auch dann nicht, wenn Vater und Mutter in ihrer
schmerzvollen Liebe von Gott Erbarmen für den schuldigen Sohn erbitten.
"Ehre Vater und Mutter, wenn du
lange auf Erden leben willst" ' ist gesagt worden, "und ewig im Himmel", füge
ich hinzu Zu gering wäre die Strafe hienieden für eine Verfehlung gegen die
Eltern, wenn sie nur darin bestünde, nur kurze Zeit leben zu können. Das
Jenseits ist kein Märchen, und im Jenseits gibt es Belohnung oder Bestrafung,
je nachdem wie wir gelebt haben. Wer gegen die Eltern fehlt, fehlt gegen Gott,
denn Gott hat uns das Gebot gegeben, unsere Eltern zu lieben und wer sie nicht
liebt,
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sündigt. Er verliert somit außer
dem leiblichen Leben auch das wahre Leben, von dem ich zu euch gesprochen
habe, und geht dem Tod der Seele entgegen. Er trägt den Tod bereits in sich,
denn die Seele ist in Ungnade bei ihrem Herrn und hat schon das Verbrechen in
sich, weil er die heiligste Liebe nach der Liebe zu Gott verletzt hat. Sie hat
bereits den Keim für einen späteren Ehebruch in sich, denn aus einem bösen
Sohn wird ein schlechter Ehegatte werden. Sie hat schon den Trieb zu einem
abartigen sozialen Leben, denn aus einem schlechten Sohn entwickelt sich der
zukünftige Dieb, der Betrüger, der in sich gewalttätige Mörder, der
kaltblütige Wucherer, der freche Verführer, der zynische Lebemensch, der
abstoßende Verräter seines Vaterlandes, der Verräter der Freunde, der Kinder,
der Gattin, der Verräter aller Menschen. Könnt ihr dem noch Achtung und
Vertrauen entgegenbringen, der die Liebe einer Mutter verraten und die weißen
Haare eines alten Vaters verspottet hat?
Aber hört weiter zu, denn der
Pflicht der Kinder steht eine gleiche Pflicht der Eltern gegenüber. Fluch dem
schuldigen Kinde! Aber auch Fluch den schuldigen Eltern! Macht, daß euch die
Kinder nicht tadeln müssen und im Bösen nachahmen können. Bewirkt durch eine
gerechte und barmherzige Liebe, daß ihr wiedergeliebt werdet. Gott ist
Barmherzigkeit. Die Eltern, die gleich nach Gott den zweiten Platz einnehmen,
sollen auch barmherzig sein. Seid euren Kindern Beispiel und Trost. Seid ihr
Friede und ihre Führung. Seid die erste Liebe eurer Kinder. Eine Mutter ist
immer das erste Vorbild einer Braut, wie wir sie wünschen. Ein Vater hat für
die heranwachsende Tochter das Wesen, das sie für ihren Bräutigam erträumt.
Macht, daß eure Söhne und Töchter mit weiser Hand ihre Gefährten wählen und
dabei an die Mutter und an den Vater denken und wünschen, im Gefährten
wiederzufinden, was im Vater und in der Mutter ist: nämlich die wahre Tugend.
Wenn ich das Thema erschöpfend
behandeln wollte, dann würden der Tag und die Nacht nicht ausreichen. Daher
fasse ich mich euretwegen kürzer. Das Übrige möge euch der Heilige Geist
mitteilen. Ich streue den Samen und schreite weiter. Doch der Same wird im
guten Menschen gute Wurzeln schlagen und Ähren bringen. Gehet hin, der Friede
sei mit euch!»
Wer geht, tut es rasch. Wer
bleibt, geht in den dritten Raum und ißt sein Brot oder jenes, das ihm die
Jünger im Namen Gottes anbieten. Auf grobe Klötze sind Bretter und Stroh
gelegt worden; dort können die Pilger schlafen. Die verschleierte Frau geht
mit eiligen Schritten davon. Jene, die von Anfang an und auch während der
ganzen Rede Jesu geweint hat, wendet sich zögernd um und beschließt, zu gehen.
Jesus begibt sich in die Küche,
um seine Mahlzeit einzunehmen. Doch kaum hat er zu essen begonnen, da klopft
es an der Tür. Andreas, der nahe bei der Tür sitzt, erhebt sich und geht in
den Hof hinaus. Er spricht
17
mit jemandem und kommt zurück.
«Meister, eine Frau, jene, die geweint hat, wünscht dich. Sie sagt, sie könne
nicht bleiben und müsse dich zuvor sprechen.»
«Aber wie und wann kommt der
Meister so zu seinem Essen?» ruft Petrus besorgt aus.
«Du hättest ihr sagen sollen, daß
sie später wiederkommen soll.» sagt Philippus.
«Ruhe! Ich werde nachher essen.
Eßt ihr nur weiter.» Jesus geht hinaus.
Die Frau erwartet ihn.
«Meister, ein Wort... Du hast
gesagt... oh, komm hinter das Haus. Es ist so peinlich für mich, dir meinen
Kummer zu sagen.»
Jesus stellt sie wortlos
zufrieden. Erst hinter dem Haus fragt er sie dann: «Was willst du von mir?»
«Meister, ich habe dir vorher
zugehört, als du mit den Leuten gesprochen hast... und dann habe ich deine
Predigt gehört. Es schien, als hättest du für mich gesprochen. Du hast gesagt,
daß in jeder körperlichen oder seelischen Krankheit Satan im Spiel ist. Ich
habe einen Sohn, dessen Seele krank ist. Er hätte hören sollen, was du über
die Eltern gesagt hast. Er ist mein größter Kummer. Er hat sich mit schlimmen
Freunden herumgetrieben und ist so, wie du es gesagt hast... ein Dieb,
vorläufig nur zu Hause... dazu ist er streitsüchtig... anmaßend... So jung wie
er ist, ruiniert er sich durch Ausschweifung und Schlemmerei. Mein Mann will
ihn fortjagen. Ich aber bin die Mutter und leide dermaßen, daß ich sterben
möchte... Siehst du, wie meine Brust bebt? Das Herz will mir vor Kummer
zerspringen. Seit gestern möchte ich mit dir reden, denn ich hoffe auf dich,
mein Gott! Doch ich habe nicht gewagt, etwas zu sagen. Es ist so schmerzlich
für eine Mutter, gestehen zu müssen: "Ich habe einen grausamen Sohn."» Die
Frau ist vor Jesus niedergesunken und weint.
«Weine nicht mehr, er wird von
seinem Übel geheilt werden.»
«Wenn er dich hören könnte! Aber
er will dich nicht hören. Oh, so wird er nie gesund werden!»
«Aber hast du Glauben für ihn?
Hast du Willen für ihn?»
«Das fragst du mich? Ich komme
von den Anhöhen Peräas, um dich für ihn zu bitten...»
«Dann gehe nun. Wenn du nach
Hause kommst, wird dir dein Sohn reumütig entgegeneilen.»
«Aber wie?»
«Wie? Glaubst du nicht, daß Gott
tun kann, um was ich ihn bitte? Dein Sohn ist dort, ich bin hier. Gott aber
ist überall. Ich flehe zu Gott: "Vater, habe Erbarmen mit dieser Mutter." Gott
wird seinen Ruf im Herzen deines Sohnes ertönen lassen. Geh nun, Frau! Eines
Tages werde ich an deinem Ort vorüberkommen, und du wirst mir voller Stolz mit
deinem
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Sohn entgegenkommen. Wenn er, auf
deinen Knien weinend, dich um Verzeihung bitten und dir von seinem
geheimnisvollen Kampf, aus dem er mit neuer Seele hervorgegangen ist,
berichten und dich dann fragen wird, warum es so gekommen ist, dann wirst du
ihm sagen: "Durch Jesus bist du zum Guten wiedergeboren worden." Erzähle ihm
von mir. Wenn du zu mir gekommen bist, dann beweist dies, daß du über mich
Bescheid weißt. Mach, daß er von mir erfährt und an mich denkt, damit er die
Kraft in sich hat, die rettet. Leb wohl! Der Friede sei mit dir, gläubige
Mutter, mit dem Sohn, der zurückkehrt, mit dem zufriedenen Vater und der
wiedervereinten Familie. Geh nun!»
Die Frau geht zum Dorf, und alles
ist zu Ende.
162. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST NICHT UNKEUSCHHEIT TREIBEN»
Jesus sagt :
«Habe Geduld, meine Seele, wegen
der doppelten Mühe. Es ist die Leidenszeit. Weißt du, wie müde ich in den
letzten Tagen war? Du kannst es sehen. Ich stütze mich beim Gehen auf
Johannes, Petrus und auch auf Judas... Ja, ich, der ich Wunder vollbrachte nur
durch die Berührung meines Gewandes, vermochte jenes Herz nicht zu ändern. Laß
mich anlehnen an dich, kleiner Johannes, damit ich jene Worte wiederholen
kann, die ich in den letzten Tagen jenen Starrköpfigen und Abgestumpften schon
gesagt habe, in die die Vorhersage meiner Leiden nicht eingedrungen ist. Und
erlaube auch, daß der Meister von den Stunden der Predigten in der düsteren
Ebene des "Trügerischen Gewässers" erzähle. Ich werde dich dafür zweimal
segnen. Für deine Mühe und für dein Mitleid. Ich zähle deine Anstrengungen und
sammle deine Tränen. Den Mühen aus Liebe zu den Brüdern kommt die gleiche
Vergeltung zu wie jenen, die sich verzehren, um Gott den Menschen
bekanntzumachen. Deine Tränen wegen meines Leidens in der vergangenen Woche
werden mit dem Kuß Jesu vergolten. Schreibe und sei gesegnet !»
Jesus steht aufrecht auf einem
Stapel von Brettern, die als Podest in einem der Räume aufgerichtet worden
sind. Er spricht mit Donnerstimme in der Nähe der Türe, um von allen gehört zu
werden: von denen, die im Raume sind, von anderen, unter dem Vordach und sogar
von jenen, die auf dem überschwemmten Dreschplatz dem Regen ausgesetzt sind.
Unter ihren dunklen Mänteln aus naturbelassener Wolle, die wasserundurchlässig
ist, sehen sie aus wie Mönche. Im Raum selbst sind die Schwächeren, unter dem
Vordach die Frauen, und im Hofe, unter dem Regen, die Kräftigeren,
hauptsächlich Männer.
Petrus kommt und geht, barfuß im
kurzen Unterkleid, ein Tuch auf dem Kopf. Er verliert seinen guten Humor
nicht, auch wenn er im Wasser waten und eine ungewollte Dusche nehmen muß. Mit
ihm sind Johannes, Andreas und Jakobus. Sie bringen vorsichtig die Kranken aus
dem anderen Raum, geleiten die Blinden und stützen die Lahmen.
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die vier Jünger naß sind wie ins
Wasser getauchte Schwämme.
«Nichts, nichts! Wir sind
geteertes Holz. Mach dir nichts draus. Wir bekommen nur noch einmal eine
Taufe, und der Täufer ist Gott selbst», antwortet Petrus auf das Bedauern
Jesu.
Endlich sind alle an ihrem Platz,
und Petrus denkt, daß er nun ein trockenes Gewand anziehen kann. Er veranlaßt
auch die anderen drei dazu. Aber als er wieder beim Meister angelangt ist,
sieht er an der Ecke des Vordaches den grauen Mantel der Verschleierten, und
ohne zu überlegen, geht er zu ihr hin, quer durch den Hof, unter dem
prasselnden, immer stärker werdenden Regen, durch die Pfützen, die bis zu den
Knien spritzen beim Aufprall der dicken Regentropfen. Er packt die
Verschleierte am Ellbogen, ohne den Mantel zu verschieben, und schleppt sie
bis zur Wand des Schuppens, wo sie vor dem Regen geschützt ist. Dann stellt er
sich in ihre Nähe, steif und unbeweglich, wie eine Schildwache.
Jesus hat es gesehen. Er lächelt
und neigt dabei sein Haupt, um das Leuchten seines Antlitzes zu verbergen. Er
beginnt zu sprechen:
«Sagt nicht, die ihr regelmäßig
zu mir kommt, daß ich nicht der Reihe nach ordnungsgemäß predige und einige
der Zehn Gebote überspringe. Ihr hört mich, ich sehe es, ihr hört mir zu. Ich
knüpfe an die Schmerzen und an die Wunden an, die ich in euch sehe. Ich bin
der Arzt. Der Arzt geht zuerst zu den Schwerkranken, zu jenen, die dem Tod am
nächsten sind. Dann geht er zu jenen, die weniger leidend sind. Ich mache es
ebenso.
Heute sage ich: "Du sollst nicht
Unkeuschheit treiben."
Laßt eure Blicke nicht
umherschweifen, indem ihr versucht, auf diesem oder jenem Gesicht das Wort
"unkeusch" zu lesen. Liebt euch gegenseitig. Hättet ihr es gern, wenn es
jemand auf euch lesen würde? Nein! Sucht also nicht, es im beunruhigten Auge
des Nachbarn zu lesen, auf einer Stirn, die sich rötet und sich bis zum Boden
neigt.
Dann... oh, sagt mir, besonders
ihr Männer, wer von euch hat noch nie von diesem Brot aus Asche und Kot
gekostet, das die sexuelle Befriedigung ist ? Ist nur das Unkeuschheit, was
euch für eine Stunde in die Arme einer Dirne treibt? Ist nicht auch das
entweihte Zusammenleben mit der Gemahlin unkeusch, da es zum legalisierten
Laster wird, indem es nur zur gegenseitigen Befriedigung der Sinnlichkeit
dient unter Ausschluß der Folgen?
Ehe bedeutet Zeugung, und ihr
Vollzug ist und muß Befruchtung sein. Ohne dies ist sie unmoralisch. Man darf
aus dem Ehegemach kein Bordell machen. Dazu wird es, wenn es mit Ausschweifung
beschmutzt und die Ehe nicht durch die Mutterschaft geheiligt wird. Die Erde
weist den Samen nicht zurück. Sie nimmt ihn auf und läßt eine Pflanze
gedeihen. Der Same entflieht der Scholle nicht, nachdem er niedergelegt ist,
er schlägt
20
ein pflanzliches Geschöpf aus der
Verbindung der Erde mit dem Samen. Der Mann ist der Same, die Frau das
Erdreich und das Kind die Ähre. Sich weigern, eine Ähre zu bilden und die
Kraft im Laster zu vergeuden, ist Sünde... ist Buhlerei auf dem Ehelager, die
noch verschlimmert wird durch den Ungehorsam dem Gebote gegenüber, das besagt:
"Seid ein Fleisch und vermehrt euch in den Kindern" (Gen 1,26-28 usw.).
Daher seht, o ihr Frauen, die ihr
absichtlich unfruchtbar bleiben wollt, ihr rechtmäßigen und ehrbaren Frauen,
nicht in den Augen Gottes, aber in jenen der Welt, daß ihr trotzdem Dirnen
gleichkommt und Unkeuschheit treiben könnt, selbst wenn ihr nur eurem
Ehegatten angehört, weil ihr nicht die Mutterschaft sucht, sondern viel zu oft
dem Sinnengenuß frönt. Ihr überlegt nicht, daß die Sinnenlust – welchem
Schlund auch ihre Begierde entspringen mag – ein Gift ist, das in Leidenschaft
entbrennen läßt. Nach Befriedigung lechzend, durchbricht sie Schranken und
wird in ihrer Gier immerzu unersättlicher. Was zurückbleibt ist ein herber
Geschmack von Asche unter der Zunge, ein Widerwille, ein Ekel und die
Verachtung eurer selbst und des Gefährten eurer Lust. Könnte es denn anders
möglich sein, als daß in einem nicht diese Selbstverachtung aufkommen würde,
wenn das Gewissen wiedererwacht – und das tut es zwischen einem Sinnenrausch
und dem nächsten – weil man sich bis unter das Tier erniedrigt hat?
"Du sollst nicht Unkeuschheit
treiben", ist gesagt worden.
Unkeusch sind ein Großteil der
wollüstigen Handlungen des Menschen. Ich betrachte nicht einmal jene absurden
Verbindungen, die der Leviticus mit den Worten verurteilt: "Mann, du darfst
nicht einem Mann beiwohnen, als ob es eine Frau wäre", und "Du darfst nicht
einem Tier beiwohnen, um dich nicht mit ihm zu beflecken." Dasselbe gilt auch
für die Frau, sie darf sich nicht mit dem Tier vereinigen, denn das wäre
verbrecherisch! (Lev 18,22-23)
Aber nachdem ich die Pflichten
der Eheleute in der Ehe genannt habe, die aufhört, heilig zu sein, wenn sie
durch Arglist unfruchtbar bleibt, komme ich auf die Unkeuschheit zwischen Mann
und Frau zu sprechen: Unzucht aus gegenseitiger Lasterhaftigkeit oder gegen
Bezahlung in Form von Geld oder Geschenken.
Der menschliche Körper ist ein
herrlicher Tempel, der einen Altar in sich birgt. Auf dem Altare müßte Gott
sein. Doch Gott ist nicht da wo Verderbtheit herrscht. Daher hat der Körper
des Unreinen den Altar entweiht und ist ohne Gott.
Ähnlich einem Menschen, der sich
betrunken im Schlamm und dem Erbrochenen seines Rausches wälzt, so erniedrigt
sich der Mensch selber in der Bestialität der Unzucht und wird schlimmer als
der Wurm und das schmutzigste Tier. Sagt mir, wenn jemand unter euch ist, der
sich so
21
erniedrigt hat, daß er mit seinem
Körper Handel treibt, wie man es mit Korn und Tieren macht, was ist ihm daraus
Gutes erwachsen? Nehmt euer Herz in die Hand, beobachtet und befragt es, hört
es an, seht euch seine Wunden an, sein schmerzhaftes Erschauern, und dann
sprecht und antwortet mir: War jene Frucht wirklich so süß, daß dieses Herz,
das rein geboren, diesen Schmerz verdient hätte, gezwungenermaßen in einem
unreinen Körper zu wohnen und mit seinem Schlagen der Unkeuschheit Leben und
Glut zu verleihen, um sich schlußendlich im Laster zu verbrauchen?
Sagt mir, seid ihr so verkommen,
daß ihr nicht einmal im geheimen schluchzen müßt, wenn ihr eine Kinderstimme
hört, die "Mama" ruft, und ihr dann eurer Mutter gedenkt, o ihr
Freudenmädchen, die ihr von zu Hause weggelaufen oder fortgejagt worden seid,
damit ihr – die faulende Frucht – mit eurer zersetzenden Absonderung nicht
auch noch die Geschwister verderbt? Wenn ihr an eure Mutter denkt, die
vielleicht aus Gram gestorben ist, weil sie sich sagen mußte: "Habe ich ein
Scheusal geboren?"
Fühlt ihr nicht euer Herz
zerspringen, wenn ihr einem einsamen, ehrwürdigen Greis begegnet und dabei an
euren Vater denkt, auf den ihr Schmach mit vollen Händen geworfen habt, und
mit der Schmach den Spott seines Heimatdorfes ?
Spürt ihr nicht, wie eure
Eingeweide sich verkrampfen, wenn ihr das Glück einer Braut oder die Unschuld
einer Jungfrau seht und ihr euch sagen müßt: "Auf all das habe ich verzichtet,
und ich werde es nie mehr haben!"
Spürt ihr nicht euer Gesicht vor
Scham brennen, wenn ihr dem Blick der Männer begegnet, der voller Gier oder
voller Verachtung ist?
Spürt ihr nicht eure
Erbärmlichkeit, wenn ihr euch nach dem Kuß eines Kindes sehnt und nicht mehr
zu sagen wagt: "Gib mir einen Kuß" ' weil ihr es abgetrieben habt, getötet wie
eine unangenehme Last oder ein unnützes Hindernis, von dem Baum gebrochen,
dessen Frucht es doch ist, und auf den Misthaufen geworfen, und weil nun die
kleinen Leben euch zurufen: "Mörderinnen!"?
Erzittert ihr nicht vor jenem
Richter, der euch erschaffen hat und euch erwartet, um euch zu fragen: "Was
hast du aus dir gemacht? Habe ich dir etwa das Leben dafür gegeben? Stinkendes
Nest der Würmer und der Verwesung, wie wagst du es, vor mein Angesicht zu
treten? Du hast alles gehabt, was für dich Gott bedeutete: die Sinnenlust! Nun
geh in die Verdammnis ohne Ende!"
Wer weint? Niemand? Ihr sagt,
niemand? Und doch, meine Seele geht einer anderen Seele entgegen, die weint!
Warum geht sie ihr entgegen? Um ihr den Bann entgegenzuschleudern, sie sei
eine Dirne? Nein! Weil ihre Seele mir leid tut. Alles in mir empfindet Abscheu
vor ihrem widerlichen,
22
durch Anstrengungen in der
Unzucht mit Schweiß bedeckten Körper.
Oh, Vater! Vater! Auch für diese
Seele habe ich Fleisch angenommen und den Himmel verlassen, um ihr und ihrer
vielen Schwesterseelen Erlöser zu sein. Warum sollte ich dieses umherirrende
Schaf nicht zurückholen und in den Schafstall bringen, es reinigen, mit der
Herde vereinigen, auf die Weide führen und ihm eine Liebe schenken, vollkommen
wie nur meine Liebe ist, und so ganz anders als jene Liebschaften, die bis
anhin für sie den Namen Liebe trugen und doch nur Haß waren; eine mitfühlende,
vollkommene und zarte Liebe, damit sie nicht mehr der vergangenen Zeit
nachtrauere, oder ihr nur nachtrauere, weil sie sich sagen muß: "Zu viele Tage
habe ich verloren fern von dir, Ewige Schönheit. Wer gibt mir die versäumte
Zeit zurück? Wie kann ich in dem kurzen Lebensrest von dem kosten, was ich
verkostet hätte, wenn ich rein geblieben wäre?"
Aber weine nicht, von aller Gier
der Welt getretene Seele. Höre, du bist ein schmutziger Lumpen, doch du kannst
wieder zu einer Blume werden. Du bist ein Misthaufen, doch du kannst zum
Blumenbeet werden. Du bist ein unreines Tier, doch du kannst wieder zum Engel
werden. Einmal warst du es schon. Du hast auf blumigen Wiesen getanzt, als
Rose unter Rosen, frisch wie sie und duftend in deiner Jungfräulichkeit. Du
hast freudig deine Kinderlieder gesungen, und dann bist du zur Mutter und zum
Vater gesprungen und hast zu ihnen gesagt: "Ich liebe euch", und der
unsichtbare Schutzengel, den jedes Geschöpf an seiner Seite hat, erfreute sich
an deiner reinen, himmelblauen Seele...
Und dann? Warum? Warum hast du
dir die Flügel der kindlichen Unschuld ausgerissen? Warum hast du das Herz
eines Vaters und einer Mutter mit Füßen getreten, um anderen, zweifelhaften
Liebeleien entgegenzueilen? Warum hast du deine lautere Stimme verlogenen
Phrasen der Leidenschaft geliehen? Warum hast du den Stengel der Rose geknickt
und dich selbst verletzt?
Bereue, Tochter Gottes! Die Reue
erneuert, die Reue reinigt, die Reue läutert. Könnte dir der Mensch nicht mehr
verzeihen? Könnte es dein Vater nicht mehr? Doch Gott kann es! Denn die Güte
Gottes ist unvergleichbar mit menschlicher Güte, und seine Barmherzigkeit ist
unendlich größer als die menschliche Erbärmlichkeit. Achte dich selbst und
mache deine Seele durch ein anständiges Leben wieder würdig. Rechtfertige dich
vor Gott, indem du nicht mehr gegen deine Seele sündigst. Erwirb dir einen
guten Ruf bei Gott. Das ist es, was zählt! Du bist das Laster! Werde die
Sittsamkeit, werde ein Opfer, werde Märtyrerin deiner Reue. Du hast dein Herz
martern können, um deinem Fleisch den Genuß zu gewähren. Nun martere dein
Fleisch, um deinem Herzen den ewigen Frieden zu schenken.
Gehe! Geht nun alle! Jeder mit
seiner Last und seinen Gedanken und denkt darüber nach. Gott erwartet alle und
weist keinen von jenen
23
zurück, die reumütig sind. Der
Herr möge euch sein Licht schenken, damit ihr eure Seelen zu erkennen
vermöget. Gehet hin.»
Viele entfernen sich in Richtung
des Dorfes. Andere treten ins Haus. Jesus geht zu den Kranken und heilt sie.
Eine Gruppe von Männern steht
plaudernd in einer Ecke. Da sie verschiedene Ansichten vertreten, reden und
gestikulieren sie heftig. Einige beschuldigen Jesus, andere verteidigen ihn.
Wiederum andere ermahnen diese und jene zu reiferem Urteil. Die Erregtesten
wählen einen Mittelweg, vielleicht weil es nur wenige sind im Vergleich zu den
anderen Gruppen, und gehen zu Petrus, der zusammen mit Simon die nun
entbehrlichen Bahren dreier Geheilter aus dem Schuppen trägt, der zur
Pilgerherberge geworden ist. Sie reden ihn vorlaut an: «Mann von Galiläa,
höre!»
Petrus wendet sich um und schaut
sie an wie seltene Tiere. Er sagt nichts, doch sein Gesicht spricht Bände.
Simon wirft nur einen Blick auf die fünf Aufgeregten, geht hinaus und überläßt
sie ihrem Gespräch.
Einer der fünf fährt weiter: «Ich
bin Samuel, der Schriftgelehrte, dieser ist mein Kollege Sadoch, dieser hier
ist der Jude Eleazar, sehr bekannt und einflußreich, dieser der wohlbekannte
Älteste Callascebona und dieser Nahum. Verstehst du! Nahum!» Und der Ton
seiner Stimme wird beinahe pathetisch.
Petrus macht eine leichte
Verneigung bei jedem Namen, doch zum Schluß bleibt er auf halbem Wege und sagt
mit höchster Gleichgültigkeit: «Ich weiß nicht... nie gehört... Ich verstehe
nicht.»
«Blöder Fischer, du müßtest
wissen, wer der Vertrauensmann des Annas ist!»
«Ich kenne Annas nicht, ich kenne
nur viele Frauen mit dem Namen Anna... Eine Unmenge in Kapharnaum heißen auch
Anna. Aber ich weiß nicht, welchem Annas dieser hier den Vertrauensmann
spielt.»
«Dieser? Mir sagt man "dieser" ?
!»
«Aber was soll ich dir denn
sagen? Esel oder Vogel? Als ich zur Schule ging, hat mir der Lehrer
beigebracht, "dieser" zu sagen, wenn ich von einem Mann spreche, und wenn ich
nicht irre, bist du ein Mann.»
Der Mann tut, als ob ihn diese
Worte quälten. Der andere, der zuerst gesprochen hat, erklärt: «Aber Annas ist
der Schwiegervater des Kaiphas!»
«Ach so, nun verstehe ich. Und
was weiter?»
«Nun, du sollst wissen, daß wir
entrüstet sind.»
«Über was? Das Wetter? Ich auch.
Zum drittenmal muß ich schon das Gewand wechseln, und jetzt habe ich nichts
Trockenes mehr anzuziehen.»
«Spiel nicht den Dummen!»
«Den Dummen? Das stimmt doch!
Aber wenn ihr nicht über das Wetter verärgert seid, über was dann? Die Römer?»
24
«Über deinen Meister, den
falschen Propheten!»
«Halt, lieber Samuel. Nimm dich
in acht, wenn ich wach werde, dann bin ich wie der See. Von der Windstille zum
Gewitter brauche ich nur einen Augenblick. Paß auf, was du sagst!»
Auch die Söhne des Zebedäus und
des Alphäus sind nun hereingekommen und mit ihnen Iskariot und Simon; sie
umringen Petrus, der immer lauter schreit.
«Faß nicht mit deinen
plebejischen Händen die Großen Sions an!»
«Oh, welch feine Herren! Und ihr
rührt mir den Meister nicht an, sonst landet ihr im Brunnen, und zwar sofort,
um euch innen und außen ganz tüchtig zu reinigen.»
«Ich möchte die Gelehrten des
Tempels darauf aufmerksam machen, daß dieses Haus Privatbereich ist», sagt
Simon ruhig. Iskariot beteuert: «Und daß der Meister, dafür kann ich bürgen,
für das Haus eines anderen, besonders für das Haus des Herrn, immer die größte
Ehrfurcht hat. Dieselbe Ehrfurcht werde auch Seinem Zuhause entgegengebracht.»
«Schweige, du hinterhältiger
Wurm!»
«Hinterhältig eben darum! Ihr
habt mich angeekelt, und daher bin ich dorthin gegangen, wo es nicht ekelhaft
ist. Gebe Gott, daß das Zusammensein mit euch mich nicht gänzlich verdorben
hat.»
«Macht es kurz; was wollt ihr?»
fragt Jakobus des Alphäus, trocken.
«Wer bist du denn?»
«Ich bin Jakobus des Alphäus, und
Alphäus des Jakob, und Jakob des Matan, und Matan des Eleazar, und wenn du
willst, sage ich dir den ganzen Stammbaum, bis zum König David, von dem ich
abstamme, und dazu bin ich der Vetter des Messias. Daher bitte ich dich, mit
mir als dem Nachkommen des königlichen Geschlechts und der jüdischen Rasse zu
sprechen, wenn es deinen Hochmut anekelt, mit einem ehrlichen Israeliten zu
reden, der Gott besser kennt als Gamaliel und Kaiphas. Rede also!»
«Dein Meister und Verwandter läßt
sich Dirnen nachfolgen. Jene Verschleierte dort ist eine Dirne. Ich habe sie
wiedererkannt, als sie Gold verkaufte. Sie ist die dem Schammai entflohene
Geliebte; sie entehrt ihn.»
«Wem? Schammai, dem Rabbi? Dann
muß sie schon eine alte Motte und daher ungefährlich sein», spottet Iskariot.
«Schweig, Verrückter! Von
Schammai des Elchi, des Bevorzugten von Herodes!»
«Ach so, anscheinend liebt sie
ihren Schatz nicht mehr. Schließlich war es ja seine Geliebte, nicht deine.
Warum regst du dich dann so auf ?» Judas Iskariot antwortet überaus spöttisch.
«Mann, glaubst du nicht, daß du
dich entehrst, wenn du den Spion machst?» fragt Judas des Alphäus. «Denkst du
nicht, daß derjenige sich entehrt, der sich erniedrigt, zu sündigen, und nicht
jener, der versucht, die Sünder wieder aufzurichten? Welche Unehre fällt auf
meinen Meister
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und Bruder, wenn er mit seiner
Stimme auch jene zu erreichen versucht, deren Ohren vom Geifer der Unzüchtigen
Sions entweiht worden sind?»
«Die Stimme!
Ha, ha, ha... Er ist dreißig Jahre alt, dein Meister und Vetter, und er
ist nur ein größerer Heuchler als die anderen. Du und ihr alle, habt ihr einen
guten Schlaf bei Nacht?»
«Unverschämte Schlange! Hinaus
oder ich erwürge dich!» schreit Petrus, und Jakobus und Johannes unterstützen
ihn, während Simon sich darauf beschränkt zu sagen: «Schande! Deine Heuchelei
ist so groß, daß sie aufstößt und überläuft und schleimig ist wie eine
Schnecke auf einer reinen Blume. Hinaus, und werde ein Mensch, denn jetzt bist
du nur Geifer. Ich erkenne dich, Samuel. Du bist immer noch der Gleiche. Gott
möge dir verzeihen. Aber verschwinde aus meinen Augen!»
Doch während Iskariot und Jakobus
des Alphäus den so wütenden Petrus festhalten, donnert Judas Thaddäus, der
mehr denn je dem Vetter gleicht, von dem er in diesem Augenblick das blaue
Aufleuchten in den Augen und die würdevolle Haltung hat: «Wer den Schuldlosen
entehrt, entehrt sich selbst. Die Augen und die Zunge hat Gott geschaffen, um
sie in Heiligkeit zu gebrauchen. Der Verleumder schändet und erniedrigt sie,
indem er sie zu Untaten mißbraucht. Ich will mich nicht selbst beschmutzen,
indem ich durch eine gemeine Tat deinen weißen Haaren Schmach antuhe. Aber
vergiß nicht: die Bösen hassen gute Menschen, und der Törichte tobt seinen
Unmut aus, ohne auch nur zu überlegen, daß er sich dadurch verrät. Wer in der
Finsternis lebt, verwechselt den blühenden Zweig mit einer Schlange. Doch wer
im Licht lebt, sieht die Dinge, wie sie sind und verteidigt sie aus Liebe zur
Gerechtigkeit, wenn sie verachtet werden. Wir leben im Licht. Wir sind das
edle und keusche Geschlecht der Kinder des Lichtes, und unser Oberhaupt ist
der Heilige, der weder Weib noch Sünde kennt. Wir folgen ihm nach und
verteidigen ihn gegen seine Feinde, für die wir, wie er es uns gelehrt hat,
keinen Haß, sondern nur Gebete haben. Lerne, o Greis, von einem Jüngling, der
reif geworden ist, weil er die Weisheit zur Lehrerin hat, auf daß du nicht
voreilig seiest im Reden und unfähig, Gutes zu tun. Geh und berichte dem, der
dich gesandt hat, daß nicht im entehrten Haus auf dem Berg Moriah, sondern in
dieser bescheidenen Wohnung Gott in seiner Herrlichkeit thront. Leb wohl!»
Die fünf Männer wagen es nicht,
etwas einzuwenden und entfernen sich.
Die Jünger beraten. Sollen sie es
Jesus sagen oder nicht ? Jesus weilt immer noch bei den geheilten Kranken. Ja,
es ihm sagen! Es ist besser so!
Sie gehen zu ihm, rufen ihn und
erzählen ihm alles. Jesus lächelt ruhig und antwortet: «Ich danke euch für die
Verteidigung; doch was wollt ihr? Ein jeder gibt das, was er hat.»
«Aber ein wenig Recht haben sie.
Man hat Augen im Kopf, um zu sehen, und viele sehen. Sie ist immer hier
draußen, wie ein Hund. Sie schadet dir», sagen einige.
26
«Laßt sie in Ruhe. Nicht sie wird
der Stein sein, der mein Haupt treffen soll, und wenn sie gerettet wird, dann
ist die Freude darüber einen Tadel wert.»
Alles endet mit dieser gütigen
Antwort.
163. DIE VERSCHLEIERTE BEIM
"TRÜGERISCHEN" GEWÄSSER"
Das Wetter ist so schauerlich,
daß kein Pilger kommen konnte. Es gießt in Strömen, und der Vorplatz hat sich
in einen Tümpel verwandelt, auf dem trockene Blätter schwimmen, die wer weiß
woher stammen und vom Wind bis hierher geweht worden sind. Der Wind pfeift und
rüttelt an Angeln und Türen. In der Küche, in der es dunkler als gewöhnlich
ist, weil man, um das Eintreten des Regenwassers zu verhindern, die Türe
geschlossen halten muß, und die voll von Rauch ist, da ihn der Wind
zurückdrängt, wird man geräuchert, die Augen tränen und der Husten reizt.
«Da hatte Salomon recht», belehrt
Petrus. «Drei Dinge sind es, die den Mann vertreiben: ein zänkisches Weib –
das habe ich in Kapharnaum gelassen, damit es sich mit den anderen
Schwiegersöhnen zanken kann, ein Kamin, der den Rauch nicht abziehen läßt, und
ein Dach, das nicht wasserdicht ist... und diese beiden haben wir. Doch morgen
werde ich mich um den Kamin kümmern. Ich werde aufs Dach steigen, und du, du
und du (Jakobus, Johannes und Andreas), ihr werdet mit mir kommen. Mit
Schieferplatten werden wir den Kamin aufstocken und ihn mit einem Dach
versehen.»
«Und wo willst du die
Schieferplatten hernehmen ?» fragt Thomas.
«Vom Vordach. Wenn es dort
regnet, ist es kein Weltuntergang. Aber hier. Tut es dir leid, daß sich deine
Speisen nicht mehr mit Rußtropfen schmücken?»
«Stelle dir vor! Wenn es uns
gelingen würde... Schau, wie ich aussehe... es regnet mir auf den Kopf, wenn
ich hier beim Feuer stehe.»
«Du gleichst einem ägyptischen
Ungeheuer», sagt Johannes lachend.
Es stimmt, Thomas hat bizarre
Kommas in seinem vollen, gutmütigen Gesicht. Der erste, der darüber lacht, ist
er selbst, der immerfrohe, und auch Jesus muß lachen, denn während Thomas
spricht, fällt ihm ein dicker, schwarzer Rußtropfen auf die Nase und
hinterläßt einen schwarzen Fleck.
«Du bist ein Fachmann in der
Wettervorhersage. Was sagst du? Wird es noch lange so weiterregnen ?» wird
Petrus von Iskariot gefragt, der seit einigen Tagen ganz verändert ist.
27
«Ich kann es dir gleich sagen.
Ich werde den Astrologen spielen», sagt Petrus, geht zur Türe, öffnet sie ein
klein wenig und steckt den Kopf und eine Hand hinaus. Er stellt fest:
«Niedriger Südwind, heiß und schwül... Uff! Wenig zu...»
Petrus schweigt plötzlich, kommt
leise herein, indem er die Türe einen Spalt offen läßt und hinausguckt.
«Was ist los ?» fragen sie zu
dritt oder viert.
Aber Petrus deutet ihnen mit der
Hand an, daß sie schweigen sollen. Er schaut noch einmal hinaus, dann sagt er
flüsternd: «Jene Frau ist da. Sie hat Wasser am Brunnen getrunken und ein
vergessenes Holzbündel aufgehoben. Es ist ganz naß und wird kaum brennen. Nun
geht sie. Ich werde ihr nachgehen. Ich möchte sehen...», und Petrus geht
vorsichtig hinaus.
«Wo hat sie wohl Unterschlupf
gefunden, da sie immer hier ist?» fragt Thomas.
«Und dazu bei diesem Wetter!»
sagt Matthäus.
«Ins Dorf geht sie ganz bestimmt,
denn auch vorgestern hat sie dort Brot gekauft», sagt Bartholomäus.
«Sie hat eine schöne Ausdauer,
immer verschleiert zu bleiben», bemerkt Jakobus des Alphäus.
«Oder einen triftigen Grund
dafür», ergänzt Thomas.
«Aber ist sie wirklich das, was
der Jude gestern gesagt hat ?» fragt Johannes. «Die sind doch immer so
verlogen.»
Jesus schweigt, als ob er taub
wäre. Alle sehen ihn an, in der Gewißheit, daß er es weiß. Aber er schnitzt an
einem Stück weichen Holzes herum, das sich langsam in eine große Gabel
verwandelt, mit der man das Gemüse aus dem kochenden Wasser heben kann. Als er
damit fertig ist, bietet er seine Arbeit Thomas an, der sich wirklich mit Leib
und Seele für den Küchendienst eingesetzt hat.
«Du bist wirklich tüchtig,
Meister. Aber wirst du uns jetzt sagen, wer sie ist ?»
«Eine Seele. Für mich seid ihr
alle Seelen. Nichts anderes. Männer Frauen, Greise, Kinder: Seelen, Seelen,
Seelen! Blütenweiße Seelen die kleinen Kinder, himmelblaue Seelen die Kinder,
rosafarbene Seelen die Jugendlichen, goldene Seelen die Gerechten,
pechschwarze Seelen die Sünder. Nur Seelen, nur Seelen! Ich lächle den reinen
Seelen zu, denn mir scheint, dabei den Engeln zuzulächeln, und ich ruhe mich
aus unter den himmelblauen und rosafarbenen Blumen der guten Jugendlichen; ich
erfreue mich an den wertvollen Seelen der Gerechten, und ich bemühe mich
schmerzhaft, die Seelen der Sünder wieder wertvoll und strahlend zu machen.
Die Gesichter? Die Körper? Sie sind nichts... Ich kenne euch und erkenne euch
wieder an euren Seelen.»
«Was für eine Seele ist denn
sie?» möchte Thomas wissen.
«Bestimmt keine so neugierige
Seele wie die meiner Freunde hier. Denn
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sie fragt nichts, erbittet nichts
und geht und kommt, ohne zu reden oder herumzublicken.»
«Ich hatte in ihr eine Dirne oder
eine Aussätzige vermutet, doch dann habe ich meine Meinung geändert, Meister.
Wenn ich dir etwas erzähle, wirst du mich dann nicht tadeln?» fragt Iskariot
und setzt sich an den Knien Jesu nieder, ganz verändert, demütig, gut, sogar
schöner in seinem ergebenen Ausdruck, als wäre er nicht mehr der bombastische,
wichtigtuerische Judas.
«Ich werde dich nicht tadeln.
Sprich!»
«Ich weiß, wo sie wohnt. Ich bin
ihr eines Abends gefolgt und habe dabei so getan, als wollte ich Wasser am
Brunnen holen. Sie kommt immer bei anbrechender Dunkelheit zum Brunnen. Eines
Morgens habe ich am Boden eine silberne Haarspange gefunden, am Brunnenrande,
und habe sofort verstanden, daß die Frau sie verloren haben mußte. Nun, sie
hält sich in einer kleinen Holzhütte im Walde auf. Vielleicht dient diese
Hütte den Landarbeitern. Sie ist halb vermodert, und die Frau hat selbst
darüber Reiser gelegt, um ein Dach zu machen. Vielleicht braucht sie das
Reisigbündel auch dazu. Es ist ein elendes Loch... Ich verstehe nicht, wie man
darin hausen kann. Es könnte vielleicht einem großen Hund oder einem ganz
kleinen Esel genügen. Es war gerade eine Mondnacht, ich konnte gut sehen. Die
Hütte ist ganz im Gebüsch versteckt und innen leer, es gibt keine Türe.
Deshalb habe ich meine Meinung geändert und verstanden, daß sie keine
Verbrecherin ist.»
«Du hättest dies nicht tun
dürfen. Aber sei ehrlich: mehr hast du nicht getan ?»
«Nein, Meister. Ich hätte sie nur
gerne gesehen; denn seit Jericho fällt sie mir schon auf, und mir scheint, daß
ich sie am Schritt erkenne, so leicht und schnell bewegt sie sich. Auch ihre
Gestalt muß geschmeidig und schön sein. Ja, man kann dies vermuten, trotz all
ihrer vielen Kleider. Aber ich habe nicht gewagt, sie auszuspionieren, während
sie am Boden ruhte. Vielleicht nimmt sie dabei den Schleier ab, doch ich habe
sie respektiert...»
Jesus betrachtet Judas ganz fest
und sagt dann: «Und du hast dabei gelitten. Doch du hast die Wahrheit gesagt.
Und ich will dir sagen, daß ich mit dir zufrieden bin. Das nächste Mal wird es
dich noch weniger kosten, gut zu sein. Alles liegt am ersten Schritt. Brav,
Judas», und er liebkost ihn.
Nun kommt Petrus herein. «Aber
Meister! Jene Frau ist verrückt geworden. Weißt du, wo sie sich aufhält? Ganz
nahe am Flußufer, in einer Holzhütte im dichten Gebüsch. Vielleicht hat dieser
Unterschlupf einmal einem Fischer oder einem Holzfäller gedient... Wer weiß.
Doch ich hätte nie gedacht, daß an diesem feuchten, in einen Graben
eingesunkenen und unter Gestrüpp begrabenen Ort eine arme Frau sein könnte.
Ich habe sie
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gefragt: "Sprich und antworte
aufrichtig: Bist du aussätzig?" Sie hat mir mit einem Flüstern geantwortet:
"Nein." "Schwöre es!" "Ich schwöre es!" "Paß auf, wenn du aussätzig bist und
es nicht eingestehst und in die Nähe des Hauses kommst und ich erfahre, daß du
unrein bist, dann lasse ich dich steinigen ... Aber wenn du verfolgt wirst,
weil du eine Diebin oder eine Mörderin bist, und hier wohnst, weil du Angst
vor uns hast, dann brauchst du dich nicht zu fürchten. Aber jetzt, heraus da!
Siehst du nicht, daß du im Wasser stehst ? Hast du Hunger ? Frierst du ? Du
zitterst ja. Ich bin alt, siehst du? Ich mache dir nicht den Hof. Ich bin alt
und anständig. Daher höre auf mich." So habe ich zu ihr gesprochen. Aber sie
wollte nicht kommen. Wir werden sie tot auffinden, denn sie stand wirklich im
Wasser.»
Jesus ist nachdenklich. Er
betrachtet die zwölf Gesichter, die ihn aufmerksam beobachten. Dann fragt er:
«Was meint ihr, daß geschehen soll?»
«Aber Meister, du mußt
entscheiden.»
«Nein, ich möchte eure Meinung
hören. Es ist eine Angelegenheit, die auch eure Beurteilung erfordert, und ich
darf eurem Recht dazu keine Gewalt antun.»
«Im Namen der Barmherzigkeit sage
ich, man kann sie nicht dort lassen», sagt Simon, und Bartholomäus: «Ich würde
vorschlagen, ihr heute den Raum der Pilger zur Verfügung zu stellen. Er ist
für die Pilger da, also kann auch sie ihn benützen.»
«Sie ist ein Mensch wie alle
anderen», bemerkt Andreas.
«Außerdem kommt heute niemand»,
fügt Matthäus hinzu.
«Ich würde vorschlagen, sie heute
zu beherbergen und es dann morgen dem Verwalter zu sagen. Er ist ein guter
Mensch», sagt Judas Thaddäus.
«Du hast recht. Gut so. Er hat
auch viele leere Ställe. Ein Stall ist immer noch ein Königspalast im
Vergleich zu diesem eingesunkenen Kahn», ruft Petrus aus.
«Geh also und sag es ihr»,
ermuntert ihn Thomas.
«Die Jungen haben noch nicht
gesprochen», bemerkt Jesus.
«Mir ist recht, was du tust»,
sagt der Vetter Jakobus, und der andere Jakobus gleichzeitig mit seinem
Bruder: «Uns auch.»
«Ich befürchte nur den
verhängnisvollen Fall, daß irgendein Pharisäer unvermutet daherkäme», sagt
Philippus.
«Oh, auch wenn wir in die Wolken
gingen, glaubst du, daß sie uns mit Anklagen verschont lassen würden? Sie
klagen Gott nur nicht an, weil er fern ist. Wenn sie ihn aber in der Nähe
hätten, wie dies bei Abraham, Jakob und Moses der Fall war, dann würden sie
auch ihm Vorwürfe machen... Wer ist denn für sie ohne Schuld?» sagt Judas von
Kerioth.
«Also dann geht und sagt ihr, daß
sie im Pilgerraum Obdach nehmen soll. Geh du, Petrus, mit Simon und
Bartholomäus. Ihr seid älter und
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werdet sie weniger beängstigen.
Sagt ihr, sie bekäme ein warmes Essen und ein trockenes Gewand. Wir haben das
von Isaak zurückgelassene. Seht ihr, wie alles nützlich ist? Es ist ein
Frauengewand, das einem Mann gegeben worden ist.»
Die Jünger lachen, denn über das
genannte Kleid muß schon manchmal gescherzt worden sein.
Die drei Älteren gehen... und
kehren bald wieder zurück.
«Es war nicht einfach, aber
schließlich ist sie gekommen. Wir haben ihr geschworen, daß wir sie nie stören
werden. Nun will ich ihr das Stroh und das Gewand bringen. Gib mir Gemüse und
Brot. Sie hat heute noch nichts gegessen. Natürlich, wer ist denn auch bei
einer solchen Sintflut unterwegs.» Der gute Petrus geht mit seinen Schätzen
hinaus.
«Und nun ein Befehl, der für alle
gilt: Unter keinen Umständen geht ihr in den Pilgerschlafraum. Morgen wollen
wir weiter sehen. Gewöhnt euch daran, das Gute zu tun um des guten Zweckes
willen, ohne Neugier und ohne Verlangen, darin eine Ablenkung oder anderes zu
finden. Seht ihr? Ihr habt euch beklagt, daß heute nichts zu tun sei. Wir
haben dem Nächsten unsere Liebe entgegengebracht; was hätten wir Größeres
vollbringen können? Wenn sie, und dies ist sicher, unglücklich ist, kann
unsere Hilfe für sie Erholung, Wärme und Schutz sein, die zusammen wertvoller
sind als ein wenig Nahrung, ein ärmliches Gewand und das feste Dach, das wir
ihr gegeben haben! Wenn sie eine Schuld auf sich geladen hat, eine Sünderin
ist, ein Geschöpf auf der Suche nach Gott, wird dann unsere Liebe nicht zur
schönsten Lehre, zum klarsten Hinweis, um sie auf den Weg zu Gott zu führen?»
Petrus kommt ganz leise zurück
und hört seinem Meister zu.
«Seht, Freunde. Israel hat viele
Lehrer, und sie reden und reden... Doch die Seelen bleiben, wie sie sind.
Warum? Weil die Seelen die Worte der Meister hören, aber auch ihre Werke
sehen. Diese Werke jedoch zerstören ihre Worte, und die Seelen bleiben, was
sie sind, wenn sie nicht noch schlimmer werden. Aber wenn ein Lehrer auch tut,
was er sagt, und in allen seinen Werken heiligmäßig handelt, auch in den
einfachsten materiellen Dingen, z.B. wenn er das Brot reicht, ein Kleid
schenkt, einen Unterschlupf für den notleidenden Nächsten beschafft, dann
bewirkt er, daß die Seelen Fortschritte machen und zu Gott gelangen; denn
seine Taten bekunden den Brüdern: Es gibt einen Gott, und Gott ist hier! Oh,
die Liebe! Wahrlich, ich sage euch, wer liebt, rettet sich selbst und die
anderen.»
«Du sagst es gut, Meister. Jene
Frau hat mir gesagt: "Der Retter sei gepriesen und der, der ihn gesandt hat,
und ihr alle mit ihm" ' und mir armem Kerl wollte sie die Füße küssen, während
sie unter ihrem dichten Schleier weinte... Hoffentlich kommt nicht irgendein
Nachtschwärmer von Jerusalem, sonst... Wer würde uns dann retten?»
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«Unser Gewissen rettet uns vor
dem Gericht unseres Vaters und das ist genug», sagt Jesus. Er setzt sich an
den Tisch, nachdem er die Speisen gesegnet und dargebracht hat.
Alles ist zu Ende.
164. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST DIE FEIERTAGE HEILIGEN»
Das Wetter ist nicht mehr so
ungut, und obgleich es immer noch regnet, erlaubt es den Leuten wieder, zum
Meister zu kommen.
Jesus steht abseits und hört zwei
oder drei Personen an, die ihm Wichtiges anzuvertrauen haben, dann aber wieder
beruhigt an ihren Platz zurückkehren. Er segnet auch ein Knäblein, das seine
kleinen Beine so unglücklich gebrochen hat, daß kein Arzt es behandeln will
und alle sagen: «Es ist unmöglich, sie sind oben, bei der Wirbelsäule,
gebrochen,» erklärt die Mutter ganz in Tränen aufgelöst: «Es ist mit seinem
Schwesterchen auf der Dorfstraße herumgesprungen. Da ist ein Herodianer mit
seinem Wagen und den Pferden im Galopp dahergefahren, und das Kind kam unter
den Wagen. Zuerst habe ich gedacht, es wäre tot. Doch es ist schlimmer. Du
siehst es selbst. Ich lasse es auf dem Brett liegen, weil man nichts anderes
tun kann. Es leidet, leidet, denn der Knochen ist zerstört. Und wenn der
Knochen nicht mehr schmerzen wird, dann wird es dennoch leiden, weil es nur
noch auf dem Rücken liegen kann.»
«Tut es sehr weh?» fragt Jesus
mitleidig den weinenden Knaben.
«Ja.»
«wo?»
«Hier und hier», und er berührt
mit seinen unsicheren Händchen die beiden Hüftknochen. «Und dann hier und
hier», und er zeigt nach dem Rücken und den Schultern. «Das Bett ist hart, und
ich möchte mich bewegen, ich...», und er weint ganz verzweifelt.
«Möchtest du auf meine Arme
kommen? Willst du? Ich will dich mitnehmen dort hinauf, von wo du alle
beobachten kannst, während ich rede...»
«Ja...» (Dieses Ja ist voller
Verlangen.) Das arme Kind streckt bittend die Ärmchen aus.
«Komm also!»
«Aber das ist doch nicht möglich.
Meister, er kann doch nicht. Er hat zu starke Schmerzen... Ich darf ihn nicht
einmal beim Waschen bewegen...»
«Ich werde ihm nicht weh tun...»
«Aber der Arzt...»
32
«Der Arzt ist der Arzt. Ich bin
ich! Warum bist du gekommen?»
«Weil du der Messias bist»,
antwortet die Frau und wird weiß und rot im Gesicht, hin- und hergerissen
zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
«Also? Komm, Kleiner!» Jesus legt
einen Arm unter die leblosen Beinchen, den anderen unter die Schultern, hebt
das Kind hoch und fragt: «Tut es weh? Nein? Gut, dann sag Mama Lebewohl, und
wir wollen gehen.»
Dann geht er mit seiner Last
durch die Menge, die Platz macht, und erreicht eine Art von Podest, das sie
für ihn errichtet haben, damit ihn alle sehen können, auch jene im Hof. Er
läßt sich einen Hocker geben und setzt sich nieder, nimmt das Kind auf die
Knie und fragt es: «Gefällt es dir? Nun sei brav und höre auch du gut zu», und
Jesus beginnt zu sprechen. Seine Rede begleitet Jesus mit Gebärden der rechten
Hand, während er mit der Linken das Kind stützt, das die Menschen beobachtet,
glücklich darüber, etwas sehen zu können. Es lächelt der Mutter zu, die hinten
im Raum in bangender Hoffnung zittert. Das Kind spielt mit der Kordel am
Gewand Jesu und mit dem weichen, blonden Bart des Meisters und einer Locke
seiner langen Haare.
«Es steht geschrieben: "Deine
Arbeit sei ehrlich und den siebten Tag widme dem Herrn und deiner Seele." Dies
ist mit dem Gebot der Sabbatruhe gesagt worden.
Der Mensch ist nicht mehr als
Gott. Aber Gott vollendete seine Schöpfung in sechs Tagen und ruhte am
siebenten Tag. Weshalb erlaubt sich der Mensch, dem Beispiel des Vaters nicht
zu folgen und seinem Gebot nicht zu gehorchen? Ist es ein törichter Befehl?
Nein! Wahrlich, es ist ein heilsamer Befehl, sowohl in körperlicher, als auch
in moralischer und geistiger Hinsicht.
Der ermüdete Körper des Menschen
braucht Ruhe, wie derjenige jedes erschaffenen Wesens. Der Ochse, der auf dem
Felde gebraucht wird, der Esel, der als Lasttier nützlich ist, das Schaf, das
uns das Lamm gebärt und die Milch gibt, sie alle ruhen sich auch aus, und wir
lassen sie ruhen, um sie nicht zu verlieren. Auch die Erde des Feldes ruht,
damit sie sich in den Monaten, in denen sie ohne Saat bleibt, mit den Salzen,
die mit dem Regenwasser fallen oder aus dem Boden stammen, nähren und sättigen
kann. Sie alle ruhen, auch ohne unsere Einwilligung zu erbitten, die Tiere und
Pflanzen, die den ewigen Gesetzen einer weisen Erneuerung gehorchen. Warum
will denn der Mensch weder den Schöpfer nachahmen, der am siebten Tage ruhte,
noch die ihm unterlegene Schöpfung, sei es die Pflanzen- oder die Tierwelt,
die sich nach diesen Gesetzen zu richten weiß und ihnen gehorcht, ohne ein
anderes Gebot erhalten zu haben, als dasjenige, welches in ihrem Instinkt
verankert ist?
Es gibt auch eine sittliche
Ordnung außer der physischen. Sechs Tage lang dient der Mensch allem und
allen. Wie ein Faden im Triebwerk des
33
Webstuhls geht er auf und ab,
ohne je sagen zu können: "Jetzt beschäftige ich mich mit mir selbst und mit
meinen Lieben. Ich bin Vater, und heute gehöre ich meinen Kindern. Ich bin
Bräutigam, und heute widme ich mich meiner Braut. Ich bin Bruder und freue
mich an meinen Brüdern. Ich bin Sohn und kümmere mich heute um meine alten
Eltern."
Es ist ein Befehl für unsere
Seele. Die Arbeit ist heilig, noch heiliger ist die Liebe, am heiligsten ist
Gott. Dessen eingedenk soll wenigstens ein Tag der Woche unserem guten und
heiligen Vater geschenkt werden, der uns das Leben gegeben hat und es uns
erhält. Warum ihn weniger gut behandeln als den irdischen Vater, die Kinder,
die Brüder, die Braut, unseren eigenen Körper? Der Tag des Herrn gehöre ihm!
Wie angenehm ist es, sich am Abend nach der Tagesarbeit in einem Haus voller
Liebe auszuruhen. Wie angenehm, es nach langer Reise wieder zu erreichen.
Warum sollte man nach sechs Tagen der Arbeit nicht das Haus des Vaters
aufsuchen? Warum nicht wie der Sohn sein, der von einer sechstägigen Reise
zurückkehrt und sagt: "Siehe, da bin ich, um meinen Ruhetag mit dir zu
verbringen "?
Aber nun hört gut zu. Ich habe
gesagt: "Deine Arbeit sei ehrlich!"
Ihr wißt, daß unser Gesetz die
Nächstenliebe vorschreibt. Die Redlichkeit der Arbeit gehört zu dieser
Nächstenliebe. Der redliche Mensch tätigt keine betrügerischen Geschäfte,
unterschlägt dem Arbeiter nicht den gerechten Lohn und nützt ihn nicht auf
sündhafte Weise aus. Im Bewußtsein, daß der Diener und der Arbeiter Leib und
Seele haben wie er, behandelt er ihn nicht wie einen leblosen Stein, den man
mit dem Eisen schlagen oder mit dem Fuß stoßen darf. Wer nicht so handelt, der
liebt den Nächsten nicht und sündigt daher in den Augen Gottes. Verflucht ist
sein Gewinn, selbst wenn er davon die Abgabe für den Tempel zahlt.
Oh, welch verlogene Gabe! Wie
kann er es wagen, sie zu den Füßen des Altares niederzulegen, wenn sie trieft
vom Blut und den Tränen des ausgebeuteten Untergebenen oder wenn sie Diebstahl
genannt werden muß, oder: Verrat am Nächsten; denn der Dieb ist ein Verräter
an seinem Mitmenschen. Wahrlich, der Feiertag ist nicht geheiligt, wenn er
nicht dazu dient, daß der Mensch sich erforscht, und wenn er nicht damit
verbracht wird, sich zu bessern und die während den sechs Tagen begangenen
Sünden wieder gutzumachen.
Ja, das ist die Heiligung des
Feiertages! Das, und nicht eine andere, rein äußerliche Handlung, die eure
Denkweise nicht um ein Jota ändert. Gott will lebendige Werke, nicht
Trugbilder von Werken.
Vorgespielter Gehorsam gegenüber
dem Gesetz ist Scheinhandlung. Scheinhandlung ist die vorgetäuschte Heiligung
des Sabbats, die Ruhe, die gehalten wird, nur um damit den Gehorsam gegenüber
dem Gesetz öffentlich kundzutun, während man die Mußestunden dazu benützt, um
34
dem Laster in der Ausschweifung
und Schlemmerei zu frönen, sowie im Überlegen, wie man in der kommenden Woche
den Nächsten ausbeuten und ihm schaden könnte.
Die Heiligung des Sabbats, also
die körperliche Ruhe, ist eine Scheinhandlung, wenn sie nicht gepaart ist mit
einer inneren, seelischen, heiligen Arbeit ehrlicher Selbsterforschung, einer
demütigen Selbsterkenntnis seiner eigenen Erbärmlichkeit, einem ernsthaften
Vorsatz, sich während der kommenden Woche besser zu verhalten.
Ihr werdet sagen: "Doch wenn man
dann von neuem in die Sünde fällt?" Was würdet ihr von einem Kinde halten,
das, weil es gefallen ist, keinen Schritt mehr machen wollte, um nicht wieder
zu fallen? Daß es ein Dummkopf ist, daß es sich nicht zu schämen braucht wegen
seiner Unsicherheit beim Gehen, denn alle sind wir unsicher gewesen, als wir
noch klein waren, und daß unser Vater uns deswegen doch geliebt hat. Wer
erinnert sich nicht, wie uns das Umfallen eine Flut mütterlicher Küsse und
väterlicher Liebkosungen eintrug?
Dasselbe tut unser allergütigster
Vater, der im Himmel ist. Er neigt sich über seinen Kleinen, der am Boden
weint, und sagt: "Weine nicht! Ich werde dich aufheben. Das nächste Mal wirst
du vorsichtiger sein. Komm in meine Arme. Da wird alles Weh vergehen, und du
wirst gestärkt, geheilt und glücklich daraus hervorgehen." Das sagt unser
Vater, der im Himmel ist. Das sage ich euch. Wenn es euch gelingen würde, den
Glauben an den Vater zu haben, würde euch alles gelingen. Einen Glauben, gebt
acht, wie jener eines Kindes! Das Kind hält alles für möglich. Es fragt nicht,
ob und wie etwas geschehen kann. Es ermißt die Tragweite eines Geschehens
nicht. Es glaubt dem, der in ihm Vertrauen erweckt, und tut, was er ihm sagt.
Seid wie die Kinder vor dem Allerhöchsten. Wie liebt er diese verirrten
Engelchen, welche die Schönheit der Erde sind! Genauso liebt er die Seelen,
die einfach, gut und rein sind wie ein Kind.
Wollt ihr den Glauben eines
Kindes sehen, um zu lernen, wie man Vertrauen haben muß? Seht! Ihr alle habt
den Kleinen bemitleidet, den ich hier an meiner Brust halte und der, entgegen
den Aussagen der Ärzte und der Mutter, beim Sitzen auf meinem Schoß nicht
geweint hat. Seht ihr? Das Kind tat schon längere Zeit nichts anderes, als Tag
und Nacht zu weinen, ohne Ruhe zu finden; hier weint es nicht. Es ist
friedlich an meinem Herzen eingeschlafen. Ich habe es gefragt: "Willst du in
meine Arme kommen?" Es hat geantwortet: "Ja", ohne an seinen elenden Zustand
zu denken, an den möglichen Schmerz, den es infolge einer Bewegung hätte
empfinden können. Es hat in meinem Antlitz Liebe gesehen und "Ja" gesagt, und
ist gekommen. Es hat keinen Schmerz mehr empfunden. Es hat sich darüber
gefreut, hier oben zu sein, alles sehen zu können, auf einen weichen Körper
gesetzt zu werden und nicht mehr auf dem harten Brett liegen zu müssen. Es hat
gelächelt, gespielt und ist mit einer Locke meiner
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Haare in den kleinen Händen
eingeschlafen. Nun will ich das Kind mit einem Kuß wecken...» und Jesus küßt
das Kind auf die braunen Härchen, und es erwacht mit einem Lächeln.
«Wie heißt du?»
«Johannes.»
«Höre, Johannes, willst du gehen?
Willst du zu deiner Mutter gehen und ihr sagen: "Der Messias segnet dich
deines Glaubens wegen?"»
«Ja, ja», und der Kleine klatscht
in die Händchen und fragt: «Du machst, daß ich gehen kann? Auf die Wiesen?
Ohne das harte Brett? Ohne die Ärzte, die mir weh tun?»
«Nicht mehr, nie mehr!»
«Oh, wie ich dich liebe!», und
das Kind wirft seine Ärmchen um den Hals Jesu und küßt ihn, und um ihn noch
besser küssen zu können, kniet es mit einem Ruck auf die Knie Jesu, und eine
Menge unschuldiger Küsse fällt auf Stirn, Augen und Wangen Jesu.
Das Kind, mit seinen bis anhin
gebrochenen Knochen, bemerkt in seiner Freude nicht einmal, daß es sich
bewegen kann. Aber der Schrei der Mutter und der Menge wecken es auf und es
blickt erstaunt um sich. Seine großen, unschuldigen Augen im abgemagerten
Gesichtlein schauen fragend. Immer noch auf den Knien, sein rechtes Ärmchen um
den Hals Jesu gelegt, fragt es vertrauensvoll, indem es auf die aufgeregten
Menschen und auf die Mutter im Hintergrund zeigt, die in einem fort:
«Johannes, Jesus, Johannes, Jesus!» ruft, «warum schreien die Leute und die
Mutter? Was haben sie denn? Bist du Jesus?»
«Ich bin es. Die Leute schreien,
weil sie froh sind, daß du wieder gehen kannst. Leb wohl, kleiner Johannes.»
Jesus küßt und segnet das Kind. «Geh zu deiner Mutter und sei lieb!»
Das Kind rutscht selbstsicher von
den Knien Jesu, rennt zur Mutter, wirft sich ihr an den Hals und sagt: «Jesus
segnet dich. Warum weinst du?»
Als die Leute sich beruhigt
haben, ruft Jesus laut: «Macht es wie der kleine Johannes, ihr, die ihr in
Sünde fallt und euch verletzt. Glaubt an die Liebe Gottes. Der Friede sei mit
euch!»
Während sich die Hosannarufe der
Menge mit dem glücklichen Weinen der Mutter vermengen, verläßt Jesus, von den
Seinen geschützt, den Raum.
Das ist das Ende.
36
165. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST NICHT TÖTEN»; TOD DES DORAS
«"Du sollst nicht töten", steht
geschrieben.
Welcher der beiden Gebotsgruppen
gehört dieses Gebot an?
"Der zweiten?" sagt ihr. Seid ihr
sicher?
Ich frage euch ebenso: Besteht
die Schuld darin, daß man sich gegen Gott oder den Getöteten versündigt? Ihr
sagt: "Gegen den Getöteten?" Seid ihr dessen sicher?
Weiterhin frage ich euch: Geht es
nur um die Sünde des Mordes? Wenn man tötet, begeht man nur diese einzige
Sünde?
"Nur diese" ' sagt ihr? Hegt
niemand einen Zweifel? Antwortet mit lauter Stimme. Einer soll für euch alle
reden. Ich warte.» Jesus beugt sich nieder, um ein kleines Mädchen zu
streicheln, das ganz nah zu ihm hingetreten ist und ihn verzückt betrachtet
und dabei vergißt, in seinen Apfel, den ihm die Mutter gegeben hat, damit es
sich ruhig verhält, zu beißen.
Ein alter, stattlicher Mann
erhebt sich und sagt: «Höre, Meister! Ich bin ein alter Synagogenvorsteher,
und man hat mich gebeten, für sie zu sprechen. So spreche ich für alle. Es
scheint mir und es scheint uns, nach Gerechtigkeit geantwortet zu haben,
dementsprechend, was man uns gelehrt hat. Ich gründe meine Sicherheit auf das
Kapitel des Gesetzes über Mord und Schläge. Doch du weißt, daß wir gekommen
sind, um belehrt zu werden, da wir in dir Weisheit und Wahrheit erkennen. Wenn
ich mich irre, dann erleuchte meine Finsternis, damit der alte Diener zu
seinem lichtumkleideten König gehen kann. Wie an mir, so handle auch an ihnen,
die zu meiner Herde gehören und mit ihrem Hirten hergekommen sind, um an den
Quellen des Lebens zu trinken.» Der Mann verneigt sich mit größter Achtung,
bevor er sich wieder setzt.
«Wer bist du, Vater?»
«Kleophas von Emmaus, dein
Diener.»
«Nicht meiner. Der Diener
desjenigen, der mich gesandt hat, denn dem Vater gebührt jeglicher Vorrang und
alle Liebe im Himmel, auf Erden und in den Herzen. Der erste, der ihm diese
Ehre erweist, ist sein Wort, das auf dem makellosen Tisch, so, wie es der
Priester mit den Opferbroten macht, die Herzen der guten Menschen nimmt und
sie aufopfert. Aber höre, Kleophas, damit du ganz erleuchtet zu Gott hingehen
kannst, wie es dein heiliger Wunsch ist:
Um die Strafwürdigkeit einer
Sünde einzuschätzen, muß man die Umstände bedenken, die ihr vorangehen, ihr
den Weg bahnen, sie entschuldigen, sie erklären. Wen habe ich erschlagen? Was
habe ich erschlagen? Wo habe ich erschlagen? Womit habe ich erschlagen? Warum
habe ich erschlagen? Wie und wann habe ich erschlagen? All das muß sich jener
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fragen, der getötet hat, bevor er
vor Gott hintritt, um ihn um Vergebung zu bitten.
"Wen habe ich getötet?"
Einen Menschen. Ich sage: Einen
Menschen. Ich bedenke und berücksichtige nicht, ob er arm oder reich, frei
oder Sklave ist. Für mich gibt es keine Sklaven oder Machthaber. Es gibt nur
Menschen, die von einem Einzigen erschaffen worden und darum alle gleich sind.
Daher sind vor der Majestät Gottes auch die mächtigsten Herrscher der Erde
Staub, und in den Augen Gottes und in meinen Augen gibt es nur ein Sklaventum:
jenes der Sünde und daher unter Satan. Das alte Gesetz unterscheidet zwischen
Freien und Sklaven und bis ins kleinste gehend unterscheidet es zwischen dem
Töten durch einen Schlag und demjenigen, das es dem Opfer erlaubt, noch ein
bis zwei Tage zu überleben. In gleicher Weise macht es einen Unterschied, ob
der Stoß oder Hieb an einer schwangeren Frau zu deren Tod führt, oder ob nur
ihre Leibesfrucht getötet wird. Das aber ist gesagt worden, als das Licht der
Vollkommenheit noch fern war. Nun ist dieses Licht unter euch und sagt:
"Jeder, der seinesgleichen tötet, sündigt." Er sündigt nicht nur gegen den
Menschen, sondern auch gegen Gott.
Was ist der Mensch? Der Mensch
ist das überlegene Geschöpf, das Gott als König über alle Schöpfung gesetzt
hat. Gott hat es nach seinem Ebenbild und seiner Ähnlichkeit erschaffen; nach
seiner Ähnlichkeit, indem er ihm die Ähnlichkeit im Geiste verlieh, nach
seinem Ebenbild, indem der Mensch die Verkörperung seiner vollendeten Absicht
ist. Schaut in die Luft, auf die Erde und in die Gewässer. Seht ihr vielleicht
ein Tier oder eine Pflanze, die, so schön sie auch sein mag, dem Menschen
gleichkommt? Das Tier läuft, ißt, trinkt, schläft, zeugt, arbeitet, singt,
fliegt, schleicht und klettert, aber es hat keine Sprache. Auch der Mensch
kann laufen und springen, und im Sprung ist er so gewandt, daß er mit dem
Vogel wetteifert; er kann schwimmen und ist dabei so behend, daß er dem Fisch
gleicht; er kann schleichen und man könnte meinen, er wäre eine Schlange; er
kann klettern wie ein Affe, er kann singen wie ein Vogel. Er kann auch zeugen
und sich vermehren. Doch überdies kann er sprechen.
Sagt nicht: "Ein jedes Tier hat
seine Sprache." O ja, das eine muht, das andere blökt, das andere wiehert, das
andere zwitschert, eines trillert und ein anderes grunzt. Doch vom ersten bis
zum letzten Rind haben sie immer das gleiche und einzige Brüllen. So wird das
Schaf bis ans Ende der Welt blöken, und der letzte Esel wird genauso schreien,
wie der erste es getan hat, und der Sperling wird stets sein kurzes Zwitschern
von sich geben, während die Lerche immer dieselbe Hymne an die Sonne und die
Nachtigall die ihre an die Sternennacht singen werden, und dies bis zum
letzten Tag der Welt, so wie sie einst den ersten Sonnenaufgang und die erste
Nacht begrüßt hat. Der Mensch hingegen hat nicht nur eine Kehle und
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eine Zunge, sondern auch ein
ganzes System von Nerven, die im Gehirn, dem Sitz des Verstandes,
zusammenkommen. Der Mensch kann neue Eindrücke erfassen, sie gedanklich
verwerten und ihnen einen Namen geben.
Adam nannte seinen Freund "Hund"
und ihn, der ihm am meisten glich mit seiner dichten, hochstehenden Mähne über
dem schwach bärtigen Gesicht, "Löwe". Er nannte "Schaf" das Lamm, das ihn
sanft begrüßte, und "Vögel" die gefiederten Blumen, die wie ein Schmetterling
fliegen, dazu lieblich singen, was der Schmetterling nicht kann. Dann ersannen
die Nachkommen Adams im Verlauf der Jahrhunderte immer neue Namen, so wie sie
langsam die Werke Gottes in den Geschöpfen kennenlernten und erkannten, oder
weil sie durch den göttlichen Funken, der im Menschen ist, nicht nur Kinder
zeugten, sondern auch nützliche oder schädliche Gegenstände für sie anfertigen
konnten, je nachdem sie mit oder gegen Gott waren. Mit Gott sind alle, die
gute Werke schaffen und vollbringen. Gegen Gott sind jene, die schlechte Dinge
zum Schaden des Nächsten tun. Gott rächt die Qualen, die an seinen Kindern
durch einen verderbten menschlichen Geist verübt werden.
Der Mensch ist also das von Gott
bevorzugte Geschöpf. Auch wenn er jetzt schuldig ist, so ist er dennoch jenes,
das ihm am teuersten ist. Dafür legt er Zeugnis ab, indem er sein eigenes Wort
in die Welt gesandt hat: nicht einen Engel, nicht einen Erzengel, nicht einen
Cherub, nicht einen Seraph, sondern sein Wort, damit es in der Hülle
menschlichen Fleisches den Menschen erlösen soll. Er hat diese Hülle nicht für
unwürdig gehalten, um den leidensfähig zu machen, der, wie der Vater, ein ganz
reiner Geist ist und als solcher nicht hätte leiden und die Schuld des
Menschen sühnen können.
Der Vater hat mir gesagt: "Du
wirst Mensch sein: der Mensch! Ich hatte einen erschaffen, so vollkommen wie
alles, was ich vollbringe. Er war für ein schönes Leben und einen süßen Schlaf
ausersehen, für ein seliges Erwachen und einen glückseligen, ewigen Aufenthalt
in meinem himmlischen Paradies.' Aber, du weißt es: in dieses Paradies kann
nichts Unreines eingehen; denn in ihm haben Ich, Wir, der Dreieinige Gott,
unseren Thron, und vor ihm darf nur Heiligkeit sein. Ich bin der, der ich bin.
Meine göttliche Natur, unser geheimnisvolles göttliches Wesen, kann nur von
Seelen ohne Makel wahrgenommen werden. Nun ist der Mensch durch Adam und in
Adam unrein. Geh, reinige ihn! Ich will es! Du sollst von nun an der Mensch,
der Erstgeborene sein. Denn als erster wirst du hier mit sterblichem Fleische,
doch frei von jeder Sünde und mit einer
Der heiligsten Jungfrau Maria,
der hervorragenden Eva, welche die Vollkommenheit der Stammeltern nicht nur
erreichte, sondern weitaus übertraf, gewährte Gott von neuem einen sanften
Schlaf", ohne wirklichen und wesentlichen Tod, wie wir dies in diesem Werk
später noch erfahren werden.
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Seele ohne Erbsünde eingehen.
Jene, die dir vorausgegangen sind, und jene, die nach dir kommen, werden das
Leben haben durch deinen Tod als Erlöser!" Nur einer, der geboren worden ist,
kann sterben. Ich wurde geboren und ich werde sterben.
Der Mensch ist das bevorzugte
Geschöpf Gottes. Nun sagt mir: Wenn ein Vater viele Kinder hat, doch eines von
diesen sein bevorzugtes, sein Augenstern ist und getötet wird, leidet dann
jener Vater nicht mehr, als wenn ein anderes seiner Kinder getötet worden
wäre? So dürfte es zwar nicht sein, denn der Vater müßte allen Kindern
gegenüber gerecht sein. Doch es kommt vor, weil der Mensch unvollkommen ist.
Gott kann dies in Gerechtigkeit tun, denn der Mensch ist das einzige Geschöpf
unter den Erschaffenen, das gemeinsam mit dem Schöpfer-Vater eine geistige
Seele hat, ein unleugbares Zeichen göttlicher Vaterschaft.
Wenn man einem Vater das Kind
tötet, versündigt man sich dann nur gegen das Kind? Nein, auch gegen den
Vater! Der Tod trifft im Fleisch das Kind, im Herzen den Vater, und beiden
wird eine Wunde zugefügt. Wenn man einen Menschen tötet, sündigt man dann nur
gegen den Menschen? Nein, auch gegen Gott! Man sündigt gegen den Menschen im
Fleisch, gegen Gott aber in seinem Recht, weil Leben und Tod von ihm allein
gegeben und genommen werden. Töten heißt Gewalt antun: Gott und dem Menschen.
Töten ist Eindringen in den Bereich Gottes. Töten ist Fehlen gegen das Gebot
der Liebe. Wer tötet, liebt Gott nicht, denn er zerstört eines seiner Werke:
einen Menschen. Wer tötet, liebt den Nächsten nicht, denn er nimmt dem
Nächsten das, was der Mörder für sich selbst beansprucht: das Leben. Damit
sind die ersten beiden Fragen beantwortet.
"Wo habe ich getötet?"
Man kann unterwegs töten, im Haus
des Angegriffenen oder aber das Opfer ins eigene Haus gelockt haben. Dem einen
oder anderen Körperteil kann durch einen Schlag noch größerer Schmerz zugefügt
werden, oder man kann auch zwei Morde in einem begehen, wenn man eine
schwangere Frau mit ihrer Frucht umbringt.
Man kann unterwegs töten, ohne
die Absicht dazu zu haben. Ein Tier, über das man die Herrschaft verliert,
kann den Vorübergehenden töten, ohne daß man den Vorsatz hatte zu töten;
anders ist der Fall, wenn dagegen einer mit einem Dolch unter seinem
heuchlerischen Leinengewand ins Haus des Feindes dringt – und oft betrachtet
man zu unrecht einen Besseren als Feind – oder ihn in sein Haus einlädt, ihn
mit Ehren empfängt, dann aber erdrosselt und in die Zisterne wirft; dann liegt
Vorsätzlichkeit vor, und die Sünde ist vollständig in der Bosheit, Roheit und
Gewalttätigkeit.
Wenn ich die Leibesfrucht mit der
Mutter töte, wird Gott mich für zwei Leben zur Rechenschaft ziehen. Denn der
Leib, der einen neuen Menschen
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zeugt, ist gemäß dem Gebot Gottes
heilig, und heilig ist das kleine Leben, das in ihm heranreift und dem Gott
eine Seele gegeben hat.
"Womit habe ich getötet?"
Es ist umsonst, wenn einer sagt:
"Ich wollte nicht töten", und beim Hingehen eine ganz sichere Waffe
mitgenommen hat. Im Zorn werden selbst die Hände, die am Boden aufgelesenen
Steine oder der vom Baum heruntergerissene Ast zu Waffen. Wer aber kaltblütig
den Dolch oder die Axt betrachtet, sie wetzt, wenn sie ihn zu wenig scharf
dünken, sie unsichtbar auf seinem Leibe trägt, wo sie dennoch mit Leichtigkeit
gezückt werden können, und so vorbereitet zum Rivalen hingeht, der kann
bestimmt nicht sagen: "Ich hatte nicht die Absicht zu töten." Wer mit giftigen
Kräutern und Früchten, die er eigens dafür gepflückt hat, Pulver oder Getränke
bereitet und dann dem Opfer dieses Gift als Gewürz oder als Arznei anbietet,
kann bestimmt nicht sagen: "Ich wollte nicht töten."
Nun hört, ihr Frauen, ihr
verschwiegenen, unbestraften Mörderinnen so vieler kleiner Menschenleben! Mord
ist auch das Entfernen einer im Schoß sich entwickelnden Leibesfrucht, ob sie
nun aus dem Samen einer sündhaften Verbindung hervorgegangen oder sonst
unerwünscht ist, weil sie eine unnütze Bürde und eine eurem Reichtum
abträgliche Belastung bedeutet. Es gibt nur einen Weg, diese Last nicht tragen
zu müssen: keusch zu bleiben. Verbindet mit der Unkeuschheit nicht noch Mord,
mit dem Ungehorsam nicht noch Gewalt und glaubt ja nicht, daß Gott nicht
sieht, was den Menschen verborgen bleibt. Gott sieht alles und vergißt nichts.
Seid auch ihr dessen eingedenk!
"Warum habe ich getötet?"
Oh, so vieler Gründe wegen! Der
plötzliche Verlust des inneren Gleichgewichtes, der in euch eine heftige
Gemütsbewegung auslöst, wie etwa, das Ehegemach entehrt vorzufinden, der Dieb
im Haus, der Wüstling, welcher der eigenen Tochter Gewalt antun will, bis zur
kaltblütigen und wohlüberlegten Erwägung, sich eines gefährlichen Zeugens zu
entledigen, eines Menschen, der einem den Weg versperrt, dessen Posten oder
Geldbeutel man erstrebt: Das sind die vielen und abermals so vielen Gründe.
Wenn Gott demjenigen noch verzeihen kann, der in einem Anfall höchsten
Schmerzes zum Mörder wird, so verzeiht er dem nicht,' der aus Gier nach Macht
oder Ehrsucht tötet.
Handelt deshalb immer gerecht,
und ihr werdet niemals den Blick oder das Wort anderer zu fürchten haben. Seid
zufrieden mit dem, was euer eigen ist, und so werdet ihr nicht das Gut des
anderen begehren, um dadurch noch zum Mörder zu werden.
' d.h. wenn jemand unbußfertig
verbleibt. (siehe folgendes Kapitel, wo es bezüglich des grausamen Doras
heißt: «Die aufrichtige Reue hätte genügt... doch, er war der Unbußfertige
...» Also verzeiht Gott jedem Sünder, jedoch unter der Bedingung, daß er
bereut.)
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"Wie habe ich getötet?"
Bin ich nach dem ersten erregten
Gefühlsausbruch weiterhin grausam vorgegangen? Oftmals vermag sich der Mensch
nicht mehr zu beherrschen, denn Satan stürzt ihn ins Unglück wie ein
Schleuderer den Stein schleudert. Aber was würdet ihr von einem Stein sagen,
der, nachdem er das Ziel erreicht hat, von selbst zur Schleuder zurückkehrte
und noch einmal geschleudert werden wollte, um noch einmal zu treffen? Ihr
würdet sagen: "Er ist von einer höllischen und magischen Kraft besessen." So
ist der Mensch, der nach dem ersten Schlag noch einen zweiten, einen dritten,
einen zehnten Schlag versetzt, ohne daß sein Ingrimm nachläßt. Nach dem ersten
Ausbruch legt sich der Zorn und an seine Stelle tritt die Vernunft, wenn jener
aus noch gerechtfertigten Gründen hervorgerufen wurde. Während die Grausamkeit
sich steigert, je mehr der Überfallende das Opfer des wirklichen Mörders ist,
nämlich von Satan, der mit dem Bruder kein Mitleid hat und auch nicht haben
kann, da er Satan ist, eben Haß ist!
"Wann habe ich getötet?"
Im ersten Gefühlsausbruch ?
Nachdem dieser sich bereits gelegt hatte ? Als ich Verzeihung vortäuschte,
während die Rachegedanken immer erbitterter wurden? Habe ich vielleicht Jahre
mit dem Mord zugewartet, um doppeltes Leid zuzufügen, indem ich den Vater
durch die Kinder getötet habe?
Ihr seht, daß man beim Töten
sowohl gegen die erste als auch gegen die zweite Gruppe der Gebote verstößt,
weil ihr das Recht Gottes für euch beansprucht und euren Nächsten mit Füßen
tretet. Sünde also gegen Gott und den Nächsten! Ihr begeht nicht nur die Sünde
des Mordes. Ihr begeht auch die Sünde des Zornes, der Gewalttätigkeit, der
Anmaßung, des Ungehorsams, des Frevels und manchmal auch der Habgier, wenn ihr
tötet, um euch eines Postens oder eines Geldbeutels zu bemächtigen.
Ich deute dies nur an und werde
ein andermal genauer darauf eingehen. Man begeht einen Mord nicht nur mit der
Waffe und mit dem Gift, sondern auch durch die Verleumdung. Denkt darüber
nach.
Weiterhin sage ich euch: Der
Herr, der einen Sklaven schlägt und dies mit einer solchen Arglist, daß ihm
dieser nicht in den Händen stirbt, ist doppelt schuldig. Der Mensch als Sklave
ist nicht das Gut seines Meisters: es ist eine Seele, die Gott angehört. In
Ewigkeit sei jeder verflucht, der seinen Sklaven schlimmer als einen Ochsen
behandelt!»
Jesu Augen funkeln und er spricht
nun laut. Alle schauen ihn verwundert an, denn bisher hatte er sehr ruhig
gesprochen.
«Verflucht sei er! Das neue
Gesetz schafft diese Härte ab, die angemessen war, als es im Volk Israel noch
keine Heuchler gab, die Heiligkeit vortäuschen und ihren Scharfsinn nur dazu
anstrengen, das Gesetz Gottes auszunützen und zu umgehen. Aber jetzt, da es in
Israel wimmelt von
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diesen schlangenhaften Wesen, die
sich erlauben, was ihnen beliebt, nur weil sie es sind, diese elenden
Machthaber, die Gott mit Abscheu und Ekel ansieht; ich sage euch: Das gibt es
nicht mehr!
Die Sklaven sinken auf der
Scholle oder in der Mühle um. Sie fallen nieder mit gebrochenen Knochen oder
dem durch Geißelhiebe bloßgelegten Fleisch. Man bezichtigt sie unwahrer
Vergehen, um sie schlagen zu können und um den eigenen satanischen Sadismus zu
rechtfertigen. Sogar das Wunder Gottes wird als Anklage benützt, um sich das
Recht zu nehmen, sie zu schlagen. Weder die Macht Gottes noch die Heiligkeit
des Sklaven vermag ihre niederträchtige Seele zu bekehren. Sie kann nicht
bekehrt werden. Dort, wo eine Sättigung des Bösen vorliegt, kann das Gute
nicht eindringen. Doch Gott sieht es und sagt: "Genug!"
Zuviele Kaine gibt es, die Abel
töten. Was glaubt ihr, ihr unreinen, nach außen weiß übertünchten und mit
Worten des Gesetzes beschriebenen Gräber, in deren Innern König Satan wandelt
und aus denen der schauerlichste Satanismus hervorquillt, was glaubt ihr? Daß
nur Abel der Sohn Adams gewesen sei, und daß der Herr nur auf jene mit
Wohlgefallen blicken würde, die nicht Sklaven anderer Menschen sind, und das
einzige Opfer von sich stoße, das ein Sklave ihm darbringen kann: seine mit
Tränen gewürzte Rechtschaffenheit? Nein, in Wahrheit sage ich euch: Jeder
Gerechte ist ein Abel, auch wenn er mit Fesseln bedeckt ist, selbst wenn er
sterbend auf der Ackerscholle liegt oder wegen eurer Geißelhiebe aus allen
Wunden blutet; daß jedoch alle Ungerechten Kaine sind, die Gott aus Hochmut
opfern und nicht, um ihm Ehre zu erweisen, und das geben, was durch ihre
Sünden verunreinigt und vom Blut befleckt ist.
Ihr Wunderschänder!
Menschenschänder! Mörder! Frevler! Hinaus! Weg aus meinen Augen! Genug! Ich
sage euch: Genug! Es ist mein Recht, es zu sagen, denn ich bin das göttliche
Wort, das die göttliche Lehre verwirklicht. Hinaus!
Jesus steht aufrecht auf einem
primitiven Podium und wirkt dermaßen Achtung gebietend, daß er Furcht
einflößt. Den rechten Arm ausgestreckt, um zur Tür zu weisen, mit Augen, die
zwei blauen Feuern gleichen und die anwesenden Sünder zu durchbohren scheinen.
Das kleine Mädchen zu Jesu Füßen beginnt zu weinen und flüchtet. Die Jünger
betrachten sich erstaunt und blicken umher, um zu entdecken, an wen wohl die
Schmährede gerichtet ist. Auch das Volk dreht sich mit fragenden Blicken nach
allen Seiten.
Endlich klärt sich das Geheimnis.
Im Hintergrund, noch vor der Türe, halbverdeckt von einer Gruppe vornehmer
Persönlichkeiten, kommt Doras zum Vorschein.
Noch dünner, noch gelber, noch
runzliger geworden, ganz Nase und vorspringendes Kinn! Ein Diener begleitet
ihn und hilft ihm beim Gehen, denn Doras scheint halb gelähmt zu sein. Wer
hätte ihn schon dort mitten
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auf dem Hof gesehen? Mit seiner
heiseren Stimme wagt er zu fragen: «Zu mir sagst du dies, für mich ?»
«Für dich, ja! Verlasse mein
Haus!»
«Ich gehe. Aber bald rechnen wir
ab, du kannst dessen sicher sein 1»
«Bald? Sofort! Der Gott des
Sinai, ich habe es dir gesagt, erwartet dich.»
«Auch dich, du Unglückseliger,
der du das Unheil auf mich gelenkt und die Schädlinge in meine Äcker geschickt
hast. Wir werden uns wiedersehen. Es wird mir eine Freude sein.»
«Ja. Du aber wirst mich nicht
mehr wiedersehen wollen, denn ich werde dich richten.»
«Ha, ha, ha, verfl...» Doras
fuchtelt in der Luft herum, keucht und fällt hin.
«Er ist gestorben!» schreit der
Diener. «Mein Herr ist tot! Sei gepriesen Messias, unser Rächer!»
«Nicht ich! Gott, der ewige Herr!
Niemand beflecke sich. Nur der Diener kümmere sich um seinen Herrn. Sei gut
mit seinem Körper. Seid gut, ihr alle seine Diener. Frohlockt nicht haßerfüllt
über den Heimgesuchten, um nicht die Verdammnis zu verdienen. Gott und der
gerechte Jonas sollen stets eure Freunde sein, und ich mit ihnen. Lebt wohl!»
«Aber ist er durch deinen Willen
gestorben?» fragt Petrus.
«Nein. Aber der Vater kam über
mich ... 1) Es ist ein Geheimnis, das du nicht begreifen kannst. Merke dir
nur: es ist nicht erlaubt, Gott anzugreifen. Er rächt sich selbst dafür.»
«Aber könntest du nicht deinem
Vater sagen, daß er alle sterben lassen soll, die dich hassen?»
«Schweige! Du weißt nicht, wessen
Geistes du bist! Ich bin Barmherzigkeit und nicht Rache.»
Der alte Synagogenvorsteher tritt
vor: «Meister, du hast alle meine Fragen gelöst, nun ist das Licht in mir. Sei
gepriesen! Komm in meine Synagoge. Verweigere nicht einem armen Alten dein
Wort.»
«Ich werde kommen. Geh in
Frieden! Der Herr ist mit dir!»
Während das Volk langsam geht,
hat alles ein Ende.
___________
1) Dieser Ausspruch Jesu kann, in
Übereinstimmung mit verschiedenen Evangelien (Matth 21,12-17; Mark 11,15-19;
... ), im folgenden Sinn verstanden werden: Ich wurde vorn Eifer der
göttlichen Gerechtigkeit erfaßt, die auf schamloser Weise von jenem grausamen
(verstockten) Unbußfertigen beleidigt worden ist: einem Eifer, der die
Barmherzigkeit übersteigt, die bei jenem Menschen, der am Haß festhält,
unangebracht ist.
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166. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER"; DIE DREI JÜNGER DES TÄUFERS
Ein ganz klarer Wintertag. Sonne
und Wind und ein heiterer Himmel ohne das geringste Anzeichen einer Wolke.
Noch ist es früh am Morgen. Ein leichter Schleier von Rauhreif, besser, von
beinahe gefrorenem Tau, liegt als Diamantenstaub auf Boden und Gräsern.
Es nähern sich dem Haus drei
Männer, die sicher und zielbewußt einherschreiten, daß man den Eindruck haben
könnte, sie seien des Ortes kundig. Sie sehen Johannes, der mit aufgefüllten
Wassereimern beladen vom Brunnen kommt und den Hof überquert. Sie rufen ihn.
Johannes dreht sich um, stellt
die Krüge ab und fragt: «Ihr seid hier? Willkommen! Der Meister wird sich
freuen, euch zu sehen. Kommt, kommt, bevor die Leute eintreffen. Es kommen
jetzt so viele! ...»
Es sind die drei Hirtenjünger des
Johannes des Täufers, Simeon, Johannes und Matthias, und sie folgen zufrieden
dem Apostel.
«Meister, drei Freunde sind da.
Schau», sagt Johannes, in die Küche eintretend, wo ein fröhliches Feuer
knistert und sich ein angenehmer Duft von verbranntem Gesträuch und Lorbeer
verbreitet.
«Oh! Der Friede sei mit euch,
meine Freunde! Weshalb kommt ihr zu mir? Ist dem Täufer ein Unglück
zugestoßen?»
«Nein, Meister. Wir sind mit
seiner Erlaubnis gekommen. Er läßt dich grüßen und dir sagen, du sollst Gott
den Löwen anempfehlen, der von den Häschern verfolgt wird. Er macht sich keine
Illusionen über sein Los. Doch zur Zeit ist er frei. Er ist glücklich, denn er
weiß, daß du viele Getreue hast. Auch solche, die früher seine waren. Meister,
es ist auch unser glühender Wunsch, es zu sein; ... doch wir wollen ihn, jetzt
wo er verfolgt wird, nicht verlassen. Verstehe uns...» sagt Simeon.
«Ich segne euch, weil ihr so
handelt. Der Täufer verdient jede Achtung und Liebe.»
«Ja, du sagst es gut. Er ist groß
und seine Größe wird immer überragender. Er gleicht der Agave, die vor dem
Sterben zum großen Kandelaber der siebenfachen Blume wird und mit ihr strahlt
und duftet. So auch er. Er sagt immer: "Ich möchte ihn nur noch einmal
sehen..." Dich sehen! Wir haben den Sehnsuchtsschrei seiner Seele vernommen,
und ohne ihm etwas davon zu sagen, bringen wir diesen Schrei zu dir. Er ist
der "Büßer", der "Faster" ' und er verzehrt sich noch im heiligen Verlangen,
dich zu sehen und zu hören. Ich bin Tobias, nun Matthias. Doch denke ich, daß
der Erzengel, der Tobias als Begleiter gegeben wurde, sich von ihm in nichts
unterschieden hat. Alles im Täufer ist Weisheit !»
«Es ist nicht gesagt, daß ich ihn
nicht sehen werde... Aber seid ihr nur deswegen gekommen? Bei dieser
Jahreszeit ist es beschwerlich, zu
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reisen. Heute ist es heiter...
aber bis vor drei Tagen! Wieviel Wasser auf den Straßen!»
«Nicht nur deswegen. Vor einigen
Tagen ist Doras, der Pharisäer gekommen um sich zu reinigen. Doch der Täufer
hat ihm die Taufe verweigert und gesagt: "Das Wasser kann dort nicht
eindringen, wo eine so dicke Kruste der Sünde ist. Ein Einziger allein kann
dir verzeihen, der Messias." Da hat Doras gesagt: "So werde ich zu ihm gehen.
Ich möchte geheilt werden und denke, daß mein Übel seine Verwünschung ist."
Daraufhin hat ihn der Täufer weggejagt, wie wenn er den Teufel vertrieben
hätte. Doras ist beim Weggehen Johannes begegnet, den er kannte, seitdem
Johannes zu Jonas gegangen war, mit dem er etwas verwandt ist, und hat zu ihm
gesagt: "Ich gehe zu Jesus. Alle gehen. Auch Manaen ist dort gewesen, und
sogar... ich sage Dirnen, doch er hat ein gemeineres Wort benützt, gehen
dorthin. Das "trügerische Gewässer" ist voll von Schwärmern. Wenn er mich nun
heilt und den Bann, den er über meine Ländereien verhängt hat, zurücknimmt,
dann will ich sein Freund werden. Mein Landgut sieht aus wie von
Kriegsmaschinen verwüstet, Maulwürfe, Würmer und Vampirgrillen wimmeln, die
das Saatgut fressen und die Wurzeln der Obstbäume und der Weinstöcke
zerstören, wogegen es kein Mittel gibt. Anderenfalls, wehe ihm!" Wir haben ihm
geantwortet: "Mit einer solchen Gesinnung willst du hingehen?" Er hat
geantwortet: "Wer glaubt denn schon an diesen Teufelskerl? Übrigens hat er
Dirnen im Haus und kann also auch mit mir ein Bündnis schließen." Wir sind
hergekommen, um dir dies zu berichten, damit du dich auf Doras vorbereiten
kannst.»
«Oh, es ist alles schon getan.»
«Schon getan? Wirklich?
Natürlich, er hat Pferd und Wagen, wir haben nur unsere Beine. Wann ist er
gekommen?»
«Gestern.»
«Was ist geschehen?»
«Dies: wenn ihr euch um Doras
kümmern wollt, könnt ihr in sein Haus nach Jerusalem gehen, um euer Beileid zu
bekunden. Sie bereiten ihn für die Beisetzung vor.»
«Er ist gestorben?»
«Gestorben! Hier. Doch sprechen
wir nicht über ihn.»
«Ja, Meister... Nur... sag uns:
ist es wahr, was er uns über Manaen gesagt hat?»
«Ja. Mißfällt es euch?»
«Oh, es ist uns eine Freude. Wir
haben ihm in der Burg Machaerus so viel von dir erzählt, und was wünscht sich
denn ein Apostel anderes, als daß sein Meister geliebt wird? Das ist der
Wunsch Johannes und auch der unsrige.»
«Du sprichst gut, Matthias. Die
Weisheit ist mit dir.»
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«Doch ... ich glaube es nicht.
Doch nun sind wir ihr begegnet (der Verschleierten)... Sie ist auch vor dem
Laubhüttenfest bei uns gewesen und hat dich gesucht. Wir haben ihr gesagt:
"Der, den du suchst, ist nicht hier; doch bald wird er zum Laubhüttenfest in
Jerusalem sein." So sagten wir, denn der Täufer hatte uns gesagt: "Seht jene
Sünderin. Sie ist eine Kruste von Schmutz, doch in ihr lodert eine Flamme, die
genährt wird. Sie wird so stark werden, daß sie die Kruste sprengen, und alles
entzünden wird. Die Kruste wird fallen und die Flamme wird allein
zurückbleiben." So hat er gesagt. Aber ist es wahr, daß sie hier schläft, wie
uns zwei einflußreiche Schriftgelehrte berichtet haben?»
«Nein, sie wohnt in einem der
Ställe des Verwalters, mehr als eine Stadie von hier entfernt.»
«Diese Teufelszungen! Hast du
gehört? Und sie...»
«Laßt sie nur reden. Die Guten
glauben ihren Worten nicht, sondern meinen Werken.»
«Das sagt auch Johannes. Vor
einigen Tagen haben ihm einige seiner Jünger in unserer Gegenwart gesagt:
"Rabbi, jener, der mit dir jenseits des Jordan war und für den du Zeugnis
abgelegt hast, tauft nun auch und alle gehen zu ihm, und du wirst bald keine
Getreuen mehr haben."
Doch Johannes hat geantwortet:
"Selig mein Ohr, das diese Nachricht vernimmt! Ihr wißt nicht, welche Freude
ihr mir damit bereitet. Ihr müßt wissen, daß sich der Mensch nichts aneignen
darf, wenn es nicht vom Himmel gegeben wird. Ihr könnt bezeugen, daß ich
gesagt habe: 'Ich bin nicht Christus, sondern jener, der vor ihm hergesandt
worden ist, um ihm den Weg zu bereiten.' Der gerechte Mann eignet sich nicht
einen Namen an, der nicht ihm gehört, selbst wenn man ihn loben will, indem
man sagt: 'Du bist jener" also der Heilige, entgegnet er: 'Nein, wahrhaftig
nein! Ich bin nur sein Diener.' Er hat aber dennoch eine große Freude, denn er
sagt sich: 'Ich gleiche ihm also ein wenig, wenn man mich für ihn halten kann.
Was kann sich denn ein Liebender Schöneres wünschen, als dem Liebsten zu
gleichen?' Nur die Braut freut sich des Bräutigams. Dem Brautführer würde dies
nicht anstehen, weil es unschicklich und Raub wäre. Doch der dem Bräutigam
nahestehende Freund, welcher die Worte hochzeitlichen Glückes vernimmt,
verspürt eine so lebhafte Freude, die fast jener gleichkommt, die die dem
Bräutigam angetraute Jungfrau erfüllt, denn er kostet darin im voraus die
Wonne hochzeitlichen Liebesglücks. Dies ist meine Freude, und sie ist
vollkommen. Was macht nun der Freund des Bräutigams, nachdem er monatelang dem
Freund gedient und ihn ins Haus der Braut begleitet hat? Er zieht sich zurück
und verschwindet. So auch ich, so auch ich! Ein Einziger bleibt zurück: der
Bräutigam mit der Braut! Der Mensch mit der Menschheit! Oh, welch
tiefgründiges Wort! Er muß wachsen, ich abnehmen. Derjenige, der vom Himmel
kommt, steht über allen. Patriarchen und Propheten verschwinden bei
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seinem Kommen, denn er ist wie
die Sonne, die alles erleuchtet, und dies mit so hellem Licht, daß Sterne und
Planeten, deren Licht erloschen, dadurch erstrahlen. Jene, die nicht erloschen
sind, verblassen jedoch vollends in der Fülle von Licht. Er kommt vom Himmel,
Patriarchen und Propheten hingegen werden in den Himmel eingehen, aber nicht
vom Himmel kommen. Derjenige, der vom Himmel kommt, ist über alle erhaben, und
er verkündet, was er gesehen und gehört hat. Aber niemand kann sein Zeugnis
annehmen von denen, die nicht nach dem Himmel streben, also Gott verleugnen.
Wer das Zeugnis desjenigen, der vom Himmel herabgekommen ist, annimmt,
besiegelt mit diesem Bekenntnis seinen Glauben, daß Gott wahrhaftig ist und
kein Märchen, das jeder Wahrheit entbehrt, und er spürt die Wahrheit, weil er
ein eifriges Verlangen nach ihr hat. Denn derjenige, den Gott gesandt hat,
spricht Worte Gottes, da Gott ihm den Geist in Fülle gibt, und der Geist
Gottes sagt: 'Siehe, da bin ich. Nimm mich dir zu eigen, denn ich will mit dir
sein, du Freude unserer Liebe.' Denn der Vater liebt den Sohn über alle Maßen
und hat alles in seine Hände gelegt. Daher wird, wer an den Sohn glaubt, das
ewige Leben besitzen. Wer jedoch den Glauben an den Sohn verweigert, der wird
das Leben nicht schauen, und der Zorn Gottes wird in ihm und über ihm sein!"
So hat er gesprochen, und ich
habe mir seine Worte eingeprägt, um sie dir zu sagen», sagt Matthias.
«Ich lobe dich und danke dir
dafür. Der letzte Prophet Israels ist nicht jener, der vom Himmel herabsteigt,
sondern jener, der dem Himmel am nächsten ist, weil er – ihr wißt es nicht,
doch sage ich es euch – bereits im Schoße der Mutter mit göttlichen Wohltaten
beschenkt wurde.»
«Was, was? Oh, erzähle! Er sagt
von sich selber: "Ich bin der Sünder."» Die drei Hirten sind begierig, mehr zu
erfahren, und auch die Jünger drängen.
«Als meine Mutter mich in sich
trug, mit Mir, Gott, schwanger war, begab sie sich zur Mutter des Johannes,
die mütterlicherseits ihre Base war und im fortgeschrittenen Alter ein Kind
erwartete, um ihr zu dienen, weil sie die Demütige und Liebreiche ist. Der
Täufer besaß bereits seine Seele, denn er war im siebten Monat seines Werdens.
Als die menschliche Frucht, eingeschlossen im mütterlichen Schoße, die Stimme
der Braut Gottes vernahm, hüpfte sie vor Freude. Auch darin ist er der
Vorläufer, weil er als erster Mensch erlöst wurde. Von Schoß zu Schoß übertrug
sich die Gnade, durchdrang ihn, und die Erbsünde fiel von der Seele des
Kindes. Somit sage ich euch, daß auf der Erde drei im Besitz der Weisheit
sind, wie es im Himmel drei sind, welche die Weisheit sind: das Wort, die
Mutter und der Vorläufer auf Erden; im Himmel der Vater, der Sohn und der
Heilige Geist.»
«Unser Herz ist voller Erstaunen.
Beinahe wie damals, als uns gesagt wurde: "Der Messias ist geboren"; denn du
warst der Abgrund der Barmherzigkeit, und dieser unser Johannes ist der
Abgrund der Demut.»
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«Und meine Mutter ist der Abgrund
der Reinheit, der Gnade, der Liebe, des Gehorsams, der Demut und jeder anderen
Tugend, die aus Gott ist und die Gott seinen Heiligen einflößt.»
«Meister», sagt Jakobus des
Zebedäus, «es sind schon viele Menschen hier.»
«Laßt uns gehen. Kommt auch ihr.»
Eine sehr große Menschenmenge ist
versammelt.
«Der Friede sei mit euch», sagt
Jesus und er lächelt, wie er dies nur selten tut. Die Menschen flüstern
miteinander und deuten auf ihn. Es herrscht viel Neugierde.
«Es steht geschrieben: "Du sollst
den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen."
Viel zu oft vergißt man dieses
Gebot. Man versucht Gott, wenn man ihm den eigenen Willen aufzwingen will. Man
versucht Gott, wenn man unklugerweise gegen die Regeln des Gesetzes, das
heilig und vollkommen und in seinem geistigen Bereich der wichtigste Teil ist,
verstößt, und man sich auch mit dem von ihm erschaffenen Leib übermäßig befaßt
und sich seinetwegen Sorgen macht. Man versucht Gott, wenn man, nachdem man
von ihm Verzeihung erlangt hat, von neuem zu sündigen anfängt. Man versucht
Gott, wenn man die von ihm verliehenen Wohltaten zum eigenen Schaden
verwendet, anstatt daß man diese Gaben ihrem Sinn entsprechend zum Guten nutzt
und sich auf deren Spender besinnt. Gott läßt seiner nicht spotten. Zu oft
geschieht dies! ...
Gestern habt ihr gesehen, welche
Strafe die Spötter Gottes erwartet. Der Ewige Gott, voller Mitleid mit den
Reuigen, ist andererseits ganz Strenge mit dem Unbußfertigen, der sich durch
nichts ändern läßt. Ihr kommt zu mir, um das Wort Gottes zu hören. Ihr kommt,
um Wunder zu erlangen. Ihr kommt, um Verzeihung zu erlangen, und der Vater
gibt euch das Wort, das Wunder und die Verzeihung. Ich bedaure nicht, den
Himmel verlassen zu haben, damit ich euch das Wunder und die Verzeihung
gewähren kann, und damit ihr durch mich Gott kennenlernen könnt.
Der Mensch gestern ist vom Feuer
des göttlichen Grolles niedergeschmettert worden, wie Nadab und Abiu (Num
3,1-4). Doch ihr sollt darauf verzichten, ihn zu richten. Dieser Vorfall, der
ein neues Wunder ist, möge nur bewirken, daß ihr euch darauf besinnt, wie man
handeln soll, um Gott zum Freund zu haben. Doras verlangte nach dem Wasser der
Buße, doch ihm fehlte der übernatürliche Geist. Sein Wunsch entsprang einer
menschlichen Denkweise. Wie ein magischer Zauber sollte es ihn von der
Krankheit heilen und von seinem Unglück befreien. Der Körper und die Ernte,
dies waren seine Ziele, nicht seine arme Seele. Sie hatte keinen Wert für ihn.
Leben und Geld waren seine Werte.
Ich sage euch, das Herz ist dort,
wo auch sein Schatz ist, und der Schatz ist dort, wo das Herz ist. Daher ist
der Schatz im Herzen. Er hatte in
49
seinem Herzen die Begierde zu
leben und viel Geld zu besitzen. Wie kann ich es mir nur beschaffen? Mit jedem
Mittel! Auch mit Verbrechen. War es also nicht ein Verhöhnen und Versuchen
Gottes, die Taufe zu erlangen? Eine aufrichtige Reue über sein langes,
sündiges Leben hätte genügt, ihm einen heiligen Tod zu gewähren, und auch das,
was im irdischen Leben angemessen war. Er jedoch war der Unbußfertige. Da er
außer sich selber nie jemand geliebt hatte, kam er soweit, daß er nicht einmal
mehr sich selber lieben konnte, da der Haß auch die animalische,
selbstsüchtige Liebe abtötet, die man für sich selber empfindet. Tränen
aufrichtiger Reue hätten sein reinigendes Wasser sein müssen. Dies gilt auch
für euch alle, die ihr hier zuhört; denn niemand unter euch ist ohne Sünde,
und deshalb habt ihr alle dieses Wasser nötig. Aus meinem Herzen ausgepreßt,
fließt es auf euch nieder und reinigt, gibt der entweihten Seele die
Jungfräulichkeit zurück, richtet auf, wer darniederliegt, und verleiht neue
Kraft, wo die Seele vor lauter Schuld verblutet.
Jeder Mensch sorgt sich nur um
das Elend dieser Erde. Doch nur ein einziges Elend sollte den Menschen
nachdenklich stimmen: nämlich jenes Ewige, Gott zu verlieren. Jener Mann hat
nie versäumt, die rituellen Gaben zu spenden; aber er hat es nicht verstanden,
Gott ein geistiges Opfer darzubringen, also der Sünde zu entsagen, Buße zu tun
und mit seinen Werken um Verzeihung zu bitten. Heuchlerische Gaben aus dem
unrechtmäßig erworbenen Reichtum sind wie Aufforderungen an Gott, er möge zum
Mittäter böser Werke des Menschen werden. Wäre so etwas je möglich? Ist es
nicht eine Verhöhnung Gottes, wenn man solches zu tun wagt? Gott stößt jenen
von sich, der sagt: "Hier, mein Opfer", dabei aber darnach brennt, in seiner
Sünde zu verharren. Nützt vielleicht die körperliche Enthaltsamkeit etwas,
wenn die Seele sich nicht der Sünde enthält?
Der Tod des Mannes, der sich hier
ereignet hat, möge euch über die notwendigen Bedingungen nachdenken lassen, um
von Gott geliebt zu werden. Nun halten in seinem reichen Palast die Verwandten
und die Klagenden die Totenwache bei dem Leichnam, der bald zu Grabe getragen
wird.
Oh, wahrlich eine echte
Totenklage und ein echter Leichnam! Wahrlich, nichts mehr als eine Leiche, und
eine Totenklage ohne Trost, denn die schon tote Seele wird auf immer getrennt
sein von jenen, die er wegen der verwandtschaftlichen Beziehungen liebte oder
weil eine Gesinnungsgemeinschaft bestand. Auch wenn ein gleicher
Aufenthaltsort sie für ewig vereint, so wird der Haß, der dort herrscht, sie
trennen. Dieser Tod ist somit "wahrhaftige" Trennung. Es wäre besser, wenn der
Mensch, der seine Seele getötet hat, sich selbst beweinen würde, anstelle
jener, die ihn beweinen. Die Tränen seines reumütigen, demütigen Herzens
würden die Verzeihung Gottes erwirken, was ihm schließlich auch das Leben der
Seele zurückgeben würde.
50
Geht hin! Ohne Haß und ohne
Bemerkungen. Nur voller Demut. Wie ich, der ich ohne Haß und nur in
Gerechtigkeit über ihn gesprochen habe. Leben und Tod sind unsere Lehrmeister,
die uns lehren, gut zu leben und gut zu sterben und das ewige Leben zu
erlangen, wo es keinen Tod mehr gibt. Der Friede sei mit euch!»
Es sind keine Kranken da, es
geschehen keine Wunder. Petrus sagt zu den Jüngern des Täufers: «Es tut mir
leid für euch.»
«Oh, das soll dir nicht leid tun.
Wir glauben, ohne zu sehen. Wir haben das Wunder seiner Geburt geschaut; es
hat uns zu glauben gelehrt. Nun haben wir sein Wort, das uns im Glauben
bestärkt. Wir wünschen nichts anderes, als ihm dienen zu dürfen bis zum
Himmel, wie Jonas, unser Bruder.»
Alles ist zu Ende.
167. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST NICHT BEGEHREN DEINES NÄCHSTEN FRAU»
Jesus geht durch eine große
Volksmenge, die ihn von allen Seiten her ruft. Die einen zeigen ihre Wunden,
andere zählen ihre Schicksalsschläge auf, andere wiederum beschränken sich auf
den Ruf: «Erbarme dich meiner!», noch andere stellen ihren kleinen Sohn vor,
damit er gesegnet werde. Der windstille, heitere Tag hat viele Menschen
bewogen, Jesus aufzusuchen.
Als Jesus schon fast an seinem
Platz angekommen ist, ertönt vom Weg, der zum Fluß führt, ein
mitleiderregendes Jammern: «Sohn Davids, erbarme dich deines Unglücklichen!»
Jesus wendet sich in die Richtung
wie auch das Volk und die Jünger. Aber ein dichtes Gesträuch verdeckt den um
Hilfe Flehenden.
«Wer bist du? Komm nach vorne!»
«Ich kann nicht. Ich bin
angesteckt. Ich muß zum Priester, um von der Welt ausgeschlossen zu werden.
Ich habe gesündigt, und der Aussatz ist an meinem Körper ausgebrochen. Ich
hoffe auf dich!»
«Ein Aussätziger! Ein
Aussätziger! Fluch ihm! Steinigen wir ihn!»Die Menge tobt.
Jesus gibt ein Zeichen, das Ruhe
und Schweigen gebietet. «Er ist nicht unreiner als ein Sünder. In den Augen
Gottes ist der unbußfertige Sünder noch unreiner als der reumütige Aussätzige.
Wer glauben kann, soll mit mir kommen.»
Außer den Jüngern gehen noch
einige Neugierige Jesus nach. Die anderen strecken nur die Hälse, bleiben
aber, wo sie sind.
51
Jesus verläßt den Hof des Hauses
und geht den kleinen Weg in Richtung des Buchsbaumgebüsches, wo er stehen
bleibt und befiehlt: «Zeige dich!»
Es kommt ein junger Mann zum
Vorschein mit einem frischen, vollen Gesicht, auf dem noch kaum eine Spur von
Bart und Schnurrbart zu sehen ist, während die Augen vom Weinen stark gerötet
sind.
Ein lauter Schrei begrüßt ihn. Er
kommt von einer Gruppe von Frauen, die alle tief verschleiert sind, schon im
Hofe geweint haben und nun durch die Drohungen des Volkes noch mehr weinen.
«Mein Sohn!» ruft eine Frau und
sinkt in die Arme einer anderen Frau, von der ich nicht weiß, ob es deren
Verwandte oder Freundin ist.
Jesus nähert sich nun allein dem
Unglücklichen und sagt: «Du bist noch sehr jung. Wie kommt es, daß du
aussätzig bist?»
Der Jüngling senkt die Augen,
wird feuerrot und stammelt etwas, wagt aber nicht, mehr zu sagen.
Jesus wiederholt die Frage. Der
Kranke spricht nun etwas deutlicher, doch man versteht nur die Worte: «Der
Vater... ich ging... und wir sündigten... nicht nur ich allein...»
«Dort ist deine Mutter, die weint
und hofft. Im Himmel ist Gott, der alles weiß. Hier bin ich, auch ich weiß es.
Aber ich brauche deine Verdemütigung, damit ich Erbarmen mit dir haben kann.
Also sprich!»
«Sprich, mein Sohn! Habe Mitleid
mit dem Schoß deiner Mutter, der dich getragen hat», wimmert die Mutter, die
sich bis zu Jesus hingeschleppt hat und nun, auf den Knien liegend, ganz
unbewußt einen Zipfel des Gewandes Jesu in der Hand hält und mit der anderen
auf den Jungen weist und dabei ihr tränenüberströmtes Gesicht zeigt.
Jesus legt ihr die Hand aufs
Haupt und sagt noch einmal: «Sprich!»
«Ich bin der Erstgeborene und
helfe dem Vater in seinen Geschäften. Er hat mich schon oft nach Jericho
gesandt, um dort mit seiner Kundschaft zu reden und zu verhandeln... und...
und einer hatte eine schöne junge Frau. Sie gefiel mir. Ich ging öfter zu ihr,
als nötig war. Auch sie mochte mich. Wir hatten Gefallen aneinander und
sündigten in Abwesenheit ihres Ehemannes. Ich weiß nicht, wie es kam, denn sie
war gesund. Nicht nur ich war gesund und begehrte sie... auch sie war gesund
und verlangte nach mir. Ich weiß nicht, ob sie außer mir noch andere begehrte
und sich dabei ansteckte. Ich weiß nur, daß bei ihr bald das Siechtum ausbrach
und sie bereits in den Gräbern ist, um dort als Lebende zu sterben... Ich,
ich... Mutter, du hast es gesehen, es ist unscheinbar, aber man sagt, es wäre
Aussatz... und ich müßte daran sterben. Wann? ... Kein Leben mehr... ohne ein
Zuhause... ohne eine Mutter... Oh, Mutter, ich sehe dich und kann dich doch
nicht mehr küssen! Heute wollen sie kommen, um meine Kleider zu zerreißen und
mich aus dem Hause zu jagen... aus dem Dorfe. Ich bin schlimmer dran als ein
Toter. Nicht einmal meine Mutter
52
wird über meinem Leichnam weinen
können.» Der junge Mann weint bitterlich.
Die Mutter gleicht einem vom Wind
geschüttelten Baum, so sehr wird sie vom Schluchzen erschüttert. Die Leute
reagieren ganz unterschiedlich.
Jesus ist traurig. «Hast du beim
Sündigen nicht an deine Mutter gedacht ? Warst du so töricht zu vergessen, daß
du noch eine Mutter auf Erden und einen Gott im Himmel hast? Wenn nun der
Aussatz nicht ausgebrochen wäre, wäre dir je zum Bewußtsein gekommen, daß du
gegen Gott und den Nächsten gesündigt hast? Was hast du aus deiner Seele
gemacht, aus deiner Jugend?»
«Ich bin in Versuchung geführt
worden...»
«Bist du denn ein Kind, um nicht
zu wissen, daß diese Frucht verflucht war? Du würdest es verdienen, ohne
Mitleid sterben zu müssen.»
«Oh... hab Erbarmen; du allein
vermagst...»
«Nicht ich, Gott!' und nur, wenn
du hier schwörst, nicht mehr zu sündigen !»
«Ich schwöre es! Ich schwöre es!
Rette mich, Herr. Mir bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Verurteilung.
Mutter, Mutter! Hilf mir mit deinem Flehen! ... Oh! Meine Mutter!»
Die Frau hat keine Stimme mehr.
Sie umklammert die Füße Jesu und richtet ihre vom Schmerz weit aufgerissenen
Augen zu ihm auf: das verzweifelte Antlitz einer Ertrinkenden. Sie weiß, daß
es hier um den letzten Halt geht, der ihn retten kann.
Jesus sieht sie an und lächelt
ihr mitleidig zu. «Steh auf, Mutter! Dein Sohn ist geheilt. Aber deinetwegen!
Nicht seinetwegen!»
Die Frau kann es noch nicht
glauben. Es scheint ihr unmöglich, daß er auf diese Entfernung hätte geheilt
werden können, und sie macht verneinende Kopfbewegungen unter fortwährendem
Schluchzen.
«Mann, öffne die Tunika an der
Brust. Hier befand sich der Fleck. Nur damit deine Mutter getröstet ist.»
Der Jüngling legt die Tunika ab,
wodurch seine nackte Brust von allen gesehen werden kann. Er hat die glatte
Haut eines jungen, kräftigen Menschen.
«Schau, Mutter», sagt Jesus, und
er beugt sich, um der Frau aufzuhelfen; eine Gebärde, die auch dazu dient, sie
zurückzuhalten, falls sie sich in ihrer Mutterliebe und in der Freude über das
Wunder auf ihren Sohn stürzen wollte, ohne dessen Reinigung abzuwarten. Da es
ihr unmöglich ist, dorthin zu gehen, wo sie die mütterliche Liebe hinzieht,
bleibt sie an Jesu Herzen und küßt ihn in einem wahren Freudentaumel. Sie
weint, lacht, küßt und preist den Herrn, und Jesus streichelt sie voller
Mitleid.
' Ausdruck, der zu verstehen ist
im Sinne von Matth 19,16-17; Mark 10,17-18; Luk 18,18-19.
53
Dann sagt er zum Jüngling: «Geh
zum Priester und denk daran, daß Gott dich um deiner Mutter willen geheilt
hat, und damit du in Zukunft gerecht lebest. Geh!»
Nachdem der junge Mann seinen
Retter gepriesen hat, geht er weg, und in einiger Entfernung folgen ihm die
Mutter und ihre Begleiterinnen. Das Volk lobt und preist den Herrn.
Jesus kehrt an seinen Platz
zurück.
«Auch jener Mann hatte vergessen,
daß es einen Gott gibt, der Zucht in den Sitten fordert. Er hatte vergessen,
daß es verboten ist, sich Götter neben dem wahren Gott zu halten. Er hatte
vergessen, den Sabbat zu heiligen, wie ich es gelehrt habe. Er hatte die
liebevolle Ehrfurcht der Mutter gegenüber außer Acht gelassen. Er hatte
vergessen, daß er nicht Unkeuschheit treiben, nicht stehlen, nicht trügerisch
sein und nicht des Nächsten Frau begehren, sich nicht selbst und seine eigene
Seele töten und nicht Ehebruch begehen darf. Er hatte das alles vergessen. Nun
habt ihr gesehen, wie er bestraft worden ist.
"Du sollst nicht begehren eines
anderen Frau" ' steht in enger Verbindung mit dem Gebot: "Du sollst nicht
ehebrechen" ' weil die Begierde stets der Tat vorausgeht. Der Mensch ist zu
schwach, als daß es bei der bloßen Begierde bleiben und er seinem Verlangen
nicht nachgeben würde. Was letztlich sehr traurig ist: daß der Mensch nicht
imstande ist, sich ebenso zu verhalten, wenn es um gute Wünsche geht. Man
begehrt das Böse, und die böse Tat wird vollzogen. Gutes wünscht man zwar,
hält jedoch inne, wenn man nicht sogar vom guten Vorsatz ganz abkommt.
Was ich ihm gesagt habe, das sage
ich zu euch allen, denn die Sünde der Begehrlichkeit ist so verbreitet wie das
Unkraut, das sich von selbst vermehrt. Seid ihr so kindisch, daß ihr nicht
wißt, daß gerade jene Versuchung giftig ist und gemieden werden muß? "Ich bin
versucht worden!" Der alte Spruch. Aber da es auch ein altes Beispiel dafür
gibt, der erste Sündenfall, müßte der Mensch sich an die Folgen erinnern und
imstande sein, "Nein" zu sagen. In unserer Geschichte fehlt es nicht an
Vorbildern keuscher Menschen, die es blieben, trotz aller Versuchungen des
Fleisches und trotz aller Drohungen von Gewalttätern. Ist die Versuchung etwas
Böses? Nein, sie ist es nicht. Sie ist das Werk des Bösen. Doch sie verwandelt
sich in Ruhm für denjenigen, der sie besiegt.
Der Ehemann, der anderen
Liebschaften nachgeht, ist der Mörder seiner Ehefrau, der Kinder und seiner
selbst. Wer in das Haus eines anderen eindringt, um Ehebruch zu begehen, ist
ein Dieb und zwar einer der niederträchtigsten. Er ist wie ein Kuckuck, der
ohne eigenen Aufwand das Nest eines anderen genießt. Derjenige, welcher seinem
Freund das Vertrauen ablistet, ist ein Fälscher, weil er eine Freundschaft
bezeugt, die er in Wirklichkeit nicht hat. Wer so handelt, entehrt sich selbst
und seine Eltern. Kann auf diese Weise Gott mit ihm sein?
54
Ich habe das Wunder für jene arme
Mutter gewirkt. Doch Unkeuschheit erregt in mir einen derartigen Widerwillen,
daß ich darob angeekelt bin. Meine Seele hat einen Schrei der Abscheu vor der
Unkeuschheit ausgestoßen. Alles Elend umgibt mich und für alle bin ich der
Retter. Doch ziehe ich es vor, einen Toten zu berühren, einen Gerechten, der
schon zu verwesen anfängt und dessen Geist bereits in den Frieden eingegangen
ist, als mich einem zu nähern, der nach Unkeuschheit riecht. Ich bin der
Retter, aber ich bin der Unschuldige. Alle jene, die hierher kommen oder über
mich sprechen, sollen sich daran erinnern, wenn sie mich mit ihrem Schmutz
besudeln.
Ich verstehe, daß ihr anderes von
mir erwartet, doch ich kann nicht. Der Ruin einer kaum erblühten Jugend, die
durch die Wollust zerstört worden ist, hat mich mehr erschüttert, als wenn ich
den Tod berührt hätte. Laßt uns nun zu den Kranken gehen. Da ich wegen des
Ekels, der mich würgt, nicht das Wort sein kann, werde ich das Heil jener
sein, die auf mich hoffen. Der Friede sei mit euch!»
Jesus sieht wirklich sehr leidend
und blaß aus. Sein Lächeln kehrt erst wieder, wie er sich über die kranken
Kinder und über die Kranken auf den Bahren beugt. Dann wird er wieder er
selbst. Besonders jetzt, da er seinen Finger in den Mund eines kleinen Stummen
von etwa zehn Jahren legt und ihn "Jesus" und dann "Mutter" sagen läßt. Die
Leute gehen langsam weg. Jesus wandelt in der Sonne, die den Vorplatz
überflutet, bis ihn Iskariot einholt. «Meister, ich bin unruhig...»
«Warum, Judas ?»
«Wegen jenen aus Jerusalem. Ich
kenne sie. Laß mich für einige Tage dorthin gehen. Ich verlange nicht einmal,
daß du mich allein gehen läßt. Im Gegenteil, ich bitte dich, daß dies nicht
geschehe. Laß Simon und Johannes mit mir kommen. Sie waren so gut zu mir bei
der ersten Reise durch Judäa. Der eine mäßigt mich, der andere macht mich rein
und lauter auch im Denken. Du kannst dir nicht vorstellen, was mir Johannes
bedeutet. Er ist der Tau, der meine Leidenschaften besänftigt, und Öl für mein
sturmbewegtes Inneres... Glaube es mir!»
«Ich weiß es. Du brauchst dich
also nicht darüber zu wundern, wenn ich ihn überaus liebe. Er ist mein Friede!
Aber auch du, wenn du immer gut bist, wirst mein Trost sein. Wenn du die Gaben
Gottes auf die richtige Art benützest – und du hast deren viele – wie du es
seit einigen Tagen tust, dann wirst du ein wahrhaftiger Apostel werden.»
«Und wirst du mich wie Johannes
lieben?»
«Ich liebe dich ebensosehr,
Judas. Doch ich werde dich dann nur ohne Kummer und Schmerzen lieben.»
«Oh, Meister, wie bist du gut!»
«Geh nur nach Jerusalem. Es wird
nichts nützen, aber ich möchte deinen Wunsch, mir dienlich zu sein, nicht
enttäuschen. Ich werde es sofort
55
Simon und Johannes sagen. Laßt
uns gehen! Siehst du, wie dein Jesus gewisser Sünden wegen leidet? Mir ist,
wie wenn ich eine allzu schwere Last hochgehoben hätte. Verursache mir nie
einen solchen Schmerz! Nie mehr!»
«Nein, Meister! Nein! Ich liebe
dich, du weißt es. Aber ich bin ein Schwächling.»
«Die Liebe wird dich stärken.»
Sie betreten das Haus, und das
ist das Ende.
168. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER"; ER HEILT DEN BESESSENEN RÖMER; ER SPRICHT ZU RÖMERN
Jesus ist heute mit den neun
Zurückgebliebenen zusammen, denn die drei anderen sind nach Jerusalem
abgereist. Thomas, der immerfrohe, ist mit seinem Gemüse und anderen,
geistigeren Obliegenheiten beschäftigt, während Petrus mit Philippus,
Bartholomäus und Matthäus sich um die Pilger kümmert, und die anderen zur
Taufe zum Fluß gehen, was bei diesem scharfen Winde wirklich eine Buße ist.
Jesus sitzt noch in seiner Ecke
in der Küche, während Thomas arbeitet und schweigt, um den Meister nicht zu
stören. Andreas kommt und sagt: «Meister, es ist ein Kranker da. Ich würde
vorschlagen, ihn sofort zu heilen, denn... sie sagen er sei geisteskrank, aber
sie sind nicht Israeliten. Wir würden sagen, er ist besessen. Er schreit,
grölt, verkrampft sich und schlägt um sich. Komm und sieh!»
«Sofort. Wo ist er?»
«Noch auf dem Felde. Hörst du
dieses Geheul? Das ist er. Es hört sich wie ein Tierlaut an, doch es ist er.
Er muß reich sein, denn sein Begleiter ist gut angezogen, und man hat ihn aus
einem prächtigen Fuhrwerk gehoben, das vornehm und von vielen Dienern umgeben
ist. Er muß ein Heide sein, denn er verflucht alle Götter des Olymps.»
«Laßt uns gehen.»
«Ich komme auch mit, um zu
sehen», sagt Thomas, mehr von der Neugier getrieben als um sein Gemüse
besorgt.
Sie verlassen das Haus, und
anstatt zum Fluß abzubiegen, gehen sie auf die Felder, welche das Bauernhaus
vom Hause des Verwalters trennen. Inmitten einer Wiese, auf der zuvor Schafe
geweidet haben, die nun verängstigt in alle Himmelsrichtungen geflohen sind
und vergeblich von den Hirten und einem Hund zusammengetrieben werden, ist ein
gefesselter Mann, der trotz der Fesseln Sprünge wie ein Rasender vollführt und
Schreie ausstößt, die immer heftiger werden, je mehr Jesus sich ihm nähert.
56
Petrus, Philippus, Matthäus und
Nathanael stehen ratlos in seiner Nähe. Auch Männer umstehen ihn, die Frauen
hingegen haben Angst.
«Du bist gekommen, Meister?
Siehst du, was für eine Furie ?» sagt Petrus.
«Es wird jetzt vorübergehen.»
«Aber weißt du, er ist Heide.»
«Was hat dies zu sagen?»
«Nun, wegen seiner Seele...»
Jesus lächelt und geht weiter. Er
kommt zur Gruppe mit dem Geistesgestörten, der sich immer wütender gebärdet.
Aus der Gruppe tritt ein Mann
vor, den das Gewand und das glattrasierte Gesicht als Römer erkenntlich
machen. Er grüßt: «Salve, Meister! Dein Ruhm ist bis zu mir gedrungen. Du bist
in der Heilkunst wunderbar wie Hippokrates und im Wunderwirken mächtiger als
das Bildnis des Äskulap. Ich weiß es, und deswegen komme ich. Mein Bruder ist,
wie du siehst, verrückt, aufgrund einer geheimnisvollen Krankheit. Kein Arzt
kann etwas finden. Ich bin mit ihm zum Tempel des Äskulap gegangen, doch
danach wurde es noch schlimmer. In Ptolemais habe ich einen Verwandten und
dieser sandte mir durch eine Galeere eine Botschaft. Er teilte mir mit, daß
hier einer wäre, der alle heilt. So bin ich gekommen. Welch eine schreckliche
Reise!»
«Das verdient Belohnung.»
«Aber sieh, wir sind nicht einmal
Neubekehrte. Wir sind Römer und den Göttern treu, also Heiden, wie ihr sagt.
Wir kommen aus Sybaris und sind jetzt auf Zypern.»
«Das ist wahr, ihr seid Heiden.»
«Also nichts für uns? Dein Olymp
verfolgt unseren Olymp, oder der deine wird von unserem verfolgt.»
«Mein Gott, der Eine und
Dreieinige Gott herrscht als Einziger und Alleiniger.»
«So bin ich umsonst gekommen»,
sagt der Römer enttäuscht.
«Warum?»
«Weil ich einem anderen Gott
angehöre.»
«Die Seele ist von einem Einzigen
erschaffen worden.»
«Die Seele? ...»
«Die Seele! Das göttliche Etwas,
das von Gott für jeden Menschen erschaffen wird als Gefährtin während unseres
irdischen Lebens. Nach unserem leiblichen Tod lebt sie weiter.»
«Wo ist sie denn?»
«Im Inneren des Menschen. Doch
obschon sie als etwas Göttliches im Inneren des heiligen Tempels wohnt, kann
man von ihr, jenem wahrhaftigen Wesen, welches jeder Ehrfurcht würdig ist,
sagen, daß sie nicht enthalten ist, sondern, daß sie enthält.»
57
«Beim Jupiter! Bist du denn
Philosoph?»
«Ich bin die mit Gott vereinigte
Vernunft.»
«Nach all dem, was du gesagt
hast, glaubte ich, du seiest Philosoph...»
«Und was ist Philosophie, wenn
sie ehrlich und wahr ist? Ist sie nicht die Erhebung der menschlichen Vernunft
zur unendlichen Weisheit und Macht, also zu Gott?»
«Gott! Gott! ... Ich habe den
Irren, der mich stört. Doch ich vergesse beinahe seinen Zustand, um dir,
Göttlicher, zuzuhören.»
«Ich bin nicht göttlich in dem
Sinne, wie du es meinst. Du nennst göttlich, was über dem Menschen steht. Ich
aber sage, daß diese Benennung nur dem zusteht, der aus Gott ist.»
«Wer ist Gott? Wer hat ihn je
gesehen?»
«Es steht geschrieben: "Du, der
du uns schufst, sei gegrüßt! Wenn ich die menschliche Vollkommenheit
schildere, die Harmonie unseres Körpers beschreibe, dann preise ich deine
Herrlichkeit." Es wurde gesagt: "Deine Güte erstrahlte darin, daß du deine
Gaben an alle, die leben, ausgeteilt hast, damit jeder Mensch habe, was ihm
notwendig ist. Deine Gaben legen Zeugnis ab für deine Weisheit, wie die
Erfüllung deines Willens Zeugnis ablegt für deine Macht." Erkennst du diese
Worte wieder?»
«Wenn Minerva mir hilft... sind
sie von Galenos. Woher kennst du sie? Ich wundere mich.»
Jesus lächelt und antwortet:
«Komm zum wahren Gott, und sein göttlicher Geist wird dich mit der wahren
Weisheit und Frömmigkeit ausstatten, die in der Erkenntnis seiner selbst und
in der Anbetung der Wahrheit besteht.»
«Aber das alles stammt ja von
Galenos! Nun bin ich ganz sicher, du bist nicht nur Arzt und Magier, du bist
auch Philosoph. Warum kommst du nicht nach Rom? ...»
«Weder Arzt, noch Zauberer, noch
Philosoph bin ich, wie du sagst, sondern derjenige, der Zeugnis ablegt für
Gott auf Erden. Bringt den Kranken zu mir.»
Unter Stößen und wilden Rufen
wird der Kranke herbeigebracht.
«Siehst du? Du bezeichnest ihn
als wahnsinnig und sagst, daß kein Arzt ihn heilen kann. Das ist wahr. Kein
Arzt! Denn er ist nicht wahnsinnig. Doch ein Geist aus der Unterwelt – so
nenne ich ihn für dich, der du ein Heide bist – ist in ihn gefahren.»
«Aber er hat nicht den Geist der
Wahrsagung, er sagt lauter unrichtige Dinge.»
«Wir nennen ihn "Dämon" und nicht
Geist der Wahrsagung. Es gibt den sprechenden und den stummen, jenen, der mit
Behauptungen, die nach Wahrheit aussehen, täuscht, und jenen, der sich nur im
Zustand geistiger Verwirrung kundtut. Der erstere ist der vollständigere und
gefährlichere. Dein Bruder hat den zweiten in sich. Doch nun wird er
ausfahren.»
58
«Wie?»
«Er selbst wird es dir sagen.»
Jesus befiehlt: «Verlasse diesen Menschen! Kehre in deinen Abgrund zurück!»
«Ich gehe, denn gegen dich ist
meine Macht zu schwach. Du verjagst mich und machst mich mundtot. Warum mußt
du uns immer besiegen? ...» Der böse Geist hat durch den Mund des Mannes
gesprochen, der nun völlig erschöpft zu Boden sinkt.
«Er ist geheilt. Befreit ihn nun
ohne Furcht von seinen Fesseln.»
«Geheilt? Bist du sicher? Aber...
ich bete dich an!» Der Römer will vor Jesus niederknien, doch Jesus hindert
ihn daran.
«Erhebe deinen Geist. Im Himmel
ist Gott. Ihn bete an und gehe zu ihm! Leb wohl.»
«Nein, so nicht... Nimm
wenigstens diese Gabe hier. Erlaube mir, dich zu behandeln wie die Priester
des Äskulap. Gestatte mir, dich anzuhören... Erlaube mir, über dich in meiner
Heimat zu berichten...»
«Tue es und komme mit deinem
Bruder.»
Der Bruder schaut verwundert um
sich und fragt: «Aber wo bin ich? Dies hier ist nicht Citium! Wo ist das
Meer?»
«Du warst...»
Jesus deutet ihm an zu schweigen
und sagt: «Du warst krank wegen eines hohen Fiebers; sie haben dich in ein
anderes Klima gebracht. Nun geht es dir besser. Komm.»
Alle gehen ins Haus, doch nicht
alle sind in gleicher Weise ergriffen, denn die einen bewundern und die
anderen tadeln die Heilung des Heiden. Jesus geht an seinen Platz, wobei die
Römer in den vorderen Reihen der Versammlung stehen.
«Es soll euch nicht mißfallen,
wenn ich einen Abschnitt aus dem Buch der Könige zitiere (2 Kön 5,1-20).
Es wird darin gesagt: Als der
König von Syrien im Begriff war, Krieg gegen Israel zu führen, hatte er in
seinem Gefolge einen einflußreichen Mann von hohem Ansehen namens Naaman, der
aussätzig war, und daß eine junge Israelitin, die von den Syrern geraubt
worden war und dessen Sklavin wurde, ihm sagte: "Wäre mein Herr beim Propheten
gewesen, der in Samaria ist, dann hätte dieser ihn bestimmt vom Aussatz
geheilt." Als Naaman die Erlaubnis des Königs erbeten hatte, folgte er dem Rat
des Mädchens. Aber der König Israels war darob sehr erzürnt und sagte: "Bin
ich vielleicht Gott, daß der König von Syrien die Kranken zu mir schickt ? Es
handelt sich nur um eine List, um mir den Krieg zu erklären." Doch der Prophet
Elisäus, der davon erfahren hatte, sagte: "Der Aussätzige möge zu mir kommen;
ich werde ihn heilen, und er wird erfahren, daß ein Prophet in Israel ist!"
Naaman ging also zu Elisäus. Doch Elisäus wollte ihn nicht empfangen. Er ließ
ihm nur sagen: "Wasche dich siebenmal im Jordan, und du wirst rein sein."
Naaman fühlte sich gekränkt, weil ihm
59
schien, er hätte den weiten Weg
umsonst zurückgelegt, und wollte empört wieder abreisen. Doch die Diener
sagten zu ihm: "Er hat dich nichts anderes geheißen, als dich siebenmal zu
waschen. Auch wenn er viel mehr von dir verlangt hätte, hättest du es tun
müssen, denn er ist der Prophet." Schließlich gab Naaman nach. Er ging, wusch
sich und war geheilt. Jubelnd kehrte er zum Diener Gottes zurück und sagte
ihm: "Nun kenne ich die Wahrheit: Es gibt keinen anderen Gott auf der ganzen
Erde, es gibt nur den Gott Israels." Als Elisäus keine Gaben nahm, bat Naaman,
wenigstens so viel Erde mitnehmen zu dürfen, daß er auf Israels Erde dem
wahren Gott opfern könne.
Ich weiß, daß es nicht alle von
euch gutheißen, was ich getan habe. Ich weiß aber auch, daß ich mich bei euch
nicht zu rechtfertigen habe. Aber da ich euch in wahrhaftiger Liebe zugetan
bin, möchte ich, daß ihr meine Tat versteht und daraus lernt, und daß von
eurer Seele jeglicher Geist des Tadels und des Ärgernisses weiche. Hier haben
wir zwei Untergebene eines heidnischen Staates. Einer war krank, und es wurde
ihm gesagt, durch einen Verwandten vielleicht, aber bestimmt durch den Mund
eines Israeliten: "Wenn du doch zum Messias von Israel gehen würdest! Er
könnte den Kranken heilen." So sind sie von sehr weit her zu mir gekommen. Ihr
Vertrauen war noch größer als jenes des Naamans; denn sie wußten nichts von
Israel und vom Messias, während der Syrer durch die Nachbarschaft des Landes
und den ständigen Kontakt mit den Sklaven aus Israel schon wußte, daß in
Israel Gott ist, der wahre Gott. Ist es nicht gut, wenn jetzt ein heidnischer
Mann in seine Heimat zurückkehrt und berichten kann: "Wahrlich, in Israel ist
ein Mann Gottes, und in Israel betet man den wahren Gott an"?
Ich habe nicht gesagt: "Wasche
dich siebenmal." Ich habe von Gott gesprochen und von der Seele, von zwei
Dingen, die ihnen unbekannt waren und die, gleich dem Sprudeln einer
unversiegbaren Quelle, die sieben Gaben mit sich führen; denn dort, wo der
Begriff Gott und Geist vorhanden ist und wo der Wunsch besteht, zu ihnen zu
gelangen, da wachsen die Pflanzen des Glaubens, der Hoffnung, der
Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit, der Mäßigkeit, der Kraft und der Klugheit.
Unbekannte Tugenden für jene, die von ihren Göttern nur die niederen
menschlichen Leidenschaften nachahmen können, und denen sie umso mehr frönen,
weil sie sich darauf berufen, daß auch höhere Wesen ihnen huldigen. Nun kehren
diese hier in ihre Heimat zurück. Doch größer noch als die Freude, erhört
worden zu sein, ist die Freude, sagen zu können: "Wir wissen, daß wir nicht
Unmenschen sind, denn nach diesem Leben gibt es noch eine Zukunft. Wir wissen,
daß der wahre Gott die Güte ist, daß er auch uns liebt und uns Wohltaten
erweist, um uns zu überzeugen, daß wir uns ihm zuwenden sollen!
Was glaubt ihr denn, daß nur sie
die Wahrheit nicht kennen? Gerade
60
erst meinte einer meiner Jünger,
daß ich den Kranken nicht heilen dürfe, weil er eine heidnische Seele hat.
Aber was ist die Seele? Von wem stammt sie ?
Die Seele ist die geistige Natur
des Menschen. Sie ist das Sein, das, in vollkommener Weise erschaffen, das
ganze körperliche Leben adelt, begleitet, belebt und weiterlebt, nachdem das
Fleisch zu leben aufgehört hat, weil sie unsterblich ist wie jener, der sie
erschaffen hat, nämlich Gott!
Da es nur einen Gott gibt, gibt
es auch nicht Seelen von Heiden oder Nichtheiden, da keine von anderen Göttern
erschaffen worden sind. Es gibt eine einzige Macht, die Seelen erschafft, und
es ist die unseres Schöpfers, unseres Gottes, des Einen, des Mächtigen,
Heiligen, Guten, die keine andere Leidenschaft kennt als die der Liebe, der
vollkommenen, rein geistigen Barmherzigkeit; und damit von diesen Römern hier
verstanden werden kann, was ich gesagt habe von der Liebe, füge ich hinzu:
eine absolut moralische Barmherzigkeit; denn der Begriff "Geist" wird von
diesen Kindern, die nichts von heiligen Worten wissen, nicht verstanden.
Glaubt ihr denn, ich sei nur für
Israel gekommen? Ich bin der, der die Geschlechter unter einem Hirtenstab
versammeln wird: unter dem des Himmels. Wahrlich, ich sage euch, die Zeit wird
bald kommen, in der viele Heiden sagen werden: "Gewährt uns das Nötige, damit
wir in unserer heidnischen Heimat dem wahren Dreieinigen Gott opfern können" '
dessen Wort Ich bin. Nun werden sie in ihre Heimat zurückkehren, überzeugter,
als wenn ich sie mit Verachtung weggejagt hätte. Sie spüren Gott im Wunder und
in meinen Worten, und sie werden überall, wo sie hinkommen, darüber berichten.
Weiter frage ich euch: War es
denn nicht gerecht, soviel Vertrauen zu belohnen? Verwirrt durch die Antworten
der Ärzte, enttäuscht von den nutzlosen Reisen zu den Tempeln, haben sie den
nötigen Glauben aufgebracht, zum Unbekannten zu gehen, zum großen Unbekannten
der Welt, dem Verspotteten, dem großen Verlachten und Verleumdeten in Israel,
um ihm zu sagen: "Ich glaube, daß du die Macht hast." Was ihrer neuen
Denkweise den Weg geebnet hat, liegt im Annehmenkönnen dieses Glaubens. Mehr
als von der Krankheit habe ich sie von ihrem Irrglauben geheilt, indem ich
einen Kelch an ihre Lippen geführt habe, der in ihnen einen Durst gelöscht
hat, der immer stärker wird, je mehr man daraus trinkt: es ist der Durst nach
der Erkenntnis des wahren Gottes.
Euch von Israel will ich zum
Schluß sagen: Möget ihr doch den Glauben haben, den diese Männer aufgebracht
haben.»
Der Römer steht mit dem Geheilten
auf. «Aber jetzt wage ich nicht mehr zu sagen: "Beim Jupiter!" So sage ich
fortan: "Bei der Ehre als römischer Bürger schwöre ich dir, daß ich diesen
Durst haben werde. Doch nun muß ich gehen. Wer wird mir in Zukunft zu trinken
geben?»
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«Dein Geist, die Seele, von der
du jetzt weißt, daß du sie hast, bis zu dem Tage, da ein Bote von mir zu dir
kommen wird.»
«Nicht du selbst ?»
«Ich... ich nicht. Doch werde ich
nicht abwesend sein, auch wenn ich nicht anwesend bin. Es werden kaum mehr als
zwei Jahre vergehen, bis ich dir ein Geschenk gebe, das größer ist als die
Heilung dessen, der dir lieb und teuer ist. Lebt wohl, ihr beiden! Bleibt
beharrlich in diesem Bewußtsein des Glaubens!»
«Salve, Meister. Der wahre Gott
möge dich behüten.» Die beiden Römer entfernen sich und man hört, wie sie die
Diener mit dem Gefährt herbeirufen.
«Sie wußten also nicht, daß sie
eine Seele haben», murmelt ein Greis.
«Ja, Vater! Aber sie haben es
verstanden, meine Worte besser aufzunehmen als viele in Israel. Nun, da sie
ein großes Almosen gespendet haben, wollen wir die Armen Gottes in doppeltem
und dreifachem Maß beschenken. Die Armen mögen für diese Wohltäter beten, die
ärmer als sie selbst sind, damit sie zum einzigen wahren Reichtum gelangen,
der darin besteht, Gott zu erkennen.»
Die Verschleierte weint unter
ihrem Schleier, der wohl verhindert, daß man die Tränen sieht, aber nicht, daß
man das Schluchzen hört.
«Jene Frau weint», sagt Petrus.
«Vielleicht hat sie kein Geld mehr. Sollen wir ihr welches geben?»
«Sie weint nicht deswegen. Doch
gehe und sage ihr: "Die Heimat ist vergänglich, doch der Himmel ist ohne Ende.
Er gehört denen, die es verstehen, Glauben zu haben. Gott ist die Güte und
liebt somit auch die Sünder. Er hilft dir, um dich zu überzeugen, daß du zu
ihm gehen sollst." Geh, Petrus, sprich so zu ihr und laß sie weinen. Es ist
das Gift, das aus ihr kommt.»
Petrus geht zu der Frau, die sich
schon in Richtung der Felder entfernt. Er spricht zu ihr und kehrt zurück.
«Nun weint sie noch stärker», sagt er. «Ich glaubte, sie getröstet zu
haben...», und er schaut Jesus an.
«Sie ist tatsächlich getröstet,
denn es gibt auch Freudentränen.»
«Hm, hm... ich würde ihr gerne
einmal ins Gesicht schauen. Werde ich es wohl einmal sehen?»
«Am Tage des Gerichtes.»
«Göttliche Barmherzigkeit! Aber
dann werde ich ja schon tot sein. Was nützt es mir dann noch? Dann werde ich
den Ewigen anschauen müssen.»
«Beginne sofort damit. Es ist die
einzige nützliche Sache.»
«Ja... aber Meister, wer ist
sie?»
Alle lachen.
«Wenn du noch einmal nach ihr
fragst, dann gehen wir sofort von hier weg; so wirst du sie vergessen.»
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«Nein, Meister! Ich bin
zufrieden, wenn du bleibst...»
Jesus lächelt. «Diese Frau», sagt
er, «ist ein Überbleibsel und ein Erstling.»
«Was soll das heißen ? Ich
verstehe nicht.»
Doch Jesus läßt ihn im Zweifel
und geht zum Dorf.
«Er geht zu Zacharias. Seine Frau
liegt im Sterben», erklärt Andreas. «Er hat mich gebeten, den Meister zu
rufen.»
«Du machst mich zornig. Du weißt
alles, machst alles, und mir sagst du nie etwas. Schlimmer als ein Fisch bist
du!» Petrus lädt seine Enttäuschung auf seinen Bruder ab.
«Bruder, nimm es nicht so
tragisch. Du sprichst auch für mich. Laßt uns die Netze einziehen. Komm.»
Die einen gehen nach rechts, die
anderen nach links, und das ist das Ende.
169. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST KEIN FALSCHES ZEUGNIS ABLEGEN»
«Wieviel Volk!» ruft Matthäus aus
und Petrus entgegnet: «Schau! Auch Galiläer sind da... Wir wollen es dem
Meister sagen. Es sind drei angesehene Gauner!»
«Sie kommen vielleicht
meinetwegen. Auch hier verfolgen sie mich...»
«Nein, Matthäus. Der Hai frißt
keine kleinen Fische. Er will den Menschen, eine edle Beute. Nur wenn er
keinen findet, schnappt er einen großen Fisch. Aber ich, du und die anderen,
wir sind kleine Fische... kleine Ware.»
«Du meinst, sie sind des Meisters
wegen gekommen?» fragt Matthäus.
«Für wen denn sonst? Siehst du
nicht, wie sie nach allen Seiten spähen ? Sie gleichen wilden Tieren, die die
Spur der Gazelle wittern.»
«Ich gehe und melde es.»
«Warte! Wir wollen es den Söhnen
des Alphäus sagen. Er ist zu gut. Eine vergeudete Güte, wenn sie in ihren
Rachen fällt.»
«Du hast recht.»
Die beiden gehen zum Fluß und
rufen Jakobus und Judas. «Kommt, hier sind einige Verdächtige. Sie sind
bestimmt gekommen, um den Meister zu belästigen.»
«So laßt uns gehen. Wo ist der
Meister ?»
«Noch in der Küche. Wir wollen
uns beeilen, denn wenn er es bemerkt, wäre er nicht einverstanden!»
«Ja, und er tut nicht gut daran.»
«Das sage ich auch.»
63
Sie kehren zum Dreschplatz
zurück. Die Gruppe aus Galiläa spricht steif und herablassend mit anderen
Leuten. Judas des Alphäus nähert sich ihnen zufällig und hört: «Worte müssen
auf Tatsachen beruhen.»
«Die erbringt er. Erst gestern
hat er einen besessenen Römer geheilt», entgegnet ein kräftiger Mann aus dem
Volk.
«Schrecklich! Einen Heiden
heilen! Skandal! Hast du gehört, Eli ?»
«Alle Sünden sind in ihm.
Freundschaften mit Zöllnern und Dirnen, Umgang mit Heiden und...»
«... und das Dulden von
Verleumdern! Auch das ist eine Sünde. In meinen Augen die schwerste. Doch da
er nichts davon weiß, kann und will er sich auch nicht verteidigen. Sprecht
mit mir. Ich bin sein Bruder und älter als er, und dieser ist der andere
Bruder und noch älter. Also sprecht.»
«Weshalb ärgerst du dich
eigentlich? Glaubst du, wir reden schlecht vom Messias? Nein! Wir sind von
sehr, sehr weit her gekommen, angezogen von seinem Ruf. Wir sagten es auch
diesen hier.»
«Lügner! Du ekelst mich so an,
daß ich dir den Rücken kehre», und Judas des Alphäus fürchtet, gegen die
Nächstenliebe Feinden gegenüber zu fehlen, und geht fort.
«Ist es vielleicht nicht wahr?
Ihr alle, bezeugt es selber.»
Aber "alle" ' das heißt, die
anderen, mit denen die Galiläer sprachen, schweigen. Sie wollen nicht lügen,
wagen jedoch nicht zu widersprechen, und darum sagen sie nichts.
«Wir wissen nicht einmal, wie er
ist...», sagt der Galiläer Eli.
«Hast du ihn nicht in meinem
Hause beschimpft?» fragt Matthäus spöttisch. «Oder hast du das Gedächtnis
wegen Krankheit verloren?»
Der "Galiläer" hüllt sich in
seinen Mantel ein und geht ohne zu antworten mit den anderen weg.
«Feigling!» ruft ihm Petrus nach.
«Sie wollten uns teuflische Dinge
über ihn erzählen...», erklärt ein Mann. «Aber wir haben seine Taten gesehen,
und wir wissen, wie sie sind, die Pharisäer. Wem soll man also glauben: dem
Guten, der wirklich gut ist, oder diesen Boshaften, die sich selbst als gut
bezeichnen, aber eine Landplage sind? Ich weiß nur, daß ich, seit ich hierher
komme, so verändert bin, daß ich mich selbst nicht wiedererkenne. Ich war ein
gewalttätiger Mensch, hart zu Weib und Kindern, rücksichtslos gegen meine
Mitmenschen, und nun? Alle im Dorf sagen: "Azarias ist nicht mehr der
gleiche." Habt ihr jemals gehört, daß ein Teufel die Menschen gut werden läßt?
Für wen arbeitet er denn? Für unsere Heiligung? Das ist aber ein eigenartiger
Teufel, der für den Herrn arbeitet.»
«Das ist richtig, Mann. Gott möge
dich beschützen, weil du wohl verstehst, gut siehst und recht handelst. Mach
so weiter, und du wirst ein echter Jünger des gebenedeiten Messias sein. Eine
Freude für ihn, der nur euer Bestes will und alles erträgt, um euch zum Guten
zu führen. Nur das
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wirklich Böse soll bei euch
Ärgernis erregen. Aber wenn ihr seht, wie Jesus im Namen Gottes wirkt, dann
nehmt keinen Anstoß und glaubt jenen nicht, die euch zum Ärgernisnehmen
überreden wollen, auch wenn ihr ihn Neues tun seht. Eine neue Zeit ist
angebrochen, wie eine Blume, die erblüht; nachdem die Wurzel sich
jahrhundertelang vorbereitet hat, ist dieser Tag gekommen. Wenn diese
Vorbereitungszeit nicht vorangegangen wäre, hätten wir sein Wort nicht
verstanden. Doch Jahrhunderte des Gehorsams gegenüber dem Gesetz des Sinai
haben uns jenes Minimum an Vorbereitung gegeben, das uns erlaubt, von dieser
göttlichen Blume, welche uns die Güte zu sehen gewährt hat, alle Düfte und
Säfte in uns aufzunehmen, um uns zu reinigen, zu stärken, zu heiligen und uns
den Wohlgeruch der Heiligkeit eines Altares zu verleihen. Da nun die neue Zeit
gekommen ist, bringt sie uns neue Formen, die aber nicht gegen das Gesetz
sind, jedoch von der Barmherzigkeit und Liebe geprägt, die vom Himmel
gestiegen ist.» Jakobus des Alphäus macht ein Zeichen des Grußes und geht zum
Haus.
«Wie gut du reden kannst», sagt
Petrus voller Bewunderung. «Ich weiß nie, was ich sagen soll. So sage ich nur:
seid gut, liebt ihn, hört auf ihn, glaubt ihm. Ich weiß wirklich nicht, wie er
mit mir zufrieden sein kann!»
«Er ist es aber sehr», antwortet
Jakobus des Alphäus.
«Sagst du das ehrlich oder nur
aus Güte?»
«Es ist wirklich wahr. Noch
gestern hat er es mir gesagt.»
«Ja? Dann bin ich heute
glücklicher als am Tag, da man meine Braut zu mir geführt hat. Aber sag, wo
hast du denn so gut reden gelernt ?»
«Auf den Knien seiner Mutter und
an seiner Seite. Was für Unterrichtsstunden! Was für Worte! Nur Jesus spricht
noch besser als sie. Doch was ihr an Macht fehlt, ersetzt sie durch ihre
sanfte Güte... und das dringt ein. Ihre Lehren? Hast du noch nie ein Tüchlein
gesehen, das man mit einem Zipfel in duftendes Öl getaucht hat? Ganz langsam
nimmt es nicht das Öl, sondern den Wohlgeruch in sich auf, und wenn das Öl
weggenommen wird, bleibt der Duft des Öls zurück, um zu sagen: "Ich war da."
So ist es uns mit ihr ergangen. Auch in uns, rauhe Stoffe und vom Leben
verwaschen, ist sie mit ihrer Weisheit und Gnade eingedrungen und ihr
Wohlgeruch ist in uns.»
«Warum läßt er sie nicht
hierherkommen ? Er sagte, er würde es tun. Wir würden besser werden, weniger
starrköpfig sein, ich wenigstens, und auch diese Leute... In ihrer Gegenwart
würden sich sogar diese Giftschlangen bessern, die ab und zu kommen...»
«Glaubst du? Ich nicht. Wir
würden besser werden und auch die Demütigen. Aber die Mächtigen und die Bösen!
... Oh, Simon des Jonas! Offenbare den anderen nie deine ehrlichen Gefühle. Du
könntest enttäuscht werden... Hier ist er! Wir sagen ihm nichts...»
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Jesus kommt aus der Küche und hat
einen kleinen Jungen an der Hand, der neben ihm dahertrottet und an einer mit
Öl getränkten Brotkruste nagt. Jesus richtet seinen langen Schritt nach den
Schrittchen seines kleinen Freundes. «Eine Eroberung», sagt Jesus fröhlich.
«Dieser kleine vierjährige Mann, der sich Asrael nennt, hat mir gesagt, er
möchte ein Jünger werden und alles lernen: predigen, die Kranken heilen,
machen, daß die Weinstöcke auch im Winter Trauben bekommen, und er will auf
einen hohen Berg steigen und aller Welt zurufen: "Kommt, der Messias ist da!"
Ist es nicht so, Asrael ?»
Das lachende Kind sagt mit vollem
Munde: «Ja, ja», und ißt weiter. Thomas neckt es: «Du hast eben erst gelernt,
allein zu essen, du weißt doch gar nicht, wer der Messias ist.»
«Jesus von Nazareth.»
«Was bedeutet denn "Messias" ?»
«Das heißt, das heißt: der Mann,
der gesandt worden ist, um gut zu sein und uns alle gut zu machen.»
«Was tut er, um uns alle gut zu
machen? Du als Lausbub, wie wirst du es machen?»
«Ich werde ihn lieben und alles
tun, und er wird alles tun, weil ich ihn lieb habe. Mache es du nun auch so
und du wirst gut werden.»
«So, da haben wir die Lektion,
Thomas. Die Regel lautet: "Liebe mich, und du wirst alles tun, weil ich dich
lieben werde, wenn du mich liebst, und die Liebe wird alles übrige tun." Der
Heilige Geist hat gesprochen. Komm, Asrael, gehen wir um zu predigen.»
Jesus ist so glücklich, wenn ein
Kind bei ihm ist, daß ich alle zu ihm führen möchte und wünsche, daß alle
Kinder ihn kennenlernen. Wie viele sind es doch, die nicht einmal seinen Namen
kennen?
Sie gehen an der Verschleierten
vorbei, doch bevor sie zu ihr gelangen sagt Jesus zum Kind: «Sag dieser Frau:
"Der Friede sei mit dir, Frau!»
«Warum?»
«Weil sie ein "Wehweh" hat wie
du, wenn du hinfällst. Sie weint. Aber wenn du so zu ihr redest, dann wird es
vergehen.»
«Der Friede sei mit dir, Frau.
Weine nicht! Der Messias hat es mir gesagt. Wenn du ihn lieb hast, dann hat er
dich auch lieb und du wirst gesund werden», ruft das Kind an Jesu Hand, der
weitergeht, ohne stehenzubleiben. Asrael hat wirklich das Zeug zum Missionar.
Auch wenn er jetzt noch ein bißchen voreilig in seinen Predigten ist und mehr
plappert, als ihm zu sagen aufgetragen wurde.
«Der Friede sei mit euch allen.
"Du sollst kein falsches Zeugnis
ablegen", steht geschrieben.
Was gibt es Abstoßenderes als
einen Lügner? Kann man nicht sagen, daß er Grausamkeit mit Unreinheit
verbindet? Ja, so ist es. Der Lügner, ich spreche vom Lügner in
schwerwiegenden Dingen, ist grausam. Er tötet
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das Ansehen einer Person mit
seiner Zunge. Also ist er vom Mörder nicht verschieden. Ich sage, daß er sogar
schlimmer als ein Mörder ist. Dieser tötet nur den Leib. Der Lügner tötet auch
den guten Ruf, das Andenken an einen Menschen. Daher ist er in zweifacher
Weise ein Mörder. Er ist ein unbestrafter Mörder, da er kein Blut vergießt,
sondern die Ehre des Verleumdeten und seiner ganzen Familie verletzt. Ich
denke dabei nicht einmal an den Fall, daß jemand durch Meineid den anderen dem
Tod ausliefert. Über diesem haben sich schon die Kohlen der Hölle angehäuft.
Ich spreche nur von jenen, die durch lügenhafte Äußerungen einem Unschuldigen
gewisse Dinge zu dessen Nachteil unterstellen und andere davon zu überzeugen
versuchen. Warum tut er das? Entweder aus grundlosem Haß oder aus Habsucht,
weil er des anderen Gut für sich haben möchte, oder aus Angst.
Aus Haß: Nur wer ein Freund
Satans ist, empfindet Haß. Der Gute haßt nicht, nie und aus keinem Grund.
Selbst wenn er verachtet wird, auch wenn er geschädigt wird, verzeiht er. Er
haßt nie. Der Haß ist das Zeugnis, das eine verirrte Seele sich selbst
ausstellt, und das klarste Zeugnis, das einem Unschuldigen gegeben wird, denn
der Haß ist die Auflehnung der Bosheit gegen das Gute. Einem, der gut ist,
wird nicht verziehen von den Bösen.
Aus Habgier: Einer hat, was ich
nicht habe. Ich will das, was er hat. Aber nur, wenn ich geringschätzige Worte
über ihn verbreite, kann ich seinen Platz erobern. Ich werde es tun, ich lüge?
Was macht das schon? Ich bestehle ihn? Was ist dabei? Eine ganze Familie
zugrunde richten? Was bedeutet das ? Unter den vielen Fragen, die sich der
arglistige Lügner stellt, vergißt er, weil er sie vergessen will, eine Frage,
nämlich diese: "Und wenn ich entlarvt würde?" Diese stellt er sich nicht.
Denn, erfüllt von Hochmut und Habgier, gleicht er dem, dessen Augen verbunden
sind. Er sieht die Gefahr nicht. Er ist wie betrunken vom Weine Satans und
überlegt nicht, daß Gott stärker ist als Satan und es auf sich nimmt, den
Verleumdeten zu rächen. Der Lügner hat sich der Lüge ausgeliefert und vertraut
törichterweise auf ihren Schutz.
Aus Angst: Oft verleumdet jemand,
um sich selbst zu rechtfertigen. Das ist die verbreitetste Art von Lüge. Das
Böse ist getan. Man fürchtet, daß es entdeckt und als unser Werk erkannt
werde. Also wird, gestützt auf die Wertschätzung, die man noch bei anderen
genießt, der Fall verdreht, und das, was wir getan haben, legen wir einem
anderen zur Last, bei dem man nur die Ehrlichkeit fürchtet. Man verleumdet,
weil vielleicht der andere einmal Zeuge einer unserer bösen Taten war und man
sich auf diese Weise gegen seine Zeugenaussage absichern will. Man klagt ihn
also an, um ihn unbeliebt zu machen, damit ihm niemand glaubt, wenn er etwas
sagt.
Handelt recht, damit ihr niemals
zu lügen nötig habt. Überlegt ihr denn beim Lügen nicht, daß ihr euch ein
schweres Joch aufbürdet? Dieses
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ergibt sich aus der Unterwerfung
unter Satan, aus der ständigen Angst davor, daß eure Aussagen widerlegt werden
könnten, und ihr euch gezwungen seht, euch der ausgesprochenen Lüge mit all
ihren Umständen und Einzelheiten selbst nach Jahren zu erinnern, ohne euch in
Widersprüche zu verwickeln. Die Last eines Galeerensträflings! Wenn sie
wenigstens dem Himmel dienen würde! Aber sie dient nur der Vorbereitung eines
Platzes in der Hölle!
Seid ehrlich! So schön ist der
Mund eines Menschen, der die Lüge nicht kennt. Ist er arm, ungebildet und
verkannt? Auch wenn er es ist, ist er doch immer ein König, denn er ist
aufrichtig. Die Aufrichtigkeit ist königlicher als das Gold und ein Diadem,
denn sie steht über die Maßen höher als ein Thron und hat ein größeres Geleit
von Guten, als ein Monarch sein eigen nennt. Ein aufrichtiger Mensch strömt
Trost und Geborgenheit aus, während die Freundschaft eines Unaufrichtigen oder
auch nur dessen Gegenwart Unbehagen verursacht. Denkt denn der Lügner nicht
daran, daß die Lüge über kurz oder lang aufgedeckt wird und daß man ihm
alsdann stets mit Argwohn begegnen wird? Wie kann man noch gelten lassen, was
er sagt? Auch wenn er die Wahrheit sagt, wird der, der ihn hört und ihm
glauben möchte, im Grunde doch immer einen Zweifel hegen: "Ob er wohl auch
jetzt wieder lügt?" Ihr werdet fragen: "Aber wo ist denn in all dem das
falsche Zeugnis?" Jede Lüge ist ein falsches Zeugnis. Nicht nur die Lüge vor
dem Richter.
Seid einfach, wie Gott und das
Kind einfach sind! Seid wahrheitsliebend in allen Augenblicken eures Lebens.
Wollt ihr den Ruf eines achtbaren Menschen haben? Seid es in Wahrheit! Auch
wenn ein Verleumder euch schlecht machen will, werden hundert Rechtschaffene
sagen: "Nein, das ist nicht wahr! Er ist ein aufrichtiger Mensch. Seine Werke
sprechen für ihn."
Im Buch der Weisheit steht
geschrieben: "Der abtrünnige Mensch ergeht sich in der Frevelhaftigkeit seines
Mundes... In seinem verderbten Herzen bereitet er das Böse vor und zu jeder
Zeit sät er Zwietracht! Sechs Dinge haßt der Herr und das siebte verabscheut
er: hochmütige Augen, lügnerische Zungen, Hände, die unschuldiges Blut
vergießen, ein Herz, das Frevelhaftes sinnt, Füße, die eiligst zum Bösen
rennen, den falschen Zeugen, der Lügen vorträgt, und jenen, der Zwietracht
unter die Brüder sät... Wegen der Zungensünden geht der Hinterhältige dem
Verderben entgegen. Wer lügt, ist ein betrügerischer Zeuge. Wahrheitsliebende
Lippen ändern sich ewig nicht, aber betrügerische Worte bauen auf den
Augenblick. Die Worte des Ohrenbläsers scheinen arglos, aber sie dringen ein
ins Herz. Der Feind wird an seinem Reden erkannt, wenn er Verrat schmiedet.
Wenn er jemandem etwas zuflüstert, traue ihm nicht, denn er trägt sieben böse
Absichten in seinem Herzen. Er verbirgt seinen Haß, aber seine Bosheit wird
offenbar werden... Wer anderen eine Grube gräbt,
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fällt selbst hinein, und der
Stein wird den treffen, der ihn ins Rollen bringt."
Alt wie die Welt ist die Sünde
der Lüge, und unwandelbar ist der Spruch des Weisen darüber, ebenso wie das
Urteil Gottes über den Lügner unverändert bleibt. Ich sage: habt immer nur
eine Sprache! Das Ja sei immer ein Ja, und das Nein immer ein Nein, auch vor
Mächtigen und Tyrannen, und ihr werdet dafür einen großen Lohn im Himmel
haben. Ich sage euch: Habt die Unbefangenheit des Kindes, das instinktiv zu
dem Menschen hingeht, den es für gut hält, das nichts anderes als Güte sucht
und sagt, was seine eigene Güte ihm zu sagen eingibt, ohne zu erwägen, ob es
zu viel sagt und darob einen Tadel ernten könnte.
Geht hin in Frieden, und die
Wahrheit werde euch zum Freunde.»
Der kleine Asrael, der die ganze
Zeit zu den Füßen Jesu gesessen und sein Köpfchen erhoben hatte wie ein
Vöglein, das auf den Gesang seiner Eltern hört, hat sehr liebliche Gebärden:
Er lehnt sein Gesichtchen an die Knie Jesu und sagt: «Ich und du, wir sind
Freunde, denn du bist gut, und ich habe dich gern. Jetzt will auch ich etwas
sagen.» Und seine Stimme erhebend, damit er im ganzen großen Raum gehört
werde, spricht er, die Gebärde Jesu nachahmend: «Hört mich alle. Ich weiß,
wohin die Menschen kommen, die keine Lügen sagen und Jesus von Nazareth
lieben. Sie steigen die Leiter Jakobs hinauf. Hinauf, hinauf, hinauf...
zusammen mit den Engeln, und dann bleiben sie stehen, wenn sie den Herrn
gefunden haben», und er lacht fröhlich, wobei er alle seine kleinen Zähnchen
zeigt.
Jesus streichelt ihn und geht
unter das Volk. Er bringt den Kleinen seiner Mutter: «Danke, Frau, daß du mir
diesen Knaben überlassen hast.»
«Ist er dir zur Last gefallen?»
«Nein, er hat mir Liebe
geschenkt. Er ist ein Kind des Herrn, und der Herr möge immer mit ihm und mir
dir sein. Lebt wohl!»
Alles ist zu Ende.
170. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER": «DU SOLLST NICHT BEGEHREN DEINES NÄCHSTEN GUT»
«Gott gibt jedem das Nötige. Das
ist in Wahrheit so. Was braucht der Mensch? Den Prunk? Eine große Zahl von
Dienern? Landgüter, daß man deren Felder gar nicht zählen kann ? Gastmähler,
die bei Sonnenuntergang beginnen und bei Sonnenaufgang enden? Nein! Was der
Mensch braucht, ist ein Obdach, ein Brot und ein Gewand. Das Nötigste zum
Leben!
Schaut euch um. Wer sind die
fröhlichsten und gesündesten Menschen? Wer erfreut sich eines gesunden,
friedlichen Alters? Die Genießer? Nein,
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jene, die ehrbar leben, arbeiten
und sich das Angemessene wünschen. Sie kennen das Gift ungeordneter Begierden
nicht und bleiben kräftig. Sie kennen nicht das Gift der Unmäßigkeit und
bleiben beweglich. Sie kennen das Gift des Neides nicht und bleiben fröhlich.
Wer aber immer mehr haben will, verliert den eigenen Frieden, verliert die
Freude, wird vorzeitig altern, ausgebrannt von Haß und Unmäßigkeit.
Ich könnte die beiden Gebote "Du
sollst nicht stehlen" und "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut"
zusammenfassen. Denn das unbändige Verlangen treibt zum Diebstahl. Es ist nur
ein kurzer Schritt vom einen zum anderen. Ist jeder Wunsch unerlaubt? Das sage
ich nicht. Ein Familienvater, der auf den Feldern oder in der Werkstatt
arbeitet, sündigt nicht, wenn er wünscht, daß ihm seine Arbeit genug einträgt
um seinen Kindern die Nahrung zu gewährleisten, vielmehr erfüllt er seine
Pflicht als Vater. Aber wer nur danach verlangt, immer mehr zu genießen und
sich mit dem bereichert, was anderen gehört, der sündigt.
Der Neid! Warum? Ist er nicht das
Verlangen nach fremdem Gut, Geiz und Neid? Der Neid trennt von Gott, meine
Kinder, und bindet an Satan. Denkt ihr nicht daran, daß Luzifer der erste war,
der das Gut des anderen verlangte? Er war der schönste der Erzengel und konnte
sich an Gott erfreuen. Er hätte damit zufrieden sein müssen. Doch er wurde
neidisch auf Gott und wollte selbst Gott sein... und wurde zum Dämon, zum
ersten Dämon. Zweites Beispiel: Adam und Eva hatten alles und erfreuten sich
des irdischen Paradieses und der Freundschaft Gottes und waren selig in den
Gnadengaben, die Gott ihnen gegeben hatte. Sie hätten damit zufrieden sein
müssen. Doch sie beneideten Gott um die Erkenntnis des Guten und des Bösen und
wurden aus dem Garten Eden vertrieben und von Gott geächtet, sie, die in
Ungnade gefallen waren, sie waren die ersten Sünder. Drittes Beispiel: Kain
beneidete Abel ob seiner Freundschaft mit dem Herrn; er wurde zum ersten
Mörder. Maria, die Schwester von Aaron und Moses beneidete ihren Bruder und
wurde zur ersten Aussätzigen in der Geschichte Israels. Ich könnte euch
Schritt für Schritt durch die ganze Geschichte des Volkes Gottes führen, und
ihr würdet sehen, was die übertriebene Begehrlichkeit aus jenen macht, die ihr
nachgeben: einen Sünder und eine Geißel für die Nation, denn die Sünden der
einzelnen häufen sich an und führen Strafen herbei für ganze Völker, wie
Sandkorn auf Sandkorn, in Jahrhunderten angehäuft, einen Bergrutsch verursacht
und Dörfer und Menschen unter sich begräbt.
Ich habe euch oft die Kinder als
Beispiel angeführt, weil sie einfach sind und vertrauensvoll. Heute sage ich
euch: ahmt die Vögel nach in ihrer Wunschlosigkeit. Jetzt haben wir Winter.
Wenig Nahrung ist in den Obstgärten. Aber sorgen sie sich deswegen schon im
Sommer und hamstern? Nein. Sie vertrauen auf den Herrn. Sie wissen, daß sie
immer ein Würmchen, ein Körnchen, eine Larve, eine Spinne oder eine Fliege auf
dem
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Wasser für ihre Kehle erbeuten
können. Sie wissen, daß ein warmer Dachfirst oder eine Flocke Wolle immer für
ihren Winterunterschlupf zu finden ist, wie sie auch wissen, wann es Zeit ist,
Heu für die Nester und mehr Futter für die Brut zu sammeln, und daß es zur
rechten Zeit dieses Heu auf den Wiesen gibt und mehr Futter in den Obstgärten,
in den Furchen, und Luft und Erde reich an Insekten sein werden. Dann singen
sie leise: "Danke, Schöpfer, für alles, was du uns gibst und geben wirst",
bereit, aus voller Kehle ihr Hosanna zu singen, wenn sie sich in der
Frühlingszeit ihrer Liebe und ihrer Jungen erfreuen.
Welches Geschöpf ist fröhlicher
als der Vogel ? Doch was ist seine Intelligenz im Vergleich zur menschlichen?
Sie ist wie ein Sandkorn im Vergleich zu einem Berg. Doch könnt ihr vom Vogel
lernen. Wahrlich, ich sage euch: Wer ohne unlauteren Wunsch lebt, besitzt die
Fröhlichkeit des Vogels. Er stützt sich auf Gott und spürt in ihm den Vater.
Er lächelt dem beginnenden Tag und der hereinbrechenden Nacht zu, denn er
weiß, daß die Sonne seine Freundin, und die Nacht seine Ernährerin ist. Er
betrachtet die Menschen ohne Neid und hat nicht ihre Rache zu fürchten, denn
er schadet ihnen in keiner Weise. Er zittert nicht um seine Gesundheit, nicht
um seinen Schlaf, denn er weiß, daß ein ehrbares Leben Krankheiten fernhält
und einen sanften Schlaf gewährt. Schließlich fürchtet er den Tod nicht, denn
er weiß, daß er, wenn er gut gehandelt hat, Gottes Lächeln zu erwarten hat.
Auch der König muß sterben. Auch der Reiche muß sterben. Es ist nicht das
Zepter, das den Tod fernhält, noch kann man mit Geld Unsterblichkeit kaufen.
Vor dem König der Könige, vor dem Herrn der Herren sind Kronen und Münzen
nichtige Dinge, nur ein Leben nach den Zehn Geboten hat einen Wert.
Was sagen diese Männer im
Hintergrund? Habt keine Angst zu fragen!»
«Wir sagten: der Antipas, welcher
Sünde hat er sich schuldig gemacht, des Diebstahls oder des Ehebruchs?»
«Ich will nicht, daß ihr auf die
anderen blickt; blickt in euer eigenes Herz! Ich sage euch aber, daß er sich
des Götzendienstes schuldig macht, da er mehr das Fleisch als Gott anbetet,
und des Ehebruches, des Diebstahls, des unerlaubten Verlangens und bald des
Mordes.»
«Wird er von dir, dem Retter,
gerettet werden?»
«Ich werde jene retten, die
bereuen und zu Gott zurückkehren. Die Unbußfertigen werden keine Erlösung
finden.»
«Du hast gesagt, er sei ein Dieb.
Was hat er gestohlen?»
«Die Frau seines Bruders.
Diebstahl bezieht sich nicht nur auf das Geld. Diebstahl ist auch, dem
Menschen die Ehre nehmen, dem Mädchen die Jungfräulichkeit und einem Mann
seine Frau. Das ist genauso Diebstahl, wie wenn man dem Nächsten einen Ochsen
stiehlt oder eine Pflanze nimmt. Der Diebstahl, belastet durch Unzucht oder
durch das falsche
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Zeugnis, wiegt durch Ehebruch
oder Unkeuschheit oder durch die Lüge noch schwerer.»
«Eine Frau, die sich hergibt,
welche Sünde begeht sie?»
«Wenn sie verheiratet ist,
Ehebruch und Betrug dem Mann gegenüber. Wenn sie unverheiratet ist, diejenige
der Unreinheit und des Diebstahls an sich selbst.»
«An sich selbst? Sie gibt doch
nur vom Ihrigen etwas weg.»
«Nein. Unser Körper ist von Gott
geschaffen worden, um ein Tempel der Seele zu sein, die der Tempel Gottes ist.
Daher muß er in Sittsamkeit bewahrt werden, da sonst die Seele der
Freundschaft Gottes und des ewigen Lebens beraubt wird.»
«So kann eine Dirne nur noch
Satan gehören?»
«Jede Sünde ist Buhlschaft mit
Satan. Der Sünder gibt sich, einem gedungenen Weibe gleich, mit seinen
unerlaubten Neigungen Satan hin, indem er sich davon einen schmutzigen Nutzen
verspricht. Groß, sehr groß ist die Sünde der Prostitution, welche die
Menschen zu unreinen Tieren erniedrigt. Glaubt jedoch nicht, die übrigen
Todsünden wären weniger schlimm. Was müßte ich über den Götzendienst sagen!
Was über den Mord! Doch hat Gott den Israeliten verziehen, nachdem sie das
Goldene Kalb angebetet hatten. Er hat David eine Sünde verziehen, die eine
zweifache war. Gott verzeiht jedem, der bereut. Wenn nur die Reue im
Verhältnis zur Anzahl und Schwere der Sünden steht, sage ich euch: je mehr
einer bereut, um so mehr wird ihm vergeben werden, denn die Reue ist Ausdruck
der Liebe, der tätigen Liebe. Wer bereut, sagt mit seiner Reue zu Gott: "Ich
kann deinen Zorn nicht länger ertragen, denn ich liebe dich und möchte geliebt
werden." Gott liebt den, der ihn liebt. Deswegen sage ich: je mehr jemand
liebt, um so mehr wird er geliebt. Wer vollkommen liebt, dem wird alles
verziehen.
Das ist die Wahrheit. Geht nun!
Aber vorher sollt ihr noch wissen, daß am Eingang des Dorfes eine Witwe ist,
die mit ihrer Kinderschar in größter Not lebt. Der Schulden wegen hat man sie
aus dem Haus vertrieben, und sie kann dem Hausbesitzer noch "Danke" sagen,
weil er sie nur verjagt hat. Ich habe euer Almosen für ihr Brot verwendet.
Aber sie hat ein Obdach nötig. Die Barmherzigkeit ist das Gott wohlgefälligste
Opfer. Seid gütig, und in Gottes Namen verspreche ich euch die Belohnung.»
Die Leute flüstern, beraten sich
und diskutieren.
Jesus heilt indessen einen fast
Blinden und hört ein altes Mütterchen an, das von Doko gekommen ist und ihn
bittet, zu ihrer kranken Schwiegertochter zu kommen. (Eine lange, von Tränen
begleitete Geschichte, die ich heute, halbtot wie ich bin, nicht
niederschreiben kann.)
Und zum Glück endet alles, denn
ich fürchte, nochmals eine Herzkrise durchstehen zu müssen, wie die letzte,
die drei Stunden andauerte und auch meine Augen in Mitleidenschaft gezogen
hat.
72
171. JESUS BEIM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER"; ABSCHLUSS DER ERKLÄRUNG ZUM "DE PROFUNDIS" UND "MISERERE"
«Meine Kinder im Herrn! – Das
Fest der Reinigung steht nahe bevor, und ich, das Licht der Welt, als das
wahre Licht des Festes, sende euch mit dem notwendigen Minimum an Vorbereitung
hin, um es würdig zu begehen, damit ihr daraus Licht für alle anderen Feste
schöpft. Wer sich vor nähme, viele Lichter anzuzünden, aber nicht einmal über
das Nötige verfügt, um das erste anzuzünden, wäre wirklich sehr töricht. Noch
törichter wäre der, der sich vornähme, seine Heiligung mit dem Schwierigsten
zu beginnen, und dabei das, was die Grundlage des unwandelbaren Bauwerkes der
Vollkommenheit darstellt, vernachlässigt, nämlich die Zehn Gebote.
Man liest in Makkabäer, daß
Judas, nachdem er mit den Seinen unter dem Schutz des Herrn den Tempel und die
Stadt wieder zurückerobert hatte, die Altäre der fremden Götter und die
Tempelchen zerstören und den Tempel reinigen ließ. Dann errichtete er einen
anderen Altar, und mit den Feuersteinen schlug er Feuer, brachte die Opfer
dar, huldigte dem Herrn mit Weihrauch, stellte Lampen und Brote auf, und dann
flehten alle, am Boden niedergeworfen, zum Herrn, daß er sie nicht mehr
sündigen lasse oder, wenn sie aufgrund ihrer Schwäche wieder sündigten, mit
göttlicher Barmherzigkeit behandeln möge. Dies geschah am 25. des Monats
Kislew.
Betrachten wir die an uns
gerichtete Erzählung und wenden wir sie auf uns selbst an; denn jedes Wort der
Geschichte Israels, des auserwählten Volkes, hat einen geistigen Sinn. Das
Leben ist immer eine Lehre. Die Geschichte ist nicht nur eine Lehre für die
irdischen Tage, sondern auch zur Erlangung der ewigen Tage.
"Sie zerstörten die Altäre und
die heidnischen Tempelchen."
Das war die erste ihrer Taten,
und dasselbe habe ich euch angeraten beim Aufzählen eurer persönlichen Götter,
die den wahren Gott ersetzen. Es ist dies die Abgötterei, welche der
Sinnenlust huldigt, dem Gold, dem Stolz: den Hauptlastern, die zur
Entheiligung und zum Tod an Seele und Leib führen und die Strafe Gottes nach
sich ziehen. Ich habe euch nicht erdrückt mit unzähligen Formeln, die die
Gläubigen heute einengen und gegen das wahre Gesetz ein Bollwerk sind, das
durch sie verdrängt und durch Unmengen rein äußerlicher Verbote überdeckt
wird, so daß die Gläubigen die klare, heilige Stimme des Herrn nicht mehr
wahrzunehmen vermögen, die sagt: "Nicht fluchen! Nicht Götzendienst treiben!
Die Feiertage nicht entheiligen! Die Eltern nicht verunehren! Nicht töten!
Nicht Unkeuschheit treiben! Nicht stehlen! Nicht lügen! Nicht fremdes Eigentum
begehren! Nicht die Frau des Nächsten begehren!" Zehn Gebote und keines
73
mehr. Sie sind die zehn Säulen
des Tempels der Seele. Darüber strahlt das Gold des heiligsten der heiligen
Gebote: "Liebe deinen Gott, liebe deinen Nächsten!" Das ist die Krönung des
Tempels, der Schutz der Fundamente und der Ruhm des Erbauers.
Niemand könnte die zehn Regeln
ohne Liebe befolgen, und die Säulen würden einstürzen, alle oder einige, und
der Tempel würde ganz oder teilweise zerstört. Jedenfalls wäre er eine Ruine
und nicht mehr geeignet, das Allerheiligste aufzunehmen. Tut also, was ich
euch gesagt habe, besiegt die drei Begehrlichkeiten! Gebt euren Lastern den
rechten Namen, so ehrlich, wie Gott klar und deutlich sagt: "Tut dies oder
jenes nicht!" Unnütz, die Formen mit Spitzfindigkeit zu zerreden. Wer eine
größere Liebe hat neben der Liebe zu Gott, der ist, wie diese Liebe auch immer
heißen mag, ein Götzendiener. Wer Gott anruft und sich somit als seinen Diener
bekennt, ihm aber dann den Gehorsam verweigert, ist ein Rebell. Wer aus
Habsucht am Sabbat arbeitet, ist ein Schänder, boshaft und anmaßend. Wer den
Eltern seinen Beistand versagt, selbst unter dem Vorwand, er vollbringe
gottgefällige Werke, der haßt Gott, der Vater und Mutter an seiner Statt auf
die Erde bestellt hat. Wer tötet, ist immer ein Mörder. Wer Unkeuschheit
treibt, ist immer ein Unzüchtiger. Wer stiehlt, ist immer ein Dieb. Wer lügt,
ist immer ein Niederträchtiger. Wer das begehrt, was nicht sein ist, ist immer
ein Unersättlicher. Wer das Ehegemach schändet, ist immer ein Unreiner.
So ist es! Und ich erinnere euch,
daß nach der Errichtung des Goldenen Kalbes der Zorn Gottes ausbrach; daß nach
dem Götzendienst Salomons die Spaltung kam, welche Israel teilte und
schwächte; daß nach dem angenommenen, besser gesagt, gut aufgenommenen und von
unwürdigen Juden unter Antiochus Epiphanes eingeführten Hellenismus, das
gegenwärtige geistige, schicksalhafte und nationale Unheil über uns kam. Ich
erinnere euch daran, daß Nadab und Abiu, die falschen Diener Gottes, von Jahwe
bestraft wurden. Ich erinnere euch daran, daß das Manna des Sabbats nicht
heilig war. Ich erinnere euch an Cham und Absalom. Ich erinnere euch an die
Sünde Davids gegen Urias und Absaloms gegen Amnon. Ich erinnere euch an das
Ende Absaloms und Amnons. Ich erinnere euch an das Los des Diebes Heliodor, an
Simon und Menelaus. Ich erinnere euch an das schmähliche Ende der beiden
falschen Ältesten, die falsches Zeugnis gegen Susanna ablegten. Ich könnte so
fortfahren, ohne je ein Ende für die Beispiele zu finden. Doch kehren wir zu
den Makkabäern zurück.
"Sie reinigten den Tempel."
Es genügt nicht, zu sagen: "Ich
zerstöre" ' vielmehr muß man sagen: "Ich reinige." Ich habe euch gesagt, wie
sich der Mensch reinigen soll: mit demütiger und aufrichtiger Reue. Es gibt
keine Sünde, die Gott nicht verzeihen würde, wenn der Sünder wirklich reumütig
ist. Habt Vertrauen in
74
die Güte Gottes. Wenn es euch
doch möglich wäre, zu begreifen, was diese Güte ist, dann würdet ihr nicht vor
Gott fliehen, auch wenn alle Sünden der Welt auf euch lasten würden, sondern
ihr würdet zu seinen Füßen eilen, weil nur der Allergütigste verzeihen kann,
was der Mensch nicht verzeiht.
"Sie errichteten einen anderen
Altar."
Oh, versucht nicht, den Herrn zu
betrügen. Seid nicht lügnerisch in eurem Handeln. Vermengt Gott nicht mit
Mammon. Ihr hättet einen leeren Altar: den Altar Gottes. Denn es ist unnütz,
einen neuen Altar zu errichten, wenn immer noch Reste des alten
weiterbestehen. Entweder Gott oder der Götze: wählt!
"Sie schlugen Feuer aus Stein und
Zunder."
Stein ist der feste Wille, Gott
anzugehören. Zunder ist der Wunsch, während des ganzen, euch noch
verbleibenden Lebens auch die Erinnerung an eure Sünden aus dem Herzen Gottes
zu tilgen. Auf diese Weise wird das Feuer, also die Liebe, entfacht. Ist es
nicht Liebe zum beleidigten Vater, wenn ihn der Sohn durch ein ehrenhaftes
Leben zu trösten versucht, jenen Vater, der vom Sohn erwartet, daß er ihn
wieder froh werden läßt, und der nun, nach Tagen des Leidens , wieder voll der
Freude ist?
Wenn ihr soweit seid, könnt ihr
das Opfer darbringen, Weihrauch anzünden, die Lampen und die Brote aufstellen.
Die Opfer werden Gott nicht verhaßt und die Gebete werden ihm wohlgefällig
sein, der Altar wird erleuchtet sein, reich an Brot von eurer täglichen
Opfergabe. Nun werdet ihr beten können und sagen: "Sei unser Beschützer", denn
er wird euer Freund sein. Doch seine Barmherzigkeit hat nicht gewartet, bis
ihr sein Erbarmen angerufen habt, sondern ist eurem Wunsch zuvorgekommen. Er
hat euch sein Erbarmen geschenkt um euch zu sagen: "Habt Hoffnung. Ich sage es
euch, Gott verzeiht. Kommt zum Herrn."
Ein Altar ist schon in eurer
Mitte: der neue Altar. Von ihm fließen Ströme des Lichtes und der Verzeihung
aus. Wie Öl breiten sie sich aus, lindern und kräftigen. Glaubt an das Wort,
das von ihm kommt. Weint mit mir über eure Sünden. Wie der Levit den Chor
leitet, so lenke ich eure Stimmen zu Gott, und eure Seufzer werden nicht
zurückgewiesen werden, wenn sie mit meiner Stimme vereinigt sind.
Mit euch verdemütige ich mich als
Bruder der Menschen im Fleische, Sohn des Vaters im Geist, und ich sage
euretwegen und mit euch: "Aus diesem tiefen Abgrund, in den Ich-Menschheit
gefallen bin, rufe ich zu dir: Herr, erhöre die Stimme dessen, der in sich
geht und seufzt, und verschließe deine Ohren meinen Worten nicht. Grauen
empfinde ich, mich zu sehen, Herr. Ein Greuel bin ich auch in meinen Augen!
Was werde ich in deinen Augen sein? Schau nicht auf meine Sünden, Herr; denn
ich könnte vor dir nicht bestehen, sondern erweise mir deine Barmherzigkeit.
Du hast gesagt: 'Ich bin die Barmherzigkeit', und ich glaube an dein Wort.
75
Meine Seele ist verwundet und
niedergeschlagen, aber vertraut nach deiner Verheißung auf dich; vom
Morgengrauen bis zur Nacht, von der Jugend bis ins Greisenalter werde ich auf
dich hoffen."
Schuldig des Mordes und des
Ehebruchs, von Gott verworfen, erhält David Verzeihung, nachdem er zum Herrn
gerufen hat: "Habe Erbarmen mit mir, nicht um mir Achtung zu verschaffen,
sondern zu Ehren deiner Barmherzigkeit, die unendlich ist. Um ihretwillen
tilge meine Schuld. Es gibt kein anderes Wasser, in dem ich mein Herz
reinzuwaschen vermöchte, wenn es nicht von den tiefen Wassern deiner heiligen
Güte strömt. Mit dieser Güte wasche mich von meiner Ungerechtigkeit und
reinige mich von meinem Schlamme. Ich leugne nicht, gesündigt zu haben,
sondern bekenne meine Missetaten, und wie ein anklagender Zeuge ist meine
Sünde vor dir. Ich habe mich am Menschen versündigt, an meinem Nächsten und an
mir selbst, doch besonders schmerzt es mich, dich beleidigt zu haben. Dies
soll dir bezeugen, daß ich dich als gerecht in deinen Worten anerkenne und
dein Gericht fürchte, das über jede menschliche Macht triumphiert. Doch
bedenke, o Ewiger Gott, in Sünde wurde ich geboren, und in Schuld empfing mich
meine Mutter. Doch du hast mich sehr geliebt, hast mir deine Weisheit
kundgetan und sie mir als Lehrerin gegeben damit ich die Geheimnisse deiner
erhabenen Wahrheit begreife. Soll ich mich nun vor dir fürchten, der du so
viel für mich getan hast? Nein! Ich fürchte nichts. Besprenge mich mit der
Bitterkeit des Schmerzes, und ich werde rein werden. Wasche mich mit Tränen,
und ich werde weißer als der Schnee der Firne. Laß mich deine Stimme hören,
und dein gedemütigter Diener wird frohlocken, denn deine Stimme ist Freude und
Frohsinn, selbst wenn sie rügt. Wende dein Antlitz auf meine Sünden. Dein
Blick wird meine Freveltaten tilgen. Das Herz, das du mir gegeben hast, ist
von Satan und meiner schwachen Menschlichkeit entweiht worden. Schaffe in mir
ein neues Herz, das rein ist, und zerstöre alle Verderbnis in der Brust deines
Dieners, damit nur ein reiner Geist in ihm herrsche. Doch verwirf mich nicht
vor deinem Angesicht und nimm deine Freundschaft nicht von mir, denn nur das
Heil, das von dir kommt, ist Freude für meine Seele, und dein Herrschergeist
ist Trost dem Gedemütigten. Mach, daß ich zu den Menschen gehen und sagen
kann: 'Schaut, wie gut der Herr ist! Wandelt auf seinen Wegen und ihr werdet
seinen Segen erfahren wie ich, als Mißgeburt des Menschen, der nun wieder Kind
Gottes wird durch die Gnade, die in mir neu auflebt.' So werden die Gottlosen
sich bekehren. Das Blut kocht und das Fleisch schreit in mir. Befreie mich von
ihnen, Herr, Heil meiner Seele, und ich werde dir lobsingen. Ich wußte es
nicht, doch nun habe ich verstanden. Du willst keine Opfer von Schafböcken,
sondern das Opfer eines zerknirschten Herzens. Ein reuevolles und gedemütigtes
Herz ist dir wohlgefälliger als Schafböcke und Widder, denn du hast uns für
dich erschaffen und willst, daß wir uns an das erinnern und
76
dir zurückgeben, was dir gehört.
Sei mir gnädig durch deine große Güte und baue mein und dein Jerusalem wieder
auf: das Jerusalem einer gereinigten Seele, der vergeben worden ist, und auf
der das Opfer der Sühne, des Dankes und des Lobes dargebracht werden kann.
Jeder neue Tag sei für mich eine Hostie der Heiligkeit, die sich auf deinem
Altare verzehrt, um mit dem Duft meiner Liebe bis zu dir hinaufzusteigen."
Kommt! Laßt uns zum Herrn gehen!
Ich voran, ihr hinter mir. Laßt uns zu den Quellen des Heiles gehen, zu den
heiligen Weiden, in die Gefilde Gottes. Vergeßt die Vergangenheit. Lächelt der
Zukunft zu. Denkt nicht an den Schlamm, sondern schaut auf zu den Sternen.
Sagt nicht: "Ich bin Finsternis", sondern sagt: "Gott ist Licht." Ich bin
gekommen, um euch den Frieden und den Sanftmütigen die Frohe Botschaft zu
verkünden, um jene zu pflegen, deren Herz durch zu viele Dinge gebrochen ist;
um allen Sklaven die Freiheit zu predigen, besonders jenen Mammons, und die
Gefangenen von der fleischlichen Begierde zu befreien.
Ich sage euch, das Jahr des Heils
ist gekommen. Weinet nicht, ihr, die ihr traurig seid über die Traurigkeit der
Sünder; trocknet eure Tränen, ihr, die ihr aus dem Reiche Gottes
ausgeschlossen seid. Ich ersetze Asche mit Gold und die Tränen mit Öl.
Festlich kleide ich euch, um euch dem Herrn vorzustellen und zu sagen: "Hier
sind die Lämmer, die zu suchen du mich ausgesandt hast. Ich habe sie
aufgesucht und versammelt, habe sie gezählt, habe die verirrten gesucht, sie
dir zurückgebracht und sie den Wolken und dem Nebel entrissen. Ich habe sie
aus allen Völkern und Regionen genommen und vereinigt, um sie in das Land zu
führen, das nicht mehr Erde ist und das du, o heiliger Vater, für sie
vorbereitet hast, um sie auf die paradiesischen Gipfel deiner hohen Berge zu
führen, wo alles Licht und Schönheit ist, längs der Ufer der himmlischen
Seligkeiten, wo die von dir geliebten Seelen sich an dir sättigen.
Ich bin auch auf die Suche der
Verwundeten gegangen, habe die gebrochenen Glieder geheilt, die Schwachen
gestärkt und keinen übergangen. Das den bissigsten Wölfen der Triebe
entrissene Lamm habe ich wie eine Bürde der Liebe auf meine Schultern gelegt
und lege es nun dir zu Füßen, gütiger, heiliger Vater, denn es kann nicht mehr
gehen, kennt deine Worte nicht, es ist eine arme, von Vorwürfen und Menschen
gequälte Seele, eine Seele, die bereut und zittert wie eine von der Flut
getriebene und zurückgeschlagene Woge am Strand. Es kommt voll Verlangen, und
wird von der Selbsterkenntnis zurückgehalten. Öffne dein Herz, Vater, der du
ganz Liebe bist, damit dieses verirrte Geschöpf in dir Frieden finde. Sage
ihm: 'Komm.' Sage ihm: 'Sei mein.' Es gehörte einem jeden. Nun aber ekelt und
fürchtet es sich davor. Es sagt: 'Jeder Herr ist ein gieriger Scherge.' Hilf,
daß es sagen kann: 'Dieser mein König hat mir die Freude gemacht, mich
angenommen zu haben.' Es weiß nicht, was Liebe ist, aber wenn du es aufnimmst,
wird es erfahren, was die himmlische Liebe ist, die bräutliche
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Liebe zwischen Gott und der
Seele, und wie ein aus den Käfigen grausamer Menschen befreiter Vogel wird es
aufsteigen, immer höher, bis zu dir, in den Himmel, zur Freude, in die
Herrlichkeit, und singen: 'Ich habe ihn gefunden, den ich suchte. Nun wünsche
ich nichts anderes mehr in meinem Herzen. In dir ruhe ich und jubiliere,
ewiger Herr, selig von Ewigkeit zu Ewigkeit."'
Geht! Feiert das Fest der
Reinigung mit einem neuen Geiste. Gottes Licht möge sich in euch entzünden!»
Jesus war am Ende seiner Rede
überwältigend. Ein leuchtendes Antlitz, strahlende Augen, ein Lächeln und eine
Stimme von außerordentlicher Anmut geprägt. Die Leute sind fast wie verzaubert
und bewegen sich erst, als er wiederholt: «Gehet hin! Der Friede sei mit
euch!» Da erst beginnt der Aufbruch der Pilger, die eifrig miteinander reden.
Die Verschleierte geht rasch wie
immer mit ihrem behenden und leicht wiegenden Gang von dannen. Es scheint, als
hätte sie Flügel, denn der Wind bläht ihren Mantel an den Schultern auf.
«Jetzt werde ich erfahren, ob sie
aus Israel ist», sagt Petrus.
«Warum?»
«Wenn sie hier bleibt, dann ist
das ein Zeichen, daß...»
«Sie ist eine arme Frau ohne ein
Zuhause, sonst nichts. Denk daran, Petrus!» Jesus geht zum Dorf.
«Ja, Meister, ich werde daran
denken... Was werden wir tun, wenn alle wegen des Festes in ihren Häusern
bleiben?»
«Unsere Frauen werden auch für
uns die Lampen anzünden.»
«Ich bedauere... Es ist das erste
Jahr, daß ich nicht in meinem Hause sehe, wie sie angezündet werden, oder daß
ich sie anzünde...»
«Du bist ein Kindskopf! Auch wir
werden die Lampen anzünden, dann wirst du nicht mehr so ein verdrießliches
Gesicht machen. Du selbst wirst sie anzünden.»
«Ich? Nein, Herr! Du bist das
Haupt unserer Familie, dir steht es zu.»
«Ich bin immer eine brennende
Lampe und wünsche, daß auch ihr eine seid. Ich bin das ewige Lichterfest,
Petrus. Weißt du, daß ich genau am 25. des Kislew geboren wurde?»
«Wer weiß, wieviele Lichter?»
fragt Petrus bewundernd.
«Man konnte sie nicht zählen...
Es waren alle Sterne des Himmels...»
«Nein! Hat man dich in Nazareth
nicht gefeiert?»
«Ich wurde nicht in Nazareth
geboren, sondern in einem Stall in Bethlehem. Ich sehe, daß Johannes zu
schweigen gewußt hat. Johannes ist sehr gehorsam.»
«Er ist nicht neugierig. Aber ich
bin es. Erzähle mir, deinem armen Simon. Wie werde ich sonst über dich
sprechen können? Oft werde ich von den Leuten gefragt und weiß nicht, was
antworten... Die anderen können es alle, ich meine deine Brüder und Simon,
Bartholomäus und Judas des
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Simon. Auch Thomas versteht es zu
sprechen, er kommt einem zwar vor wie ein Marktschreier, der eine Ware
verkauft, aber er kann es. Matthäus, nun... auch er ist in Ordnung. Er hat
Erfahrung am Steuereinnahmetisch zu rupfen und zwingt andere, zu sagen: "Du
hast recht." Aber ich! ... Armer Simon des Jonas. Was haben dich die Fische
gelehrt? Was der See? Zwei Dinge, aber die taugen nichts: die Fische lehrten
mich zu schweigen und Ausdauer zu haben. Sie sind ausdauernd im Versuch, aus
dem Netz zu fliehen, ich ausdauernd, sie wieder einzufangen. Der See lehrte
mich, Mut und wachsame Augen zu haben. Das Boot? Mich anzustrengen, keinen
Muskel zu schonen und aufrecht zu stehen, auch wenn der See bewegt und die
Gefahr zu fallen groß ist. Den Blick auf den Polarstern gerichtet, feste Hand
am Steuer, Stärke, Mut, Ausdauer, Aufmerksamkeit... das alles hat mich mein
armes Leben gelehrt.»
Jesus legt ihm eine Hand auf die
Schulter, schüttelt und betrachtet ihn liebevoll in echter Bewunderung über
soviel Bescheidenheit. Dann sagt er: «Das scheint dir wenig, Simon Petrus ? Du
hast alles, was du brauchst, um mein "Fels" zu sein. Nichts mehr gehört dazu
und nichts muß weggenommen werden! Du wirst der ewige Steuermann sein, Simon
Petrus. Dem, der nach dir kommt, wirst du sagen: "Den Blick auf den
Polarstern, auf Jesus gerichtet. Feste Hand am Steuer, Kraft, Mut, Ausdauer,
Aufmerksamkeit, harte Arbeit ohne Schonung, das Auge überall, und Geradestehen
auch bei hochgehenden Wellen..." Nun, was das Schweigen anbelangt, das haben
dich die Fische nicht gelehrt.»
«Aber für das, was ich sagen
müßte, bin ich stummer als die Fische... Andere Worte? ... Auch die Hennen
gackern, wie ich es tue... Aber sage mir, mein Meister, gibst du mir auch
einen Sohn? Wir sind alt. Aber du hast gesagt, daß der Täufer von einer alten
Mutter geboren wurde, und jetzt hast du gesagt: "Dem, der nach dir kommt,
wirst du sagen..." Wer kommt nach einem Mann, wenn nicht sein Nachkomme?»
Petrus macht ein bittendes und hoffnungsvolles Gesicht.
«Nein, Petrus... Sei darüber
nicht traurig. Du gleichst wirklich deinem See, wenn die Sonne durch eine
Wolke verdeckt ist und der lächelnde See plötzlich finster wird. Nein, mein
Petrus, nicht einen, sondern tausend und zehntausend Söhne wirst du haben, und
in allen Ländern. Hast du vergessen, was ich dir gesagt habe: "Du wirst
Menschenfischer sein."»
«O ja... aber... Es wäre schön
gewesen, ein Kind zu haben, das zu mir "Vater" sagt!»
«Du wirst so viele haben und sie
nicht mehr zählen können. Du wirst ihnen das ewige Leben geben, und ihnen im
Himmel wieder begegnen und zu mir sagen: "Es sind die Kinder deines Petrus,
und ich will, daß sie da sind, wo ich bin." Ich aber werde zu dir sagen: "Ja,
Petrus, wie du willst, so soll es geschehen. Denn du hast alles für mich
getan, und ich tue alles für dich."» Jesus ist überaus liebevoll bei diesen
Verheißungen.
79
Petrus schluckt den Speichel mit
den Tränen für die sterbende Hoffnung auf eine irdische Vaterschaft, und unter
den Tränen einer Verzückung, die sich schon ankündigt, sagt er: «Oh, Herr,
doch um ewiges Leben geben zu können, muß man die Seelen vom Guten
überzeugen... So sind wir immer am selben Punkt: ich kann nicht reden.»
«Du wirst zu reden wissen, wenn
die Stunde gekommen ist, besser als Gamaliel.»
«Ich will es glauben... Aber dann
mußt du schon ein Wunder an mir wirken; denn wenn ich es von mir aus erreichen
sollte...»
Jesus lächelt in seiner ruhigen
Art und sagt: «Heute gehöre ich ganz dir. Gehen wir ins Dorf zu jener Witwe.
Ich habe ein geheimes Almosen, einen Ring, zu verkaufen. Weißt du, wie ich ihn
bekommen habe? Ein Stein fiel zu meinen Füßen nieder, während ich betend bei
dieser Weide stand. Am Stein war ein Beutelchen mit einem kleinen
Pergamentstreifen. Im Beutelchen war der Ring. Auf dem Zettelchen das Wort:
Barmherzigkeit.»
«Laß sehen. Oh, schön... Von
einer Frau. Was für ein kleiner Finger! Doch wieviel Metall!»
«Nun wirst du ihn verkaufen. Ich
verstehe das nicht. Der Wirt kauft Gold, ich weiß es. Ich warte beim Backofen
auf dich. Geh, Petrus!»
«Aber... wenn ich nicht dazu
fähig bin? Ich und Gold... Ich verstehe nichts von Gold!»
«Du mußt denken, es ist Brot für
jemand, der hungert, dann wirst du dein Bestes tun. Leb wohl!»
Petrus geht nach rechts, während
Jesus langsamen Schrittes nach links zum Dorf geht, das in einiger Entfernung
hinter dem Wäldchen beim Haus des Verwalters zu sehen ist.
172. JESUS VERLÄSST DAS
"TRÜGERISCHE GEWÄSSER" UND GEHT NACH BETHANIEN
Beim "Trügerischen Gewässer" sind
keine Pilger. Es ist seltsam, alles so leer zu sehen: kein Biwak für die
Nacht, und niemand sitzt und ißt auf dem Vorplatz oder unter dem Vordach. Es
herrscht Sauberkeit und Ordnung ohne irgendwelche Spuren, die eine Ansammlung
von Menschen hinterläßt.
Die Jünger nützen ihre Zeit für
handwerkliche Arbeiten: die einen flechten Reusen für den Fischfang, andere
machen kleine Gräben, damit das Regenwasser von den Dächern nicht in den
Pfützen stehenbleibt und den Vorplatz überflutet. Jesus, aufrecht auf dem
Rasen, zerbröselt Brot für die Spatzen. Soweit das Auge reicht erblickt man
niemanden, obwohl
80
das Wetter heiter ist. Nun kommt
Andreas von einer Besorgung zurück und geht auf Jesus zu.
«Friede sei mit dir, Meister!»
«Auch mit dir, Andreas. Komm ein
wenig zu mir. Du kannst in der Nähe der Vögel bleiben, denn du bist wie sie.
Aber siehst du, wenn sie spüren, daß die Person, die sich ihnen nähert, sie
liebt, dann fürchten sie sich nicht mehr. Schau, wie zutraulich sie sind,
sicher und froh. Gerade waren sie noch zu meinen Füßen. Nun bist du gekommen,
und sie beobachten... Doch schau... schau den wagemutigen Sperling an, der
näher kommt. Er hat verstanden, daß keine Gefahr besteht. Hinter ihm die
anderen. Schau, wie sie sich sättigen. Ist es nicht auch bei uns, den Söhnen
des Vaters, so ? Er sättigt uns mit seiner Liebe. Wenn wir sicher sind, daß
wir geliebt werden und zu seiner Freundschaft eingeladen sind, warum dann noch
Angst vor ihm und vor uns selbst haben?
Seine Freundschaft soll uns mutig
machen, auch den Menschen gegenüber. Glaub mir: Nur der Übeltäter muß sich vor
Seinesgleichen fürchten. Nicht der Gerechte, wie du es bist.»
Andreas wird rot und sagt nichts.
Jesus zieht ihn an sich und sagt lachend: «Man müßte dich und Simon zusammen
in einen Trank vereinigen, euch auflösen, mischen und dann neu formen, und ihr
wäret vollkommen. Doch... Wenn ich dir sage, daß du am Ende deiner Mission
gleich Petrus sein wirst, so verschieden du anfänglich von deinem Bruder auch
sein magst, würdest du es glauben?»
«Du sagst es, und bestimmt ist es
so. Ich frage mich nicht, wie dies möglich sein wird; denn alles, was du
sagst, ist wahr. Ich wäre zufrieden, wie Petrus, mein Bruder, zu sein, denn er
ist ein Gerechter und er macht dich glücklich. Simon ist tüchtig, und ich bin
froh, daß er so tüchtig ist, so mutig und stark. Aber auch die anderen...»
«Du nicht?»
«Oh, ich! ... Nur du kannst dich
mit mir zufriedengeben.»
«Doch ich bemerke, wie ruhig und
gründlicher als die anderen du deine Arbeit verrichtest. Denn unter euch
Zwölfen sind welche, die viel Aufhebens um ihre Arbeit machen, andere, die
mehr Aufhebens machen, als nötig wäre, und wieder andere, die nur arbeiten.
Eine demütige Arbeit, mühsam und unbeachtet... Die anderen könnten annehmen,
daß sie nichts tun, doch der, der richtig sieht, weiß es. Diese Unterschiede
bestehen, weil ihr noch nicht vollkommen seid. Es wird immer so sein, auch bei
den künftigen Jüngern, die nach euch folgen, bis zum Zeitpunkt, da der Engel
verkünden wird: "Die Zeit ist abgelaufen." Es wird immer Diener Christi geben,
deren Wirken im Einklang steht mit der Aufmerksamkeit, die sie auf sich
lenken: die Lehrmeister. Es wird leider auch solche geben, die nur viel
Aufhebens machen, und bei denen alles reine Äußerlichkeit ist. Schauspieler,
falsche Hirten mit verstellten Mienen... Priester? Nein: Schauspieler,
81
sonst nichts. Es ist nicht das
äußere Gebaren, das den Priester ausmacht, und auch nicht das Gewand. Auch
nicht seine weltliche Bildung oder die gesellschaftlichen, einflußreichen
Verbindungen sind es, die den Priester ausmachen. Seine Seele ist es. Eine so
erhabene Seele, die über den Körper triumphiert. Mein Priester soll ganz
vergeistigt sein, so träume ich ihn. So werden meine heiligen Priester sein.
Der Geist hat keine schauspielerischen Gebärden und keine Stimme. Er ist
körperlos, weil er geistig ist und daher keine Zieraten kennt und Masken
anlegen kann. Er ist, was er ist: Geist, Flamme, Licht, Liebe. Er spricht zu
den Seelen. Er spricht mit der Keuschheit seiner Augen, seiner Handlungen.
Der Mensch betrachtet ihn und
sieht in ihm einen Menschen seinesgleichen. Aber was sieht er über dem Körper,
den er sieht ? Etwas, das seinen eilenden Schritt hemmt, ihn betrachten und
beschließen läßt: "Dieser Mensch, der mir gleicht, hat vom Menschen nur das
Aussehen. Die Seele ist die eines Engels." Wenn es ein ungläubiger Mensch ist,
kommt er zum Schluß: "Seinetwegen glaube ich, daß es einen Gott und einen
Himmel gibt." Wenn er ein Lebemensch ist, sagt er: "Dieser meinesgleichen hat
Augen des Himmels. Ich werde meine Begierde zügeln, um sie nicht zu
entweihen." Wenn er geizig ist, sagt er sich: "Um seines Beispiels willen,
nach welchem er sich nicht an irdische Güter klammert, höre ich auf, geizig zu
sein." Wenn er mächtig ist, wenn es ein Jähzorniger, Grausamer ist, wird jener
angesichts des Sanftmütigen zum friedlichsten Wesen werden. Dies alles vermag
ein heiliger Priester zu erreichen. Und glaube es: immer wird es unter den
heiligen Priestern solche geben, die bereit sind, aus Liebe zu Gott und dem
Nächsten auch zu sterben... und sie tun dies auf so schlichte Weise, wie sie
auch ein ganzes Leben lang in unauffälliger Weise die Vollkommenheit geübt
haben, so daß die Welt ihrer gar nicht gewahr wurde. Wenn die ganze Welt nicht
ein Sündenpfuhl und Götzendienerei ist, dann nur dank jener stillen Helden und
ihres treuen Eifers. Sie werden dein Lächeln haben: rein und scheu. Denn es
wird immer derartige Andreas geben. Durch die Gnade Gottes und zum Glück der
Welt wird es sie geben.»
«Ich kann es nicht glauben,
solche Worte zu verdienen... Ich habe nichts getan, um sie zu veranlassen...»
«Du hast mir geholfen, ein Herz
für Gott zu gewinnen. Es ist schon das zweite, das du zum Lichte führst.»
«Oh, warum hat sie gesprochen?
Sie hat doch versprochen...»
«Niemand hat gesprochen. Doch ich
weiß es. Wenn die Jünger ruhen, dann sind beim "Trügerischen Gewässer" drei,
die nicht schlafen: der Apostel mit seiner in der Stille wirkenden Liebe für
seine sündigen Brüder, das Geschöpf, das von seiner Seele zum Heile getrieben
wird, und der Retter, der betet und wacht, wartet und hofft. Meine Hoffnung:
daß eine Seele ihr Heil finde. Danke, Andreas! Mach so weiter und sei dafür
gesegnet.»
82
«Oh, Meister... Aber sage den
anderen nichts... Wenn ich allein an einem verlassenen Strand zu einer
Aussätzigen spreche, deren Gesicht ich nicht sehe, dann kann ich noch ein
wenig ausrichten. Doch wenn die anderen es erfahren, vor allem Simon, und er
mitkommen will, dann ist es aus mit mir, dann kann ich nichts mehr tun... Auch
du darfst nicht kommen... denn wenn ich in deiner Gegenwart reden soll, dann
schäme ich mich.»
«Ich werde nicht kommen. Jesus
wird nicht kommen, doch der Geist Gottes ist stets mit dir gewesen. Laßt uns
nach Hause gehen. Man ruft uns zur Mahlzeit.»
Alles ist zu Ende zwischen Jesus
und dem sanftmütigen Jünger.
Sie sind noch beim Essen und
haben die Lampen angezündet, denn der Abend bricht plötzlich herein; und die
Kühle rät, die Türe geschlossen zu halten, als an der Tür geklopft wird und
die fröhliche Stimme des Johannes hörbar wird.
«Willkommen!»
«Ihr habt rasch gemacht!»
«Was gibt es also?»
«Wie seid ihr beladen!»
Alle reden durcheinander und
helfen dabei den dreien, sich von den sehr schweren Taschen zu befreien, die
sie auf den Schultern haben.
«Langsam!»
«Laßt uns zuerst den Meister
grüßen.»
«Aber nur einen Augenblick!»
Es herrscht ein familiäres,
fröhliches Durcheinander, aus Freude, wieder beisammen zu sein.
«Ich grüße euch, Freunde. Gott
hat euch friedliche Tage geschenkt.»
«Ja, Meister, aber keine guten
Nachrichten. Ich sah es voraus», sagt Iskariot.
«Was gibt es? Was ist los?» Die
Neugierde ist erwacht.
«Laßt sie doch zuerst eine
Stärkung zu sich nehmen», sagt Jesus.
«Nein, Meister. Zuerst geben wir
ab, was wir für dich und die anderen mitgebracht haben. Zuerst... Johannes,
gib den Brief.»
«Den hat Simon. Ich hatte Angst,
ihn im Gepäck zu zerknittern.»
Der Zelote, der bis jetzt Thomas
zu untersagen versuchte, ihm Wasser für die müden Füße zu holen, eilt herbei
und sagt: «Ich habe ihn hier in der Gürteltasche», er öffnet die innere Tasche
seines breiten Gürtels aus rotem Leder und entnimmt ihr eine nun etwas
zerdrückte Schriftrolle.
«Sie ist von deiner Mutter. Als
wir bei Bethanien waren, sind wir Jonathan begegnet, der mit dem Brief und
vielen anderen Dingen auf dem Weg zu Lazarus war. Jonathan geht nach
Jerusalem, weil Chuza dort seinen Palast in Ordnung bringt. Vielleicht geht
Herodes nach Tiberias, und Chuza will seine Frau nicht in der Nähe des Herodes
wissen», erklärt Iskariot, während Jesus die Knoten der Papierrolle löst und
zu lesen beginnt.
83
Die Apostel flüstern, während
Jesus mit einem seligen Lächeln die Zeilen seiner Mutter liest.
«Hört», sagt Jesus. «Hier ist
auch für die "Galiläer" einiges. Meine Mutter schreibt: "Meinem Jesus, meinem
geliebten Sohn und Herrn, Friede und Segen! Jonathan, Diener seines Herrn, hat
mir schöne Geschenke von Johanna gebracht, die den Segen ihres Retters für
sich selbst, für den Gemahl und das ganze Haus erbittet. Jonathan sagt mir,
daß er auf Anordnung Chuzas nach Jerusalem geht, um dort den Palast in Sion
wieder zu öffnen. Ich preise Gott dafür, denn so habe ich die Möglichkeit, dir
meine Worte und meinen Segen zu senden. Auch Maria des Alphäus und Salome
senden ihren Söhnen Küsse und Segen. Da Jonathan über alle Maßen gut war, kann
ich auch die Grüße der Frau des Petrus an ihren Mann in der Ferne und der
Angehörigen von Philippus und Nathanael mit einschließen. Alle eure Frauen,
ihr lieben Männer in der Ferne, senden euch Kleider für die Wintermonate, die
sie mit ihrer Arbeit am Webstuhl und mit der Nadel gefertigt haben, Früchte
aus ihrem Garten, süßen Honig, den sie in heißem Wasser an den feuchten
Abenden zu trinken euch raten. Tragt Sorge für eure Gesundheit, lassen euch
die Ehefrauen und Mütter durch mich mitteilen, und ich sage es auch meinem
Sohn. Wir leiden keinen Mangel, glaubt es. Freut euch an den bescheidenen
Geschenken, die wir Jüngerinnen der Jünger Christi den Dienern des Herrn
senden. Gewährt uns nur die Freude, euch gesund zu wissen.
Mein geliebter Sohn, mir wird
bewußt, daß du seit nahezu einem Jahr nicht mehr mir allein gehörst. Mir
scheint, daß ich in die Zeit zurückversetzt bin, da ich wußte, daß du schon
lebtest, denn ich hörte dein kleines Herz in meinem Schoße schlagen; doch ich
konnte gleichwohl sagen, daß du noch nicht da warst, denn du warst durch eine
Schranke von mir getrennt, die mich daran hinderte, deinen geliebten Körper zu
liebkosen. So konnte ich nur deinen Geist anbeten, o mein teurer Sohn und
anbetungswürdiger Gott. Auch jetzt weiß ich, daß du da bist und daß dein Herz,
das nie von mir getrennt ist, selbst wenn wir voneinander getrennt sind, mit
meinem Herzen schlägt, doch ich kann dich nicht mehr liebkosen, dich nicht
hören, dir nicht dienen, dich nicht verehren, dich, den Messias des Herrn und
seiner armen Magd, während ich mich im vollendeten Licht befand, als ich dich,
mein Licht und Licht der Welt, in jenem dunklen Stall an mein Herz schmiegte.
Johanna wollte, daß ich mit ihr gehe, um während des Lichterfestes nicht
allein zu sein. Ich habe es jedoch vorgezogen, mit Maria hier zu bleiben und
mit ihr die Lichter anzuzünden: Für mich und für dich. Aber wenn ich auch die
größte Königin der Welt wäre und Tausende von Lichtern anzünden könnte, ich
wäre dennoch in der Finsternis, denn du bist nicht hier. Es wird das erste Mal
sein, daß ich mir sagen werde: 'Mein Kind ist heute ein Jahr älter geworden'
und mein Kind ist nicht bei mir. Es wird trauriger sein als an deinem ersten
Geburtstag in
84
Matarea. Doch du erfüllst deine
Sendung und ich die meine, und zusammen erfüllen wir den Willen des Vaters und
wirken zur Ehre Gottes. Dies trocknet jede Träne.
Lieber Sohn! Nach all dem, was
mir berichtet worden ist, mache ich mir ein Bild von deinen Werken. Wie die
Wogen eines offenen Meeres mit ihrem Rauschen bis in einen einsamen,
geschlossenen Meerbusen gelangen, so erreicht auch das Echo deines heiligen
Wirkens zur Ehre des Herrn unser ruhiges, kleines Haus und deine Mutter, die
sich freut und zittert; denn wenn alle von dir reden, so reden doch nicht alle
mit dem gleichen Herzen von dir. Es kommen Freunde und von dir mit Wohltaten
Beschenkte, um mir zu sagen: 'Der Sohn deines Leibes sei gepriesen' ' und es
kommen auch feindlich gesinnte Menschen, die mein Herz verwunden und sagen:
'Er soll verflucht sein.' Doch ich bete für diese, denn es sind Unglückliche,
sie sind schlimmer daran als die Heiden, die zu mir kommen und fragen: 'Wo ist
der Magier, der göttliche Zauberpriester?' In ihrem Irrtum sagen sie eine
große Wahrheit, denn du bist wahrlich Priester und erhaben, was der Sinn
dieser Benennung in der antiken Sprache ist, und du bist göttlich, o mein
Jesus. Ich sende sie zu dir mit den Worten: 'Er ist in Bethanien!' Denn so
werde ich wohl sagen müssen, solange du mir keinen anderen Bescheid gibst. Ich
bete für jene die kommen, um für ihren sterblichen Leib zu bitten, damit sie
das Heil für ihre unsterbliche Seele finden mögen. Ich bitte dich darum! Sei
nicht traurig meiner Schmerzen wegen. Sie werden ausgeglichen durch die große
Freude die mir durch die Worte der an Leib und Seele Geheilten zukommt. Doch
Maria hat einen noch größeren Schmerz als ich, denn man spricht nämlich nicht
nur zu mir. Joseph des Alphäus wünscht, daß du erfährst, er sei bei einer
unlängst unternommenen Geschäftsreise nach Jerusalem deinetwegen aufgehalten
und bedroht worden, durch Männer des Hohen Rates. Ich nehme an, daß eine
einflußreiche Person von hier diese auf ihn aufmerksam gemacht hat. Wie hätten
sie sonst Joseph als Familienoberhaupt und deinen Bruder erkennen können? Ich
teile dir dies im Gehorsam als Frau mit. Doch von mir aus sage ich dir: Ich
möchte in deiner Nähe sein, um dich trösten zu können. Doch entscheide du, o
Weisheit des Vaters, ohne auf meine Tränen zu achten. Simon, dein Bruder,
wollte nach diesem Vorfall beinahe zu dir kommen, und dies mit mir! Doch die
Jahreszeit hat ihn zurückgehalten und mehr noch die Befürchtung, er könne dich
nicht finden; denn es wurde wie eine Drohung herumgegeben, daß du dort, wo du
jetzt bist, nicht bleiben könnest.
Sohn! Mein Sohn! Mein
inniggeliebter, heiliger Sohn! Ich stehe wie Moses mit erhobenen Armen auf dem
Berg, um für dich zu beten im Kampf gegen die Feinde Gottes und gegen deine
Feinde, mein Jesus, den die Welt nicht liebt.
Hier ist Lia des Isaak gestorben.
Ich habe darunter gelitten, denn sie ist
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mir immer eine gute Freundin
gewesen. Doch der größte Schmerz bist du, fern und nicht geliebt... Ich segne
dich, mein Sohn, und so wie ich dir Friede und Segen wünsche, bitte ich dich,
ihn auch mir zu gewähren, Deine Mutter."»
«Sie drängen vor bis zu diesem
Haus, diese Unverschämten!» schreit Petrus.
Judas Thaddäus ruft aus: «Ach,
dieser Joseph! Er hätte doch diese Nachricht für sich behalten können, aber er
konnte es nicht erwarten.»
«Das Geschrei der Hyänen
erschreckt die Lebenden nicht», sagt Philippus.
«Das Schlimme ist, daß sie nicht
Hyänen, sondern Tiger sind. Sie suchen lebende Beute», sagt Iskariot und
wendet sich an den Zeloten: «Sag du, was wir alles erfahren haben.»
«Ja, Meister. Judas hatte Grund
zu Befürchtungen. Wir sind zu Joseph von Arimathäa und zu Lazarus gegangen,
ganz offen als deine Freunde. Dann sind wir, ich und Judas, als ob ich sein
Jugendfreund wäre, zu einigen seiner Freunde in Sion gegangen... und... Joseph
und Lazarus lassen dir sagen, sofort wegzugehen, um während dieser Feste
abwesend zu sein. Weigere dich nicht, Meister! Es ist zu deinem Wohl. Die
Freunde von Judas haben uns sogar gesagt: "Hört, sie haben schon beschlossen,
ihn festzunehmen, um ihn anzuklagen" gerade in diesen Tagen des Festes, wo
keine Menschen da sind. Er sollte sich für einige Zeit zurückziehen, um diesen
Vipern zu entgehen. Der Tod des Doras hat ihre Bosheit und ihre Angst
vermehrt, denn sie empfinden nicht nur Haß, sondern Angst, und diese Angst
läßt sie Dinge sehen, die nicht sind, und der Haß verleitet sie auch zur
Lüge.»
«Alles, aber auch alles wissen
sie über uns. Es ist eine häßliche Sache. Alles übertreiben sie, alles
verdrehen sie. Wenn es ihnen scheint, daß sie noch nicht genug zum Verfluchen
haben, dann erfinden sie etwas. Ich bin angeekelt und niedergeschlagen. Ich
bin versucht, auszuwandern, weit fort... Ich weiß nicht wohin... doch weg von
Israel, das ganz Sünde ist!»Iskariot ist ganz mutlos.
«Judas, Judas! Eine Frau braucht
neun Monate, um einem Kind das Leben zu schenken, und du möchtest der Welt die
Erkenntnis Gottes in einer noch kürzeren Zeit geben? Keine neun Monde, sondern
Tausende von Monden sind dazu erforderlich. Wie der Mond bei jedem Mondwechsel
zu- und abnimmt und erst als Neumond, dann als Vollmond und endlich als
abnehmender Mond erscheint, so wird es auch in der Welt, solange sie besteht,
Zeiten der Zunahme, der Fülle und der Abnahme der Religion geben. Aber auch
wenn die Religion tot zu sein scheint, lebt sie, so wie der Mond, wenn er
nicht leuchtet, doch da ist. Wer sich für die Religion bemüht und gewirkt hat,
dem wird ein volles Maß an Verdiensten zustehen, selbst wenn nur eine
unbedeutende Minderheit an treuen Seelen
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auf Erden übrigbleibt. Mut, Mut!
Nicht gleich Freudentaumel bei Erfolg, aber auch keine leichtfertige
Niedergeschlagenheit in den Niederlagen!»
«Aber... gehen wir fort! Wir sind
noch nicht stark genug, und wir spüren, daß wir vor dem Hohen Rat Angst
bekommen würden. Ich wenigstens; ob auch die anderen, das weiß ich nicht. Doch
meine ich, es wäre unklug, ihn zu reizen. Wir haben nicht den Mut der drei
Jünglinge vom Hofe Nabuchodonosors.»
«Ja, Meister, es ist besser.»
«Es ist vorsichtiger.»
«Judas hat recht.»
«Schau, auch deine Mutter und die
Verwandten...»
«Auch Lazarus und Joseph.»
«Wir lassen sie umsonst
herkommen.»
Jesus breitet die Arme aus und
sagt: «Es soll geschehen, wie ihr wollt. Doch dann werden wir hierher
zurückkehren, denn ihr seht, wie viele kommen. Ich zwinge und versuche eure
Seele nicht. Ich fühle, daß ihr noch nicht bereit seid... Doch sehen wir uns
die Arbeit der Frauen an.»
Doch während alle mit leuchtenden
Augen und freudevoller Stimme die Bündel mit den Kleidern, den Sandalen und
den Eßwaren der Mütter und Ehefrauen aus den Taschen ziehen und versuchen,
Jesus für soviel Güte Gottes zu interessieren, bleibt dieser ernst und
geistesabwesend. Er liest immer wieder den mütterlichen Brief. Er hat sich mit
einem Lämpchen in den vom Tisch, auf dem Kleider, Äpfel, Metallgefäße sowie
Käselaibe liegen, entferntesten Winkel zurückgezogen. Die Augen mit seiner
Hand abgeschirmt, scheint er nachzudenken, leidet aber sichtlich...
«Schau, Meister, welch schönes
Gewand und welchen Mantel mit Kapuze meine Frau, die Ärmste, gemacht hat. Wer
weiß, wieviel Mühe sie das gekostet hat, denn sie ist darin nicht so tüchtig
wie deine Mutter», sagt Petrus, der die Schätze auf den Armen wiegt.
«Schön. Ja, schön. Sie ist eine
tüchtige Frau», sagt Jesus höflich. Doch seine Augen sind weit entfernt von
den gezeigten Gegenständen.
«Für uns hat die Mutter zwei
doppelt gewobene Gewänder gemacht. Arme Mutter! Gefallen sie dir, Jesus ? Ist
es nicht eine schöne Farbe?»sagt Johannes des Zebedäus
«Sehr schön, Jakobus. Es wird dir
gut stehen.»
«Schau, ich wette, daß dieser
Gürtel von deiner Mutter gemacht worden ist. Nur sie kann so sticken. Auch
diese doppelt gewobene Kopfbedeckung, mit der man sich vor der Sonne schützt,
hat gewiß deine Mutter gemacht. Sie ist genau wie deine. Das Gewand nicht, das
hat bestimmt unsere Mutter gemacht. Arme Mutter! Nach all den vielen Tränen im
letzten Sommer sieht sie nur noch wenig, und oft reißt ihr der Faden ab. Die
Gute!» und Judas des Alphäus küßt das schwere Gewand von rotbrauner Farbe.
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«Du bist nicht froh, Meister»,
bemerkt schließlich Bartholomäus. «Du schaust nicht einmal die Sachen an, die
man dir gesandt hat.»
«Er kann nicht froh sein»,
entgegnet Simon der Zelote.
«Ich überlege... Aber... Packt
alles wieder zusammen und legt es beiseite. Noch ist die Stunde nicht
gekommen, ergriffen zu werden, und wir werden es auch nicht... Mitten in der
Nacht, beim Mondschein, wollen wir nach Doko gehen. Von dort nach Bethanien.»
«Warum nach Doko ?»
«Weil dort eine Frau im Sterben
liegt, die Heilung von mir erwartet.»
«Gehen wir nicht erst zum
Gutsverwalter ?»
«Nein, Andreas, zu niemandem. So
braucht niemand zu lügen, wenn er sagt, daß er nicht weiß, wohin wir gegangen
sind. Wenn euch daran gelegen ist, nicht verfolgt zu werden, dann liegt mir
daran, dem Lazarus keine Unannehmlichkeiten zu bereiten.»
«Aber Lazarus erwartet dich.»
«Wir werden zu ihm gehen. Oder
besser... Simon, willst du mich im Haus deines alten Dieners beherbergen ?»
«Mit Freude, Meister. Du weißt
alles. Somit kann ich dir für Lazarus, für mich und im Namen dessen, der in
diesem Haus lebt, sagen: "Es ist dein Haus."»
«Laßt uns gehen. Macht schnell,
damit wir noch vor dem Sabbat in Bethanien sind.»
Während alle sich mit Lämpchen
daran machen, das Notwendige für die unvorhergesehene Abreise
zusammenzusuchen, bleibt Jesus allein.
Andreas kommt wieder herein, geht
zu seinem Jesus und sagt: «Aber jene Frau? Es tut mir leid, sie jetzt allein
zu lassen, da sie gewillt ist, zu kommen... Sie ist vorsichtig... hast du es
gesehen? ...»
«Geh und sage ihr, daß wir nach
einiger Zeit zurückkommen werden. Inzwischen soll sie über deine Worte
nachdenken...»
«Deine Worte, Herr! Ich habe nur
Deine gesagt.»
«Geh und beeile dich. Paß auf,
daß dich niemand sieht. In dieser Welt der Bösen müssen die Unschuldigen das
Aussehen der Treulosen annehmen...»
Alles endet mit dieser großen
Wahrheit.
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173. DIE HEILUNG DER KREBSKRANKEN
JERUSA IN DOKO
ich habe Ihnen vom unerfreulichen
Besuch und der Ankündigung, die ich gestern abend bekommen habe, erzählt. Sie
haben gesehen, daß ich einen erschrockenen Gesichtsausdruck hatte. Ich weiß
nicht, was für ein Gesicht ich gemacht habe. Doch bestimmt war es
beeindruckend, und noch Stunden danach ist die Erregung nicht gewichen.
Es ist nicht das erste Mal, wie
Sie wissen, daß Satan sich mir zeigt und mich zu diesem oder jenem versuchen
will. Jetzt, da er nicht mehr das Fleisch versucht, versucht er den Geist.
Seit einem Jahr ungefähr belästigt er mich in unregelmäßigen Abständen. Zum
erstenmal geschah es in den schrecklichen Tagen des April 1944, als er mir
Hilfe versprach, wenn ich ihn anbeten würde. Das zweite Mal, als er mich mit
der direkten und gewalttätigen, langen Versuchung am 4. Juli 1944 überfiel und
mich versuchte, die Sprechart des Meisters nachzuäffen, um damit die
einzuschüchtern, die mich beleidigt hatte. Das dritte Mal versuchte er mich,
als er mich veranlassen wollte, aus den diktierten Worten mein Werk zu machen
und sie als solches zu veröffentlichen, um daraus Geld und Nutzen zu schlagen.
Die vierte Versuchung erfolgte im Februar dieses Jahres (ich glaube, es war
schon Februar), als er mir erschien (zum ersten Mal sah ich ihn; die anderen
Male hatte ich ihn nur gehört) und mich mit seinem Aussehen und seinem Haß
erschreckte. Das fünfte Mal kam er nun gestern abend. Dies sind die großen
Manifestationen Satans. Doch ihm schreibe ich auch die kleinen Dinge zu, die
mir von anderen zugefügt werden, um mich zum Stolz, zum Selbstmitleid oder zum
Bekenntnis falscher Erscheinungen zu verleiten, oder auch, um mir einzureden,
daß ich nur eine Kranke sei und alles das Produkt einer Geistesgestörtheit
ist. Auch die Schwierigkeiten mit den Verwandten und den Behörden und selbst
mit den Kraftfahrern. (Andeutung auf das unmittelbare Kriegsende.) Alles
schreibe ich Satan zu. Er tut, was er nur kann, um mich zu quälen und mich zur
Unruhe und zur Auflehnung zu treiben, zur Überzeugung, daß Beten unnütz und
alles eine Lüge sei.
Ich muß Ihnen gestehen, daß er
mich gestern abend sehr verwirrt hat. Es ist nicht das erste Mal, daß er mir
Angst einjagt und sagt, daß ich das Opfer einer Täuschung sei und eines Tages
Gott und auch den Menschen dafür Rechenschaft ablegen müsse. Sie wissen, daß
dies meine große Angst ist... obwohl ich immer von Jesus und Ihnen, meinem
Seelenvater, getröstet und wieder aufgerichtet worden bin. Es waren meine
Überlegungen, die durch Satan geschürt worden, aber in mir selbst entstanden
sind. Gestern war es eine direkte Bedrohung. Er hat mir gesagt: «Tu es, tu es,
ich warte auf den rechten Augenblick, den letzten Augenblick. Dann werde ich
dich davon überzeugen, daß du immer Gott, die Menschen und dich selbst belogen
hast. Du bist eine Betrügerin, und du wirst noch einer großen Angst verfallen
und daran verzweifeln, verdammt zu sein. Du wirst es mit solchen Worten sagen,
daß, wer dir beisteht, denken muß, alles sei Widerruf, um weniger sündhaft vor
Gott treten zu können. Du und wer um dich ist, ihr werdet bei dieser
Überzeugung bleiben, und so wirst du sterben... und die anderen werden
erschüttert sein... Ich erwarte dich, und du erwartest mich. Ich verspreche
nichts, ohne es zu halten. Nun machst du mir einen grenzenlosen Ärger. Aber
dann werde ich es sein, der dir Ärger bereiten wird. Ich werde mich für alles
rächen, was du mir antust, so wie nur ich mich zu rächen weiß.» Dann ist er
weggegangen und hat mich so elend zurückgelassen...
Dann aber ist die zärtliche,
sanfte, liebreiche Mutter gekommen, in ihrem weißen Kleide, um mir zuzulächeln
und mich zu liebkosen, und mit seinem schönsten Lächeln hat mich mein Jesus
beschenkt. Doch gleich nachdem sie mich verlassen hatten, bin ich in meine
Bedrängnis zurückgefallen... Es ist hart. Wenn dieser Gedanke mich so stark
überfällt, fühle ich mich versucht, zu sagen: «Ich werde kein Wort mehr
schreiben, ungeachtet jeglichen Drängens.» Doch dann überlege ich und sage:
«Das ist es, was Satan erreichen will», und ich schenke dieser Einflüsterung
kein Gehör.
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Es ist die Zeit der Passion,
nicht wahr? Es wird solche geben, die aus einem falschen Personenkult heraus
dem Sprachrohr, als ihrem Abgott, eine übertriebene Ehre erweisen, weil die
Abgötterei dem Menschen, selbst dem guten, angeboren ist. Dabei vergessen sie,
daß es nur ein Werkzeug Gottes ist, und die Ehre Gott einzig und allein
gebührt.
Dann wird es jene geben, die mich
verspotten. Die einen wie die anderen erwarten in gleicher Weise, wenn auch
mit verschiedenen Absichten, wunderbare Ereignisse um mich, besonders während
der Zeit der Passion. Vielleicht erwarten sie solche Geschehnisse als etwas
Natürliches in meinem Fall, und ihre Erwartung ist gerechtfertigt, wogegen sie
für die anderen Gegenstand des Spottes oder der Abgötterei wären. Ich, Maria
Valtorta, versichere Ihnen, daß ich den Spott dem Kult meiner Person vorziehe.
Dieser läßt mich einen unbeschreiblichen Unmut verspüren. Mir ist, wie wenn
man mich auf einem Platz entkleiden und mich meiner kostbarsten Geheimnisse
berauben wollte, und ich leide darunter. Der Spott der mich trifft, schmerzt
mich weniger, wenn er nicht die Diktate beeinträchtigt und sie nicht als
Verrücktheit und Schabernack hinzustellen versucht.
Doch über den mehr oder weniger
aufrichtigen Wünschen vieler steht der Wille Gottes, oder, besser gesagt, die
Güte Gottes, der auf seine arme Maria hört, die stets gebetet hat und immer zu
beten fortfährt, indem sie spricht: «Siehe, hier ist dein Opfer. Alles
geschehe nach deinem Willen, doch ich möchte keine äußeren Merkmale.» Ich
selbst hätte mir nicht einmal diese Offenbarung Gottes gewünscht. Doch es war
sein Wille, daß ich sein Sprachrohr wäre. Nun also, in Gottes Namen. Etwas
anderes nicht, niemals. Alle diagnostizierbaren oder nicht diagnostizierbaren
Krankheiten, die es gibt, weil die charakteristischen Merkmale fehlen, alle
Leiden, die Jesus erlitten hat, will ich erleiden. Die Todesangst, die Jesus
niedergebeugt hat ... doch er allein soll es wissen, Sie, mein Seelsorger und
ich, und das genügt. Wenn ich aber während dieser Zeit der Passion Verehrer
und Spötter enttäusche, weil ich nicht die "körperlich Leidende" bin, so kann
ich Ihnen versichern, daß ich dennoch meine Passion erlebe. Schlimmer als die
vermehrten körperlichen Leiden – durch Schläge und durch die Mühsal Golgathas,
durch Kopfschmerzen, Zerren und Krämpfe in meinen Muskeln, Atemnot und
Blutandrang, Durst und Fieber, und die durch diese Qualen verursachte
Erschöpfung und Erregungen – ist meine eigentliche Passion, ist für mich stets
das, was ich "mein Gethsemani" nenne, nämlich die in mir aufsteigende
Verdunkelung, eine Finsternis voll von grauenerregenden Gestalten und Ängsten,
Furcht und Schrecken vor der Zukunft und vor Gott... die Nähe des Hasses,
während die Liebe mich verlassen hat. All das ist es, was schließlich zu Durst
und Fieber, zu Bluttränen, Stöhnen und zur Erschöpfung bei mir führt. Ich kann
Ihnen versichern, daß die Wucht dieser Qualen nicht geringer ist als das, was
ich im letzten Jahr ertragen mußte, als Gott mich alleinließ. Fast möchte ich
sagen, daß sie jetzt schlimmer sind, denn ich leide auch, obwohl Jesus bei mir
ist. Ich hoffe, daß ich mich gut ausgedrückt habe. Doch manche Qualen kann man
nicht beschreiben. Sie könnten auch falsch verstanden werden von einem
Seelsorger, einem abgöttischen Verehrer, von einem Neugierigen, einem
Gelehrten oder von einem Menschen, der über das Phänomen spottet. Die Gruppe
der drei Letztgenannten sollte nur eine Stunde das durchmachen, was ich
durchmachen muß... Auch die Verehrer, die mich vielleicht darum beneiden,
sollten das durchstehen. Besser, sie fühlen es nicht... Die abgöttischen
Verehrer würden weiß Gott wohin flüchten aus Angst vor einer weiteren Stunde
dieser Art, und die Neugierigen, die Begierigen und die Spötter kämen so weit,
Gott zu fluchen... Daher will ich mich unter das Joch beugen und trinke den
bitteren Kelch... und mache weiter.
Herr, nicht mein Wille, sondern
dein Wille geschehe. Siehe deine Dienerin und dein Opfer. Mir geschehe nach
deinem Willen. Doch gib mir in deiner Güte die Kraft, leiden zu können und laß
mich nicht allein. Bleibe bei mir, denn es will Abend werden, und der Tag hat
sich schon geneigt.
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Ich sehe:
Jesus betritt im Dämmerlicht
eines Wintertages das Städtchen Doko und fragt einen vorübergehenden
Frühaufsteher: «Wo wohnt Marianne, die alte Mutter, deren Schwiegertochter im
Sterben liegt?»
«Marianne? Die Witwe von Levi?
Die Schwiegermutter von Jerusa, der Frau des Josia?»
«Sie.»
«Schau, am Ende dieser Straße ist
ein Platz. In einer Ecke dieses Platzes befindet sich ein Brunnen, und von
dort gehen drei Wege aus. Nimm jenen, in dessen Mitte eine Palme steht und
gehe noch hundert Schritte. Du wirst zu einem Graben gelangen. Folge diesem
bis zur steinernen Brücke. Überquere sie. Du kommst zu einer überdeckten
Gasse. Nimm diese. Sobald der Weg und die Überdachung aufhören, weil ein Platz
sie ablöst, bist du am Ziel. Das Haus der Marianne ist durch die Jahre gelb
geworden und bei den Ausgaben, die sie haben, können sie es nicht verputzen
lassen. Du kannst nicht fehlgehen. Leb wohl. Kommst du von weit her?»
«Nicht so sehr.»
«Aber du bist Galiläer ?»
«Ja.»
«Doch diese? Kommst du zum Fest?»
«Es sind Freunde. Leb wohl. Der
Friede sei mit dir!» Jesus läßt den Schwätzer, der nun keine Eile mehr hat, im
Ungewissen. Er geht seines Weges und die Jünger folgen ihm.
Sie gelangen zum kleinen Platz,
einer mit Schlamm bedeckten Fläche, in deren Mitte eine junge Eiche steht, die
hier von selbst gewachsen und im Sommer vielleicht ganz angenehm ist. Jetzt
läßt sie den Platz nur düster erscheinen, so dicht breitet sie sich über die
armseligen Häuser aus, denen sie Licht und Sonne nimmt. Das Haus Mariannes ist
das armseligste. Breit und niedrig, doch sehr vernachlässigt. Die Tür ist voll
von Flicken über den abgesplitterten Brettern aus sehr altem Holz. Ein
rahmenloses Fenster stellt ein dunkles Loch zur Schau, wie eine leere
Augenhöhle.
Jesus klopft an die Tür. Ein etwa
zehnjähriges Mädchen kommt heraus, bleich, ungekämmt und mit verweinten Augen.
«Bist du die Enkelin Mariannes ?
Sag der alten Mutter, daß Jesus gekommen ist.»
Das Mädchen stößt einen Schrei
aus und rennt laut rufend davon. Die Greisin kommt, gefolgt von sechs Kindern
und dem Mädchen von vorhin. Das größte scheint ihr Zwillingsbruder zu sein.
Die kleinsten, barfuß und schmächtig, hängen am Kleid der alten Frau, denn sie
können noch kaum richtig gehen.
«Oh, du bist gekommen! Kinder,
gebt dem Messias die Ehre! Du bist zur rechten Zeit in ein armes Haus
gekommen. Meine Tochter liegt im
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Sterben... Weint nicht, Kinder,
damit sie es nicht hört. Arme Kinder! Sie sind erschöpft von den Wachen. Ich
mache alles, aber wachen kann ich nicht mehr. Ich falle vor Müdigkeit auf den
Boden. Seit Monaten gehe ich nicht mehr zu Bett. Nun schlafe ich auf einem
Stuhl, um bei ihr und den Kindern zu sein. Doch sie sind noch klein und leiden
sehr. Die Buben gehen Holz sammeln, um Feuer zu haben, und verkaufen Holz für
Brot. Sie gehen zugrunde... arme Enkelkinder! Doch was uns umbringt ist nicht
so sehr die Arbeit, als zusehen zu müssen, wie sie stirbt. Weint nicht mehr!
Jesus ist nun bei uns!»
«Ja, weint nicht! Die Mutter wird
gesund werden, und der Vater wird zurückkehren. Dann werdet ihr nicht mehr so
viele Ausgaben haben und Hunger leiden. Sind das die beiden Jüngsten?»
«Ja, Herr. Das schwache Geschöpf
hat dreimal Zwillinge geboren... und nun ist ihre Brust krank.»
«Den einen zu viele, den anderen
keine...», brummt Petrus in seinen Bart, nimmt einen Kleinen in die Arme und
gibt ihm einen Apfel, um ihn zum Schweigen zu bringen, und da auch der andere
einen will, stellt Petrus auch ihn zufrieden.
Jesus geht mit der alten Frau
durch das Tor in den Hof und steigt mit ihr die Treppe hinauf, um dann in ein
Zimmer zu treten, in dem eine junge, aber sehr abgemagerte Frau jammert. «Der
Messias, Jerusa! Du wirst nicht mehr leiden müssen. Siehst du, er ist wirklich
gekommen. Isaak lügt nie. Er hat es gesagt. Glaube nun, da er gekommen ist,
daß er dich auch heilen kann.»
«Ja, gute Mutter. Ja, mein Herr.
Aber wenn du mich nicht gesund machen kannst, so laß mich wenigstens sterben.
Ich leide Qualen an meiner Brust. Die Münder, denen ich Milch gegeben, haben
mir Schmerzen und Bitterkeit verursacht. Ich leide sehr, Herr, und verursache
viele Ausgaben! Der Mann ist fern, um das Brot zu verdienen, die alte Mutter
verbraucht sich. Ich sterbe... Was wird aus den Kindern werden, wenn ich an
dieser Krankheit sterbe, und meine Mutter an den Sorgen und an der Arbeit ?»
«Für die Vögel sorgt Gott und
auch für die kleinen Menschenkinder. Doch du wirst nicht sterben. Tut es dir
hier sehr weh ?» fragt Jesus, indem er seine Hand auf die verbundene Brust
legen will.
«Rühre mich nicht an. Vermehre
meine Schmerzen nicht!» schreit die Kranke auf.
Doch Jesus legt seine schmale
Hand behutsam auf die kranke Brust. «Deine Brust brennt und schmerzt dich wie
Feuer, arme Jerusa. Die Mutterliebe ist dir zum Feuer in der Brust geworden.
Doch du empfindest deshalb keinen Haß gegen deinen Mann und deine Kinder,
nicht wahr?»
«Warum sollte ich? Er ist gut und
hat mich immer geliebt. Mit weiser Liebe hat er mich geliebt, und die Liebe
erblüht in unseren Geschöpfen,
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und sie... es bedrückt mich, sie
verlassen zu müssen... aber Herr! Herr! Das Brennen hört auf! Mutter! Mutter!
Es ist mir, als ob ein Engel die Luft des Himmels auf meine Qualen hauchte.
Oh, welcher Friede! Nimm, o nimm deine Hand nicht weg, mein Herr! Lege sie
fest darauf. Oh, welche Kraft! Welche Freude! Meine Kinder! Kommt her, meine
Kinder! Ich will sie bei mir haben! Dina, Osias, Anna, Seba, Melchi, David,
Judas! Kommt her, kommt her... Die Mutter muß nicht mehr sterben. Oh! ...» Die
junge Frau kehrt sich auf dem Kissen um und weint vor Freude, während die
Kinder herbeieilen und die Greisin niederkniet, und da sie in ihrer Freude zu
nichts sonst fähig ist, stimmt sie den Lobgesang des Azarias im brennenden
Feuerofen an; sie singt ihn zu Ende mit ihrer zitternden, von Tränen gerührten
Greisenstimme.
«Ah, Herr! Was kann ich für dich
tun? Ich habe nichts, um dich zu ehren!» sagt sie endlich.
Jesus hilft ihr beim Aufstehen
und sagt: «Laß mich ein wenig von meiner Müdigkeit ausruhen. Erzähle niemandem
etwas davon... Die Welt liebt mich nicht. Ich muß für einige Zeit weggehen.
Von dir verlange ich Treue zu Gott und Schweigen, von dir, von der jungen Frau
und von den Kindern.»
«Oh, habe keine Sorge! Niemand
kommt zu den Armen. Du kannst hier bleiben und brauchst keine Angst haben,
gesehen zu werden. Die Pharisäer, nicht wahr? Doch ich habe nur ein wenig Brot
zu essen...»
Jesus ruft Iskariot herbei: «Nimm
Geld und kaufe ein, was nötig ist. Wir wollen hier bei den guten Leuten essen
und uns bis zum Abend ausruhen. Geh und schweige!» Dann wendet er sich an die
Geheilte: «Nimm den Verband ab, steh auf, hilf der Mutter und freue dich. Gott
hat dir aus Barmherzigkeit um deiner ehrlichen Tugenden willen seine Gunst
erwiesen. Wir wollen das Brot zusammen brechen, denn heute ist der Herr, der
Allerhöchste, in dein Haus eingekehrt, und das muß als wahres Fest gefeiert
werden.»
Jesus geht hinaus und erreicht
noch Judas, der gerade aufbrechen will. «Kaufe reichlich ein, damit sie auch
in den nächsten Tagen genügend haben. Uns wird es bei Lazarus an nichts
mangeln.»
«Ja, Meister, und wenn du
erlaubst... ich habe auch eigenes Geld mitgenommen. Ich habe gelobt, es zu
deiner Rettung vor den Feinden zu opfern. Ich werde es in Brot umwandeln.
Besser in die Münder dieser Brüder Christi geben als in den Rachen des Tempels
werfen. Erlaubst du? Gold war für mich immer die Schlange. Ich will diese
Versuchung nicht mehr -, denn es geht mir recht gut, nun, da ich ein
rechtschaffener Mensch bin. Ich fühle mich frei, und ich bin glücklich.»
«Mach, wie du willst, Judas, und
der Herr gebe dir Frieden.»
Jesus begibt sich zu den Jüngern,
während Judas weggeht, und alles ist zu Ende.
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174. IN BETHANIEN; IM HAUSE
SIMONS DES ZELOTEN
Als Jesus den letzten Anstieg
überwunden und die Hochebene erreicht hat, sieht er Bethanien in der klaren
Dezembersonne vor sich liegen. Die kahle Winterlandschaft scheint weniger
trostlos, und weniger düster erscheinen auch die dunklen Flecken der
Zypressen, der Eichen und der Johannisbrotbäume, die sich da und dort erheben
und Höflingen gleichen, die im Begriff sind, sich vor einer der sehr hohen
Palmen zu verneigen, die wahrhaft königlich in den schönsten Gärten stehen.
Denn Bethanien hat nicht nur das
schöne Haus des Lazarus, sondern auch andere Wohnsitze von Reichen,
wahrscheinlich von Bürgern Jerusalems, die es vorziehen, hier in der Nähe
ihrer Güter zu leben, und deren Häuser mit den gut gepflegten Gärten sich
deutlich von den Häusern der Ortsbewohner unterscheiden. Es mutet fremd an, in
einer solch gebirgigen Gegend die eine oder andere an den Orient erinnernde
Palme zu sehen, mit ihrem schlanken Stamm und den starren, wehenden Büscheln
von Blättern, hinter deren jadegrüner Farbe man instinktiv die gelbliche,
endlose Wüste vermutet. Hier jedoch bilden die silbergrünen Ölbäume, die
gepflügten Felder, die gerade noch frei vom geringsten Anzeichen keimenden
Getreides sind, und die skelettartigen Obstbäume mit den dunklen Stämmen und
den ineinander verschlungenen Ästen, die aussehen, als ob es sich unter
höllischer Qualen windende Seelen wären, den Hintergrund.
Jesus sieht plötzlich einen der
Diener des Lazarus, der als Wachtposten aufgestellt worden ist. Er grüßt
ehrerbietig und bittet um Erlaubnis, der Herrschaft seine Ankunft mitteilen zu
dürfen. Danach entfernt er sich rasch.
Derweil kommen Bauern und Bürger
herbei, um den Rabbi zu begrüßen. An einer Lorbeerhecke, die mit ihrem
duftenden Grün ein schönes Haus umgibt, zeigt sich eine junge Frau, die ganz
gewiß keine Israelitin ist. Ihr Gewand oder, wenn ich mich recht an die
Benennung erinnere, ihre Stola, die in ihrer Länge eine Schleppe bildet, ist
sehr weit, aus weichster, ganz weißer Wolle, belebt durch einen auf
griechische Art mit lebhaften Farben und Goldfäden gestickten Saum, und wird
in der Taille von einem ebensolchen Gürtel gehalten. Die Kopfbedeckung besteht
aus einem goldenen Netz, das eine komplizierte Haartracht zusammenhält, vorne
alles kleine Löckchen, dann glatt, und im Nacken ein großer Knoten. Dies alles
läßt mich an eine Römerin oder Griechin denken. Sie blickt neugierig herum,
denn die Zurufe der Frauen und die Hosannarufe der Männer lassen sie
aufmerksam werden. Doch sie hat nur ein verächtliches Lächeln, da sie sieht,
daß die Leute einem einfachen Mann entgegengehen, der nicht einmal einen Esel
hat und mit einigen Männern, die zu ihm passen, jedoch weniger interessant
sind, daherkommt. Sie hebt nur die
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Schultern, macht eine
gelangweilte Miene und entfernt sich, gefolgt von einer Schar bunter
Stelzvögel, die sie an Stelle von Hunden begleiten. Es sind weiße Ibisse und
bunte Flamingos, deren silberne Krönchen auf den Köpfen zittern, was der
einzige Schmuck dieser prächtigen, rotgelb gefiederten Vögel ist.
Jesus blickt diese Frau einen
Augenblick an, dann wendet er sich um, einen sehr alten Mann anzuhören, der
keine so schwachen Beine haben möchte. Jesus streichelt und ermuntert ihn,
Geduld zu haben, denn bald komme das Frühjahr und mit der warmen Aprilsonne
werde er sich bestimmt kräftiger fühlen.
Da taucht Maximinus auf, der
Lazarus um einige Schritte vorausgegangen ist. «Meister, Simon hat mir
gesagt... daß du in sein Haus gehen willst... Das schmerzt Lazarus... aber man
kann es begreifen...»
«Wir werden noch darüber reden.
Oh, mein Freund!» Jesus geht eilends Lazarus entgegen, der ganz verlegen ist,
und küßt ihn auf die Wange. Sie sind an einem kleinen Weg angelangt, der zu
einem Häuschen führt, das zwischen den Obstgärten des Lazarus und anderen
Gärten liegt.
«Willst du wirklich zu Simon
gehen?»
«Ja, mein Freund. Ich habe alle
meine Jünger bei mir und ziehe es vor...»
Lazarus verwindet diese
Entscheidung schweigend. Er wendet sich nun nach der kleinen Menschenschar um,
die ihnen nachgefolgt ist, und sagt: «Geht, der Meister braucht Ruhe!»
Hier sehe ich, wie mächtig
Lazarus ist. Alle verneigen sich bei seinen Worten und ziehen sich zurück,
während Jesus sie mit seinem sanften «Der Friede sei mit euch» grüßt und sagt:
«Ich werde euch Bescheid geben, wann ich predigen werde.»
«Meister», sagt Lazarus, da sie
allein sind und die Jünger sich mit Maximinus einige Meter hinter ihnen
unterhalten, «Meister, Martha weint bittere Tränen, deshalb ist sie nicht
gekommen. Sie wird später kommen. Ich weine nur im Herzen. Doch sagen wir: es
ist richtig so. Wenn wir gewußt hätten, daß sie kommen würde... Sie kommt doch
nie an den Festtagen... Ja, wann kommt sie schon? Ich behaupte, der Dämon hat
sie wohl heute hierher geführt...»
«Der Dämon ? Warum nicht ihr
Schutzengel auf Gottes Geheiß? Aber glaube mir, auch wenn sie nicht gekommen
wäre, ich wäre trotzdem in das Haus Simons gegangen.»
«Warum mein Herr? Hättest du in
meinem Haus nicht Frieden gefunden ?»
«So viel Friede, daß es mir nach
dem Haus in Nazareth das liebste ist. Doch antworte mir: Warum hast du mir
sagen lassen: "Geh weg vom Trügerischen Gewässer'?" Es ist wegen der sich
anbahnenden Verfolgung. Ist
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es nicht so? Darum begebe ich
mich auf die Ländereien von Lazarus, aber ich setze Lazarus nicht der Gefahr
aus, in seinem Haus angegriffen zu werden. Glaubst du, daß sie dich
respektieren würden? Um mich zu zertreten, würden sie sogar über die
Bundeslade herfallen... Laß mich gewähren. Wenigstens für jetzt. Später werde
ich kommen. Übrigens, niemand verbietet mir, bei dir zu speisen, und nichts
hindert dich daran, zu mir zu kommen. Doch nun mache bekannt, daß ich im Haus
eines meiner Jünger bin.»
«Bin ich denn kein Jünger?»
«Du bist der Freund und wegen
deiner Hochherzigkeit mehr als Jünger. Es ist für die Bösen nicht dasselbe.
Laß mich nur machen, Lazarus. Dieses Haus gehört dir... doch es ist nicht dein
Haus, das schöne und prachtvolle Haus des Sohnes des Theophilus und dies ist
für die Besserwisser von großer Bedeutung.»
«Du sagst das so... aber es
ist... es ist ihretwegen! Ich war gerade daran mich durchzuringen, ihr zu
vergeben... aber wenn sie dich zurückstößt, bei Gott, dann werde ich sie
hassen...»
«Dann würdest du mich ganz
verlieren! Laß diesen Gedanken sofort fallen, sofort, wenn du mich nicht
augenblicklich verlieren willst... Da kommt Martha. Der Friede sei mit dir,
meine gute Gastgeberin.»
«Oh, Herr!» Martha ist
niedergekniet und weint. Sie hat den Schleier herabgelassen, der auf der mit
einem Diadem hochgesteckten Haartracht befestigt war, um den anderen das von
Tränen überströmte Gesicht zu verbergen. Doch vor Jesus denkt sie nicht daran,
ihr Weinen zu verdecken.
«Warum diese Tränen? Wahrlich,
diese Tränen sind vergeudet. Es gibt vieles, worüber man weinen kann, und
vieles, um aus Tränen Kostbares zu machen. Aber aus diesem Grund zu weinen?
Oh, Martha, es scheint, als ob du nicht mehr wüßtest, wer ich bin. Du mußt
wissen, daß ich vom Menschen nur die Hülle habe. Das Herz ist göttlich und
göttlich ist sein Schlag. Steh auf und komm ins Haus; und sie... laßt sie
gewähren. Selbst wenn sie mich verhöhnen würde... laßt sie machen, sage ich
euch. Es ist nicht sie. Es ist er; jener, der sie gefangen hält und aus ihr
ein Werkzeug der Verwirrung macht. Aber hier ist einer, der stärker ist als
ihr ]Beherrscher. Jetzt entscheidet sich der Kampf zwischen ihm und mir. Ihr
aber betet, verzeiht, seid geduldig und hofft. Sonst nichts!»
Sie betreten das kleine Haus, das
quadratisch und von einem Säulengang umgeben ist, der es größer erscheinen
läßt. Es hat vier Zimmer, die durch einen kreuzförmigen Gang voneinander
getrennt sind. Eine äußere Treppe führt nach oben, zum Säulengang, der hier
allerdings einer größeren Terrasse gleicht, und zu einem großen Raum, der die
gesamte Fläche des Hauses einnimmt. Er muß wohl früher als Vorratsraum gedient
haben, ist aber nun ausgeräumt und gereinigt worden. Er ist vollkommen leer.
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Simon, der an der Seite eines
alten Dieners steht, den er Joseph nennt, heißt die Gäste willkommen und sagt:
«In diesem Raum könntest du zu den Menschen sprechen, oder man könnte hier die
Mahlzeiten einnehmen... Wie du willst...»
«Wir werden darüber nachdenken.
Geh also und sag den Leuten, daß sie nach der Mahlzeit nur kommen sollen. Ich
will diese guten Menschen hier nicht enttäuschen.»
«Wohin soll ich sie weisen?»
«Hierher. Der Tag ist mild. Der
Ort ist windgeschützt. Der Obstgarten nimmt jetzt, wo er kahl ist, keinen
Schaden, wenn die Menschen hineingehen. Von dieser Terrasse aus will ich
sprechen. Gehe nur.»
So bleibt nur Lazarus bei Jesus.
Martha, unter dem Zwang, so viele Personen zu versorgen, ist nun wieder "die
gute Gastgeberin" und arbeitet mit den Dienern und den Aposteln im Erdgeschoß,
um alles für die Mahlzeit und die Ruhelager vorzubereiten.
Jesus legt einen Arm um die
Schulter von Lazarus und führt ihn aus dem großen Raum hinaus, um auf der das
Haus umgebenden Terrasse in der schönen Sonne zu wandeln, die den Tag angenehm
macht. Von oben betrachtet er die arbeitenden Diener und Jünger und lächelt
Martha zu, die ab und zu mit ihrem ernsten Gesicht, das nun nicht mehr so
traurig ist, nach oben blickt. Jesus betrachtet auch das schöne Panorama, das
den Ort umgibt und nennt Lazarus verschiedene Ortschaften und Personen.
Plötzlich fragt er: «Also hat der Tod des Doras das Schlangennest
aufgescheucht?»
«Oh, Meister! Nikodemus hat mir
erzählt, daß es bei der Versammlung des Hohen Rates einen nie gesehenen
Aufruhr gegeben hat.»
«Was habe ich dem Hohen Rat nur
angetan, daß er sich so aufregen mußte? Doras ist von selbst, vor den Augen
des Volkes, durch den Zorn des Herrn gestorben. Ich habe nicht erlaubt, daß
dem Toten die Achtung versagt wurde. Also? ...»
«Du hast recht. Doch die
anderen... sie sind wahnsinnig vor Angst... Und weißt du, sie haben gesagt,
sie möchten dich bei einer Sünde ertappen, um dich zum Tod verurteilen zu
können!»
«Oh, da kannst du beruhigt sein.
Mit der Verurteilung müssen sie noch bis zur Stunde Gottes warten.»
«Aber Jesus, weißt du, von wem
gesprochen wird? Weißt du, wozu die Pharisäer und Schriftgelehrten fähig sind?
Kennst du die Gesinnung des Annas ? Weißt du, wer sein Helfer ist? Weißt du...
doch was sage ich? Du weißt es! Daher ist es unnötig, dir zu sagen, daß sie
ein Vergehen erfinden werden, um dich anzuklagen.»
«Sie haben es schon gefunden. Ich
habe schon mehr getan, als nötig war. Ich habe mit Römern gesprochen, ich habe
mit Sünderinnen gesprochen. Ja, mit Sünderinnen, Lazarus! Eine, blick mich
nicht so erschrocken
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an, eine kommt immer, um mir
zuzuhören, und sie haust in einem Stall deines Verwalters, auf meine Bitte
hin; denn, um in meiner Nähe sein zu können, hat sie in einem Schweinestall
Unterschlupf genommen.»
Lazarus ist vor Erstaunen zur
Statue erstarrt. Er rührt sich nicht mehr. Er schaut Jesus an, als würde er
einen ihn verwirrenden Fremden sehen. Jesus rüttelt ihn lächelnd. «Hast du den
Teufel gesehen?» fragt er.
«Nein, ich habe die
Barmherzigkeit gesehen. Aber ich verstehe. Die vom Hohen Rate verstehen aber
nicht. Nein! Sie sagten, daß es eine Sünde sei. Es ist also wahr! Ich
glaubte... Oh, was hast du getan!»
«Meine Pflicht, mein Recht, und
meinem Wunsch gemäß habe ich versucht, eine gefallene Seele zu erlösen. Du
siehst, daß deine Schwester nicht der erste gefallene Mensch sein wird, dem
ich mich nähere und über den ich mich neige, und sie wird auch nicht der
letzte sein. Im Schlamm will ich die Blumen säen und sie wachsen lassen: die
Blumen des Guten.»
«O Gott, mein Gott! Aber... Oh,
mein Meister! Du hast recht! Es ist dein Recht und deine Pflicht und dein
Wunsch. Diese Hyänen aber verstehen das nicht. Sie sind Aas, daß sie den Duft
der Lilien nicht wahrnehmen. Dort, wo sie blühen, riechen sie – jenes alles
durchdringende Aas – nur Sünde, und merken nicht, daß dieser Geruch aus ihrem
eigenen Pfuhl hervorkommt. Ich bitte dich, halte dich nicht mehr zu lange an
einem Ort auf. Gehe einmal dahin, einmal dorthin, ohne ihnen die Möglichkeit
zu geben, dich einzuholen. Sei wie ein nächtliches tanzendes Feuer, das
behende über Blumen und Gräser hinweghuscht und in seiner verwirrenden
Bewegung nicht zu erhaschen ist. Tu es! Nicht aus Feigheit, sondern aus Liebe
zur Welt, die dich nötig hat, um sich zu heiligen. Die Verderbtheit nimmt zu;
stelle ihr deine Heiligkeit entgegen. Hast du die neue Einwohnerin von
Bethanien gesehen? Eine mit einem Juden verheiratete Römerin. Er ist
gesetzestreu, doch sie ist Götzenanbeterin, und da sie nicht gut in Jerusalem
leben konnte, weil die Nachbarn sich wegen ihrer Tiere beklagten, so ist sie
hierher gekommen. Voller Tiere, die für uns unrein sind, ist ihr Haus, und die
Unreinste ist sie selbst; denn sie verlacht uns, und dies mit einer
Dreistigkeit... Doch ich darf nicht kritisieren, denn... Aber während man in
mein Haus keinen Fuß mehr setzt, weil Maria mit ihrer Sünde auf ihm und der
ganzen Familie lastet, geht man in das Haus der Römerin. Sie genießt die Gunst
von Pontius Pilatus und lebt ohne Ehemann. Er ist in Jerusalem, sie hier. So
heuchelt man vor, sich durch das Betreten des Hauses nicht zu entweihen und
daran nichts Anstößiges zu sehen. Scheinheiligkeit! Bis zum Hals stecken sie
in dieser Heuchelei, und bald werden sie daran ersticken. Jeder Sabbat ist Tag
der Feste... Auch Männer des Hohen Rates nehmen daran teil. Ein Sohn des Annas
ist der eifrigste.»
«Ich habe sie gesehen. Laß sie
und die anderen machen! Wenn ein Arzt eine Arznei zubereitet, mischt er die
Substanzen mit Wasser, und das
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Wasser wird trüb. Doch dann
setzen sich die unlöslichen Teilchen, und das Wasser wird wieder klar, ist
aber gesättigt vom Wirkstoff dieser heilsamen Substanzen. So ist es auch hier.
Alles wird vermischt, und ich arbeite mit allen. Später werden die toten Teile
ausgeschieden und fortgeworfen werden und die anderen, lebenden, bleiben aktiv
im großen Meer des Volkes Jesu Christi. Laßt uns hinuntergehen. Man ruft uns.»
... Und die Vision beginnt
wieder, als Jesus aufs neue zur Terrasse hinaufsteigt, um zu den Menschen von
Bethanien und den umliegenden Ortschaften zu sprechen, die sich bereits
versammelt haben.
«Der Friede sei mit euch!
Selbst wenn ich schweigen würde,
brächten euch die Winde Gottes die Worte meiner Liebe und die der Gehässigkeit
anderer. Ich weiß den Grund, weshalb ihr so erregt seid: es ist euch nicht
unbekannt, warum ich hier unter euch weile. Doch freut euch mit mir und preist
den Herrn, der das Böse dazu benützt, um seinen Kindern eine Freude zu
bereiten, denn er führt unter dem Stachel des Bösen sein Lamm unter die Lämmer
zurück, um es in Sicherheit vor den Wölfen zu bringen.
Seht, wie gut der Herr ist! Wie
Flüsse ins Meer, so gelangten ein Strom und ein Bach zu mir, wo ich wohnte:
ein Strom liebender Zuneigung und ein Bach tödlichen Hasses. Ersterer war eure
Liebe, angefangen bei Lazarus und Martha bis zum Letzten des Ortes; der Bach
war der ungerechte Groll jener, die der Einladung der Güte Gottes nicht zu
folgen vermögen und ihn deswegen des Verbrechens beschuldigen. Und der Strom
sagte: "Komm zurück zu uns. Unsere Wellen umgeben dich, schützen dich,
verteidigen dich. Sie sollen dir alles geben, was dir die Welt verweigert. Der
böse Bach ist gefährlich, er wollte dich mit seinem Gifte töten. Doch was ist
ein Bach im Vergleich zu einem Strom, und was ist ein Strom im Vergleich zu
einem Meer? Nichts!" Und zu einem Nichts ist das Gift des Baches geworden,
weil der Strom eurer Liebe ihm überlegen war, und ins Meer meiner Liebe hat
sich nur eure holde Liebe ergossen. Das Gift des Hasses hat sogar bewirkt, daß
es mich zu euch geführt hat. Preisen wir den höchsten Herrn dafür.»
Durch die friedliche Stille
erschallen kraftvoll seine Worte, die er durch Gebärden unterstreicht. Jesus
steht mit seiner schönen Gestalt in der Sonne und lächelt von der Terrasse
herab.
Unten hört ihm das Volk selig zu:
ein Blütenbeet von erhobenen Gesichtern, die dem Wohlklang seiner Stimme
zulächeln. Lazarus ist in Jesu Nähe, wie auch Simon und Johannes. Die anderen
haben sich unter die Menschenmenge gemischt. Martha ist auf die Terrasse
gestiegen und hat sich zu Füßen Jesu niedergelassen. Sie schaut nach ihrem
Haus, das hinter dem Garten zu sehen ist.
«Die Welt gehört den Bösen; das
Paradies den Guten. Das ist die Wahrheit und die Verheißung, und darauf gründe
sich eure sichere Kraft.
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Die Welt ist vergänglich, das
Paradies vergeht nicht. Wenn einer gut ist, wird er es erwerben und in
Ewigkeit besitzen. Also? Weshalb sich darüber aufregen, was die Bösen tun?
Erinnert ihr euch an die Klagen des Job? Es sind die ewigen Klagen der Guten
und Unterdrückten, weil das Fleisch immer klagt; doch es sollte nicht klagen,
und je mehr es unterdrückt wird, um so mehr müßte es sich mit den Flügeln der
Seele im Jubel zum Herrn erheben.
Glaubt ihr, daß jene glücklich
sind, die glücklich scheinen? Sie haben auf erlaubte und mehr noch auf
unerlaubte Weise ihre Scheunen gefüllt; die Weinfässer sind voll und die
Ölkrüge laufen über. Nein! Ihre Nahrung riecht nach Blut und Tränen ihrer
Mitmenschen, und ihr Lager kommt ihnen wie mit Dornen gefüllt vor; so sehr
verspüren sie die Heftigkeit ihrer Gewissensbisse. Sie betrügen die Armen und
berauben die Waisen. Sie bestehlen den Nächsten, um Schätze anzuhäufen, und
unterdrücken jene, die ihnen an Macht und Verderbtheit unterlegen sind. Das
tut nichts. Laßt sie machen. Ihr Reich ist von dieser Welt. Bei ihrem Tode,
was bleibt ihnen da? Nichts. Wenn man nicht die Anhäufung der Schuld Schatz
nennen will, die sie mit sich tragen und Gott vorweisen müssen... Laßt sie
gewähren. Sie sind die Kinder der Finsternis, die sich gegen das Licht
auflehnen und seinem leuchtenden Pfad nicht zu folgen vermögen. Wenn Gott den
Morgenstern erstrahlen läßt, dann nennen sie ihn Schatten des Todes, halten
ihn für unrein und ziehen es vor, im schmutzigen Schein ihres Goldes und ihres
Hasses zu wandeln, die nur flackern, weil die Dinge der Hölle vom Phosphor der
ewigen Seen der Verdammnis leuchten...»
«Meine Schwester, Jesus! ... Oh!»
Lazarus hat Maria entdeckt, die hinter einer Hecke des Obstgartens
dahinschleicht, um so nah als möglich heranzukommen. Sie geht gebückt. Doch
ihre blonden Haare glänzen wie Gold vor dem dunklen Buchsbaum im Hintergrund.
Martha will sich erheben, doch
Jesus legt eine Hand auf ihren Scheitel, und sie ist gezwungen zu bleiben, wo
sie ist. Jesus erhebt seine Stimme noch mehr:
«Was ist über diese Unglücklichen
zu sagen? Gott hat ihnen Zeit zur Buße gegeben, und sie mißbrauchen sie, um zu
sündigen. Aber Gott verliert sie nicht aus den Augen, auch wenn es so scheinen
mag; die Stunde kommt, da entweder die Liebe Gottes wie ein Blitz, der auch in
den Stein einschlägt, ihr hartes Herz sprengt, oder die Summe ihrer Missetaten
die Flut ihres Schlammes bis zu ihrer Kehle und Nase trägt... da sie beginnen,
die Widerlichkeit jenes Geruches und Gestankes wahrzunehmen, von dem ihr Herz
angefüllt ist, und der die anderen anwidert. Es kommt der Augenblick, da sie
selbst Ekel empfinden und in ihnen der Wunsch nach dem Guten aufsteigt, und
ihre Seele schreit auf: "Ach, könnte ich doch zurückkehren in jene Zeit von
damals, als ich in der Freundschaft Gottes war! Als sein Licht in meinem
Herzen leuchtete, und ich in seinem Schein
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wandelte. Als vor meiner
Gerechtigkeit die Welt bewundernd verstummte, und alle, die mich sahen, mich
selig priesen. Die Welt trank mein Lächeln, und meine Worte wurden angenommen
wie die Worte eines Engels, und das Herz meiner Angehörigen hüpfte voller
Stolz. Jetzt, was ist aus mir geworden? Spott der Jugend, Greuel der Alten.
Ich bin der Gegenstand ihrer Spottlieder, und der Auswurf ihrer Verachtung
zerfurcht mein Antlitz ... "
Ja, so spricht in gewissen
Stunden die Seele des Sünders, des wahren Job; denn es gibt kein größeres
Elend als dieses, auf ewig die Freundschaft Gottes und sein Reich verloren zu
haben. Sie müssen bemitleidet werden! Nur Erbarmen sollen wir für sie
empfinden. Es sind arme Seelen, die durch Müßiggang oder Leichtfertigkeit den
ewigen Bräutigam verloren haben. "Bei Nacht auf meinem Lager suchte ich den
Liebsten meiner Seele und fand ihn nicht." (HI 3,1). In der Finsternis kann
man den Bräutigam nicht erkennen, und die zur Liebe getriebene Seele irrt
umher, denn sie ist umgeben von geistiger Finsternis und sucht und will Trost
in ihrer Qual finden. Sie glaubt, ihn in irgendeiner Liebe zu finden... Nein!
Einer nur ist der Geliebte der Seele: Gott! Sie gehen, jene Seelen, von der
Liebe Gottes getrieben, und suchen Liebe. Es genügte, das innere Licht zu
wollen, und sie hätten den Liebsten als Gefährten. Sie gehen wie Kranke umher
und suchen Liebe und finden Liebeleien und schmutzige Bindungen, die die
Menschen als Liebe bezeichnen. Aber sie finden die Liebe nicht; denn Liebe,
das ist Gott, und nicht das Gold, nicht die Sinnenlust, nicht die Macht.
Arme, arme Seelen! Wären sie
weniger müßig gewesen, dann hätten sie sich schon beim ersten Ruf des ewigen
Bräutigams zu Gott erhoben, der sagt: "Folge mir", und weiterhin sagt: "Öffne
mir" ' und sie wären nicht soweit gekommen, die Türe erst zu öffnen, als der
enttäuschte Bräutigam bereits weg war. Sie hätten den heiligen Drang und das
Bedürfnis nach Liebe nicht geschändet und in den Schmutz gezogen, der selbst
dem unreinen Tier Abscheu verursacht, weil eine solche Liebe in ihrer
Sinnlosigkeit keine Blumen hervorbringt, sondern nur stechende Disteln, und
ohne Krönung verbleibt. Sie hätten nicht die Verachtung der Gesetzeswächter
und aller anderen erfahren müssen, die, wie Gott, doch aus entgegengesetzten
Gründen, den Sünder nicht aus den Augen verlieren, ihn jedoch bloßstellen,
verhöhnen und tadeln.
Arme gefolterte Seelen, entblößt,
gequält und verwundet von jedermann. Gott allein beteiligt sich nicht an einer
solchen Steinigung. Er läßt seinen Tränen freien Lauf, um die Wunden zu heilen
und sein Geschöpf, das immer sein Geschöpf bleibt, wieder mit einem
diamantenen Gewand zu bekleiden. Nur Gott... und die Kinder Gottes im Vater.
Preisen wir den Herrn! Er hat gewollt, daß ich der Sünder wegen hierher komme,
um euch zu sagen: "Verzeiht! Verzeiht jederzeit! Macht aus jedem Übel etwas
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Gutes. Macht aus jeder
Beleidigung eine Gnade." Ich sage euch nicht allein "macht", ich sage: "Ahmt
mich nach." Ich liebe und segne meine Feinde; denn ihretwegen habe ich zu
euch, meine Freunde, zurückkehren können. Der Friede sei mit euch allen!»
Die Leute winken Jesus mit
Schleiern und Zweigen und entfernen sich langsam.
«Haben sie wohl jene Unverschämte
gesehen?»
«Nein, Lazarus. Sie war hinter
der Hecke und gut verborgen. Nur wir konnten sie von oben her sehen, die
anderen nicht.»
«Sie hatte uns versprochen...»
«Warum hätte sie nicht kommen
sollen? Ist nicht auch sie eine Tochter Abrahams? Ich verlange von euch,
Geschwister, und von euch, meinen Jüngern, den Schwur, sie nichts merken zu
lassen. Laßt sie nur machen. Wird sie mich verspotten? Laßt sie es tun. Wird
sie weinen? Laßt sie machen. Wird sie fliehen? Laßt sie es tun. Das ist das
Geheimnis des Erlösers und der Erlöser: Geduld, Güte, Beharrlichkeit und
Gebet. Nichts weiter. Jede Handlung ist zuviel bei gewissen Krankheiten...
Gott befohlen, Freunde! Ich bleibe, um zu beten. Es gehe ein jeder seiner
Pflicht nach. Gott möge euch begleiten.»
Alles endet.
175. DAS LICHTERFEST IM HAUSE DES
LAZARUS IN ANWESENHEIT DER HIRTEN
Das an sich schon prächtige Haus
des Lazarus ist an diesem Abend herrlich geschmückt. Es scheint zu brennen
wegen der großen Zahl der angezündeten Lichter, und das Licht ergießt sich an
diesem Beginn der Nacht von den Sälen in die Vorhalle und aus dieser zum
Säulengang. Es taucht den Kies der Wege, die Pflanzen und die Gewächse der
Beete in Gold und steht im Wettstreit mit dem Mondschein, den es für einige
Meter besiegt, während in einer weiteren Entfernung alles engelgleich
erscheint im Gewand aus reinem Silber, das der Mond auf alles wirft.
Auch die Stille, die den
herrlichen Garten einhüllt, in dem man nur das harfenklangähnliche Plätschern
im Fischteich hört, scheint die Sammlung und den paradiesischen Frieden dieser
Mondnacht zu vermehren, während sich im Hause zahlreiche fröhliche Stimmen mit
den Geräuschen hin- und hergeschobener Möbel und des auf den Tisch gestellten
Geschirrs mischen, um daran zu erinnern, daß der Mensch immer noch Mensch und
noch nicht Geist ist.
Martha bewegt sich flink in ihrem
weiten, herrlichen und züchtigen Gewand von rotvioletter Farbe. Sie gleicht
einer Blume, einer schönen
102
Glockenblume oder einem
Schmetterling, der sich vor den purpurnen Wänden der Vorhalle oder vor jenen
feingemusterten des Speisesaals bewegt, die mit ihren winzigen Verzierungen
einem Teppich ähneln.
Jesus jedoch wandelt allein und
in Gedanken neben dem Fischteich und wird abwechselnd vom dunklen Schatten
eines Lorbeerbaumes, eines Baumriesen, eingehüllt und vom phosphoreszierenden
Mondlicht, das immer heller wird, angestrahlt. So lebhaft ist der Strahl des
Brunnens, daß er wie eine silberne Feder aussieht, die sich dann in
Brillantsplitter zerteilt, die auf die stille, silberne Wasserfläche des
Teiches fallen, um sich darin zu verlieren. Jesus betrachtet dieses Spiel und
lauscht dem Plätschern des Wassers in der Nacht. Sein Klang ist so melodisch,
daß sich eine Nachtigall im dichten Lorbeer einmischt und dem langsamen
Harfenklang der Tropfen mit einem hellen Flötenton antwortet, dann innehält,
als ob sie den richtigen Ton finden wolle, um sich dem Akkord des Wassers
anzupassen, und endlich als Königin des Gesangs ihren vollkommenen,
melodiösen, modulierten Hymnus der Freude anstimmt.
Jesus ist stehengeblieben, um
nicht mit dem Geräusch seiner Schritte die friedliche Freude der Nachtigall,
und ich glaube auch seine eigene, zu stören, denn er lächelt mit geneigtem
Haupte ein Lächeln wahrer, heiterer Freude. Als die Nachtigall aufhört zu
singen nach einer derart reinen, angehaltenen und modulierten Note, daß ich
sehr staunen muß, wie in einer so winzig kleinen Kehle so melodische Kunst
erzeugt werden kann, ruft Jesus aus: «Sei gepriesen, heiliger Vater, für
diesen vollendeten Gesang und für die Freude, die du mir geschenkt hast», und
er nimmt den langsamen Spaziergang wieder auf, ganz erfüllt von einer
Betrachtung, deren Tiefgründigkeit man wohl nicht zu ermessen vermag.
Simon holt ihn ein: «Meister,
Lazarus bittet dich, zu kommen. Alles ist bereit!»
«Laßt uns gehen. So möge auch der
letzte Zweifel fallen, daß ich ihn Marias wegen weniger liebe.»
«Wie viele Tränen, Meister! Nur
dein geheimes Wunder hat diesen Schmerz lindern können. Aber weißt du nicht,
daß Lazarus daran war, zu fliehen, nachdem sie bei ihrer Rückkehr das Haus
verließ und sagte, daß sie die Gräber mit der Lust eintauschen wolle und
andere Unverschämtheiten mehr? Ich habe ihn mit Martha beschworen, es nicht zu
tun, auch weil man die Reaktion eines Menschenherzens nie voraussehen kann.
Hätte er sie gefunden, ich glaube, er hätte sie ein für allemal bestraft. Er
hätte zumindest ihr Stillschweigen über dich verlangt.»
«Und das sofortige Wunder an
ihr», beendet Jesus den Satz. «Ich hätte es wirken können. Aber ich will keine
erzwungene Auferstehung der Herzen. Ich werde den Tod bezwingen, und er wird
mir seine Beute zurückgeben, denn ich bin der Herr über Leben und Tod. Die
Seelen jedoch, die nicht eine leblose Masse, die auch ohne Odem, aber
unsterbliche Wesen
103
sind, fähig, durch ihren eigenen
Willen wieder aufzuerstehen.... sie zwinge ich nicht zur Auferstehung. Ich
gebe den ersten Mahnruf und die erste Hilfe, wie einer, der ein Grab öffnet,
in dem ein bereits halbtoter Mensch eingeschlossen wäre, der sterben müßte,
wenn er lange im erstickenden Dunkel bliebe. Ich lasse Luft und Licht
eintreten und warte. Wenn die Seele willens ist herauszukommen, dann kommt
sie. Wenn nicht, dann sinkt sie immer tiefer. 1) Aber wenn sie kommt! Oh, wenn
sie kommt, wahrlich, ich sage euch, niemand wird größer sein als der im Geist
Auferstandene. Nur die vollkommene Unschuld ist größer als dieser Tote, der
wieder aufersteht durch die Kraft seiner eigenen Liebe und weil Gott ihn
beglückt. Das sind meine größten Triumphe.
Betrachte den Himmel, Simon. Du
siehst an ihm große und kleine Sterne und Planeten von verschiedener Größe.
Alle haben Leben und Glanz durch Gott, der sie erschaffen hat, und durch die
Sonne, die sie beleuchtet. Doch nicht alle sind gleich groß und gleich
prächtig. Auch in meinem Himmel wird es so sein. Alle Erlösten werden durch
mich das Leben haben und durch mein Licht erglänzen. Doch nicht alle werden
gleich prächtig und gleich groß sein. Einige werden ein einfacher Sternenstaub
sein, wie in der Milchstraße, und diese sind unzählig. Es sind jene, die von
Christus nur das unerläßliche Minimum erreicht oder erstrebt haben, um nicht
verdammt zu werden. Sie sind nur durch die unendliche Barmherzigkeit Gottes
und nach einem langen Fegefeuer in den Himmel gelangt. Andere werden
strahlender und vollendeter sein: die Gerechten, die ihren Willen, beachte:
Willen, und nicht guten Willen, mit dem Willen Christi vereinigt und meinen
Worten gehorcht haben, um sich nicht der Verdammnis auszusetzen. Dann wird es
die Planeten geben, die Seelen guten Willens! Oh, prachtvoll! Sie erstrahlen
im Licht der reinsten Diamanten oder im Glanz der verschiedensten Farben: im
Rot der Rubine, im Violett der Amethyste, im goldenen Gelb des Topas, im
leuchtenden Weiß der Perlen; es sind die Liebenden aus Liebe bis zum Tod, die
Bußfertigen aus Liebe, die aus Liebe Wirkenden und die ganz Reinen aus Liebe.
Einige dieser Planeten, in allen Schattierungen des Rubins, des Amethyst, des
Topas und der Perlen, werden mein Ruhm als Erlöser sein, weil sie alles sein
werden aus Liebe. Sie werden heldenhaft sein und es wird ihnen gelingen,
einander zu verzeihen, daß sie nicht bereits früher zu lieben imstande waren;
bußfertig zu sein, um sich an der Sühne zu sättigen, wie Esther, die sich in
Wohlgerüche hüllte bevor sie sich Achaschwerosch vorstellte; Büßer, die
unermüdlich nachholen wollen in der kurzen Zeit, die ihnen
_______
1) Dieses Gespräch verlangt ein
betrachtendes, sehr aufmerksames Lesen, weil es die Zusammenfassung dessen
ist, was in vielen Abschnitten durch das ganze Werk hindurch, über das Wirken
Gottes im Menschen und über den guten Willen und die Liebe des Menschen zu
Gott ausgesagt wird.
104
noch verbleibt, um zu ersetzen,
was sie in den Jahren, die sie in der Sünde verloren haben, unterlassen
hatten; Reine bis zum Heldentum, die vergessen, daß sie neben Seele und Geist
im eigenen Leibe ein Sinnesorgan haben. Sie sind es, die mit ihrem
vielfältigen Glanz die Augen der Gläubigen, der Reinen, der Büßer, der
Märtyrer, der Helden, der Asketen und der Sünder auf sich ziehen werden; und
für diese alle wird ihr Leuchten Aussage, Antwort, Einladung und Gewähr sein.
Doch laßt uns gehen. Wir reden, und dort warten sie auf uns.»
«Ja, wenn du sprichst, vergißt
man, daß man noch lebt. Kann ich dies alles Lazarus berichten? Mir scheint, es
liegt ein Versprechen in diesen Worten...»
«Du mußt es sogar sagen! Das Wort
des Freundes kann sich auf ihre Wunde legen, so werden sie sich nicht schämen,
vor mir errötet zu sein. Wir haben dich warten lassen, Martha. Aber ich sprach
mit Simon von Sternen, und wir haben darob die Lichter hier vergessen. Dein
Haus ist heute abend wahrlich ein Sternenhimmel.»
«Nicht nur für uns und für die
Diener, auch für dich und die Gäste, deine Freunde, haben wir die Lichter
angezündet. Hab Dank, daß du zum letzten Abend gekommen bist. Nun ist es ein
wahres Fest der Reinigung...»
Martha möchte noch mehr sagen,
doch sie fühlt Tränen in sich aufsteigen und schweigt.
«Friede sei mit euch allen», sagt
Jesus beim Eintreten in die Vorhalle, die von den überall aufgestellten
silbernen Leuchtern erstrahlt.
Lazarus kommt lächelnd: «Friede
und Segen dir, Meister, und viele Jahre heiliger Glückseligkeit.» Sie küssen
sich. «Einige unserer Freunde haben mir gesagt, daß du geboren wurdest,
während Bethlehem in einem fernen Lichtermeer erstrahlte. Wir freuen uns alle,
dich heute abend bei uns zu haben. Fragst du nicht, wer die Freunde sind?»
«Ich habe keine anderen Freunde
außer den Jüngern, den treuen Freunden von Bethanien, es wären denn die
Hirten. So sind es also die letzteren. Sind sie gekommen? Woher? Warum?»
«Um dich, unseren Messias,
anzubeten! Wir haben es von Jonathan erfahren, und wir sind hier mit unseren
Herden, die in den Ställen von Lazarus untergebracht sind, und mit unseren
Herzen, jetzt und immer zu deinen heiligen Füßen.» Isaak hat für Elias, Levi,
Joseph und Jonathan gesprochen, die sich alle zu Jesu Füßen niedergeworfen
haben. Jonathan im weichen Gewand des vom Herrn geschätzten Verwalters, Isaak
in jenem des unermüdlichen Pilgers aus grober, dunkelbrauner, wasserdichter
Wolle, Levi, Joseph und Elias in Gewändern, die ihnen Lazarus gegeben hat,
frisch und sauber, um sich an den Tisch setzen zu können, ohne ihre armen,
zerrissenen und nach Herde riechenden Gewänder tragen zu müssen.
105
«Deshalb habt ihr mich in den
Garten geschickt? Gott segne euch alle! Nun fehlt nur die Mutter zu meinem
Glück. Steht auf, steht auf! Es ist mein erstes Geburtstagsfest, das ich ohne
meine Mutter verbringe. Doch eure Gegenwart ist mir ein Trost in meiner
Traurigkeit und Sehnsucht nach ihrem Kusse.»
Alle betreten nun den Speisesaal.
Hier sind die Leuchter meist aus Gold, und das Metall funkelt im Schein der
Flammen, und die Flammen leuchten noch strahlender durch den Widerschein des
vielen Goldes. Die Tafel ist U-förmig aufgestellt worden, um so viele Menschen
unterbringen und bedienen zu können, ohne die Bewegungen des Küchenmeisters
und der Diener zu behindern. Außer Lazarus sind die Apostel, die Hirten und
Maximinus sowie der alte Diener des Simon anwesend.
Martha überwacht die Anordnung
der Plätze und möchte stehen bleiben.
Doch Jesus drängt sie: «Heute
bist du nicht die Gastgeberin, sondern die Schwester, und du wirst dich
setzen, als wärest du mir blutsverwandt. Wir sind eine Familie. Die Regeln
sollen fallen, um der Liebe Platz zu machen. Hier an meiner Seite ist dein
Platz und neben dir Johannes! Ich mit Lazarus. Doch gebt mir eine Lampe.
Zwischen mir und Martha soll ein Licht, eine Flamme wachen: für die Abwesenden
und dennoch Anwesenden, für die von uns Geliebten, die Erwarteten, die teuren
Frauen nah und fern. Für alle! Die Flamme spricht Worte des Lichtes. Die Liebe
hat flammende Worte, und diese Worte gehen in die Ferne auf den körperlosen
Wellen der Seelen, die sich jederzeit jenseits von Bergen und Meeren wieder
begegnen, um Küsse und Segnungen zu bringen... Alles bringen sie. Ist es
vielleicht nicht wahr?»
Martha stellt die Lampe hin, wo
Jesus sie wünscht, an einen Platz, der leer bleibt... und Martha versteht,
neigt sich, um die Hand Jesu zu küssen, die sich dann segnend und tröstend auf
ihr braunes Haupt legt.
Die Mahlzeit beginnt. Drei der
Hirten sind anfänglich etwas befangen, während Isaak schon sicherer ist und
Jonathan keinerlei Verlegenheit zeigt, doch sie werden immer gelöster, je
weiter die Mahlzeit vorangeht, und nachdem sie zuerst geschwiegen haben,
beginnen sie nun zu reden. Wovon sollten sie schon reden, wenn nicht von ihren
Erinnerungen?
«Wir hatten uns eben
zurückgezogen», sagt Levi, «und ich fror so sehr, daß ich mich bei den Schafen
verkrochen hatte und vor Sehnsucht nach der Mutter weinte...»
«Ich dachte an die junge Mutter,
der ich kurz zuvor begegnet war, und fragte mich: "Wird sie wohl eine
Unterkunft gefunden haben?" Wenn ich es gewußt hätte, daß sie in einem Stall
war... in unsere Scheune hätte ich sie begleitet! Sie war so lieblich: eine
Lilie unserer Täler, und es wäre mir wie eine Beleidigung vorgekommen, zu
sagen: "Komm zu uns!" Doch ich dachte an sie... und ich verspürte die Kälte
noch mehr, wenn ich
106
dachte, daß sie sehr darunter
leiden mußte. Erinnerst du dich an das Licht jenes Abends und an deine Angst?»
«Ja, aber dann... der Engel! Oh!»
Levi lächelt bei dieser Erinnerung etwas träumerisch.
«Oh, hört zu, Freunde! Wir wissen
nur wenig und dieses nur ungenau. Wir haben von Engeln reden hören, von
Krippen, Herden und Bethlehem, wir wissen von Jesus, daß er Galiläer und
Zimmermann ist... Es ist nicht recht, daß wir nichts darüber wissen. Ich habe
den Meister beim "Trügerischen Gewässer" gefragt; doch es wurde von anderem
geredet. Dieser da, der es weiß, hat mir nichts gesagt. Ja, ich spreche von
dir, Johannes des Zebedäus. Schöne Achtung hast du vor den Älteren. Du willst
alles für dich behalten, und mich läßt du als den Jünger "Dummkopf"
heranwachsen. Bin ich nicht schon dumm genug?»
Sie lachen alle über den Unwillen
des guten Petrus. Doch dieser wendet sich an seinen Meister: «Sie lachen, doch
ich habe recht», und dann wendet er sich an Bartholomäus, Philippus, Matthäus,
Thomas, Jakobus und Andreas: «Los, verlangt es auch, protestiert mit mir!
Warum wissen wir von nichts ?»
«Wahrlich... Wo wart ihr, als
Jonas starb? Wo im Libanon?»
«Du hast recht. Aber Jonas... ich
wenigstens habe geglaubt, es sei ein Fieberwahn des Sterbenden... und im
Libanon, nun da war ich müde und schläfrig. Verzeih, Meister, aber es ist die
Wahrheit.»
«Es wird die Wahrheit so vieler
sein! Die Welt der Evangelisierten wird dem ewigen Richter oft so antworten,
um trotz der Belehrungen durch meine Apostel, ihre Unwissenheit zu
entschuldigen... ja, sie wird antworten, was auch du sagst: "Ich glaubte, er
würde im Fieberwahn sprechen... Ich war müde und schläfrig..." Oft werden sie
die Wahrheit nicht annehmen, weil sie mit Wahnideen verwechselt wird, und sie
werden sich der Wahrheit nicht erinnern, weil sie müde und schläfrig sind,
vieler unnützer Dinge und vergänglicher Nichtigkeiten wegen, und sogar
sündhafter Dinge wegen. Eines allein ist notwendig: Gott zu kennen!»
«Jetzt aber, da du uns gesagt
hast, was gut ist, erzähle die Dinge, wie sie gewesen sind: deinem Petrus;
dann werde ich es den Leuten sagen. Wenn nicht, so habe ich dich gefragt: was
soll ich erzählen? Die Vergangenheit kenne ich nicht, die Prophezeiungen und
die Schrift kann ich nicht erklären, die Zukunft? ... Oh, ich Armer! Was
verkünde ich also?»
«Ja, Meister, bitte, damit auch
wir es wissen... Wir wissen, daß du der Messias bist, und glauben es. Aber
wenigstens für meinen Teil hatte ich einige Mühe, anzunehmen, daß aus Nazareth
Gutes kommen könnte. Warum hast du mir nicht sofort über deine Vergangenheit
Bescheid gesagt?» fragt Bartholomäus.
«Um deinen Glauben und die
Ungetrübtheit deines Geistes zu prüfen. Doch nun werde ich davon erzählen, ja,
wir werden von meiner
107
Vergangenheit reden. Ich werde
sogar sagen, was auch die Hirten nicht wissen, und sie werden erzählen, was
sie gesehen haben. Ihr werdet den Eintritt d
Christus ins Leben auf dieser
Erde kennenlernen.
Höret also: Nachdem die Zeit des
Heils gekommen war, bereitete Gott seine Jungfrau vor. Ihr werdet begreifen,
daß Gott sich nicht dort niederlassen konnte, wo Satan sein unauslöschliches
Siegel gesetzt hatte. Deshalb bewirkte die Allmacht, daß sein künftiger
Tabernakel ohne Makel sei, und Maria wurde, entgegen den allgemeinen Regeln
des Zeugens, von zwei Gerechten in hohem Alter gezeugt und ohne Makel
empfangen. Wer legte die Seele in das embryonale Fleisch, das den welken Schoß
Annas des Aaron, meiner Großmutter, verjüngte? Du, Levi, hast den Erzengel
aller Verkündigungen gesehen. Du kannst sagen: Er ist es, denn die "Kraft
Gottes" war immer der Siegreiche, der die Freudenbotschaft den Gerechten und
Propheten verkündete. Der Unbezwingbare, an dem selbst die größte Kraft Satans
wie ein dürrer Mooshalm zerbrach; der Geistvolle, der mit scharfer,
leuchtender Intelligenz die Hinterlist des anderen, doch böswilligen,
Intelligenten, zunichte machte und den Befehl Gottes unverzüglich ausführte.
Mit einem Freudenruf empfing der
Verkünder, der die Erdenwege kannte, da er bereits mehrmals herabgestiegen
war, um mit den Propheten zu sprechen, vom göttlichen Feuer den unversehrten
Funken: die Seele des Ewigen Mädchens, und schloß ihn ein in einen Kreis von
Engelsflammen, die seiner geistigen Liebe entsprangen, und brachte ihn zur
Erde in ein Haus, in einen Schoß. Von diesem Augenblick an hatte die Welt eine
Seele, die stets Gott anbetete, und Gott konnte von jener Stunde an ohne
Widerwillen auf einen Punkt der Erde schauen. So wurde ein Menschenkind
geboren: die Geliebte Gottes und der Engel, die Gottgeweihte, die heiligmäßig
von den Eltern Geliebte. "Abel opferte Gott die Erstlinge seiner Herde" (Gen
4,1-4). Oh, wahrlich, die Großeltern des ewigen Abel verstanden es, Gott den
Erstling ihrer Habe, ihrer ganzen Habe, zu opfern, und sie starben im Schmerz,
dieses Gut dem zurückgegeben zu haben, der es ihnen geschenkt hatte.
Meine Mutter war Tempeljungfrau,
vom dritten bis zum fünfzehnten Lebensjahr; sie beschleunigte die Ankunft
Christi mit der Macht ihrer Liebe. Jungfrau vor ihrer Empfängnis, Jungfrau im
Dunkel eines Schoßes, Jungfrau im Wimmern, Jungfrau bei den ersten
Gehversuchen: die Jungfrau gehörte immer Gott, Gott allein, und machte ihren
Anspruch geltend, der über der Vorschrift des Gesetzes Israels stand; so bekam
sie von ihrem Bräutigam, der ihr von Gott zugeführt wurde, das Recht
zugesprochen, auch nach der Vermählung unversehrt zu bleiben.
Joseph von Nazareth war ein
Gerechter! Nur ihm konnte die Lilie Gottes anvertraut werden, und er allein
besaß sie. Ein Engel im Fleische und im Geiste liebte er sie, wie die Engel
Gottes lieben. Diese abgrundtiefe Liebe
108
mit allen ehelichen
Zärtlichkeiten, ohne aber je die Schranken des himmlischen Feuers zu
überschreiten, hinter denen der Tabernakel Gottes war, werden nur wenige auf
dieser Welt begreifen. Sie ist das Zeugnis dessen, was ein Gerechter durch
seinen Willen zu tun vermag. Also, was er kann! Denn auch die durch die
Erbsünde noch geschädigte Seele hat mächtige Kräfte, sich zu erheben, und
erinnert sich ihrer Würde als Tochter Gottes und möchte zu ihm zurückkehren,
um in heiliger Weise aus Liebe zum Vater zu wirken.
Noch war Maria in ihrem Hause in
Erwartung des Bundes mit ihrem Bräutigam, als Gabriel, der Engel der
göttlichen Verkündigungen, wieder auf die Erde herabstieg und die Jungfrau
fragte, ob sie Mutter werden wolle. Er hatte zuvor dem Zacharias den Vorläufer
angekündigt, der ihm jedoch keinen Glauben schenkte. Doch die Jungfrau
glaubte, daß dies durch den Willen Gottes möglich sei, und in ihrer Unkenntnis
fragte sie nur: "Wie kann dies geschehen?" Der Engel antwortete ihr: "Du bist
die Gnadenvolle, o Maria! Fürchte daher nichts, denn du hast auch durch deine
Jungfräulichkeit bei Gott Gnade gefunden. Du wirst einen Sohn empfangen und
gebären, dem du den Namen Jesus geben wirst; denn er ist der dem Jakob und
allen Patriarchen und Propheten Israels verheißene Retter. Er wird groß sein
und Sohn des Allerhöchsten genannt werden, weil er durch das Wirken des
Heiligen Geistes empfangen wird. Der Vater wird ihm den Thron Davids geben,
wie es verheißen worden ist, und er wird über das Haus Jakobs ewig herrschen
und sein wahres Reich wird ohne Ende sein. Nun erwarten der Vater, der Sohn
und der Heilige Geist deinen Gehorsam, damit die Verheißung in Erfüllung gehe.
Schon ist der Vorläufer im Schoße der Elisabeth, deiner Base, empfangen
worden, und mit deiner Einwilligung wird der Heilige Geist über dich kommen,
und heilig wird der sein, der aus dir geboren wird, und er wird Sohn des
Allerhöchsten genannt werden."
Maria antwortete darauf: "Siehe,
ich bin die Magd des Herrn. Es geschehe mir nach deinem Worte." Und der Geist
Gottes ließ sich über seiner Braut nieder, und bei der ersten Berührung teilte
er ihr sein Licht mit, das in ihr die Tugenden des Schweigens, der Demut, der
Klugheit und der Liebe, welche sie im vollkommenen Maß besaß, aufs höchste
vervollkommnete, und sie wurde eins mit der Weisheit und unzertrennlich
verbunden mit der Liebe. Die Gehorsame und Reine verlor sich im Ozean des
Gehorsams, der ich bin, und durfte das Glück erleben, Mutter zu sein, ohne daß
ihre Unberührtheit dadurch beeinträchtigt wurde. Sie war Schnee, der zur Blume
wurde, und gab sich Gott als solche hin.»
«Aber der Ehemann?» fragt Petrus
erstaunt.
«Das Siegel Gottes verschloß
Maria die Lippen, und so wurde Joseph nichts vom Wunder bekannt, bevor Maria
vom Haus des Zacharias zurückkehrte und ihr Zustand als Mutter sichtbar
wurde.»
109
«Was hat er getan?»
«Er hat gelitten... und auch
Maria hat gelitten...»
«Wenn mir das geschehen wäre!
...»
«Joseph war ein Gerechter, Simon
des Jonas. Gott weiß schon, wem er seine Gnaden schenkt... Er litt bitter und
beschloß, sie zu verlassen, den Verdacht, ein Ungerechter zu sein, auf sich
nehmend. Doch der Engel stieg hernieder und sagte ihm: "Fürchte dich nicht,
Maria als deine Braut zu dir zu nehmen; denn, was in ihr sich bildet, ist der
Sohn Gottes, und durch das Wirken Gottes wurde sie Mutter. Wenn der Sohn
geboren ist, wirst du ihm den Namen Jesus geben, denn er ist der Rettet!»
«War Joseph gelehrt?» will
Bartholomäus wissen.
«Wie ein Nachkomme Davids.»
«Dann wird er eine Erleuchtung
gehabt und sich an den Propheten erinnert haben: "Eine Jungfrau wird
empfangen..."»
«Ja, er hatte sie. Auf die
Prüfung folgte die Freude.»
«Wenn ich es gewesen wäre...»
fängt Simon Petrus wieder an, «dann wäre es anders gekommen. Denn ich hätte...
Oh, Herr, wie gut, daß dies nicht mir geschehen ist! Ich hätte sie wie einen
Stengel geknickt, ohne ihr die Zeit zu lassen, etwas zu sagen, und, wenn ich
nicht zum Mörder geworden wäre, hätte ich nachher eine ängstliche Scheu vor
ihr gehabt. Die jahrhundertealte Angst ganz Israels vor dem Zelt der
Bundeslade!»
«Auch Moses empfand Furcht vor
Gott, und doch wurde ihm Hilfe zuteil, und er befand sich bei ihm auf dem Berg
(Ex 19,1-20). Joseph ging darauf in das heilige Haus seiner Braut und sorgte
für die Bedürfnisse der Jungfrau und des Ungeborenen. Und als für alle die
Zeit des Erlasses gekommen war, ging er mit Maria in das Land der Väter, und
Bethlehem wies ihn ab, denn das Herz der Menschen ist der Nächstenliebe
verschlossen. Jetzt müßt ihr weitererzählen.»
«Ich begegnete eines Abends einer
jungen lächelnden Frau, die rittlings auf einem Eselchen saß. Ein Mann war mit
ihr. Er bat mich um Milch und Auskunft. Ich sagte ihm, was ich wußte... Dann
kam die Nacht... und ein großes Licht... und wir gingen hinaus, und Levi sah
einen Engel beim Stall. Der Engel verkündete: "Der Retter ist geboren." Es war
gerade Mitternacht, der Himmel war voller Sterne. Aber ihr Licht verlor sich
im Licht des Engels, der Tausende von Engeln... (Elias weint immer wieder,
wenn er daran denkt.) Der Engel sagte: "Geht hin, um ihn anzubeten. Er ist in
einem Stall, in einer Krippe inmitten zweier Tiere. Ihr werdet ein kleines
Kind finden, in armselige Tücher eingewickelt..." Oh, wie strahlte der Engel,
als er diese Worte sprach! Aber erinnerst du dich, Levi, wie seine Flügel
Flammen sprühten, als er, nachdem er niedergekniet war um den Retter zu
nennen, sagte: "... der Christus, unser Herr ist!"»
«Oh, und ob ich mich erinnere!
Die Stimmen der Tausende von Engeln! Oh!... "Ehre sei Gott in der Höhe und
Friede auf Erden den Menschen,
110
die guten Willens sind." Diese
Musik ist hier und trägt mich zum Himmel, jedesmal, wenn ich sie höre.» Levi
erhebt sein verzücktes Gesicht, auf dem Tränen glänzen.
«Dann gingen wir hin», sagt
Isaak, «beladen wie Saumtiere, froh wie zu einer Hochzeit, und dann... als wir
dein kleines Stimmchen hörten und die Stimme der Mutter, waren wir zu nichts
mehr fähig, und wir stießen den Knaben Levi vorwärts, damit er nachschaue. Wir
fühlten uns wie Aussätzige neben all dieser Reinheit. Levi lauschte, weinte
und lachte zugleich, und seine Stimme hörte sich an wie das Blöken eines
Lämmleins, so daß das Mutterschaf des Elias darauf antwortete. Joseph kam zum
Eingang und hieß uns eintreten... Oh, wie warst du klein und schön! Eine
fleischfarbene Rosenknospe auf dem rauhen Heu... und du weintest... Dann
lächeltest du, als du die Wärme des Lammfells spürtest, das wir dir anboten,
und in der Freude über die Milch, die wir für dich gemolken hatten... deine
erste Mahlzeit... Oh! ... und dann ... und dann küßten wir dich. Du duftetest
nach Mandeln und Jasmin ... und wir konnten uns nicht mehr von dir trennen...»
«Ihr habt mich nicht mehr
verlassen, wirklich!»
«Das ist wahr», sagt Jonathan.
«Dein Antlitz blieb in uns, und deine Stimme und dein Lächeln... Du wuchsest
heran und wurdest immer schöner... Die Welt der Guten kam, um sich an dir zu
erfreuen... Doch die Bösen konnten dich nicht erkennen... Anna... deine ersten
Gehversuche... die drei Weisen... der Stern!»
«Oh, jene Nacht! Welch ein Licht!
Die Welt schien mit tausend Lichtern zu brennen, während am Abend deines
Kommens das Licht unbeweglich und weiß wie eine Perle war... Jetzt war es der
Tanz der Sterne, bei deiner Geburt war es die Anbetung der Sterne. Wir sahen
von einer Anhöhe die Karawane vorbeiziehen und gingen hinterher, um zu sehen,
ob sie anhielt... Anderentags sah ganz Bethlehem die Anbetung der Weisen.
Dann... Oh, wir wollen das Schreckliche nicht nennen! ... Wir können es nicht
sagen! ...» Elias wird bleich bei der Erinnerung an dieses Ereignis.
«Ja, sagt es nicht. Schweigen
über den Haß.»
«Der größte Schmerz war, daß wir
dich nicht mehr hatten und nichts mehr von dir wußten. Nicht einmal Zacharias
konnte uns helfen, unsere letzte Hoffnung... Nichts mehr.»
«Warum, Herr, hast du deine
Diener nicht getröstet?»
«Du fragst mich nach dem "Warum"
' Philippus? Weil es vorsichtig war, so zu handeln. Du siehst, daß auch
Zacharias den Schleier nicht lüften wollte. Zacharias...»
«Aber du hast uns gesagt, daß er
es war, der sich der Hirten anzunehmen hatte. Warum sagte er nicht zuerst
ihnen und dann dir, daß die einen den anderen, dich, Jesus, suchten?»
«Zacharias war ein sehr
menschlicher Gerechter. Er wurde weniger
111
Mensch und mehr Gerechter in den
neun Monaten, da er stumm war. Er vervollkommnete sich in den Monaten nach der
Geburt des Johannes und er wurde ein wahrhaft Gerechter, als sein menschlicher
Stolz gebrochen wurde, als Gott seine Behauptung widerlegte. Er hatte gesagt:
"Ich, als Priester Gottes, sage, daß der Retter in Bethlehem leben muß." Doch
Gott hatte ihm gezeigt, daß das Urteil, auch das priesterliche, ein armseliges
Urteil ist, wenn es nicht von Gott erleuchtet ist. Unter dem Schrecken des
Gedankens: "Ich könnte durch mein Wort Jesus umbringen", wurde Zacharias der
Gerechte, der jetzt in Erwartung des Paradieses ruht. Gerechtigkeit lehrte ihn
Klugheit und Nächstenliebe. Liebe zu den Hirten. Klugheit der Welt gegenüber,
der Christus unbekannt bleiben mußte. Bei der Rückkehr in die Heimat, nach
Nazareth, vermieden wir Hebron und Bethlehem mit derselben Vorsicht, die
Zacharias leitete, und kehrten am Meere entlang nach Galiläa zurück. Nicht
einmal am Tage meiner Volljährigkeit war es Zacharias möglich, mich zu sehen,
der bereits am Vortage mit seinem Knaben dieselbe Zeremonie gefeiert hatte und
sofort danach abgereist war.
Gott wachte, Gott prüfte, Gott
sorgte vor, Gott machte alles gut. Gott zu besitzen, bedeutet auch Mühe, nicht
nur Freude. So wurden große Anforderungen an die Vaterliebe Josephs gestellt,
und meine Mutter mußte vielen Anforderungen an Leib und Seele gerecht werden.
Auch das Erlaubte wurde verboten, damit das Geheimnis des Knaben Messias
gewahrt blieb. Das ist auch die Erklärung für viele, die nicht die doppelte
Ursache des Kummers verstanden, als ich für drei Tage verlorengegangen war.
Liebe der Mutter, Liebe des Vaters für das verlorengegangene Kind! Furcht der
Hüter, daß der Messias vor der Zeit entdeckt werden könnte. Angst, den Erlöser
der Welt, das große Geschenk Gottes, zu wenig beschützt und behütet zu haben.
Dies ist die Ursache des ungewöhnlichen Ausrufs: "Sohn, warum hast du uns das
angetan? Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht!" Dein Vater,
deine Mutter... der Schleier, der auf die Herrlichkeit des menschgewordenen
Gottes geworfen worden war. Dann die versichernde Antwort: "Warum habt ihr
mich gesucht ? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters
ist?" Eine von der Gnadenvollen aufgenommene und in ihrer wahren Bedeutung
verstandene Antwort. Also: "Habt keine Angst! Ich bin noch klein, ein Knabe,
aber wenn ich als Mensch zunehme an Größe, Weisheit und Gnade, so bin ich in
den Augen der Menschen der Vollkommene, weil ich der Sohn des Vaters bin. Und
darum weiß ich, was ich zu tun habe: ich diene dem Vater, und seinen Glanz
lasse ich erleuchten, indem ich Gott diene und ihm den Retter bewahre." So
verhielt ich mich bis vor nunmehr einem Jahr.
Jetzt ist die Zeit gekommen; die
Schleier lüften sich, und der Sohn Josephs zeigt sich in seinem wahren Wesen:
als Messias der Frohen Botschaft, als Erlöser, Retter und König der künftigen
Zeiten.»
112
«Hast du Johannes nie
wiedergesehen?»
«Nur am Jordan, meinen Johannes,
als ich die Taufe erbat.»
«Somit hast du nicht gewußt, daß
Zacharias ihnen Gutes erwiesen hatte ?»
«Ich habe dir gesagt: Nach dem
Blutbad der Unschuldigen wurden die Gerechten Heilige und die Menschen
Gerechte. Nur die Dämonen bleiben, was sie immer waren. Zacharias lernte,
heilig zu werden in der Demut, der Nächstenliebe, der Klugheit und im
Stillschweigen.»
«Ich will mir dies alles merken.
Werde ich es können?» fragt Petrus.
«Sei beruhigt, Simon. Morgen
werde ich es mir von den Hirten wiederholen lassen. In Ruhe. Im Obstgarten.
Ein-, zwei-, dreimal, wenn es nötig ist. Ich habe ein gutes Gedächtnis, an der
Zollbank erprobt, und werde mich für alle erinnern. Wenn du dann willst, kann
ich es dir wiederholen. Ich habe in Kapharnaum nie etwas aufgeschrieben, und
doch...»
«Oh, du hast dich niemals auch
nur um eine Zehnteldrachme geirrt! Ich erinnere mich gut. Ich will dir deine
Vergangenheit verzeihen, von ganzem Herzen, wenn du diese Erzählung nicht
vergißt... und sie mir oft wiederholst. Ich will, daß sie sich in mein Herz
eingräbt, wie in ihres... wie bei Jonas... Oh, im Sterben noch seinen Namen
nennen!»
Jesus betrachtet Petrus und
lächelt. Dann steht er auf und drückt einen Kuß auf das angegraute Haar.
«Warum diesen Kuß, Meister?»
«Weil du zum Propheten geworden
bist. Du wirst mit meinem Namen auf deinen Lippen sterben. Ich habe den Geist
geküßt, der aus dir gesprochen hat.»
Dann stimmt Jesus laut einen
Psalm an, und alle erheben sich und stimmen mit ein: «Erhebt euch und lobt den
Herrn, euren Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Gepriesen sei sein heiliger Name,
erhaben über allen Lobpreis. Du allein bist der Herr. Du hast den Himmel und
die Himmel der Himmel erschaffen und alle seine Heerscharen, die Erde und
alles, was auf ihr ist, usw.» (Es ist der Hymnus, der von den Leviten am Feste
der Weihe des Volkes gesungen wird. Kap. IX im 11. Buch Esdra.) Alles endet
mit diesem langen Gesang, und ich weiß nicht, ob dies der antike Ritus ist
oder ob Jesus ihn von sich aus angestimmt hat.
10.4.1945. Ich öffne die Bibel
nach einer Ruhe von drei Tagen. Ich öffne sie auf irgendeiner Seite, nur um
etwas zu lesen, das ein von Gott gekommenes Wort ist. Beim Öffnen fällt mein
Blick auf den 17. Psalm mit den Versen 25-31. Und der Herr spricht:
«Ist es vielleicht nicht das, was
du von mir sagen kannst? Einst liebte ich dich mit meiner vollendeten Liebe,
aber du liebtest mich nicht mit deiner vollendeten Liebe; denn, wenn auch der
Gedanke an mich in deinem Herzen war, so hattest du doch noch andere
menschliche Zuneigungen, die stärker waren als deine Liebe für mich, da warst
du meiner Belohnung nicht würdig. Erinnerst du dich noch an jene Zeit? Auch
ich erinnere mich noch daran. Du kamst aus deinem Mädchenpensionat, noch
duftend von Gott, wie eine Tempeljungfrau nach gottesdienstlichem Weihrauch
duftet. Und ich hatte dich schon erwählt. Wann habe
113
ich dich erwählt? Willst du es
wissen? Wahrlich, als deine Seele erschaffen wurde; denn keine menschliche
Bestimmung ist dem Ewigen Gedanken unbekannt. Aber meine kleine Maria,
ungeachtet der unglücklichen Umstände, in denen sie geboren wurde und die sie
umgaben, war als Säugling durch meinen Willen am Leben erhalten worden; sie
gehörte mir, als sie ihre ersten Tränen beim Anblick der Abnahme Christi vom
Kreuz vergossen hat. Du hast mich verlangt, und ich habe mich dir mit
wohlgefälligem Lächeln geschenkt. Er hat für dich im Himmel zum Vater und zum
Heiligen Geist gesagt: "Laßt die Kinder zu mir kommen!"
Nur die Kinderlippen können die
Schmerzen seiner Wunden lindern. Kinder dem Alter und Kinder dem Willen nach.
Kinder, die aus Liebe und Gehorsam zum Meister Kindern gleich werden, um des
Himmelreiches willen. Die Wonne Gottes, Maria, die jungfräuliche Mutter, ist
die vollkommene Kleine, die im Himmelreich jubiliert.
Die Seelen Erwachsener, die
"Kinder" blieben, sind so selten wie ganz vollkommen runde Perlen von
besonderer Größe. Doch die Kinder im Alter sind alle Besitzer von Seelen, die,
noch nicht entheiligt, die Freude Gottes und der Trost Christi sind. Von da an
verlangte der Sohn nach dir. Jede unschuldige Träne war ein Kuß von ihm wert;
jeder Kuß eine Gnade, jede Gnade eine Vereinigung mit der göttlichen Liebe. Es
ist kein Fehler, zurückzuschauen um das Magnificat und Miserere anzustimmen.
Bis zum Verlassen deines Erziehungsinstitutes konntest du dein Magnificat
singen. Du gehörtest ganz Gott. Nur ein Altar war in dir! Nur eine einzige
Liebe! Die Lilie mit halbgeöffnetem Kelch war nur von himmlischem Tau und
göttlichen Strahlen erfüllt. Dann kam die Welt, und mit ihr viele andere
Altäre und viele andere Lieben, die unrechtmäßigen Eroberer meines Platzes.
Doch sie blieben nur, solange ich wollte.
Ich hätte auch nicht wollen
können, und manch einer wird dazu sagen: "Es war ein gefährliches Experiment."
Nein! Es war notwendig. Die Apostel wurden gedemütigt durch ihr Versagen
Christus gegenüber, als jede Art verdorbenen Menschentums in ihnen Oberhand
gewann; sie wurden von neuem durch alles erschüttert, was Menschen verwirrt.
Da verstanden sie, daß ihre ganze Bekehrung nicht nur ihr Verdienst war,
sondern nur ihrem Verkehr mit Jesus zu verdanken war. Aber der Hochmut, die
Verdorbenheit des Menschen, wurde in ihnen vernichtet. Das ist notwendig bei
allen, die zu einer besonderen Aufgabe auserwählt sind, damit sie nicht meine
Auserwählung einbüßen, weil sie meiner Liebe unwürdig sind. Ein Rivale nach
dem anderen um meinen Platz mußte aus deinem Herzen weichen. Dein Gott wurde
wieder dein König, dem du das "Miserere" deiner weisen Reue sangest. Jetzt,
Tochter, schau auf die Vergangenheit und in die Gegenwart. Schau auf die Zeit
deiner Begeisterung für den Menschen, die Wissenschaft und dich selbst, und
dann blicke auf die gegenwärtige, wiederum einzige Liebe zu mir! Und sage...
laß aber nur die wahre und kostbare Stimme deiner Seele reden: Besitzest du
jetzt nicht alles? Seit du mein bist, hast du da nicht alles? Viele Törichte
werden sagen: "Sie hat nichts, weder Gesundheit, noch Freude, noch
Wohlbefinden." Aber deine Seele, die mit den Augen der Seele sieht, spricht:
"Ich habe alles, selbst einen heiligen Überfluß, wenn man Überfluß nennen
kann, was über das zum Heile Notwendige hinausgeht." Du hast deine besondere
Sendung als Sprachrohr. Und außerdem, was Gabe und nicht notwendig ist, hast
du noch die Zustimmung Gottes zur Erfüllung deiner Wünsche, gemäß dem Worte
des Psalmisten: "Der Herr hat mir vergolten nach meiner Gerechtigkeit, nach
der Reinheit meiner Hände vor deinen Augen" (Ps 17,21-25).
Ich bin unendlich, göttlich
freigebig gegenüber den Gerechten und denen, die reinen Herzens sind. Gut mit
den Schwachen und überaus gut mit den Starken aus Liebe zu mir. Und da ich die
Liebe bin, muß ich mir selbst Gewalt antun, um nicht schwach zu werden mit den
Fehlenden. Diesen gewähre ich die Barmherzigkeit meines Sohnes. Meinen Kindern
gewähre ich die Fülle meiner Gaben. Ich rette sie, erleuchte sie, befreie sie
und stärke sie mehr und mehr. Ich führe sie an meiner Hand auf meinem Weg der
Reinheit und belehre sie durch mein im Feuer der göttlichen Liebe gebildetes
Wort. So verfahre ich mit dir, meine Seele, die du mir deine Liebe geschenkt
und dein ganzes Vertrauen auf mich gesetzt hast. Fürchte darum nichts, du
Blüte Gottes. Es gibt keine Blume, angefangen bei den mikroskopisch kleinen
114
der eisigen Berge bis zu den
riesenhaften der Tropenländer, der ich nicht das für ihr edles Leben
Notwendige an Tau, Licht und Wärme zukommen ließe. Doch das sind nur Pflanzen!
Die Blumen meiner Seelen, was für eine Pflege erhalten sie von ihrem Schöpfer?
Hab keine Angst, du Blume Gottes, besprengt mit dem Blute und den Tränen des
Sohnes und der Jungfrau. Mit diesen Perlen und deiner Treue geschmückt, bist
du mir sehr teuer. Singe jederzeit das Magnificat! Der Vater, der Sohn und der
Tröster sind mit dir!»
Oh, Herr! Herr! Du sagst es, und
es muß wahr sein. Es wird alles notwendig gewesen sein. Aber was war nur im
vergangenen Jahre meine große Verlassenheit? Du weißt es! Du übersiehst die
Gefühle der Herzen nicht. Es gibt Wunden, die auch nach der Vernarbung bei der
geringsten Berührung schmerzen. Selbst das Mitgefühl anderer verursacht
oftmals Schmerzen, insbesondere dann, wenn man versucht, die Wunden zu
berühren. Die abgetrennten Nerven schmerzen noch, nachdem die Wunde vernarbt
ist. Deine Abkehr, auch wenn du mich wieder an dein Herz genommen hast, ist
eine immer wieder schmerzende Wunde, denn sie hat die Bande der Liebe
getroffen, die mich mit dir verbanden. Ich frage dich nicht, warum du es getan
hast. Ich sage dir nur: du weißt, was das Verlassensein von dir für mich
bedeutete. Heute habe ich gezittert beim Schreiben: 10. April. Denn seit dem
10. April des letzten Jahres ließest du deine arme Blume ohne Tau, ohne Licht
und ohne Wärme. Ich wäre daran beinahe gestorben. Denn ich habe dir alles
gegeben, und wenn ich noch mehr hätte, würde ich noch mehr geben. Aber schicke
mir nie mehr eine solche Prüfung. Du siehst, daß meine Armseligkeit dies nicht
ertragen kann. Ich singe, ja. Ich singe mein Magnificat! Ich sage dir auch:
ich habe es nicht verdient, daß du in mir große Dinge tust. Doch ist mein
Gesang immer mit Tränen vermischt; denn wie ein Kind, das in seinen jungen
Jahren traurige Zeiten durchgemacht hat, nicht mehr das frohe Lachen der
glücklichen Kindheit besitzt, so habe ich immer die Verlassenheit von dir im
vergangenen Jahr vor Augen. Jesus hat recht. Maria hat recht. Was wir in
"unseren Leiden" schwer ertragen, ist das Verlassensein von dir, mein Vater...
Während ich dies schreibe,
entzündet sich wieder das kleine Licht, das fortwährend vor Jesus brennt: das
Sternlein, das zusammen mit meinem Herzen vor meinem gekreuzigten Jesus
leuchtet. Seit einem Jahr war es erloschen... Meine Zelle... mein
Tabernakel... mein Paradies ohne Licht! Ich litt sehr darunter. Alles habe ich
von deiner Liebe bekommen, viel von deiner Strenge. Finsternis, Einsamkeit und
was dein Sohn als "Hölle" bezeichnet hat. Ich war wie ein Vöglein, das nur
durch reines Glück seinen Peinigern entrinnen konnte. Ich habe Angst...
Überall sehe ich Schlingen, Gitter und Qualen... Herr, erbarme dich...
Unter verschiedenen Daten folgen:
ein Diktat über die Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes, mit Bezug auf die
Schreiberin: «... wenn du die vielen scheinbaren Gegensätze deines Daseins
betrachtest und das, was du hast, dann sage stets: "Jene Begebenheit, die im
scheinbaren Gegensatz zur nächsten und meiner heutigen Lage steht, hat dieser
den Weg vorbereitet, und ist das Ergebnis meiner früheren Zustimmung." Nimm es
an, wie wenn es für dich keinen Stillstand mehr gegeben hätte, seitdem du dir
aus dem Gebet Jesu "dein Wille geschehe" eine fruchtbare Regel gemacht hast.
Du bist vorangeschritten, und eilends hast du dich fliegend in die Höhe
erhoben. Je mehr du froh und bereitwillig Gottes Absichten gehorchtest, desto
gefestigter wurden dein Wille, deine Erkenntnis und dein Besserwerden.»Ein
anderes Diktat zum Zitat: «In der innigen Gemeinschaft mit der Weisheit liegt
die Unsterblichkeit» (Weish 8,17) und eine Erklärung zu einem Abschnitt der
Bibel (Ez 37,1-14) seitens der Schreiberin: «Ich verstehe weshalb Jesus mich
nicht fragt, ob die Toten am Jüngsten Tag auferstehen werden. Der Glaube lehrt
uns dies und hierüber besteht kein Zweifel. Er jedoch nennt diese arme
Menschheit von heute "Knochen", weil sie so sehr erdgebunden ist und ihr der
Geist fehlt. Ich verstehe es, denn sobald Gott mich dazu auffordert, sein
Sprachrohr zu sein, vermehrt und erhebt sich mein Intellekt zu einer Leistung,
welche die dem Menschengeschlecht zugestandene bei weitem übersteigt. Dann
sehe ich und verstehe ich dem Geist gemäß.» Das Diktat endet mit den Worten:
«Die Zeit wird kommen, da ich
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wiederum ein Volk von Lebenden
und nicht von Leichen haben werde. Vorläufig gebe ich den Besseren, jenen die
nicht gestorben, jedoch aus Mangel an geistiger Nahrung zu Skeletten abgezehrt
sind, die Nahrung meines Wortes. Ihr sollt nicht vor Entkräftung sterben. Mein
Wort ist das süße Manna, welches euch auf wunderbare Weise Kraft verleiht.
Nährt euch damit, Kinder meiner Liebe und meines Opfers! Warum muß ich sehen,
daß so viele Hunger leiden, da für sie vom Retter soviel Nahrung bereitet
worden ist, und daß jene Hungrigen sich nicht davon nähren? Nährt euch, steht
auf, kommt aus den Gräbern hervor. Kommt aus der Trägheit heraus, aus den
Lastern der Welt, kommt doch zum Bewußtsein, kommt, um den Herrn, eueren Gott,
von neuem zu erkennen. Ich habe es euch am Anfang dieses Werkes und während
dieses tragischen Krieges gesagt und wiederhole euch: dieser ist einer jener
Kriege, welche die Zeit des Antichrist einleiten. Danach wird das Zeitalter
des lebendigen Geistes kommen. Selig, die sich vorbereiten werden, um jener
Ära entgegenzugehen. Sagt nicht: "Wir werden jene Zeit doch nicht erleben."
Ihr nicht, nicht alle von euch. Aber es ist Torheit und Lieblosigkeit, nur an
sich selbst zu denken. Aus gottlosen Vätern gehen gottlose Kinder hervor,
träge Väter haben träge Kinder. Eure Kinder und Kindeskinder sind es, welche
dieser geistigen Kraft für jene Stunden sehr bedürfen. Im Grunde genommen ist
es ein Gebot der Menschenliebe, für das Wohl der Kinder und Enkelkinder
vorzusorgen. Dieser Vorsorge soll in religiösen Dingen nicht weniger Beachtung
geschenkt werden als in weltlichen Angelegenheiten. Wie ihr euren Kindern ein
Vermögen hinterlaßt, oder darum bemüht seid es zu tun, damit sie es einmal
leichter haben als ihr, so sollt ihr euch auch dafür einsetzen, ihnen eine
Erbschaft geistiger Kraft zu hinterlassen, die sie entwickeln und vermehren
können, um dann in Überfülle davon zu haben, wenn der Hagel der letzten
Schlachten der Welt und Luzifers mit einer solchen Wucht über die Menschheit
kommen wird, daß sie sich fragen werden muß, ob nicht die Hölle noch besser
wäre. Die Hölle! Die Welt wird sie erleben! Alsdann wird für die Treuen im
Geiste der Himmel kommen, die überirdische Erde: das Himmelreich.»
176. RÜCKKEHR ZUM "TRÜGERISCHEN
GEWÄSSER"
Jesus überquert mit seinen
Jüngern die flachen Felder beim "Trügerischen Gewässer" * Der Tag ist
regnerisch, der Ort menschenleer. Es muß gegen Mittag sein, denn der schwache
Schein der Sonne, der von Zeit zu Zeit den grauen Wolkenschleier durchbricht,
fällt senkrecht zur Erde. Jesus spricht mit Iskariot, dem er den Auftrag gibt,
für die nötigsten Besorgungen ins Dorf zu gehen. Wie er allein ist, eilt
Andreas auf ihn zu, der wie immer schüchtern und leise fragt: «Willst du mich
anhören, Meister?»
«Ja! Komm mit mir, wir wollen
vorausgehen», und Jesus beschleunigt den Schritt, vom Apostel gefolgt, um sich
einige Meter von den anderen zu entfernen.
«Die Frau ist nicht mehr da,
Meister», sagt Andreas traurig und erklärt: «Man hat sie geschlagen, und sie
ist geflohen. Sie wurde verwundet und blutete. Der Verwalter hat sie gesehen.
Ich bin vorausgegangen und habe gesagt, daß ich nachsehen wolle, ob der Weg in
Ordnung sei, doch es war nur, weil ich sofort zu ihr gehen wollte. Ich habe so
gehofft, sie zum
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Licht führen zu können! Ich habe
in diesen Tagen viel darum gebetet! Nun ist sie geflohen. Sie wird verloren
gehen. Wenn ich wüßte, wo sie ist, würde ich sie einholen. Ich würde es aber
den anderen nicht sagen, nur dir, weil du mich verstehst. Du weißt, daß ich
bei dieser Suche keine hintergründigen Gedanken hege, sondern nur vom großen
Wunsch erfüllt bin, der zur Qual wird, einer Schwester zur Rettung verhelfen
zu können.»
«Ich weiß es, Andreas, und ich
sage dir: auch so, wie die Dinge nun liegen, wird dein Wunsch dennoch erfüllt
werden. Ein Gebet in diesem Sinn ist nie verloren. Gott erhört es, und sie
wird gerettet werden.»
«Du sagst es? Oh, mein Schmerz
ist gelindert!»
«Wolltest du nicht wissen, wie es
um sie steht? Macht es dir nichts aus, daß nicht du es bist, der sie mir
zuführt ? Fragst du nicht, wie es geschehen wird?» Jesus lächelt sanft, und in
seinen blauen Augen leuchtet es auf, während er sich zu seinem Apostel neigt,
der an seiner Seite geht. Jener Blick und das Lächeln gehören zu den
Geheimnissen Jesu, mit denen er die Herzen gewinnt.
Andreas betrachtet Jesus mit
seinen sanften, braunen Augen und sagt: «Es genügt mir zu wissen, daß sie zu
dir kommt. Ich oder ein anderer, was macht das schon aus? Wie es geschehen
wird? Du weißt es, und ich brauche es nicht zu wissen. Deine Zusicherung
genügt mir, und ich bin glücklich!»
Jesus legt Andreas einen Arm um
die Schultern und zieht ihn in einer liebevollen Umarmung an sich, was den
guten Andreas völlig verzückt. In dieser Verfassung hört er Jesus sagen: «Das
ist die Begabung des wahren Apostels. Schau, mein Freund, in deinem Leben und
in jenem der zukünftigen Apostel wird es immer so sein. Manchmal werdet ihr
erfahren, daß ihr die "Retter" gewesen seid. Doch in den meisten Fällen werdet
ihr retten ohne zu wissen, daß die Menschen, welche euch am meisten am Herzen
lagen, durch euch gerettet worden sind. Erst im Himmel werdet ihr sie euch
entgegenkommen oder zum Ewigen Reich aufsteigen sehen: eure Geretteten, und
eure Freude wird sich mit jedem Erlösten steigern. Manchmal werdet ihr es
schon auf Erden vernehmen. Das sind die Freuden, die ich euch schenke, um euch
einen noch größeren Eifer für neue Eroberungen einzuflößen. Doch selig der
Priester, der einen Ansporn nicht nötig hat, um seine Pflicht zu erfüllen!
Selig jener, der nicht entmutigt wird, wenn er keinen Erfolg sieht, und nicht
sagt: "Ich tue nichts mehr, denn ich habe keine Genugtuung." Die apostolische
Genugtuung, als einziger Ansporn zur Arbeit, beweist ungenügende apostolische
Bildung und ist eine Herabwürdigung des Apostelamtes auf das Niveau einer
gewöhnlichen menschlichen Tätigkeit, das doch in einem geistigen Auftrag
besteht. Man darf niemals der Vergötterung des Berufes verfallen, indem das
Priestertum als Ziel einer Verehrung euer selbst betrachtet wird. Nicht ihr
sollt angebetet werden, sondern der Herr, euer Gott! Ihm allein gebührt die
117
Ehre der Geretteten... euch das
Werk der Rettung, indem ihr auf den Einzug in den Himmel wartet, um als
"Retter" gelobt zu werden. Doch du sagtest mir, daß der Verwalter sie gesehen
hat. Erzähle.»
«Drei Tage nach unserer Abreise
von hier kamen Pharisäer, um dich zu suchen. Sie fanden uns natürlich nicht.
Sie haben das ganze Dorf und die Häuser in den Feldern nach dir durchsucht und
haben sich dabei so benommen, als sehnten sie sich danach, dich zu sehen. Doch
niemand hat ihnen geglaubt. Sie sind in die Herbergen gegangen und haben
hochmütig von allen Anwesenden verlangt, daß sie diese unverzüglich verlassen,
denn sie wollten keine Kontakte mit unbekannten Fremden haben, welche sie
vielleicht noch entweihen könnten. Jeden Tag gingen sie zum Haus. Nach einigen
Tagen haben sie die Ärmste getroffen, die immer zum Haus ging und hoffte, dich
dort zu finden und den Frieden zu empfangen. Sie haben sie verjagt und sind
ihr bis zu ihrem Unterschlupf im Stalle des Verwalters nachgegangen. Sie haben
sie nicht sofort angegriffen, denn der Verwalter ist mit seinen Söhnen
herausgekommen, mit Knüppeln bewaffnet. Doch am Abend, als sie zum Brunnen
ging, sind sie mit anderen zurückgekehrt und haben Steine nach ihr geworfen
und gerufen: "Dirne! Dirne!" und sie als Schande des Dorfes bezeichnet. Als
sie flüchten wollte, haben sie sie eingeholt, mißhandelt, ihr den Schleier und
die Gewänder vom Leib gerissen, so daß sie von allen gesehen werden konnte.
Sie haben sie geschlagen, sich ihrer bemächtigt und sie dem Synagogenvorsteher
ausgeliefert, damit er sie verfluche und steinigen ließe, und damit er auch
dich verfluche, weil du sie hierher gebracht hast. Doch er hat es nicht tun
wollen und muß nun den Bannfluch des Hohen Rates gewärtigen. Der Verwalter ist
ihr zu Hilfe geeilt und hat sie den Händen dieser Wüstlinge entrissen. Doch in
der Nacht ist sie weggegangen und hat ein Armband dagelassen mit einigen
Worten auf einem Pergamentstreifen. Sie hat darauf geschrieben: "Danke! Bete
für mich." Der Verwalter sagt, sie sei noch jung und sehr schön, doch sehr
blaß und abgemagert. Er hat sie auf den Feldern gesucht, denn sie war schwer
verwundet. Doch er hat sie nicht gefunden, und er kann nicht verstehen, wie
sie sich in ihrem Zustand weit entfernen konnte. Vielleicht ist sie tot und
liegt irgendwo... und konnte sich nicht retten...»
«Nein.»
«Nein? Ist sie nicht gestorben?
Hat sie sich nicht verirrt?»
«Das Verlangen nach Erlösung ist
schon Sündenvergebung. Auch wenn sie gestorben wäre, so wäre ihr verziehen,
denn sie hat die Wahrheit gesucht und ihre Verfehlungen mit Füßen getreten.
Doch sie ist nicht tot. Sie steigt die ersten Stufen des Berges der Erlösung
empor. Ich sehe sie... Sie ist gebeugt unter den Tränen ihrer Reue. Doch das
Weinen macht sie immer stärker, während die Last sich verringert. Ich sehe
sie. Sie geht der Sonne entgegen. Wenn sie den Gipfel erreicht hat, dann wird
sie in der Herrlichkeit der Sonne Gottes stehen. Hilf ihr mit deinem Gebet!»
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«Oh, mein Herr!» Andreas ist
außer sich beim Gedanken, daß er einer Seele zur Heiligung verhelfen kann.
Jesus lächelt noch gütiger. Er
sagt: «Wir müssen dem verfolgten Synagogenvorsteher die Arme und das Herz
öffnen und zum guten Verwalter hingehen, um ihm zu danken und ihn zu segnen.
Wir wollen es den anderen mitteilen.»
Doch während sie auf die Zehn
zugehen, die stehengeblieben waren, weil sie begriffen hatten, daß Andreas
eine persönliche Aussprache mit Jesus hatte, kommt Iskariot angerannt. Er
gleicht einem großen Schmetterling, der über die Wiesen flattert, so rasch
eilt er im wehenden Mantel und mit fuchtelnden Armen herbei.
«Aber was hat er denn?» fragt
Petrus. «Ist er verrückt geworden?»
Bevor ihm jemand antworten kann,
schreit Iskariot, der nun nähergekommen ist: «Bleib stehen, Meister! Höre mich
an, bevor du ins Haus hineingehst. Sie haben dir einen Hinterhalt gelegt. Oh,
diese gemeine Bande!», und er kommt heran und sagt: «Oh, Meister, wir können
nicht mehr hingehen. Die Pharisäer sind im Dorf und gehen täglich zum Haus.
Sie warten auf dich, um dich zu belästigen. Sie schicken alle weg, die kommen
und dich suchen. Mit fürchterlichen Bannsprüchen schüchtern sie alle ein. Was
willst du tun? Hier würdest du verfolgt und dein Werk würde vernichtet werden.
Einer von ihnen hat mich gesehen und mich angegriffen. Ein häßlicher,
langnasiger Alter, der mich kennt, denn er ist einer der Schriftgelehrten des
Tempels. Ja, es sind auch Schriftgelehrte dort. Er hat mich angefallen, mich
mit seinen Krallenpfoten gepackt und mit seiner Geierstimme beschimpft.
Solange er mich gekratzt und beschimpft hat, schau (und er zeigt am Handgelenk
und an der Wange deutliche Nagelspuren), habe ich es ausgehalten, aber als er
über dich mit seinem Geschimpfe hergefallen ist, da habe ich ihn am Kragen
gepackt...»
«Aber Judas!» ruft Jesus.
«Nein, Meister, ich habe ihn
nicht erwürgt. Ich habe nur verhindert, daß er über dich fluchte. Dann habe
ich ihn losgelassen. Nun ist er dort und stirbt vor Angst wegen der
überstandenen Gefahr... Doch laß uns fortgehen, ich bitte dich! Es kann
ohnehin niemand mehr zu dir kommen...»
«Meister!»
«Das ist ja ein Greuel!»
«Judas hat recht!»
«Wie Hyänen auf der Lauer sind
sie.»
«Feuer vom Himmel, das über
Sodoma kam, warum kommst du nicht wieder?»
«Aber weißt du, du warst tapfer,
Junge! Schade, daß ich nicht dabei war, ich hätte dir geholfen.»
«Oh, Petrus, wenn du dabei
gewesen wärest, hätte dieser kleine Geier seine Federn und seine Stimme ein
für allemal eingebüßt.»
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«Aber wie hast du es
fertiggebracht, nicht bis zum Äußersten zu gehen ?»
«Bah... ein Geistesblitz. Ein
Gedanke aus weiß Gott welchen Tiefen des Herzens: "Der Meister verurteilt die
Gewalt", und ich habe mich beherrscht, obwohl es für mich ein noch härterer
Schlag war als der des Schriftgelehrten, der mich gegen die Wand geworfen hat,
als er mich angriff. Meine Nerven waren wie zerrissen, so daß ich nachher
keine Kraft mehr gehabt hätte, auf ihn einzuschlagen. Welch eine Anstrengung,
sich zu beherrschen!»
«Du bist wirklich tapfer gewesen!
Nicht wahr, Meister? Doch du sagst nicht, was du denkst.»
Petrus ist über die Tat des Judas
so glücklich, daß es ihm entgeht zu bemerken, daß das Antlitz Jesu von einem
leuchtenden Ausdruck zu einer Traurigkeit gewechselt hat, die seinen Blick
verdunkelt, seinen Mund verschließt und ihn schmäler erscheinen läßt.
Er öffnet ihn und spricht: «Ich
sage, daß ich mehr angewidert bin von eurer Art zu denken als vom Benehmen der
Judäer. Sie sind die Unglücklichen in der Finsternis. Ihr, die ihr mit dem
Lichte seid, seid hart, rachsüchtig, gewalttätig, murrt über andere und
billigt die Brutalität wie sie. Ich sage euch, ihr bestätigt mir nur immer
wieder, daß ihr dieselben geblieben seid, die ihr immer wart, als ihr mich zum
erstenmal saht. Das tut mir weh! Was die Pharisäer betrifft sollt ihr wissen,
daß Jesus Christus vor ihnen nicht flieht. Ihr zieht euch zurück, ich trete
ihnen entgegen. Ich bin kein Feigling. Wenn ich mit ihnen gesprochen habe und
sie nicht habe überzeugen können, dann werde ich mich zurückziehen. Man soll
von mir nicht sagen, daß ich nicht mit allen Mitteln versucht hätte, sie an
mich zu ziehen. Auch sie sind Kinder Abrahams. Ich tue meine Pflicht bis zum
Äußersten. Ihre Verdammnis soll einzig und allein ihrem bösen Willen
zugeschrieben werden und soll nicht durch irgendwelche Vernachlässigung
meinerseits ihnen gegenüber verursacht worden sein.» Jesus geht zum Hause, das
schon mit seinem niedrigen Dach hinter einer Reihe entlaubter Bäume zu sehen
ist.
Die Apostel folgen ihm mit
gesenktem Haupt und reden leise miteinander. Da ist das Haus. Sie betreten
schweigend die Küche und machen sich am Herd zu schaffen. Jesus versinkt in
Gedanken.
Sie sind gerade dabei, die
Mahlzeit einzunehmen, als eine Gruppe von Menschen an der Tür erscheint. «Sie
sind da», flüstert Iskariot.
Jesus erhebt sich sofort und geht
ihnen entgegen. Er ist so imponierend, daß die Gruppe einen Augenblick
zurückweicht. Doch der Gruß Jesu versichert ihnen: «Der Friede sei mit euch!
Was wollt ihr?»
Nun glauben die Feiglinge alles
wagen zu können, und sie schmeicheln arrogant: «Im Namen des heiligen Gesetzes
befehlen wir dir, diesen Ort zu verlassen. Du, der Aufwiegler der Gewissen,
Übertreter des Gesetzes,
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der Aufrührer der ruhigen Städte
von Judäa, fürchtest du nicht die Strafe des Himmels, du Nachäffer des
Gerechten, der am Jordan tauft! Du, der du die Dirnen unter deinen Schutz
nimmst, verlasse das Land Judäas! Damit dein Atem nicht von hier durch die
Mauern in die heilige Stadt eindringe!»
«Ich tue nichts Böses. Ich
belehre als Rabbi, heile als Wundertäter, treibe Dämonen aus als Exorzist: sie
alle gibt es in Judäa. Gott, der ihre Tätigkeit erlaubt, will, daß auch ihr
sie achtet und verehrt. Ich verlange keine Verehrung. Ich verlange nur, mich
Gutes tun zu lassen jenen, die körperlich, geistig und seelisch krank sind.
Warum verbietet ihr es mir?»
«Du bist ein Besessener! Geh
fort!»
«Die Beleidigung ist keine
Antwort. Ich habe euch gefragt, warum ihr mir verbietet, was ihr anderen
erlaubt.»
«Weil du ein Besessener bist und
mit Hilfe von Dämonen die Dämonen austreibst und Wunder wirkst.»
«Und eure Exorzisten ? Mit wessen
Hilfe tun sie es ?»
«Mit ihrem heiligen Leben. Du
aber bist ein Sünder, und um deine Macht zu steigern bedienst du dich der
Sünderinnen, denn in der Buhlschaft vermehrt sich der Besitz der dämonischen
Kraft. Unsere Heiligkeit hat das Gebiet von deinen Mitschuldigen gesäubert.
Aber wir erlauben nicht, daß du hierbleibst, damit nicht noch andere Weiber
herbeigelockt werden.»
«Aber ist dies eigentlich euer
Haus ?» fragt Petrus, der sich hinter Jesus gestellt und ein nicht sehr
vertrauenerweckendes Aussehen hat.
«Es ist nicht unser Haus, aber
ganz Judäa und ganz Israel ist in den heiligen Händen der Reinen Israels.»
«Das wäret also ihr?» fragt
Iskariot, der auch zur Türe gekommen ist und ein höhnisches Gelächter folgen
läßt. Dann fragt er: «Euer anderer Freund, wo ist er? Zittert er noch? Oh,
schämt euch, geht, und zwar sofort! Sonst werdet ihr es bereuen müssen...»
«Ruhe, Judas! Du, Petrus, geh an
deinen Platz! Hört, ihr Pharisäer und Schriftgelehrten. Zu eurem Heil und aus
Mitleid mit euren Seelen bitte ich euch, das Wort Gottes nicht zu bekämpfen.
Kommt zu mir. Ich hasse euch nicht. Ich verstehe eure Sinnesart und habe
Mitleid mit euch. Ich will euch aber zu einer anderen geistigen Haltung
führen, zu einer neuen, einer heiligen, die fähig ist, euch zu heiligen und
euch zum Himmel zu führen. Glaubt ihr, ich wäre gekommen, um euch zu
bekämpfen? O nein! Ich bin gekommen, um euch zu retten. Deswegen bin ich
gekommen. Ich rufe eure Großmut an. Ich bitte euch um Liebe und Verständnis.
Gerade weil ihr die Weisesten in Israel seid, müßt ihr die Wahrheit besser als
alle anderen verstehen. Seid Seele und nicht Leib! Wollt ihr, daß ich euch auf
den Knien bitte? Es geht um eure Seele und darum, sie für den Himmel zu
gewinnen. Dafür würde ich mich mit Füßen treten lassen, und ich bin
121
sicher, daß der Vater meine
Verdemütigung nicht als Irrtum betrachten würde. Sprecht! Sagt mir ein Wort,
ich warte darauf.»
«Sei verflucht, sagen wir!»
«Gut. Es ist gesagt! Geht nur!
Auch ich werde gehen.» Jesus kehrt ihnen den Rücken zu und geht an seinen
Platz zurück. Er neigt sein Haupt über den Tisch und weint. Bartholomäus
schließt die Tür, damit keiner der Grausamen, die ihn beleidigt haben und sich
nun fluchend und drohend auf den Weg machen, diese Tränen sehe.
Es folgt ein langes Schweigen.
Dann streichelt Jakobus des Alphäus das Haupt Jesu und sagt: «Nicht weinen!
Wir lieben dich! Auch für sie!»
Jesus erhebt sein Antlitz und
sagt: «Ich weine nicht meinetwegen. Ich weine ihretwegen. Sie töten sich
selbst, weil sie jeder Einladung gegenüber taub sind.»
«Was machen wir nun, Meister?»
fragt der andere Jakobus.
«Wir werden nach Galiläa gehen...
Morgen früh brechen wir auf.»
«Nicht heute schon, Herr?»
«Nein! Ich muß mich von den guten
Menschen im Ort verabschieden, und ihr werdet mit mir kommen.»
177. EIN NEUER JÜNGER; AUFBRUCH
NACH GALILÄA
«Herr, ich habe nur meine Pflicht
Gott, meinem Herrn und der Ehrlichkeit des Gewissens gegenüber getan. Ich habe
jene Frau während der Zeit, da sie mein Gast war, beobachtet und sie stets
ehrbar befunden. Sie mag einmal eine Sünderin gewesen sein. Nun ist sie es
bestimmt nicht mehr. Warum soll ich in eine Vergangenheit eindringen, die sie
selbst mit einem Gitter verschlossen hat, um sie auszulöschen? Ich habe
halbwüchsige Jungen, und sie sind nicht häßlich. Sie aber hat nie ihr wirklich
schönes Antlitz gezeigt oder ihre Stimme hören lassen. Ich muß sagen, daß ich
den silbernen Klang ihrer Stimme nur vernommen habe, als sie wegen ihrer
Verletzung aufschrie. Sonst hat sie das wenige, um das sie bat, nur hinter
ihrem Schleier mir oder meiner Frau zugeflüstert und zwar so leise, daß man es
kaum verstehen konnte. Siehst du, wie klug sie war? Als sie fürchtete, daß
ihre Anwesenheit schaden könnte, ging sie weg. Ich hatte ihr Hilfe und
Verteidigung versprochen, aber sie machte keinen Gebrauch davon. Nein, so
machen es verkommene Frauen nicht. Ich werde für sie beten, wie sie es
gewünscht hat, und auch ohne dieses Andenken. Nimm es, Herr! Mach Almosen
daraus, zu ihrem Heil! Von dir getan, wird es ihr gewiß Frieden bringen.»
Der Verwalter spricht ehrerbietig
zu Jesus. Er ist ein schöner Mann mit einem aufrichtigen Gesicht und von
untersetzter Gestalt. Hinter ihm
122
stehen die Kinder, die dem Vater
gleichen, sechs treuherzige und intelligente Gesichter, und die Mutter, eine
schlanke, sehr sanfte Frau, ganz Güte, die ihrem Manne lauscht, als wenn sie
einem Gott zuhören würde, und dabei immer zustimmend mit dem Kopf nickt.
Jesus nimmt das goldene Armband,
gibt es Petrus und sagt dabei: «Für die Armen.» Dann wendet er sich wieder an
den Verwalter: «Nicht alle in Israel haben deine Rechtschaffenheit. Du bist
weise, denn du kannst das Böse vom Guten unterscheiden und folgst dem Guten,
ohne zuvor abzuwägen, ob dir dies menschlich gesehen etwas einbringt oder
nicht. Im Namen des ewigen Vaters segne ich dich, deine Kinder, deine Gattin
und dein Haus. Bewahrt euch stets diese seelische Bereitschaft, und der Herr
wird immer mit euch sein, und ihr werdet das ewige Leben haben. Ich gehe jetzt
weg, aber es ist nicht gesagt, daß wir uns nie wiedersehen werden. Ich werde
zurückkommen, und ihr könnt immer zu mir kommen. Für alles, was ihr für mich
und jenes arme Geschöpf getan habt, möge euch Gott seinen Frieden geben.»
Der Verwalter, die Kinder und
zuletzt die Frau knien nieder und küssen die Füße Jesu, der sich nach einem
letzten Segenszeichen mit den Jüngern in Richtung des Dorfes entfernt.
«Wenn aber die Übeltäter noch
dort sind?» fragt Philippus.
«Man kann niemand daran hindern,
auf den Landstraßen der Heimat zu reden», antwortet Judas des Alphäus.
«Nein. Aber für sie sind wir
Verfemte!»
«Oh, laß sie machen. Sorgst du
dich deswegen?»
«Ich sorge mich nur deswegen,
weil der Meister gegen Gewaltakte ist. Sie wissen das und nützen es aus»,
brummt Petrus in den Bart. Er nimmt sicher an, daß Jesus, der mit Simon und
Iskariot in Gespräch ist, es nicht hört. Doch Jesus hört es und wendet sich
um, halb ernst, halb lächelnd, und sagt: «Du glaubst, daß ich unter Anwendung
von Gewalt siegen würde? Das ist eine elende, menschliche Methode. Sie bringt
vorübergehende, menschliche Siege. Aber wie lange dauert die Unterdrückung? So
lange, bis sie aus sich in den Unterdrückten Widerstand erzeugt, die vereint
eine stärkere Gewalt bilden und die vorherige Unterdrückung überwältigen. Ich
will kein vorübergehendes Reich! Ich will ein ewiges Reich: das Himmelreich!
Wie oft habe ich es euch schon gesagt? Wie oft werde ich es noch sagen müssen?
Werdet ihr es je begreifen? Doch, es wird die Zeit kommen, da ihr begreifen
werdet.»
«Wann, mein Herr? Ich habe es
eilig zu begreifen, um weniger unwissend zu sein», sagt Petrus.
«Wann? Wenn ihr wie das Korn
zwischen den Mühlsteinen des Schmerzes und der Reue gemahlen werdet. Ihr
könntet, ja, ihr solltet es vorher begreifen. Doch dazu müßtet ihr eure
Menschlichkeit abschütteln und euren Geist befreien. Diese Selbstüberwindung
vermögt ihr nicht
123
aufzubringen. Doch ihr werdet
verstehen,... ihr werdet verstehen. Dann werdet ihr auch verstehen, daß ich
keine Gewalt anwenden konnte, ein menschliches Mittel, um das Himmelreich zu
begründen: das Reich des Geistes. Doch habt jetzt keine Angst! Diese Menschen,
die euch bedenklich stimmen, werden uns nichts antun. Ihnen genügt es, daß sie
mich vertrieben haben.»
«Wäre es nicht einfacher gewesen,
den Synagogenvorsteher zum Verwalter kommen zu lassen oder ihn auf der
Hauptstraße zu erwarten?»
«Oh, welch ein vorsichtiger Mann
ist doch heute mein Thomas! Aber nein, es wäre nicht einfacher gewesen. Oder
besser, es wäre einfacher gewesen, aber nicht korrekt. Er hat meinetwegen
Heldenmut gezeigt und wurde in seinem Haus durch meine Schuld belästigt. Es
ist daher richtig, wenn ich ihn in seinem Haus besuche und dort tröste.»
Thomas zuckt mit den Schultern
und sagt nichts mehr.
Da ist nun die Ortschaft,
ausgedehnt, doch sehr ländlich, mit Häusern umgeben von Obstgärten, deren
Bäume kahl sind, und es hat viele Schafställe. Es muß ein gutes Weideland für
Schafzucht sein, denn überall hört man blöken und sieht Herden, die von den
Weiden in der Ebene kommen oder dorthin getrieben werden. Die übliche
Straßenkreuzung bildet in ihrer Erweiterung den Marktplatz mit dem Brunnen.
Hier ist auch das Haus des Synagogenvorstehers.
Es öffnet eine ältere Frau. Sie
hat Tränenspuren im Gesicht. Trotzdem huscht ein Zeichen der Freude darüber,
als sie den Herrn erblickt, und sie verneigt sich mit einem Segensgruß.
«Steh auf, Mutter. Ich bin
gekommen, um euch Lebewohl zu sagen. Wo ist dein Sohn?»
«Er ist dort», und sie deutet auf
ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses. «Bist du gekommen, um ihn zu trösten?
Mir gelingt es nicht!»
«Ist er so untröstlich ? Bedauert
er es, daß er mich verteidigt hat ?»
«Nein, Herr! Aber er ist von
Skrupeln geplagt. Doch du wirst ihn hören. Ich will ihn rufen.»
«Nein. Ich werde zu ihm gehen.
Ihr wartet hier. Laß uns gehen, Frau!»
Jesus geht die wenigen Schritte
durch die Vorhalle, öffnet die Tür und betritt das Zimmer. Er nähert sich
leise einem sitzenden, tief gebeugten Mann, der in schmerzliche Betrachtung
versunken ist.
«Der Friede sei mit dir,
Timoneus!»
«Herr! Du?!»
«Ich. Warum bist du so traurig?»
«Herr... ich... Sie haben mir
gesagt, ich hätte gesündigt. Sie haben gesagt, ich sei verfemt. Ich erforsche
mich und finde, daß es nicht so ist. Sie aber sind die Heiligen in Israel, und
ich bin der arme Synagogenvorsteher. Sicher haben sie recht. Jetzt wage ich
nicht mehr den Blick zum zornigen Antlitz Gottes zu erheben. Gerade jetzt wäre
es für mich so notwendig!
124
Ich diente ihm in wahrer Liebe
und war bestrebt, ihn zu verkünden. Nun werde ich dieses Gutes beraubt werden,
weil mich der Hohe Rat bestimmt verfluchen wird.»
«Doch, worin besteht dein
Schmerz? Darin, nicht mehr Synagogenvorsteher zu sein, oder darin, nicht mehr
die Möglichkeit zu haben, von Gott zu sprechen?»
«Das ist es, Meister, was mich
schmerzt. Bestimmt würdest du mir etwas sagen, wenn es mir mißfallen würde,
nicht mehr Synagogenvorsteher zu sein, weil mir dadurch Vorteil und Ehre
zukommen? Das macht mir wirklich nichts aus. Ich habe nur meine Mutter, und
sie stammt aus Aera, wo sie ein kleines Haus besitzt; das Dach und der
Lebensunterhalt sind ihr gesichert. Was mich betrifft... ich bin jung! Ich
werde arbeiten. Aber ich werde es nie mehr wagen, von Gott zu sprechen, weil
ich gesündigt habe.»
«Warum hast du gesündigt?»
«Sie sagen, ich sei ein
Verbündeter des... Oh, Herr! Laß es mich nicht aussprechen!»
«Nein. Ich verlange es nicht. Ich
spreche es nicht aus. Ich und du, wir kennen ihre Anklagen und wissen, daß sie
nicht wahr sind. Daher hast du nicht gesündigt, ich sage es dir!»
«So kann ich also noch den Blick
zum Allmächtigen erheben? Kann ich dir...»
«Was, mein Sohn?» Jesus ist ganz
Zärtlichkeit, während er sich über den Mann beugt, der plötzlich wie
eingeschüchtert innegehalten hat.
«Was? Mein Vater sucht deinen
Blick, er verlangt nach ihm, und ich möchte dein Herz und deine Gedanken. Ja,
der Hohe Rat wird dich beschuldigen. Ich öffne dir die Arme und sage: Komm!
Willst du einer meiner Jünger sein? Ich sehe in dir alles, was nötig ist, um
ein Arbeiter des Ewigen Herrn zu werden. Komm in meinen Weinberg...»
«Sagst du das im Ernst, Meister?
Mutter, hörst du? Mutter hörst du das? Oh, ich preise den Schmerz, der mir
diese Freude gebracht hat. Oh, laß uns nun ein großes Fest feiern, Mutter!
Nachher gehe ich mit dem Meister, und du wirst in dein Haus zurückkehren. Ich
komme sofort, Herr! Du hast alle Trauer in mir ausgelöscht, jeden Schmerz und
jede Angst vor Gott.»
«Nein. Du wirst den Entscheid des
Hohen Rates abwarten. Mit ruhigem Herzen und ohne Groll. Du bleibst an deinem
Platz, bis du entlassen wirst. Dann kommst du zu mir nach Nazareth oder
Kapharnaum. Leb wohl! Der Friede sei mit dir und mit deiner Mutter!»
«Dann hältst du dich nicht in
meinem Haus auf?»
«Nein, ich werde ins Haus deiner
Mutter kommen.»
«Es ist ein Dorf, das nicht sehr
gläubig ist.»
«Ich werde es den Glauben lehren.
Leb wohl, Mutter! Bist du nun
125
glücklich?» Jesus streichelt sie,
wie er es immer bei den alten Frauen tut, denen er meistens, wie ich
feststellen kann, den Namen "Mutter" gibt.
«Glücklich, Herr! Ich habe einen
Sohn für den Herrn großgezogen. Der Herr nimmt ihn mir als Diener für seinen
Messias. Der Herr sei dafür gepriesen! Gepriesen seist du, der du sein Messias
bist! Gepriesen sei die Stunde, in der du hierher gekommen bist. Gepriesen sei
mein Sohn, der zu deinem Dienste berufen ist.»
«Gepriesen sei die Mutter, die
heilig wie Anna des Elkana ist. Der Friede sei mit euch!»
Jesus geht, von den beiden
gefolgt, hinaus. Er erreicht die Jünger und grüßt nochmals zurück.
Nun beginnt die Rückkehr nach
Galiläa.
178. AUF DEN BERGEN BEI EMMAUS
Jesus ist mit den Seinen in einer
gebirgigen Gegend. Der Weg ist beschwerlich und steinig, und die Älteren haben
ihre Mühe. Die Jungen hingegen sind alle fröhlich um Jesus und steigen lachend
und plaudernd hinan. Die beiden Vettern, die beiden Söhne des Zebedäus und
Andreas, sind so begeistert, nach Galiläa zurückkehren zu können, daß sie auch
Iskariot anstecken, der seit einiger Zeit in bester Gemütsverfassung ist. Er
beschränkt sich darauf, zu sagen: «Meister, aber an Ostern, wenn wir zum
Tempel gehen, kommst du dann wieder nach Kerioth? Meine Mutter hofft immer
noch auf deinen Besuch. Sie hat mir es sagen lassen. Meine Mitbürger
ebenfalls!»
«Bestimmt. Jetzt, wenn ich auch
wollte, wäre die Jahreszeit zu rauh, um sich auf solch unwegsame Pfade zu
begeben. Seht, wie es auch hier mühsam ist. Ohne daß ich es müßte, hätte ich
diesen Marsch nicht unternommen... Aber man konnte nicht länger dort
bleiben...» Jesus schweigt, in Gedanken verloren.
«Doch danach, ich meine nach
Ostern, könnte man dann hingehen? Ich möchte Jakobus und Andreas deine Höhle
zeigen», sagt Johannes.
«Vergißt du die Liebe zu
Bethlehem etwa unseretwegen? mischt sich Judas Iskariot ein. «Wegen dem
Meister, meine ich.»
«Nein. Ich würde mit Jakobus und
Andreas hingehen. Jesus könnte in Jutta bleiben oder bei dir zu Hause.»
«Oh, das würde mir gefallen. Bist
du einverstanden, Meister? Sie werden nach Bethlehem gehen, und du bleibst mit
mir in Kerioth. Mit mir allein bist du noch nie dort gewesen... und ich möchte
dich so gern ganz für mich haben...»
«Bist du eifersüchtig? Weißt du
nicht, daß ich euch alle auf die gleiche
126
Weise liebe? Glaubst du nicht,
daß ich mit euch allen bin, auch wenn es scheint, daß ich weit entfernt
weile?»
«Ich weiß, daß du uns liebst.
Wenn du uns nicht liebtest, wärest du viel strenger, wenigstens mit mir. Ich
glaube, daß dein Geist immer über uns wacht. Doch wir sind nicht ganz Geist,
wir sind auch Mensch mit menschlichen Gefühlen, seinen Wünschen, seinen
Sorgen. Mein Jesus, ich weiß, daß nicht ich es bin, der dich besonders
glücklich macht. Aber ich glaube! Du weißt, wie lebhaft in mir der Wunsch ist,
dir zu gefallen, und das Bedauern für alle Stunden, in denen ich dich durch
meine Armseligkeit verliere...»
«Nein Judas, ich verliere dich
nicht. Ich bin dir näher als den anderen, gerade weil ich weiß, wie du bist.»
«Wie bin ich, mein Herr? Sage es
mir! Hilf mir zu verstehen, was ich bin. Ich verstehe mich selbst nicht. Es
scheint mir, daß ich wie eine Frau bin, die durch Schwangerschaftsgelüste hin-
und hergerissen wird. Ich habe heilige und widerliche Neigungen. Warum? Wer
bin ich?»
Jesus schaut ihn mit einem
unbeschreiblichen Blick an. Er ist traurig, doch seine Traurigkeit ist von
großem Mitleid erfüllt. Viel, viel Mitleid. Er gleicht einem Arzt, der den
Zustand eines Kranken feststellt und erkennt, daß es ein unheilbarer Kranker
ist. Aber er schweigt.
«Sag es mir, mein Meister. Dein
Urteil wird immer das mildeste von allen sein. Übrigens... wir sind unter
Brüdern. Es macht mir nichts aus, wenn sie wissen, aus welchem Holz ich bin.
Im Gegenteil, wenn sie es von dir erfahren, werden sie ihr Urteil über mich
berichtigen und mir helfen. Nicht wahr?»
Die anderen sind verlegen und
wissen nicht, was sie sagen sollen. Sie schauen den Gefährten an und
betrachten auch Jesus. Jesus begibt sich in die Nähe Iskariots, an den Platz,
wo zuvor Vetter Jakobus war, und sagt: «Du bist völlig unausgewogen. Du hast
in dir die besten Eigenschaften; doch sie sind nicht gefestigt, und der
leiseste Windhauch bringt sie aus dem Gleichgewicht.
Soeben sind wir durch die
Schlucht gekommen, und ihre Bewohner haben uns die Schäden an den armseligen
Häusern des Dorfes gezeigt, die durch Wasser, Erdreich und von den Bäumen
herrühren. Das Wasser, das Erdreich und die Bäume sind nützliche Dinge, nicht
wahr? Trotzdem sind sie hier zum Fluch geworden. Warum? Weil das Wasser des
Flusses keinen geordneten Lauf hatte; und auch wegen der Nachlässigkeit der
Menschen hat sich das Wasser willkürlich und launenhaft mehrere Flußbette
gegraben. Es war gut, solange keine Stürme kamen. Es war wie die Arbeit eines
Goldschmiedes, dieses klare Wasser, das die Hügel in kleinen Bächen umfloß,
mit Diamantsplittern oder Smaragdketten, je nachdem sie das Licht oder den
Schatten der Gebüsche widerspiegelten. Der Mensch erfreute sich daran, denn
sie waren nützlich, diese plätschernden Wasseradern in
127
den Feldern. Wie auch die
Sträucher schön waren, die durch die Spielerei des Windes als kapriziöse
Büschel bald hier, bald dort gewachsen waren und Lichtungen voller Sonne
übrigließen.
Schön war das weiche Erdreich,
angeschwemmt von wer weiß wie weit herkommenden Überschwemmungen zwischen den
welligen Hügeln, und so fruchtbar für die Pflanzenkulturen, doch die Gewitter
vor einem Monat genügten, daß die launigen Wasserläufe sich vereinigten und in
ungeordneter Weise überquollen, die hinderlichen Büsche ausrissen und ins Tal
schwemmten. Wenn die Gewässer in Ordnung gehalten worden wären, wenn man die
Bäume als geordnete Wälder wachsen gelassen hätte, und den Boden auf geordnete
Weise mit einem guten Schutz gestützt hätte, dann wären die drei guten
Elemente Wasser, Holz und Erdreich nicht zum Tod und Verderben des Ortes
geworden. Du hast Intelligenz, Wagemut, Eifer, Bildung, Bereitwilligkeit, ein
gutes Aussehen, viele, viele gute Eigenschaften hast du... Doch sie sind in
dir verwildert, und du tust nichts dagegen. Schau, du bedarfst geduldiger,
ausdauernder Arbeit an dir selbst, um Ordnung zu schaffen, auch
Standhaftigkeit in deinen guten Eigenschaften, damit, wenn das Unwetter der
Versuchung kommt, das Gute, das in dir steckt, nicht zum Unheil für dich und
die anderen werde.»
«Du hast recht, Meister. Ab und
zu werde ich durch einen Sturm aufgewühlt und alles geht drunter und drüber,
und du sagst, ich könnte...»
«Der Wille ist alles, Judas!»
«Aber es gibt starke
Versuchungen... Man versteckt sich aus Angst, die Welt könnte sie aus dem
Gesicht lesen.»
«Genau hier liegt der Irrtum.
Dies wäre der Augenblick, sich nicht zu verkriechen, sondern unter die
Menschen zu gehen, die Guten, um Hilfe zu finden. Der Kontakt mit friedvollen
Menschen beruhigt das Fieber der Leidenschaften. Man muß auch die Welt der
Kritiker suchen, denn wegen des Hochmuts, der drängt, sich zu verstecken, um
sich nicht in unser versuchtes Herz sehen zu lassen, würde dies der
moralischen Schwäche entgegenwirken. Man würde nicht fallen.»
«Du bist in die Wüste gegangen.»
«Weil ich es konnte. Doch wehe
den Alleingängern, die in ihrer Einsamkeit nicht Vielfalt gegen Vielfalt
sind.»
«Wie? Das verstehe ich nicht.»
«Vielfalt der Tugenden gegen die
Vielfalt der Versuchungen. Wenn die Tugend nur gering ist, genügt es, es wie
diese schlaffe Efeupflanze zu machen: sich an den Zweigen der starken Bäume
festzuklammern, um sich hochzuranken.»
«Danke, Meister. Ich werde mich
an dir und meinen Gefährten festhalten. Aber ihr müßt mir alle helfen. Ihr
seid alle besser als ich.»
«Es war eine rechtschaffenere und
genügsamere Umgebung, in der wir aufgewachsen sind, Freund. Doch nun bist du
bei uns, und wir lieben
128
dich. Du wirst sehen... Es soll
dies keine Kritik an Judäa sein; aber glaube mir, in Galiläa, in unseren
Dörfern, ist weniger Reichtum und weniger Verderbtheit zu finden. Tiberias,
Magdala und andere Orte des Lasters sind in unserer Nähe. Doch wir leben mit
unserer einfachen Seele, ungehobelt, wenn du willst, doch arbeitsam und
heiligmäßig, zufrieden mit dem, was Gott uns gewährt», sagt Jakobus des
Alphäus.
«Aber die Mutter des Judas ist
eine heiligmäßige Frau, weißt du, Jakobus? Man liest es ihr aus dem
Gesicht...», bemerkt Johannes. Judas von Kerioth lacht glücklich über das Lob,
und sein Gesicht strahlt noch mehr, als Jesus bestätigt: «Du hast es gut
gesagt, Johannes. Sie ist ein heiliges Geschöpf.»
«O ja! Aber es war der Traum
meines Vaters, aus mir einen Großen der Welt zu machen, und er hat mich zu
früh und zu gewaltsam von meiner Mutter weggerissen...»
«Aber was habt ihr euch denn
heute zu sagen, daß ihr ohne Unterlaß redet?» fragt Petrus von ferne. «Haltet
an und wartet auf uns. Es ist nicht nett von euch, so zu rennen, ohne daran zu
denken, daß ich kurze Beine habe.»
Sie warten, bis die andere Gruppe
sie eingeholt hat.
«Uff, wie liebe ich dich, mein
Schifflein! Hier müht man sich ab wie Sklaven. Worüber habt ihr geredet?»
«Wir nannten die Eigenschaften,
um gut zu sein», antwortet Jesus.
«Mir sagst du sie nicht,
Meister?»
«Aber ja: Ordnung, Geduld,
Beharrlichkeit, Demut, Liebe... Ich habe es euch schon so oft gesagt.»
«Aber Ordnung hast du nicht
erwähnt. Wozu ist sie gut?»
«Unordnung ist nie eine gute
Eigenschaft. Ich habe es deinen Gefährten erklärt. Sie werden es dir sagen,
und ich habe sie als erste genannt und am Schluß die Liebe, denn es sind die
beiden Extreme einer Geraden in der Vollkommenheit. Nun weißt du, daß eine
Gerade auf einer Zeichnung weder Anfang noch Ende hat. So können beide Enden
sowohl Anfang als auch Ende sein, während es bei einer Spirale oder einer
anderen Zeichnung, die nicht in sich geschlossen ist, immer einen Anfang und
ein Ende gibt. Die Heiligkeit ist linear, einfach, vollkommen und hat nur zwei
äußere Enden, wie es die Gerade hat.»
«Es ist leicht, eine Gerade zu
ziehen...»
«Glaubst du? Du irrst dich. In
einer Zeichnung, besonders einer komplizierten, kann unmerklich ein Fehler
vorkommen. Doch bei einer Geraden sieht man sofort jeden Fehler; ob sie schief
oder unsicher gezogen ist.
Als mich Joseph das Handwerk
lehrte, bestand er sehr auf der geraden Linie der Bretter, und er sagte mir
mit Recht: "Siehst du, mein Sohn? Eine leichte Unvollkommenheit in einer
Verzierung oder in einer Drechslerarbeit kann noch durchgehen, denn ein
unerfahrenes Auge kann, wenn
129
es einen Punkt betrachtet, eine
bestimmte Stelle sehen, aber die andere nicht. Aber wenn ein Brett nicht
gerade ist, wie es sein soll, dann gelingt die einfachste Arbeit nicht, wie
zum Beispiel ein gewöhnlicher Bauerntisch. Entweder neigt er zur Seite oder er
wackelt. Er ist nur zum Feuern gut!" Wir können dies auch auf die Seele
anwenden.
Um nicht nur für das Feuer der
Hölle zu taugen, sondern für die Eroberung des Himmels, muß man so vollkommen
sein wie ein gehobeltes und winkelrechtes Brett. Wer seine geistige Arbeit mit
Unordnung beginnt, fängt mit unnützen Dingen an und hüpft wie ein unruhiger
Vogel von einer Sache zur anderen. Wenn er dann alles miteinander vereinigen
will, bringt er es nicht mehr fertig, weil die Teile nicht zusammenpassen.
Daher: Ordnung! Daher: Liebe! Wenn man nun diese Enden festgeschraubt hält,
damit sie einem nicht mehr entgleiten können, dann kann die übrige Arbeit in
Angriff genommen werden, ob dies nun Verzierungen oder Schnitzereien seien.
Hast du verstanden?»
«Ich habe verstanden.» Petrus
kaut schweigend an seiner Lektion und kommt plötzlich zu einem Schluß: «So ist
mein Bruder tüchtiger als ich. Er ist so ordentlich. Ein Schritt nach dem
anderen, still und ruhig. Es scheint, als ob er sich nicht von der Stelle
rühre. Ich hingegen... ich möchte schnell und viel machen, und dabei kommt
doch nichts heraus. Wer hilft mir?»
«Dein guter Wunsch. Hab keine
Angst, Petrus. Auch du wirst es schaffen.»
«Auch ich?»
«Auch du, Philippus.»
«Und ich? Mir scheint, ich tauge
zu gar nichts.»
«Nein, Thomas. Auch du arbeitest
an dir. Alle, alle arbeiten an sich. Ihr seid wilde Bäume. Doch die
aufgepfropften Äste verändern euch langsam, aber sicher, und ich habe an euch
meine Freude.»
«So ist es. Wenn wir traurig
sind, tröstest du uns, wenn wir schwach sind, stärkst du uns, wenn wir
ängstlich sind, ermutigst du uns. Für alles und in allen Fällen hast du Rat
und Trost bereit. Wie machst du es nur, Meister, immer so bereit und gut zu
sein?»
«Meine Freunde, ich bin deswegen
gekommen, denn ich wußte schon, was ich vorfinden würde und was ich zu tun
hätte. Ohne Illusionen gibt es keine Enttäuschungen, und man verliert den Mut
nicht. Man macht weiter. Denkt daran, wenn es einmal an euch sein wird zu
sehen, wieviel ihr noch zu arbeiten habt, um aus einem triebhaften Menschen
einen geistigen zu machen.»
130
179. IM HAUSE DES
SYNAGOGENVORSTEHERS KLEOPHAS
Johannes und sein Bruder klopfen
in einem Dorfe an eine Haustür. Ich erkenne jenes Haus wieder, in das die
beiden Jünger von Emmaus mit dem auferstandenen Jesus gegangen sind. Als ihnen
geöffnet wird, treten sie ein und reden mit jemandem, den ich nicht sehen
kann. Dann gehen sie hinaus auf einen Weg und erreichen Jesus, der mit den
anderen an einem abseits gelegenen Orte wartet.
«Er ist da, Meister und ist sehr
glücklich, daß du wirklich gekommen bist. Er hat gesagt: "Geht und sagt ihm,
daß mein Haus ihm gehört. Nun will auch ich kommen."»
«Dann wollen wir gehen.»
Sie gehen eine Zeitlang und
begegnen dem alten Synagogenvorsteher Kleophas, der mir schon vom
"Trügerischen Gewässer" her bekannt ist. Sie verneigen sich gegenseitig, doch
dann kniet der Greis, der einem Patriarchen gleicht, mit ehrerbietigem Gruße
nieder. Bewohner des Ortes, die es sehen, kommen neugierig herbei.
Der alte Mann erhebt sich und
sagt: «Seht, das ist der verheißene Messias. Erinnert euch an diesen Tag, ihr
Einwohner von Emmaus!»
Die einen betrachten ihn mit
menschlicher Neugier, die anderen schon mit Blicken frommer Ehrfurcht. Zwei
bahnen sich einen Weg, kommen zu ihm hin und sagen: «Der Friede sei mit dir,
Rabbi! Auch wir waren an jenem Tage dabei.»
«Der Friede sei mit euch und mit
allen! Ich bin zu euch gekommen, da mich euer Synagogenvorsteher darum gebeten
hat.»
«Wirst du auch hier Wunder
wirken?»
«Wenn hier Kinder Gottes sind,
die glauben und des Wunders bedürfen, werde ich bestimmt Wunder wirken.»
Der Synagogenvorsteher sagt: «Wer
den Meister hören will, und die, die Kranke daheim haben, mögen in die
Synagoge kommen. Darf ich dies bekanntgeben, Meister?»
«Du darfst es. Nach der sechsten
Stunde gehöre ich euch. Im Moment gehöre ich dem guten Kleophas.» Gefolgt von
einem Schwarm von Leuten, geht Jesus an der Seite des alten Mannes zu dessen
Haus.
«Hier ist mein Sohn, Meister, und
meine Frau, die Frau meines Sohnes und deren kleine Kinder. Es tut mir sehr
leid, daß mein anderer Sohn mit dem Schwiegervater meines Sohnes Kleophas und
einem Unglücklichen von hier in Jerusalem ist. Ich werde dir darüber
berichten. Tritt ein, Herr, mit deinen Jüngern.»
Sie treten ein und werden mit den
üblichen hebräischen Erfrischungen bedient. Dann gehen sie in die Nähe des
Feuers, das unter einem großen Kamin brennt; denn der Tag ist feucht und kalt.
«Gleich werden wir uns zu Tisch
begeben. Ich habe die Vornehmen des
131
Ortes eingeladen. Es wird ein
großes Fest heute. Nicht alle glauben an dich. Aber sie sind dir nicht
feindlich gesinnt. Sie warten ab... Sie möchten glauben... aber sie sind, was
den Messias anbelangt, in diesen letzten Jahren zu oft enttäuscht worden. Es
ist Mißtrauen. Es würde ein gutes Wort vom Tempel genügen, um jeden Zweifel zu
beheben. Aber der Tempel... Ich habe gedacht, daß man schon, wenn man dich
sieht und hört, viel in diesem Sinne tun könnte. Ich möchte dir echte Freunde
geben.»
«Du bist einer von ihnen.»
«Ich bin ein alter, armseliger
Mann. Wäre ich jünger, so würde ich dir nachfolgen. Doch die Jahre lasten auf
mir.»
«Du dienst mir schon mit deinem
Glauben. Du predigst über mich mit deinem Glauben. Sei getrost, Kleophas! Ich
werde deiner in der Stunde der Erlösung gedenken.»
«Dort kommt Simon mit Hermas»,
meldet der Sohn des Vorstehers. Alle erheben sich beim Eintreten zweier Männer
mittleren Alters von vornehmem Aussehen.
«Da sind Simon und Hermas,
Meister. Sie sind wahrhaftige Israeliten und sehr aufrichtig in ihren Herzen.»
«Gott wird sich ihren Herzen
enthüllen. Der Friede komme über sie. Ohne Frieden kann man Gott nicht
vernehmen!»
«Das steht auch im Buch der
Könige, wo von Elias die Rede ist.»
«Sind dies deine Jünger?» fragt
Simon.
«Ja.»
«Sie sind verschiedenen Alters
und aus allen Gegenden. Bist du Galiläer ?»
«Von Nazareth, doch in Bethlehem
geboren zur Zeit der Volkszählung.»
«Bethlehemit also. Das bestätigen
deine Gesichtszüge.»
«Es ist eine gütige Bestätigung
für die menschliche Schwäche. Doch die wahre Bestätigung liegt im
Übermenschlichen.»
«In deinen Werken, willst du
sagen?» fragt Hermas.
«In ihnen und in den Worten, die
der Geist auf meinen Lippen entzündet.»
«Sie wurden mir von denen
wiederholt, die dich sprechen gehört haben. Wahrlich groß ist deine Weisheit,
und mit dieser gedenkst du dein Reich zu gründen?»
«Ein König braucht Untertanen mit
der Kenntnis der Gesetze seines Reiches.»
«Aber deine Gesetze sind alle
geistiger Natur.»
«Du sagst es, Hermas! Alle sind
geistiger Natur. Ich werde ein geistiges Reich haben, daher habe ich ein
geistiges Gesetzbuch.»
«Doch wie steht es mit der
Wiederaufrichtung Israels?»
«Ihr dürft nicht in den üblichen
Irrtum fallen und den Namen "Israel"
132
im menschlichen Sinne verstehen.
"Israel" bedeutet "Volk Gottes". Ich werde die Freiheit und die wahre Macht
dieses Volkes Gottes wiederherstellen und es wiederaufbauen und gleichzeitig
dem Himmel die erlösten und über die ewigen Wahrheiten unterrichteten Seelen
wiederbringen.»
«Laßt uns zu Tisch gehen, ich
bitte euch», sagt Kleophas, der mit Jesus in der Mitte der Tafel Platz nimmt.
Zur Rechten Jesu sitzt Hermas und neben Kleophas ist Simon, dann kommt der
Sohn des Synagogenvorstehers, und auf den übrigen Plätzen sind die Jünger.
Vom Gastgeber dazu aufgefordert,
opfert und segnet Jesus die Speisen, und die Mahlzeit beginnt.
«Kommst du in diese Gegend,
Meister?» fragt Hermas.
«Nein. Ich gehe nach Galiläa. Ich
bin nur auf der Durchreise.»
«Wie, du verläßt das "Trügerische
Gewässer" ?»
«Ja, Kleophas.»
«Dort konnten dich die Scharen
ungeachtet des Winters besuchen. Warum enttäuschst du sie?»
«Nicht ich. So wollen es die
Reinen Israels.»
«Was? Warum? Was hast du Böses
getan? In Palästina gibt es viele Rabbis, die dort reden, wo sie wollen. Warum
sollte es dir nicht erlaubt sein?»
«Forsche nicht, Kleophas. Du bist
alt und weise. Laß nicht das Gift bitterer Erfahrung in dein Herz eindringen.»
«Vielleicht verkündest du neue
Lehren, die als gefährlich gelten... Oh, bestimmt durch Irrtum in der
Bewertung der Schriftgelehrten und Pharisäer. Soviel wir von dir wissen,
scheint uns dies der Fall zu sein... nicht wahr, Simon? Aber vielleicht wissen
wir nicht alles. Worin besteht nach dir die Lehre?» fragt Hermas.
«In der genauen Kenntnis der Zehn
Gebote Gottes. In der Liebe und der Barmherzigkeit. Die Liebe und die
Barmherzigkeit, der Atem und das Blut Gottes, sind die Richtlinien für mein
Verhalten und für meine Lehre. Ich wende sie bei allen Vorkommnissen meines
täglichen Lebens an.»
«Aber das ist doch nicht Sünde,
das ist Güte!»
«Es wird von den Schriftgelehrten
und Pharisäern als Sünde beurteilt! Aber ich kann meine Mission nicht
verraten, noch Gott gegenüber ungehorsam sein: Gott, der mich als
"Barmherzigkeit" auf die Erde gesandt hat. Die Zeit der Fülle der
Barmherzigkeit ist angebrochen, nach Jahrhunderten der Gerechtigkeit. Sie ist
die Schwester der ersteren. Sie sind beide aus einem Schoß hervorgegangen.
Doch während früher die Gerechtigkeit die stärkere war und die andere nur die
Strenge milderte -denn Gott kann nicht anders als lieben – ist nun die
Barmherzigkeit die Königin, und wie sehr freut sich nun die Gerechtigkeit, die
sehr darunter gelitten hatte, daß sie strafen mußte! Wenn ihr alles überdenkt,
dann erkennt ihr leicht, daß es sie immer gegeben hat, seit der Mensch Gott
dazu
133
gezwungen hat, streng zu sein.
Die Fortdauer der Menschheit ist nur die Bestätigung dessen, was ich sage.
Schon in der Bestrafung Adams lag Barmherzigkeit. Gott hätte die Menschen nach
der Sünde einäschern können. Aber er legte ihnen eine Sühne auf, und der Frau,
als der Ursache allen Unheils, die dadurch ihrer Würde verlustig gegangen war,
stellte er eine leuchtende Frauengestalt als Ursache des Heils entgegen.
Beiden gewährte er Nachkommen und die Erkenntnis ihres Daseins. Dem Mörder
Kain gewährte er zusammen mit der Gerechtigkeit das Zeichen der
Barmherzigkeit, damit er nicht getötet würde. Der verderbten Menschheit
schenkte er Noah, um ihren Fortbestand in der Arche zu retten, und versprach,
mit ihr alsdann einen ewigen Bund des Friedens zu schließen. Keine gewaltige
Sintflut mehr sollte es geben. Nie mehr! Die Gerechtigkeit wurde durch die
Barmherzigkeit bezwungen. Wollt ihr mit mir die heilige Geschichte bis zu
meiner Stunde zurückverfolgen? Ihr werdet sehen, wie großzügig die Wogen der
Liebe sich wiederholen und wie dies immer öfters geschehen wird. Das Meer
Gottes ist jetzt voll, es trägt dich, o Menschheit, auf seinen heiteren und
sanften Wassern und erhebt dich zum Himmel, gereinigt und schön, und sagt:
"Ich gebe dich meinem Vater zurück."»
Die drei sind ganz in Gedanken
versunken und staunen über so viel Licht und Liebe. Dann seufzt Kleophas: «So
ist es! Doch nur du allein bist so! Was wird mit Joseph geschehen? Er sollte
schon vernommen worden sein, nicht? Oder wird er es erst?»
Niemand antwortet. Kleophas
wendet sich an Jesus: «Meister, einer von Emmaus, dessen Vater vor langer Zeit
seine Frau verstoßen hat, die dann nach Antiochia ging, um dort bei einem
Bruder zu leben, einem Ladenbesitzer, ist in schwere Schuld verstrickt. Er
hatte diese Frau nie gekannt, und ich forsche nicht nach den Gründen, die zu
ihrer Vertreibung nach wenigen Monaten der Ehe geführt hatten. Er wußte nichts
von ihr, denn verständlicherweise war ihr Name in seinem Haus verpönt. Als er
zum Manne herangewachsen war und vom Vater den Handel und die Güter geerbt
hatte, dachte er daran, zu heiraten. Er hatte in Joppe eine Frau
kennengelernt, eine reiche Handelshausbesitzerin, und heiratete sie. Nun – ich
weiß nicht, wie er es erfahren hat – wurde ihm bekannt, daß jene Frau die
Tochter der Frau seines Vaters sei. Also eine schwere Sünde, ob gleich man
meiner Ansicht nach nicht sicher weiß, wer der Vater der Frau ist. Vom Gericht
verurteilt, hat Joseph seinen Frieden als Gläubiger und als Ehemann verloren.
Obwohl er mit großem Schmerz seine Frau, viel leicht seine Schwester,
verstoßen hat, die dann vom Fieber befallen wurde und gestorben ist, erhält er
keine Vergebung. Ich sage aufrichtig, daß er nicht so hart bestraft worden
wäre, wenn nicht Feinde hinter dem Besitz her wären. Was würdest du tun?»
«Der Fall ist sehr ernst,
Kleophas. Warum hast du mir nichts davon gesagt, als du bei mir warst ?»
134
«Ich wollte dich nicht von hier
fernhalten.»
«Oh, ich weiche solchen
Angelegenheiten nicht aus. Nun höre! Es liegt grundsätzlich eine Blutschande
vor, die strafbar ist. Doch die moralische Schuld setzt, um wirklich Schuld zu
sein, den Willen zu sündigen voraus. Hat dieser Mann bewußt eine Blutschande
begangen? Du sagst nein. Wo ist also die Schuld? Ich will sagen, die Schuld,
aus freiem Willen gesündigt zu haben. Es bleibt nur das Zusammenleben mit der
Tochter des eigenen Vaters. Aber du sagst, daß es ungewiß ist, daß es
überhaupt ihr Vater war. Selbst wenn dem so wäre, hätte die Schuld mit der
Beendigung des Zusammenlebens ein Ende. Hier ist Beendigung gegeben, nicht nur
durch die Verstoßung seiner jungen Frau, sondern auch wegen des
darauffolgenden Todes. Deshalb sage ich, daß dem Mann, trotz der scheinbaren
Schuld, verziehen werden sollte. Ich sage: Da es für königliche Inzucht keine
Bestrafung gibt, obgleich sie offenkundig ist, müßte man in diesem
schmerzlichen Falle Barmherzigkeit walten lassen; in diesem Fall, dessen
Ursprung auf die Erlaubnis der Verstoßung zurückgeht, die von Moses gegeben
wurde, um böse Folgen – wenn nicht schwerere, so doch zahlreichere – zu
verhüten. Diese Erlaubnis verurteile ich; denn der Mann, der eine gute oder
schlechte Ehe eingegangen ist, muß mit dem Ehepartner leben und darf die Frau
nicht verstoßen und damit den Ehebruch und ähnliche Situationen begünstigen.
Außerdem, wenn man schon streng sein will, dann muß man es mit allen und in
gleichem Maße sein, ja, zuerst mit sich selbst und mit den Mächtigen. Bis
jetzt hat, soviel ich weiß, außer dem Täufer noch niemand die Stimme gegen die
königlichen Sünder erhoben. Sind jene, die andere verurteilen, immun gegen
solche und noch schlimmere Sünden, oder dienen ihnen ihr Name und ihre Macht
dazu, sie zu verbergen, so wie ihr prunkvolles Gewand ihrem oft durch Laster
erkrankten Körper als Deckung dient?»
«Du hast gut gesprochen, Meister!
So ist es. Aber du... wer bist du eigentlich ?» fragen gleichzeitig die beiden
Freunde des Synagogenvorstehers. Jesus kann nicht antworten, denn die Tür geht
auf und Simon, der Schwiegervater des Sohnes des Kleophas, kommt herein.
«Gut zurückgekehrt? Nun?»
Die Neugier ist so lebhaft, daß
niemand mehr an den Meister denkt.
«Absolute Verurteilung. Sie
nehmen nicht einmal die Opfergabe an. Joseph ist aus Israel verstoßen!»
«Wo ist er?»
«Draußen. Er weint. Ich habe
versucht, mit den Mächtigsten zu reden. Sie haben mich wie einen Aussätzigen
verjagt. Nun... Aber... Es ist der Ruin dieses Mannes, was seine Seele und
seine Güter anbelangt... Was soll er tun?»
Jesus steht auf und geht wortlos
zur Türe.
Der alte Kleophas glaubt, daß
Jesus beleidigt sei, weil man ihm
135
momentan keine Beachtung
geschenkt hat, und sagt: «Oh, verzeih, Meister. Es ist der Schmerz über die
Angelegenheit, der mich erschüttert. Bleibe, ich bitte dich!»
«Ich bleibe, Kleophas. Ich gehe
nur zu jenem Unglücklichen. Ihr könnt mitkommen, wenn ihr wollt.» Jesus geht
in die Vorhalle.
Das Haus besitzt einen Vorgarten
mit kleinen Beeten, und davor ist die Straße. Am Eingang liegt ein Mann auf
dem Boden. Jesus geht mit offenen Armen auf ihn zu. Hinter ihm kommen alle
anderen, die versuchen, etwas zu sehen.
«Joseph, hat dir denn niemand
vergeben?» Die Stimme Jesu ist voller Güte. Der Mann richtet sich auf, als er
nach all den Verfluchungen diese neue, so gütige Stimme vernimmt. Er erhebt
das Antlitz und blickt Jesus erstaunt an.
«Joseph, hat dir niemand
vergeben?» wiederholt Jesus noch einmal und beugt sich über ihn, um die Hände
des Mannes zu ergreifen und ihm aufzuhelfen.
«Wer bist du?» fragt der
Unglückliche.
«Ich bin die Barmherzigkeit und
der Friede!»
«Für mich gibt es keine
Barmherzigkeit und keinen Frieden mehr.»
«Im Herzen Gottes gibt es sie
immer. Jenes Herz ist übervoll davon, besonders für seine unglücklichen
Kinder.»
«Aber meine Schuld wiegt so
schwer, daß ich nun von Gott verstoßen bin. Du, der du so gut bist, laß mich
los, damit ich dich mit meiner Unreinheit nicht beflecke.»
«Ich lasse dich nicht. Ich will
dich zum Frieden führen.»
«Aber ich bin... Wer bist du?»
«Ich habe es dir gesagt:
Barmherzigkeit und Friede! Ich bin der Retter. Jesus bin ich. Steh auf! Ich
kann, was ich will. Im Namen Gottes spreche ich dich los von der
unverschuldeten Befleckung. Ein anderes Unheil existiert nicht. Ich bin das
Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt. Mir ist alle Gewalt gegeben
in Ewigkeit. Wer an meine Worte glaubt, wird das ewige Leben haben. Komm,
armer Sohn Israels. Erquicke deinen müden Körper und stärke deine bedrückte
Seele! Ganz andere Sünden werde ich noch vergeben. Nein, nicht durch mich soll
Verzweiflung in die Herzen kommen. Ich bin das makellose Lamm; aber ich fliehe
nicht vor den verwundeten Schafen aus Angst, mich zu beflecken. Im Gegenteil,
ich suche sie und leite sie. Viele, zu viele gehen ins Verderben, weil sie mit
zuviel und auch mit unberechtigter Strenge verurteilt werden. Wehe jenen, die
mit unnachgiebiger Härte eine Seele zur Verzweiflung treiben. Sie wahren nicht
die Interessen Gottes, sondern die Interessen Satans. Ich denke jetzt an eine
Sünderin, die Sehnsucht nach der Erlösung hat und vom Erlöser ferngehalten
wird; ich denke an einen Synagogenvorsteher, der verfolgt wird, weil er
gerecht ist, und an einen Beschuldigten, der
136
ahnungslos in Sünde gefallen ist.
Zu viele Dinge sehe ich dort geschehen, wo Laster und Lüge herrschen. Wie eine
Mauer, die, Stein auf Stein gelegt, immer höher und zur Wand wird, so
geschehen Dinge – in diesem Jahr habe ich schon zu viele davon gesehen – die
zwischen mir und den anderen eine immer höhere Mauer der Härte bilden. Wehe
ihnen, wenn sie am höchsten geworden ist mit Materialien, die sie selbst
hierfür geliefert haben! Komm, trink und iß. Du bist erschöpft. Morgen wirst
du dann mit mir kommen. Habe keine Angst. Wenn du deinen Seelenfrieden wieder
gefunden hast, wirst du frei über deine Zukunft entscheiden können. Jetzt
könntest du es nicht, und es wäre gefährlich, es dich tun zu lassen.»
Jesus hat den Mann in den Saal
geführt und ihn gezwungen, sich an seinen Platz zu setzen. Er bedient ihn auch
und wendet sich dann an Hermas und Simon und sagt: «Das ist meine Lehre! Diese
und keine andere! Ich werde mich nicht darauf beschränken, sie zu predigen,
vielmehr werde ich sie verwirklichen. Wer nach Wahrheit und Liebe dürstet, der
komme zu Mir!»
Jesus sagt: «Hiermit endet mein
erstes Jahr der Verkündigung der Heilsbotschaft. Erinnert euch daran! Was soll
ich euch sagen? Ich habe euch dieses Werk gegeben, weil es mein Wunsch ist,
daß es bekannt werde. Doch wie mir mit den Pharisäern, so wird es auch diesem
Werk ergehen. Mein Wunsch, geliebt zu werden – kennen ist lieben – wird aus
vielen Gründen zurückgewiesen, und das ist ein großer Schmerz für mich, den
ewigen Meister, als
euer Gefangener ...»
137
180. UNTERWEISUNG DER JÜNGER AUF
DEM WEG NACH ARIMATHÄA
«Herr, was werden wir mit diesem
anfangen ?» fragt Petrus Jesus, indem er auf den Mann namens Joseph zeigt, der
ihnen folgt, seit sie Einmaus verlassen haben, und nun den beiden Söhnen des
Alphäus und des Simon zuhört, die sich seiner ganz besonders angenommen haben.
«Ich habe es schon gesagt. Er
wird mit uns bis nach Galiläa kommen.»
«Aber dann? ...»
«Dann... wird er bei uns bleiben.
Du wirst sehen, daß es so kommen wird.»
«Wird auch er ein Jünger werden?
Mit all dem, was er auf dem Gewissen hat ?»
«Bist auch du ein Pharisäer?»
«Ich... nein! Aber mir scheint,
daß die Pharisäer jeden unserer Schritte beobachten...»
«Wenn sie ihn bei uns sehen,
werden sie uns Unannehmlichkeiten bereiten. Das willst du sagen, nicht wahr?
Also, um uns nicht der Gefahr auszusetzen, belästigt zu werden, sollen wir
einen Sohn Abrahams seiner Verzweiflung überlassen? Nein, Simon Petrus. Es
geht um eine Seele, die verlorengehen oder gerettet werden kann, je nachdem,
wie ihre große Wunde behandelt wird.»
«Aber sind denn nicht schon wir
deine Jünger?»
Jesus schaut Petrus an und
lächelt fein. Dann sagt er: «Vor vielen Monaten sagte ich dir einmal: "Viele
andere werden noch hinzukommen." Das Feld ist sehr groß und weit. Die Arbeiter
werden immer zu gering an der Zahl sein für eine solche Ausdehnung... auch
weil viele das Los des Jonas teilen werden: sie werden bei der harten Arbeit
sterben. Doch ihr werdet immer meine Bevorzugten sein», schließt Jesus und
zieht den schmollenden Petrus an sich, der sich bei diesem Versprechen
beruhigt.
«Dann kommt er also mit uns?»
«Ja, solange sein Herz nicht
geheilt ist. Es ist mit Bitterkeit erfüllt durch all den Haß, den es erleiden
mußte.»
Auch Jakobus und Johannes
erreichen zusammen mit Andreas den Meister und hören ihm zu.
«Ihr könnt nicht ermessen, welch
großes Leid ein Mensch einem anderen Menschen durch feindselige
Unnachgiebigkeit zufügen kann. Bedenket stets, daß euer Meister immer sehr
gütig gegen die seelisch Kranken
141
gewesen ist. Ihr glaubt, daß
meine größten Wunder und die stärkste Wirkung meiner Kraft den Heilungen des
Körpers gelten. Nein, Freunde... Ja, kommt auch ihr näher, die ihr vorausgeht
oder hinten nachkommt. Die Straße ist breit, und wir können jetzt in einer
geschlossenen Gruppe gehen.»
Alle drängen sich um Jesus, der
fortfährt: «Meine bedeutendsten Werke, die am klarsten von meinem Wesen und
meiner Mission zeugen und die mein Vater mit Wohlgefallen betrachtet, sind die
Heilungen der Herzen; sei es, daß es sich um die Heilung von einem oder
mehreren Hauptlastern handelt, oder daß ich von der Trostlosigkeit befreie,
die einen Menschen dermaßen niederdrückt, daß er glaubt, von Gott heimgesucht
oder verlassen worden zu sein.
Was bleibt der Seele, die diese
Gewißheit der Hilfe Gottes verloren hat? Sie ist eine schwache Ackerwinde, die
im Staube dahinkriecht, da sie sich nicht mehr an ihre Überzeugung
festklammern kann, die vorher ihre Kraft und Freude war. Es ist schrecklich,
ohne Hoffnung leben zu müssen. Das Leben ist schön trotz seiner Härten, nur
weil es den Strahl der göttlichen Sonne empfängt. Das Ziel dieses Lebens ist
jene Sonne. Ist der menschliche Tag düster, von Tränen erfüllt und vom Blute
gezeichnet? Ja, aber dann wird die Sonne scheinen. Kein Schmerz, keine
Trennung, keine Bitterkeit, kein Haß, kein Elend und keine Einsamkeit mehr in
den bedrückenden Nebeln, sondern Licht und Gesang, Freude und Friede, Gott!
Gott, die Ewige Sonne! Schaut, wie traurig die Erde erscheint, wenn eine
Sonnenfinsternis eintritt. Wenn sich der Mensch sagen müßte: "Die Sonne ist
nicht mehr", wäre es dann nicht so, als ob er für immer in eine dunkle Gruft
eingemauert und begraben wäre; als ob er schon vor dem eigentlichen Tode
gestorben wäre? Aber der Mensch weiß, daß jenseits des Himmelskörpers, der die
Sonne verdeckt und die Erde verdunkelt, immer noch die heitere Sonne Gottes
leuchtet. Das ist das Bewußtsein der Gottverbundenheit während seines Lebens
auf Erden. Die Menschen verletzen, bestehlen und verleumden. Gott heilt,
vergilt und rechtfertigt in vollem Maße. Die Menschen sagen. "Gott hat dich
verstoßen." Die vertrauensvolle Seele aber denkt, ja muß denken: "Gott ist gut
und gerecht. Er kennt die Gründe und ist barmherzig, und seine Barmherzigkeit
ist größer als die des gütigsten Menschen. Sie ist unendlich. Deshalb wird er
mich nicht abweisen, wenn ich mein verweintes Antlitz an seiner Brust berge
und sage: 'Vater, du allein bleibst mir. Dein Kind ist betrübt und
niedergeschlagen. Gib mir deinen Frieden .... ..
Ich, der von Gott Gesandte,
sammle alle, die der Mensch verwirrt und Satan mit sich gerissen hat, und
rette sie. Dies ist meine Aufgabe. Dies ist sie wahrhaftig. Das Wunder am
menschlichen Leib ist göttliche Macht. Die Erlösung der Seelen ist das Werk
Jesu Christi, des Retters und Erlösers. Ich denke, und ich irre nicht, daß
alle, die ihre Würde in den Augen
142
Gottes und in ihren eigenen Augen
durch mich wiedergefunden haben, meine getreuen Jünger sein werden. Mit umso
größerer Überzeugungskraft werden sie das Volk zu Gott führen, indem sie
sagen: "Ihr seid Sünder? Ich auch. Ihr seid gedemütigt worden? Ich auch. Ihr
seid verzweifelt ? Ich auch, und doch, seht ihr? Der Messias hat sich meines
seelischen Elends erbarmt und mich als seinen Priester aufgenommen, denn er
ist die Barmherzigkeit und wünscht, daß sich die Welt davon überzeuge. Niemand
ist besser dafür geeignet, zu überzeugen, als der, der es an sich selbst
erfahren hat." Nun will ich meine Freunde und jene, die mich seit meiner
Geburt lieben, also die Hirten, mit diesen Menschen vereinigen. Besser noch:
ich geselle sie den Hirten und den Geheilten bei, allen, die auch ohne
besondere Erwählung, wie dies bei euch Zwölfen der Fall ist, sich auf meinen
Weg begeben und ihm bis zu ihrem Tode folgen werden. In der Nähe von Arimathäa
lebt Isaak. Ich werde ihn mit mir nehmen, damit er mit Timoneus geht, sobald
dieser angekommen ist. Joseph, unser Freund, hat mich darum gebeten. Wenn du
glaubst, daß in mir der Friede und das Ziel eines ganzen Lebens zu finden
sind, kannst du dich zu ihnen gesellen. Sie werden dir gute Brüder sein.»
«Oh, welch ein Trost für mich! Es
ist genau so, wie du sagst. Meine tiefen Wunden, als Mensch und als Gläubiger,
heilen von Stunde zu Stunde. Seit drei Tagen bin ich bei dir, und ich habe das
Gefühl, daß all das, was mich noch vor drei Tagen quälte, sich wie ein Traum
von mir entfernt. Ich habe diesen Traum gelebt, doch je mehr Zeit vergeht, um
so mehr verbleichen seine scharfen Umrisse vor deiner Wirklichkeit. In diesen
Nächten habe ich viel nachgedacht. In Joppe habe ich einen guten Verwandten.
Er ist... die unabsichtliche Ursache meines Unheils gewesen, weil ich durch
ihn jene Frau kennengelernt habe. Dies soll dir beweisen, ob wir wissen
konnten, wessen Tochter sie war... Von ihr, der ersten Frau meines Vaters, ja,
von ihr wird sie es wohl gewesen sein, aber nicht von meinem Vater. Sie hatte
einen anderen Namen und kam von weither. Sie lernte durch den Handel meinen
Verwandten kennen, und so lernte auch ich sie kennen. Der Verwandte ist sehr
auf mein Unternehmen aus. Ich werde es ihm anbieten, da es ohne Herrn eingehen
würde. Er wird es mir zweifellos abkaufen, um nicht mehr so sehr vom Gewissen
geplagt zu werden, die Ursache meines Unglücks zu sein. Ich werde mir genügen
und dir nachfolgen können. Ich bitte dich nur, mir Isaak, den du genannt hast,
beizugesellen. Ich habe Angst, mit meinen Gedanken allein zu sein. Sie sind
noch zu traurig...»
«Ich werde dir Isaak geben. Er
ist ein guter Mensch. Der Schmerz hat ihn veredelt. Dreißig Jahre lang hat er
sein Kreuz getragen. Er weiß, was leiden heißt... Wir werden indes
weitergehen, und ihr werdet uns in Nazareth einholen.»
«Werden wir nicht im Haus Josephs
verweilen?»
143
«Joseph ist wahrscheinlich in
Jerusalem... Das Hohe Rat hat viel zu tun. Aber wir werden es durch Isaak
erfahren. Wenn er da ist, werden wir ihm unseren Frieden bringen. Wenn nicht,
dann werden wir nur eine Nacht bleiben, um uns auszuruhen. Ich habe es eilig,
nach Galiläa zu kommen. Dort ist eine Mutter, die leidet. Denn vergeßt nicht,
es ist dort jemand, der alles daransetzt, um sie zu betrüben. Ich will sie
beruhigen.»
181. AUF DEM WEG NACH SAMARIA;
UNTERWEISUNG DER APOSTEL
Jesus ist mit seinen Zwölfen. Die
Gegend ist immer noch gebirgig, doch ist der Weg so breit, daß sie in einer
geschlossenen Gruppe gehen und miteinander reden können.
«Nun aber, da wir allein sind,
können wir es sagen: warum gibt es soviel Eifersucht zwischen zwei Gruppen?»
fragt Philippus.
«Eifersucht ? Aber das ist doch
nichts anderes als Überheblichkeit!»entgegnet Judas des Alphäus.
«Nein. Ich meine, es ist nur ein
Vorwand, um ihr ungerechtes Verhalten dem Meister gegenüber irgendwie zu
rechtfertigen. Unter dem Deckmantel des Eifers für den Täufer erreicht man es,
ihn fernzuhalten, ohne die Menge allzusehr zu verstimmen», sagt Simon der
Zelote.
«Ich würde sie entlarven.»
«Wir, Petrus, würden viele Dinge
tun, die Jesus nicht tut.»
«Warum tut er sie nicht?»
«Weil er weiß, daß es gut ist,
sie nicht zu tun. Wir brauchen ihm nur zu folgen. Es steht uns nicht an, ihn
zu führen, und wir sollten glücklich darüber sein. Es ist eine große
Erleichterung, nur gehorchen zu müssen...»
«Das hast du gut gesagt, Simon»,
sagt Jesus, der anscheinend in Gedanken versunken vorausgegangen war. «Du hast
recht, gehorchen ist leichter als befehlen. Es scheint nicht so, aber es ist
so. Sicher ist es für einen guten Menschen leicht, zu gehorchen, so, wie es
schwierig ist für einen rechtschaffenen Menschen, zu befehlen. Wenn einer aber
nicht rechtschaffen ist, gibt er unsinnige Befehle, ja, noch mehr als nur das.
Dann ist es leicht zu befehlen. Aber um wieviel schwerer wird es dann sein, zu
gehorchen! Wenn einer die Verantwortung trägt als Erster in einem Ort oder in
einer Gruppe von Menschen, dann muß er sich immer Liebe und Gerechtigkeit,
Klugheit und Demut, Mäßigkeit und Geduld, und Willensstärke ohne Starrsinn vor
Augen halten. Oh, das ist schwer! ... Ihr habt vorerst nur Gott und eurem
Meister zu gehorchen. Du, und nicht nur du allein, fragst dich, warum ich
gewisse Dinge tue und andere unterlasse, du fragst dich, warum Gott etwas
zuläßt oder nicht zuläßt. Schau, Petrus,
144
und auch ihr, Freunde, eines der
Geheimnisse des vollkommenen Gläubigen besteht darin, daß er Gott nie einem
Verhör unterzieht. "Warum tust du dies?" fragt einer, der unreif ist, seinen
Gott. Das ist wie wenn ein weiser Erwachsener vor einen Schuljungen hintreten
und ihm sagen würde: "Das macht man nicht, das ist eine Dummheit, das ist ein
Fehler." Wer ist größer als Gott?
Nun seht ihr, daß ich unter dem
Vorwand des Eifers für Johannes verjagt wurde, und ihr seid darüber empört.
Ihr möchtet, daß ich diesen Fehler richtigstelle, indem ich eine kämpferische
Haltung gegen die Verfechter dieses Argumentes einnehme. Nein, das wird
niemals geschehen. Ihr habt den Täufer durch den Mund seiner Jünger sprechen
gehört: "Er muß wachsen, und ich abnehmen." Er bedauert es nicht, er hängt
nicht an seiner Stellung. Der Heilige klammert sich nicht an diese Dinge. Er
arbeitet nicht, um eine möglichst große Anzahl von Jüngern zu haben. Er
besitzt keine eigenen Jünger. Er ist vielmehr darum bemüht, die Zahl der
Getreuen Gottes zu vermehren. Nur Gott allein hat ein Recht auf Getreue.
Deshalb bin ich ebensowenig darüber betrübt, daß einige in gutem oder
schlechtem Glauben Jünger des Täufers bleiben, wie er sich nicht darüber
grämt, daß einige von seinen Jüngern zu mir kommen, wie ihr es gehört habt! Er
geht auf solche zahlenmäßige Kleinlichkeiten gar nicht ein. Er schaut zum
Himmel, und auch ich schaue zum Himmel. Streitet also nicht weiter darüber, ob
es gerecht oder ungerecht sei, wenn Judäer mich beschuldigen, dem Täufer
Jünger zu entführen, und ob es richtig oder unrichtig sei, sie so reden zu
lassen. Das sind Streitereien geschwätziger Frauen am Brunnen. Die Heiligen
helfen sich gegenseitig, sie überlassen einander ihre Getreuen und tauschen
sie lächelnd und frohen Herzens im Gedanken, für den Herrn zu arbeiten, aus.
Ich habe getauft, und sogar euch
taufen lassen, da der Geist nun so schwerfällig ist, daß er greifbare
Beispiele der Barmherzigkeit, von Wundern und der Belehrung nötig hat. Wegen
dieser geistigen Schwerfälligkeit werde ich materielle Heilsmittel nehmen
müssen, wenn ich aus euch Wundertäter machen will. Aber glaubt mir, weder im
Öl, noch im Wasser, noch in einer anderen Zeremonie liegt der Beweis für die
Heiligkeit. Die Stunde steht nahe bevor, da etwas Ungreifbares, Unsichtbares,
den Materialisten Unfaßbares, als Königin walten wird. Es ist die
"zurückgekehrte" Königin, machtvoll und heilig durch das Heilige und in allem
Heiligen. Durch sie wird der Mensch wieder zum "Kind Gottes" werden, und sie
wird das wirken, was Gott vollbringt, denn Gott wird mit ihr sein. Es ist die
Gnade! Sie ist die wiederkehrende Königin! Dann wird die Taufe ein Sakrament
sein. Dann wird der Mensch die Sprache Gottes sprechen und verstehen. Er wird
Leben und das LEBEN geben, er wird Macht der Weisheit und der Stärke
verleihen, dann... oh, dann! Noch seid ihr unreif um zu begreifen, was euch
die Gnade gewähren wird. Ich bitte euch: fördert ihr
145
Kommen durch eine andauernde
Selbsterziehung, und überlaßt die nutzlosen Dinge den kleinlichen Menschen...
Seht dort, die Grenzgebiete von Samaria. Glaubt ihr, daß es gut wäre, wenn ich
dort sprechen würde?»
«Oh!» Alle sind mehr oder weniger
darüber entrüstet. 1)
«Wahrlich, ich sage euch, die
Samariter sind überall, und wenn ich nicht dort sprechen dürfte, wo ein
Samariter ist, dann dürfte ich nirgendwo mehr sprechen. Kommt also! Ich werde
nicht danach trachten, zu sprechen. Doch wenn man mich darum bittet, werde ich
mich nicht weigern, von Gott zu sprechen. Ein Jahr ist zu Ende. Das zweite
beginnt. Es bildet die Mitte zwischen einem Anfang und einem Ende. Anfangs war
der Meister noch vorherrschend. Nun offenbart sich der Retter. Das Ende wird
das Antlitz des Erlösers tragen. Laßt uns gehen. Der Strom wird um so größer,
je näher er zur Mündung kommt. Auch ich will das Werk der Barmherzigkeit
erweitern, denn die Mündung kommt näher.»
«Werden wir von Galiläa aus zu
irgendeinem großen Fluß gehen? Zum Nil vielleicht? Oder zum Euphrat?» flüstern
einige.
«Vielleicht gehen wir unter die
Heiden...», entgegnen andere.
«Redet nicht untereinander. Wir
nähern uns "meiner Mündung". Das heißt, wir nähern uns der Erfüllung meiner
Sendung. Seid sehr wachsam, denn ich werde euch einmal verlassen, und ihr
werdet in meinem Namen weiterwirken müssen.»
182. DIE SAMARITERIN FOTINAI
«Ich bleibe hier. Geht in die
Stadt und kauft, was wir für die Mahlzeit benötigen. Wir werden hier essen.»
«Sollen wir alle gehen?»
«Ja, Johannes. Es ist gut, wenn
ihr alle miteinander geht.»
«Du bleibst allein? ... Es sind
Samariter...»
«Sie werden nicht die Schlimmsten
unter den Feinden Christi sein. Geht, geht nur. Während ich hier auf euch
warte, will ich für euch und für sie beten.»
Die Jünger gehen schweren Herzens
davon; drei- oder viermal drehen sie sich nach Jesus um und betrachten ihn,
wie er auf einem kleinen, sonnenbeschienenen Mäuerchen sitzt, das sich in der
Nähe des breiten, niedrigen Randes eines Brunnens befindet; eines großen
Brunnens, fast einer Zisterne gleich, so breit ist er. Im Sommer ist er von
den großen, jetzt
____________-
1) Wegen der Gründe und der
Ursache der Abspaltung der Samariter von den Juden und der daraus
hervorgegangenen Opposition zwischen den beiden, und wegen der Haltung Jesu
und der entstehenden Kirche gegenüber den Samaritern.
146
kahlen, Bäumen beschattet. Das
Wasser des Brunnens kann man nicht sehen, doch zeigen kleine Pfützen und
Abdrücke der abgestellten Krüge auf dem Erdboden rundherum, daß Wasser
geschöpft worden ist. Jesus ist in seine Gedanken vertieft. Er hat die
gewohnte Haltung angenommen: die Ellbogen auf die Knie gestützt und die nach
vorne gerichteten Hände gefaltet, den Oberkörper leicht gebeugt und das Haupt
zur Erde geneigt. Er spürt die wärmende Sonne und läßt den Mantel vom Kopf und
den Schultern gleiten, hält ihn aber noch zusammengefaltet auf seinem Schoß.
Jesus hebt das Haupt und lächelt
einer Schar rauflustiger Spatzen zu, die sich um eine am Brunnen verlorene
Brotkrume streiten. Doch die Spatzen werden durch das Erscheinen einer Frau
aufgeschreckt und fliegen davon. Die Frau hält mit der linken Hand einen
leeren Krug am Henkel, während sie mit der rechten überrascht den Schleier zur
Seite schiebt, um zu sehen, wer der Mann ist, der dort sitzt. Jesus lächelt
der Frau zu, die um die 35-4O Jahre alt und hochgewachsen ist und markante,
doch schöne Gesichtszüge hat. Ein Menschenschlag, den wir als spanisch
bezeichnen möchten, wegen ihrer fahlen, olivfarbenen Haut, den gewölbten und
leuchtenden Lippen, ihren geradezu übermäßig großen und schwarzen Augen unter
den sehr dichten Augenbrauen und den rabenschwarzen Zöpfen, die durch den
leichten Schleier hindurchscheinen. Auch die etwas üppigen Körperformen sind
typisch orientalisch, wie bei den Araberinnen. Die Frau trägt ein
buntgestreiftes Kleid, welches in der Taille eng zusammengezogen ist und an
den molligen Hüften und der vollen Brust enganliegt und dann in einer Art
loser Falten bis zum Boden reicht. Viele Ringe und Armbänder schmücken ihre
fleischigen, braunen Hände, und unter den leinenen Unterärmeln kommen ihre mit
Armbändern geschmückten Handgelenke hervor. Am Halse trägt sie eine schwere
Kette, von der Medaillen, ich möchte fast sagen Amulette, da sie so
verschiedenförmig sind, herabhängen, während der reiche Ohrschmuck bis zum
Halse reicht und unter dem Schleier glitzert.
«Der Friede sei mit dir, Frau.
Willst du mir zu trinken geben? Ich habe einen weiten Weg hinter mir und bin
durstig.»
«Aber bist du denn nicht ein
Jude? Und du bittest mich, eine Samariterin, um Wasser? Was soll denn das
bedeuten? Ist unsere Ehre wieder hergestellt, oder seid ihr gar in Verfall
geraten? Es muß schon ein großes Ereignis stattgefunden haben, wenn ein Jude
höflich zu einer Samariterin spricht. Eigentlich sollte ich dir antworten:
"Ich gebe dir nichts, um an dir alle Beleidigungen zu rächen, die uns die
Juden seit Jahrhunderten zufügen."»
«Du hast recht. Etwas Großes hat
sich ereignet, und dadurch haben sich viele Dinge geändert, und mehr noch
werden sich ändern. Gott hat der Welt ein großes Geschenk gemacht und dadurch
hat sich vieles geändert. Wenn du dieses Geschenk kennen würdest und wüßtest,
wer zu dir
147
sagt: "Gib mir zu trinken" ' dann
hättest du ihn vielleicht selbst um Wasser gebeten, und er hätte dir
lebendiges Wasser gegeben.»
«Lebendiges Wasser gibt es in
unterirdischen Quellen. In diesem Brunnen ist solches, doch er gehört uns»,
entgegnet die Frau spöttisch und rechthaberisch.
«Das Wasser kommt von Gott, so
wie auch die Güte, das Leben und alles von einem einzigen Gott kommt, Frau.
Alle Menschen sind von Gott erschaffen worden: Samariter wie Juden. Ist dies
nicht der Brunnen Jakobs, und ist Jakob nicht der Stammvater unseres
Geschlechtes? 1) Wenn später ein Irrtum das Volk geteilt hat, so bleibt der
Ursprung doch derselbe.»
«Ein Irrtum unsererseits, nicht
wahr?» fragt die Frau herausfordernd.
«Weder unsererseits noch
eurerseits. Es war der Fehler eines Menschen, der Liebe und Gerechtigkeit aus
den Augen verloren hatte. Ich beleidige weder dich noch dein Geschlecht, warum
verhältst du dich also feindselig mir gegenüber?»
«Du bist der erste Jude, den ich
so reden höre. Die anderen... Der Brunnen, ja, es ist der Brunnen Jakobs, und
er hat so reichlich klares Wasser, daß wir von Sichar ihn allen anderen
Brunnen vorziehen. Doch er ist sehr tief, und du hast weder Krug noch einen
Schlauch. Wie könntest du für mich lebendiges Wasser schöpfen? Bist du
vielleicht mehr als Jakob, unser heiliger Patriarch, der diese reiche Quelle
für sich, seine Kinder und seine Herden gefunden und sie uns als Geschenk und
zu seinem Gedächtnis hinterlassen hat?»
«Das stimmt! Doch wer von diesem
Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen. Ich hingegen habe ein Wasser, das
bei dem, der es trinkt, keinen Durst mehr aufkommen läßt. Doch es gehört mir
allein. Und ich werde es denen geben, die mich darum bitten. Wahrlich, ich
sage dir, wer dieses Wasser besitzt, das ich ihm geben werde, wird immer von
ihm durchströmt werden und nie mehr Durst leiden, weil mein Wasser in ihm zur
sicheren ewigen Quelle werden wird.»
«Wie? Ich verstehe dich nicht.
Bist du ein Magier? Wie kann ein Mensch zu einem Brunnen werden? Das Kamel
trinkt und schafft sich Wasservorräte in seinem geräumigen Bauch. Doch dann
verbraucht es das Wasser und es genügt nicht für das ganze Leben. Du aber
sagst, daß dein Wasser für das ganze Leben reicht?»
_______
1) S. Geschichte Jakobs in Gen
25,19-37,36; 45,16-50,14. Jakob, dem Gott den Namen Israel gab, wurde zum
Oberhaupt des israelitischen Stammes. S. Gen 32,23-31. Er erwarb sich ein
Grundstück bei Sichern, schlug dort sein Zelt auf und baute einen Altar. In
der Genesis deutet nichts darauf hin, daß dort ein Brunnen war, es läßt sich
jedoch vermuten, daß es einen gab, da Jakob sich dort während einiger Zeit
niederließ. Sichern heißt auf Aramäisch Sichar.
148
«Mehr noch: es wird bis zum
ewigen Leben fließen. Es wird in denen, die es getrunken haben, bis zum ewigen
Leben fließen und aus ihm wird ewiges Leben sprießen, weil es eine Quelle des
Heils ist.»
«Gib mir von diesem Wasser, wenn
du es wirklich besitzest. Es ermüdet mich, bis hierher zu kommen. Ich werde so
keinen Durst mehr haben und werde nie krank oder alt werden.»
«Nur das ermüdet dich? Nichts
anderes? Hast du nur das Bedürfnis, für deinen armseligen Leib von diesem
Wasser zu schöpfen? Überlege, es gibt etwas, das mehr wert ist als der Körper.
Es ist die Seele. Jakob gab sich und den Seinen nicht nur das Wasser dieser
Erde, sondern er war auch darum besorgt, sich und den anderen die Heiligkeit,
nämlich das Wasser Gottes, zu vermitteln.»
«Ihr nennt uns Heiden... Wenn
das, was ihr sagt, wahr ist, dann können wir nicht heilig sein...» Die Frau
hat den unverschämten, ironischen Ton in der Stimme verloren und zeigt sich
nun unterwürfig und leicht verwirrt.
«Auch ein Heide kann tugendhaft
sein, und Gott, der gerecht ist, wird ihn für seine guten Werke belohnen. Es
wird keine vollkommene Belohnung sein, doch kann ich dir sagen, daß Gott auf
einen Heiden ohne Schuld mit weniger Strenge blickt als auf einen Gläubigen in
schwerer Schuld. Warum kommt ihr also nicht zum wahren Gott, wenn ihr doch
wißt, daß ihr ohne Schuld seid? Wie heißest du?»
«Fotinai.»
«Gut, Fotinai, antworte mir.
Schmerzt es dich, daß du nicht zur Heiligkeit streben kannst, weil du, wie du
sagst, Heidin bist, weil du, wie ich behaupte, noch immer von den Nebeln eines
alten Irrtums umgeben bist?»
«Ja, es schmerzt mich.»
«Warum lebst du dann nicht
wenigstens als tugendhafte Heidin?»
«Herr! ...»
«Ja. Kannst du es leugnen? Hole
deinen Mann und komme mit ihm hierher zurück.»
«Ich habe keinen Gatten...» Die
Frau wird immer verwirrter.
«Das stimmt, du hast keinen
Gatten. Fünf Männer hast du gehabt, und nun hast du einen bei dir, der nicht
dein Mann ist. War dies nötig? Auch deine Religion rät nicht zur Unzucht. Auch
ihr habt die zehn Gebote. Warum also führst du ein solches Leben, Fotinai?
Belastet es dich nicht, allen zu gehören, anstatt die ehrsame Gattin eines
Einzigen zu sein? Fürchtest du nicht deinen Lebensabend, an dem du allein mit
deinen schmerzlichen Erinnerungen sein wirst, mit deinen Ängsten, mit deinem
Bedauern? Ja, auch mit diesem. Angst vor Gott und den Schreckensbildern! Wo
sind deine Kinder?»
Die Frau senkt ihr Haupt tief und
schweigt.
«Du hast sie nicht auf dieser
Erde, aber ihre kleinen Seelen, denen du
149
es verwehrt hast, das Licht der
Welt zu erblicken, werden dich ohne Unterlaß anklagen. Schmuck, schöne
Kleider... ein prächtiges Haus... eine reichhaltige Tafel... Ja! Aber daneben
Leere, Tränen und innere Trostlosigkeit. Du bist ein unglücklicher Mensch,
Fotinai. Nur durch aufrichtige Reue, die Vergebung Gottes und mit ihr auch die
Verzeihung deiner Geschöpfe kannst du wieder reich werden.»
«Herr, ich sehe, daß du ein
Prophet bist, und ich schäme mich...»
«Doch vor dem Vater im Himmel
hast du dich nicht geschämt, als du Böses tatest ? Weine nicht aus Beschämung
vor dem Menschen... Komm her, neben mich, Fotinai, ich werde dir von Gott
erzählen. Vielleicht wußtest du zu wenig von ihm, und sicherlich hast du
deshalb so viele Fehler begangen. Wenn du den wahren Gott gekannt hättest,
dann hättest du dich nicht so entwürdigt. Er hätte dir zugesprochen und dir
geholfen...»
«Herr, unsere Väter haben auf
diesem Berge angebetet. Ihr sagt, daß man nur in Jerusalem anbeten soll. Doch
du sagst, es gibt nur einen Gott. Hilf mir zu verstehen, wo und wie ich es tun
soll...»
«Frau, glaube mir. Es naht die
Stunde, da man den Vater weder auf dem Berge von Samaria noch in Jerusalem
anbeten wird. Ihr betet den an, den ihr nicht kennt. Wir beten den an, den wir
kennen, denn das Heil geht aus den Juden hervor. Erinnerst du dich an die
Worte der Propheten? Doch es kommt die Stunde, vielmehr, sie hat schon
begonnen, da die wahren Verehrer Gottes den Vater im Geiste und in der
Wahrheit anbeten werden, und zwar nicht im alten, sondern nach einem neuen
Ritus, bei dem es keine Opfertiere mehr geben wird, sondern das ewige Opfer,
die sich im Feuer der Liebe verzehrende, unversehrte Opfergabe. Die Verehrung
Gottes wird sich in diesem geistigen Reich in geistiger Weise vollziehen und
von denen verstanden werden, welche fähig sind, Gott im Geist und in der
Wahrheit anzubeten. Gott ist Geist. Wer ihn anbetet, muß ihn in geistiger
Weise anbeten.»
«Du sprichst heilige Worte. Ich
weiß, denn auch wir wissen einiges, daß die Ankunft des Messias bevorsteht. Er
wird auch "Christus" genannt. Er wird uns alles lehren, wenn er da ist. Hier
in der Nähe lebt jener, den sie seinen Vorläufer nennen, und viele gehen zu
ihm, um ihn anzuhören. Aber er ist so streng! ... Du bist gütig... und die
armseligen Menschen fürchten dich nicht. Ich glaube, daß Christus gütig sein
wird. Sie nennen ihn den Friedensfürst. Werden wir noch lange auf ihn warten
müssen?»
«Ich habe dir gesagt, daß seine
Zeit schon da ist.»
«Wie kannst du das wissen? Bist
du vielleicht sein Jünger? Der Vorläufer hat viele Jünger. Auch Christus wird
sie haben.»
«Ich, der ich zu dir spreche, bin
Christus Jesus.»
«Du! ... Oh! ...» Die Frau, die
sich neben Jesus niedergelassen hatte, springt auf und will fliehen.
«Warum fliehst du, Frau?»
150
«Weil ich davor erschauere, bei
dir zu verweilen. Du bist heilig...»
«Ich bin der Retter. Ich bin
hierhergekommen – aus freiem Willen -da ich wußte, daß deine Seele des
Umherirrens müde ist. Deine "Speise" ekelt dich an... Ich bin gekommen, dir
eine neue Speise zu geben, die Ekel und Überdruß von dir nehmen wird... Da
kommen meine Jünger, die Brot für mich geholt haben. Doch ich bin schon
gesättigt, da ich dir die ersten Brosamen deiner Erlösung geben konnte.»
Die Jünger werfen der Frau mehr
oder weniger diskrete, verstohlene Blicke zu, doch keiner sagt ein Wort. Sie
geht davon, ohne weiter an das Wasser und den Krug zu denken.
«Hier sind wir, Meister», sagt
Petrus. «Sie haben uns gut behandelt. Da sind Käse, frisches Brot, Oliven und
Äpfel. Nimm, was du willst. Die Frau hat gut daran getan, den Krug
zurückzulassen. Damit wird es schneller gehen als mit unseren kleinen
Wasserbeuteln. Zuerst trinken wir, und dann füllen wir sie auf. So brauchen
wir die Samariter um nichts anderes zu bitten, nicht einmal darum, zu ihren
Brunnen gehen zu dürfen. Ißt du nicht? Ich wollte Fisch für dich kaufen, habe
aber keinen gefunden. Vielleicht hättest du ihn vorgezogen. Du bist müde und
bleich,»
«Ich habe eine Speise, die ihr
nicht kennt. Sie wird mir als Nahrung dienen und mich sehr erquicken.»
Die Jünger schauen sich fragend
an.
Jesus antwortet auf ihr stummes
Fragen: «Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat,
und das Werk zu Ende zu führen, von dem er wünscht, daß ich es vollende. Wenn
ein Sämann den Samen ausgestreut hat, kann er dann behaupten, er hätte schon
alles getan, um sagen zu können, er hätte geerntet? Nein. Wieviel bleibt ihm
noch zu tun, bis er sagen kann: "Nun ist meine Arbeit vollbracht!" Bis zu
jener Stunde kann er nicht ausruhen. Betrachtet diese kleinen Äcker unter der
heiteren Sonne der sechsten Stunde. Noch vor einem Monat, vor weniger als
einem Monat, war die Erde kahl und dunkel, weil sie vom Regen getränkt war.
Nun seht! Halme über Halme des kaum hervorgesprossenen Getreides, die von
zartem Grün sind und im grellen Licht noch heller erscheinen, bedecken den
Boden wie ein weißlicher leichter Schleier. Dies ist die zukünftige Ernte, und
ihr sagt, wenn ihr sie seht: "In vier Monaten ist Erntezeit. Die Sämänner
werden die Schnitter rufen, denn wenn auch nur einer für die Aussaat genügt,
so braucht es doch viele zum Ernten. Die einen wie die anderen sind zufrieden:
der eine, der einen kleinen Sack Körner ausgesät hat und nun die Kornkammern
vorbereiten muß, um sie aufzunehmen, und die anderen, die sich in wenigen
Tagen den Lebensunterhalt für einige Monate verdienen." Auch im Acker des
Geistes werden jene, die das ernten, was ich gesät habe, sich mit mir und wie
ich freuen, denn ich werde ihnen den Lohn und den gebührenden Anteil an der
Ernte geben. Ich werde ihnen geben, was sie für das Leben in meinem ewigen
151
Reich nötig haben. Ihr braucht
nur zu ernten. Die härteste Arbeit habe ich getan. Dennoch sage ich euch:
"Kommt, erntet von meinem Acker. Es freut mich, wenn ihr euch mit den Garben
meines Korns beladet. Wenn ihr all das Korn, das ich unermüdlich überall
ausgesät habe, eingebracht habt, dann wird der Wille Gottes erfüllt sein, und
ich werde mich zum Festmahl des himmlischen Jerusalem niedersetzen." Seht, da
kommen Samariter mit Fotinai. Übt Nächstenliebe an ihnen. Es sind Seelen, die
zu Gott kommen.»
183. BEI DEN BEWOHNERN VON SICHAR
Eine Gruppe von angesehenen
Samaritern, die von Fotinai angeführt wird, kommt auf Jesus zu. «Gott sei mit
dir, Rabbi. Die Frau hat uns gesagt, daß du ein Prophet bist und es nicht
unter deiner Würde hältst, mit uns zu sprechen. Wir bitten dich, bleibe bei
uns und versage uns dein Wort nicht, denn wenn es auch wahr ist, daß wir von
Judäa getrennt sind, so ist damit nicht gesagt, daß nur Judäa heilig und die
Sünde nur in Samaria sei. Auch bei uns gibt es Gerechte.»
«Diese Auffassung habe ich im
Gespräch mit dieser Frau vertreten... Ich dränge mich nicht auf, aber ich
verweigere mich auch nicht dem, der mich sucht.»
«Du bist gerecht. Die Frau hat
uns gesagt, daß du der Christus wärest. Ist das wahr? Antworte uns im Namen
Gottes.»
«Ich bin es. Die messianische
Zeit ist gekommen. Israel ist mit seinem König vereinigt, und nicht nur Israel
allein.»
«Aber du bist für jene gekommen,
die... die nicht im Irrtum sind wie wir», bemerkt ein stattlicher Greis.
«Mann, ich erkenne in dir das
Oberhaupt all dieser Menschen hier und sehe auch ein ehrliches Suchen nach der
Wahrheit. Höre nun, du, der du ein Gelehrter der Heiligen Schriften bist! Zu
mir wurde dasselbe gesagt, was der Geist zu Ezechiel sprach, als er ihm die
prophetische Sendung übertrug. "Menschensohn, ich sende dich zu den Kindern
Israels, zu den wiederspenstigen Völkern, die von mir abgefallen sind... Es
sind Kinder mit hartem Antlitz und verstocktem Herzen... Es kann sein, daß sie
dir zuhören und dann deine Worte, die ja meine sind, mißachten, denn es ist
ein rebellisches Volk; doch wenigstens werden sie wissen, daß unter ihnen ein
Prophet ist. Habe also keine Furcht vor ihnen und lasse dich nicht durch ihre
Reden erschrecken, denn sie sind ungläubig und widerspenstig... Überbringe
ihnen meine Worte, ob sie dich nun anhören wollen oder nicht. Tu, was ich dir
sage, höre auf das, was ich dir sage, damit nicht auch du widerspenstig wirst
wie sie. Iß daher jede Speise, die ich dir reiche." So
152
bin ich gekommen. Ich bilde mir
nichts ein und verlange nicht, wie ein Triumphator empfangen zu werden. Da
aber der Wille Gottes mein Honig ist, so will ich diesen Willen erfüllen und
euch, wenn ihr es wünscht, die Worte sagen, die der Geist in mich gelegt hat.»
«Wie kann der Ewige an uns
gedacht haben?»
«Weil er die Liebe ist, meine
Kinder!»
«So reden die Rabbis von Judäa
nicht.»
«Aber so spricht der Messias des
Herrn zu euch.»
«Es steht geschrieben, daß der
Messias von einer Jungfrau aus Judäa geboren würde. Wer ist deine Mutter und
wie wurdest du geboren?»
«Ich wurde in Bethlehem Ephrata
von Maria aus dem Stamme Davids, die mich vom Heiligen Geist empfangen hat,
geboren. Möget ihr es glauben!» Die schöne Stimme Jesu erschallt in freudigem
Triumph, als er die Jungfräulichkeit seiner Mutter verkündet.
«Dein Antlitz strahlt großes
Licht aus. Nein, du kannst nicht lügen. Die Kinder der Finsternis haben ein
finsteres Gesicht und trübe Augen. Du strahlst, dein Auge ist klar wie ein
Frühlingsmorgen, und deine Worte sind Güte. Kehre ein in Sichar, ich bitte
dich darum, und belehre die Söhne dieses Volkes. Dann wirst du wieder
weitergehen..., und wir werden uns des Sternes erinnern, der an unserem Himmel
vorüberzog...»
«Warum solltet ihr diesem nicht
folgen?»
«Wie könnten wir das?» Sie
sprechen, während sie sich auf die Stadt zu begeben. «Wir sind die
Abgespalteten. So sagt man wenigstens. Aber wir sind nun einmal in diesem
Glauben geboren und wissen nicht, ob es richtig ist, ihn aufzugeben.
Außerdem... gewiß, mit dir können wir reden, das fühle ich... Immerhin, auch
wir haben Augen, um zu sehen, und einen Verstand, um zu denken. Wenn wir auf
Reisen oder beim Handel euer Gebiet durchziehen, ist nicht alles, was wir
sehen, so heilig, daß es uns überzeugen könnte, daß Gott mit euch von Judäa
oder mit euch von Galiläa ist.»
«Wahrlich, ich sage dir, nicht
wegen der Beleidigungen und der Verwünschungen, sondern wegen des Beispiels
und des Mangels an Nächstenliebe wird Israel die Schuld zugeschrieben werden,
weil es nicht imstande war, euch zu überzeugen und euch zurückzuführen.»
«Welch eine Weisheit ist in dir!
Hört ihr?»
Alle stimmen mit einem Gemurmel
der Bewunderung Jesus zu. Inzwischen haben sie die Stadt erreicht, und viele
andere Menschen kommen hinzu, während sie sich zu einem Haus begeben.
«Höre, Rabbi. Du, der du weise
und gütig bist, befreie uns von einem Zweifel. Viel von unserer Zukunft kann
davon abhängen. Du, der du der Messias bist, also der Wiederhersteller des
Reiches Davids, müßtest dich gewiß freuen, dieses abgetrennte Glied wieder mit
dem Staat zu vereinigen. Ist es nicht so?»
153
«Ich bemühe mich nicht so sehr,
die beiden getrennten Glieder, die vergänglich sind, wiederzuvereinigen,
sondern vielmehr darum, alle Seelen wieder zu Gott zurückzuführen. Wenn ich in
einem Herzen die Wahrheit wiederherstellen kann, ist es mir eine große Freude.
Nun sage mir, welches sind deine Zweifel?»
«Unsere Väter haben gesündigt.
Seitdem sind die Seelen von Samaria Gott nicht mehr wohlgefällig. Welchen
Vorteil würde es uns also bringen, wenn wir dem Guten folgen würden? Wir sind
ja in den Augen Gottes für immer unrein.»
«Euer Los ist das aller
Schismatiker, die ewige, schmerzliche Erinnerung, die ständige
Unzufriedenheit. Doch ich will dir wieder mit Ezechiel antworten. "Alle Seelen
gehören mir" ' sagt der Herr. "Sowohl jene des Vaters als auch jene des
Sohnes. Doch nur die Seele, die gesündigt hat, wird sterben." Wenn ein Mensch
gerecht ist, wenn er nicht Götzen anbetet, nicht stiehlt und nicht Unzucht und
Wucher treibt, wenn er an Leib und Seele seines Nächsten Barmherzigkeit übt,
dann ist er in meinen Augen gerecht und wird das wahre Leben haben, und
weiter: wenn ein Gerechter einen widerspenstigen Sohn hat, wird dann auch
dieser Sohn das wahre Leben haben, weil sein Vater gerecht war? Nein, er wird
es nicht haben. Wenn der Sohn eines Sünders gerecht ist, wird er dann sterben
wie sein Vater, weil er dessen Sohn ist? Nein, er wird leben in Ewigkeit, weil
er gerecht gewesen ist. Es wäre ungerecht, wenn einer die Schuld des anderen
tragen müßte. Die Seele, die gesündigt hat, wird sterben. Jene, die nicht
gesündigt hat, wird nicht sterben. Wenn aber der, der gesündigt hat, seine
Sünden bereut und künftig in Gerechtigkeit lebt, dann wird auch er das wahre
Leben haben. Unser Gott, der Herr, der einzige und alleinige Herr, sagt: "Ich
will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und das wahre
Leben habe." Deshalb hat er mich gesandt, o ihr irrenden Söhne! Damit ihr das
wahre Leben habt. Ich bin das Leben. Wer an mich glaubt und an den, der mich
gesandt hat, wird das ewige Leben erlangen, selbst wenn er bis zur Stunde ein
Sünder war.»
«Hier ist mein Haus, Meister.
Verabscheust du es nicht, einzutreten?»
«Ich verabscheue nur die Sünde.»
«Dann komm und raste bei mir. Wir
werden zusammen das Brot brechen, und dann, wenn es dir nicht lästig fällt,
wirst du uns das Wort Gottes gewähren. Das von dir gegebene Wort hat einen
anderen Geschmack... und unsere Besorgnis liegt hierin: wir fühlen uns nicht
sicher, im Recht zu sein...»
«Alles würde sich in euch
beruhigen, wenn ihr es wagen würdet, offen zur Wahrheit zu kommen. Gott möge
zu euren Herzen sprechen, ihr Bewohner dieser Stadt. Es ist schon bald Abend.
Doch morgen zur dritten Stunde werde ich lange zu euch sprechen, wenn ihr
wollt. Gehet hin, und die Barmherzigkeit sei mit euch!»
154
184. VERKÜNDIGUNG DER
HEILSBOTSCHAFT IN SICHAR
Jesus spricht inmitten eines
Platzes zu einer großen Menschenmenge. Er ist auf eine kleine steinerne Bank
beim Brunnen gestiegen. Die Leute umringen ihn, und auch die Zwölf haben sich
um ihn geschart... und mit Gesichtern,... die Bestürzung, Ärger oder
offensichtliche Abscheu über Kontakte mit gewissen Leuten ausdrücken.
Besonders Bartholomäus und Judas
Iskariot zeigen offen ihren Unmut, und um sich in einer möglichst großen
Entfernung von den Samaritern zu halten, hat letzterer sich rittlings auf den
Ast eines Baumes gesetzt, als wolle er die Szene beherrschen, während
Bartholomäus sich in einer Ecke des Platzes an ein Haustor lehnt. Das
Vorurteil beherrscht alle. Jesus hingegen ist nicht anders als sonst. Vielmehr
würde ich sagen, daß er darauf bedacht ist, die Leute durch seine Würde nicht
einzuschüchtern und gleichzeitig versucht, seine Würde erstrahlen zu lassen,
um jeden Zweifel zu beseitigen. Er liebkost zwei oder drei kleine Kinder, die
er nach ihrem Namen fragt, kümmert sich um einen blinden Greis, dem er selbst
Almosen gibt, und antwortet auf zwei oder drei Fragen, die sich auf private
Angelegenheiten beziehen.
Die eine Frage ist von einem
Vater gestellt worden, dessen Tochter wegen einer Liebschaft von zu Hause
fortgelaufen ist und die nun um Verzeihung bittet.
«Gewähre ihr unverzüglich deine
Verzeihung.»
«Aber ich habe sehr darunter
gelitten, Meister, und leide immer noch! In weniger als einem Jahr bin ich um
zehn Jahre gealtert.»
«Die Verzeihung wird dir
Erleichterung bringen.»
«Das ist nicht möglich. Die Wunde
bleibt.»
«Das ist wahr. In der Wunde sind
zwei Dornen, die dir Schmerz bereiten. Der eine ist die unleugbare
Beleidigung, die dir deine Tochter zugefügt hat, der andere deine Bemühung,
ihr deine Liebe zu entziehen. Entferne wenigstens letzteren Dorn. Die
Verzeihung, die erhabenste Form der Liebe, wird ihn entfernen. Bedenke doch,
armer Vater, daß dieses Kind durch dich erzeugt wurde und allezeit Anrecht auf
deine Liebe hat. Wenn du sie von einer körperlichen Krankheit heimgesucht
sähest und wüßtest, daß nur du sie vor dem Tode bewahren könntest, würdest du
sie sterben lassen? Bestimmt nicht. Bedenke also, daß gerade du sie mit deiner
Verzeihung heilen und sie zu einem gesunden Empfinden zurückführen kannst.
Denn siehe, in ihr herrscht das, was es an Niedrigstem im Menschen gibt.»
«Du rätst mir also, zu
verzeihen?»
«Du mußt!»
«Aber wie werde ich es ertragen,
sie im Hause unter meinen Augen zu haben, ohne sie zu verfluchen nach all dem,
was sie begangen hat?»
155
«Dann hättest du ihr nicht
verziehen. Das Verzeihen besteht nicht darin, daß du ihr die Haustüre öffnest,
sondern daß du ihr dein Herz wieder öffnest. Sei gut zu ihr, Mann! Sollten wir
vielleicht die Geduld, die wir für ein störrisches Jungtier aufbringen, nicht
unserem eigenen Kind entgegenbringen ?»
Eine Frau hingegen will wissen,
ob sie den Schwager heiraten soll, um ihren Waisenkindern einen Vater zu
geben.
«Bist du sicher, daß er ein
wirklicher Vater wäre ?»
«Ja, Meister. Ich habe drei
Knaben, sie brauchen einen Mann, der sie führt.»
«Dann tue es und sei ihm eine
treue Gattin, wie du es deinem ersten Mann warst.»
Ein Dritter fragt, ob er eine
Einladung, nach Antiochien überzusiedeln, annehmen soll.
«Mann, warum willst du dorthin
gehen?»
«Hier fehlen mir die Mittel für
mich und die vielen Kinder. Ich habe einen Heiden kennengelernt, der mich
anstellen würde, weil er meine Fähigkeiten bei der Arbeit gesehen hat, und der
auch meinen Söhnen Arbeit gäbe. Doch ich möchte nicht... Du wirst dich
vielleicht über die Skrupel eines Samariters wundern, aber ich habe sie. Ich
möchte nicht, daß wir den Glauben verlieren. Denn jener Mann ist ja ein Heide,
weißt du.»
«Was hat das zu bedeuten? Nichts
verunreinigt, wenn man sich nicht verunreinigen will. Geh nur nach Antiochien
und bleibe dem wahren Gott treu. Er wird dich führen, und du wirst zudem zum
Wohltäter deines Herrn werden, der durch deine Rechtschaffenheit Gott
kennenlernen wird.»
Dann beginnt Jesus zu der Menge
zu sprechen.
«Ich habe viele von euch
angehört, und in allen habe ich einen geheimen Schmerz erkannt, ein Leid,
dessen ihr euch vielleicht selber nicht bewußt seid. Seit Jahrhunderten staut
sich dieses Leid in euren Herzen an, und weder die Erklärungen, die ihr euch
gebt, noch die Anschuldigungen, die euch treffen, können euch davon befreien.
Vielmehr verhärtet es sich und wird schwer und bedrückt euch wie Schnee, der
sich in hartes Eis verwandelt.
Ich bin nicht einer von euch und
auch nicht einer von denen, die euch anklagen. Ich bin Gerechtigkeit und
Weisheit und verweise euch zur Lösung eures Falles noch einmal auf Ezechiel
(vergl. Ez 23,1 u. ff.). Ezechiel spricht prophetisch von Samaria und
Jerusalem; er nennt sie Kinder ein und desselben Schoßes und gibt ihnen die
Namen Ohola und Oholiba. (Im ursprünglichen Sinne bedeutet Ohola "Ihr eigenes
Zelt" und Oholiba "Mein Zelt in ihr". Zelt, im religiösen alttestamentarischen
Sinne, heißt soviel wie Tabernakel, Tempel.) Die erste, welche dem
Götzendienst verfiel, war Ohola, die bereits nicht mehr mit dem Himmlischen
Vater vereint
156
und daher seiner geistigen Hilfe
beraubt war. Die Vereinigung mit Gott bedeutet immer Rettung. Ohola tauschte
den wahren Reichtum, die wahre Macht und die wahre Weisheit mit dem armseligen
Reichtum, der Macht und Weisheit eines, der Gott gegenüber noch armseliger war
als sie, und ließ sich von ihm derart verführen, daß sie von der Lebensart
ihres Verführers versklavt wurde. Sie glaubte sich stark, wurde aber schwach.
Sie glaubte sich mächtig, verlor aber an Ansehen, und durch ihr leichtsinniges
Benehmen wurde sie zur Törin. Wenn einer sich unvorsichtigerweise von einer
Seuche anstecken läßt, dann gelingt es ihm nur schwer, sich davon zu befreien.
Ihr werdet sagen: "Wir sollten
geringer sein? Nein, wir waren mächtig." Mächtig ja, aber wie? Um welchen
Preis? Ihr wißt es. Wie viele, auch Frauen, erwerben den Reichtum um den
schrecklichen Preis ihrer Ehrbarkeit! Sie erwerben etwas Vergängliches und
verlieren etwas Unvergängliches: den guten Ruf.
Oholiba, die sah, daß die Torheit
der Ohola Reichtum eingebracht hatte, wollte sie nachahmen und wurde noch
törichter als Ohola; und zwar versündigte sie sich in doppelter Weise, denn
der wahre Gott war mit ihr, und sie hätte nie die Kraft, die sie dank dieser
Vereinigung besaß, mit Füßen treten dürfen. Harte und furchtbare Strafe ist
die Folge gewesen, und eine noch größere wird die zweifach törichte und
unkeusche Oholiba treffen. Gott wird sich von ihr abwenden. Er tut es schon,
indem er sich jenen zuwendet, die nicht aus Judäa sind. Man kann Gott nicht
Ungerechtigkeit vorwerfen, denn er drängt sich nicht auf. Er öffnet allen
seine Arme und lädt alle ein, doch wenn einer sagt: "Geh weg!" dann geht er.
Er geht auf die Suche nach Liebe und lädt andere ein, bis er einen Menschen
findet, der sagt: "Ich komme."
Daher sage ich euch, daß euch
dieser Gedanke in eurer Trübsal trösten wird, ja, er muß euch Trost geben:
Ohola, gehe in dich, Gott ruft dich!
Die Weisheit des Menschen besteht
darin, daß er imstande ist, sein Unrecht einzusehen, die Weisheit der Seele
besteht in der Liebe zum wahren Gott und seiner Wahrheit. Schaut nicht nach
Oholiba, Phönizien, Ägypten oder Griechenland. Schaut auf zu Gott. Dort ist
die Heimat jeder gerechten Seele, dort, im Himmel! Es gibt nicht viele Gebote,
sondern nur eines: das Gebot Gottes. Mit diesem Gesetzbuch erlangt man das
ewige Leben. Sagt nicht: "Wir haben gesündigt", sondern sagt: "Wir wollen
nicht mehr sündigen." Daß Gott euch noch liebt, beweist er euch, indem er sein
"Wort" sendet, um euch zu rufen: "Kommt!" Kommt, sage ich euch. Werdet ihr
beleidigt und geächtet? Von wem? Von Geschöpfen, wie ihr es seid. Doch Gott
ist größer als diese, und er sagt euch: "Kommt." Es wird der Tag kommen, da
ihr darüber jubeln werdet, nicht im Tempel gewesen zu sein... In eurem Geiste
werdet ihr darüber jubeln. Aber noch mehr werden die Herzen darüber jubeln,
denn über die Herzen der Rechtschaffenen,
157
es in Samaria gibt, wird schon
das Verzeihen Gottes herabgekommen sein. Bereitet euch darauf vor. Kommt zum
Retter der Welt, o Kinder Gottes, die ihr vom rechten Weg abgekommen seid.»
«Aber selbst wenn einige kommen,
so werden uns die auf der anderen Seite nicht wollen.»
«Nochmals antworte ich euch mit
dem Priester und Propheten: "Ich nehme den Stab Josephs, der in der Hand
Ephraims ist, und der Stämme Israels, seiner Verbündeten, und lege zu ihnen
den Stab Judas und mache sie zu einem Stab, daß sie in meiner Hand eins
seien..." Ja, nicht zum Tempel, zu mir sollt ihr kommen. Ich weise euch nicht
zurück. Ich bin es, der, der König genannt wird, Herrscher über alle. Der
König der Könige bin ich. Ich werde euch alle reinigen, o Völker, die ihr
gereinigt werden wollt. Ich werde euch wieder vereinigen, ihr Herden ohne
Hirten oder mit götzendienerischen Hirten, denn ich bin der Gute Hirte. Ich
werde euch ein einziges Zelt geben und es mitten unter meinen Gläubigen
aufstellen. Dieses Zeit wird Quelle des Lebens und Brot des Lebens sein, es
wird Licht, Rettung, Schutz und Weisheit sein. Es wird alles sein, denn es
wird der "Lebendige" sein, der den Toten als Speise gereicht wird, um sie zum
Leben auferstehen zu lassen. Es wird Gott sein, der sich ausgießt mit seiner
Heiligkeit, um zu heiligen. Das bin ich, und ich werde es sein. Die Zeit des
Hasses, der Verständnislosigkeit und der Furcht ist überstanden. Kommt! Volk
Israels! Getrenntes Volk! Betrübtes Volk! Fernes Volk! Geliebtes, unendlich
geliebtes Volk, weil du krank und geschwächt bist, zu Tode verletzt durch
einen Pfeil, der dir die Adern deiner Seele durchschnitten und die lebendige
Vereinigung mit deinem Gott entweichen ließ: Komm! Komm zurück zum Schoße, aus
dem du geboren wurdest; komm an die Brust, die dir Leben spendet. Güte und
Wärme erwarten dich hier noch immer. Immer! Komm! Komm zum Leben und zum
Heil.»
185. DER ABSCHIED VON DEN
BEWOHNERN SICHARS
Jesus sagt zu den Samaritern
Sichars: «Bevor ich euch verlasse, denn ich habe auch anderen Menschen die
Frohe Botschaft zu verkünden, will ich euch lichtvolle Wege der Hoffnung
eröffnen und euch auf sie führen mit den Worten: Geht beruhigt, denn das Ziel
ist euch sicher. Heute führe ich nicht den großen Ezechiel an, sondern den
Lieblingsjünger des Jeremias, den sehr großen Propheten.
Baruch spricht zu euch. Wahrlich,
er tritt mit euren Herzen vor den erhabenen Gott im Himmel, und er tritt für
eure Herzen ein, nicht nur für jene der Samariter, sondern für alle, o ihr
Stämme des auserwählten
158
Volkes, die ihr euch in
vielfältiger Weise versündigt habt. Auch eure Herzen nimmt er, ihr heidnischen
Völker, die ihr fühlt, daß es unter den vielen Göttern, denen ihr dient, einen
unbekannten Gott gibt, den eure Seele erahnt als den Einzigen und Wahren, und
den nur eure Schwerfälligkeit euch zu suchen hindert, um ihn kennenzulernen,
so wie euer Herz es ersehnt. Wenigstens ein moralisches Gesetz wurde euch, o
Heiden, o Götzendiener, gegeben, weil ihr Menschen seid, und der Mensch hat in
sich etwas innewohnend, das von Gott kommt und den Namen Seele hat, das zum
Guten mahnt und zu einem gottgefälligen Leben anspornt. Ihr jedoch habt diese
Seele gezwungen, Sklavin eines lasterhaften Fleisches zu sein, indem ihr das
moralische Gesetz der Menschen, das in euch wohnte, übertreten habt. Auch
menschlich gesehen wurdet ihr zu Sündern, denn ihr habt euch selbst und eure
Glaubensauffassung auf eine Stufe der Bestialität herabgewürdigt, das euch
unter den Rang der vernunftlosen Geschöpfe erniedrigt. Hört mich trotzdem alle
an! Ihr werdet um so mehr begreifen, je mehr ihr nach eurer Kenntnis des
übernatürlichen Moralgesetzes handelt, das euch vom wahren Gott gegeben worden
ist.
Betet mit den Worten Baruchs, und
dieses sein Gebet soll aus euren gedemütigten Herzen in einer würdevollen
Demut kommen, die nicht Entwürdigung oder Feigheit ist, sondern klare
Erkenntnis der eigenen elenden Verfassung und der heilige Wunsch, das Mittel
für eine geistige Besserung zu finden. Baruch betet so: "Sieh, o Herr, von
deinem Heiligtum auf uns, neige dein Ohr zu uns und höre uns an! Öffne deine
Augen und bedenke, daß nicht die Toten in der Unterwelt, deren Geist vom Leib
getrennt ist, des Herrn Ehre und Gerechtigkeit preisen, sondern die von der
Wucht des Unglücks bedrückte Seele, die, gebeugt und schwach, mit
niedergeschlagenen Augen einhergeht. Die nach dir hungernde Seele, o Gott,
preist deine Ehre und Gerechtigkeit." Baruch weint demütig, und jeder Gerechte
muß mit ihm weinen, wenn er die Schicksalsschläge sieht und beim rechten Namen
nennt, die aus einem starken Volk ein trauriges, geteiltes und unterdrücktes
Volk gemacht haben: "Wir haben nicht auf deine Stimme gehört, und du hast
deine Worte erfüllt, die du durch deine Diener, die Propheten, verkündet
hast... Nun sind die Gebeine unserer Könige und unserer Väter aus den Gräbern
geworfen und der Glut der Sonne und der Kälte der Nacht ausgesetzt, und die
Bewohner sind unter schrecklichen Qualen durch den Hunger, das Schwert und die
Pest umgekommen. Sogar den Tempel, in dem dein Name angerufen wurde, hast du
wegen der Bosheit Israels und Judäas zu dem werden lassen, was er heute ist."
O Kinder des Vaters, sagt nicht:
"Sowohl unser als auch euer Tempel ist immer wieder aufs neue aufgebaut worden
und sie sind schön." Nein, ein Baum, der vom Gipfel bis zum Wurzelstock von
einem Blitz gespalten wurde, kann nicht überleben. Er kann wohl ärmlich
dahinvegetieren, und
159
in einem Aufbäumen der Triebe,
die aus den Wurzeln sprießen, weiterleben, doch er verbleibt ein unfruchtbares
Gestrüpp, niemals mehr wird es der üppige Baum sein, reich an gesunden,
köstlichen Früchten. Die Zersetzung, die mit der Trennung begann, wird immer
ausgeprägter, obwohl die materielle Struktur unversehrt, ja sogar schön und
neu erscheint. Die Gewissen derer, die in ihr wohnen, werden zerfallen. Dann
wird die Stunde kommen, da jede übernatürliche Flamme ausgelöscht ist und dem
Tempel, dem Altar aus kostbarem Metall, das unablässig durch die Wärme des
Glaubens und der Liebe seiner Diener erwärmt werden muß, das fehlt, was sein
Leben ausmacht. Kalt, leblos, verunreinigt und voll von Toten wird er in
Verwesung übergehen. Fremde Raben werden sich auf ihn stürzen und die Lawine
göttlicher Strafe wird aus ihm eine Ruine machen.
Söhne Israels, betet weinend mit
mir, eurem Retter. Meine Stimme soll eure Stimme unterstützen, und sie, die es
vermag, möge bis zum Throne Gottes vordringen. Wer mit Christus, dem Sohn des
Vaters, betet, wird von Gott, dem Vater des Sohnes, erhört. Laßt uns das alte,
gerechte Gebet Baruchs beten: "Herr, Allmächtiger, Gott Israels, jede
bedrängte Seele und jeder kummervolle Geist ruft zu dir. Erhöre uns, o Herr
und erbarme dich, denn du bist ein Gott der Barmherzigkeit. Erbarme dich
unser, denn wir haben gegen dich gesündigt. Du thronst in alle Ewigkeit und
wir sollten auf ewig vernichtet sein? Herr, Allmächtiger, Gott Israels, erhöre
das Gebet der Toten Israels und ihrer Kinder, die sich gegen dich versündigt
haben. Sie haben nicht auf die Stimme des Herrn, ihres Gottes gehört, und so
ist das Unheil über uns gekommen. Gedenke nicht der Bosheit unserer Väter,
sondern vielmehr deiner Macht und deines Namens, denn diesen Namen rufen wir
an und sagen uns los vom Unrecht unserer Väter. Erbarme dich unser!»
So sollt ihr beten und euch
wahrhaftig bekehren. Ihr sollt zurückkehren zur wahren Weisheit, die Gottes
ist und im Buch der Gebote Gottes und im Gesetz, das ewig währt, zu finden
ist. Ich, der Messias Gottes, bin von neuem gekommen, um dieses Gesetz in
seiner einfachen, unwandelbaren Form den armen Menschen dieser Erde zu
bringen, indem ich ihnen die Frohe Botschaft der Zeit der Erlösung, der
Vergebung, der Liebe und des Friedens verkünde. Wer diesen Worten glaubt, wird
das ewige Leben erlangen.
Ich verlasse euch nun, ihr
Einwohner von Sichar, die ihr gut zum Messias Gottes gewesen seid. Ich lasse
euch in meinem Frieden.»
«Bleibe noch!»
«Komm wieder!»
«Niemand wird jemals wieder so zu
uns sprechen, wie du gesprochen hast.»
«Sei gepriesen, guter Meister!»
«Segne mein Kind.»
160
«Bete für mich, du Heiliger.»
«Laß mich eine deiner Fransen als
Segenszeichen aufbewahren.»
«Vergiß Abel nicht.»
«Auch mich nicht, Timotheus.»
«Und mich, Jorai.»
«An euch alle, an euch alle werde
ich mich erinnern! Der Friede komme über euch!»
Sie begleiten ihn bis einige
hundert Meter vor die Stadt, erst dann kehren sie langsam zurück...
186. UNTERWEISUNG DER APOSTEL;
WUNDER AN DER FRAU VON SICHAR
Jesus geht allein voran, dicht an
einer Hecke von Kakteen entlang, die alle anderen entlaubten Pflanzen
verspottend, in der Sonne glänzen mit ihren dicken, stachelbewehrten
Schaufeln, an denen noch vereinzelte Früchte hängen, die die Witterung
ziegelrot werden ließ. Da und dort sind schon einige frühzeitige, rot und gelb
bemalte Blüten sichtbar.
Hinter ihm flüstern die Apostel
miteinander, und es scheint mir nicht gerade, daß sie ihren Meister loben.
Jesu wendet sich plötzlich um und sagt – «Wer auf den Wind achtet, kommt nicht
zum Säen, und wer nach den Wolken schaut, kommt nicht zum Ernten. Das ist ein
altes Sprichwort. Doch ich halte mich daran. Ihr seht, daß ich dort, wo ihr
widerwärtige Winde befürchtet habt und euch nicht aufhalten wolltet, Brachland
und Gelegenheit zum Säen gefunden habe. Trotz "eurer" Wolken bin ich der Ernte
schon sicher und möchte euch auch sagen, daß ihr gut daran tätet, diese Wolken
zu verbergen, wo die Barmherzigkeit ihre Sonne zeigen möchte.»
«Doch bis anhin hat dich doch
niemand um ein Wunder gebeten. Sie haben einen sehr seltsamen Glauben an
dich.»
«Glaubst du denn, Thomas, daß nur
die Bitte um ein Wunder beweist, daß der Glaube vorhanden ist? Du irrst dich.
Gerade das Gegenteil ist der Fall. Wer ein Wunder verlangt, um glauben zu
können, bekundet damit, daß er ohne Wunder, also ohne einen greifbaren Beweis,
nicht glauben würde. Wer aber auf das Wort eines anderen hin sagt: "Ich
glaube", der bekundet den größten Glauben.»
«Das heißt also, daß die
Samariter besser sind als wir!»
«Das sage ich nicht. Doch in
Hinblick auf ihre beeinträchtigte seelische Verfassung ist ihre Fähigkeit,
Gott zu verstehen, viel größer als die vieler Gläubiger in Palästina. Diese
Erfahrung werdet ihr noch oft in eurem Leben machen und ich bitte euch,
erinnert euch auch an diese Begebenheit,
161
damit ihr imstande seid, den
Seelen, die zum Glauben an Christus kommen, ohne Vorurteile zu begegnen.»
«Jedoch verzeihe, Jesus, wenn ich
es dir sage: mir scheint, daß es bei all dem Haß, den man gegen dich hat,
gefährlich für dich ist, neue Anschuldigungen zu provozieren. Wenn die Männer
des Hohen Rates wüßten, daß du...»
«Sag es nur: "Liebe geschenkt
hast." Ja, Liebe habe ich gegeben und gebe ich, Jakobus. Und du, der du mein
Vetter bist, kannst verstehen, daß ich nur Liebe empfinden kann. Ich habe dir
gezeigt, daß ich auch für jene nur Liebe empfinde, die meine Verwandten und
Mitbürger und mir feindlich gesinnt sind. Sollte ich also für jene, die mich
verehrt haben ohne mich zu kennen, keine Liebe haben? Die Mitglieder des Hohen
Rates mögen soviel Böses tun, wie sie wollen, doch selbst wenn ich an ihre
künftigen Bosheiten denke, wird all dies kein Grund sein, meiner
allgegenwärtigen, überall wirkenden Liebe Schranken zu setzen. Übrigens, auch
wenn ich es tun wollte, würde es den Hohen Rat nicht daran hindern, in seinem
Haß neue Beschuldigungen zu finden.»
«Aber du, Meister, verlierst
deine Zeit in einem götzendienerischen Land, während man vielerorts in Israel
auf dich wartet. Du sagst, jede Stunde soll dem Herrn geweiht sein. Sind denn
dies nicht verlorene Stunden?»
«Der Tag, den man dazu verwendet,
verlorene Schafe zu sammeln, ist nicht vergeudet. Er ist nicht verloren,
Philippus. Es steht geschrieben: "Wer das Gesetz achtet, entrichtet viele
Opfer,... wer aber Wohltaten spendet, bringt ein Dankesopfer dar." Es steht
geschrieben: "Gib Gott, dem Allmächtigsten in gleicher Weise, wie er dir
gegeben, mit frohem Herzen, wie du es vermagst." Ich handle so, Freund. Die
Zeit, in der man Opfer bringt, ist nie vergeudete Zeit. Ich übe Barmherzigkeit
und benütze die mir gegebenen Fähigkeiten, indem ich meine Arbeit Gott weihe.
Seid also getrost. Und übrigens... diejenigen unter euch, die eine Bitte um
ein Wunder hören wollten, um sich zu überzeugen, daß man in Sichar an mich
glaubt, werden nun zufriedengestellt. Jener Mann dort folgt uns gewiß aus
irgendeinem Grund. Warten wir auf ihn.»
Tatsächlich nähert sich ihnen ein
Mann. Er scheint unter einer schweren Bürde gebeugt, die er, im Gleichgewicht,
auf beiden Schultern trägt. Als er sieht, daß die Gruppe stehenbleibt, hält er
ebenfalls inne.
«Er will uns Böses antun. Er
bleibt stehen, weil er sieht, daß wir ihn bemerkt haben. Oh, es sind eben
Samariter!»
«Bist du sicher, Petrus ?»
«Oh, ganz bestimmt!»
«Dann bleibt hier, ich will ihm
entgegengehen.»
«Das nicht, Herr. Wenn du gehst,
komme auch ich.»
«Dann komm also.»
162
Jesus geht dem Mann entgegen.
Petrus trottet, neugierig und ablehnend zugleich, an seiner Seite. Als sie nur
mehr wenige Meter voneinander entfernt sind, fragt Jesus: «Was willst du,
Mann? Was suchst du?»
«Dich.»
«Warum bist du nicht in der Stadt
zu mir gekommen?»
«Ich wagte es nicht... Es wäre
zuviel Schmerz und Scham für mich gewesen, wenn du mich in Anwesenheit aller
Leute zurückgewiesen hättest.»
«Du hättest mich rufen können,
als ich mit den Meinen wieder allein war.»
«Ich hoffte, dich einmal ganz
allein anzutreffen, wie Fotinai. Ich habe einen schwerwiegenden Grund, mit dir
allein zu sein...»
«Was willst du? Was trägst du mit
soviel Mühe auf den Schultern?»
«Meine Frau. Sie ist von einem
Geist besessen, der aus ihr einen leblosen Leib und umnachteten Geist gemacht
hat. Ich muß ihr das Essen eingeben, sie ankleiden und tragen wie ein Kind. Es
ist ganz plötzlich geschehen, ohne Krankheit... Sie nennen sie die
"Besessene". Ich leide sehr darunter. Es ist eine große Plage, und ich habe
auch viele Kosten. Schau.»
Der Mann stellt das Bündel mit
dem reglosen Körper, der in einen Mantel gehüllt ist und wie ein Sack
aussieht, auf den Boden. Er entschleiert das Antlitz einer noch jungen Frau,
die, wenn sie nicht atmen würde, tot schiene. Die Augen sind geschlossen, der
Mund ist halbgeöffnet... das Gesicht einer Toten.
Jesus beugt sich über die
Unglückliche, die am Boden liegt, und betrachtet sie. Dann sieht er den Mann
an. «Glaubst du, daß ich es kann? Warum glaubst du es?»
«Weil du der Christus bist.»
«Aber du hast nichts gesehen, was
dir das beweisen könnte.»
«Ich habe dein Wort gehört. Das
genügt.»
«Petrus, hörst du ? Was meinst
du, was ich nun angesichts eines solch starken Glaubens tun soll?»
«Aber... Meister... Du... Ich...
Tue du, was richtig ist.» Petrus ist sehr verlegen.
«Gewiß werde ich es tun. Mann,
schau!» Jesus nimmt die Hand der Frau und befiehlt: «Weiche von dieser Frau!
Ich will es!»
Die Frau, die unbeweglich dalag,
wird von einem heftigen Krampf befallen, der zuerst stumm verläuft, dann von
Wimmern und Klagen begleitet wird, die in einem lauten Aufschrei enden, bei
dem sie die bis anhin geschlossenen Augen aufreißt, wie jemand, der aus einem
Alptraum erwacht. Schließlich beruhigt sie sich, schaut ein wenig erstaunt um
sich und blickt Jesus an, den Unbekannten, der ihr zulächelt... Sie schaut auf
den Staub des Weges, auf dem sie liegt, auf ein Grasbüschel, das am Wegrand
wächst und auf dem die rotweißen Köpfchen der Gänseblümchen
163
wie Perlen leuchten und nahe
daran sind, sich in einem Kranz zu öffnen. Sie sieht die Kakteenhecke, den
blauen Himmel und erblickt dann ihren Mann... ihren Mann, der sie ängstlich
betrachtet und jede ihrer Bewegungen beobachtet. Sie lächelt, springt dann mit
der endgültig wiedererlangten Freiheit auf die Beine und flüchtet sich an die
Brust ihres Gatten, der sie weinend liebkost und umarmt.
«Was ist los ? Weshalb bin ich
hier ? Warum ? Wer ist dieser Mann ?»
«Es ist Jesus, der Messias. Du
warst krank. Er hat dich geheilt. Sage ihm, daß du ihn liebst.»
«Oh! Ja! Danke! ... Aber was
hatte ich denn? Meine Kinder... Simon... Ich erinnere mich nicht an den
gestrigen Tag, doch ich erinnere mich, daß ich Kinder habe...»
Jesus sagt: «Es ist nicht nötig,
daß du dich des gestrigen Tages erinnerst. Vergiß nie den heutigen Tag und sei
ein guter Mensch. Lebt wohl! Seid gute Menschen, und Gott wird mit euch sein.»
Jesus entfernt sich raschen Schrittes unter den Lobpreisungen der beiden.
Als Jesus die anderen wieder
erreicht, die bei der Hecke auf ihn warten, sagt er nichts zu ihnen. Dann aber
wendet er sich an Petrus: «Nun? Du, der du so sicher warst, daß jener Mann mir
etwas Böses antun wollte, was sagst du nun? Simon, Simon! Wieviel fehlt dir
noch, um vollkommen zu sein! Wieviel fehlt euch noch! Ihr habt, abgesehen vom
offenkundigen Götzenkult, dieselben Fehler wie sie hier und seid zudem noch
überheblich im Urteilen. Laßt uns unsere Mahlzeit einnehmen. Wir können den
Ort, wo ich noch vor Anbruch der Nacht eintreffen wollte, nicht mehr
erreichen. Wir werden in irgendeiner Scheune schlafen, wenn wir nichts
Besseres finden.»
Mit dem bitteren Nachgeschmack
des Tadels in den Herzen setzen sich die Zwölf wortlos nieder und nehmen ihre
Mahlzeit ein.
Die Sonne eines friedlichen Tages
bescheint die Landschaft, die in sanften Wellen zu einer Ebene abfällt.
Als die Mahlzeit beendet ist,
verweilen sie noch etwas, bis Jesus aufsteht und sagt: «Andreas und du, Simon,
kommt! Ich möchte sehen, ob die Bewohner des Hauses dort uns freundlich oder
feindlich gesinnt sind», und er macht sich auf den Weg, während die anderen
stillschweigend zurückbleiben, bis Jakobus des Alphäus zu Judas Iskariot sagt:
«Ist denn die Frau, die des Weges kommt, nicht von Sichar?»
«Ja, sie ist es. Ich erkenne sie
am Gewand. Was will sie wohl?»
«Ihres Weges gehen», antwortet
Petrus verärgert.
«Nein. Sie blickt zu sehr auf
uns, und schirmt sich die Augen mit der Hand ab.»
Die Jünger beobachten sie, bis
sie angekommen ist und ganz bescheiden fragt: «Wo ist euer Meister?»
«Nicht hier. Warum fragst du nach
ihm?»
164
«Ich sollte ihn sprechen...»
«Er verliert seine Zeit nicht mit
Frauen», entgegnet Petrus trocken.
«Ich weiß es, mit den Frauen
nicht, aber ich bin eine Frauenseele, die ihn nötig hat.»
«Laß sie machen», rät Judas des
Alphäus, und antwortet Fotinai: «Warte, er kommt gleich zurück.»
Die Frau stellt sich in die Ecke
einer Wegbiegung und schweigt, während die Jünger sich nicht mehr um sie
kümmern. Doch Jesus kehrt bald zurück, und Petrus sagt: «Da ist der Meister.
Sage ihm, was du ihm zu sagen hast und beeile dich.»
Die Frau antwortet ihm nicht,
sondern läßt sich vor Jesu Füßen auf die Knie nieder und verneigt sich
schweigend bis zur Erde.
«Fotinai, was willst du von mir?»
«Deine Hilfe, Herr. Ich bin so
schwach, und ich will nicht mehr sündigen. Ich habe dies dem Mann bereits
gesagt. Doch jetzt, da ich keine Sünderin mehr bin, komme ich nicht mehr
weiter. Das Gute ist mir fremd. Was soll ich tun? Sage du es mir. Ich bin nur
Schlamm. Aber dein Fuß betritt auch den Staub des Weges, um zu den Seelen zu
gelangen. Zertritt auch meinen Schlamm, aber komm und gib mir deinen Rat.» Sie
weint.
«Mir könntest du als
alleinstehende Frau nicht folgen. Doch wenn du wirklich nicht mehr sündigen
willst und die Weisheit, Sünden zu vermeiden, lernen möchtest, dann kehre mit
reuiger Gesinnung in dein Haus zurück und warte. Es wird der Tag kommen, da du
mit vielen anderen, ebenfalls geretteten Schwestern, bei deinem Erlöser sein
kannst, um die Wissenschaft des Guten zu erlernen. Geh und habe keine Furcht.
Bleibe deinem jetzigen Vorsatz, nicht mehr zu sündigen, treu. Leb wohl.»
Die Frau küßt den Staub, steht
auf, geht einige Schritte rückwärts und entfernt sich dann in Richtung
Sichar...
187. JESUS BESUCHT DEN TÄUFER BEI
ENNON
Es ist eine mondhelle Nacht, so
klar, daß die Landschaft in allen Einzelheiten erkennbar ist und die Felder
mit dem jungen Getreide einem Teppich aus grünsilbernem Filz gleichen, der von
den dunklen Bändern der Pfade durchzogen ist und von den Bäumen bewacht wird,
die auf der vom Mond beschienenen Seite ganz weiß, auf der Rückseite jedoch
tief schwarz erscheinen.
Jesus ist allein und geht
entschlossen und sehr schnell seines Weges, bis er zu einem Wasserlauf kommt,
der gurgelnd in nordöstlicher Richtung zur Ebene hinabfließt. Er folgt ihm bis
zu einer einsamen Stelle an einem wilden, steilen Ufer. Schließlich macht er
noch einen Bogen, steigt einen
165
Pfad empor und gelangt zu einem
natürlichen Unterstand am Hang des Hügels.
Er tritt ein und beugt sich über
ein liegendes Wesen, das kaum kenntlich ist, da der Mondschein, der den Pfad
erleuchtet, nicht in die Höhle eindringt. Jesus ruft: «Johannes!»
Der Mann erwacht und setzt sich,
noch vom Schlaf benommen, auf. Doch als ihm bewußt wird, wer ihn gerufen hat,
springt er auf, um sich gleich vor Jesus niederzuwerfen und zu sagen: «Wie
geschieht mir, daß mein Herr zu mir gekommen ist?»
«Ich bin gekommen, um dein und
mein Herz glücklich zu machen. Du sehntest dich nach mir, Johannes. Da bin
ich. Steh auf! Laßt uns in den Mondschein hinaustreten und uns zum Gespräch
auf den Felsblock bei der Grotte setzen.»
Johannes gehorcht, er steht auf
und tritt hinaus. Doch als Jesus sich gesetzt hat, kniet er in seinem
Schafsfell, das seinen sehr mageren Körper nur dürftig bedeckt, vor Christus
nieder und streicht sein langes, wirres Haar, das ihm vor die Augen gefallen
war, zurück, um den Sohn Gottes besser betrachten zu können.
Der Gegensatz ist kraß. Jesus ist
blaß und blond, hat weiches, geordnetes Haar und einen kurzen Bart an der
unteren Gesichtshälfte. Johannes hingegen hat ein wahres Gewirr von
pechschwarzem Haar, aus dem nur zwei tiefliegende, wie von Fieber glänzende
Augen hervorstechen.
«Ich bin gekommen, um dir "danke"
zu sagen. Du hast mit der Vollkommenheit der Gnade, die in dir ist, deine
Mission als mein Vorläufer erfüllt und wirst sie weiterhin erfüllen. Wenn die
Stunde gekommen ist, wirst du an meiner Seite in den Himmel eingehen, denn du
hast alles von Gott verdient. Doch in der Erwartung dieses Ereignisses wirst
du schon den Frieden des Herrn genießen, mein geliebter Freund.»
«Bald schon werde ich in den
Frieden eingehen. Mein Meister und mein Gott, segne deinen Knecht, um ihn für
die letzte Prüfung zu stärken. Es ist mir nicht unbekannt, daß diese nunmehr
sehr nahe ist, und daß ich noch ein Zeugnis abzulegen habe: jenes des Blutes.
Dir, mehr noch als mir, ist es bekannt, daß meine Stunde naht. Dein Kommen ist
Ausdruck der barmherzigen Güte deines Gottes-Herzens, das den letzten Märtyrer
Israels und den ersten Märtyrer der neuen Zeit stärken wollte. Aber sage mir
nur eins: werde ich lange auf dein Kommen warten müssen?»
«Nein, Johannes. Nicht viel
länger als die Zeit, die zwischen deiner und meiner Geburt verstrichen ist.»
«Der Allerhöchste sei dafür
gepriesen. Jesus... Darf ich so zu dir sagen?»
«Du darfst es, aufgrund unserer
Verwandtschaft und wegen deiner Heiligkeit. Dieser Name, den auch die Sünder
aussprechen, darf vom Heiligen Israels ausgesprochen werden. Jenen dient er
zur Rettung, für
166
dich soll er zärtliche Liebe
sein. Was willst du von Jesus, deinem Meister und Vetter?»
«Bald werde ich sterben. Doch,
wie ein Vater sich um seine Kinder sorgt, so sorge ich mich um meine Jünger.
Meine Jünger... Du bist Meister und weißt, welch eine Liebe wir für sie
empfinden. Die einzige Sorge ist, daß sie, wenn ich sterbe, sich wie Schafe
ohne einen Hirten verirren könnten. Nimm du sie auf. Ich gebe dir die drei,
die dir angehören und mir in deiner Erwartung vollkommene Jünger gewesen sind,
zurück. In ihnen, insbesondere in Matthias, ist die Weisheit wirklich
gegenwärtig. Andere habe ich noch, auch sie werden zu dir kommen. Doch gewähre
mir, daß ich dir diese persönlich anvertraue. Es sind die drei teuersten
Jünger.»
«Auch mir sind sie teuer. Sei
beruhigt, Johannes, sie werden nicht verlorengehen, weder diese noch die
anderen, die du als wahre Jünger hast! Ich nehme dein Erbe an und werde
darüber wachen wie über den kostbarsten Schatz, den ich von meinem
vollkommenen Freund und Diener des Herrn empfangen habe.»
Johannes wirft sich auf die Erde
und – was bei einer so strengen Persönlichkeit beinahe unmöglich scheint – er
weint laut schluchzend in seliger Freude.
Jesus legt ihm die Hand aufs
Haupt: «Deine Tränen der Freude und Demut haben in mir den Widerhall eines
Gesanges aus fernen Tagen geweckt, bei dessen Klang dein kleines Herz vor
Freude hüpfte. Jener Gesang und diese Tränen sind ein und derselbe Lobgesang
an den Ewigen Gott, der große Dinge vollbracht hat und machtvoll wirkt in den
Demütigen. Auch meine Mutter stimmt aufs neue den Lobgesang an, den sie damals
schon gesungen hatte. Doch danach wird auch für sie die unendliche
Herrlichkeit kommen, so wie für dich nach dem Martyrium. Ich bringe dir auch
ihren Gruß. All ihre Abschieds- und Trostworte. Du verdienst sie. Hier ist nur
die Hand des Menschensohnes auf deinem Haupt; doch durch den offenen Himmel
steigen die Liebe und das Licht auf dich hernieder, um dich zu segnen,
Johannes.»
«Ich bin dessen nicht würdig. Ich
bin dein Diener.»
«Du bist mein Johannes. Einst am
Jordan war ich der Messias, der sich offenbarte. Hier nun bin ich dein Vetter
und dein Gott, der dir die Wegzehrung seiner Liebe als Gott und Verwandter
mitgeben will. Erhebe dich, Johannes! Wir wollen uns den Abschiedskuß geben.»
«Ich bin nicht würdig... Ich habe
es wohl mein ganzes Leben lang gewünscht, doch ich wage es nicht, dich zu
küssen. Du bist mein Gott!»
«Ich bin dein Jesus. Leb wohl.
Meine Seele wird der deinen nahe sein, bis du in den Frieden eingehst. Lebe
und sterbe in der Gewißheit des Friedens um deine Jünger. Mehr kann ich dir
jetzt nicht geben, doch im Himmel werde ich dich hundertfach belohnen, denn du
hast vor den Augen Gottes jegliche Gnade gefunden.»
167
Jesus hat ihm aufgeholfen, ihn
umarmt und auf die Wangen geküßt und ist von Johannes geküßt worden. Dann
kniet Johannes nochmals nieder, und Jesus legt ihm die Hände aufs Haupt und
betet mit zum Himmel erhobenen Augen. Er scheint ihn zu weihen. Es ist
ergreifend. Stille herrscht während einiger Zeit. Dann verabschiedet sich
Jesus mit seinem liebevollen Gruß: «Mein Friede sei allezeit mit dir», und er
entfernt sich auf demselben Weg, auf dem er gekommen war.
188. JESUS UNTERWEIST DIE APOSTEL
«Herr, warum ruhst du dich nicht
aus in der Nacht? Heute nacht bin ich aufgestanden und habe dich nicht
gefunden. Dein Lager war leer.»
«Warum hast du mich gesucht,
Simon?»
«Um dir meinen Mantel zu geben.
Ich fürchtete, du könntest in dieser hellen, doch sehr frischen Nacht
frieren.»
«War dir nicht kalt?»
«Ich habe mich in vielen Jahren
des Elends daran gewöhnt, kaum bedeckt, schlecht ernährt und schlecht
untergebracht zu sein... Das Tal der Toten... Welch ein Schrecken! Diesmal ist
es nicht so, doch das nächste Mal, wenn wir nach Jerusalem gehen, Herr, dann
komm zu dieser Stätte des Todes. Es sind so viele Unglückliche dort... und die
körperliche Not ist noch nicht das Schlimmste... Das, was die Menschen dort
verzehrt, ist die Verzweiflung. Findest du nicht, mein Herr, daß die
Aussätzigen zu hart behandelt werden?»
Es ist Judas Iskariot, der Jesus
mit der Antwort zuvorkommt und zum Zeloten, der für seine früheren
Leidensgenossen eintritt, sagt: «Möchtest du sie vielleicht frei unter dem
Volk herumlaufen lassen? Es ist ihr Pech, wenn sie aussätzig sind.»
«Es fehlte nur noch das, um aus
den Juden Märtyrer zu machen! Auch noch der Aussatz auf den Straßen, zusammen
mit den Soldaten und all den anderen Dingen», ruft Petrus aus.
«Es scheint mir eine gerechte
Maßnahme der Vorsicht, sie abgesondert zu halten», bemerkt Jakobus des
Alphäus.
«Ja, doch dies sollte mit
Mitgefühl geschehen. Du kannst dir nicht vorstellen, was es heißt, aussätzig
zu sein. Du kannst darüber nicht sprechen. Wenn es gut ist, sich um die
Gesundheit des Leibes zu sorgen, wieso sollten wir uns nicht ebenso um die
Seelen der Aussätzigen kümmern? Wer spricht zu ihnen von Gott ? Nur Gott
allein weiß, wie nötig sie es hätten, in ihrer furchtbaren Trostlosigkeit an
einen Gott zu denken und wie sehr sie des inneren Friedens bedürfen!»
«Du hast recht, Simon. Ich werde
zu ihnen gehen, weil es gerecht ist
168
und um euch Barmherzigkeit zu
lehren. Bisher habe ich die Aussätzigen, denen wir zufällig begegnet sind,
geheilt. Bisher, das heißt, bis zu dem Augenblick, da ich aus Judäa vertrieben
wurde, habe ich mich an die Mächtigen von Judäa als die Entferntesten und der
Erlösung am meisten Bedürftigen gewandt, um dem Erlöser eine Hilfe zu sein.
Nun, da ich mich von der Nutzlosigkeit dieses Versuches überzeugt habe, werde
ich davon ablassen. Nicht zu den Großen, sondern zu den Geringsten, zu den
Elenden Israels will ich gehen, und unter diesen werden auch die Aussätzigen
im Tale der Toten sein. Ich werde den Glauben dieser Menschen an mich, die vom
dankbaren Aussätzigen die Heilsbotschaft vernommen haben, nicht enttäuschen.»
«Wie kannst du wissen, Herr, daß
ich dies getan habe?»
«So, wie ich auch weiß, was
Freunde oder Feinde, deren Herz ich erforsche, über mich denken.»
«Barmherzigkeit! Aber weißt du
wirklich alles von uns, Meister?» ruft Petrus aus.
«Ja, auch daß du, und nicht nur
du allein, Fotinai wegschicken wolltest. Aber weißt du denn nicht, daß es dir
nicht zusteht, eine Seele vom Guten fernzuhalten? Weißt du nicht, daß man,
wenn man in ein anderes Land kommt, auch für jene ein liebevolles Erbarmen
haben sollte, welche eine ungerechte Gesellschaft des Mitleids für unwürdig
erklärt, weil sie sich mit Gott nicht identifiziert. Doch beunruhige dich
nicht, weil ich alles weiß. Bedaure nur, daß dein Herz Regungen empfindet, die
Gott nicht billigt, und strenge dich an, sie nicht mehr aufkommen zu lassen.
Ich habe euch gesagt: das erste Jahr ist vorüber, und im neuen werde ich auf
eine andere Art und Weise auf meinem Weg weitergehen. Auch ihr müßt in diesem
zweiten Jahr Fortschritte machen. Sonst wäre es nutzlos, daß ich mich abmühe,
die Heilsbotschaft zu verkünden und euch, meine zukünftigen Priester,
besonders darin auszubilden.»
«Bist du beten gegangen, Meister?
Du hast uns versprochen, uns deine Gebete zu lehren. Wirst du es in diesem
Jahre tun?»
«Ich werde es tun. Doch ich will
euch auch lehren, gute Menschen zu sein, denn die Güte ist schon Gebet. Aber
ich werde es tun, Johannes.»
«Wirst du uns in diesem Jahr auch
lehren, Wunder zu wirken?» fragt Judas Iskariot.
«Das Wunderwirken kann man nicht
lehren. Es ist nicht das Spiel eines Zauberkünstlers. Das Wunder kommt von
Gott. Wer in Gottes Gnade steht, kann sie wirken. Wenn ihr lernt, gut zu sein,
wird die Gnade über euch kommen und ihr werdet Wunder erlangen.»
«Aber du antwortest nie auf
unsere Frage. Simon hat dich gefragt, Johannes hat dich gefragt, und du hast
uns noch nicht gesagt, wo du diese Nacht gewesen bist. Allein weggehen in
diesem heidnischen Land kann gefährlich sein.»
169
«Ich bin gegangen, um eine
gerechte Seele glücklich zu machen, und da es sich um einen Todgeweihten
handelt, sein Erbe zu übernehmen.»
«Ja? War es groß?»
«Sehr groß, Petrus, und sehr
wertvoll; die Frucht der Arbeit eines wahren Gerechten.»
«Aber ich habe nichts mehr als
sonst in deiner Tasche gesehen. Sind es vielleicht Edelsteine, die du an
deiner Brust verborgen hältst?»
«Ja, es sind Edelsteine, die
meinem Herzen sehr teuer sind.»
«Zeige sie uns, Meister.»
«Ich werde sie dann haben, wenn
der Todgeweihte gestorben sein wird. Vorerst dienen sie noch ihm und mir,
indem ich sie belasse, wo sie sind»
«Hast du sie gewinnbringend
angelegt?»
«Aber glaubst du denn, daß alles
Wertvolle gerade Geld sein muß? Das Geld ist die nutzloseste und schmutzigste
Sache, die es auf Erden gibt. Es dient nur der Materie, dem Verbrechen und der
Hölle. Nur selten benützt es der Mensch zum Guten.»
«Wenn es also nicht Geld ist, was
ist es denn?»
«Drei Jünger, die von einem
Heiligen herangebildet wurden.»
«Dann bist du beim Täufer
gewesen. Oh! Aber warum?»
«Warum? ... Ihr habt mich immer,
und ihr alle zusammen seid weniger wert als ein einziger Fingernagel des
Propheten. War es da nicht gerecht, daß ich zum Heiligen Israels gegangen bin,
um ihm den Segen Gottes zu überbringen und ihn für das Martyrium zu stärken?»
«Aber wenn er heilig ist... so
braucht er doch keine Stärkung. Er schafft es aus eigenen Kräften! ...»
«Es wird der Tag kommen, da
"meine" Heiligen vor die Richter geführt und zum Tode verurteilt werden. Sie
mögen heilig und von der Gnade Gottes erfüllt sein; sie werden im Glauben, in
der Hoffnung und in der Liebe Trost finden, und doch höre ich jetzt schon
ihren Schrei, den Schrei ihrer Seele: "Herr, hilf uns in dieser Stunde!"
Nur mit meiner Hilfe werden meine
Heiligen in den Verfolgungen stark sein.»
«Aber wir werden nicht unter
ihnen sein, nicht wahr? Denn ich bin wirklich nicht fähig zu leiden.»
«Das stimmt, du bist nicht fähig
zu leiden. Doch du bist noch nicht getauft, Bartholomäus.»
«Doch, ich bin getauft.»
«Mit Wasser. Es fehlt dir aber
noch eine andere Taufe. Nach dieser wirst du imstande sein zu leiden.»
«Ich bin schon alt.»
«Als sehr alter Mann wirst du
noch stärker sein als ein Jüngling.»
«Aber du wirst uns dennoch
beistehen, nicht wahr?»
«Ich werde immer bei euch sein.»
170
«Ich werde versuchen, mich an das
Leiden zu gewöhnen», sagt Bartholomäus.
«Ich werde von nun an immer darum
beten, daß ich diese Gnade von dir erhalte», sagt Jakobus des Alphäus.
«Ich bin alt und bitte nur darum,
daß ich dir vorangehen und mit dir in den Frieden eingehen darf», sagt Simon
der Zelote.
«Ich weiß nicht, was ich
möchte... dir vorangehen oder in deiner Nähe bleiben, um mit dir zu sterben»,
sagt Judas des Alphäus.
«Ich würde viel leiden, wenn ich
dich überleben sollte. Doch ich werde mich damit trösten, daß ich dich den
Völkern verkündige», bekennt Judas Iskariot.
«Ich denke darüber wie dein
Vetter», sagt Thomas.
«Ich hingegen wie Simon der
Zelote», sagt Jakobus des Zebedäus.
«Und du, Philippus ?»
«Ich... ich will nicht daran
denken. Der Ewige wird mir das geben, was für mich am besten ist.»
«Oh, schweigt doch! Es scheint
gar, als müßte der Meister schon bald sterben. Laßt mich nicht an seinen Tod
denken!» ruft Andreas aus.
«Das hast du gut gesagt, mein
Bruder. Du bist jung und gesund, Jesus. Du wirst uns alle begraben müssen, die
wir älter sind als du.»
«Aber, wenn man mich töten
würde?»
«Das soll nie geschehen; ich
würde deinen Tod in jedem Fall rächen.»
«Wie? Mit einer Blutrache ?»
«Eh! ... Auch damit, wenn du mir
die Erlaubnis dazu gibst. Anderenfalls werde ich durch das Bekenntnis meines
Glaubens unter den Völkern die gegen dich erhobenen Anklagen tilgen. Die Welt
wird dich lieben, weil ich unermüdlich im Predigen sein will!»
«Das ist wahr. So wird es sein,
und du, Johannes? Und du, Matthäus ?»
«Ich muß leiden und warten, bis
meine Seele mit großer Mühe reingewaschen sein wird», sagt Matthäus.
«Ich... ich weiß nicht. Ich
möchte gleich sterben, um dich nicht leiden sehen zu müssen. Ich möchte an
deiner Seite sein, um dich in deinem Todeskampf zu trösten. Ich möchte lange
leben, um dir lange dienen zu können. Ich möchte mit dir sterben, um mit dir
in den Himmel einzugehen. Alles möchte ich, weil ich dich liebe. Ich glaube
auch, daß ich, als der geringste unter meinen Brüdern, dazu fähig sein werde,
wenn ich dich vollkommen liebe. Jesus, vermehre deine Liebe!» sagt Johannes.
«Du willst wohl sagen: "Vermehre
meine Liebe"», bemerkt Judas Iskariot. «Denn wir sind es, die immer mehr
lieben sollen...»
«Nein, ich meine: "Vermehre deine
Liebe", denn wir werden um so mehr lieben, je mehr er durch seine Liebe in uns
das Feuer der Liebe entzündet.»
171
Jesus zieht den reinen,
begeisterten Johannes an sich, küßt ihn auf die Stirn und sagt dann: «Du hast
ein göttliches Geheimnis über die Heiligung der Herzen enthüllt. Gott ergießt
seine Liebe über die Gerechten, und je mehr diese sich seiner Liebe ergeben,
um so mehr vermehrt er die Liebe in ihnen und läßt sie an Heiligkeit zunehmen.
Dies ist das geheimnisvolle und unergründliche Wirken Gottes und der Seelen,
das sich in mystischem Schweigen vollzieht, und seine Macht, die mit
menschlichen Worten nicht auszusprechen ist, schafft unbeschreibliche
Kunstwerke der Heiligkeit. Es ist kein Irrtum, sondern Weisheit, Gott zu
bitten, er möge seine Liebe in einem Herzen vermehren.»
189. JESUS IN NAZARETH; «SOHN,
ICH WERDE MIT DIR KOMMEN»
Jesus ist allein. Er schreitet
rasch auf der Hauptstraße, die nach Nazareth führt, dahin und wendet seine
Schritte beim Betreten der Stadt sogleich seinem Hause zu. Als er in dessen
Nähe angelangt ist, sieht er seine Mutter, die ebenfalls nach Hause geht und
vom Neffen Simon begleitet wird, der ein trockenes Reisigbündel auf den
Schultern trägt. Er ruft sie: «Mutter!»
Maria wendet sich um und ruft
aus: «Oh! Mein gesegneter Sohn!»und beide eilen einander entgegen, während
Simon, der seine Last zu Boden geworfen hat, Maria nachahmt und seinem Vetter
entgegengeht den er herzlich begrüßt.
«Meine Mutter, ich bin gekommen.
Bist du nun glücklich?»
«So sehr, mein Sohn. Aber... wenn
du nur auf meine Bitte hin gekommen bist, so möchte ich dir sagen, daß es
weder mir noch dir erlaubt ist, mehr der Stimme des Blutes als jener der
Sendung zu gehorchen.»
«Nein, Mutter, ich bin auch
anderer Dinge wegen gekommen.»
«Es ist also wahr, mein Sohn? Ich
glaubte – ich wollte glauben – daß es lügnerische Gerüchte wären, und daß man
dich nicht so hassen würde...» Tränen sind in der Stimme und in den Augen der
Mutter.
«Weine nicht, Mutter. Bereite mir
nicht diesen Schmerz. Ich brauche dein Lächeln.»
«Ja, Sohn, ja! Es ist wahr. Du
siehst so viele harte und feindliche Gesichter, daß du viel Liebe und Lächeln
brauchst. Aber hier, siehst du, ist jemand, der dich für alle liebt...»
Maria hat sich leicht an ihren
Sohn gelehnt, der ihr den Arm um die Schultern legt. Sie versucht auf dem Weg
nach Hause zu lächeln, um jede Sorge im Herzen Jesu auszulöschen. Simon hat
sein Reisigbündel wieder auf seine Schultern genommen und geht neben Jesus
einher.
172
«Du bist blaß, Mutter. Hat man
dir viel Kummer bereitet? Bist du krank gewesen? Hast du dich zu sehr
abgemüht?»
«Nein, Sohn, nein! Ich habe sonst
keine Sorgen. Mein einziges Leid ist, dich fern und nicht geliebt zu wissen.
Doch hier sind sie alle sehr gut zu mir. Ich meine nicht nur Maria und
Alphäus, du weißt ja, wie sie sind. Aber auch Simon, siehst du, wie gut er ist
? So gut ist er immer. Er war mir in den letzten Monaten eine große Stütze.
Nun versorgt er mich mit Holz. Er ist so lieb, und auch Joseph, weißt du? Sie
sind so aufmerksam gegenüber ihrer Maria.»
«Gott segne dich, Simon, und er
segne auch Joseph. Daß ihr mich noch nicht als Messias liebt, kann ich euch
verzeihen. Oh, zur Liebe Christi werdet ihr noch gelangen. Aber wie könnte ich
euch verzeihen, wenn ihr sie nicht lieben würdet?»
«Maria zu lieben ist gerecht und
bedeutet Friede, Jesus. Aber auch du wirst geliebt... nur, weißt du, wir
machen uns große Sorgen um dich.»
«Ja, ihr liebt mich auf
menschliche Weise, doch ihr werdet auch noch zur anderen Liebe gelangen.»
«Aber auch du, mein Sohn, bist
blaß und abgemagert.»
«Ja, du scheinst älter geworden
zu sein. Auch ich sehe es», bemerkt Simon.
Sie betreten das Haus, und Simon
zieht sich rücksichtsvoll zurück, nachdem er die Reisigbündel an ihren Ort
gebracht hat.
«Sohn, da wir nun allein sind,
sage mir die Wahrheit, die ganze. Warum hat man dich vertrieben?» Maria hat
beim Sprechen die Hände auf die Schultern Jesu gelegt und blickt ihm ins
abgemagerte Antlitz.
Jesus lächelt sanft und müde:
«Weil ich versucht habe, die Menschen zur Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und
zum wahren Glauben zu führen.»
«Wer aber beschuldigt dich? Das
Volk?»
«Nein, Mutter, die Pharisäer und
die Schriftgelehrten, mit Ausnahme einiger Gerechter unter ihnen.»
«Aber was hast du getan, um von
ihnen beschuldigt zu werden?»
«Ich habe die Wahrheit gesagt.
Weißt du nicht, daß dies als größtes Vergehen in den Augen der Menschen gilt?»
«Was haben sie denn sagen können,
um ihre Anklagen zu rechtfertigen?»
«Lügen! Solche, die du kennst,
und andere dazu.»
«Nenne sie deiner Mutter. Lege
deinen ganzen Schmerz in mein Herz. Ein Mutterherz ist an den Schmerz gewöhnt
und erträgt ihn gerne, wenn es damit das Herz des Sohnes erleichtern kann. Gib
mir deinen Schmerz, Jesus. Setze dich hierher, wie du es als Kind tatest, und
mach dich frei von aller Bitterkeit.»
Jesus setzt sich auf ein Bänkchen
zu Füßen der Mutter und berichtet
173
alles, was während der letzten
Monaten in Judäa geschehen ist, ohne Groll und ohne etwas zu verhüllen.
Maria streicht ihm sanft übers
Haar, während sie mit einem heroischen Lächeln auf ihren Lippen gegen die
Tränen ankämpft, die in ihren blauen Augen schimmern. Jesus spricht auch von
der Notwendigkeit, sich gewissen Frauen zu nähern, um sie retten zu können,
und von seinem Schmerz darüber, daß er daran der menschlichen Bosheit wegen
gehindert ist. Maria stimmt zu und beschließt dann: «Sohn, du darfst mir
meinen Wunsch nicht versagen: von nun an werde ich mit dir kommen, wenn du von
hier weggehst, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit und an jeden Ort, wo es
auch sei. Ich will dich vor Verleumdung schützen. Meine Gegenwart wird den
Schmutz abwehren. Maria wird mit dir kommen. Sie wünscht es so sehr. Das
braucht es neben dem Heiligen und gegen Satan und die Welt: das Herz der
Mütter.»
190. IN KANA IM HAUS DER SUSANNA;
DER KÖNIGLICHE BEAMTE
Jesus ist anscheinend auf dem Weg
zum See. Jedenfalls erreicht er nun Kana und begibt sich zum Haus der Susanna.
Es begleiten ihn die Vettern.
Während sie dort eine Mahlzeit
einnehmen und sich ausruhen, und während man den Worten Jesu mit Interesse
zuhört, wie dies bei Verwandten oder Freunden von Kana stets der Fall sein
sollte, belehrt er diese guten Menschen in schlichter Weise. Jesus tröstet
auch den Mann im Kummer um seine Susanna, die krank zu sein scheint, da sie
nicht anwesend ist und man wiederholt von ihren Leiden spricht, tritt ein gut
gekleideter Mann ein und wirft sich Jesus zu Füßen nieder.
«Wer bist du? Was willst du?»
Während dieser noch seufzt und
weint, zieht der Herr des Hauses Jesus an einem Zipfel seines Gewandes und
flüstert: «Es ist ein Beamter des Tetrarchen. Traue ihm nicht zu sehr.»
«So sprich denn, was willst du
von mir?»
«Meister, ich habe erfahren, daß
du zurückgekehrt bist. Ich habe dich erwartet, wie man auf Gott wartet. Komm
sofort nach Kapharnaum. Mein Junge liegt schwer krank darnieder und seine
Stunden sind gezählt. Ich bin Johannes, deinem Jünger, begegnet und habe von
ihm erfahren, daß du auf dem Weg nach Kapharnaum seiest. Komm, komm schnell,
bevor es zu spät ist.»
«Du, der du ein Diener des
Verfolgers des Heiligen Israels bist, wie kannst du an mich glauben? Ihr
glaubt nicht an den Vorläufer des Messias, wie könnt ihr also an den Messias
glauben?»
174
«Es ist wahr, auf uns lasten die
Sünden des Unglaubens und der Hartherzigkeit. Doch habe Erbarmen mit einem
Vater! Ich kenne Chuza, und habe Johanna gesehen, vor und nach dem Wunder habe
ich sie gesehen, und da habe ich den Glauben gefunden.»
«So ist es. Ihr seid ein so
ungläubiges und verdorbenes Geschlecht, daß ihr ohne Zeichen und Wunder nicht
glaubt. Es fehlt euch die erste notwendige Eigenschaft, um ein Wunder zu
erlangen.»
«Das ist wahr! Alles, was du
sagst, ist wahr! Doch du siehst, ich glaube nun an dich und bitte dich, komm,
komm sofort nach Kapharnaum. Ich werde dir in Tiberias ein Boot besorgen,
damit du rascher vorwärtskommst. Aber komm, bevor mein Kind stirbt!», und er
weint verzweifelt.
«Ich werde vorerst nicht kommen.
Doch, gehe nach Kapharnaum. Dein Sohn lebt und ist von diesem Augenblick an
gesund.»
«Gott segne dich, mein Herr. Ich
glaube dir. Doch da ich möchte, daß mein ganzes Haus dir ein Fest bereite,
komm nach Kapharnaum in mein Haus.»
«Ich werde kommen. Leb wohl! Der
Friede sei mit dir!»
Der Mann verläßt eilends den
Raum, und kurz darauf hört man den Hufschlag eines Pferdes.
«Ist der Junge nun wirklich
geheilt?» fragt Susannas Mann.
«Glaubst du denn, daß ich lügen
könnte?»
«Nein, Herr! Doch du bist hier,
und der Junge befindet sich dort.»
«Mein Geist kennt weder Schranken
noch Entfernungen.»
«Oh, mein Herr, wie du bei meiner
Hochzeit Wasser in Wein verwandelt hast, wandle nun auch meine Tränen in ein
Lächeln. Heile meine Susanna!»
«Was wirst du mir dafür geben?»
«Die Summe, die du verlangst.»
«Ich beschmutze das, was heilig
ist, nicht mit Mammons Blut. Ich frage deine Seele, was sie mir geben will.»
«Mich selbst, wenn du willst.»
«Doch, wenn ich von dir ohne
Worte ein großes Opfer verlangen würde?»
«Mein Herr, ich bitte dich um die
leibliche Gesundheit meiner Frau und um die Heiligung von uns allen. Ich
glaube, daß ich kein Opfer als zu groß erachten darf, um dies zu erlangen...»
«Du fürchtest für deine Frau.
Aber wenn ich ihr das Leben wiederschenkte und sie dadurch für immer als meine
Jüngerin gewänne, was würdest du dann sagen?»
«Daß... daß du das Recht dazu
hast... und daß... und daß ich Abraham in seiner Bereitschaft zum Opfer
nachahmen werde.»
«Du hast es gut gesagt. Hört ihr
alle: die Zeit meines Opfers naht. Wie ein Strom eilt sie schnell und rastlos
ihrer Mündung entgegen. Ich
175
muß alles erfüllen, wozu ich
beauftragt bin, doch die menschliche Härte verschließt mir viele Gebiete
meiner Sendung. Meine Mutter und Maria des Alphäus werden mich nun begleiten,
wenn ich von hier aufbreche, um mich unter Menschen zu begeben, die mich noch
nicht lieben oder nie lieben werden. Meine Weisheit sagt mir, daß die Frauen
dem Meister auf diesem ihm verschlossenen Gebiet helfen können. Ich bin
gekommen, auch die Frauen zu erlösen, und in der künftigen Zeit, in meiner
Zeit, wird es Frauen geben, die gleich Priesterinnen dem Herrn und den Dienern
des Herrn dienen werden. Ich habe meine Jünger erwählt; doch um die Frauen
erwählen zu können, die nicht frei sind, muß ich um die Zustimmung der Väter
und der Gatten bitten. Willst du es ?»
«Herr... ich liebe Susanna.
Bisher habe ich sie mehr dem Fleisch als dem Geist nach geliebt. Doch, durch
deine Belehrung hat sich bereits etwas in mir gewandelt, und nun betrachte ich
in meiner Frau auch das Seelische, nicht nur das Körperliche. Die Seele gehört
Gott, und du bist der Messias, der Sohn Gottes. Ich kann dir nicht versagen,
was Gottes ist. Wenn Susanna dir folgen will, werde ich sie nicht daran
hindern. Nur bitte ich dich, wirke ein Wunder, heile sie am Leib und mich an
der Seele...»
«Susanna ist geheilt. Sie wird in
wenigen Stunden hierher kommen, um dir ihre Freude mitzuteilen. Laß ihre Seele
ihrem inneren Drang folgen und sprich nicht mit ihr über das, was ich dir
jetzt gesagt habe. Du wirst sehen, daß ihre Seele freiwillig zu mir kommen und
wie eine Flamme aufsteigen wird. Dadurch wird aber ihre Liebe als Gattin nicht
erlöschen. Sie wird vielmehr eine höhere Stufe der Liebe erreichen, um in
erhabenster Weise zu lieben: mit dem Geist.»
«Susanna gehört dir, Herr! Sie
hätte sterben müssen, langsam und unter schrecklichen Qualen. Wäre sie
gestorben, hätte ich sie tatsächlich auf dieser Welt verloren. Nun hingegen
werde ich sie weiterhin an meiner Seite haben, und sie wird mich mit sich auf
deine Wege führen. Gott hat sie mir gegeben und Gott nimmt sie mir. Der
Allerhöchste sei gepriesen, in seinem Geben und Nehmen.»
191. IM HAUS DES ZEBEDÄUS; SALOME
ANGENOMMEN ALS JÜNGERIN
Jesus befindet sich im Haus des
Jakobus und des Johannes, wie ich den Gesprächen der Anwesenden entnehme. Mit
Jesus sind, außer den beiden Aposteln Petrus und Andreas auch Simon der
Zelote, Judas Iskariot und Matthäus. Die anderen sehe ich nicht.
Jakobus und Johannes sind selig.
Sie kommen und gehen von der Mutter zu Jesus und umgekehrt wie Schmetterlinge,
die nicht wissen, welche
176
Blume unter zwei gleich geliebten
sie vorziehen sollen, und Maria Salome liebkost jedesmal glücklich ihre großen
Söhne, während Jesus dazu lächelt. Sie müssen soeben gespeist haben, denn die
Tafel ist noch gedeckt. Doch die beiden wollen unbedingt, daß Jesus auch von
den weißen Trauben esse, die die Mutter eingemacht hat und die süß wie Honig
sein müssen. Was würden sie Jesus nicht alles geben!
Salome aber möchte etwas mehr
geben und erhalten als Weintrauben und Liebkosungen. Nachdem sie Jesus und
Zebedäus eine Zeitlang nachdenklich betrachtet hat, beschließt sie zu handeln.
Sie geht zum Meister, der mit dem Rücken an den Tisch gelehnt sitzt, und kniet
vor ihm nieder.
«Was willst du, Frau?»
«Meister, du hast beschlossen,
daß deine Mutter und die Mutter des Jakobus und des Judas mit dir kommen
werden, auch Susanna und natürlich die große Johanna des Chuza werden dir
folgen. Alle Frauen, die dich verehren, werden kommen, wenn vorerst eine
gekommen ist. Auch ich möchte dabei sein. Nimm mich, Jesus. Ich werde dir in
Liebe dienen.»
«Du mußt dich um Zebedäus
kümmern. Liebst du ihn nicht mehr?»
«Oh, und wie ich ihn liebe! Doch
noch mehr liebe ich dich! Oh, ich will nicht sagen, daß ich dich als Mann
liebe. Ich bin sechzig Jahre alt und seit fast vierzig Jahren Gattin, und ich
habe nie einen anderen Mann als den meinen angesehen. Nun, da ich eine alte
Frau bin, werde ich nicht töricht, noch wird meines Alters wegen die Liebe für
meinen Zebedäus sterben. Aber du... Ich habe nicht reden gelernt. Ich bin eine
arme Frau. Ich sage es, wie ich kann. Also: Zebedäus liebe ich mit all dem,
was zuvor in mir war. Dich liebe ich mit all dem, was du in mir mit deinen
Worten und mit denen, die mir Jakobus und Johannes gesagt haben, gewirkt hast.
Es ist etwas ganz anderes... aber etwas so Schönes.»
«Es wird niemals gleich schön
sein wie die Liebe eines vortrefflichen Gatten.»
«Oh! Nein! Viel mehr wird es
sein! ... Oh, sei mir nicht böse, Zebedäus! Ich liebe dich noch mit all meinem
Wesen. Doch ihn liebe ich mit etwas, das zwar auch Maria ist, aber nicht mehr
Maria, jene erbärmliche Maria, deine Frau, sondern viel mehr... Oh, ich kann
es gar nicht ausdrücken!»
Jesus lächelt der Frau zu, die
ihren Gatten nicht beleidigen will und dennoch ihre große, neue Liebe nicht
verschweigen kann.
Auch Zebedäus lächelt würdevoll
und nähert sich seiner Frau, die immer noch kniet und sich abwechselnd zum
Gatten und zu Jesus wendet.
«Aber bist du dir bewußt, Maria,
daß du dein Haus verlassen müßtest? Du, die du so sehr an ihm hängst! Deine
Tauben... deine Blumen... jener Weinstock, der die süßen Trauben hervorbringt,
auf die du so stolz bist... deine Bienenstöcke, die ertragreichsten des
Ortes... und der Webstuhl, auf dem du so viel Linnen und Wolle gewoben hast
für deine Lieben... und
177
erst deine Enkelkinder? Wie wirst
du ohne deine kleinen Enkelkinder leben können?»
«Oh, mein Herr! Was sind schon
Mauern, Tauben, Blumen, Reben, Bienenstöcke und ein Webstuhl – alles gute und
teure Dinge – aber im Vergleich zu dir und zur Liebe zu dir sind sie unendlich
klein! Die Enkelkinder... ja, es wird schmerzlich sein, sie nicht mehr auf dem
Schoß in den Schlaf wiegen zu können und sie nicht mehr rufen zu hören... Doch
du bedeutest mir mehr! Oh, du bist mehr als alle diese Dinge, die du mir
aufgezählt hast! Und auch, wenn sie mir in meiner Schwäche alle
zusammengenommen so lieb oder lieber wären als dir zu dienen und nachzufolgen,
so würde ich sie unter Tränen, den Tränen einer Frau, von mir schieben, um dir
mit lächelnder Seele nachzufolgen. Nimm mich, Meister! Sagt es ihm, Johannes,
Jakobus... und du, mein Gemahl! Seid gut zu mir und helft mir alle.»
«Also gut, auch du wirst mit den
anderen kommen. Ich wollte, daß du gut über die Vergangenheit und die
Gegenwart nachdenkst; über das, was du zurückläßt, und das, was du auf dich
nimmst. Doch komm, Salome. Du bist reif, in meine Familie aufgenommen zu
werden.»
«Oh! Reif! Weniger reif als ein
Kind bin ich. Doch wirst du mir meine Fehler verzeihen und mich an der Hand
führen. Du... denn, ungebildet wie ich bin, werde ich mich vor deiner Mutter
und Johanna sehr schämen müssen. Vor allen werde ich mich schämen, nur nicht
vor dir, denn du bist der Gütige, alles verstehst du, alles entschuldigst du,
alles verzeihst du.»
192. JESUS SPRICHT ZU DEN SEINEN
VOM APOSTOLAT DER FRAU
«Was hast du, Petrus ? Du
scheinst mir unzufrieden», sagt Jesus, der auf einem kleinen Feldweg unter
blühenden Mandelbäumen daherkommt, die den Menschen künden, daß die schlimmste
Jahreszeit vorüber ist.
«Ich denke nach, Meister.»
«Du denkst nach, ich sehe es.
Doch dein Ausdruck sagt mir, daß du nicht über erfreuliche Dinge nachdenkst.»
«Aber du, der du alles von uns
weißt, weißt auch, worüber ich nachdenke.»
«Ja, ich weiß es bereits. Auch
Gott Vater kennt die Bedürfnisse des Menschen, doch er verlangt vom Menschen
das Vertrauen, das die eigenen Nöte darlegt und ihn um Hilfe bittet. Ich kann
dir nur sagen, daß du unrecht hast, wenn du dir darüber Kummer machst.»
«Dann ist also meine Frau dir
nicht weniger lieb?»
1170
«Aber nein, Petrus! Warum sollte
sie mir weniger lieb sein? Im Himmel hat mein Vater viele Wohnungen. Es gibt
viele Aufgaben für die Menschen auf Erden, und wenn sie in heiliger Weise
erfüllt werden, sind sie alle segensreich. Sollte ich dir vielleicht sagen,
daß alle Frauen, die nicht dem Beispiel Marias und Susannas folgen, von Gott
nicht geliebt sind?»
«O nein! Auch meine Frau glaubt
an den Meister, aber sie folgt doch nicht dem Beispiel der anderen», sagt
Bartholomäus.
«Auch die meine mit ihren
Töchtern nicht. Sie bleiben zu Hause und sind immer bereit, Gastfreundschaft
zu gewähren, wie sie es gestern getan haben», sagt Philippus.
«Ich glaube, auch meine Mutter
wird so handeln. Sie kann nicht alles verlassen... sie ist allein», sagt
Judas.
«Es ist wahr! Es ist wahr! Ich
war so betrübt, weil mir schien, die meine wäre... so wenig... Oh, ich weiß es
nicht auszudrücken!»
«Kritisiere sie nicht, Petrus !
Sie ist eine rechtschaffene Frau», sagt Jesus.
«Sie ist sehr schüchtern. Ihre
Mutter hat alle, Töchter und Schwiegertöchter, wie dünne Ruten gebogen», sagt
Andreas.
«Doch nach einem so langen
Zusammenleben mit mir hätte sie sich ändern dürfen!»
«Oh, Bruder! Du bist nicht sehr
sanft, weißt du? Auf einen Schüchternen wirkst du wie ein Klotz zwischen den
Beinen. Meine Schwägerin ist eine sehr gute Frau, und das ist dadurch
bewiesen, daß sie die Mutter mit ihrer Bosheit und dich mit deiner
Überheblichkeit stets mit Geduld ertragen hat.»
Alle lachen über die
unverschleierte Folgerung des Andreas und über das erstaunte Gesicht des
Petrus, der sich einen Überheblichen nennen hört.
Auch Jesus muß herzlich lachen.
Dann sagt er: «Die treuen Frauen, die sich nicht dazu berufen fühlen, ihr Heim
zu verlassen, um mir nachzufolgen, dienen mir ebenso durch ihr Zuhausebleiben.
Hätten alle mit mir kommen wollen, hätte ich einigen gebieten müssen, zu Hause
zu bleiben. Jetzt, da die Frauen sich uns anschließen, werde ich auch an sie
denken müssen. Es wäre weder anständig noch klug, wenn die Frauen, die uns
hierhin und dorthin begleiten werden, auf einmal keine Unterkunft hätten. Wir
können uns überall ausruhen. Die Frau hat andere Bedürfnisse und braucht eine
Unterkunft. Uns genügt ein Schlafraum für uns alle, sie jedoch könnten nicht
unter uns sein, einmal aus Achtung und zum anderen aus Rücksicht auf ihre
zartere Beschaffenheit. Man darf die Vorsehung Gottes nie herausfordern und
die menschliche Natur nie über die gegebenen Grenzen hinaus versuchen. Nun
mache ich aus jedem befreundeten Haus, wo sich eine eurer Frauen befindet,
eine Raststätte für ihre Schwestern. Aus deinem, Petrus, aus deinem,
Philippus, aus deinem,
Bartholomäus, und aus deinem,
Judas. Wir werden den Frauen unser rastloses Wandern nicht zumuten können. Wir
werden sie am Ort zurücklassen, von dem wir jeweils am Morgen aufbrechen und
zu dem wir am Abend zurückkehren. Wir werden sie in unseren Ruhestunden
unterweisen, so werden die Leute nicht mehr murren können, wenn andere
unglückliche Geschöpfe zu mir kommen, und mir wird es nicht mehr verwehrt
sein, sie anzuhören. Die Mütter und Ehefrauen, die uns folgen, werden bestimmt
sein zur Verteidigung ihrer Schwestern und meiner selbst gegen die
Verleumdungen der Welt. Ihr seht, daß ich eilige Besuche machen will an Orten,
wo ich Freunde habe oder haben werde. Dies geschieht nicht meinetwegen,
sondern um der Schwächsten unter den Jüngern willen, die mit ihrer Schwäche
unsere Kraft unterstützen und sie für viele, viele Geschöpfe nützlich werden
lassen.»
«Doch jetzt wollen wir nach
Caesarea gehen, wie du gesagt hast. Wer ist denn dort?»
«Geschöpfe, die sich nach dem
wahren Gott sehnen, gibt es überall. Der Frühling kündet sich schon an mit
diesem rosa Schleier von blühenden Mandelbäumen. Die Tage des Frostes sind
vorüber. In wenigen Tagen werde ich die Orte für den Aufenthalt und die
Unterkunft unserer Jüngerinnen festgelegt haben, worauf wir unsere Wanderungen
wieder aufnehmen werden, um das Wort Gottes zu verbreiten, ohne uns um die
Schwestern sorgen und ohne Verleumdungen befürchten zu müssen. Ihre Geduld und
ihre Sanftmut wird euch eine Lehre sein. Auch für die Frau wird bald die
Stunde der Wiedererlangung ihrer Würde kommen. Ein großes Blumenbeet von
Jungfrauen, Bräuten und Müttern wird in meiner Kirche sein.»
193. JESUS IN CAESAREA AM MEER ER
SPRICHT ZU DEN GALEERENSKLAVEN
Jesus befindet sich in der Mitte
eines weiten und recht schönen Platzes, der in eine sehr breite Straße
ausläuft, die fast eine Verlängerung des Platzes zu sein scheint und bis zum
Meeresufer führt. Eine Galeere hat gerade den Hafen verlassen und wird vom
Wind und den Ruderschlägen ins offene Meer getrieben. Eine andere dreht bei,
um in den Hafen zu gelangen, denn die Segel werden eingezogen und die Ruder
nur von einer Gruppe bewegt, um das Schiff zu wenden und in die gewünschte
Stellung zu bringen. Der Hafen ist vom Platz aus nicht sichtbar, doch kann er
nicht weit entfernt sein. Der Platz ist von großen Gebäuden umgeben mit den
charakteristischen Außenmauern, welche kaum eine Öffnung aufweisen. Nirgends
ein Laden.
180
«Wohin gehen wir nun? Du hast
hierher kommen wollen, statt in den östlichen Teil der Stadt zu gehen, und
hier wohnen die Heiden. Wer will dir hier schon zuhören?» rügt Petrus.
«Gehen wir zu jenem Winkel am
Meer. Dort werde ich sprechen.»
«Zu den Wellen?»
«Auch die Wellen sind von Gott
erschaffen worden.»
Sie gehen. Nun sind sie an der
Bucht angelangt und können von dort aus den Hafen überblicken, in den die
Galeere, die sie vorher gesehen hatten, langsam einläuft und dann anlegt.
Einige Seeleute schlendern müßig den Kai entlang. Obstverkäufer wagen es, sich
dem römischen Schiff zu nähern, um ihre Ware anzubieten. Das ist alles.
Jesus, der mit dem Rücken zur
Mauer steht, scheint tatsächlich zu den Wellen zu sprechen. Die Apostel sind
nicht besonders zufrieden mit dieser ganzen Lage; sie umringen ihn, teils
stehend, teils auf den Felsbrocken sitzend, die da und dort herumliegen und
ihnen als Bank dienen.
«Töricht ist der Mensch, der sich
mächtig, gesund und glücklich fühlt und sagt: "Was brauche ich schon mehr? Wen
brauche ich? Niemanden! Nichts fehlt mir, ich genüge mir selbst, daher gelten
für mich die Gebote und die Vorschriften Gottes oder die Sittengesetze nichts.
Mein Gesetz ist, das zu tun, wozu ich fähig bin, ohne darüber nachzudenken, ob
es nun gut oder schlecht für die anderen sei."»
Ein Händler, der die klangvolle
Stimme hört, wendet sich um und geht auf Jesus zu, der fortfährt: «So spricht
der Mann und die Frau ohne Weisheit und Glauben. Aber wenn sie damit auch
zeigen, daß sie eine mehr oder weniger hohe Stellung in der Gesellschaft
einnehmen, so beweist dies ebenfalls eine Verwandtschaft mit dem Bösen.»
Männer verlassen die Galeere und
andere Boote und kommen zu Jesus.
«Der Mensch zeigt nicht durch
Worte, sondern durch Taten, daß er mit Gott und der Tugend verwandt ist, wenn
er darüber nachdenkt, daß das Leben noch wechselhafter ist als die
Meereswelle, die sich heute ruhig zeigt und morgen tobt. Ebenso können sich
Wohlstand und Macht von heute auf morgen in Elend und Ohnmacht verwandeln. Was
wird dann der Mensch tun, der ohne Bindung an Gott lebt? Wie viele auf dieser
Galeere waren einst glücklich und mächtig, und nun sind sie Sklaven und werden
als Schuldige angesehen! Schuldig sein heißt, Sklave sein: Sklave des
menschlichen Gesetzes, das im Leichtsinn verhöhnt wird, denn es besteht und
bestraft seine Übertreter, und Sklaven Satans, der sich auf ewig den
Schuldigen aneignet, der nicht dazu kommt, seine Schuld zu verabscheuen.»
«Sei gegrüßt, Meister! Wie kommt
es, daß du hier bist? Erkennst du mich wieder?»
«Gott möge zu dir kommen, Publius
Quintilianus. Du siehst, ich bin gekommen!»
181
«Gerade hierher, in das römische
Viertel. Ich hoffte nicht mehr, dich je wiederzusehen. Aber es freut mich,
dich zu hören.»
«Auch ich freue mich, dich zu
sehen. Sind auf der Galeere dort viele an den Rudern?»
«Viele! Hauptsächlich
Kriegsgefangene. Interessieren sie dich?»
«Ich würde gerne zu diesem Schiff
hingehen.»
«Komm. Macht Platz, ihr!»
befiehlt er den wenigen, die sich ihnen genähert haben. Sie treten zur Seite
und stoßen Verwünschungen aus.
«Laß sie nur. Ich bin es gewohnt,
von Menschen umringt zu sein.»
«Bis hierher kann ich dich
führen, weiter nicht. Es ist eine Militärgaleere.»
«Es genügt mir. Gott vergelte es
dir.»
Jesus beginnt wieder zu reden,
während der Römer an seiner Seite in der prächtigen Uniform sein Leibwächter
zu sein scheint.
«Sklave kann man auch infolge
eines schmerzlichen Ereignisses geworden sein. Doch jede Träne, die auf ihre
Ketten fällt, jeder Peitschenhieb, der niedersaust und schmerzhafte Spuren auf
ihrem Körper zurückläßt, läßt ihre Fesseln leichter werden, veredelt in ihnen
das Unsterbliche, und bringt ihnen schließlich den Frieden Gottes, denn Gott
liebt seine armen, unglücklichen Kinder und wird ihnen ebensoviel Freude
schenken, wie sie hier Schmerzen zu ertragen hatten.»
An den Bordwänden der Galeere
zeigen sich Männer der Besatzung und hören zu. Die Galeerensträflinge kann man
natürlich nicht sehen. Doch sicher dringt durch alle Öffnungen für die Ruder
die mächtige Stimme Jesu zu ihnen, die in dieser ruhigen Stunde der Ebbe
weithin hörbar ist. Publius Quintilianus, der von einem Soldaten gerufen
worden ist, hat sich entfernt.
«Ich möchte diesen Unglücklichen,
die von Gott geliebt werden, sagen, daß sie ihren Schmerz ergeben tragen und
aus ihm nichts anderes machen sollen als eine Flamme, die bald die Ketten der
Galeere und des Lebens lösen wird. Verbringt diesen armseligen Tag, diese
dunkle, stürmische Zeit voller Ängste und Nöte, wie sie das Leben ist, im
Verlangen nach Gott, damit ihr in das Licht Gottes eingehen könnt, in das
strahlende Licht, wo es keine Angst und keine Qualen mehr geben wird. Ihr
werdet in den großen Frieden, in die unendliche Freiheit des Paradieses
eingehen, ihr Märtyrer eines bitteren Loses, wenn ihr nur in eurem Leiden gute
Menschen zu sein versucht und nach Gott strebt.»
Publius Quintilianus kehrt mit
anderen Soldaten zurück. Es folgen Sklaven mit einer Sänfte, der die Soldaten
Platz schaffen.
«Wer ist Gott? Ich spreche zu
Heiden, die nicht wissen, wer Gott ist. Ich spreche zu Kindern unterdrückter
Völker, die nicht wissen, wer Gott ist. In euren Wäldern, ihr Gallier, ihr
Iberer, ihr Thrazier, ihr Germanen und ihr Kelten, habt ihr etwas, was euch
Gott offenbart. Die Seele fühlt
182
sich von selbst zur Anbetung
gezogen, weil sie sich an den Himmel erinnert. Doch ihr versteht es nicht, den
wahren Gott zu finden, der eine Seele in euren Körper gelegt hat; eine Seele,
die der der Israeliten gleich ist, und gleich wie jene der mächtigen Römer,
die euch unterjocht haben; eine Seele, welche dieselben Pflichten und
dieselben Rechte dem Guten gegenüber hat, und der gegenüber der Gute, das
heißt, der wahre Gott, treu sein wird. Seid auch ihr dem Guten treu. Der Gott
oder die Götter, dessen oder deren Namen ihr auf den Knien der Mutter gelernt
und den ihr angebetet habt, der Gott, an den ihr vielleicht nicht mehr denkt,
weil ihr keinen Trost von ihm in eurem Leid empfangt, und den ihr in eurer
Verzweiflung vielleicht sogar zu hassen und zu verfluchen beginnt, ist nicht
der wahre Gott.
Der wahre Gott ist Liebe und
Barmherzigkeit. Waren vielleicht eure Götter so? Nein. Auch sie waren Härte,
Grausamkeit, Lüge, Scheinheiligkeit, Laster und Raub. Nun haben sie euch ohne
den Trost gelassen, der in der Hoffnung besteht, geliebt zu sein und nach so
viel Leiden die Gewißheit der Ruhe zu haben. So ist es, weil eure Götter keine
Götter sind. Gott, der wahre Gott, der Liebe und Barmherzigkeit ist und von
dem ich euch versichere, daß er existiert, ist auch der, der den Himmel, die
Meere, die Berge, die Wälder, die Pflanzen, die Blumen, die Tiere und den
Menschen erschaffen hat. Er flößt dem siegreichen Menschen Barmherzigkeit und
Liebe ein, wie er sie selbst den Geringen der Erde entgegenbringt. O ihr
Mächtigen, ihr Gebieter, bedenkt, daß ihr alle aus demselben Stamme
hervorgegangen seid. Geht nicht grausam gegen jene vor, die ein unglückliches
Schicksal euch in die Hände gegeben hat, und seid auch gegen die menschlich,
die ein Vergehen an die Ruderbank der Galeere gekettet hat.
Der Mensch sündigt oft. Niemand
ist ohne mehr oder weniger geheime Sünden. Wenn ihr das bedenken würdet, wäret
ihr bestimmt gut zu euren Brüdern, die weniger Glück als ihr gehabt haben und
für Fehler bestraft worden sind, die ihr vielleicht auch begangen habt, ohne
dafür bestraft worden zu sein. Die menschliche Gerechtigkeit ist in ihrem
Urteil äußerst fragwürdig, daß es schlimm wäre, wenn die göttliche
Gerechtigkeit auch so wäre. Es gibt Schuldige, die unschuldig zu sein
scheinen, und Unschuldige, die für schuldig befunden werden. Ich will hier
nicht die Ursachen dieser Ungerechtigkeiten untersuchen. Es ergäbe sich daraus
eine zu schwere Anklage gegen den ungerechten Menschen, der voll Haß gegen
seinen Nächsten ist! Es gibt Schuldige, die zwar solche sind, die aber unter
dem Drang übermächtiger Kräfte zum Verbrechen neigen, was ihre Schuld
teilweise vermindert. Seid also menschlich, ihr, die ihr in den Galeeren
gebietet. Über der menschlichen Gerechtigkeit steht eine weit erhabenere,
göttliche Gerechtigkeit, jene des wahren Gottes, des Schöpfers des Königs und
des Sklaven, des Felsens und des Sandkorns. Er sieht euch, euch, die ihr
rudert, und euch, die ihr der Rudermannschaft vorsteht, und
183
wehe, wenn ihr ohne Grund grausam
seid! Ich, Jesus Christus, der Messias des wahren Gottes, versichere euch:
Gott wird euch bei eurem Tod an eine ewige Galeere ketten und den Dämonen die
blutbeschmierte Peitsche überlassen, und ihr werdet geschlagen und gequält
werden, wie ihr selber geschlagen und gequält habt. Denn wenn es auch ein
menschliches Gesetz gibt, daß der Schuldige bestraft werde, so darf man in der
Strafe doch nicht das Maß überschreiten. Vergeßt dies nicht, denn der Mächtige
von heute kann der Elende von morgen sein. Gott allein ist ewig.
Ich möchte euer Herz umwandeln
und vor allem eure Ketten lösen, euch die verlorene Freiheit und Heimat
wiedergeben. Aber, ihr Galeerensträflinge, die ihr meine Brüder seid, und die
ihr mein Antlitz nicht sehen könnt, während ich euer Herz mit all seinen
Wunden und seiner Sehnsucht nach der irdischen Freiheit und Heimat, die ich
euch nicht geben kann, kenne, ihr armen Sklaven der Mächtigen, ich werde euch
eine weit wertvollere Freiheit und Heimat schenken. Euretwegen bin ich zum
Gefangenen und Heimatlosen geworden, und um euch loszukaufen werde ich mich
selbst hingeben, und für euch, auch für euch, die ihr nicht der Auswurf der
Menschheit seid, wie ihr genannt werdet, sondern eine Schande seid für den,
der das Maß in der Härte des Krieges und der Gerechtigkeit verliert: für euch
werde ich ein neues Gesetz auf Erden geben und eine herrliche Wohnstätte im
Himmel bereiten. Erinnert euch meines Namens, Kinder Gottes, die ihr jetzt
weint! Es ist der Name eures Freundes. Sprecht ihn aus in euren Qualen. Seid
versichert, daß ihr mich durch eure Liebe zu mir besitzen werdet, auch wenn
wir uns auf Erden nie sehen werden. Ich bin Jesus Christus, der Retter, euer
Freund.
Im Namen des wahren Gottes
schenke ich euch Trost. Möge der Friede bald über euch kommen.»
Die Menge, die großenteils aus
Römern besteht, hat sich um Jesus geschart, dessen neue Gedanken alle in
Erstaunen versetzt haben.
«Beim Jupiter! Du hast mich an
Dinge denken lassen, die mir nie in den Sinn gekommen wären, von denen ich
aber fühle, daß sie wahr sind...»
Publius Quintilianus betrachtet
Jesus nachdenklich und ergriffen zugleich.
«So ist es, Freund. Wenn der
Mensch den Verstand gebrauchte, dann würde er nicht soweit kommen und
Verbrechen begehen.»
«Beim Jupiter! Beim Jupiter!
Welch ein Wort! Ich muß es mir merken. Du hast gesagt: "Wenn der Mensch seinen
Verstand gebrauchte..."»
«... dann käme er nicht so weit,
Verbrechen zu begehen.»
«Das ist wahr, beim Jupiter!
Weißt du, du bist wirklich großartig.»
«Jeder Mensch könnte wie ich
sein, wenn er es wollte und mit Gott eins wäre.»
Der Römer wiederholt immer aufs
neue und mit wachsender Bewunderung seinen Ausruf: «Beim Jupiter!»; doch Jesus
fragt ihn: «Könnte ich
184
den Galeerensträflingen etwas
Trost spenden? Ich habe Geld... eine Frucht, eine Erleichterung, damit sie
wissen, daß ich sie liebe.»
«Gib her! Ich kann es tun, und
übrigens ist dort eine sehr einflußreiche Dame, die viel vermag; ich werde sie
fragen.» Publius geht zur Sänfte und spricht durch den ein wenig beiseite
geschobenen Vorhang. Dann kehrt er zurück. «Ich habe volle Befugnis und werde
selbst die Verteilung vornehmen, damit die Galeerenaufseher nicht mit deiner
Güte Mißbrauch treiben. Es wird das einzige Mal sein, daß ein kaiserlicher
Soldat Kriegsgefangenen Barmherzigkeit erweist.»
«Das erste, nicht das einzige
Mal. Es wird der Tag kommen, an dem es keine Sklaven mehr geben wird, und
zuvor werden meine Jünger unter die Galeerensträflinge und übrigen Sklaven
gegangen sein, um sie Brüder zu nennen.» Publius stößt wieder eine Reihe von
«Beim Jupiter!» aus, während er darauf wartet, daß ihm genügend Obst und Wein
für die Sträflinge gebracht wird. Bevor er dann die Galeere besteigt, nähert
er sich Jesus und flüstert ihm ins Ohr: «Dort drinnen sitzt Claudia Procula.
Sie möchte dich noch sprechen hören. Doch vorerst möchte sie dich etwas
fragen. Geh zu ihr.»
Jesus geht zur Sänfte.
«Sei gegrüßt, Meister!» Der
Vorhang wird ein wenig beiseite geschoben, und eine schöne Frau um die dreißig
wird sichtbar.
«Es möge in dir der Wunsch nach
Weisheit erwachen!»
«Du hast gesagt, daß sich die
Seele des Himmels erinnert. Ist das, von dem ihr sagt, daß es in uns ist, also
ewig?»
«Es ist ewig, unsterblich, und
deshalb erinnert es sich an Gott, an Gott, der es erschaffen hat.»'
«Was ist die Seele?»
«Die Seele ist der wahre Adel des
Menschen. Du bist ruhmreich, weil du aus dem Geschlecht der Claudier bist. Der
Mensch ist es in noch höherem Maße, weil sein Ursprung in Gott ist. Es handelt
sich um eine mächtige Familie, die jedoch einen Anfang nahm und ein Ende haben
wird. Im Menschen fließt, seiner Seele wegen, das Blut Gottes, denn die Seele
ist – da Gott reinster Geist ist – das geistige Blut des Schöpfers des
Menschen: des ewigen, mächtigen und heiligen Gottes. Der Mensch ist also ewig,
mächtig und heilig durch die Seele, die in ihm ist und die lebt, solange sie
mit Gott vereint ist.»
«Ich bin Heidin. Somit habe ich
keine Seele...»
«Du hast sie, doch sie ist in
einen tiefen Schlaf gefallen. Erwecke sie zur Wahrheit und zum Leben...»
' In seiner unendlichen Vatergüte
bewirkt Gott, daß in jeder Menschenseele ein Drang zum Urquell hin besteht,
aus dem sie hervorgeht, was die Grundlage des Naturgesetzes bildet, welches
auch im Wilden vorhanden ist.
185
«Leb wohl, Meister!»
«Die Gerechtigkeit möge dich für
sich gewinnen. Leb wohl!»
«Wie ihr seht, habe ich auch hier
Zuhörer gefunden», sagt Jesus zu den Jüngern.
«Ja, aber wer wird dich außer den
Römern verstanden haben? Es sind doch Barbaren!»
«Wer? Alle. Der Friede ist in
ihnen eingekehrt, und sie werden sich mehr als viele in Israel meiner
erinnern. Laßt uns zu dem Haus gehen, wo man uns zur Mahlzeit einlädt.»
«Meister, die Frau ist dieselbe,
die am Tag, als du den Kranken geheilt hast, mit mir gesprochen hat. Ich habe
sie gesehen und wiedererkannt», sagt Johannes.
«So seht ihr also, daß auch
jemand hier war, der auf uns gewartet hat. Doch scheint ihr mir nicht sehr
glücklich darüber zu sein. Viel habe ich an jenem Tag erreicht, an dem ich
euch zu überzeugen vermag, daß ich nicht nur für die Juden, sondern für alle
Völker gekommen bin, und daß ich euch für sie alle vorbereitet habe. Ich sage
euch jedoch, erinnert euch an alles, was euer Meister sagt und tut. Nichts
davon ist so unbedeutend, daß es nicht eines Tages zur Regel für euer
Apostolat werden müßte.»
Niemand antwortet, und Jesus
lächelt traurig und voller Mitleid.
194. HEILUNG DER KLEINEN RÖMERIN
IN CAESAREA
Jesus sagt:
«Kleiner Johannes, komm mit mir,
denn ich will dich eine Belehrung für die Gottgeweihten von heute schreiben
lassen. Bereite dich vor und schreibe.»
Jesus ist noch in Caesarea am
Meere. Er befindet sich nicht mehr auf jenem Platz von gestern, sondern mehr
im Innern der Stadt, von wo aus man jedoch ebenfalls den Hafen und die Schiffe
sehen kann. Hier gibt es viele Warenlager und Geschäfte, und auch auf der
Straße liegen Matten, auf denen verschiedene Waren zu Schau gestellt werden.
Ich nehme an, daß es in der Nähe des Marktes sein muß, der zur Bequemlichkeit
der Schiffsleute und der Käufer der auf dem Wasserwege transportierten Waren
nicht weit vom Hafen und von den Lagerhäusern gelegen ist. Hier herrscht viel
Lärm, der von einem andauernden Kommen und Gehen von Leuten begleitet wird.
Jesus wartet mit Simon und den
Vettern darauf, daß die anderen Jünger die nötigen Lebensmittel gekauft haben.
Kinder betrachten neugierig Jesus, der sie zärtlich liebkost, während er mit
seinen Aposteln spricht. Jesus sagt: «Es tut mir leid, Unzufriedenheit
bemerken zu müssen, wenn
186
ich mich Heiden nähere. Aber ich
kann nichts anderes als das tun, was ich tun muß, und mit allen gut sein.
Bemüht auch ihr euch, gut zu sein, wenigstens ihr drei und Johannes, die
anderen werden euch dann nachahmen.»
«Aber wie kann man zu allen gut
sein? Schließlich verachten und unterdrücken sie uns, sie verstehen uns nicht
und sind so lasterhaft...» entschuldigt sich Jakobus des Alphäus.
«Wie man zu allen gut sein soll?
Du bist doch zufrieden, der Sohn des Alphäus und der Maria zu sein?»
«Ja, sicher, aber warum fragst du
mich danach?»
«Wenn du von Gott vor der
Empfängnis gefragt worden wärest, hättest du als ihr Kind zur Welt kommen
wollen?»
«Aber ja. Ich verstehe nicht...»
«Wenn du nun aber der Sohn eines
Heiden gewesen wärest und man dich angeklagt hätte, daß du der Sohn eines
Heiden hast sein wollen, was hättest du dann gesagt ?»
«Ich hätte gesagt... Ich hätte
gesagt: "Es ist nicht meine Schuld. Ich bin sein Sohn, doch ich hätte
ebensogut der Sohn eines anderen sein können." Ich hätte auch gesagt: "Ihr
klagt mich ungerechterweise an. Wenn ich nichts Böses tue, warum haßt ihr mich
dann?"»
«Du hast es gesagt. Auch sie, die
ihr als Heiden verachtet, könnten dasselbe sagen. Es ist nicht dein Verdienst,
daß du der Sohn des Alphäus, eines wahren Israeliten, bist. Du kannst dem
Ewigen für diese große Gnade nur danken und dich aus Dankbarkeit und Demut
darum bemühen, andere, die diese Gnade nicht haben, zum wahren Gott zu führen.
Man muß gut sein.»
«Es ist schwer zu lieben, wenn
man einen Menschen nicht kennt!»
«Nein. Schau... Du, Kleiner, komm
einmal her.»
Ein etwa achtjähriger Junge, der
mit zwei anderen Knaben in einem Winkel gespielt hat, kommt herbei. Es ist ein
kräftiges Kind mit dunkelbraunem Haar und einer sehr hellen Hautfarbe.
«Wer bist du?»
«Ich bin Lucius, Cajus Lucius des
Cajus Marius. Ich bin Römer, der Sohn des Hauptmanns der Wachmannschaft, der
nach seiner Verletzung hier geblieben ist.»
«Wer sind diese beiden?»
«Es sind Isaak und Tobias. Aber
man darf es nicht sagen, denn es ist verboten... Sie würden Schläge bekommen.»
«Warum?»
«Weil sie Juden sind, und ich bin
Römer. Das ist nicht erlaubt.»
«Aber du bist doch mit ihnen
zusammen. Warum?»
«Weil wir uns gern haben. Wir
spielen immer zusammen, mit den Würfeln und dem Springseil. Aber so, daß man
uns nicht sieht.»
187
«Würdest du mich auch gern haben?
Ich bin ebenfalls Jude, bin aber kein Kind mehr. Denk einmal, ich bin ein
Lehrmeister, sozusagen ein Priester.»
«Das macht mir nichts aus. Wenn
du mich liebhast, so liebe ich dich auch... und ich habe dich gern, weil du
mich gern hast.»
«Woher weißt du das?»
«Weil du gut bist. Wer gut ist,
der liebt.»
«Seht ihr, Freunde? Dies ist das
Geheimnis der Liebe: gut sein! Wer gut ist, liebt, ohne sich Gedanken darüber
zu machen, ob der andere unsere religiöse Überzeugung hat oder nicht.»
Jesus, der den kleinen Cajus
Lucius an der Hand hält, geht hin und liebkost die kleinen erschrockenen
Judenknaben, die sich hinter einem Toreingang versteckt haben, und sagt: «Die
guten Kinder gleichen Engeln, und Engel haben nur eine Heimat: den Himmel. Sie
haben alle denselben Glauben: jenen an den einzigen Gott. Sie haben nur einen
Tempel: das Herz Gottes. Liebet euch immer wie Engel.»
«Aber wenn sie uns sehen,
schlagen sie uns...»
Jesus schüttelt traurig das Haupt
und antwortet nicht...
Eine hochgewachsene,
wohlgestaltete Frau ruft Lucius, und dieser löst sich von Jesus und ruft aus:
«Die Mutter!» und dann zur Frau: «Ich habe einen großen Freund, weißt du ? Er
ist ein Lehrmeister...»
Die Frau entfernt sich nicht mit
dem Kind, sondern geht vielmehr auf Jesus zu und fragt ihn: «Sei gegrüßt! Bist
du nicht der Mann aus Galiläa, der gestern unten am Hafen gesprochen hat?»
«Ich bin es.»
«Dann warte hier auf mich, ich
komme gleich zurück», und sie geht mit ihrem Kleinen davon.
Die anderen Apostel – außer
Matthäus und Johannes – sind inzwischen eingetroffen und wollen wissen: «Wer
war diese Frau?»
«Eine Römerin, glaube ich»,
antworten Simon und die anderen.
«Was wollte sie?»
«Sie hat gesagt, wir sollen hier
auf sie warten. Wir werden es gleich erfahren...»
Andere Leute haben sich
hinzugesellt und warten neugierig.
Die Frau kehrt mit anderen Römern
zurück. «Du bist also der Meister ?» fragt einer, der wie ein Diener aus einem
herrschaftlichen Hause aussieht. Nachdem ihm dies bestätigt worden ist, fragt
er weiter: «Würdest du Abscheu empfinden, die Tochter einer Freundin von
Claudia zu heilen? Das Kind hat Erstickungsanfälle und liegt im Sterben, und
der Arzt kennt die Ursache seines Leidens nicht. Gestern war es noch gesund.
Heute morgen liegt es im Todeskampf.»
«Laßt uns zu ihm gehen.»
Sie gehen nur einige Schritte auf
einer Straße, die zum Platz führt, wo
188
sie gestern waren, und kommen zum
weitgeöffneten Tor eines Hauses, das von Römern bewohnt zu sein scheint.
«Warte einen Augenblick.» Der
Mann geht rasch hinein und erscheint gleich wieder: «Komm!» sagt er.
Bevor Jesus jedoch eintreten
kann, kommt eine junge Frau von vornehmem Aussehen aus dem Haus, die sichtlich
verzweifelt ist. Sie trägt ein nur wenige Monate altes Kind auf den Armen, das
blau wie ein Erstickender ist. Ich würde sagen, daß es eine tödliche
Diphtherie hat und in den letzten Zügen liegt. Die Frau flüchtet sich an die
Brust Jesu wie ein Schiffbrüchiger auf eine Klippe. Sie schluchzt so stark,
daß sie nicht zu sprechen vermag.
Jesus nimmt das Kind, dessen
wächserne Händchen mit den schon ganz violetten Nägelchen verkrampft sind, und
hält es hoch. Das Köpflein fällt kraftlos nach hinten. Die Mutter ist – ohne
den Hochmut der Römerin gegenüber dem Juden – zu den Füßen Jesu in den Staub
niedergesunken und schluchzt mit erhobenem Antlitz. Ihre Haare sind halb
aufgelöst, während sie mit ausgestreckten Armen das Gewand und den Mantel des
Meisters zu berühren sucht. Hinter ihr und um sie herum stehen Römer aus dem
Hause und Jüdinnen aus der Stadt und schauen zu.
Jesus benetzt seinen rechten
Zeigefinger mit Speichel, steckt ihn in den kleinen keuchenden Mund und führt
ihn tief hinein. Das Kind schüttelt sich und wird noch dunkler. Die Mutter
schreit: «Nein! Nein!» und gleicht einer sich unter einer Klinge Krümmenden,
die sie verletzt. Die Menge hält den Atem an. Doch der Finger kommt mit einer
Ansammlung von eitrigem Schleim wieder zum Vorschein, und das Kind schlägt
nicht mehr um sich und beruhigt sich mit einem unschuldigen Lächeln. Es bewegt
die Händchen und die Lippen wie ein Vöglein, das in der Erwartung des Futters
piepst und mit den Flügeln schlägt.
«Nimm es, Frau. Gib ihm Milch. Es
ist geheilt.»
Die Mutter ist so außer sich, daß
sie das Kind nimmt und es, noch im Staube kniend, ganz närrisch küßt,
liebkost, ihm die Brust reicht und alles vergißt, was nicht ihr Kind ist.
Ein Römer fragt Jesus: «Wie hast
du das fertiggebracht? Ich bin der Arzt des Statthalters und habe studiert.
Ich habe versucht, das Hindernis zu entfernen, doch es war zu tief unten...
und du... einfach so...»
«Gelehrt bist du, doch der wahre
Gott ist nicht mit dir. Er sei gepriesen! Leb wohl!» Jesus will gehen.
Aber da ist eine kleine Gruppe
von Israeliten, die das Bedürfnis haben, sich einzumischen: «Wie kannst du dir
erlauben, dich Fremden zu nähern? Sie sind verderbt und unrein, und jeder, der
in ihre Nähe kommt, wird es selbst.»
Jesus blickt sie an – es sind
ihrer drei – eindringlich und streng und sagt – «Bist du nicht Aggäus, der
Mann aus Azot, der am letzten Tischri
189
hierher kam, um zu versuchen, mit
dem Händler, der am alten Brunnen wohnt, Geschäfte zu machen? Du, bist du
nicht Joseph aus Rama, der sich in diese Stadt begeben hat, um den römischen
Arzt aufzusuchen? Weißt du, warum ich den Grund hierfür kenne? Also, fühlt ihr
euch nicht unrein?»
«Der Arzt ist nie ein Fremder. Er
sorgt sich um den Körper, und der Körper ist bei allen gleich.»
«Die Seele ist es noch mehr als
der Körper. Übrigens, was habe ich denn geheilt? Den unschuldigen Körper eines
Säuglings; und dadurch hoffe ich, die nicht unschuldigen Seelen der Fremden zu
heilen. Folglich kann ich mich als Arzt und als Messias allen nähern.»
«Nein, das ist dir nicht
erlaubt.»
«Nein, Aggäus? Warum treibst du
mit einem römischen Kaufmann Handel?»
«Ich nähere mich ihm nur mit der
Ware und dem Geld.»
«Da du also sein Fleisch nicht
berührst, sondern nur das, was von seiner Hand berührt worden ist, glaubst du,
dich nicht zu verunreinigen? O ihr Blinden und Grausamen!
Hört alle zu: im Buche des
Propheten (Aggäus = Haggaj), dessen Name dieser Mann hier trägt, steht
geschrieben: "Richte an die Priester diese Gesetzesfrage: 'Wenn jemand
heiliges Opferfleisch im Zipfel seines Gewandes trägt und mit seinem Gewand
Wein oder Speise, Brot, Öl oder andere Nahrungsmittel berührt, sind diese dann
heilig?' Die Priester antworteten: 'Nein!' Alsdann fragte Aggäus: 'Wenn einer
durch die Berührung eines Toten verunreinigt worden ist und eines dieser Dinge
berührt, wird es dann unrein?' Die Priester antworteten: 'Ja."'
Durch diese zweideutige,
lügenhafte und widersprüchliche Verhaltensweise schließt ihr das Gute aus und
verurteilt es. Ihr anerkennt nur, was euch selbst zum Nutzen ist. Dann
schwinden Verachtung, Ekel und Abscheu. Nur solange es euch keinen
persönlichen Schaden verursacht unterscheidet ihr, ob etwas unrein ist und
unrein macht oder nicht. Wie könnt ihr, lügnerische Zungen, erklären, daß das,
was durch die Berührung mit heiligem Fleisch oder anderen heiligen Dinge
geheiligt worden ist, nicht auch heiligt, was es berührt ? Wie könnt ihr
behaupten, daß das, was durch die Berührung mit etwas Unreinem verunreinigt
worden ist, unrein macht, was mit ihm in Berührung kommt?
Seht ihr es denn nicht ein, daß
ihr euch selbst widersprecht, ihr lügnerischen Hüter eines Gesetzes der
Wahrheit und Nutznießer desselben? Ihr dreht es wie Hanf, wenn euch daran
gelegen ist, einen Vorteil daraus zu ziehen, ihr heuchlerischen Pharisäer, die
ihr unter dem Vorwand der Religion eurer menschlichen, nur rein menschlichen
Gehässigkeit freien Lauf laßt. Ihr Schänder dessen, was Gottes ist, ihr
Beleidiger und Feinde des Gesandten Gottes! Wahrlich, wahrlich, ich sage euch,
daß jede eurer
190
Handlungen, jeder eurer
Beschlüsse, jede eurer Gebärden durch ein ganzes Triebwerk an Verschlagenheit
zustandekommt, dem eure Selbstsucht, Leidenschaft, Unaufrichtigkeit, euer Haß,
Neid und eure Herrschsucht als Räder und Federn, als Zugschnur und Gewicht
dienen.
Schande! Habgierig, ängstlich
zitternd und mißgünstig lebt ihr in Hochmut und Furcht, daß einer euch
übertreffen könnte, selbst wenn dieser nicht einmal eurer Kaste angehört.
Deshalb verdient ihr, daß es euch genau so ergehe wie es jener androht, der
euch in Angst und Wut versetzt. Ihr, die ihr, wie Aggäus sagt, aus einem
Getreidehaufen von zwanzig Scheffel einen von zehn und aus fünfzig Fässern
zwanzig macht, und den Gewinn, der sich aus der Differenz ergibt, in eure
Tasche steckt, statt um den Menschen ein Beispiel zu geben und aus Liebe zu
Gott zu der Anzahl der Scheffel und der Fässer noch etwas für die Hungernden
hinzuzufügen. Ihr verdient, daß alle Werke eurer Hände durch einen glühend
heißen Wind, durch Rost und Hagel unfruchtbar bleiben.
Wer von euch kommt zu mir? Leute,
die für euch Schmutz und Abfall sind, die vollkommen Unwissenden, die nicht
einmal wissen, daß es einen wahren Gott gibt. Sie kommen zu dem, der ihnen
Gott in Worten und Werken vor Augen führt. Aber ihr, aber ihr! Ihr habt euch
eine Nische bereitet und bleibt dort wo ihr seid, teilnahmslos und kalt wie
Götzen in Erwartung der Beweihräucherung und Anbetung. Da ihr euch einbildet,
Götter zu sein, haltet ihr es für unnütz, euch in gebührender Weise um den
wahren Gott zu kümmern; und es scheint euch gefährlich, daß andere wagen, was
ihr selbst nicht wagen würdet. Ihr könnt es in der Tat nicht wagen, denn ihr
seid Abbilder von Götzen und Götzendiener zugleich. Wer aber wagt, ist auch
fähig, denn nicht er, sondern Gott wirkt in ihm.
Geht und berichtet denen, die
euch aufgetragen haben, mir auf den Fersen zu sein, daß ich empört bin über
jene Händler, die es nicht als Verunreinigung betrachten, die Güter, die
Heimat oder den Tempel denen zu verkaufen, die ihnen Geld geben. Sagt ihnen,
daß ich Abscheu vor Unmenschen empfinde, deren Kult nur dem eigenen Fleisch
und Geblüt gilt, und die es, um deren Heilung zu erlangen, nicht für eine
Verunreinigung erachten, den fremden Arzt aufzusuchen. Sagt ihnen, daß es nur
ein und nicht zwei Maße gibt. Sagt ihnen, daß ich, der Messias, der Gerechte,
der Ratgeber, der Bewunderungswürdige bin; der über sich den Geist des Herrn
mit seinen sieben Gaben hat; der nicht nach dem Anschein richtet, sondern nach
dem, was Geheimnis des Herzens ist; der nicht verurteilt, weil ihm etwas zu
Ohren gekommen ist, sondern der auf die Stimme des Geistes achtet, die er im
Innern eines jeden Menschen vernimmt; der die Geringen in seinen Schutz nimmt
und die Armen in Gerechtigkeit richten wird. Ich bin es, der bereits schon
jetzt richtet und heimsucht, die auf dieser Erde nichts als Erde sind. Der
Hauch meines Atems wird den Gottlosen vernichten und sein Nest zerstören,
während er Leben und Licht, Freiheit
191
und Friede für jene sein wird,
die von Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Glauben erfüllt, zu meinem heiligen
Berg kommen, um sich an der Wissenschaft des Herrn zu sättigen. So steht es
bei Isaias, nicht wahr?
Mein Volk! Alle Menschen stammen
von Adam ab, und Adam ist aus meinem Vater hervorgegangen. Alle sind das Werk
meines Vaters, und meine Aufgabe ist es, alle vor dem Vater zu versammeln. Ich
führe sie zu dir, o heiliger, ewiger, mächtiger Vater. Ich führe diese
irrenden Kinder, nachdem ich sie mit der Stimme der Liebe um mich versammelt
habe, vereint unter meinem Hirtenstab, gleich jenem, den Moses einst gegen die
tödlichen Schlangen erhob, auf daß du dein Reich und dein Volk besitzest. Ich
mache keine Unterschiede, denn im Innersten eines jeden Menschen sehe ich
einen Punkt, der heller leuchtet als Feuer: die Seele, einen Funken von dir,
du ewiger Glanz. O meine ewige Sehnsucht! O mein unermüdliches Verlangen!
Dies will ich. Danach sehne ich
mich glühend. Eine ganze Welt, die deinen Namen lobpreist. Eine Menschheit,
die dich Vater nennt. Eine Erlösung, die alle rettet. Einen gestärkten Willen,
der alle deinem Willen gehorsam macht. Einen ewigen Triumph, der das Paradies
mit einem Hosanna ohne Ende erfüllt...
O Vielzahl der Himmel! ... Ja,
ich sehe das Lächeln Gottes... es ist der Lohn für jede menschliche Härte.»
Die drei Israeliten sind unter
dem Hagel der Vorwürfe geflohen. Die anderen, Römer wie Juden, sind mit
offenem Munde stehengeblieben. Die Römerin mit dem kleinen Mädchen, das
gestillt und friedlich im Schoß der Mutter schläft, kniet noch immer zu Jesu
Füßen und weint aus mütterlicher Freude und seelischer Ergriffenheit. Viele
weinen, gerührt durch die mitreißenden Schlußworte Jesu, der in seiner
Entrückung zu lodern scheint.
Jesus, der seine Augen und seinen
Geist vom Himmel wieder der Erde zuwendet, sieht das Volk, sieht die Mutter...
und nach einem Zeichen des Abschieds an alle, streift seine Hand die junge
Römerin so, als wolle er sie für ihren Glauben segnen. Dann entfernt er sich
mit den Seinen, während die Menschen immer noch voller Staunen an derselben
Stelle verharren...
(Die junge Römerin könnte – wenn
es sich nicht um eine zufällige Ähnlichkeit handelt – eine der Römerinnen
sein, die mit Johanna des Chuza auf dem Weg zum Kalvarienberg waren. Da sie
dort niemand beim Namen gerufen hat, bin ich aber nicht ganz sicher.)
192
195. ANNALIA LEGT DAS GELÜBDE DER
JUNGFRÄULICHKEIT AB
Jesus, von Petrus, Andreas und
Johannes begleitet, klopft an die Tür seines Hauses in Nazareth. Seine Mutter
öffnet sofort, und ihr Antlitz leuchtet in einem strahlenden Lächeln, als sie
ihren Jesus sieht.
«Gut, daß du kommst, mein Sohn.
Seit gestern ist eine reine Taube bei mir, die auf dich wartet, Sie kommt von
weither, und ihre Begleitung konnte sich hier nicht länger aufhalten. Da sie
um Rat fragte, habe ich ihr so gut ich konnte geantwortet. Doch du allein,
mein Sohn, bist die Weisheit. Auch ihr anderen, seid willkommen. Kommt und
erquickt euch gleich.»
«Ja, bleibt hier. Ich will
sogleich zu diesem Geschöpf gehen, das auf mich wartet.»
Die drei sind neugierig, doch
jeder auf seine Art. Petrus schielt mit Interesse in alle Ecken und würde
wahrscheinlich auch gerne sehen, was jenseits der Mauern ist. Johannes scheint
auf dem lächelnden Antlitz Marias den Namen der Unbekannten lesen zu wollen.
Andreas hingegen, der feuerrot geworden ist, sieht Jesus fest an, und ein
stummes Flehen zittert in seinem Blicke und auf seinen Lippen.
Jesus aber achtet auf niemanden.
Während die drei sich schließlich in die Küche begeben, wo Maria ihnen mit
Speisen und Wärme des Feuers aufwartet, hebt Jesus den Vorhang, der die
Öffnung zum Garten verhüllt, und geht hinaus. Eine milde Sonne läßt die
blühenden Äste des hohen Mandelbaumes noch duftiger und unwirklicher
erscheinen. Der höchste Baum des Gartens ist auch der einzige, der schon in
Blüte steht, und die Pracht seines rosaweißen Seidenkleides hebt sich von der
Kahlheit der Birn-, Apfel-, Feigen-, Granatapfelbäume und der Weinstöcke ab.
Alle sind noch unbelaubt, während er reich in seinem duftigen Schleier und
lebendig im Vergleich zur grauen und eintönigen Bescheidenheit der Olivenbäume
erscheint. Seine langen Äste haben wohl ein leichtes Wölkchen eingefangen, das
sich am blauen Himmelszelt verirrt hatte, und sich damit geschmückt, um so
allen zu verkünden: «Die Hochzeit des Frühlings naht. Frohlockt, ihr Pflanzen
und Tiere. Die Zeit der Küsse mit den Winden, den Bienen und den Blumen ist
gekommen. Die Zeit der Küsse unter den Dachziegeln und im dichten Gestrüpp, o
ihr Vöglein Gottes, o ihr weißen Schafe! Heute die Küsse, morgen der
Nachwuchs, um das Werk unseres Schöpfergottes fortzuführen.»
Jesus steht mit über der Brust
gekreuzten Armen in der Sonne und lächelt der reinen, friedvollen Anmut des
Gartens der Mutter zu. Die Lilienbeete künden sich bereits mit den ersten
Trieben der Blätter an; die Rosenstöcke sind noch kahl, der silberne
Olivenbaum ist von anderen Blumen- und Gemüsebeeten umgeben. Rein, geordnet
und freundlich,
193
wie der Garten ist, scheint auch
er die keusche Reinheit vollkommener Jungfräulichkeit auszuströmen.
«Sohn, komm in mein Zimmer. Ich
werde sie zu dir führen, denn sie hat sich dort hinten verborgen, als sie die
vielen Stimmen hörte.»
Jesus betritt das Zimmer der
Mutter, den keuschen Raum, der die Worte des Zwiegesprächs mit dem Engel
vernommen hat, und noch mehr als der Garten den jungfräulichen, engelhaften,
heiligen Duft jener ausströmt, die ihn seit Jahren bewohnt, und den des
Erzengels, der hier seine Königin verehrt hat. Sind wirklich schon mehr als
dreißig Jahre seit dieser Begegnung vergangen, oder hat sie erst gestern
stattgefunden? Auch heute trägt der Spinnrocken sein weiches, silbrig
schimmerndes Wollfaserbündel, der Spindelstock ist voller Fäden, und eine
zusammengefaltete Stickerei liegt auf der Konsole bei der Tür, zwischen einer
Pergamentrolle und einem kupfernen Krug, in dem ein blühender Mandelzweig
steckt. Auch jetzt flattert der gestreifte Vorhang, der das Geheimnis der
jungfräulichen Wohnung verhüllt, beim leisesten Windhauch, und das Ruhelager,
das wohlgeordnet in seiner Ecke steht, sieht immer noch so hübsch aus, wie das
eines Mädchens an der Schwelle zur Jugend. Was für Träume wurden und werden
wohl auf dem flachen Kopfkissen noch geträumt? ...
Die Hand Marias hebt langsam den
Vorhang empor, und Jesus, der mit dem Rücken zur Tür diese Stätte der Reinheit
betrachtete, wendet sich
UM.
«Hier, mein Sohn. Ich führe sie
zu dir. Ein Lamm, und du bist ihr Hirte.» Maria, die mit einem dunkelhaarigen,
schlanken, jungen Mädchen an der Hand eingetreten ist, das beim Anblick Jesu
stark errötet, zieht sich behutsam zurück und läßt den Vorhang wieder
zurückfallen.
«Der Friede sei mit dir,
Mädchen!»
«Der Friede... Herr!» Das
Mädchen, das sehr erregt scheint, ist sprachlos geworden und kniet nieder, das
Haupt bis zum Boden geneigt.
«Erhebe dich! Was möchtest du von
mir? Hab keine Angst...»
«Ich habe keine Angst... nur...
nun, da ich vor dir stehe... nachdem ich mich so sehr danach gesehnt habe....
finde ich alles, von dem ich dachte, daß es so leicht und nötig sei, dir zu
sagen, nicht mehr... Es scheint mir nicht mehr dasselbe zu sein... Töricht bin
ich... verzeihe, mein Herr...»
«Möchtest du Gnaden für diese
Welt? Brauchst du ein Wunder? Hast du Seelen zu bekehren? Nein? Was dann? Nur
Mut, sprich! So viel Mut hast du gehabt, und nun fehlt er dir? Weißt du nicht,
daß ich derjenige bin, der die Tapferkeit vermehrt? Ja? Du weißt es? Also,
dann sprich wie zu einem Vater. Du bist jung. Wie alt bist du?»
«Sechzehn, mein Herr.»
«Woher kommst du?»
«Von Jerusalem.»
«Wie heißt du?»
194
«Annalia...»
«Der teure Name meiner Großmutter
und vieler heiliger Frauen Israels, und – mit diesen Frauen durch den Namen
vereint – der der guten, treuen, liebevollen und sanften Frau des Jakob. Er
wird dir Glück bringen. Du wirst eine vorbildliche Braut und Mutter werden.
Nein? Du schüttelst den Kopf? Du weinst? Bist du vielleicht zurückgewiesen
worden 9 Auch das nicht? Ist dein Verlobter gestorben? Oder hat dich noch
keiner erwählt ?»
Das junge Mädchen schüttelt
jedesmal den Kopf. Jesus macht einen Schritt auf es zu, streichelt und nötigt
es, das Haupt zu erheben und ihn anzusehen... Das Lächeln Jesu besiegt die
Aufregung des Mädchens. Es faßt Mut: «Mein Herr, ich könnte dank dir schon
Braut und glücklich sein. Erkennst du mich nicht wieder, mein Herr? Ich bin
die ehemals Lungenkranke, die Braut, die im Sterben lag, und die du auf die
Bitte deines Johannes hin geheilt hast... Nach der mir gewährten Gnade hatte
ich einen neuen, gesunden Körper anstelle des sterbenden, den ich vorher
hatte, und auch eine andere Seele... Ich weiß nicht, ich hatte das Gefühl,
nicht mehr ich selber zu sein... Doch die Freude, gesund zu sein und endlich
heiraten zu können – denn es war mein Schmerz im Sterben, daß ich nicht mehr
heiraten konnte – hat nur wenige Stunden gedauert. Doch dann...» Das Mädchen
wird immer ungezwungener und findet die Worte und Gedanken wieder, die es in
der Verwirrung, allein mit dem Meister zu sein, vergessen hatte. «Dann habe
ich erkannt, daß ich nicht selbstsüchtig sein, nicht einfach denken darf: "Nun
werde ich glücklich sein", sondern daß ich an etwas Höheres denken muß, an
etwas, das von dir und von Gott stammt, der dein und mein Vater ist, an einen
kleinen Beweis meiner Dankbarkeit. Ich habe viel darüber nachgedacht, und als
ich dann am ersten Sabbat nach der Heilung meinen Bräutigam sah, da sagte ich
zu ihm: "Höre, Samuel! Ohne das Wunder wäre ich in einigen Monaten gestorben,
und du hättest mich für immer verloren. Nun würde ich gerne mit dir zusammen
Gott ein Opfer darbringen, um ihm zu sagen, daß ich ihn preise und ihm danke!"
Da Samuel mich liebt, hat er sofort gesagt: "Laß uns zusammen zum Tempel gehen
und ein Opfer darbringen." Doch ich wollte nicht dies. Ich bin ein armes Kind
aus dem Volk, mein Herr. Ich weiß wenig und noch weniger vermag ich zu tun.
Doch als du deine Hand auf meine kranke Brust gelegt hast, ist nicht nur in
meine angegriffenen Lungen, sondern auch in mein Herz etwas eingedrungen: in
die Lungen die Gesundheit, ins Herz Weisheit. So habe ich verstanden, daß das
Opfer eines Lammes nicht das von meiner Seele gewollte Opfer sei, denn meine
Seele... meine Seele liebt dich.» Das Mädchen errötet und schweigt nach diesem
Liebesbekenntnis.
«Hab keine Furcht und sprich
weiter. Was war es, das deine Seele wünschte?»
195
«Dir, dem Sohn Gottes, etwas zu
opfern, das deiner würdig ist. Darum... darum dachte ich, daß es, da es für
Gott ist, etwas Geistiges sein sollte, nämlich das Opfer, mit unserer
Hochzeit, aus Liebe zu dir, meinem Retter, zu warten. Groß ist die Vorfreude
auf die Hochzeit, weißt du? Wenn man sich liebt, dann ist sie etwas Großes.
Ein Wunsch, eine Sehnsucht, sie zu vollziehen! ... Doch ich hatte mich in den
wenigen Tagen verändert. Die Hochzeit war für mich nicht mehr das
Erstrebenswerteste... Ich habe dies Samuel gesagt... und er hat mich
verstanden. Auch er hat für ein Jahr lang als Nasiräer leben wollen, beginnend
mit dem Tage, an dem die Hochzeit hätte stattfinden sollen, also dem Tag nach
den Kalenden des Adar. Derweilen ist er auf die Suche nach dir gegangen, um
den zu lieben und kennenzulernen, der ihm seine Braut wiedergegeben hat. Er
hat dich nach vielen Monaten am "Trügerischen Gewässer" gefunden. Auch ich war
mit ihm... und dein Wort hat mir mein Herz vollends umgewandelt. Nun genügt
mir das Gelübde von vorher nicht mehr... So wie der Mandelbaum draußen, der
nach einem monatelangen Scheintod unter der immer wärmer werdenden Sonne zu
neuem Leben erwacht ist und Blüten und dann Blätter und Früchte trägt, so hat
mein Wissen über das, was besser ist, zugenommen. Als ich schließlich nach
langem Nachdenken meiner und meines Wollens sicher war – denn ich hatte all
diese Monate hindurch nachgedacht – und das letzte Mal zum "Trügerischen
Gewässer" kam, warst du nicht mehr dort... Sie hatten dich fortgejagt. Ich
habe so viel geweint und gebetet, daß der Allerhöchste mich erhört und meine
Mutter dazu bewogen hat, mich einem Verwandten anzuvertrauen, der nach
Tiberias ging, um dort mit den Höflingen des Tetrarchen zu sprechen. Der
Gutsverwalter hatte mir gesagt, daß ich dich hier finden würde. Ich habe deine
Mutter dort gefunden... und ihre Worte und ihre Gegenwart in diesen Tagen
haben die Frucht deiner Gnade zur Reife gebracht.» Das Mädchen kniet nieder
wie vor einem Altar, mit über der Brust gekreuzten Armen.
«Gut, aber was möchtest du genau?
Was kann ich für dich tun?»
«Herr, ich möchte... ich möchte
etwas Großes, und du allein, der Spender des Lebens und der Gesundheit kannst
es mir geben, denn ich glaube, daß du das, was du geben, auch wieder nehmen
kannst... Ich möchte, daß du das Leben, das du mir geschenkt hast, wieder
nimmst, bevor das Jahr des Gelübdes verflossen ist...»
«Aber warum? Bist du Gott für die
erlangte Gesundheit nicht dankbar?»
«Doch, mein Dank kennt keine
Grenzen! Aus einem einzigen Grunde wünsche ich den Tod: da ich durch Gottes
Gnade und dein Wunder leben durfte, habe ich das Bessere erkannt.»
«Was ist das?»
«Als Engel zu leben. Wie deine
Mutter, mein Herr... wie du lebst... wie
196
dein Johannes lebt... Die drei
Lilien, die drei weißen Flammen, die drei Seligkeiten der Erde, Herr! Ja, denn
ich denke, daß der selig ist, der Gott besitzt, und daß Gott den Reinen
gehört. Der Reine ist, wie ich glaube, ein Himmel, mit seinem Gott in der
Mitte und Engeln um ihn herum... Oh, mein Herr! Dies möchte ich! ... Wenig
habe ich dich gehört, wenig deine Mutter, den Jünger und Isaak. Zu anderen,
die mir deine Worte hätten wiederholen können, bin ich nicht gegangen. Doch es
ist mir, als ob meine Seele dich immerfort vernehmen würde und du mein Meister
wärest... Nun habe ich es gesagt, mein Herr...»
«Annalia, du verlangst viel und
du gibst viel... Tochter, du hast Gott und die Vollkommenheit, zu der ein
Geschöpf aufsteigen kann, begriffen, um so dem Reinsten ähnlich und
wohlgefällig zu sein.» Jesus hat den braunhaarigen Kopf des vor ihm knienden
Mädchens zwischen seine Hände genommen und spricht vornübergebeugt zu ihm:
«Er, der aus einer Jungfrau geboren wurde – denn er konnte nur dort, wo Lilien
ihn umgaben, seine Wohnung nehmen – ist angeekelt von der dreifachen
Lüsternheit der Welt, Tochter. Er würde von soviel Ekel erdrückt werden, wenn
der Vater, der weiß, wovon sein Sohn lebt, seiner betrübten Seele nicht
liebevoll beistehen und sie stärken würde. Die Reinen sind meine Freude. Du
gibst mir das wieder, was mir die Welt mit ihrer endlosen Niederträchtigkeit
versagt. Der Vater sei gepriesen, und du, Mädchen, sei gesegnet! Geh hin und
sei getrost! Es wird etwas geschehen, was dein Gelübde ewig macht. Sei eine
der Lilien auf dem blutigen Wege des Christus.»
«Oh, mein Herr... ich möchte noch
etwas...»
«Was?»
«Ich möchte bei deinem Tod nicht
zugegen sein... Ich könnte es nicht ertragen, den sterben zu sehen, der mein
Leben ist.»
Jesus lächelt sanft und trocknet
mit seiner Hand zwei Tränen, die über ihr dunkelhäutiges Gesicht rinnen.
«Weine nicht. Die Lilien sind nie in Trauer. Du wirst mit allen Perlen deiner
Engelskrone lächeln, wenn du den gekrönten König in sein Reich eintreten
siehst. Geh nun! Der Geist des Herrn möge dich belehren, zwischen diesem und
dem anderen Kommen Christi. Ich segne dich mit den Flammen der ewigen Liebe.»
Jesus wendet sich dem Garten zu
und ruft: «Mutter! Hier ist eine kleine Tochter, ganz für dich. Nun ist sie
glücklich; doch tauche sie in deine Reinheit, jetzt und jedesmal, wenn wir zur
Heiligen Stadt gehen werden, damit sie als Schnee himmlischer Blüten den Thron
des Lammes schmücke.» Jesus kehrt zu den Seinen zurück, während Maria das
Mädchen liebkost und bei ihm bleibt.
Petrus, Andreas und Johannes
blicken Jesus fragend an. Das strahlende Antlitz Jesu verrät ihnen, daß er
glücklich ist. Petrus kann sich nicht der Frage enthalten: «Mit wem hast du so
lange gesprochen, mein Meister, und was hast du denn gehört, daß du vor Freude
strahlst?»
197
«Mit einer Frau, am Anfang ihres
Lebens, habe ich gesprochen, mit einer, die für viele, die noch kommen werden,
den Anfang darstellt.»
«Für wen?»
«Für die Jungfrauen.»
Andreas murmelt leise vor sich
hin: «Sie ist es nicht...»
«Nein, sie ist es nicht. Doch
werde nicht müde, geduldig und gut zu beten. Jedes Wort deines Gebetes ist wie
ein Ruf, wie eine Leuchte in der Nacht, die sie tröstet und führt.»
«Aber auf wen wartet denn mein
Bruder?»
«Auf eine Seele, Petrus. Es
handelt sich um ein großes Elend, das er in einen großen Reichtum verwandeln
will.»
«Wo hat Andreas sie denn
gefunden, da er sich doch nie rührt, nie spricht und nie etwas unternimmt?»
«Auf meinem Weg. Komm mit mir,
Andreas! Wir wollen zu Alphäus gehen und ihn und seine vielen Enkel segnen.
Ihr könnt im Hause des Jakobus und des Judas auf mich warten. Meine Mutter hat
es nötig, den ganzen heutigen Tag allein zu bleiben.» So trennen sie sich,
während das Geheimnis die Freude der ersten Seele, die aus Liebe zu Christus
das Gelübde der Jungfräulichkeit abgelegt hat, umhüllt.
196. DIE UNTERWEISUNG DER
JÜNGERINNEN IN NAZARETH
Jesus ist immer noch in seinem
Haus in Nazareth. Genauer gesagt, befindet er sich in der ehemaligen
Schreinerwerkstätte. Bei ihm sind die zwölf Apostel und seine Mutter sowie
Maria, die Mutter des Jakobus und des Judas, Salome, Susanna und zum ersten
Mal auch Martha. Eine sehr betrübte Martha mit deutlichen Tränenspuren unter
den Augen. Eine scheue und verängstigte Martha, weil sie sich so allein unter
fremden Menschen und vor allem bei der Mutter des Herrn befindet. Maria
versucht, sie mit den anderen Frauen bekannt zu machen und sie von dem Gefühl
des Unbehagens, unter dem sie leidet, zu befreien. Doch ihre zärtlichen
Bemühungen lassen das Herz der armen Martha anscheinend nur noch mehr
anschwellen. Immer neues Erröten und große Tränen wechseln sich ab unter dem
tief herabgezogenen Schleier, der ihren Schmerz verbirgt.
Johannes und Jakobus des Alphäus
treten ein. «Sie ist nicht da, Herr. Die Diener haben uns mitgeteilt, daß sie
mit ihrem Mann von einer Freundin eingeladen worden ist», sagt Johannes. «Sie
wird es sicher sehr bedauern. Aber sie wird dich immer wieder sehen können, um
von dir belehrt zu werden», beschließt Jakobus des Alphäus.
«Gut! Die Gruppe der Jüngerinnen
ist nicht so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Aber ihr seht: für die
abwesende Johanna haben wir Martha,
198
die Tochter des Theophilus und
Schwester des Lazarus. Die Jünger wissen, wer Martha ist. Auch meine Mutter
weiß es. Auch du Maria, und vielleicht auch du, Salome, ihr wißt von euren
Söhnen, wer Martha ist, dies nicht so sehr als Frau nach weltlichen Begriffen,
sondern als Geschöpf in den Augen Gottes. Du, Martha, weißt deinerseits, wer
diese Frauen hier sind, die dich als Schwester betrachten und dich als
Schwester und Tochter sehr lieben werden. Du hast dies dringend nötig, gute
Martha, denn du brauchst auch den menschlichen Trost aufrichtiger Zuneigung,
den Gott nicht verurteilt, sondern dem Menschen gegeben hat, damit er ihm in
den Mühen des Lebens als Stütze diene.
Gott hat dich gerade in der von
mir gewählten Stunde hierher geführt, um so die Grundlage zu schaffen, ich
möchte sagen, das Leinengewebe, das ihr mit eurer Vollkommenheit als
Jüngerinnen besticken werdet. Jünger ist, wer der Regel seines Meisters und
seiner Lehre Folge leistet. Deshalb werden im weiteren Sinne alle jene Jünger
genannt werden, die nun ' und in den kommenden Jahrhunderten, meine Lehre
befolgen. Um nicht sagen zu müssen, Jünger Jesu gemäß der Lehre des Petrus
oder des Andreas, des Jakobus oder des Johannes, des Simon oder des Philippus,
des Judas oder des Bartholomäus, des Thomas oder des Matthäus, wird man sie
mit einem einzigen Namen benennen, der sie alle unter einem einzigen Zeichen
zusammenfaßt: man wird sie Christen nennen. Doch unter den vielen Menschen,
die sich meiner Regel unterordnen, habe ich schon die Ersten und die Zweiten
erwählt, und so wird es zu meinem Gedächtnis auch in den kommenden
Jahrhunderten weiter gehalten werden. Wie es im Tempel – und zuvor schon bei
Moses 1) – Hohepriester, Priester, Leviten,
____________
1) Von den vielen biblischen
Textstellen, die die Figur der Diener Gottes im Alten Gesetz und im Neuen
Gesetz vorbereiten, darstellen oder beschreiben, können folgende betrachtet
werden: Gen 4,1-6; 8,13-9,17; 14,17-24; 22,1-18; Ex 25-31; 35-40; Lev 8-10;
13-14; 16; 21-22; Num 3-4; 8; 11,16-30; 18; Dt 16,18-18,8; Matth 4,17-23; 9,9;
9,36-10,40; 16,13-20; 18,15-20; 28,16-20; Mark 1,14-22; 2,13-17; 3,13-19;
6,7-13; 16,14-20; Luk 5,1-32; 6,12-16; 9,1-6; 10,1-24; 24,44-53; Job 1,35-51;
10,1-21; 20,19-29; 21,1-23.
Wunderbar ist die Harmonie
zwischen dem Alten und dem Neuen Bund, denn es ist ein und derselbe Gott im
einen wie im anderen. Jesus kam nicht, um zu zerstören oder aufzuheben,
sondern um zu vervollkommnen, wie Matthäus in 5,17 sagt. Im Licht dieser
biblischen Zeugnisse und vieler anderer, und ihrer Übereinstimmung, erscheint
ganz deutlich, daß das Priestertum und die Hierarchie von Gott selbst
eingesetzt wurden: Er hat die körperlichen und geistigen Voraussetzungen dafür
festgelegt. In offenkundiger oder in geheimnisvoller Weise beruft er seine
Diener, weiht seine Auserwählten durch seine Stellvertreter, jedoch mit Riten,
die in ihrer wesentlichen Bedeutung auf Christus zurückgehen und heilige
Handlungen sowie Gebete enthalten, die unter seinem Einfluß entstanden sind;
und er bestimmt seine Diener zur mannigfaltigen Aufgabe, Mitwirkende Christi
zu sein: des Höchsten und Ewigen Priesters, in der Verherrlichung Gottes, zur
Belehrung, zur Heiligung und zum Heil des Volkes. Eine maßgebende
Zusammenfassung dieser Konzepte findet man in der Hl. Messe zu Ehren unseres
Herrn Jesus Christus, des Höchsten und Ewigen Priesters.
199
Vorsteher der verschiedenen
Dienste, Ämter und Behörden, Sänger usw., gab, so wird es auch in meinem neuen
Tempel, der groß wie die Erde sein und ebensolange dauern wird, Höhergestellte
und Untergeordnete geben, die alle nützlich und mir teuer sein werden.
Außerdem wird es auch einen neuen Stand geben: den der Frauen, die Israel
stets mißachtete, deren Wirken auf Gesang und Unterricht im Tempel beschränkt
war und denen niemals eine andere Aufgabe übertragen wurde.
Streitet euch nicht darüber, ob
dies gerecht war. Im geschlossenen Kult Israels und in der Zeit des göttlichen
Zorns war es richtig. Die ganze Schmach lastete auf der Frau, als der
Urheberin der Sünde. In der Weltreligion Christi und in der Zeit der Vergebung
wird nun alles anders. Alle Gnade hat sich in einer Frau vereinigt, und sie
hat diese der Welt geschenkt, auf daß die Welt erlöst werde. Die Frau ist
somit nicht mehr in Ungnade bei Gott, sondern sie ist seine Helferin. Dank
dieser einen Gott wohlgefälligen Frau, können nun alle Frauen Jüngerinnen des
Herrn werden; nicht auf die Art, wie es die Mehrheit ist, sondern als den
Priestern unterstellte Mitarbeiterinnen, als ihre Dienerinnen und wertvollen
Helferinnen. Auch der Gläubigen und Nichtgläubigen werden sie sich annehmen
und ihnen helfen, besonders denen, die nicht durch die Strenge des heiligen
Wortes, aber durch das heilige Lächeln einer meiner Jüngerinnen zu Gott
geführt werden können.
Ihr Frauen habt mich darum
gebeten, mir wie die Männer nachfolgen zu dürfen. Aber nur zu mir kommen, mich
anhören, meine Weisungen befolgen, das ist mir zu wenig von eurer Seite. Es
würde eure Heiligung bedeuten, das ist gewiß etwas Großes, und doch wäre es
mir noch zu wenig. Ich bin der Sohn des Absoluten und verlange von meinen
Auserwählten das Absolute. Alles verlange ich, weil ich alles gegeben habe.
Außerdem gibt es nicht nur mich,
sondern es gibt auch die Welt, dieses Ungeheuerliche, das die Welt ist.
Ungeheuerlich sollte sie sein, was ihre Heiligkeit anbelangt, unermeßlich in
Anzahl, Macht und Heiligkeit der vielen Kinder Gottes. Doch diese Welt ist
schrecklich in ihrer Bosheit. Ihre völlige Bosheit ist tatsächlich grenzenlos
in ihren Ausdrucksformen und in der Macht des Lasters. Alle Sünden sind in
dieser Welt, die nicht mehr aus einer Vielzahl von Kindern Gottes, sondern aus
einer Vielzahl von Kindern Satans besteht. Besonders die Sünde regiert, die
das deutliche Zeichen der Urheberschaft Satans trägt: der Haß. Die Welt haßt.
Wer haßt, sieht in allem, auch in den heiligsten Dingen, nur Schlechtes und
will dies auch den zu glauben machen, der es nicht sieht. Wenn ihr die Welt
fragt, warum ich auf diese Welt gekommen bin, so wird sie nicht sagen: "um
Gutes zu tun und zu erlösen" ' sondern: "um sie zu verderben und um sie
widerrechtlich an sich zu ziehen." Wenn ihr die Welt fragt, was sie von euch,
die ihr mir nachfolgt, denkt, so wird sie nicht sagen: "Ihr folgt ihm, um euch
zu heiligen und euren Meister mit eurer Heiligkeit und
200
Reinheit zu trösten", sondern sie
wird sagen: "Ihr folgt ihm, weil ihr von dem Manne verführt worden seid."
So ist die Welt, und ich sage
euch dies, damit ihr alles wohl erwägt, bevor ihr euch der Welt als
auserwählte Jüngerinnen, die ersten der zukünftigen Jüngerinnen und der Diener
des Herrn, zeigt. Nehmt euer Herz gut in die Hand und sagt ihm, diesem
feinfühligen Frauenherzen, daß ihr mit ihm von der Welt mit ihrer Verachtung,
Lüge und Grausamkeit verlacht, verleumdet und geschmäht sein werdet. Fragt
euer Herz, ob es sich stark genug fühlt, um alle Beleidigungen ohne
Entrüstungsschreie zu ertragen, und ohne jene zu verfluchen, die es verletzen.
Fragt es, ob es sich imstande fühlt, das moralische Martyrium der Verleumdung
zu ertragen, ohne schließlich die Verleumder zu hassen und sogar den, der die
Ursache dieser Behandlung ist. Fragt es, ob es, von der Mißgunst der Welt
getränkt, immer noch Liebe auszuströmen vermag; ob es, von Bitterkeit
vergiftet, immer noch fähig wäre, sanftmütig zu sein; ob es unter der Marter
des Unverstandenseins, des Spottes und der üblen Nachrede, immer noch lächeln
könnte, indem es zum Himmel weist als seinem Ziel, zu dem ihr die Menschen mit
eurer fraulichen Liebe hinführen wollt. Diese frauliche Liebe ist schon im
jungen Mädchen mütterlich; und mütterlich ist sie selbst, wenn sie älteren
Menschen gilt, die eure Großeltern sein könnten, die aber geistig wie
Neugeborene sind, unfähig zu verstehen und den Weg des Lebens, der Wahrheit
und der Weisheit zu erkennen, den ich euch durch die Hingabe meiner selbst,
der ich der Weg, die Wahrheit, das Leben und die Weisheit Gottes bin,
geschenkt habe. Ich werde euch immer lieben, selbst wenn ihr mir sagt: "Herr,
ich habe nicht die Kraft, für dich der ganzen Welt entgegenzutreten!"
Gestern hat mich ein junges
Mädchen gebeten, sie als Opfer anzunehmen, noch bevor die Stunde der Hochzeit
gekommen ist, da sie mich liebt, wie Gott geliebt werden soll; das heißt mit
ihrem ganzen Sein und mit der vollkommenen Hingabe ihrer selbst. Ich werde das
Opfer annehmen, aber ich verberge ihr die Stunde, damit ihre Seele, und mehr
noch das Fleisch als die Seele, nicht vor Angst erzittere. Ihr Tod wird dem
einer Blume gleichen, die ihre Blütenkrone eines Abends schließt im Glauben,
sie am nächsten Morgen wieder öffnen zu können. Dies wird sie aber nicht tun,
da der Kuß der Nacht ihr Leben in sich aufgenommen hat. Ich werde ihrem Wunsch
entsprechen und ihren Todesschlaf dem meinen nur um wenige Tage vorausgehen
lassen, damit sie nicht in der Vorhölle warten muß, sie, meine erste Jungfrau;
ich will sie nach meinem Sterben gleich dort finden...
Weinet nicht! Ich bin der
Erlöser... Doch jenes heilige Mädchen hat sich nicht darauf beschränkt, nach
dem geschehenen Wunder das Hosanna anzustimmen, sondern es verstand, mit dem
Wunder zu wirken -so wie man Geld nutzbringend anlegt – indem es von
menschlicher zu
201
übernatürlicher Dankbarkeit
aufstieg, von einem irdischen zu einem überirdischen Wunsch, und dabei eine
Reife zeigte, die der fast aller Menschen überlegen ist; ich sage, "fast",
denn unter euch, die ihr mir zuhört, gibt es einige, die diesem Mädchen in der
Vollkommenheit ebenbürtig, ja sogar überlegen sind. Es hat mich nicht gebeten,
mir folgen zu dürfen, vielmehr wünscht es, in der Verborgenheit seines Heimes
die Wandlung vom Mädchen zum Engel zu vollziehen. Dennoch liebe ich es so
sehr, daß ich mich in den Stunden der Abscheu vor der Welt dieses liebevollen
Geschöpfes erinnern und den Vater preisen werde, weil er mit diesen Blumen der
Liebe und der Reinheit meine Tränen und meinen Schweiß als Meister einer Welt,
die mich ablehnt, trocknet.
Doch wenn ihr wollt, wenn ihr den
Mut habt, die erwählten Jüngerinnen zu bleiben, dann will ich euch die Arbeit
anweisen, die ihr tun müßt, um eure Berufung und eure Anwesenheit bei mir und
den Heiligen des Herrn zu rechtfertigen. Ihr vermögt viel bei euren
Mitmenschen und bei den Dienern des Herrn.
Ich habe dies schon vor vielen
Monaten Maria des Alphäus angedeutet. Wie notwendig ist doch die Frau beim
Altare Christi! Das unendliche Elend der Welt kann von einer Frau viel besser
gemildert werden als von einem Mann; der Mann kann dann bei seiner endgültigen
Beseitigung noch mithelfen. Euch, meine Jüngerinnen, werden sich viele Herzen
offenbaren und besonders Frauenherzen. Ihr müßt sie aufnehmen wie wenn es eure
teuren, auf Abwege geratenen Kinder wären, die zum Vaterhause zurückkehren und
es nicht wagen, vor das Angesicht des Vaters zu treten. Ihr werdet jene sein,
die den Schuldigen trösten und den Richter besänftigen. Viele werden auf der
Suche nach Gott zu euch kommen. Ihr werdet sie wie müde Pilger aufnehmen und
ihnen sagen: "Hier ist das Haus des Herrn. Er wird gleich kommen", und bis
dahin werdet ihr sie mit eurer Liebe umgeben. Wenn ich nicht selbst komme, so
wird es ein Priester sein.
Es ist der Frau gegeben zu
lieben. Sie ist für die Liebe geschaffen. Sie hat die Liebe erniedrigt und sie
in Sinnlichkeit verkehrt; doch in ihrem Innersten ist immer noch die wahre
Liebe verankert, die Zierde ihrer Seele: die Liebe, frei vom herben Schlamm
der Sinne, mit Engelsflügeln versehen und von himmlischen Düften umgeben, eine
reine Flamme, nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen und aus Schöpferhand
hervorgegangen. Die Frau: das Meisterwerk der Güte im Meisterwerk der
Erschaffung des Menschen, von der es heißt: "Lasset uns Adam eine Gefährtin
schaffen, auf daß er nicht allein sei." (Gen 2,18-24) Sie darf also Adam nicht
verlassen. Bedient euch daher dieser Fähigkeit zu lieben und wirkt durch sie
in der Liebe zu Christus und für Christus zum Wohl des Nächsten. Seid
barmherzig gegen reuige Sünder. Sagt ihnen, daß sie Gott nicht fürchten
dürfen. Wie solltet ihr dazu nicht fähig sein, ihr, die ihr Mütter und
Schwestern seid? Wie oft waren eure kleinen Kinder, eure Geschwisterchen
202
krank und hatten einen Arzt
nötig! Und sie fürchteten sich. Ihr aber habt ihnen mit Liebkosungen und
liebevollen Worten die Angst genommen, und mit dem Händchen in eurer Hand wich
die Angst von ihnen, und sie ließen sich behandeln. Die Sünder sind eure
Brüder und kranken Kinder, und sie fürchten die Hand des Arztes und sein
Urteil... Nein, nicht so soll es sein; ihr, die ihr wißt wie gut Gott ist,
sagt es ihnen, und daß man sich vor ihm nicht zu fürchten braucht. Selbst wenn
er bestimmt und entschieden sagt: "Das darfst du nie mehr tun", so wird er
doch eine kranke Seele wegen ihrer früheren Sünden nicht abweisen. Er wird sie
vielmehr pflegen, und sie heilen.
Seid Mütter und Schwestern für
die Gerechten. Auch sie bedürfen der Liebe. Sie werden in der Verkündigung des
Wortes Gottes ermüden und sich verzehren. Sie können nicht alles bewältigen,
was zu tun sein wird. Helft ihnen diskret und emsig. Die Frau versteht es zu
arbeiten: im Haus, an Herd und Tisch, am Krankenlager, am Webstuhl und bei all
dem, was das tägliche Leben mit sich bringt. Die Zukunft der Kirche wird ein
ununterbrochenes Kommen von Pilgern zu den Stätten Gottes sein. Ihr selbst
sollt die ersten frommen Gastgeberinnen sein, und alle Arbeiten, auch die
niedrigsten, übernehmen, um den Dienern Gottes die Freiheit zu lassen, das
Werk des Meisters fortzusetzen.
Dann werden auch schwere, blutige
und grausame Zeiten kommen. Die Christen, auch die Heiligen, werden Stunden
des Schreckens und der Schwäche erleben. Der Mann ist nie sehr stark im
Leiden. Verglichen mit ihm, ist dagegen die Frau unübertroffen in ihrer
Leidensfähigkeit. Lehrt es den Mann, indem ihr ihn in diesen Stunden der
Angst, der Trostlosigkeit, der Tränen, des Überdrusses und des Blutes
ermutigt. In unserer Geschichte haben wir Beispiele wunderbarer Frauen, die
als Befreierinnen mutige Taten vollbracht haben. Wir haben Judith, Jaël...
Aber glaubt mir, keine ist bisher größer als die achtfache Märtyrerin, deren
sieben Söhne, und sie selbst, zur Zeit der Makkabäer den Heldentod starben.
Nach ihr wird eine andere kommen... Doch nach dieser wird es immer mehr Frauen
geben, die Heldinnen des Schmerzes und Heldinnen im Schmerz sein werden;
Frauen, die der Trost der Märtyrer und der Märtyrerinnen und die Engel der
Verfolgten sein werden; Frauen, stumme Priesterinnen, die durch ihre
Lebensweise Gott verkündigen und die, ohne eine andere Weihe als die der Liebe
Gottes, geweiht sein werden und dieser Weihe würdig sind.
Dies sind in großen Zügen eure
wichtigsten Aufgaben. Ich werde nicht viel Zeit haben, mich euch im besonderen
zu widmen. Doch ihr werdet euch bilden, indem ihr mir zuhört, und noch mehr
werdet ihr euch unter der vollkommenen Führung meiner Mutter bilden.
Gestern hat diese mütterliche
Hand (Jesus nimmt die Hand Marias in seine Hand) mir das Mädchen zugeführt,
von dem ich euch gesprochen
203
habe, und es hat gesagt, das
bloße Zusammensein mit meiner Mutter und das Ihrzuhören während weniger
Stunden habe genügt, um in ihr die Frucht der erlangten Gnade heranreifen zu
lassen und zu vervollkommnen. Es ist nicht das erste Mal, daß meine Mutter für
Christus, ihren Sohn, wirkt. Du und du, meine Jünger und meine Vettern
zugleich, ihr wißt, was Maria für die Seelen auf dem Weg zu Gott bedeutet, und
ihr könnt es denen sagen, die sich, wenn ich einmal nicht mehr unter euch sein
werde, sorgen, von mir für ihre Sendung nicht oder nur ungenügend vorbereitet
worden zu sein. In den Stunden, da ich nicht bei euch bin und später, wenn ich
einmal nicht mehr unter euch weilen werde, wird sie, meine Mutter, bei euch
sein. Sie wird bleiben, und mit ihr bleibt die Weisheit mit all ihren
Tugenden. Befolgt von nun an all ihre Ratschläge.
Gestern abend, als wir allein
waren und ich bei ihr saß, den Kopf an die so zarte und doch so starke
Schulter gelehnt wie einst, als ich noch ein Kind war, sagte sie mir – wir
hatten gerade von dem jungen Mädchen gesprochen, das in den ersten
Nachmittagsstunden weggegangen war mit einem Strahlen in ihrem jungfräulichen
Herzen, das schöner als jenes der Sonne am Himmel war – da sagte meine Mutter:
"Wie süß ist es doch, die Mutter des Erlösers zu sein!" Ja, wie wunderbar ist
es, wenn ein Geschöpf, das zum Erlöser kommt, schon ein Geschöpf Gottes ist,
in dem nichts als der Makel der Erbsünde ist, der nur durch mich abgewaschen
werden kann. Alle anderen kleinen Flecken der menschlichen Unvollkommenheit
sind bereits durch die Liebe getilgt.
Doch, meine süße Mutter, reinste
Führerin der Seelen zu deinem Sohne, heiliger Leitstern, sanfte Lehrmeisterin
der Gerechten, barmherzige Ernährerin der Geringsten, heilbringende Arznei der
Kranken: nicht immer werden zu dir nur solche kommen, die der Heiligkeit nicht
widerstehen... Aussätzige, grauenhaft vom Schmutz der Sünde verunreinigte
Geschöpfe, ganze Schlangengewirre voller Unrat werden bis zu deinen Füßen
kriechen, o Königin des Menschengeschlechts, um dir zuzurufen: "Erbarmen! Hilf
uns! Führe uns zu deinem Sohn!" und du wirst deine reinste Hand auf ihre
Wunden legen, deine Blicke paradiesischer Taubeneinfalt auf die höllischen
Auswüchse senken und den Gestank der Sünde einatmen müssen, ohne davor zu
flüchten. Ja, du wirst sogar diese von Satan verstümmelten Seelen, diese
Mißgeburten, diese Verwesenden an dein Herz drücken, sie mit deinen Tränen
reinwaschen und zu mir hinführen... Dann wirst du sagen: "Wie schwer ist es,
die Mutter des Erlösers zu sein!" Doch du wirst es tun, weil du die Mutter
bist... Ich küsse und segne diese deine Hände, die mir viele Menschen zuführen
werden, von denen jeder zu meinem Ruhme beitragen wird. Doch noch vor meinem
Ruhm wird es der deine sein, heilige Mutter.
Ihr, teure Jüngerinnen, folgt dem
Beispiel meiner Meisterin, die auch die Lehrerin des Jakobus, des Judas und
all derer ist, die sich in der Gnade
204
und der Weisheit heranbilden
wollen. Befolgt ihr Wort. Es ist mein Wort, nur klingt es süßer. Nichts ist
diesem Wort beizufügen, weil es das Wort der Mutter der Weisheit ist.
Ihr, meine Freunde, lernt von den
Frauen Demut und Beharrlichkeit und werft den männlichen Stolz ab, verachtet
die weiblichen Jünger nicht, sondern mäßigt eure Kraft, ich könnte auch sagen,
eure Härte und Unnachgiebigkeit, wenn ihr mit der Feinfühligkeit der Frauen in
Berührung kommt. Vor allem lernt von ihnen zu lieben, zu glauben und für den
Herrn zu leiden, denn in Wahrheit sage ich euch, daß sie, die Schwachen, die
Stärkeren im Glauben, in der Liebe, im Heldenmut und im Sichopfern für ihren
Meister sein werden. Sie lieben mit ihrem ganzen Wesen, ohne etwas zu
verlangen oder einen Lohn zu erwarten, einzig und allein um mir Trost und
Freude zu spenden.
Geht nun in eure Häuser oder in
jene, in denen ihr Gastfreundschaft gefunden habt. Ich bleibe bei meiner
Mutter. Gott sei mit euch!»
Alle entfernen sich, außer
Martha.
«Du kannst bleiben, Martha. Ich
habe mit deinem Diener bereits gesprochen. Heute ist es nicht Bethanien, das
Gastfreundschaft gewährt, sondern das kleine Haus Jesu. Komm! Du wirst an der
Seite Mariens zu Tische sitzen und im Kämmerchen neben dem ihrigen ruhen. Der
Geist Josephs, unser Trost, wird dich trösten, während du ruhst, und morgen
wirst du gestärkt und entschlossener nach Bethanien zurückkehren, um auch dort
Jüngerinnen heranzubilden, in Erwartung jener Frau, die mir und dir am
liebsten ist. Zweifle nicht, Martha. Ich verspreche nie etwas, ohne es zu
halten. Aber um aus einer Wüste voller Vipern einen Paradiesgarten zu machen,
braucht es viel Zeit... Die erste Arbeit sieht man nicht und man hat das
Gefühl, nichts wäre geschehen, und doch ist der Same bereits in die Erde
gelegt. Die Samen. Alle! Dann werden die Tränen kommen und wie der Regen die
Samen zum Keimen bringen... und die guten Bäume werden heranwachsen... Komm!
... Weine nicht mehr!»
197. JESUS SPRICHT AUF DEM SEE
MIT JOHANNA DES CHUZA
Jesus befindet sich im Boot des
Petrus auf dem See. Hinter ihm folgen zwei weitere Boote; das eine, ein
gewöhnliches Fischerboot, sieht dem des Petrus ähnlich; das andere hingegen
ist ein schmales, prächtiges Vergnügungsschiff und gehört Johanna des Chuza.
Doch sie selbst ist nicht in ihrem Boot. Sie sitzt zu Jesu Füßen im
schwerfälligen Boot des Petrus.
Der Zufall, möchte ich sagen, hat
sie wohl an einer Stelle des blühenden Seeufers von Genesareth
zusammengeführt. Das Ufer ist wundervoll im nun in Palästina erwachenden
Frühling, der mit Wolken erblühter
205
Mandelbäume die Gegend schmückt
und Knospen wie Perlen auf Apfel-, Granatapfel-, Birn- und Quittenbäume setzt.
Alles Bäume, die ihre volle Schönheit besonders in der Blüte- und Früchtezeit
entfalten. Vom Boot aus, das nun nahe an den sonnigen Gestaden entlanggleitet,
erblickt man Millionen von prallen Blütenknospen, die in Erwartung des
Aufbrechens zur Blüte an den Ästen schwellen, während die Blütenblätter der
frühen Mandelbaumblüten durch die stille Luft gaukeln, um sich dann auf den
klaren Wellen des Sees niederzulassen.
Die Ufer mit ihrem frischen Gras,
das grüner Seide gleicht, sind mit goldgelbem Hahnenfuß und strahlenden
Sternchen kleiner Margeriten übersät. An steifen Stielen, wie gekrönte
Königinnen, lächeln sanft und still wie kindliche Augensterne, die
himmelblauen Vergißmeinnicht. In ihrer Lieblichkeit scheinen sie der Sonne,
dem See und den anderen Blumen bejahend zuzunicken, glücklich darüber, blühen
zu dürfen; unter den gütigen Augen des Herrn blühen zu dürfen.
Zu Beginn des Frühlings erscheint
der See noch nicht in jener Üppigkeit, die ihn in den folgenden Monaten so
festlich kleidet, wenn die Natur in ihrer Pracht triumphiert. Es fehlt ihr
noch, ich möchte fast sagen, die sinnliche Pracht der abertausend Rosenstöcke,
die als kräftige Büsche die Gärten zieren oder als geschmeidige Ranken die
Mauern schmücken. Noch fehlen Tausende von Dolden des Goldregens und der
Akazien, Tausende von blühenden Nachthyazinthen, Tausende von wächsernen
Blumensterne der Zitrusfrüchte und jenes ganze Verschmelzen von Farben und
starken, milden und berauschenden Düften. All das, was die menschliche Gier
nach Genuß steigert und so diesen reinen Winkel der Erde entweiht, zu sehr
entweiht – den See von Tiberias, der von Ewigkeit her auserwählt war,
Schauplatz der vielfältigsten Wunder unseres Herrn Jesus Christus zu sein.
Johanna betrachtet Jesus, der von
der Schönheit seines galiläischen Sees entzückt ist, und ihr lächelndes
Antlitz ist der getreue Abglanz des Lächelns Jesu. In den anderen Booten wird
geredet. Hier herrscht Schweigen. Nur die nackten Füße des Petrus und des
Andreas, die das Boot manövrieren, erzeugen ein dumpfes Geräusch, und das
durch den Bug geteilte Wasser seufzt seinen Schmerz den Bootswänden entlang,
um dann hinter dem Heck, wo sich die Wunde wieder zu einem silbernen Schweif
schließt, fröhlich zu lachen. Diesen Schweif entzündet die Sonne, als wäre er
aus Diamantenstaub.
Schließlich unterbricht Jesus
seine Betrachtung und blickt seine Jüngerin an. Er lächelt ihr zu und fragt
sie: «Wir sind bald angekommen, nicht wahr? Du wirst denken, daß dein Meister
ein wenig liebenswürdiger Begleiter ist. Ich habe die ganze Zeit kein Wort zu
dir gesagt.»
«Doch ich habe die Worte auf
deinem Antlitz gelesen, Meister, und habe verstanden, was du zu den Dingen,
die uns umgeben, gesagt hast.»
206
«Was habe ich ihnen gesagt?»
«Liebet, seid rein und gut. Denn
ihr kommt von Gott, und aus seiner
Hand ist nie etwas Böses oder
Unreines hervorgegangen.»
«Du hast gut gelesen.»
«Aber, mein Herr, die Gräser tun
es wohl, die Tiere werden es tun. Und
der Mensch... warum tut er es
nicht, da er doch das vollkommenere Geschöpf ist?»
«Weil der Zahn Satans nur in den
Menschen allein eingedrungen ist.
Der Böse hat sich eingebildet,
den Schöpfer in seinem größten Wunderwerk, das ihm am ähnlichsten ist,
vernichten zu können.»
Johanna neigt das Haupt und denkt
nach. Es sieht so aus, als kämpften zwei gegensätzliche Gedanken in ihr. Jesus
beobachtet sie. Endlich blickt sie auf und sagt: «Herr, würdest du es
ablehnen, mit meinen heidnischen
Freundinnen zusammenzutreffen? Du
weißt... Chuza gehört dem Hofstaat an. Der Tetrarch, und mehr noch die wahre
Herrin des Hofes, Herodias, deren Willen Herodes sich fügt, schmeichelt, ja
huldigt den Römern aus dem Hause des Prokonsuls... weil es so Sitte ist, um zu
zeigen, daß man feiner ist als die übrigen Palästinenser, und um den Schutz
Roms zu genießen – und drängt sie auch uns fast auf. In der Tat muß ich
gestehen, daß die heidnischen Frauen nicht schlechter sind als wir. Auch unter
uns, besonders an diesen Gestaden, sind einige tief, ja sehr tief gefallen.
Doch
worüber können wir reden, wenn
nicht über Herodias? ... Als ich mein Kind verlor und erkrankte, waren sie
sehr gut zu mir, obwohl ich sie gar nicht gesucht hatte, und danach hat sich
diese Freundschaft erhalten.
Aber wenn du mir sagst, daß sie
nicht gut ist, will ich sie aufgeben. Nein? Danke, Herr! Vorgestern war ich
bei einer dieser Freundinnen. Es war ein Freundschaftsbesuch für mich, ein
Pflichtbesuch für Chuza. Es war ein
Befehl des Tetrarchen, der ...
hierher zurückkehren möchte, sich aber nicht sicher fühlt und so ...
eigennützige Verbindungen mit Rom anknüpft, um Rückendeckungen zu haben.
Außerdem... ich bitte dich... du bist doch ein Verwandter des Täufers, nicht
wahr? Sage ihm, er möge sich sehr in Acht nehmen. Er soll die Grenzen von
Samaria nie überschreiten. Vielmehr sollte er sich, wenn es ihm nicht unwürdig
erscheint, eine Zeitlang verbergen. Die Schlange nähert sich dem Lamm, und das
Lamm hat
viel zu befürchten. Von allen
Seiten. Er soll auf der Hut sein, Meister! Doch niemand darf erfahren, daß ich
es gesagt habe. Dies wäre der Ruin
Chuzas.»
«Sei beruhigt, Johanna. Ich werde
den Täufer auf eine Art warnen, die
ihm nützen und niemand schaden
wird.»
«Danke, Herr. Ich will dir
dienen... doch möchte ich damit nicht meinem Manne schaden. Ich... ich werde
auch nicht immer mit dir kommen können. Manchmal werde ich daheim bleiben
müssen, weil er es wünscht, und es ist recht so...»
207
«Das wirst du auch tun, Johanna.
Ich verstehe alles. Es ist nicht nötig, mehr darüber zu sagen.»
«Doch möchtest du sicher, daß ich
in den für dich gefahrvollen Zeiten bei dir bin?»
«Ja, Johanna, gewiß!»
«Oh, wie schwer ist es mir
gefallen, dir diese Dinge zu sagen und sagen zu müssen! Doch nun fühle ich
mich erleichtert...»
«Wenn du an mich glaubst, wirst
du dich immer erleichtert fühlen. Aber du sprachst von einer römischen
Freundin...»
«Ja, sie ist mit Claudia sehr
befreundet und, soviel ich weiß, auch mit ihr verwandt. Sie möchte gerne mit
dir sprechen oder dich wenigstens sprechen hören. Nicht nur sie allein wünscht
dies. Nachdem du die Tochter der Valeria geheilt hast und die Nachricht sich
mit Blitzesschnelle verbreitet hat, ist der Wunsch in ihnen noch lebhafter
geworden. Während des Gastmahls am vergangenen Abend wurden viele Stimmen für
und gegen dich laut, denn es waren auch Herodianer und Sadduzäer anwesend...
doch sie würden es leugnen, wenn man sie danach fragte... Es waren auch Frauen
da... reiche, aber... nicht ehrbare Frauen. Es war auch – und ich sage es dir
nur ungern, da ich weiß, daß du der Freund ihres Bruders bist -es war auch
Maria von Magdala mit ihrem neuen Freund und einer anderen Frau, ich glaube,
einer Griechin, die sich ebenso unzüchtig benahm wie sie, zugegen. Weißt du...
bei den Heiden sitzen die Frauen mit den Männern am gleichen Tisch, und das
ist sehr... sehr... Welch ein Unbehagen! Die Höflichkeit meiner Freundin hatte
mich zur Tischgenossin meines eigenen Mannes bestimmt; das war sehr beruhigend
für mich. Aber die anderen... oh! ... Nun, man sprach von dir, weil das Wunder
an Faustina Aufsehen erregt hat, und während die Römer in dir den großen Arzt
und Magier bewundern – verzeih, Herr – spuckten die Herodianer und die
Sadduzäer Gift und Galle auf deinen Namen, und Maria... oh, Maria! ... Welche
Schande! ... Sie hat mit dem Spott begonnen und dann... Nein, das kann ich dir
nicht sagen. Ich habe deswegen die ganze Nacht geweint ...»
«Laß sie nur machen. Sie wird
geheilt werden.»
«Aber es geht ihr gut, weißt du?»
«Körperlich. Alles übrige ist
vollkommen verseucht. Doch sie wird gesund werden.»
«Du sagst es... Die Römerinnen,
du weißt, wie sie sind... haben gesagt: "Wir fürchten uns nicht vor der
Zauberei, noch glauben wir an Märchen. Wir wollen uns selbst ein Urteil
bilden", und nachher haben sie mich gefragt: "Könnten wir ihn nicht einmal
hören?"»
«Sag ihnen, daß ich am Ende des
Monats Schebat in deinem Hause sein werde.»
«Ich werde es ihnen sagen, Herr.
Glaubst du, daß sie sich zu dir bekehren würden?»
208
«Es gibt unendlich viel in ihnen
zu erneuern. Zuerst muß zerstört werden, dann kann man wieder aufbauen. Doch
es ist nicht unmöglich. Johanna, da ist dein Haus mit seinem Garten. Wirke
darin für deinen Meister, so wie ich es dir aufgetragen habe. Leb wohl,
Johanna! Der Herr sei mit dir! Ich segne dich in seinem Namen.»
Die Barke legt an. Johanna
bittet: «Willst du wirklich nicht kommen ?»
«Vorerst nicht. Es gilt, die
Flammen in den Seelen neu anzufachen. In den wenigen Wochen meiner Abwesenheit
sind sie fast erloschen, und die Zeit drängt!»
Das Boot hält in einer kleinen
Bucht, die in den Garten des Chuza hineinreicht. Diener eilen herbei, um der
Herrin beim Aussteigen zu helfen. Das herrschaftliche Boot folgt jenem von
Petrus zum Landesteg, und nachdem Johannes, Matthäus, Judas Iskariot und
Philippus in das Boot des Petrus umgestiegen sind, stößt es ab und nimmt
seinen Kurs zum gegenüberliegenden Ufer.
198. JESUS IN GERGESA; DIE JÜNGER
DES JOHANNES
Jesus spricht in einer Stadt, die
ich noch nie gesehen habe. So scheint es mir jedenfalls, denn mehr oder
weniger gleichen sich die Städte alle, und es ist nicht leicht, sie auf den
ersten Blick auseinanderzuhalten. Auch hier führt eine Straße am See entlang,
und am Ufer liegen Boote. Häuser und Häuschen reihen sich längs der Straße
aneinander, doch die Hügel sind hier viel weiter entfernt, und das Städtchen
liegt in einer anmutigen Ebene, die bis zum Ostufer reicht und durch die
Hügelkette vor den Winden geschützt ist. So hat die Sonne die Bäume hier mehr
noch als in anderen Gegenden zu voller Blüte gebracht.
Mir scheint, die Predigt habe
schon begonnen, denn Jesus sagt: «... Es ist wahr. Ihr sagt: "Wir werden dich
nie verlassen, denn dich verlassen würde bedeuten, Gott verlassen." Aber, ihr
Leute von Gergesa, bedenkt, daß nichts wandelbarer ist als das menschliche
Denken. Ich bin überzeugt, daß ihr es in diesem Augenblick wirklich ehrlich
meint. Mein Wort und das Wunder haben euch in diesem Sinn begeistert, und
daher seid ihr jetzt aufrichtig in dem, was ihr bezeugt. Doch ich möchte euch
an eine Begebenheit erinnern, eine der vielen aus Gegenwart und Vergangenheit,
die ich hier anführen könnte:
Josua, der Diener des Herrn,
versammelte vor seinem Tod alle Stämme mit ihren Ältesten, Oberhäuptern,
Richtern und Amtspersonen und sprach zu ihnen von Gott. Er erinnerte sie an
alle Wohltaten und Wunder, die ihnen vom Herrn durch seinen Diener gewährt
wurden. Nachdem er
209
ihnen alles aufgezählt hatte,
ermahnte er sie, alle Götter zurückzuweisen und dem Herrn allein zu dienen,
oder wenigstens so aufrichtig im Glauben zu sein, sich in ehrlicher Weise für
den wahren Gott oder für die Götter Mesopotamiens und der Amoriter zu
entscheiden, auf daß eine klare Trennung zwischen den Söhnen Abrahams und
jenen, die zum Heidentum übergegangen sind, bestehe.
Besser ein mutiger Fehler, als
ein scheinheiliges Bekenntnis und ein Glaubensgewirr, das Gott ein Greuel ist
und für die Seelen den Tod bedeutet. Nichts ist einfacher und verbreiteter als
dieses Durcheinander aus verschiedenen Religionen. Dem Anschein nach handelt
es sich um etwas Gutes, doch sein Kern ist nicht gut. Auch heute noch, Brüder,
immer noch gibt es jene Gläubigen, welche die Erfüllung des Gesetzes mit dem
vermischen, was von Gesetzes wegen verboten ist. Immer noch gibt es jene
Unglücklichen, die wie Betrunkene zwischen Gesetzestreue und den vorteilhaften
Geschäften und Kompromissen mit den Übertretern des Gesetzes umhertaumeln und
sich bereichern. Es gibt jene Priester, jene Schriftgelehrten und Pharisäer,
die aus dem Dienst Gottes nicht mehr Zweck und Ziel ihres Lebens machen,
sondern eine geschickte Politik, um über die anderen zu triumphieren und die
Ehrbaren ihrer Gewalt zu unterwerfen. Sie sind eben nicht Diener Gottes,
sondern Diener einer zur Verwirklichung ihrer Absichten starken und wertvollen
Macht. Sie sind nur Heuchler, die unsern Gott mit fremden Göttern vermischen.
Da antwortete das Volk Josua:
"Nie werden wir den wahren Gott verlassen, um fremden Göttern zu dienen."
Josua entgegnete ihm das, was ich euch über die heilige Eifersucht des Vaters
gesagt habe, über seine Forderung, als Einziger geliebt zu werden und mit
unserem ganzen Sein und über seine gerechte Strafe, die die Lügner trifft. Die
Strafe! Gott kann strafen, wie er Wohltaten spenden kann. Man wird nicht nur
nach dem Tode belohnt oder bestraft. Schau, Volk der Hebräer, ob Gott dich
nicht einmal, zweimal, ja zehnmal für deine Missetaten bestraft hat, nachdem
er dir soviel Gutes erwiesen hatte: er befreite dich von den Pharaonen, er
führte dich durch die Wüste und alle Gefahren zur Sicherheit, er rettete dich
vor den Nachstellungen der Feinde und gewährte dir, eine große, geachtete und
ruhmreiche Nation zu werden! Betrachte, was nun aus dir geworden ist! Ich, der
ich dich dem frevelhaftesten Götzendienst ergeben sehe, erkenne auch den
Abgrund, in den du infolge deines Verharrens in den alten Sünden stürzen
wirst. Ich ermahne dich daher, Volk, das ich zweifach mein Eigen nenne, da ich
dein Erlöser bin und aus dir geboren wurde. Ich spreche nicht aus Haß, Groll
oder Unnachgiebigkeit. Diese meine Mahnung entspringt, wenn sie auch streng
ist, meiner Liebe.
Josua sagte alsdann: "Ihr seid
Zeugen: ihr habt den Herrn gewählt", und alle antworteten: "Ja." Josua, der
nicht nur tapfer, sondern auch weise war und wußte, wie wankelmütig der Wille
des Menschen ist, schrieb
210
hierauf in das Buch alle Worte
des Gesetzes und des Bundes und legte diese Satzungen in den Tempel und auch
ins Heiligtum des Herrn zu Sichern, das zu dieser Feier das Zelt enthielt. Er
richtete einen großen Stein zum Zeugnis auf und sprach: "Dieser Stein, der
eure Worte an den Herrn vernommen hat, soll Zeuge sein, auf daß ihr den Herrn,
euren Gott, nicht verleugnen und belügen könnt."
Ein Stein, so groß und hart er
auch sein mag, kann vom Menschen, von einem Blitz, vom Wasser und von der
Witterung in Staub verwandelt werden. Ich aber bin der ewige Eckstein und kann
nicht vernichtet werden. Belügt nicht diesen lebendigen Stein. Liebt ihn nicht
nur deshalb, weil er Wunder wirkt. Liebt ihn, weil ihr durch ihn den Himmel
erlangen werdet. Ich wünschte, daß ihr gläubiger und dem Herrn getreuer wäret.
Ich sage nicht "mir", denn ich bin nur, weil ich die Stimme des Vaters bin.
Doch wenn ihr mich schmäht, beleidigt ihr auch den, der mich gesandt hat. Ich
bin das Mittel. Er ist alles. Sammelt von mir und bewahrt in euch, was heilig
ist, um zu diesem Gott zu gelangen. Liebt nicht den Menschen in mir, liebt den
Messias des Herrn nicht der Wunder wegen, sondern weil er in euch das innere
und erhabene Wunder eurer Heiligung wirken will.»
Jesus segnet das Volk und begibt
sich zu einem Haus. Er ist schon fast auf der Schwelle, als er von einer
Gruppe älterer Männer aufgehalten wird, die ihn ehrfürchtig grüßen und sagen:
«Dürfen wir dir einige Fragen stellen, Herr? Wir sind Jünger des Täufers, und
da dieser immer von dir spricht und auch, weil der Ruf deiner Wunder zu uns
gelangt ist, wollten wir dich kennenlernen. Nun, da wir dich gehört haben,
möchten wir dir eine Frage stellen.»
«Sprecht sie nur aus. Wenn ihr
Jünger des Johannes seid, befindet ihr euch bereits auf dem Weg der
Gerechtigkeit.»
«Als du über die allgemeine
Abgötterei der Gläubigen gesprochen hast, hast du gesagt, daß es unter uns
einige gibt, die sowohl mit gesetzestreuen Leuten als auch mit solchen, die
dem Gesetz nicht unterstellt sind, Handel treiben. Und auch du bist ein Freund
von letzteren. Wir wissen, daß du die Römer nicht verachtest. Also? ...»
«Ich leugne es nicht. Doch könnt
ihr behaupten, daß ich es tue, um einen Gewinn daraus zu ziehen? Könnt ihr
sagen, daß ich ihnen schmeichle, um ihre Gunst zu genießen?»
«Nein, Meister, dessen sind wir
mehr als sicher. Doch die Welt besteht nicht nur aus Menschen wie wir, die nur
an das Böse glauben wollen, das sie mit eigenen Augen sehen, und nicht an das,
was andere erzählen. Sage uns nun die Gründe, die einen Kontakt mit den Heiden
rechtfertigen, damit wir von dir lernen und dich verteidigen können, wenn dich
jemand in unserer Gegenwart verleumden sollte.»
«Es ist schlecht, um menschlicher
Ziele willen solche Kontakte zu pflegen, doch wenn sie dazu dienen, diese
Menschen zu unserem Herrn und
211
Gott zu führen, ist es nicht
schlecht. Das tue ich. Wäret ihr Heiden, würde ich euch erklären, daß jeder
Mensch von einem einzigen Gott kommt. Doch ihr seid Hebräer und Jünger des
Johannes. Ihr seid die Auslese der Hebräer, und es ist nicht nötig, daß ich es
euch erkläre. Ihr könnt also verstehen und glauben, daß es meine Pflicht ist –
da ich das Wort Gottes bin – das Wort dieses Vaters allen Menschen, allen
Kindern des Vaters, zu verkünden.»
«Aber sie sind doch keine Kinder
Gottes, wenn sie Heiden sind ...»
«Was die Gnade anbelangt, sind
sie es nicht. Wegen ihres Irrglaubens sind sie es nicht, das ist wahr. Aber
solange ich euch nicht erlöst habe, bleibt auch der Hebräer ohne Gnade, denn
der Makel der Erbsünde hindert den göttlichen Strahl der Gnade, in die Herzen
niederzusteigen. Dank seiner Erschaffung bleibt der Mensch das Kind Gottes.
Von Adam, dem Stammvater der ganzen Menschheit, stammen sowohl die Hebräer als
auch die Römer ab, und Adam ist Kind des Vaters, der ihm seine geistige
Ähnlichkeit gegeben hat.»
«Das ist wahr. Noch eine Frage,
Meister. Warum fasten die Jünger des Johannes so oft und die deinen nicht? Wir
wollen nicht sagen, daß du nicht essen sollst. Auch der Prophet Daniel war in
den Augen Gottes heilig, trotz seines hohen Ansehens am Hofe von Babylon; und
du bist größer als er. Aber sie ...»
«Was man mit Strenge oft nicht
erreicht, erreicht man mit Freundlichkeit. Es gibt Menschen, die nie von
selbst zum Meister kommen würden, daher muß der Meister zu ihnen gehen. Andere
würden wohl zum Meister kommen, aber sie schämen sich vor den Mitmenschen, und
auch sie muß der Meister aufsuchen. Da sie mir sagen: "Sei mein Gast, damit
ich dich kennenlernen kann" ' gehe ich zu ihnen, nicht der reichen Tafel und
der für mich oft so mühsamen Reden wegen, sondern wiederum und stets nur im
Interesse Gottes. Dies gilt für mich. Da sich oft wenigstens eine der Seelen,
denen ich mich nähere, bekehrt, und jede Bekehrung ein Hochzeitsfest für meine
Seele bedeutet, ein großes Fest, an dem alle Engel des Himmels teilnehmen und
das dem ewigen Gott zum Ruhm und zur Freude gereicht, so frohlocken auch alle
meine Jünger als Freunde des Bräutigams vereint mit dem Bräutigam und Freund.
Sollen die Freunde trauern, während ich frohlocke und noch unter ihnen weile?
Doch die Zeit wird kommen, da ich nicht mehr unter ihnen weile, und dann
werden sie streng fasten. Die neuen Zeiten werden neue Methoden mit sich
bringen. Bis gestern, bis zur Zeit des Täufers, war es die Asche der Buße.
Heute jedoch, in meiner Zeit, gibt es das süße Manna der Erlösung, der
Barmherzigkeit und Liebe. Die Methoden früherer Zeiten könnten nicht auf meine
Zeit übertragen werden, so wie meine Methode früher nicht gelten konnte, weil
damals die Barmherzigkeit noch nicht auf Erden war. Jetzt ist sie unter euch.
Nicht mehr der Prophet, sondern der Messias, dem Gott alles
212
übergeben hat, ist auf der Erde.
Jede Zeit hat die für sie nützlichen Dinge. Niemand näht ein Stück neuen
Tuches auf ein altes Gewand, denn beim Waschen geht der neue Stoff ein und
wird der Riß im alten noch größer. Ebenso füllt niemand jungen Wein in alte
Schläuche, denn die alten Schläuche würden durch die Gärung des Weines bersten
und der Wein würde auslaufen. Der alte Wein, der schon alle seine Umwandlungen
durchgemacht hat, gehört in alte Behälter, und der neue Wein in neue. Daher
soll eine Kraft einer anderen, ebenso starken gegenübergestellt werden. Dies
geschieht jetzt. Die Kraft der neuen Lehre erfordert neue Methoden ihrer
Verbreitung, und ich, der ich es weiß, bediene mich ihrer.»
«Danke, Herr, nun sind wir
zufrieden. Bete für uns. Wir sind alte Schläuche. Werden wir deine Kraft in
uns aufnehmen können?»
«Ja, denn der Täufer hat euch
schon vorbereitet, und seine Gebete, vereint mit den meinen, werden euch zu
vielem fähig machen. Geht mit meinem Frieden und sagt Johannes, daß ich ihn
segne.»
«Aber ... ist es besser für uns,
beim Täufer zu bleiben oder bei dir?»
«Solange es den alten Wein gibt,
soll man von diesem trinken, da der Gaumen sich an den Geschmack gewöhnt hat.
Später... wenn euch das faule Wasser, das ihr überall vorfindet, anekelt,
werdet ihr den neuen Wein schätzen.»
«Glaubst du, daß der Täufer
wieder gefangengenommen wird?»
«Ganz sicher. Ich habe ihn schon
warnen lassen. Geht nun, geht. Freut euch eures Johannes, solange es möglich
ist, und macht im Freude. Später werdet ihr mich lieben, und dies wird euch
nicht einmal leicht fallen... denn niemand, der sich an den alten Wein gewöhnt
hat, möchte plötzlich zum neuen Wein übergehen. Er sagt: "Der alte war besser"
' und tatsächlich wird es Unterschiede geben, die euch bitter erscheinen. Doch
mit der Zeit werdet ihr euch mit dem lebendigen Geschmack vertraut machen.
Lebt wohl, Freunde. Gott sei mit euch!»
199. VON NEPHTHALI NACH GISCHALA
BEGEGNUNG MIT DEM RABBI GAMALIEL
«Meister! Meister! Weißt du
eigentlich nicht, wer vor uns ist? Der Rabbi Gamaliel! Er sitzt mit seinen
Dienern im Schatten des Waldes, der sie auch vor dem Winde schützt. Sie braten
gerade ein Lamm. Nun, und was werden wir tun?»
«Das, was wir geplant hatten,
Freunde. Wir gehen weiter ...»
«Aber Gamaliel gehört dem Tempel
an.»
«Gamaliel ist nicht heimtückisch.
Habt keine Angst. Ich werde vorausgehen.»
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«Oh, ich komme mit dir», sagen
die Vettern, alle Galiläer und Simon. Nur Judas Iskariot und auch Thomas
scheinen wenig Lust zu haben, weiterzugehen. Doch sie schließen sich den
anderen an.
Sie gehen noch einige Schritte
auf dem zwischen den steilen Wänden der Berghänge verlaufenden Pfad weiter.
Nach einer Biegung mündet der Weg in eine Art Hochebene, die er, breiter
werdend, überquert, um sich dann wieder unter einem Gewölbe von Zweigen zu
verengen. In der von den ersten Blättern des Waldes beschatteten Lichtung sind
viele Menschen unter einem prächtigen Zelt versammelt, während andere in einer
Ecke ein Lamm über dem Feuer braten.
Gamaliel läßt es sich wirklich an
nichts fehlen. Für seine Reise hat er ein Regiment von Dienern aufgeboten und
eine Unmenge von Gepäck mitgenommen. Nun sitzt er da, unter seinem Zelt, unter
einem über vier vergoldete Stangen gespannten Tuch, einer Art Baldachin. Es
sind da niedrige, mit Polstern versehene Hocker und eine auf zwei geschnitzten
Holzgestellen ruhende und mit einem damastenen Tischtuch bedeckten Tafel, auf
die die Diener wertvolles Geschirr stellen. Gamaliel gleicht einem Götzen. Mit
den Händen auf den Knien, sitzt er steif und würdevoll da wie eine Statue.
Seine Diener schwirren um ihn herum wie große Schmetterlinge. Doch er kümmert
sich nicht um sie. Die Lider über seine strengen Augen gesenkt, scheint er
nachzudenken. Wenn er aufblickt, zeigen sich die schwarzen, tiefblickenden und
geistvollen Augen in ihrer ganzen ernsten Schönheit. Seine Nase ist fein und
drei parallelverlaufende Falten durchfurchen die durch eine leichte Glatze
noch höher gewordene Stirn des Greises. Eine dicke bläuliche Vene zeichnet ein
V mitten auf seine rechte Schläfe.
Das Geräusch der Schritte der
Näherkommenden läßt die Diener sich umschauen. Auch Gamaliel wendet sich um.
Er sieht zuerst Jesus und macht eine Gebärde der Überraschung. Dann steht er
auf und geht bis an den Rand des Zeltes, nicht weiter. Doch dort macht er mit
über der Brust gekreuzten Armen eine tiefe Verneigung. Jesus erwidert den Gruß
in gleicher Weise.
«Du bist hier, Rabbi?» fragt
Gamaliel.
«Hier bin ich, Rabbi», antwortet
Jesus.
«Darf ich dich fragen, wohin du
gehst?»
«Ich antworte dir gerne. Ich
komme von Nephthali und begebe mich nach Gischala.»
«Zu Fuß? Der Weg über dieses
Gebirge ist lang und beschwerlich. Du strengst dich zu sehr an.»
«Glaube mir, wenn ich angenommen
und angehört werde, verspüre ich keine Müdigkeit mehr.»
«Erlaube mir also, und laß es
einmal mich sein, der dich die Müdigkeit vergessen läßt. Das Lamm ist bereit,
wir hätten die Überreste den Vögeln
214
gelassen, denn wir nehmen nie
mit, was übrigbleibt. Du siehst also, daß ich keine Umstände mache, um dir und
deinem Gefolge davon anzubieten. Ich bin dein Freund, Jesus. Du bist nicht
geringer als ich, sondern du stehst über mir.»
«Ich glaube dir und nehme deine
Einladung an.»
Gamaliel spricht zu einem Diener,
der der erste in der Rangordnung zu sein scheint, und dieser gibt den Befehl
weiter. Das Zelt wird verlängert, und von den zahlreichen Tragtieren werden
Hocker und Geschirr für die Jünger Jesu abgeladen. Schalen für die Reinigung
der Finger werden gereicht. Jesus vollzieht den Ritus mit vollendeter
Vornehmheit, während die Jünger, von Gamaliel aufmerksam gemustert, sich
ungeschickt anstellen. Nur Simon, Judas Iskariot, Bartholomäus und Matthäus
sind in den jüdischen Bräuchen gut bewandert.
Jesus nimmt neben Gamaliel Platz,
der allein an einer Seite der Tafel sitzt. Ihm gegenüber sitzt der Zelote.
Nach dem Aufopferungsgebet, das Gamaliel feierlich und langsam spricht,
zerlegen die Diener das Lamm, verteilen es unter die Gäste und füllen die
Becher, je nach Wunsch mit Wein oder Honigwasser.
«Der Zufall hat uns
zusammengeführt, Rabbi. Ich hätte nie gedacht, dich auf dem Weg nach Gischala
zu treffen.»
«Ich bin auf dem Weg nach aller
Welt.»
«Ja, du bist der unermüdliche
Prophet. Johannes ist der seßhafte, du der pilgernde Prophet.»
«So ist es für die Seelen
leichter, mich zu finden.»
«Das würde ich nicht sagen. Wenn
du von Ort zu Ort gehst, wissen sie nicht mehr, wo du bist.»
«Das trifft nur für meine Feinde
zu, doch die, die zu mir kommen wollen, weil sie das Wort Gottes lieben,
finden mich. Nicht alle können zum Meister kommen, doch der Meister, der sich
nach allen sehnt, geht zu ihnen und erweist damit den Guten Wohltaten und
entgeht der Verschwörung derer, die ihn hassen.»
«Sagst du dies meinetwegen? Ich
hasse dich nicht.»
«Ich sage es nicht deinetwegen.
Aber da du gerecht und aufrichtig bist, kannst du bestätigen, was ich sage.»
«Ja, so ist es. Aber ... du weißt
... es geschieht nur, weil wir Älteren dich schlecht verstehen.»
«Ja, das alte Israel versteht
mich schlecht, zu seinem Unglück... und aus eigenem Willen.»
«Nein! ...»
«Doch, Rabbi, es gibt sich keine
Mühe, den Meister zu verstehen und wer sich darauf beschränkt, handelt zwar
nicht gut, doch wenigstens nur relativ nicht gut. Viele aber wenden ihren
ganzen Willen auf, um mein Wort falsch zu verstehen und zu verdrehen und damit
Gott zu schaden.»
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«Gott? ... Gott steht über den
menschlichen Nachstellungen.»
«Ja. Aber jede Seele, die
irregeht oder irregeführt wird, schadet Gott durch den Verlust dieser Seele;
denn es ist ein Abweichen vom rechten Weg, wenn man mein Wort und mein Werk
vor sich selbst und den anderen entstellt. Jede Seele, die verlorengeht, ist
eine Gott zugefügte Wunde.»
Gamaliel senkt das Haupt und
denkt mit geschlossenen Augen nach. Dann greift er mit seinen langen, schmalen
Fingern in einer unwillkürlichen Gebärde des Unbehagens an seine Stirn. Jesus
schaut ihn forschend an.
Gamaliel hebt das Haupt, öffnet
die Augen, betrachtet Jesus und sagt: «Aber du weißt, daß ich nicht einer von
diesen bin.»
«Ich weiß es. Doch du gehörst zur
ersten Gruppe.»
«Oh, das ist wahr! Aber man kann
nicht sagen, daß ich mich nicht bemühe, dich zu verstehen. Dein Wort verharrt
in meinem Geist, dringt aber nicht tiefer. Mein Geist bewundert dein Wort als
das eines Gelehrten, und die Seele ...»
«Doch die Seele kann es nicht
aufnehmen, Gamaliel, weil sie von zu vielem erfüllt ist, und von verderbten
Dingen. Auf dem Weg von Nephthali nach hier bin ich über einen Gipfel
gegangen, der die Bergkette überragt. Und es hat mich gefreut, die beiden Seen
von Genesareth und von Meron in all ihrer Schönheit aus der Höhe zu sehen, so
wie sie die Adler und die Engel des Herrn sehen, um einmal mehr dem Schöpfer
zu sagen: "Danke, Schöpfer, für all das Schöne, das du uns schenkst." Während
die Berge mit ihren Wiesen, Obstgärten, Feldern und Wäldern zu sprießen und
blühen beginnen, die Lorbeeren neben den Olivenbäumen ihren Duft verströmen
und schon den Schnee von tausend Blüten vorbereiten, und die Sommereiche sich
mit Kränzen von Waldreben und Geißblatt schmückt, sind hier oben dem Wachsen
und Blühen der Natur Grenzen gesetzt; und auch der Mensch vermag nichts.
Jegliche Bemühung des Windes und des Menschen ist hier nutzlos, weil die
zyklopischen Ruinen des antiken Hazor alles bedecken und zwischen ihren
Steinen nur Nesseln, Brombeeren und Schlangennester gedeihen. Gamaliel ...»
«Ich verstehe dich. Auch wir sind
Trümmer... Ich verstehe das Gleichnis, Jesus. Aber ... ich kann nicht ... ich
kann nicht anders. Die Steine liegen zu tief.»
«Einer, an den du glaubst, hat
dir gesagt: "Die Steine werden bei meinen letzten Worten erbeben." Aber warum
die letzten Worte des Messias abwarten? Wird dich dann nicht dein Gewissen
quälen, weil du mir nicht schon früher nachgefolgt bist? Die letzten...
Traurige Worte auch deshalb, weil es die eines sterbenden Freundes sind, auf
die man zu spät gehört hat; aber meine Worte sind noch mehr als das eines
Freundes.»
«Du hast recht ... aber ich kann
nicht. Ich warte auf das Zeichen, um zu glauben.»
216
«Ist ein Gelände öde, genügt
nicht ein Blitz allein, um es fruchtbar zu machen. Er berührt nur die Steine
an der Oberfläche, nicht aber das darunterliegende Erdreich. Gamaliel, beginne
wenigstens damit, die Steine wegzuräumen. Denn wenn sie so tief in deinem
Herzen liegen, wird das Zeichen sonst nicht ausreichen, um dich zum Glauben zu
führen.»
Gamaliel schweigt, in Gedanken
versunken. Die Mahlzeit ist beendet. Jesus erhebt sich und sagt: «Ich danke
dir, mein Gott, für die Speise und auch dafür, daß ich zum Weisen sprechen
konnte. Dank sei auch dir, Gamaliel.»
«Meister, geh nicht so von mir.
Ich fürchte, daß du über mich erzürnt bist.»
«O nein! Glaube mir!»
«Dann geh nicht fort. Ich gehe
zum Grabe Hillels. Würdest du es ablehnen, mit mir zu kommen? Wir werden
schnell dort sein, denn ich habe Maultiere und Esel für alle. Wir müssen die
Tiere nur ihrer Last entledigen und sie den Dienern zu tragen geben. Dies wird
dir den beschwerlichen Teil deiner Reise abkürzen.»
«Ich lehne es nicht ab; es ist
mir vielmehr eine Ehre, mit dir zum Grabe Hillels zu gehen. Laßt uns
aufbrechen!»
Gamaliel gibt Anweisungen, und
während alle damit beschäftigt sind, den provisorischen Speisesaal
abzubrechen, setzen sich Jesus und der Rabbi rittlings auf einen Maulesel und
reiten nebeneinander den steilen und stillen Weg voran, auf dem nur der Trab
der Hufe zu hören ist.
Gamaliel schweigt. Er fragt Jesus
nur zweimal, ob er bequem im Sattel sitze. Jesus antwortet und schweigt dann
wieder, in Gedanken versunken. Jesus ist so sehr in sich gekehrt, daß er nicht
bemerkt, daß Gamaliel, der sein Maultier etwas zurückhält, ihn nun um eine
ganze Halslänge voranreiten läßt, um jede seiner Bewegungen zu beobachten. Die
Augen des Rabbi gleichen den Augen des Falken, der seine Beute beobachtet, so
starr und unverwandt sind sie auf ihn gerichtet. Doch Jesus nimmt keine Notiz
davon. Ruhig reitet er seines Weges und paßt sich der schaukelnden Bewegung
des Tieres an. Obwohl er ganz in Gedanken dahinreitet, nimmt er dennoch alles
wahr, was ihn umgibt. Er streckt seine Hand aus, um die herabhängende
Blütentraube eines Goldregenbaumes zu pflücken. Er lächelt zwei Vögelein zu,
die im Dickicht eines Wacholderstrauches ihr Nestchen bauen. Dann hält er das
Maultier an, um einer Grasmücke zuzuhören, und stimmt dem aufmunternden Gurren
einer Wildtaube zu, die ihren Gefährten zur Arbeit antreibt. Es ist, wie wenn
Jesus diese Tierchen segnen würde.
«Du liebst Pflanzen und Tiere,
nicht wahr?»
«Sehr. Sie sind mein lebendiges
Buch. Der Mensch hat in ihnen stets die Grundlagen des Glaubens vor sich. Die
Genesis lebt fort in der Natur. Wenn einer zu sehen versteht, vermag er auch
zu glauben. Diese Blume,
217
die in der ganzen Lieblichkeit
ihres Duftes und ihrer herabhängenden Blüten einen so starken Gegensatz zu dem
stacheligen Wacholder und dem Stechginster dort bildet, kann sie von selbst
erstanden sein? Schau, das Rotkehlchen mit dem Tropfen getrockneten Blutes an
seiner weichen Kehle, konnte es von selbst entstanden sein? Siehe die beiden
Turteltauben; wo und wie haben sie den dunklen Onyxkragen auf ihr graues
Federkleid gemalt? Die beiden Schmetterlinge dort, ein schwarzer mit großen
goldenen und rubinroten Punkten, der andere weiß mit blauen Streifen, wo haben
sie wohl die Edelsteine und Bänder für ihre Flügel gefunden? Betrachte den
Fluß, ja, es ist Wasser, doch woher kommt es, und welches ist der Urquell des
Wassers als Element? Oh! Betrachten heißt glauben, wenn man zu sehen
versteht.»
«Betrachten heißt glauben. Wir
betrachten die lebendige Genesis rings um uns zu wenig.»
«Zu viel Wissenschaft, Gamaliel,
und zu wenig Liebe und Demut.»
Gamaliel seufzt und schüttelt den
Kopf.
«Ich bin am Ziel, Jesus. Dort
liegt Hillel begraben. Wir können absteigen und die Reittiere hier
zurücklassen. Ein Diener wird sich um sie kümmern.»
Sie steigen ab, binden die zwei
Maulesel an einen Stamm und begeben sich zu einer Begräbnisstätte, die sich
neben einem geräumigen und ganz verschlossenen Haus über das Niveau des Bodens
erhebt.
«Ich komme hierher, um zu
meditieren als Vorbereitung auf die Feste Israels», sagt Gamaliel und zeigt
auf das Haus.
«Möge sich dir die Weisheit mit
ihrem Licht mitteilen.»
«Hierher komme ich – Gamaliel
zeigt auf das Grab – um mich auf den Tod vorzubereiten. Hillel war ein
Gerechter.»
«Ja, er war ein Gerechter. Ich
bete gerne bei seiner Asche. Aber Hillel soll dich nicht nur lehren zu
sterben, er soll dich auch lehren zu leben, Gamaliel.»
«Wie, Meister?»
«"Der Mensch ist groß, wenn er
sich verdemütigt", war sein bevorzugter Wahlspruch.»
«Wie kannst du das wissen, da du
ihn nicht gekannt hast?»
«Ich habe ihn gekannt ... und
übrigens, auch wenn ich Hillel, den Rabbi, nicht persönlich gekannt hätte, so
würde ich doch seine Denkweise kennen, denn mir bleibt kein menschlicher
Gedanke verborgen.»
Gamaliel neigt sein Haupt und
murmelt: «Gott allein kann dies von sich sagen.»
«Gott und sein Wort. Denn das
Wort kennt den Gedanken Gottes, und der Gedanke Gottes kennt das Wort und
liebt es und teilt sich ihm mit seinen Schätzen mit, um es an ihm teilhaben zu
lassen. Die Liebe Gottes festigt die Bande und macht daraus eine einzige
Vollendung. Dies ist die
218
Dreiheit, die sich liebt und sich
auf göttliche Weise bildet, zeugt, wirkt und ergänzt.» 1)
Sie beten lange vor dem
verschlossenen Grab. Inzwischen sind die Jünger und danach die Diener mit den
Tieren angekommen, die ersteren auf den Reittieren, die anderen mit der Last
der Gepäckstücke. Doch sie sind am Rande der Wiese, auf deren anderer Seite
das Grabmal liegt, geblieben. Das Gebet ist beendet.
«Leb wohl, Gamaliel. Schwinge
dich empor wie Hillel!»
«Was meinst du damit?»
«Wachse. Er ist dir voraus, denn
er verstand mit größerer Demut zu glauben als du. Der Friede sei mit dir!»
200. DIE HEILUNG DES ENKELS DES
PHARISÄERS ELI IN KAPHARNAUM
Jesus kommt mit dem Boot in
Kapharnaum an. Der Tag geht zur Neige und der See funkelt in rotem Gold.
Während die beiden Boote anlegen, sagt Johannes: «Ich gehe gleich zum Brunnen
und hole Wasser für deinen Durst.»
«Das Wasser ist hier sehr gut»,
ruft Andreas aus.
«Ja, es ist gut, und eure Liebe
läßt es noch besser werden.»
«Ich bringe die Fische nach
Hause. Die Frauen werden sie für das Nachtmahl zubereiten. Wirst du danach zu
uns und zu ihnen sprechen?»
«Ja, Petrus.»
«Es ist nun viel schöner, nach
Hause zurückzukehren. Vorher waren wir wie eine Gruppe von Nomaden. Jetzt
hingegen, mit den Frauen, ist mehr Ordnung und Liebe da, und dann... deine
Mutter zu sehen, läßt gleich meine Müdigkeit verfliegen. Ich weiß nicht ...»
Jesus lächelt und schweigt.
Das Boot gleitet mit dem Kiel
über den Kies. Johannes und Andreas, die in kurzen Unterkleidern arbeiten,
springen ins Wasser, ziehen mit Hilfe einiger Burschen das Boot ans Ufer und
legen ein Brett als Laufsteg an.
______________
1) Triade = Dreiheit... und
ergänzt: sind Ausdrücke, die keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben,
jedoch auf das erhabene innere und äußere Wirken Gottes, der die Liebe ist,
hinweisen; ein Wirken, das nach innen und außen in höchstem Maße fruchtbar
wird: deshalb sind Vater – Sohn die gegenseitige Liebe, d.h. der Hl. Geist,
der erste Ursprung jeder erschaffenen Vollkommenheit und daher jedes
menschlichen Gedankens. Der Ausdruck "sich ergänzt" ist, wenn dies auch
anfänglich schwer verständlich erscheint, in der theologischen Sprache nicht
unbekannt. Die heiligste Jungfrau Maria, deren Bedeutung genau definiert ist,
wird (als erste unter allen Geschöpfen) die "Vervollständigung der Heiligsten
Dreifaltigkeit" genannt.
219
Jesus geht als erster an Land und
wartet, bis auch das zweite Boot am Ufer ist, um sich mit all den Seinen zu
vereinen. Dann gehen sie langsam zum Brunnen. Es ist eine natürliche Quelle,
die etwas außerhalb der Ortschaft entspringt und frisch, reichlich und silbern
in das steinerne Becken fließt. Ihr klares Wasser lädt zum Trinken ein.
Johannes, der mit dem Krug vorausgelaufen ist, kehrt schon zurück und reicht
den tropfenden Krug Jesus, der ausgiebig trinkt.
«Wie durstig du gewesen bist,
mein Meister! Ich Dummkopf hatte nicht für Wasser gesorgt.»
«Das macht nichts, Johannes. Nun
ist alles vorbei», und er liebkost ihn.
Sie wollen gerade zurückkehren,
als sie Petrus in aller Eile (zu der er in seiner Schwerfälligkeit fähig ist)
ankommen sehen. Simon Petrus war nach Hause gegangen, um dort die Fische
abzugeben.
«Meister, Meister!» schreit er
außer Atem. «Das ganze Dorf ist in Aufruhr, weil der einzige Enkel des
Pharisäers Eli wegen eines Schlangenbisses im Sterben liegt. Das Kind war mit
dem Greis gegen den Willen der Mutter in ihren Olivenhain gegangen. Eli
überwachte dort die Arbeiten und das Kind spielte zwischen den Wurzeln eines
alten Olivenbaumes. Es hat die Hand in ein Loch gesteckt in der Hoffnung, eine
Eidechse zu finden, und ist auf eine Schlange gestoßen. Der Alte ist ganz
außer sich. Die Mutter des Kindes, die den Schwiegervater verabscheut, und das
mit Recht, klagt ihn nun als Mörder an. Das Kind wird von Augenblick zu
Augenblick kälter. Die Verwandten lieben sich nicht. Schöne Verwandtschaft!»
«Es ist schlimm, wenn es
Streitereien in einer Familie gibt.»
«Aber Meister, ich würde sagen,
die Schlangen mochten die Schlange nicht und deshalb haben sie die kleine
Schlange umgebracht. Ich bedauere, daß er mich gesehen und mir nachgerufen
hat: "Ist der Meister da?" Der Kleine tut mir leid. Er war ein schönes Kind
und kann nichts dafür, daß er der Enkel eines Pharisäers ist.»
«Gewiß kann er nichts dafür ...»
Sie gehen zur Ortschaft und
sehen, daß ihnen eine Gruppe schreiender und weinender Menschen entgegenkommt,
die von Eli angeführt wird.
«Er hat uns gefunden. Laßt uns
umkehren!»
«Warum denn? Der alte Mann
leidet.»
«Dieser alte Mann haßt dich,
vergiß das nicht. Er ist einer deiner ersten und erbittertsten Ankläger im
Tempel.»
«Ich vergesse nicht, daß ich die
Barmherzigkeit bin.»
Der alte Eli, ungekämmt und mit
von Schmerz verzerrtem Gesicht, seine Kleider in Unordnung, eilt Jesus mit
ausgestreckten Armen entgegen, wirft sich zu seinen Füßen nieder und heult:
«Barmherzigkeit, Barmherzigkeit! Verzeihung! Räche dich nicht an einem
Unschuldigen wegen meiner Härte. Du allein kannst ihn retten! Gott, dein
Vater, hat dich
220
hierher geführt. Ich glaube an
dich! Ich verehre dich! Ich liebe dich! Verzeihung! Ich bin ungerecht und
lügnerisch gewesen! Doch nun bin ich bestraft. Allein diese Stunden sind
Strafe genug. Hilfe! Es ist der Junge, das einzige Kind meines verstorbenen
Sohnes, und sie beschuldigen mich, es getötet zu haben», und er weint und
schlägt dabei den Kopf rhytmisch auf den Boden.
«Aber weine doch nicht so! Willst
du sterben, ohne dich weiterhin um das Heranwachsen deines Enkels zu kümmern?»
«Er stirbt! Er stirbt! Vielleicht
ist er schon gestorben. Laß auch mich sterben. Ich könnte in dem leeren Haus
nicht weiterleben. Oh, diese meine traurigen letzten Tage!»
«Eli, steh auf und laß uns gehen
...»
«Du, du ... willst du wirklich
kommen? Aber weißt du, wer ich bin?»
«Ein Unglücklicher. Laßt uns
gehen.»
Der Greis steht auf und sagt:
«Ich will vorausgehen, aber du, komm rasch, komm sofort!» Er rennt davon mit
der Verzweiflung im Herzen, die ihn vorantreibt.
«Aber Meister, glaubst du, daß du
ihn damit ändern wirst? Das ist ein vergeudetes Wunder! Laß doch die kleine
Schlange sterben, dann wird auch der Alte aus Kummer sterben, und du hast
einen weniger auf deinem Wege. Gott hat dafür gesorgt, daß ...»
«Aber Simon! Wahrlich, nun bist
du die Schlange.» Jesus stößt Petrus streng von sich, der daraufhin den Kopf
hängen läßt und weitergeht.
Am größten Platze in Kapharnaum
steht ein schönes Haus, vor dem eine Menschenmenge lärmt. Jesus begibt sich
dorthin und erreicht das Gebäude gerade in dem Augenblick, als aus der
aufgerissenen Türe der Greis heraustritt, gefolgt von einer Frau mit
zerzaustem Haar, die in ihren Armen ein kleines sterbendes Geschöpflein trägt.
Das Gift lähmt bereits seine Organe und der Tod steht bevor. Das kleine
verwundete Händchen hängt mit den Spuren des Bisses an der Daumenwurzel leblos
herab. Eli schreit nur immerzu: «Jesus ! Jesus !»
Jesus, umringt von der Menge, die
ihn durch Stoßen und Drücken fast an jeglicher Bewegung hindert, ergreift die
kleine Hand, führt sie an seinen Mund, saugt an der Wunde und haucht dann in
das wachsbleiche Gesichtlein mit den halboffenen, gläsernen Augen. Dann
richtet er sich auf. «Jetzt wird das Kind erwachen.» Und zur Menge gewandt
sagt er: «Ihr dürft es nicht erschrecken mit euren entsetzten Gesichtern. Es
wird Angst haben, weil es sich noch an die Schlange erinnert.»
Der Kleine, dessen Gesichtlein
sich nun rosig färbt, öffnet den Mund zu einem langen Gähnen, reibt sich die
Äuglein, schlägt sie auf und blickt verwundert auf die vielen Menschen. Dann
erinnert er sich der Schlange, möchte fliehen und macht eine so ruckartige
Bewegung, daß er auf den Boden gefallen wäre, hätte Jesus ihn nicht in seinen
Armen aufgefangen.
221
«Schön ruhig, schön ruhig! Vor
wem hast du noch Angst? Schau, die schöne Sonne! Dort ist der See, dort ist
dein Haus, hier sind deine Mutter und dein Großvater.»
«Und die Schlange?»
«Sie ist nicht mehr da. Ich bin
da.»
«Du, ja ...» Das Kind denkt nach
... dann sagt es in der Sprache der kindlichen Unschuld: «Mein Großvater hat
gesagt, ich solle zu dir "Verfluchter" sagen. Doch ich sage es nicht. Ich habe
dich lieb.»
«Ich? Ich soll das gesagt haben?
Der Kleine phantasiert. Glaub ihm kein Wort, Meister. Ich habe dich immer
geachtet.» Da die Angst nun geschwunden ist, kommt schon wieder die alte Natur
zutage.
«Die Worte haben Wert und haben
auch keinen Wert. Ich nehme sie für das, was sie bedeuten. Mit Gott, Kleiner,
mit Gott, Frau, mit Gott, Eli. Liebet einander, und wenn ihr könnt, liebt auch
mich.» Jesus wendet sich um und geht zu dem Haus, in dem er wohnt.
«Meister, warum hast du nicht ein
erschütterndes Wunder gewirkt, das Aufsehen erregt hätte? Du hättest dem Gift
gebieten sollen, das Kind zu verlassen. Du hättest dich als Gott offenbaren
sollen. Indes hast du das Gift ausgesaugt wie irgendein armseliger Mensch!»
Judas Iskariot ist unzufrieden. Er wollte etwas Eindrucksvolleres und auch die
anderen sind der gleichen Meinung.
«Zermalmen hättest du deinen
Feind sollen mit deiner ganzen Macht. Hast du ihn gehört? Er hat sofort wieder
Gift gespieen!»
«Auf dieses Gift kommt es nicht
an. Aber überlegt einmal. Wenn ich so gehandelt hätte wie ihr es wollt, dann
hätte er gesagt, daß Beelzebub mein Helfer sei. Seine verderbte Seele kann
vielleicht meine Macht als Arzt anerkennen ... aber nicht mehr. Das Wunder
führt die zum Glauben, die bereits auf dem Weg zu ihm sind. Doch jene ohne
Demut – denn der Glaube ist immer ein Zeichen von Demut – treibt es zur
Gotteslästerung. Es ist daher besser, diese Gefahr zu vermeiden und Formen
anzuwenden, die nach außen menschlich erscheinen. Das ist das Elend der
Ungläubigen, das unheilbare Elend! Es gibt kein Mittel, um dieses Elend aus
der Welt zu schaffen, denn kein Wunder bringt sie zum Glauben und zum Gutsein.
Das ist nun einmal so. Ich erfülle meine Aufgabe. Sie aber gehen einem
unglücklichen Schicksal entgegen!»
«Warum hast du es dann überhaupt
getan?»
«Weil ich die Güte bin und damit
niemand sagen kann, daß ich meinen Feinden gegenüber rachsüchtig bin und die
Hetzer herausfordere. Auf ihre Häupter häufe ich glühende Kohlen, und sie
reichen sie mir dazu. Beruhige dich, Judas des Simon. Du aber bemühe dich,
nicht so zu handeln wie sie! Das soll genügen! Laßt uns zu meiner Mutter
gehen. Sie wird sich freuen, wenn sie erfährt, daß ich ein Kind geheilt habe.»
222
201. JESUS IM HAUSE VON
KAPHARNAUM NACH DEM WUNDER AN ELISÄUS
Aus einem Garten kommend, in
dessen Beeten es überall zu sprießen beginnt, betritt Jesus eine große Küche,
in der die beiden älteren Marien (Maria ,Kleophä und Maria Salome) das
Nachtessen zubereiten.
«Der Friede sei mit euch!»
«Oh, Jesus ! Meister!» Die beiden
Frauen drehen sich um und begrüßen ihn. Die eine hat einen großen Fisch in der
Hand, den sie gerade ausnimmt, die andere einen Kessel voll dampfenden
Gemüses, den sie vom Feuer genommen hat, um nachzusehen, ob das Gemüse schon
gar ist. Ihre gütigen, verblühten, von der Flamme und der Arbeit erhitzten
Gesichter lächeln vor Freude und scheinen jünger und schöner in ihrem Glück.
«Es ist gleich alles bereit,
Jesus. Bist du müde ? Du wirst hungrig sein», sagt Tante Maria in
verwandtschaftlichem Zutrauen, und es scheint, daß sie Jesus noch mehr als
ihre eigenen Söhne liebt.
«Nicht mehr als sonst. Aber
natürlich werde ich sehr gerne die guten Sachen essen, die du mit Maria
zubereitet hast, und so auch die anderen. Da kommen sie schon.»
«Deine Mutter ist im oberen
Zimmer. Weißt du ... Simon ist gekommen. Oh, ich bin heute abend vollkommen
glücklich! Nein, nicht vollkommen, denn ... du weißt schon, wann ich ganz
glücklich sein werde.»
«Ja, ich weiß es.» Jesus zieht
seine Tante an sich, küßt sie auf die Stirn und sagt dann: «Ich kenne deinen
Wunsch und deinen Neid ohne Sünde auf Salome. Doch der Tag wird kommen, da
auch du wie sie sagen kannst: "Alle meine Söhne gehören Jesus." Ich will nun
zu meiner Mutter gehen.»
Er geht hinaus und steigt auf
einer kleinen Außentreppe zur höher gelegenen Terrasse hinauf, die mehr als
die Hälfte der Hausoberfläche einnimmt. Auf der anderen Hälfte befindet sich
ein großer Raum, aus dem laute Männerstimmen dringen, zeitweilig unterbrochen
von der sanften Stimme Marias, von der klaren, jungfräulichen Mädchenstimme,
der die Jahre nichts anzuhaben vermochten und die immer noch dieselbe ist, die
sagte: «Ich bin die Magd des Herrn», und die ihrem Kinde das Wiegenlied sang.
Jesus nähert sich lautlos. Er
lächelt, denn er hört, wie seine Mutter soeben sagt: «Meine Heimat ist mein
Sohn. Und ich leide unter dem Fernsein von Nazareth nur, wenn er nicht bei mir
ist. Doch wenn er in meiner Nähe ist ... oh, dann fehlt mir nichts. Ich sorge
mich nicht um mein Haus, denn ihr seid ja dort ...»
«Oh, schau, Jesus kommt!» ruft
Alphäus der Sara aus, der sich zur Tür gewandt und als erster Jesus gesehen
hat. «Ja, ich bin hier. Der Friede sei
223
mit euch allen. Mutter!» Er küßt
seine Mutter auf die Stirn, und sie küßt ihn. Dann wendet er sich den
unerwarteten Gästen zu, dem Vetter Simon, Alphäus der Sara, dem Hirten Isaak
und jenem Joseph, der von Jesus in Emmaus nach der Verurteilung durch den
Hohen Rat angenommen wurde.
«Wir sind nach Nazareth gegangen,
aber Alphäus hat uns gesagt, daß wir dich hier finden würden. So sind wir
hierher gekommen. Alphäus hat uns begleitet, und Simon ebenfalls», erklärt
Isaak.
«Ich konnte es kaum fassen,
mitkommen zu dürfen», sagt Alphäus.
«Auch ich wollte dich grüßen und
eine Weile mit dir und Maria zusammensein», fügt Simon hinzu.
«Ich bin sehr glücklich, mit euch
hier zu sein. Es war gut, daß wir nicht länger fortgeblieben sind, wie es die
Bewohner von Kedesch wollten, wohin ich auf dem Wege von Gergesa nach Meron
und dann auf der anderen Seite weitergehend gekommen war.»
«Von dort kommst du ?»
«Ja, ich habe mich an den Orten
wieder gezeigt, wo ich bereits gewesen bin, und auch an anderen. Bis nach
Gischala bin ich gekommen.»
«Was für ein weiter Weg!»
«Doch welche Ernte! Weißt du,
Isaak, wir waren Gäste des Rabbi Gamaliel. Er war sehr gut zu uns. Dann habe
ich den Synagogenvorsteher vom "Trügerischen Gewässer" angetroffen. Auch er
wird kommen. Ich vertraue ihn dir an. Und dann ... und dann ... habe ich drei
Jünger gewonnen ...» Jesus lächelt selig und voller Freude.
«Wer sind sie?»
«Der eine ist ein Greis von
Chorazim. Ich habe ihn eine Zeitlang versorgt, und der Arme, ein wahrer,
unvoreingenommener Israelit, hat mir, um mir seine Liebe zu bezeugen, die
ganze Gegend wie ein perfekter Ackersmann bearbeitet. Der andere ist ein
ungefähr fünf Jahre altes Kind. Intelligent und sehr eifrig. Auch mit ihm habe
ich schon bei meinem ersten Aufenthalt in Bethsaida gesprochen, und der Junge
erinnert sich noch besser an alles als die Erwachsenen. Der dritte ist ein
ehemaliger Aussätziger. Ich hatte ihn an einem nun schon weit zurückliegenden
Abend in der Nähe von Chorazim geheilt und bin dann weggegangen. Nun habe ich
ihn als meinen Verkünder im Gebirge von Nephthali wiedergefunden. Als Beweis
für seine Worte erhebt er seine geheilten, doch verstümmelten Hände und zeigt
seine geheilten, verunstalteten Füße, mit denen er dennoch schon weite Wege
zurückgelegt hat. An seinen Verstümmelungen erkennen die Menschen, wie krank
er einmal gewesen sein muß, und glauben seinen mit Tränen der Dankbarkeit
gewürzten Worten. Es war einfach für mich, dort zu sprechen, denn man hatte
mich schon bekannt gemacht und andere zum Glauben an mich geführt. Ich habe
viele Wunder wirken können. So viel vermag ein Mensch, der wirklich glaubt
...»
224
Alphäus, immer mit dem Kopfe
nickend, stimmt Jesus wortlos zu, während Simon unter dem unausgesprochenen
Tadel das Haupt neigt und Isaak sichtlich an der Freude des Meisters
teilnimmt, der gerade vom Wunder am kleinen Enkel des Eli berichtet, das er
kurz zuvor gewirkt hat.
Das Nachtmahl ist bereit, und die
Frauen decken zusammen mit Maria den Tisch im Saale und stellen die Gerichte
darauf. Dann ziehen sie sich ins Untergeschoß zurück. Die Männer bleiben oben
allein, und Jesus opfert, segnet und verteilt die Speisen.
Doch schon nach dem ersten Bissen
kommt Susanna herein und sagt: «Eli steht mit seinen Dienern und vielen
Geschenken vor der Tür. Er möchte mit dir sprechen.»
«Ich komme sofort, oder besser:
er soll heraufkommen.»
Susanna geht und kehrt kurz
darauf zurück mit dem alten Eli, den zwei seiner Diener, die einen großen Korb
schleppen, begleiten. Hinter ihnen erscheinen die neugierig spähenden Frauen,
mit Ausnahme von Maria, der heiligsten Mutter.
«Gott sei mit dir, mein
Wohltäter», grüßt der Pharisäer.
«Und mit dir, Eli. Komm herein.
Was willst du? Geht es deinem Enkel noch nicht gut?»
«Oh, sehr gut! Er springt wie ein
Böcklein im Garten herum. Doch im ersten Augenblick war ich so erstaunt, so
verwirrt, daß ich meine Pflicht vernachlässigt habe. Ich möchte dir meine
Dankbarkeit bezeugen und bitte dich, diese Kleinigkeiten, die ich dir anbiete,
nicht abzulehnen. Es sind nur Lebensmittel für dich und die Deinen,
Erzeugnisse meiner Felder. Dann... dann... möchte ich... dich für morgen zu
Tische laden, um dir nochmals vor den Freunden Dank und Ehre zu erweisen.
Lehne nicht ab, Meister. Ich müßte sonst daraus schließen, daß du mich nicht
liebst und Elisäus nur geheilt hast, weil du ihn liebst... nicht meinetwegen.»
«Ich danke dir. Doch Geschenke
wären nicht nötig gewesen.»
«Jeder angesehene Mann und jeder
Gelehrte nimmt Geschenke an. Es ist so Sitte.»
«Ich auch. Doch ich bevorzuge
eine einzige Gabe, ja ich bitte sogar darum.»
«Was wäre das? Sag es mir. Wenn
ich kann, werde ich es dir geben.»
«Euer Herz, eure Gedanken; gebt
sie mir zu eurem eigenen Wohl!»
«Oh, ich weihe sie dir,
gebenedeiter Jesus! Zweifelst du daran? Ich habe... ja... ich habe dir Unrecht
getan. Doch nun habe ich verstanden. Ich habe auch vom Tode des Doras gehört,
der dich beleidigt hatte... Warum lächelst du, Meister?»
«Ich bin einer Erinnerung
nachgegangen.»
«Ich dachte schon, du würdest an
meinen Worten zweifeln.»
«O nein. Ich weiß, daß der Tod
des Doras dich bewegt hat, mehr noch als das Wunder von heute abend. Doch du
brauchst Gott nicht zu fürchten,
225
wenn du wirklich begriffen hast
und wirklich von nun an mein Freund sein willst.»
«Ich sehe, daß du wahrhaft ein
Prophet bist. Ich, das ist wahr, ich fürchtete mehr, ich kam aus Angst... weil
ich befürchtete, dieselbe Strafe zu erleiden wie Doras... und heute habe ich
gesagt: "So, das ist die Strafe, und sie ist noch schrecklicher, weil sie die
alte Eiche nicht in ihrem Lebensmark getroffen hat, sondern in ihrer Liebe, in
ihrer Lebensfreude; sie hat den Eichenschößling geknickt, an dem ich mich
erfreute." Ich verstand, daß auch mir, wie Doras, recht geschehen wäre.»
«Du hast verstanden, daß es
gerecht gewesen wäre, doch du glaubtest immer noch nicht an den, der die Güte
ist.»
«Du hast recht. Doch nun ist es
anders. Jetzt habe ich verstanden. Wirst du also morgen in mein Haus kommen?»
«Eli, ich hatte vor, bei
Sonnenaufgang aufzubrechen. Aber damit du nicht denken kannst, daß ich dich
geringschätze, verschiebe ich meine Abreise um einen Tag. Morgen werde ich bei
dir sein.»
«Oh, du bist wirklich gütig, ich
werde es nie vergessen!»
«Mit Gott, Eli. Danke für alles.
Diese Früchte sind herrlich, und wie Butter müssen die kleinen Käse sein, und
ganz sicher ist auch dein Wein vorzüglich. Doch du hättest alles in meinem
Namen den Armen geben können.»
«Es ist auch für sie etwas dabei,
wenn du willst. Unter all den Dingen ist eine Gabe, die speziell für dich
gedacht war.»
«Wir werden sie dann morgen
verteilen, vor oder nach dem Gastmahl, nach deinem Gutdünken. Eine friedliche
Nacht, Eli!»
«Auch dir. Mit Gott.» Eli geht
mit seinen Dienern fort.
Petrus, der mit einem
sehenswerten Mienenspiel alles aus dem Korb herausgenommen hat, um ihn den
Dienern wieder mitzugeben, legt den Beutel vor Jesus auf den Tisch und sagt,
als beende er ein innerliches Gespräch: «Es ist wohl das erste Mal, daß dieser
alte Kauz Almosen gibt.»
«Das ist wahr», bestätigt
Matthäus. «Ich war habgierig, doch er übertraf mich. Er hat seine Habe durch
Wuchergeschäfte verdoppelt.»
«Nun ja... wenn er in sich geht,
ist das doch etwas Schönes, nicht wahr?» sagt Isaak.
«Sicher ist das schön, und es
scheint, daß dem so ist», bestätigen Philippus und Bartholomäus.
«Der alte Eli bekehrt! Ha, Ha!»
Petrus lacht herzlich.
Vetter Simon, der die ganze Zeit
nachdenklich gewesen ist, sagt: «Jesus, ich möchte... ich möchte dir
nachfolgen. Nicht so wie diese hier... aber wenigstens wie die Frauen.
Erlaube, daß ich mich deiner und meiner Mutter anschließe. Alle kommen... Ich,
ich als Verwandter verlange nicht, einen Platz unter diesen zu haben. Aber
wenigstens so, als guter Freund...»
226
«Gott segne dich, mein Sohn! Wie
lange habe ich schon auf dieses Wort von dir gewartet!» ruft Maria des Alphäus
aus.
«Komm, ich weise niemanden zurück
und zwinge auch niemanden. Ich verlange auch nicht alles von allen. Ich nehme,
was ihr mir geben könnt. Es ist gut, daß die Frauen nicht immer allein sind,
wenn wir in Gebiete kommen, die sie nicht kennen. Danke, Bruder!»
«Ich will gehen und es Maria
mitteilen», sagt die Mutter Simons und fügt hinzu: «Sie ist unten in ihrem
Kämmerchen und betet. Sie wird sehr glücklich darüber sein.»...
* .. Der Abend bricht plötzlich
herein. Man zündet eine Laterne an, um die Treppe hinunterzusteigen, auf der
es in der Dämmerung schon dunkel ist. Dann gehen die einen nach rechts, die
anderen nach links, um sich für die Nacht zurückzuziehen.
Jesus geht hinaus zum Ufer des
Sees. Das Dorf liegt in tiefer Stille, die Straßen und das Ufer sind
menschenleer, der See ruht einsam in dieser mondlosen Nacht. Nur die Sterne
leuchten am Himmel, und man hört das leise Rauschen der Brandung. Jesus steigt
in das ans Ufer gezogene Boot, setzt sich, legt einen Arm auf den Bootsrand,
stützt das Haupt darauf und verweilt in dieser Haltung. Ob er betet oder
nachdenkt, ich weiß es nicht.
Matthäus kommt mit vorsichtigen
Schritten näher. «Meister, schläfst du?» fragt er leise.
«Nein, ich denke nach. Komm zu
mir, wenn du nicht schlafen kannst.»
«Es kam mir so vor, als ob du
bekümmert wärest, deshalb bin ich dir gefolgt. Bist du mit deinem Tagewerk
nicht zufrieden? Du hast doch das Herz des Eli gerührt, hast Simon des Alphäus
als Jünger gewonnen...»
«Matthäus, du bist kein so
einfacher Mann wie Petrus und Johannes. Du bist klug und gebildet. Sei nun
auch aufrichtig. Wärest du über diese Eroberungen glücklich?»
«Aber... Meister... Sie sind
immer noch besser als ich, und du hast am Tag meiner Bekehrung zu mir gesagt,
daß du sehr glücklich bist...»
«Ja, aber du hattest dich
wirklich bekehrt und warst ehrlich in deiner Entwicklung zum Guten. Du kamst
zu mir ohne vielerlei Überlegungen. Dein Kommen entsprang dem Verlangen deiner
Seele. Bei Eli ist es nicht so, und auch bei Simon nicht. Der Erstere ist nur
äußerlich gerührt, der Mensch Eli ist ergriffen, nicht aber die Seele Eli. Sie
ist dieselbe Seele geblieben. Wenn die Erregung, die der Tod des Doras und das
Wunder am Enkelkind bewirkt haben, abgeklungen ist, wird er wieder der Eli von
gestern und von jeher sein. Simon! ... Auch Simon ist immer noch nichts mehr
als ein Mensch. Hätte er gesehen, daß ich anstatt gefeiert beleidigt worden
wäre, dann hätte er nur Mitleid mit mir empfunden und wäre einfach, wie immer,
gegangen. Heute abend hat er vernommen, daß ein Greis, ein Kind und ein
Aussätziger das tun können, was er als Verwandter
227
nicht fertigbringt, und er hat
gesehen, daß sich der Stolz eines Pharisäers mir gebeugt hat; da erst hat er
sich entschlossen: "Auch ich werde es tun."
Solche menschlichen Erwägungen
entsprungenen Bekehrungen machen mir keine Freude, im Gegenteil, sie sind eine
Demütigung für mich. Bleibe bei mir, Matthäus! Der Himmel ist ohne Mond, doch
es strahlen die Sterne. Mein Herz ist heute abend nur von Tränen erfüllt.
Deine Gesellschaft sei der Stern in der Betrübnis deines Meisters...»
«Gern, Meister, wenn ich es
darf... Leider bin ich immer noch ein Unglücklicher, ein armer Taugenichts.
Ich habe zu viel gesündigt, um dir gefallen zu können. Ich verstehe es nicht,
mich richtig auszudrücken und die neuen reinen, heiligen Worte auszusprechen,
da ich nun meine ehemalige Redeweise des Betruges und der Unzucht aufgegeben
habe. Ich fürchte, daß ich nie imstande sein werde, mit dir und über dich zu
sprechen.»
«Nein, Matthäus. Du bist ein
Mensch mit all seinen schmerzlichen Erfahrungen als Mensch. Du bist, da du den
Schlamm gekostet hast und nun meinen himmlischen Honig genießt, einer, der
beides in seinem wahren Wesen kennengelernt hat. Du hast begriffen und wirst,
was du erfahren hast, deinen Mitmenschen von heute und morgen weitergeben
können. Man wird glauben, gerade weil du Mensch bist, der arme Mensch, der
durch seinen Willen zum Menschen, zum gerechten Menschen wird, wie ihn Gott
sich erträumt hat. Laß mich, den Gott-Menschen, mich an dich anlehnen, du,
Menschheit, die ich so sehr liebe, daß ich deinetwegen den Himmel verlassen
habe, um für dich zu sterben.»
«Nicht sterben, nein! Sage nicht,
daß du meinetwegen sterben wirst.»
«Nicht nur für dich allein,
Matthäus, sondern für jeden Matthäus der Erde und aller Jahrhunderte. Umarme
mich, Matthäus, küsse deinen Christus, für dich und für alle Menschen. Nimm
den Überdruß des unverstandenen Erlösers von mir. Ich habe dich von deinem
Überdruß als Sünder befreit. Trockne meine Tränen... denn meine Bitterkeit ist
es, Matthäus, so wenig verstanden zu werden.»
«Oh, Herr, Herr! Ja! ja! ...»
Matthäus, der sich neben den Meister gesetzt hat, legt nun einen Arm um seine
Schultern und tröstet ihn mit seiner Liebe...
202. DAS MAHL IM HAUSE DES
PHARISÄERS ELI IN KAPHARNAUM
Heute gibt es im Hause Eli viel
zu tun. Diener und Dienerinnen kommen und gehen, und unter ihnen ist ein
fröhlicher kleiner Wildfang, Elisäus. Dann treffen zwei prunkvoll gekleidete
Persönlichkeiten ein und nach ihnen gleich noch zwei weitere. Die beiden
ersten erkenne ich als die,
228
die zusammen mit Eli im Hause von
Matthäus waren. Die beiden anderen kenne ich nicht, doch höre ich, daß man sie
Samuel und Joachim nennt. Zuletzt kommt Jesus mit Judas Iskariot.
Große gegenseitige Begrüßung,
dann die Frage von Eli: «Nur mit diesem einen Jünger? Wo sind die anderen?»
«Die anderen sind auf den
Feldern. Sie werden am Abend kommen.»
«Oh, das ist aber schade. Ich
befürchtete schon, daß... Gestern abend habe ich nur dich eingeladen, doch
habe ich damit auch sie gemeint. Nun fürchtete ich schon, sie hätten sich
beleidigt gefühlt oder sie würden es wegen vergangener Unstimmigkeiten
verschmähen, zu mir zu kommen... ha ... ha! Und der Alte lacht.
«O nein, meine Jünger kennen
weder stolze Empfindlichkeiten, noch unheilbare Gefühle des Grolls.»
«Ja, ja. Sehr gut. Laßt uns also
eintreten.»
Es folgt die übliche Zeremonie
der Reinigung, dann betreten sie den Speisesaal, der zum geräumigen Hof hin,
dem die ersten Rosen ein fröhliches Gepräge geben, geöffnet ist. Jesus
liebkost den kleinen Elisäus, der im Hof spielt und von der vergangen Gefahr
nur noch vier kleine, rote Spuren auf seinem Händchen hat. Sogar die erlittene
Angst hat er vergessen, aber an Jesus erinnert er sich genau, und in
kindlicher Unbefangenheit möchte der Kleine ihm einen Kuß geben und von ihm
geküßt werden. Sein Ärmchen um den Hals Jesu gelegt, flüstert er ihm ins Ohr,
daß er, wenn er einmal groß sein werde, mit ihm kommen möchte und fragt:
«Willst du mich?»
«Alle will ich. Sei lieb, und du
wirst mit mir kommen.»
Das Kind springt davon.
Sie gehen zu Tisch, und Eli, der
unbedingt einen guten Eindruck machen will, läßt Jesus zu seiner Rechten und
Judas zu seiner Linken Platz nehmen. Judas sitzt nun zwischen Eli und Simon,
während Jesus sich zwischen Eli und Urias befindet.
Die Mahlzeit beginnt. Zunächst
geht es bei den Gesprächen nur um allgemeine Themen, aber mit der Zeit werden
sie interessanter. Da die Wunden schmerzen und die Ketten drücken, beginnt das
stets wiederkehrende Gespräch über die Knechtschaft Palästinas unter den
Römern, ob absichtlich oder zufällig, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sich
die fünf Pharisäer über neue römische Unterdrückungsmaßnahmen beklagen, die
sie als Skandal empfinden, und daß sie Jesus in dieses Gespräch miteinbeziehen
wollen.
«Verstehst du? Unsere Einkünfte
wollen sie bis auf den letzten Heller überprüfen, und da sie dahintergekommen
sind, daß wir uns in den Synagogen treffen, um über diese Dinge und über sie
zu reden, drohen sie uns, daß sie ohne Ehrfurcht in diese eindringen werden.
Ich fürchte, daß sie eines Tages auch in die Häuser der Priester kommen»,
schreit Joachim.
229
«Was sagst denn du dazu ? Stößt
dich das nicht ab ?» fragt Eli.
Jesus, der direkt gefragt worden
ist, antwortet: «Als Israelit schon, als Mensch nicht.»
«Warum diese Unterscheidung? Ich
verstehe dich nicht. Bist du zwei in einem?»
«Nein, aber ich bin aus Fleisch
und Blut, also ein Lebewesen, und habe auch eine Seele. Die gesetzestreue
Seele des Israeliten leidet unter dieser Entweihung. Das Fleisch und das Blut
nicht, denn bei mir fehlt der Stachel, der euch verwundet.»
«Welcher?»
«Die Gewinnsucht. Ihr sagt, daß
ihr euch in den Synagogen versammelt, um über Geschäfte zu sprechen, ohne euch
vor indiskreten Ohren fürchten zu müssen. Nun fürchtet ihr, dies in Zukunft
nicht mehr tun zu können. Ihr habt also Angst, daß ihr mit den Steuern nicht
mehr betrügen könnt und sie im genauen Verhältnis zu eurem Besitz entrichten
müßt. Ich habe nichts. Ich lebe von der Güte des Mitmenschen, dem ich meine
Liebe schenke. Ich habe weder Gold noch Äcker, noch Weinberge, noch Häuser,
wenn man von dem kleinen Haus meiner Mutter in Nazareth absieht, das so klein
und ärmlich ist, daß die Steuer sich nicht einmal dafür interessiert. Deshalb
quält mich nicht die Furcht, wegen falscher Angaben entdeckt und noch stärker
besteuert oder bestraft zu werden. Alles was ich habe ist das Wort, das Gott
mir gegeben hat und das ich weitergebe. Doch dieses ist so erhaben, daß es
durch nichts beeinträchtigt werden kann.»
«Aber wenn du an unserer Stelle
wärest, wie würdest du dich verhalten ?»
«Nun, nehmt es mir nicht übel,
wenn ich meine Meinung deutlich sage, die ganz im Gegensatz zur eurigen steht.
Wahrlich, ich sage euch, ich würde anders handeln.»
«Wie denn?»
«Nicht so, daß die heilige
Wahrheit verletzt wird. Sie ist immer eine erhabene Tugend, selbst in so
menschlichen Dingen wie den Steuern.»
«Ja, aber dann, aber dann! Wie
würden wir auf diese Weise geschröpft werden! Du vergißt wohl, daß unser
Besitz groß ist und die Abgaben dementsprechend hoch wären.»
«So ist es: Gott hat euch viel
gewährt, entsprechend viel müßt ihr daher auch geben. Warum handeln die
Menschen so schlecht und besteuern die Armen unverhältnismäßig hoch? Wir
wissen, wie viele Steuern es in Israel gibt, Steuern, die wir selbst
einziehen, und auch ungerechte. Sie dienen nur den Reichen, die bereits viel
besitzen, während sie die Armen zur Verzweiflung treiben, da sie bis zum
Letzten ausgepreßt werden. Die Nächstenliebe rät uns nicht, so zu handeln. Die
Sorge von uns Israeliten sollte es sein, die Last der Armen auf unsere
Schultern zu nehmen.»
«Du sprichst nur so, weil du
selber arm bist.»
230
«Nein, Urias. Ich rede so, weil
es gerecht ist. Warum konnte und kann Rom uns so auspressen? Weil wir
gesündigt haben und weil wir durch die Mißgunst entzweit sind. Der Reiche haßt
den Armen, der Arme haßt den Reichen, weil es keine Gerechtigkeit gibt; und
der Feind nützt diese Lage aus, um uns zu unterdrücken.»
«Du hast mehrere Gründe
erwähnt... Welches sind die anderen?»
«Ich verstoße nicht gegen die
Wahrheit, wenn ich sage, daß die dem Gottesdienst geweihten Stätten ihrem
Zweck entfremdet werden, da sie als sicherer Zufluchtsort für menschliche
Angelegenheiten mißbraucht werden.»
«Du machst uns einen Vorwurf ?»
«Nein, ich antworte euch nur. Ihr
solltet auf euer Gewissen hören. Ihr seid Lehrmeister und darum...»
«Ich würde sagen, daß es an der
Zeit wäre, sich zu erheben, sich aufzulehnen, den eingedrungenen Feind zu
bestrafen und unser Reich wieder herzustellen.»
«Das ist wahr! Du hast recht,
Simon. Aber hier ist der Messias, an ihm ist es, dies zu tun», antwortet Eli.
«Doch der Messias – verzeih Jesus
– ist im Augenblick nur Güte. Er rät zu allem, nur nicht zum Aufstand. Wir
werden...»
«Simon, höre zu. Denke an das
Buch der Könige. Saul war in Gilgal, die Philister in Machmas, das Volk
fürchtete sich und ließ sich gehen, da der Prophet Samuel nicht kam. Saul
wollte dem Diener Gottes zuvorkommen und selbst das Opfer darbringen.
Erinnerst du dich an das, was Samuel bei seiner Ankunft zum unklugen König
Saul sagte? "Du hast töricht gehandelt und die vom Herrn erteilten Befehle
nicht befolgt. Hättest du nicht so gehandelt, würde der Herr dein Königtum
über Israel nun für ewig begründen. Doch so wird dein Königtum nie wieder
bestehen können." Eine unzeitige, stolze Tat hat weder dem König noch dem Volk
genützt. Gott kennt die Stunde, nicht der Mensch. Gott kennt die Mittel, nicht
der Mensch. Laßt Gott handeln und verdient euch seine Hilfe durch ein
gottesfürchtiges Betragen. Mein Reich ist kein Reich der Auflehnung und der
Gewalt, und doch wird es errichtet werden. Es wird nicht ein Vorrecht weniger
Menschen, sondern ein weltumspannendes Reich sein. Selig jene, die zu ihm
kommen werden und sich nicht durch meine äußere Armut, nach dem Geist der
Welt, täuschen lassen und in mir den Retter erkennen. Habt keine Angst. Ich
werde König sein, der aus Israel hervorgegangene König, dessen Reich die ganze
Menschheit umfaßt. Doch ihr, Lehrmeister Israels, mißversteht nicht meine
Worte und jene der Propheten, die mich ankündigen. Kein menschliches Reich,
und mag es auch noch so mächtig sein, ist weltumspannend und ewig; was aber
von meinem Reich durch die Propheten bezeugt wird. Dies möge euch erleuchten
über die Wahrheit und die geistige Natur meines Reiches. Ich verlasse
231
euch nun, doch möchte ich noch
eine Bitte an Eli richten: Hier ist dein Beutel. Im Armenhaus Simons des Jonas
sind Arme, die von überall hergekommen sind, untergebracht. Begleite mich und
bringe ihnen diese Gabe der Liebe. Der Friede sei mit euch allen.»
«Bleibe noch», bitten die
Pharisäer.
«Ich kann nicht. Es gibt Kranke
an Leib und Seele, die darauf warten, getröstet zu werden. Morgen werde ich
eine weite Reise antreten. Ich möchte, daß mich alle ohne Enttäuschung
weggehen sehen.»
«Meister, ich bin alt und müde.
Geh du in meinem Namen. Du hast Judas des Simon bei dir, den wir gut kennen...
Tue es selbst. Gott sei mit dir.»
Jesus geht mit Judas hinaus. Kaum
auf dem Platz angelangt, sagt dieser: «Alte Schlange! Was hat er wohl damit
sagen wollen?»
«Aber denk doch nicht daran, oder
denke, daß er dich damit loben wollte!»
«Unmöglich, Meister. Diese Mäuler
loben niemanden, der Gutes tut, aufrichtig, will ich sagen. Was das Mitkommen
betrifft... nur weil er sich vor den Armen ekelt und fürchtet, von ihnen
verflucht zu werden... ! Er hat die Armen hier oft genug gequält. Ich kann
dies ohne weiteres beschwören. Darum..»
«Laß es gut sein, Judas.
Überlasse Gott das Urteil.»
203. UNTERWEGS IN DIE EINSAMKEIT
DER BERGE VOR DER ERWÄHLUNG DER APOSTEL
Die Barken des Petrus und des
Johannes segeln ruhig auf dem See dahin. Und sämtliche Boote, die in Tiberias
aufzutreiben waren, folgen ihnen. Mir scheint, daß alle diese Boote und Kähne,
die kommen und gehen, versuchen, sich gegenseitig zu überholen und das Boot
Jesu zu erreichen, um sich dann wieder am Ende der Reihe anzuschließen.
Bitten, Flehen, Rufe und Fragen kreuzen sich auf den blauen Wellen.
Jesus – in dessen Boot auch
Maria, seine Mutter, und die Mutter des Jakobus und des Judas sitzen, während
sich im anderen Boot Maria Salonie mit ihrem Sohn Johannes und Susanna
befinden – verspricht, antwortet und segnet unermüdlich. «Ich werde
wiederkommen. Ja, ich verspreche es euch. Seid gut! Denkt an meine Worte und
versteht ihren Zusammenhang mit denen, die ich euch noch sagen werde. Es wird
nur eine kurze Trennung sein. Seid nicht selbstsüchtig, ich bin auch für die
anderen gekommen. Seid gut! Ihr werdet euch weh tun. Gewiß, ich werde für euch
beten. Ihr werdet mich immer in eurer Nähe haben. Der Herr sei mit euch!
Sicherlich werde ich mich deiner Tränen erinnern, und du wirst getröstet
werden. Hoffe, habe Glauben!»
232
So segnet und verspricht er
immerzu, bis das Boot das Ufer erreicht. Es ist nicht Tiberias, sondern ein
ganz kleiner Weiler, nur eine Handvoll Häuser, arm, beinahe verlassen. Jesus
und die Seinen steigen aus, und Zebedäus und die Schiffsjungen kehren in den
Booten zurück. Die anderen Boote tun es ihnen nach, doch viele, die in ihnen
saßen, sind ebenfalls ausgestiegen und wollen Jesus unbedingt folgen. Unter
ihnen sehe ich Isaak mit seinen beiden Schützlingen Joseph und Timoneus.
Andere erkenne ich nicht unter den vielen Leuten jeden Alters, vom Kind bis
zum Greis.
Jesus verläßt den Weiler, dessen
wenige, zerlumpte Einwohner gleichgültig bleiben. Jesus läßt ihnen Almosen
geben. Als er die Hauptstraße erreicht hat, bleibt er stehen.
«Nun wollen wir uns trennen»,
sagt er. «Mutter, geh nun auch du mit Maria und Salome nach Nazareth. Susanna
kann nach Kana zurückkehren. Ich werde bald wiederkommen. Ihr wißt, was zu tun
ist. Gott sei mit euch!»
Doch für seine Mutter hat er
einen Abschiedsgruß mit einem ganz besonders liebevollen Lächeln; und auch als
Maria niederkniet, um von Jesus gesegnet zu werden, und die anderen ihrem
Beispiel folgen, lächelt ihr Jesus voll Zärtlichkeit zu. Die Frauen machen
sich in Bereitung von Alphäus der Sara und Simon auf den Weg nach ihrer Stadt.
Jesus wendet sich an die
Zurückgebliebenen: «Ich verlasse euch nun, doch ich schicke euch nicht fort.
Ich verlasse euch für einige Zeit, um mich mit meinen Jüngern, die ihr dort
seht, in die Schluchten zurückzuziehen. Wer auf mich warten will, soll in
dieser Ebene warten, wer nicht warten möchte, kehre nach Hause zurück. Ich
werde mich zum Gebet zurückziehen, weil ich am Vorabend großer Dinge stehe.
Wer die Sache des Vaters liebt, möge beten und sich geistig mit mir
vereinigen. Der Friede sei mit euch, Söhne! Isaak, du weißt, was du zu tun
hast. Ich segne dich, kleiner Hirte.» Jesus lächelt dem mageren Isaak zu, der
nun zum Hirten der Menschen geworden ist, die sich um ihn scharen.
Jesus wendet dem See den Rücken
und begibt sich festen Schrittes zu einer der Schluchten zwischen den Hügeln,
die sich westlich vom See sozusagen parallel zueinander erheben. Durch diese
fjordartige Schlucht zwischen den beiden felsigen Hügeln fließt mit großem
Getöse ein schäumender Bach, und darüber erhebt sich ein öder Berg mit wilden
Sträuchern, die willkürlich und wirr durcheinander zwischen Steinen und Felsen
gewachsen sind. Ein Ziegenpfad klettert den schrofferen der beiden Hügel
empor, und Jesus schlägt gerade diesen Weg ein.
Die Jünger folgen ihm mühsam im
Gänsemarsch, in vollkommenem Schweigen. Nur wenn Jesus an einer etwas
breiteren Stelle des Pfades, der einer Kratzspur auf dieser unwegsamen Anhöhe
gleicht, stehenbleibt, um sie Luft holen zu lassen, schauen sie einander
schweigend an. Ihre Blicke
233
fragen: «Wohin wird er uns wohl
führen?» Doch sie bleiben stumm. Sie sehen sich nur an und werden jedesmal
unglücklicher, wenn sie feststellen, daß Jesus wieder den Weg durch die wilde
Schlucht, voller Höhlen, Spalten und Felsbrocken aufgenommen hat. Steine,
Brombeersträucher und tausend andere lästige Gewächse machen ein
Vorwärtskommen sehr mühsam. Die stacheligen Sträucher hängen sich von allen
Seiten an die Kleider, kratzen, bringen zum Stolpern und schlagen ins Gesicht.
Auch die Jüngeren, die schwere Taschen tragen, haben ihre gute Laune verloren.
Endlich bleibt Jesus stehen und
sagt: «Hier werden wir nun eine Woche lang im Gebet verweilen, um euch auf
etwas Großes vorzubereiten. Deshalb habe ich einen so verlassenen Ort gewählt,
fern von allen Karawanen und Dörfern. Hier gibt es Höhlen, die früher schon
den Menschen gedient haben. Sie werden auch uns dienen. Hier gibt es reichlich
frisches Wasser, aber das Erdreich ist trocken. Wir haben genügend Brot und
Nahrungsmittel für diesen Aufenthalt. Die, die im vorigen Jahre mit mir in der
Wüste waren, wissen, wie ich dort gelebt habe. Die hier ist ein Palast im
Vergleich zu jenem Ort, und die nun schon angenehme Jahreszeit nimmt der Kälte
ihre Härte und der Sonne ihre Hitze. Seid daher guten Mutes. Vielleicht werden
wir niemals mehr alle so beisammen sein und so unter uns.
Dieser Aufenthalt möge euch
verbinden, damit ihr nicht mehr zwölf Männer seid, sondern eine Einheit.
Habt ihr nichts zu sagen? Habt
ihr keine Fragen? Legt eure Lasten, die ihr tragt, auf den Felsen dort und
werft auch die andere Last, die ihr auf dem Herzen tragt, zu Tal: eure
Menschlichkeit. Ich habe euch hierher geführt, um zu eurer Seele zu sprechen,
um euren Geist zu nähren, um euch zu vergeistigen. Ich werde nicht viel zu
euch sprechen, denn ich habe schon viel zu euch gesprochen in diesem Jahr,
seit ich bei euch bin. Das soll euch genügen. Wollte ich euch mit Worten
ändern, müßte ich euch zehn, ja hundert Jahre bei mir behalten, und immer noch
wäret ihr unvollkommen. Nun ist die Zeit gekommen, da ich euch heranziehe;
denn um euch einsetzen zu können, muß ich euch formen. Ich greife daher zur
großen Arznei, zur mächtigen Waffe: zum Gebet. Ich habe immer für euch
gebetet. Nun will ich, daß ihr selbst betet. Ich werde euch mein Gebet noch
nicht lehren, aber ich lehre euch, wie man betet und was das Gebet ist. Das
Gebet ist ein Gespräch der Kinder mit dem Vater, von Geist zu Geist, offen,
innig, vertrauensvoll, gesammelt und aufrichtig. Das Gebet ist alles: es ist
Bekenntnis, Selbsterkenntnis, Selbstanklage; es ist ein Gott und sich selbst
gegebenes Versprechen, eine Bitte an Gott, und dies alles zu Füßen des Vaters.
Beten kann man nicht inmitten des Lärms und der Zerstreuung der Welt, es sei
denn, man wäre ein Riese im Beten. Und selbst die Riesen leiden in den Stunden
ihres Gebetes unter diesem Lärm und der Gegensätzlichkeit der Welt. Ihr aber
seid keine Riesen, sondern
234
Zwerge. Ihr seid noch Kinder im
Glauben, seid noch in den Anfängen. Hier werdet ihr das Alter der geistigen
Vernunft erlangen. Das übrige wird später kommen.
Morgens, mittags und abends
werden wir uns jeweils versammeln, um miteinander die alten Worte Israels zu
beten und das Brot zu brechen. Dann wird jeder in seine Höhle zurückkehren und
mit Gott und seiner Seele und mit dem, was ich euch über euere Sendung und
euere Fähigkeiten gesagt habe, allein sein. Erwägt, hört auf eure innere
Stimme und entscheidet. Ich sage euch dies zum letzten Mal. Danach müßt ihr so
vollkommen als möglich sein, ohne Müdigkeit und menschliche Schwächen. ihr
werdet dann nicht mehr Simon des Jonas und Judas des Simon sein. Ihr werdet
nicht mehr Andreas oder Johannes, Matthäus oder Thomas sein, sondern ihr
werdet meine Verwalter sein. Geht nun, ein jeder für sich allein. Ich werde
immer dort in der Höhle sein. Doch kommt nicht ohne ernsthaften Grund zu mir.
Ihr müßt lernen, selbständig zu handeln und allein zu sein. Denn in Wahrheit
sage ich euch: vor einem Jahr haben wir uns kennengelernt, und in zwei Jahren
werden wir uns trennen. Wehe euch und wehe mir, wenn ihr dann noch nicht
gelernt habt, selbständig zu handeln. Gott sei mit euch! Judas, Johannes,
tragt die Lebensmittel in meine Höhle. Sie müssen ausreichen, und ich werde
sie selbst verteilen.»
«Viel wird es nicht sein...»,
entgegnet jemand.
«Genug, um nicht zu sterben. Ein
satter Bauch belastet den Geist. Ich will euch erheben und nicht belasten.»
204. DIE ERWÄHLUNG DER ZWÖLF
JÜNGER ZU APOSTELN
Die aufgehende Sonne färbt die
Berge weiß und mildert das Aussehen der Wildnis. Nur das Rauschen des in der
Tiefe schäumenden Bächleins hallt von den höhlenreichen Bergwänden wider.
Dort, wo die Jünger sich niedergelassen haben, ist zwischen den Stauden und
Gräsern immer wieder ein vorsichtiges Rascheln zu hören. Es sind die ersten
erwachenden Vögel und letzten Tiere der Nacht, die sich verkriechen. Ein paar
Hasen, die an einer niedrigen Brombeerstaude nagen, flüchten erschreckt, als
ein Stein den Abhang herabrollt. Nach einer Weile kehren die Tiere vorsichtig
zurück. Sie spitzen die Ohren, um jeden Laut einzufangen, und da tiefer Friede
herrscht, sind sie bald wieder an ihrem Strauch. Der Tau wäscht alles Laub,
alle Steine, und aus dem Wald steigen die starken Düfte des Mooses, der Minze
und des Majorans auf.
Ein Rotkehlchen wagt sich bis an
den Eingang einer Höhle heran, der ein Felsvorsprung als Vordach dient. Es
steht aufrecht auf seinen seidenen Füßchen, jederzeit zu Fliehen bereit,
wendet das Köpfchen nach links und
235
nach rechts, äugt in die Höhle,
schaut auf den Boden, flüstert sein fragendes «piep, piep» ... und wagt nicht,
bis zu den Brotkrümchen vorzudringen. Erst als eine große Amsel, die sich wie
ein Lausbub gebärdet und in ihrem Profil einem alten Notar gleicht, dem nur
die Brille fehlt, es ihm vormacht, folgt das Rotkehlchen dem kühnen Herrn, der
auf der Futtersuche immer wieder seinen gelben Schnabel in die feuchte Erde
steckt und dann nach einem «tschiep» oder einem kurzen, schelmischen Pfiff
weiterhüpft. Das Rotkehlchen verspeist fleißig Brosamen und ist sichtlich
erstaunt, als es sieht, daß die Amsel, die selbstsicher in die stille Höhle
hineinspaziert, nun mit einer Käserinde herauskommt, die sie immer wieder
gegen einen Stein schlägt, um sie zu zerkleinern und daraus ein Festmahl zu
machen. Schließlich kehrt sie noch einmal in die Höhle zurück, späht in alle
Richtungen, und da nichts mehr zu finden ist, stößt sie einen spöttischen
Pfiff aus und fliegt davon, um ihren Gesang auf einer Steineiche, die ihren
Gipfel in das Blau des Morgenhimmels taucht, zu beenden. Auch das Rotkehlchen
fliegt davon, als es im Inneren der Höhle ein Geräusch vernimmt, und läßt sich
auf einem dünnen, über dem Abgrund schaukelnden Zweig nieder.
Jesus erscheint am Eingang der
Höhle, streut Brosamen und ahmt ganz sachte mit einem gedämpften Pfeifen das
Zwitschern der Vögelchen nach um sie anzulocken.
Dann geht er einige Schritte auf
dem Pfad weiter und lehnt sich unbeweglich an eine Felswand, um seine Freunde,
die herunterkommen, nicht zu erschrecken. Zuerst kommt das Rotkehlchen und
dann folgen noch viele andere Vögelchen verschiedenster Art. Die
Regungslosigkeit Jesu und vielleicht auch sein Blick – ich denke gerne so,
weil ich die Erfahrung gemacht habe, daß auch sehr mißtrauische Tiere sich
denen nähern, die sie instinktiv nicht als Feinde, sondern als Beschützer
erkennen – bewirken, daß die Vöglein kurz darauf wenige Zentimeter von Jesus
entfernt herumhüpfen. Das inzwischen satte Rotkehlchen fliegt hinauf zum
Felsen, an dem Jesus lehnt, läßt sich auf einem dünnen Waldrebenzweig nieder
und schaukelt über dem Haupte Jesu als ob es Lust hätte, sich auf seinen
blonden Kopf oder seine Schulter zu setzen. Die Mahlzeit ist zu Ende. Die
Sonne vergoldet den Gipfel des Berges und gleich danach die höchsten Zweige
des Waldes, während im Tale noch alles im fahlen Morgenlichte liegt. Die
Vöglein fliegen satt und zufrieden der Sonne entgegen und singen aus voller
Kehle.
«Nun ist es an der Zeit, meine
anderen Kinder zu wecken», sagt Jesus und geht den Pfad hinab, denn seine
Höhle liegt am höchsten. Von einer Höhle zur anderen gehend, ruft er die zwölf
Schläfer beim Namen.
Simon, Bartholomäus, Philippus,
Jakobus und Andreas antworten sofort. Matthäus, Petrus und Thomas sind
langsamer im Antworten. Während Judas Thaddäus schon bereit und munter ist und
Jesus entgegengeht,
236
als er ihn am Eingang erblickt,
schlafen die anderen Vettern, Judas Iskariot und Johannes noch so tief, so daß
Jesus sie auf ihren Lagern aus trockenem Laub wachrütteln muß.
Johannes, der zuletzt Gerufene,
schläft so tief, daß ihm nicht bewußt wird, wer ihn ruft, und er im Halbschlaf
murmelt: «Ja, Mutter, ich komme gleich...», um sich dann wieder umzudrehen und
weiterzuschlafen. Jesus lächelt. Er setzt sich an das Lager aus im Walde
gesammelten Laub, beugt sich nieder und küßt seinen Johannes auf die Wange.
Dieser öffnet die Augen und starrt seinen Meister erstaunt an. Dann setzt er
sich mit einem Ruck auf und sagt: «Brauchst du mich? Da bin ich.»
«Nein. Ich habe dich wie alle
anderen geweckt. Doch du hast geglaubt, es wäre deine Mutter. So habe ich dich
geküßt, um das zu tun, was die Mütter tun.»
Johannes, halbnackt im
Unterkleide, denn er hat das Gewand und den Mantel als Decke benützt, hängt
sich an den Hals Jesu, lehnt das Haupt an seine Schulter und sagt: «Oh, du
bedeutest mir weit mehr als die Mutter. Ich habe sie deinetwegen verlassen.
Dich aber würde ich ihretwegen nie verlassen. Sie hat mir das irdische Leben
geschenkt, du aber schenkst mir das ewige Leben. Oh, ich weiß es!»
«Was weißt du denn mehr als die
anderen?»
«Das, was der Herr mir in dieser
Höhle gesagt hat. Sieh, ich bin nie zu dir gekommen und nehme an, daß die
Gefährten von mir gesagt haben, daß ich gleichgültig und hochmütig bin. Doch
ich mache mir nichts aus dem, was sie denken. Ich weiß, daß du die Wahrheit
kennst. Ich kam nicht zu Jesus Christus, dem menschgewordenen Sohn Gottes,
sondern zu dem, was du im Schoße des Feuers, der ewigen Liebe der Heiligen
Dreifaltigkeit, bist, zu ihrer Natur, ihrem Wesen, ihrem wahren Wesen: der
zweiten Person des unaussprechlichen Geheimnisses, das Gott ist, und in das
ich eindringe, weil Gott mich an sich gezogen hat und so immer bei mir war...
Oh, ich kann in Worten nicht ausdrücken, was ich in dieser dunklen, düsteren
Höhle begriffen habe, die für mich so voller Licht geworden ist; in dieser
kalten Höhle, in der ich von einem unsichtbaren Feuer entbrannt bin, das in
mein Innerstes eingedrungen ist und dort ein süßes Martyrium entzündet hat; in
dieser stillen Höhle, die mir doch himmlische Wahrheiten verkündet hat. Alle
meine Wünsche, alle meine Tränen und alle meine Fragen habe ich an deiner
göttlichen Brust, dem Wort Gottes, ausgeschüttet, und nie habe ich, trotz
allem, was ich von dir vernommen habe, so unermeßlich erhabene Dinge erfahren,
wie du sie mir mitgeteilt hast, Sohn Gottes. Du, Gott gleich dem Vater, du,
Gott gleich dem Heiligen Geist, du, der Angelpunkt der Dreiheit... Oh,
vielleicht lästere ich! Doch ich erkenne es so, denn wenn du nicht wärest, du,
der du die Liebe des Vaters und die Liebe zum Vater bist, dann würde auch die
Liebe, die göttliche Liebe fehlen, und Gott wäre nicht mehr der Dreieinige,
und es würde ihm
237
die grundlegende Eigenschaft
Gottes, nämlich seine Liebe, fehlen! Oh, so viel habe ich in mir, aber es ist
wie ein Wasser, das gegen eine Schleuse sprudelt und wallt und keinen Abfluß
findet... Es ist mir, als ob ich darob sterben müßte, so gewaltig und erhaben
ist die Erregung, die über mein Herz gekommen ist, seitdem ich dich verstanden
habe... Doch um nichts in dieser Welt möchte ich davon befreit werden... Laß
mich an dieser Liebe sterben, mein süßer Gott!»
Johannes, von Liebe entflammt,
lächelt, weint, und ruht ermattet an der Brust Jesu, als ob ihn die Glut
verzehren würde. Jesus, seinerseits ganz von Liebe erfüllt, liebkost ihn.
Johannes erholt sich wieder in
einer Aufwallung von Demut und bittet: «Sag den anderen nichts von dem, was
ich dir gesagt habe. Gewiß haben auch sie, wie ich, in diesen Tagen in Gott
gelebt. Laß den Schleier des Schweigens mein Geheimnis bedecken...»
«Sei versichert, Johannes,
niemand wird von deiner Vermählung mit der Liebe erfahren. Kleide dich an und
komm. Wir müssen aufbrechen.»
Jesus tritt auf den Pfad hinaus,
wo die anderen schon warten. Ihre Gesichter haben einen würdevolleren und
gesammelteren Ausdruck. Die Älteren gleichen Patriarchen, die Jüngeren haben
eine gewisse Reife und Würde erlangt, die ihnen zuvor wegen ihrer Jugend noch
fehlte. Judas Iskariot betrachtet Jesus mit einem scheuen Lächeln auf dem von
Tränen gezeichneten Gesicht. Jesus liebkost ihn im Vorbeigehen. Petrus... sagt
kein Wort. Das ist so befremdend an ihm, daß es mehr als jede andere
Veränderung in Staunen versetzt. Er betrachtet Jesus aufmerksam, jedoch mit
einer neuen Würde, die seine Stirn mit den etwas kahl gewordenen Schläfen
höher und seine Augen, die bisher voller Geist funkelten, ernster erscheinen
läßt. Jesus ruft ihn zu sich und behält ihn in seiner Nähe in Erwartung des
Johannes, der endlich erscheint mit einem Gesicht, von dem ich nicht sagen
kann, ob es röter oder blasser ist, doch sicher ist es von einer inneren Glut
entflammt, die seine Gesichtsfarbe zwar nicht verändert, aber deutlich
bemerkbar ist. Alle schauen ihn an.
«Komm her zu mir, Johannes, auch
du Andreas, und du, Jakobus des Zebedäus, und du, Simon, und du, Bartholomäus,
und du Philippus, und ihr, meine Brüder, und du Matthäus. Judas des Simon, mir
gegenüber. Thomas hierher. Setzt euch. Ich muß mit euch reden.»
Sie setzen sich alle hin wie
ruhige Kinder, noch halb vertieft in ihre innere Welt, und dennoch hören sie
Jesus so aufmerksam zu wie nie zuvor.
«Wißt ihr, was ich in euch
bewirkt habe? Alle wißt ihr es. Die Seele hat es dem Verstand gesagt. Die
Seele, die in diesen Tagen Königin war, hat den Verstand zwei große Tugenden
gelehrt: die Demut und das Schweigen. Das Schweigen, das ein Kind der Demut
und der Klugheit ist, die ihrerseits Töchter der Nächstenliebe sind.
Vor acht Tagen noch wäret ihr
gekommen, um wie echte Kinder, die in
238
Erstaunen versetzen und ihr
Gegenüber übertreffen wollen, eure Tüchtigkeit und eure neuen Erkenntnisse zu
verkünden. Nun schweigt ihr. Vom Kind habt ihr euch zum Jüngling gewandelt und
wißt nun, daß so etwas eure Gefährten, die vielleicht von Gott nicht so sehr
mit Wohltaten bedacht wurden, beschämen könnte; deshalb sagt ihr nichts. Auch
seid ihr wie Mädchen, die zur Reife gelangt sind. In euch ist die heilige
Scham vor der Wandlung erwacht, die euch das Geheimnis der Vermählung der
Seelen mit Gott geoffenbart hat. Diese Höhlen schienen euch am ersten Tage
kalt, unwirtlich, abstoßend... Nun betrachtet ihr sie wie duftende, lichtvolle
Hochzeitsgemächer. In ihnen habt ihr Gott kennengelernt. Vorher wußtet ihr von
ihm, doch ihr hattet mit ihm noch nicht die Vertrautheit, die aus zwei Wesen
eines macht. Unter euch sind Männer, die seit Jahren verheiratet sind; andere,
die nur trügerische Beziehungen mit Frauen hatten, und wieder andere, die aus
verschiedenen Gründen keusch geblieben sind. Die Keuschen aber wissen nun, was
die vollkommene Liebe ist, so wie es die Verheirateten wissen. Ich kann euch
sogar sagen, daß keiner so gut weiß, was die vollkommene Liebe ist, wie der,
der die fleischliche Lust nicht kennt. Denn Gott offenbart sich dem Keuschen
in seiner ganzen Fülle, aus Freude, sich dem Reinen schenken zu können, da er,
der Reinste, in diesem jungfräulichen Geschöpf etwas von sich selbst
wiederfindet, und um es für seinen Verzicht aus Liebe zu ihm zu entschädigen.
Wahrlich, ich sage euch, hätte
ich nicht die Aufgabe, das Werk des Vaters zu vollbringen, so würde ich euch
in meiner Liebe und meiner Weisheit hier behalten und mit euch abgesondert
leben. Und gewiß würde ich aus euch bald große Heilige machen, die nicht mehr
weggehen, nicht mehr fallen und in ihrem Eifer nicht mehr nachlassen würden.
Doch ich kann nicht. Ich muß gehen und auch ihr müßt gehen. Die Welt erwartet
uns, die entheiligte und entheiligende Welt, die Lehrer und Retter braucht.
Ich wollte euch Gott erkennen lassen, damit ihr ihn mehr liebt als die Welt,
die mit all ihren Gefühlen nicht ein einziges Lächeln Gottes wert ist. Ich
wollte, daß ihr darüber nachdenkt, was die Welt ist und was Gott ist, damit
ihr nach dem Besseren strebt. In diesem Augenblick sehnt ihr euch nur nach
Gott. Oh, könnte ich euch auf ewig in dieser Stunde und in dieser Sehnsucht
festhalten!
Doch die Welt wartet auf uns, und
wir werden in die Welt, die uns erwartet, gehen, um der heiligen
Barmherzigkeit willen, die, wie sie mich in die Welt entsandt hat, nun euch
durch meinen Befehl in die Welt aussendet. Aber ich beschwöre euch: Bewahrt
den Schatz dieser Tage in euch wie Perlen in einem Schrein, dieser Tage, die
ihr der Betrachtung und euren Seelen gewidmet habt, in denen ihr euch Gott
übergeben, euch erhoben und einen neuen Menschen angezogen habt. Wie die
Patriarchen zum Andenken und zum Zeugnis der Bündnisse mit Gott Steine
errichtet haben, so sollt ihr dieses kostbare Andenken in eurem Herzen hüten.
239
Von heute an seid ihr nicht mehr
die bevorzugten Jünger, sondern die Apostel, die Leiter meiner Kirche. Von
euch wird für alle Zeiten ihre Hierarchie abstammen, und ihr werdet Lehrer
genannt werden und euren Gott in seiner dreifachen Macht, Weisheit und Liebe
zum Meister haben. Ich habe euch nicht erwählt, weil ihr es am meisten
verdient, sondern aus vielerlei Gründen, die ihr im Augenblick noch nicht zu
wissen braucht. Ich habe euch statt der Hirten erwählt, die meine Jünger sind,
seit ich auf Erden bin. Warum habe ich das getan? Weil es gut so war. Unter
euch sind Galiläer und Juden, Gebildete und Ungebildete, Vermögende und Arme
in den Augen der Welt, damit man nicht sagen kann, ich hätte eine einzelne
Volksschicht bevorzugt. Doch eure Zahl ist zu gering für all das, was zu tun
ist, sowohl jetzt als auch später.
Nicht alle von euch werden sich
an eine Stelle der Schrift im zweiten Buch Paralipomenon, 29. Kapitel,
erinnern, und so möchte ich sie euch ins Gedächtnis rufen. Dort steht
geschrieben wie Ezechias, König von Juda, den Tempel reinigen ließ. Hierauf
ließ er Opfer darbringen, als Sündopfer für das Königshaus, das Heiligtum und
für Juda; danach begann jeder einzelne, sein Opfer darzubringen. Da aber für
die Darbringung so vieler Opfer die Priester nicht ausreichten, rief man
Leviten zu Hilfe, die in einem einfacheren Ritus als die Priester geweiht
worden waren.
Sowohl das eine als auch das
andere werde ich tun. Ihr seid die Priester, die ich, als Ewiger Hohepriester,
lange Zeit mit unermüdlicher Sorgfalt vorbereitet habe. Doch ihr seid zu
wenige für die immer zunehmende Arbeit, die sich ergibt, weil sich so viele
einzelne Menschen ihrem Herrn und Gott opfern. Somit geselle ich euch die
Jünger bei, die weiterhin Jünger bleiben werden. Es sind jene, die am Fuße des
Berges warten, jene, die schon etwas höher stehen, jene, die über das Land
Israel und bald über die ganze Welt verstreut sein werden. Sie werden
dieselben Aufgaben haben, denn die Mission ist ein und dieselbe. Verschieden
wird ihr Rang nur in den Augen der Welt gewertet, nicht aber in den Augen
Gottes. Bei Gott gilt die Gerechtigkeit, und so ist der bescheidene, von
Aposteln und Mitbrüdern unbeachtete Jünger, der durch sein heiligmäßiges Leben
viele Seelen für Gott gewinnt, in seinen Augen größer als der bekannte
Apostel, der nur dem Namen nach Apostel ist, seine Apostelwürde jedoch zu
menschlichen Zwecken mißbraucht.
Die Aufgabe der Apostel und der
Jünger wird immer die der Priester und Leviten des Ezechias sein:
Gottesdienste halten, den Götzendienst ausrotten, die Herzen und die Stätten
reinigen, den Herrn und sein Wort verkünden. Eine heiligere Aufgabe gibt es
auf dieser Welt nicht! Daher habe ich zu euch gesagt: "Hört auf eure innere
Stimme, prüft euch!" Wehe dem Apostel, der fällt! Er zieht viele Jünger mit
sich, und diese ziehen eine noch größere Anzahl von Gläubigen mit sich, und
das Verderben wird immer größer, wie eine vom Berg herabstürzende Lawine oder
ein ins
240
Wasser geworfener Stein, der
immer weitere Kreise zieht, wenn man noch mehr Steine auf die gleiche Stelle
wirft.
Werdet ihr alle vollkommen sein?
Nein. Wird der Geist von heute bleiben? Nein. Die Welt wird ihre Netze
auswerfen, um euch zu Fall zu bringen. Es wird der Sieg der Welt sein, die als
Tochter Satans zu fünf Zehntel, Sklaven Satans zu noch drei Zehntel und
gleichgültig Gott gegenüber zu den übrigen zwei Zehntel sein wird; ein Sieg,
der das Licht in den Herzen der Heiligen löschen wird. Verteidigt euch vor
allem gegen euch selbst, gegen die Welt, das Fleisch, den Teufel. Doch ganz
besonders verteidigt euch gegen euch selbst. Wehrt euch, meine Kinder, gegen
den Stolz, die Sinnlichkeit, die Doppelzüngigkeit, die Lauheit, die geistige
Trägheit, gegen den Geiz! Wenn sich euer niedriges Ich gegen scheinbar
unmenschliche Härte auflehnt und sich beklagt, dann bringt es zum Schweigen
und sagt: "Für die Entbehrung, die ich dir für kurze Zeit auferlege,
verschaffe ich dir auf ewig das Gastmahl der Verzückung, das du in der
Berghöhle am Ende des Mondes Schebat erlebt hast."
Laßt uns gehen! Laßt uns den
anderen entgegengehen, die in großer Zahl auf mein Kommen warten. Ich werde
dann für einige Stunden in Tiberias sein, und ihr erwartet mich predigend am
Fuße des Berges auf der Straße von Tiberias zum Meer. Ich werde dorthin kommen
und auf den Berg steigen, um zu predigen. Nehmt eure Taschen und Mäntel. Der
Aufenthalt ist beendet, und die Erwählung ist erfolgt.»
205. DIE ERSTE PREDIGT SIMONS DES
ZELOTEN UND DES JOHANNES
Als Jesus den Berghang
herabkommt, sieht er auf halber Höhe viele Jünger und viele andere, die sich
nach und nach den Jüngern angeschlossen haben und ihnen an diesen abseits
gelegenen Ort gefolgt sind, weil sie Wunder hoffen oder Jesus hören wollen,
sei es auf Anraten von anderen, sei es aus eigenem seelischen Antrieb. Ich
glaube, daß die Schutzengel diese Menschen in ihrer Sehnsucht nach Gott zum
Sohn Gottes geführt haben. Ich glaube nicht, mit dieser Überzeugung eine
fromme Legende zu erzählen. Wenn man bedenkt, mit welch stetiger und listiger
Hartnäckigkeit Satan die Feinde Gottes zu Jesus führt, sobald es dem
dämonischen Geist gelingt, ihnen die Schuld Christi vorzutäuschen, ist es auch
erlaubt zu glauben, daß die Engel den Teufel nicht nachstehen und die guten
Seelen zu Christus führen.
Jesus kommt allen, die, ohne müde
oder ängstlich zu werden, auf ihn gewartet haben, mit Wundern und Worten zu
Hilfe. Wie viele Wunder! So viele Wunder wie Blumen an den Berghängen, und so
großartige
241
Wunder wie das an dem Kind, das
schwer verbrannt aus einem brennenden Strohschober gezogen und dann auf einer
Bahre zu Jesus gebracht wurde. ein Häuflein verbrannten Fleisches, ein
sterbendes, wimmerndes Kind, dessen Anblick so entsetzlich war, daß man es
unter einem Linnen verbarg. Jesus heilt es mit einem Hauch auf seinen Leib und
die Brandwunden verschwinden. Es steht auf und, nackt wie es ist, eilt es zu
seiner Mutter, die seinen geheilten, narbenlosen Körper unter Freudentränen
liebkost. Sie küßt seine Augen, die versengt zu sein schienen und nun vor
Freude lebhaft funkeln, seine Haare, die zwar kurz, aber nicht ganz verbrannt
sind, als wäre kein zerstörendes Feuer, sondern nur ein Rasiermesser an sie
gekommen. Als unscheinbares Wunder sei hier noch die Heilung eines hustenden
Greises erwähnt, der gesagt hatte: «Nicht meinetwegen, sondern weil ich den
Enkelkindern den Vater ersetzen muß und die Erde nicht bearbeiten kann mit
diesem festsitzenden Schleim im Hals, der mich zu ersticken droht.»
Schließlich das unsichtbare und
doch echte Wunder, das die Worte Jesu bewirken: «Unter euch ist jemand, der in
seinem Herzen weint, und nicht zu sagen wagt: "Habe Erbarmen!" Ich antworte
ihm: "Es geschehe nach deinem Wunsche. Ich schenke dir meine ganze erbarmende
Liebe, damit du erkennst, daß ich die Barmherzigkeit bin." Meinerseits sage
ich: Sei großmütig! Sei großmütig gegenüber Gott. Zerreiße alle Bande mit der
Vergangenheit. Du hörst Gottes Stimme, und zu ihm, den du hörst, gehe mit
freiem Herzen und vollendeter Liebe.»
Ich weiß nicht, ob diese Worte an
einen Mann oder an eine Frau in der Menschenmenge gerichtet sind. Jesus sagt
dann: «Dies sind meine Apostel; jeder von ihnen ist ein anderer Christus, denn
ich habe sie erwählt. Wendet euch mit Vertrauen an sie. Von mir wissen sie
alles, was ihr für eure Seelen braucht...» Die Apostel betrachten Jesus ganz
erschrocken, doch er lächelt und fährt fort: «... und durch sie werden eure
Seelen Sternenlichter und mit so viel Tau erquickt, daß ihr nicht in der
Finsternis schmachten müßt. Danach werde ich kommen und euch die Fülle der
Sonne und der Strahlen bringen: die ganze Weisheit, um euch in der
übernatürlichen Kraft und Freude zu stärken und zu beglücken. Der Friede sei
mit euch, Kinder. Andere warten auf mich, die noch unglücklicher und ärmer
sind als ihr. Doch ich lasse euch nicht allein. Meine Apostel werden bei euch
bleiben, und es ist, wie wenn ich die Kinder meiner Liebe der Obsorge der
zärtlichsten und vertrauenswürdigsten Ammen überlassen würde.»
Jesus macht ein Zeichen des
Abschieds und des Segens und bahnt sich dann einen Weg durch die Menge, die
ihn nicht gehen lassen will. Da geschieht ein letztes Wunder. Eine
halbgelähmte alte Frau, die von ihrem Enkel begleitet wird und nun jubelnd den
eben noch steifen Arm bewegt, ruft aus: «Jesus hat mich im Vorbeigehen mit
seinem Mantel gestreift,
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und ich bin geheilt worden. Ich
habe ihn nicht einmal darum gebeten, denn ich bin alt... Doch er hatte
Erbarmen mit mir und hat meinen geheimen Wunsch erfüllt, indem er mit dem
Zipfel seines Mantels meinen unheilbaren Arm gestreift und geheilt hat! Oh,
welch großer Sohn ist unserem heiligen David erstanden! Ehre seinem Messias!
Doch seht, seht! Auch das Bein kann ich nun wie den Arm bewegen... Oh, nun
fühle ich mich wie eine Zwanzigjährige!»
Da viele Menschen auf die alte
Mutter zudrängen, die mit lauter Stimme ihr Glück verkündet, gelingt es Jesus,
sich ohne weitere Behinderung zu entfernen. Die Apostel folgen ihm. An einer
einsamen Stelle in der Ebene, von dem sich eine satte Weide bis zum See
erstreckt, verweilen sie einen Augenblick. Jesus sagt: «Ich segne euch! Kehrt
nun zu eurer Arbeit zurück und verrichtet sie, bis ich wiederkomme, wie ich
euch gesagt habe.»
Petrus, der bis dahin kein Wort
gesagt hat, platzt heraus: «Aber, mein Herr, wie kannst du sagen, wir hätten
alles, was die Seelen brauchen? Es ist wahr, du hast uns vieles gesagt. Aber
wir sind Dummköpfe, ich wenigstens bin einer... und von all dem, was du mir
gegeben hast, habe ich wenig, sehr wenig im Kopf behalten. Es ist wie bei
einem Menschen, der von einem Mahle nur noch das Schwerste im Magen hat; alles
andere ist nicht mehr da.»
Jesus lächelt ganz offen: «Und wo
bleibt denn der Rest der Nahrung ?»
«Das weiß ich nicht. Ich weiß
nur, daß ich bei auserlesenen Speisen schon nach einer Stunde einen leeren
Magen habe. Wenn ich hingegen schwere Wurzeln oder Linsen mit Öl esse, dauert
es lange, bis alles unten ist!»
«Ja, es braucht Zeit. Doch glaube
mir, gerade das Wurzelgemüse und die Linsen, von denen du annimmst, sie würden
dich am meisten sättigen, bestehen hauptsächlich aus Ballaststoffen und haben
nur einen geringen Nährwert für den Körper. Doch die feinen Speisen, die du
nach einer Stunde nicht mehr spürst, sind dann nicht mehr im Magen, sondern
bereits verdaut und im Blut, wo ihre Nährstoffe uns weit mehr Nutzen bringen.
Nun scheint es dir und deinen Gefährten, daß euch von allem, was ich gesagt
habe, nichts mehr oder nur noch wenig geblieben ist. Vielleicht erinnert ihr
euch gut an das, was eure persönliche Wesensart besonders angesprochen hat:
Die Ungestümen erinnern sich an das, was ihr Ungestüm zu fesseln vermochte,
die Beschaulichen an das, was sie nachdenken ließ, die Liebevollen an das, was
ihre Liebe entzündete. Dies ist nicht nur vielleicht so, sondern es ist
tatsächlich so! Doch glaubt mir, alles ist euch geblieben, auch wenn ihr es
entschwunden glaubt. Ihr habt es in euch aufgenommen. Der Gedanke wird sich
wie ein vielfarbiges Band wieder entrollen und euch je nach Bedarf die milden
oder strengen Farben zeigen.
243
Habt keine Angst! Denkt daran,
daß ich alles weiß und euch nie aussenden würde, wenn ihr euerer Aufgabe nicht
gewachsen wäret. Mit Gott, Petrus. Lächle und habe Vertrauen! Es wird dies ein
schönes Bekenntnis des Glaubens an die allgegenwärtige Weisheit sein. Gott sei
mit euch allen! Der Herr bleibe bei euch.» Er verläßt sie rasch, während sie
noch ganz erstaunt und erregt sind über das, was ihnen zu tun aufgetragen
wurde.
«Wir müssen gehorchen», sagt
Thomas.
«Ach ja... oh, ich Armer! Am
liebsten würde ich ihm nachrennen...», murmelt Petrus.
«Nein, tue das nicht. Gehorsam
ist Liebe zu ihm», sagt Jakobus des Alphäus.
«Die fundamentale und heilige
Klugheit sagt uns aber, daß wir anfangen sollten, solange er noch in der Nähe
ist und uns raten kann, wenn wir einen Fehler machen. Wir müssen ihm helfen»,
rät der Zelote.
«Das ist wahr. Jesus ist ziemlich
müde. Wir müssen ihn ein wenig aufrichten, so gut wir können. Es genügt nicht,
daß wir die Taschen tragen und die Nachtlager und die Mahlzeiten bereiten, das
kann jeder. Wir müssen ihn vielmehr unterstützen, wie er es wünscht, und zwar
in seiner Mission», bestätigt Bartholomäus.
«Du hast leicht reden, denn du
bist gebildet. Aber ich, ich bin fast ganz ungebildet...», jammert Jakobus des
Zebedäus.
«Oh, mein Gott! Da kommen die
Leute, die dort oben waren! Was sollen wir nur tun?» ruft Andreas aus.
Matthäus sagt: «Verzeiht, wenn
ich, der Elendeste unter euch, einen Rat gebe. Wäre es nicht besser, zum Herrn
zu beten, anstatt hier zu stehen und über das zu jammern, was durch unser
Gejammer nicht besser wird? Auf, Judas! Du, der du die Schrift gut kennst,
sprich im Namen aller das Gebet Salomons um Weisheit. Schnell, bevor die Leute
hier sind...»
Thaddäus beginnt mit seiner
schönen Baritonstimme zu beten: «Gott meiner Väter, Herr der Barmherzigkeit,
der du alles erschaffen hast...», und er fährt fort bis zu der Stelle: «...
durch deine Weisheit wurde allen Beistand gewährt, die dir, o Herr, von Anfang
an wohlgefällig waren.»Gerade noch rechtzeitig, bevor die Menschen sie
erreichen, umringen und mit tausend Fragen bestürmen, hat er das Gebet
beendet. Sie wollen wissen, wo der Meister hingegangen ist, wann er
zurückkehren wird und, was am schwersten zu beantworten ist, wie man es macht,
um dem Meister nachzufolgen und mit dem Herzen den von ihm gewiesenen Weg
einzuschlagen, auch wenn man ihm nicht als Jünger folgen kann.
Diese Frage bringt die Apostel in
Verlegenheit. Sie sehen sich gegenseitig an und Judas Iskariot antwortet: «Mit
dem Streben nach Vollkommenheit,» als wäre dies eine Antwort, die alles
erklärt...
Jakobus des Alphäus, demütiger
und besonnener als der andere, überlegt und sagt dann: «Die Vollkommenheit,
auf die mein Gefährte hingewiesen
244
hat, erreicht man, indem man das
Gesetz befolgt, denn das Gesetz ist Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit ist
Vollkommenheit.»
Doch die Menge gibt sich damit
noch nicht zufrieden, und einer, anscheinend der Wortführer, fragt: «Aber wir
sind im Guten so klein wie Kinder. Die Kinder wissen noch nicht, was gut und
böse ist, und sie vermögen nicht zu unterscheiden. Wir wissen so wenig über
den Weg, den er uns weist, daß wir nicht imstande sind, klar zu sehen. Wir
hatten einen Weg, der uns bekannt war: den alten, schwierigen, langen und
furchtbaren Weg, der uns in der Schule gelehrt wurde. Nun entnehmen wir seinen
Worten, daß sein Weg jenem Aquädukt gleicht, das wir von hier aus sehen
können. Unten ist die Straße für die Tiere und die Menschen. Darüber, über
zierlichen Bögen, hoch in der Sonne und im Blau des Himmels, bei den höchsten
im Winde rauschenden Ästen, wo die Vögel singen, dort ist der andere Weg, so
ebenmäßig, rein, strahlend im Licht wie der untere holprig, schmutzig und
dunkel ist; oben ist der Kanal, der das klare Wasser, den Segen Gottes,
bringt, und den Sonnenstrahlen, Sternenschein, frisches Laub, Blumen und
Schwalbenflügel liebkost. Wir möchten zu diesem hohen Weg aufsteigen, der der
seine ist, und wir können nicht, weil wir hier unten unter der Last des alten
Gesetzes festgehalten werden. Was sollen wir tun?»
Der so gesprochen hat ist ein
junger Mann um die 25 Jahre, dunkel, kräftig, mit einem intelligenten Blick
und einem weniger ländlichen Aussehen als das der Mehrzahl der Anwesenden. Er
hat im Namen eines reiferen Mannes neben ihm gesprochen.
Judas Iskariot, hochgewachsen wie
er ist, kann ihn sehen und flüstert den Gefährten zu: «Schnell. Ihr müßt gut
reden. Dort ist Hermas mit Stephanus: Stephanus ist der Liebling Gamaliels!»
was die Apostel noch vollends in Verlegenheit bringt.
Schließlich antwortet der Zelote:
«Die Bogen gäbe es nicht, bestünde nicht die Basis als düsterer Weg. Auf ihr
erhebt sich, was zum Himmel strebt und wonach du dich sehnst. Die im Erdreich
liegenden Steine, die das Gewicht tragen, ohne sich an den Sonnenstrahlen und
an den vorüberfliegenden Schwalben erfreuen zu können, ahnen zwar, daß es sie
gibt; denn manchmal schießt eine Schwalbe jubelnd bis zum Schlamm der Erde
hinab und streift sachte die Grundmauer der Bogen. Zuweilen dringt auch ein
Sonnen- und Sternenstrahl hinunter und erzählt von der Schönheit des
Firmaments. Ebenso ist auch in vergangenen Jahrhunderten von Zeit zu Zeit ein
himmlisches Wort der Verheißung, ein himmlischer Strahl der Weisheit bis zur
Erde vorgedrungen, um die vom göttlichen Zorn niedergedrückten Steine zärtlich
zu berühren.
Denn die Steine waren notwendig
und sind nicht, waren nicht und werden nie unnütz sein. Auf ihnen haben sich
langsam die Zeiten und die Vollendung menschlicher Erkenntnisse aufgebaut, um
alsdann die Freiheit
245
der gegenwärtigen Zeit und die
Weisheit übermenschlichen Wissens zu erlangen.
Schon lese ich die Einwände, die
dir im Gesicht geschrieben stehen. Alle haben wir sie vorgebracht, bevor wir
begreifen konnten, daß dies die Neue Lehre, die Frohe Botschaft ist, die jenen
verkündet wird, die anstatt mit der Errichtung der Marksteine der Gelehrtheit
zu wachsen, immer mehr in die Finsternis zurückgesunken sind, wie eine in den
Abgrund stürzende Mauer.
Um uns von der Krankheit
übernatürlicher Verfinsterung zu befreien, müssen wir mutig den Grundstein von
allen darüberliegenden Steinen befreien. Habt keine Angst, abzubrechen, was
zwar eine hohe Mauer darstellt, jedoch nicht den ewigen Quell reiner
Lebenskraft in sich birgt. Kehrt zurück zum Fundament. Es muß nicht geändert
werden, denn es stammt von Gott und ist fest. Doch bevor ihr die Steine
wegwerft, überprüft einen nach dem anderen, ob er im Einklang mit dem Wort
Gottes steht; denn nicht alle sind schlecht und unnütz. Hört ihr keinen
Mißklang, bewahrt sie und verwendet sie für den Wiederaufbau. Hört ihr aber in
ihnen die Mißtöne der menschlichen oder der satanischen Stimme, dann
zertrümmert die schlechten Steine. Ihr könnt euch nicht irren, denn wenn es
die Stimme Gottes ist, hört ihr den Klang der Liebe, wenn es die menschliche
Stimme ist, hört ihr den Klang der Sinne, und wenn es die Stimme Satans ist,
hört ihr den Schrei des Hasses. Ich sage euch: Zertrümmert sie, denn es ist
Liebe, Keime des Bösen und alles Schlechte auszurotten, damit es den Wanderer
nicht verführen und er es nicht zu seinem Schaden benütze. Merzt alles Böse in
eueren Werken, Schriften, Belehrungen und Taten gründlich aus. Besser ist es,
sich mit wenigen guten Steinen eine Elle hoch zu erheben, als viele Meter hoch
mit schlechten Steinen. Die Strahlen des Lichtes und die Schwalben steigen
auch zu dem sich kaum über die Erde erhebenden Mäuerchen hinab, und die
einfachen Blümchen des Rains haben es leicht, sich zärtlich an diese demütigen
Steine zu schmiegen. Die stolzen Steine aber, die nutzlos und rauh in die Höhe
streben, verspüren nur die Stiche der Brombeersträucher und die Umschlingung
der Giftpflanzen. Reißt nieder, um wieder aufzubauen und emporzusteigen, indem
ihr eure alten Steine an der Stimme Gottes erprobt.»
«Du sprichst gut, Mann! Aber
aufsteigen... Wie? Wir haben dir schon gesagt, daß wir schwächer sind als
kleine Kinder. Wer hilft uns, den steilen Pfeiler zu erklimmen? Wir werden die
Steine am Klang Gottes prüfen und die weniger guten zertrümmern. Aber wie
aufsteigen? Schon der Gedanke daran macht uns schwindeln», sagt Stephanus.
Johannes, der mit geneigtem
Haupte und in sich hineinlächelnd zugehört hat, erhebt sein leuchtendes
Antlitz und ergreift das Wort: «Brüder! Es bereitet Schwindel, an den Aufstieg
zu denken, das ist wahr! Aber wer
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sagt euch denn, daß es nötig ist,
mit einem Mal die Höhe zu erklimmen? Dies ist nicht nur den Kindern, sondern
auch den Erwachsenen unmöglich. Nur die Engel können sich ins Himmelsblau
emporschwingen, denn sie sind frei von jeglichem irdischen Gewicht, und unter
den Menschen sind nur die Helden der Heiligkeit dazu fähig.
Wir haben auch heute in dieser
verdorbenen Welt noch einen Helden der Heiligkeit, gleich den Vorvätern, mit
denen Israel sich schmückte, als die Patriarchen Freunde Gottes waren und das
Wort des ewigen Gesetzes als einziges von jedem aufrichtigen Geschöpf befolgt
wurde. Johannes, der Vorläufer, lehrt, wie man auf direktem Wege die Höhe
erklimmen kann. Johannes ist ein Mensch; doch die ihm durch das Feuer Gottes
eingeflößte Gnade hat ihn schon im Mutterschoß gereinigt – so wie die Lippen
des Propheten vom Seraphim gereinigt wurden – auf daß er, Johannes, dem
Messias vorangehen könne, ohne den königlichen Weg Christi durch den Gestank
der Erbsünde zu entheiligen. Diese Gnade hat Johannes Engelsflügel gegeben,
und die Buße hat sie wachsen lassen, so daß auch die Last der Menschlichkeit,
die ihn als einen von der Frau Geborenen noch beschwerte, aufgehoben wurde.
Daher kann sich Johannes aus seiner Höhle, in die er Buße predigt, und mit
seinem Leib, in dem die mit der Gnade vermählte Seele glüht, emporschwingen
bis zum höchsten Punkt des Bogens, über dem Gott, unser höchster Herr und
Gott, thront. Er kann, da er die vergangenen Jahrhunderte, den heutigen Tag
und die Zukunft überblickt, mit prophetischer Stimme und mit dem Auge des
Adlers, der die ewige Sonne schaut und erkennt, verkünden: "Sehet das Lamm
Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt", und er kann alsdann, nach diesem
erhabenen Gesang, aus diesem Leben scheiden. Dieser Gesang wird nie mehr
verstummen und wird nicht nur eine Zeitlang erklingen; sondern im
immerwährenden Tempel, im ewigen, glückseligen Jerusalem, der zweiten
Göttlichen Person zujubeln, sie in menschlichen Nöten anflehen und ihr im
Glanz der ewigen Herrlichkeit lobsingen.
Doch das Lamm Gottes, das in
seiner unendlichen Liebe die strahlende Wohnung des Himmels verlassen hat, wo
es als Feuer Gottes vom Feuer umgeben ist... O ewige Zeugung des Vaters, der
mit dem unermeßlichen und heiligsten Gedanken sein Wort erzeugt und es in
einer Verschmelzung der Liebe in sich aufnimmt, aus der der Geist der Liebe
hervorgeht, in dem sich Stärke und Weisheit vereinigen! Dieses Lamm Gottes,
das seine reinste, geistige Gestalt aufgegeben hat, um seine unendliche
Reinheit, seine Heiligkeit und seine göttliche Natur in einem sterblichen Leib
zu verhüllen, weiß, daß uns die Gnade nicht gereinigt, vielmehr noch nicht
gereinigt hat sind und wir nicht fähig sind, uns wie der Adler Johannes, in
die Höhe, auf den Gipfel zu schwingen, wo der Dreieinige Gott thront. Wir sind
die kleinen Sperlinge auf dem Dache und am Wege. Wir sind die Schwalben, die
das Blau des Himmels berühren, sich aber von Insekten
247
nähren. Wir sind die Lerchen, die
mit ihrem Gesang die Engel nachahmen möchten; aber im Vergleich zu ihrem
Gesang ist der unsere nur das ängstliche Zirpen einer sommerlichen Grille. Das
süße Lamm Gottes, das gekommen ist, die Sünden der Welt hinwegzunehmen, weiß
dies. Denn obwohl es nicht mehr der unendliche Geist des Himmels ist, da es
selbst in einem sterblichen Leib wohnen wollte, so ist doch seine
Unendlichkeit dadurch nicht vermindert, und in seiner unendlichen Weisheit
weiß es alles.
Er weist uns den Weg, den Weg der
Liebe. Er ist die Liebe, die aus Barmherzigkeit zu uns Fleisch angenommen hat.
Und so bereitet uns diese barmherzige Liebe den Weg nach oben, den selbst die
Kleinen gehen können. Auf diesem Weg geht er uns voran als erster, nicht weil
er es tun müßte, sondern um uns den Weg zu weisen. Er müßte nicht einmal die
Flügel ausbreiten, um sich wieder mit dem Vater zu vereinigen. Sein Geist, ich
schwöre es euch, ist auf diese armselige Welt hier verbannt, doch er ist auch
stets beim Vater, denn Gott vermag alles, und er ist Gott. Er geht uns voran
und läßt den Wohlgeruch seiner Heiligkeit zurück, das Gold und das Feuer
seiner Liebe. Betrachtet seinen Weg! Oh, er führt euch leicht zum höchsten
Punkt des Bogens! Doch wie friedvoll und sicher ist dieser Weg! Er ist keine
Gerade, sondern eine Spirale, und dadurch länger. Sein Liebesopfer der
Barmherzigkeit enthüllt sich in dieser Länge, an die er sich selbst hält aus
Liebe zu uns Schwachen. Länger ist der Weg, aber mehr unserer Armseligkeit
angepaßt. Der Aufstieg zur Liebe, zu Gott, ist einfach wie die Liebe. Doch die
Liebe ist tief, denn Gott ist ein Abgrund, und er wäre für uns unerreichbar,
hätte er sich nicht erniedrigt, um sich erreichen zu lassen und die Liebe der
für ihn entbrannten Seele zu erfahren. (Johannes spricht und weint mit
lächelndem Munde in der Verzückung seiner Offenbarung Gottes.) Lang ist der
einfache Weg der Liebe, denn der Abgrund, der Gott ist, hat kein Ende, und der
Aufstieg zu Gott hat keine Grenzen. Doch der wunderbare Abgrund ruft unseren
armseligen Abgrund, und dieser wunderbare Abgrund in seiner Fülle von Licht
ruft uns zu: "Kommt zu mir!"
O Einladung Gottes! Einladung des
Vaters! Hört, hört! Christus hat die Himmelspforten weit geöffnet und den
Engeln der Barmherzigkeit und des Verzeihens geboten, sie offen zu halten, auf
daß ihnen in Erwartung der Gnade wenigstens Lichter, Wohlgerüche, Gesänge und
Frohsinn entströmen mögen, um in heiliger Weise die Herzen der Menschen
anzuziehen und zärtliche Worte an sie zu richten. Es ist die Stimme Gottes,
die spricht, und die Stimme sagt: "Eure Kindlichkeit ? Sie ist eure beste
Münze! Ich möchte, daß ihr ganz klein werdet, damit ihr Demut, Aufrichtigkeit,
Vertrauen und die Liebe der Kinder zum Vater erlangt. Eure Unfähigkeit? Aber
gerade sie ist mir Ruhm! Oh, kommt! Ich verlange nicht von euch, daß ihr
selbst den Klang der guten und der schlechten Steine prüft. Gebt sie mir. Ich
selbst werde sie verlesen und ihr werdet damit
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wieder aufbauen. Der Aufstieg zur
Vollkommenheit? Oh, meine kleinen Kinder. Legt eure Hand in die Hand meines
Sohnes, eures Bruders, und so werdet ihr nun an seiner Seite aufsteigen
"Aufsteigen! Zu dir kommen, ewige Liebe! Dir, der Liebe, ähnlich werden!
Lieben, das ist das Geheimnis!
... Lieben! Sich schenken... Lieben! Sich selbst vernichten... Lieben! Sich
verschmelzen... Das Fleisch? Ein Nichts! Der Schmerz? Ein Nichts! Die Zeit?
Ein Nichts! Selbst die Sünde wird zum Nichts, wenn ich sie in deinem Feuer, o
Gott, verbrenne. Nur die Liebe allein besteht! Die Liebe! Die Liebe, die uns
der menschgewordene Gott geschenkt hat, wird uns alles verzeihen. Niemand weiß
besser zu lieben als die Kinder, und niemand wird mehr geliebt als ein Kind.
Oh! Du, den ich nicht kenne, der
du aber das Gute kennenlernen willst, um es vom Bösen zu unterscheiden, um
aufzusteigen bis zu den Himmelshöhen, zur göttlichen Sonne und zu allem, was
übernatürliche Freude ist: Liebe, liebe, und du wirst all das besitzen! Liebe
Christus. Du wirst im Fleische sterben, aber im Geiste auferstehen. Mit einem
neuen Geiste, ohne jemals wieder Bausteine zu benötigen: denn du wirst auf
ewig ein unauslöschliches Feuer sein. Die Flamme steigt empor. Sie braucht
dazu weder Stufen noch Flügel. Befreie dein Ich von starren Strukturen und
erfülle es mit Liebe, und du wirst eine lodernde Flamme sein. Laß dies ohne
Einschränkungen geschehen. Fache vielmehr die Flamme an und nähre sie, wirf
deine ganze Vergangenheit der Leidenschaften und der Gelehrtheit hinein. Alles
weniger Gute wird die Flamme vernichten, das edle Metall aber wird sie
läutern. Wirf dich, o Bruder, in die tätige und selige Liebe der Heiligen
Dreifaltigkeit. Dann wirst du verstehen, was dir jetzt noch unverständlich
erscheint; denn du wirst Gott begreifen, den nur erfassen kann, wer sich
seinem Opferfeuer gänzlich hingibt. So wirst du dich in flammender Umarmung in
Gott gründen und für mich, das Kind Christi, beten, das gewagt hat, dir von
der Liebe zu sprechen.»
Alle sind zutiefst erstaunt: die
Apostel, die Jünger, die Gläubigen... Der Angesprochene ist bleich, Johannes
purpurrot, nicht so sehr der Anstrengung als der Liebe wegen.
Endlich ruft Stephanus aus: «Du
Gesegneter! Aber sage mir, wer bist du?»
Johannes macht eine Gebärde, die
mich sehr an die der Jungfrau bei der Verkündigung erinnert, indem er sich wie
zur Anbetung dessen, den er nennt, nach vorne neigt, und sagt leise: «Ich bin
Johannes. Du siehst in mir den Geringsten unter den Dienern des Herrn.»
«Aber wer war dein früherer
Lehrer?»
«Ein Mensch, da ich meine
geistige Milch von Johannes, dem schon im voraus Geheiligten Gottes, empfangen
habe: ich esse das Brot des Christus, das Wort Gottes, und trinke das Feuer
Gottes, das mir vom Himmel kommt. Der Herr sei gepriesen 1»
249
«Oh, ich verlasse dich nicht
mehr! Weder dich noch diesen hier, keinen. Nehmt mich auf!»
«Wann... Oh, aber hier ist
Petrus, unser Oberhaupt», und Johannes
nimmt den erstaunten Petrus bei
der Hand und erklärt ihn so zum "Ersten" *
Petrus findet wieder zu sich:
«Sohn, eine große Sendung soll man nur nach reichlicher Überlegung übernehmen.
Dieser ist unser Engel, der die Flamme entzündet. Aber man muß auch wissen, ob
die Flamme in uns anhält. Prüfe dich selbst, und dann komme zum Herrn. Wir
wollen dir unsere Herzen öffnen wie dem liebsten Bruder. Vorläufig kannst du
bei uns bleiben, wenn du unser Leben besser kennenlernen willst. Die Herden
des Christus mögen über alle Maßen anwachsen, damit unter Vollkommenen und
Unvollkommenen die wahren Lämmer von den falschen Böcken getrennt werden
können.»
Damit ist das erste öffentliche
Auftreten der Apostel beendet.
206. IM HAUSE DER JOHANNA DES
CHUZA JESUS UND DIE RÖMERINNEN
Jesus steigt mit Hilfe eines
Bootsführers, der ihn in sein Boot aufgenommen hat, auf den Landesteg des
Gartens Chuzas. Ein Gärtner hat ihn schon gesehen und beeilt sich, das Tor zu
öffnen, das Fremden den Zutritt zum Garten von der Seeseite her verwehrt. Es
ist ein hohes und schweres Tor, dessen Außenseite hinter einer dichten Hecke
von hohem Lorbeer und Buchsbaum verborgen ist, während auf der dem Hause
zugewandten Seite eine ebenso mächtige, bunte Rosenhecke wächst. Herrliche
Rosenbüschel schmücken das bronzefarbige Laub der Lorbeer- und Buchsbäume mit
ihren Blüten und breiten sich zwischen den Ästen aus oder übersteigen gar den
grünen Zaun und lassen ihre blumigen Ranken auf der anderen Seite herabhängen.
Nur an einer Stelle, auf der Höhe eines Gartenweges, ist das Gitter ganz frei,
und hier ist der Durchgang für die, die vom See kommen oder zum See gehen.
«Der Friede sei mit diesem Hause
und mit dir, Johanna. Wo ist deine Herrin?»
«Sie ist dort mit ihren
Freundinnen. Ich will sie gleich rufen. Sie warten schon seit drei Tagen auf
dich, aus Furcht, zu spät zu kommen.»
Jesus lächelt. Der Diener eilt
davon, um Johanna zu rufen. Inzwischen geht Jesus langsam auf die vom Diener
bezeichnete Stelle zu und bewundert den herrlichen Garten – man müßte
eigentlich sagen, den herrlichen Rosengarten – den Chuza für seine Frau hat
anlegen lassen: Rosen in allen Farben, Größen und Formen blühen in dieser
geschützten Bucht des
250
Sees schon vorzeitig. Es gibt
zwar auch noch andere Blumenarten, aber sie blühen noch nicht und ihre Anzahl
ist gering im Vergleich zu den Rosen.
Johanna eilt herbei. Sie hat
nicht einmal das mit Rosen halb angefüllte Körbchen abgestellt noch die Schere
weggelegt, die sie zum Schneiden benützte, und eilt so mit ausgestreckten
Armen auf Jesus zu, schlank und anmutig in ihrem prächtigen Gewand aus
feinster rosaroter Wolle, dessen Falten von Broschen und Spangen aus
Silberfiligran, auf denen blaßrote Granaten leuchten, zusammengehalten werden.
Auf dem schwarzen, gelockten Haar funkelt ein Diadem in Form einer Mitra,
ebenfalls aus Silber und Granaten, das einen hauchdünnen rosafarbenen Schleier
hält. Er fällt nach hinten und läßt die kleinen Ohrgehänge frei. Ein lachendes
Gesicht, ein schlanker Hals, und an seinem Ansatz eine Kette der gleichen Art
wie die übrigen Schmuckstücke.
Johanna läßt ihren Korb vor den
Füßen Jesu zu Boden fallen und kniet nieder, um den Saum seines Gewandes
inmitten den verstreuten Rosen zu küssen.
«Der Friede sei mit dir, Johanna.
Ich bin gekommen.»
«Ich bin glücklich. Auch meine
Freundinnen sind da. Doch, nun scheint mir, daß ich unrecht gehandelt habe,
als ich sie hierherkommen ließ. Wie werdet ihr euch verstehen können? Sie sind
tatsächlich noch Heidinnen!»
Johanna ist etwas erregt.
Jesus lächelt, legt die Hand auf
ihren Kopf und sagt: «Hab keine Angst. Wir werden uns bestens verstehen, und
du hast richtig gehandelt. Aus der Begegnung wird Gutes erblühen, so wie die
Rose in deinem Garten. Sammle die armen Rosen, die du hast fallen lassen, dann
wollen wir zu deinen Freundinnen gehen.»
«Oh, Rosen gibt es viele. Ich
pflücke sie mir zum Zeitvertreib, und dann... meine Freundinnen sind so... so
genießerisch... als wären sie... ich weiß nicht ...»
«Aber auch ich liebe sie! Siehst
du, schon haben wir ein Thema, bei dem wir uns verstehen. Nun! Heben wir diese
prachtvollen Rosen auf ...»und Jesus bückt sich, um mit gutem Beispiel
voranzugehen.
«Du? Nicht du, mein Herr! Wenn du
wirklich willst... so... es ist schon getan.»
Sie gehen zusammen zu einer
Gartenlaube aus einem Geflecht von verschiedenfarbigen Rosenstöcken, aus der
drei Römerinnen, Plautina, Valeria und Lydia, hervorschauen. Die erste und die
dritte sind zurückhaltend, doch Valeria eilt heraus und verneigt sich: «Sei
gegrüßt, Retter meiner kleinen Fausta!»
«Friede und Licht dir und deinen
Freundinnen!»
Die Freundinnen verneigen sich
wortlos.
251
Plautina kennen wir schon.
Hochgewachsen, wohlgestaltet, mit wundervollen schwarzen, etwas gebieterischen
Augen unter der glatten, weißen Stirn, einer geraden, tadellosen Nase, einem
eher wulstigen, doch wohlgeformten Mund und einem rundlichen, ausgeprägten
Kinn, erinnert sie mich an gewisse Statuen römischer Kaiserinnen. Schwere
Ringe funkeln an den sehr schönen Händen, und breite Armbänder umschließen die
wahrhaft bildschönen Arme am Handgelenk und über dem Ellbogen, die mit ihrer
glatten, blaßrosa Haut aus kurzen, gerafften Ärmeln hervorkommen.
Lydia hingegen ist blond, zarter
und jünger. Ihre Schönheit ist nicht so stattlich wie die der Plautina, doch
hat sie die ganze Anmut einer noch etwas unreifen Frau. Da wir gerade von den
Heidinnen sprechen, möchte ich sagen, daß wenn Plautina der Statue einer
Herrscherin gleicht, Lydia eine zarte und scheue Diana oder Nymphe darstellen
könnte.
Valeria, nun nicht mehr in der
verzweifelten Verfassung, in der ich sie in Caesarea gesehen habe, besitzt die
Schönheit einer jungen Mutter mit vollen und trotzdem noch sehr jugendlichen
Formen. Ihre Augen drücken die Gelassenheit der Mutter aus, die glücklich ist,
ihr Kind stillen zu können und es mit ihrer Milch gedeihen zu sehen. Sie hat
eine rosafarbene Haut und kastanienbraunes Haar und ihr Lächeln ist ruhig und
anmutig.
Ich habe den Eindruck, daß die
beiden letzteren Damen niedereren Ranges als Plautina sind, denn sie verehren
sie auch mit den Blicken wie eine Königin.
«Ihr wart mit den Blumen
beschäftigt? Macht ruhig weiter, macht weiter. Wir können uns auch
unterhalten, während ihr die Blumen, diese Wunderwerke des Schöpfers, pflückt
und in die prächtigen Schalen steckt, um ihr leider allzu kurzes Leben zu
verlängern... und im Blumenstecken seid ihr Römerinnen ja wahre Künstlerinnen.
Wenn wir diese Knospe bewundern, die so sachte ihre lachsfarbenen
Blütenblätter öffnet, wie könnten wir anders als traurig sein, wenn wir sie
sterben sehen! Oh, wie würden doch die Juden staunen, wenn sie hören könnten,
daß ich so etwas sage! Doch diese Traurigkeit rührt daher, daß wir selbst im
Blumengeschöpf etwas Lebendiges erkennen, dessen Ende zu sehen uns schmerzt.
Doch die Pflanze ist weiser als wir. Sie weiß, daß aus jeder Wunde eines
abgeschnittenen Stieles ein neuer Trieb hervorsprießt, der die neue Rose in
sich birgt. Unser Verstand soll daraus eine Lehre ziehen, und die sinnliche
Liebe zur Blume soll uns Ansporn sein zu erhabeneren Gedanken.»
«Welche, Meister?» fragt
Plautina, die aufmerksam zuhört und begeistert ist vom edlen Gedankengang des
jüdischen Meisters.
«Diese: so wie die Pflanze nicht
stirbt, solange das Erdreich ihre Wurzeln nährt – obgleich ihre Stiele
verwelken – so stirbt auch das irdische Leben eines Menschen nicht, wenn er
sich von der Welt zurückzieht;
252
vielmehr bringt es immer neue
Blüten hervor. Noch ein anderer erhabener Gedanke läßt uns den Schöpfer
preisen: Während die einmal abgestorbene Blume leider nicht wieder aufleben
kann, so ist doch der in die ewige Ruhe eingegangene Mensch nicht tot; er lebt
weiter in einem strahlenden Licht und sein edlerer Teil empfängt ewiges Leben
und Herrlichkeit von seinem Schöpfer. Darum, Valeria, hättest du die zärtliche
Liebe deines Kindes nicht verloren, auch wenn es gestorben wäre. Deine Seele
wäre immer vom Kusse deines Geschöpfes berührt worden, das zwar von dir
getrennt, aber deiner Liebe stets eingedenk gewesen wäre. Siehst du, wie
wunderbar es ist, an ein ewiges Leben zu glauben? Wo ist nun deine Kleine?»
«In der zugedeckten Wiege dort.
Ich hätte mich schon vorher nie von meiner Tochter getrennt, weil die Liebe zu
meinem Gatten und zu ihr mein Lebensinhalt sind. Nun aber, da ich weiß, was es
heißt, sie sterben zu sehen, verlasse ich sie auch nicht einen Augenblick.»
Jesus begibt sich zu einer Bank,
auf der eine Art Holzwiege steht, die ganz von einer kostbaren Decke bedeckt
ist. Jesus schiebt die Decke zur Seite und betrachtet das schlafende Kind, das
nun von der frischen Luft sanft geweckt wird. Es schlägt erstaunt die Äuglein
auf und ein engelgleiches Lächeln öffnet den kleinen Mund, während die zuvor
zu Fäusten geballten Händchen behende die wallenden Haare Jesu zu erhaschen
versuchen. Dann gibt es das Zeichen zu einem "Gespräch", das sich wie das
Zwitschern eines kleinen Sperlings anhört. Schließlich trillert es das große,
universale Wort «Mama!»
«Nimm es, nimm es», sagt Jesus
und tritt zur Seite, um Valeria die Möglichkeit zu geben, sich über die Wiege
zu beugen.
«Aber es wird dich stören! ...
Ich will eine Sklavin rufen, damit sie das Kind im Garten herumträgt.»
«Stören? O nein! Kinder stören
mich nie. Sie sind immer meine Freunde.»
«Hast du Kinder oder Neffen,
Meister?» fragt Plautina, die beobachtet, mit welch väterlichem Lächeln Jesus
die Kleine neckt, um sie zum Lachen zu bringen.
«Ich habe weder Kinder noch
Neffen, aber ich liebe die Kinder, wie ich die Blumen liebe, denn sie sind
rein und ohne Arglist. Doch gib mir dein Kind, Frau. Einen kleinen Engel an
mein Herz zu drücken, ist mir eine innige Freude.» Er setzt sich nieder mit
der Kleinen, die ihn anblickt, seinen Bart zerzaust und es dann interessanter
findet, mit den Fransen des Mantels und der Kordel des Kleides zu spielen und
dabei lange, geheimnisvoll plaudert.
Plautina sagt: «Unsere gute und
kluge Freundin, eine der wenigen, die es nicht für unter ihrer Würde hält, mit
uns zu verkehren und die durch uns nicht "verdorben" wird, hat dir sicher
gesagt, daß wir dich sehen und
253
hören wollten, um uns ein Urteil
über dich zu bilden. Denn Rom glaubt nicht an Märchen... Warum lächelst du,
Meister?»
«Nachher werde ich es dir sagen.
Sprich nur weiter.»
«Denn Rom glaubt nicht an Märchen
und will mit Wissen und Gewissen entscheiden, bevor es verurteilt oder rühmt.
Dein Volk verehrt und verleumdet dich in gleichem Maße. Deine Werke sind
Anlaß, dich zu verherrlichen. Die Worte vieler Hebräer hingegen lassen
vermuten, daß man dich beinahe für einen Verbrecher hält. Deine Worte sind
weise und feierlich wie die Worte eines Philosophen. Rom hat eine große
Vorliebe für philosophische Lehren, aber ich muß sagen, daß die Lehren unserer
heutigen Philosophen nicht befriedigen, auch deshalb nicht, weil ihre
Lebensweise nicht mit ihrer Lehre übereinstimmt.»
«Sie können keine Lebensweise
haben, die ihrer Lehre entspricht.»
«Weil sie Heiden sind, nicht
wahr?»
«Nein, weil sie ohne Gott sind!»
«Ohne Gott? Aber sie haben doch
ihre Götter.»
«Sie haben nicht einmal diese,
Frau. Denke an die alten Philosophen, die größten unter ihnen... Auch sie
waren Heiden, aber sieh, wie ihr Leben dessen ungeachtet von Adel geprägt war!
Vermischt mit Irrtum war ihre Lehre, denn der Mensch neigt zum Irrtum. Doch
wenn sie vor den größten Geheimnissen standen: dem Leben und dem Tode, wenn
sie vor der Wahl standen: Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit, Tugend oder Laster,
Heldentum oder Feigheit, und überlegten, daß sie durch eine Entscheidung für
das Böse dem Vaterland und seien Bürgern schaden würden, da waren sie
imstande, sich mit dem Willen eines Riesen aus den Fangarmen der Polypen der
Bosheit zu befreien, und wußten sich frei und heilig um jeden Preis für das
Gute zu entscheiden. Das Gute, das niemand anderes ist als Gott.»
«Man sagt, daß du Gott bist. Ist
das wahr?»
«Ich bin der Sohn des wahren
Gottes, der Fleisch geworden und Gott geblieben ist.»
«Aber was ist Gott? ... Der
größte unter den Lehrmeistern, wenn wir dich betrachten.»
«Gott ist weit mehr als ein
Lehrmeister. Erniedrigt nicht den erhabenen Begriff der Gottheit zu einer
Weisheit, der Grenzen gesetzt sind!»
«Die Weisheit ist eine Gottheit.
Wir haben Minerva. Sie ist die Göttin der Gelehrtheit.»
«Ihr habt auch Venus, die Göttin
der Lust. Könnt ihr glauben, daß ein Gott, also ein den Sterblichen
überlegenes Wesen, alle Schändlichkeit im sterblichen Menschen noch
vervollkommnet hat? Könnt ihr glauben, daß einer, der ewig ist, auf ewig all
die kleinlichen, armseligen, demütigenden Freuden hegt, wie der Mensch, der
nur kurze Zeit lebt, und daß er sie zum Zweck seines Lebens macht? Denkt ihr
nie daran, wie schmutzig der Himmel ist, den ihr Olymp nennt und wo die
bittersten Säfte der
254
Menschheit gären 9 Wenn ihr euren
Himmel betrachtet, was seht ihr? Ausschweifung, Verbrechen, Haß, Krieg,
Diebstahl, Schwelgerei, Hinterhältigkeit und Rache. Wenn ihr die Feste eurer
Götter feiert, was tut ihr? Ihr haltet Orgien! Wie verehrt ihr eure Götter?
Wie steht es mit der wahren Jungfräulichkeit der der Vesta Geweihten? Auf
welches göttliche Gesetz stützen sich eure Hohenpriester, wenn sie richten?
Welche Worte lesen eure Wahrsager aus dem Flug der Vögel oder dem Rollen des
Donners? Was für Antworten können die blutigen Eingeweide der Opfertiere euern
Haruspizes geben? Du hast gesagt: "Rom glaubt nicht an Märchen." Warum glaubt
ihr dann, daß sich zwölf arme Männer, die ein Schwein, ein Schaf und einen
Stier um einen Acker herumkreisen und sie dann aufopfern, die Gunst der Ceres
erwerben, wenn ihr doch unzählige Götter habt, die sich gegenseitig hassen und
denen ihr alle Racheakte zutraut? Nein, Gott ist etwas ganz anderes. Er ist
ewig, einzig und geistig.»
«Aber du behauptest, Gott zu
sein, und bist doch Fleisch.»
«Es gibt einen Altar ohne Gott im
Hain der Götter. Die menschliche Weisheit hat ihn dem "unbekannten Gott"
gewidmet; denn die Weisen, die wahren Philosophen ahnten, daß es noch etwas
anderes geben müsse als die Lügengeschichten, die für die Menschen, diese
ewigen Kinder, deren Geist in den Banden des Irrtums gefangen lag, erfunden
worden waren. Wenn nun diese Weisen, die geahnt haben, daß es noch etwas
anderes als diese lügenhaften Possen geben muß, etwas wahrhaft Erhabenes und
Göttliches, das alles erschaffen hat und von dem alles Gute in der Welt
ausgeht, dem unbekannten Gott, den sie als den wahren Gott erkannten, einen
Altar errichten wollten, wie könnt ihr dann etwas, das nicht Gott ist, Gott
nennen und von etwas, das ihr in Wirklichkeit nicht kennt, behaupten, daß ihr
es kennt? Begreift also, was Gott ist, damit ihr ihn erkennen und ehren könnt.
Gott ist der, der aus dem Nichts alles durch seinen Gedanken erschaffen hat.
Kann euch die Fabel der Steine, die sich in Menschen verwandeln, überzeugen
und befriedigen? Wahrlich, es gibt Menschen, die härter und niederträchtiger
sind als Steine, und es gibt Steine, die nützlicher sind als der Mensch. Aber
ist es für dich nicht tröstlicher, Valeria, wenn du beim Betrachten dieses
deines Kindes denken kannst: "Es ist der lebendige Wille Gottes, von ihm
erschaffen und gebildet, von ihm mit einem zweiten Leben beschenkt, und ich
werde meine kleine Fausta weiter und für alle Ewigkeit bei mir haben, wenn ich
an den wahren Gott glaube", anstatt fragen zu müssen: "Dieser rosige Körper,
diese Haare, feiner als Spinnenfäden, diese lächelnden Augensterne, sind sie
aus einem Stein entstanden?" Oder zu sagen: "Ich bin in allem der Wölfin oder
der Stute ähnlich, wie ein Tier paare ich mich, wie ein Tier gebäre ich, wie
ein Tier ziehe ich meine Kinder auf, und diese Tochter ist die Frucht meines
niederen Triebes und ein Tier wie ich; und morgen, wenn sie tot ist und ich
tot bin, werden wir uns wie zwei Aase in Gestank
255
auflösen und uns nie
wiedersehen?" Sage mir, welcher der beiden Überlegungen möchte dein Mutterherz
zustimmen ?»
«Ganz gewiß nicht der zweiten,
Herr! Hätte ich gewußt, daß Fausta sich nach ihrem Tode nicht in Nichts
auflöst, so hätte ich bei ihrem Todeskampf weniger gelitten. Denn ich hätte
mir gesagt: "Ich habe eine Perle verloren; aber es gibt sie noch und ich werde
sie wiederfinden."»
«Du hast recht. Als ich hier
ankam, hat mir eure Freundin gesagt, daß sie sich über eure Leidenschaft für
die Blumen wundert. Sie befürchtete, ich könnte daran Anstoß nehmen. Aber ich
habe sie beruhigt und gesagt: "Auch ich liebe Blumen, und deshalb werden wir
uns sicher gut verstehen." Aber ich möchte euch dahin führen, die Blumen so zu
lieben, wie ich Valeria lehre, ihr Kind zu lieben, das sie nun sicherlich noch
mehr umsorgen wird; jetzt, da sie weiß, daß es eine Seele hat, ein Teilchen
Gottes, eingeschlossen in das von ihr, der Mutter, gebildete Fleisch; und
diese Seele als Teilchen Gottes stirbt nicht, und die Mutter wird ihr im
Himmel wiedergegeben, wenn sie an den wahren Gott glaubt. Dasselbe gilt auch
für euch. Betrachtet diese wunderbare Rose. Der Purpur der königlichen
Gewänder ist nicht so herrlich wie dieses Blütenblatt, das nicht nur das Auge
durch seine Farben erfreut, sondern auch den Tastsinn durch seine Zartheit und
den Geruchssinn durch seinen Duft. Betrachtet diese, und diese und auch diese.
Die erste ist das Blut eines Herzens, die zweite frisch gefallener Schnee, die
dritte zart schimmerndes Gold und die letzte scheint aus dem Kindergesicht,
das mir von meinem Schoß zulächelt, geschaffen. Und weiter: Die erste sitzt
steif auf einem kräftigen Stiel, fast ohne Dornen, und ihre rötlichen Blätter
sind wie mit Blut benetzt. Die zweite hat nur wenige kleine Dornen und matte,
fahle Blätter längs des Stiels. Der Stiel der dritten gleicht einer
geschmeidigen Binse und ihre kleinen glänzenden Blätter grünem Wachs. Die
letzte scheint mit ihrer Unzahl von Dornen jede Berührung ihrer rosaroten
Blüte verwehren zu wollen. Mit ihren äußerst scharfen Spitzen sieht sie aus
wie eine Feile. Nun überlegt einmal: Wer hat dies alles geschaffen ? Wie ?
Wann ? Wo ? Was wird dieser Ort im Dunkel der Zeit gewesen sein? Nichts. Ein
Wirbel gestaltloser Elemente.
Einer aber, Gott, sagte: "Ich
will" und die Elemente trennten sich und das eine ordnete sich im anderen; auf
dem neu gebildeten Planeten schied sich das Wasser von der Erde und das Licht
von der Luft. Noch ein "Ich will" und es entstanden die Pflanzen. Danach schuf
Gott die Sterne, dann die Tiere, und zuletzt den Menschen; und damit sich der
Mensch erfreue, schenkte er ihm, seinem bevorzugten Geschöpf, gleichsam als
wunderschöne Spiele, die Blumen und Gestirne; zuletzt verlieh er ihm das Glück
zu zeugen, nicht etwas Sterbliches, sondern etwas, das als besonderes Geschenk
Gottes den Tod überlebt: die Seele. Auch diese Rosen sind der Wille des
Vaters. Die Unendlichkeit seiner Macht erweist sich in der Unendlichkeit der
Schönheiten.
256
Meine Worte werden gehemmt, denn
sie stoßen auf den harten Widerstand eures Glaubens. Doch ich hoffe, daß wir
uns schon bei dieser ersten Begegnung ein wenig verstanden haben. Was ich euch
gesagt habe, möge nun in eurer Seele wirken. Habt ihr Fragen zu stellen, dann
tut es. Ich bin hier, um sie zu beantworten. Unkenntnis ist keine Schande.
Schande ist, in der Unkenntnis zu verharren, wenn jemand da und bereit ist,
die Zweifel zu klären.» Dann verläßt Jesus die Laube und hält dabei wie der
erfahrenste Vater das Kind an der Hand, das eben beginnt, die ersten
Schrittchen zu machen und zu einem Springbrunnen gehen will, der in der Sonne
schimmert. Die Damen bleiben wo sie sind und flüstern miteinander. Johanna,
zwischen zwei Wünschen hin- und hergerissen, steht am Eingang der Laube.
Endlich entschließt sich Lydia,
zu Jesus zu gehen, und die anderen folgen ihr. Dieser lacht herzlich, weil die
Kleine die sich im Wasser widerspiegelnde Sonne ergreifen will und trotz aller
Bemühungen nur ins Licht faßt, während sie mit ihren rosa Lippen wie ein Küken
piepst und damit ihren Willen zu erkennen gibt.
«Meister, ich habe nicht
verstanden, warum unsere Lehrer keine gute Lebensweise haben können, weil sie
ohne Gott sind. Sie glauben an den Olymp, aber sie glauben doch ...»
«Ihr Glaube ist nur noch
Äußerlichkeit. Solange sie wirklich glaubten, glaubten sie wie die wahren
Weisen an den Unbekannten, von dem ich gesprochen habe, an den Gott, der ihre
Seele zufriedenstellte, obwohl man es übersehen hatte, ihm einen Namen zu
geben. Solange sie ihre Gedanken auf dieses Wesen richteten, das weit über den
armseligen Göttern voll niederträchtiger Menschlichkeit, die ihnen das
Heidentum gegeben hatte, stand, spiegelten sie notwendigerweise ein wenig Gott
wider. Die Seele ist ein Spiegel, der widerspiegelt und ein Echo, das
widerhallt!»
«Was, Meister?»
«Gott.»
«Ein großes Wort!»
«Eine große Wahrheit!»
Valeria, bezaubert vom Gedanken
der Unsterblichkeit, fragt: «Meister, erkläre mir: wo ist die Seele meines
Kindes? Ich werde diese Stelle küssen wie ein Heiligtum und sie anbeten, denn
sie ist ein Teil Gottes.»
«Die Seele! Sie ist wie das
Licht, das deine kleine Faustina ergreifen möchte und nicht kann, denn es ist
körperlos; und doch existiert es. Ich, du und deine Freundinnen sehen es.
Ebenso ist die Seele in all dem sichtbar, was den Menschen vom Tier
unterscheidet. Wenn deine Kleine dir einmal ihre ersten Gedanken mitteilt,
dann denke, daß diese Intelligenz ihre Seele ist, die sich enthüllt. Wenn sie
dich liebt, nicht instinktiv, sondern bewußt, dann wisse, daß diese Liebe ihre
Seele ist. Wenn sie an deiner Seite in Schönheit heranwächst, nicht so sehr im
körperlichen als im