Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben
Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise
kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht
verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte.
Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es
ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle
stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu
halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte
Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren
Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.
Das Werk kann man hier
in Buchform erwerben:
Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch
Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
Band V:
Zweites Jahr des öffentlichen Lebens Jesu (Fortsetzung)
296. Syntyce die griechische Sklavin. S. 9
297. Der Abschied von Martha, Magdalena und Syntyche. S. 16
298. Jesus spricht über die Hoffnung. S. 23
299. Jesus begibt sich mit Jakobus des Alphäus auf den Karmel. S. 29
300. «Auf vollkommene Weise lieben, um heiligmässig Vorgesetzer zu sein». S.
32
301. «Nenne ihn Sohn, der dir Schmerzen verursacht». S. 41
302. Petrus predigt in Esdrelon: «Die Liebe ist das Heil. S. 50
303. Jesus spricht zu den Landarbeitern Jochanans:«Liebe ist Gehorsam». S. 57
304. Maria, die Hochheilige.«Mein Erbarmen ist stärker als alles». S. 61
305. «Das Gute tun ist ein stärkeres Gebet als die Psalmen». S. 71
306. Ein Tag Judas Iskarios in Nazareth. S. 74
307. Unterweisungen der Apostel zu Beginn des Apostolats. S. 84
308. «Bist Du der Messias?» fragen die Gesandten des Täufers. S. 95
309. Jesus arbeitet als Schreiner für eine Witwe von Chorazim. S. 104
310. «Die Liebe ist ein Geheimnis und das Gebot der Herrlichkeit». S. 107
311. «Das Herz ist nicht mehr beschnitten». S. 115
312. Der Tod Johannes des Täufers. S. 125
313. «Gehen wir nach Tarichäa». S. 132
314. Unterredung mit einem Schriftgelehrter. S. 137
315. Die erste Brotvermehrung. S. 141
316. Jesus wandelt auf dem Wasser. S. 146
317. «Wenn ihr Glauben habt, komme ich und bringe euch ausser Gefahr». S. 148
318. Begegnung mit den Jüngern. S. 152
319. Der Geiz und der törichte Reiche. S. 167
320. Im Garten Maria Magdalenas. S. 177
321. Jesus sendet die Zweiundsiebzig aus, ihn zu verkündigen. S. 182
322. Die Begegnung mit Lazarus im Lager der Galiläer. S. 186
323. Die Zweiundsiebzig Jünger berichten Jesus, was sie getan haben. S. 189
324. Im Tempel am Laubhüttenfest. S. 193
325. Joseph und Nikodemus berichten: Im Tempel weiss man von Johannes und
Syntyche. S. 208
326. Syntyche spricht im Haus des Lazarus. S. 214
327. Die Mission der vier Apostel in Judäa. S. 219
328. Jesus verlässt Bethanien, um sich auf die andere Seite des Jordan zu
begeben. S. 222
329. Der Kaufmann von jenseits des Euphrats. S. 229
330. Von Ramot nach Gerasa. S. 235
331. Die Predigt in Gerasa. S. 240
332. Der Sabbat in Gerasa. S. 246
333. Der Aufbruch von Gerasa. S. 252
334. Auf dem Weg nach Bozrah. S. 260
335. In Bozrah. S. 265
336. Die Predigt und die Wunder in Bozrah. S. 269
337. Der Abschied von den Jüngerinnen. S. 277
338. In Arbela. S. 280
339. Auf dem Weg nach Aera. S. 286
340. Jesus predigt in Aera. S. 293
341. Maria und Matthias. S. 296
342. «Nutzlos ist der Empfang der Sakramente, wenn die Liebe fehlt». S. 301
343. «Es gibt kein Elend, das Jesus nicht in Reichtum verwandeln könnte». S.
304
344. «Ich will, dass die Waisen eine Mutter haben». S. 306
345. Zu Naim im Haus des auferweckten Daniel. S. 312
346. Im Schafstall von Endor. S. 319
347. Von Endor nach Magdala. S. 322
348. Jesus am Lichtfest in Nazareth. S. 327
349. Jesus mit Johannes von Endor und Syntyche in Nazareth. S. 331
350. Jesus unterweist Margziam. S. 334
351. Simon der Zelote in Nazareth. S. 338
352. Ein Abend im Haus von Nazareth. S. 340
353. Jesus mit Salome, der Frau des Vetters Simon. S. 347
354. Vetter Simon kehrt zu Jesus zurück. S. 349
355. Simon Petrus in Nazareth; Der Grossmut Margziams. S. 355
356. «Nichts geht verloren in der heiligen Harmonie der universalen Liebe. S.
360
357. «Johannes von Endor, du wirst nach Antiochia gehen». S. 363
296. SYNTYCHE, DIE GRIECHISCHE
SKLAVIN
Ich sehe die Stadt Dora nicht.
Die Sonne geht unter, und die Wanderer sind auf dem Weg nach Caesarea. Den
Aufenthalt in Dora habe ich nicht gesehen. Vielleicht war es ein Aufenthalt
ohne ein bedeutendes Ereignis. Das Meer scheint in Flammen zu stehen. Es
spiegelt die Röte des Himmels wieder, ein unwirkliches Rot, so intensiv ist
es. Es sieht aus, als wäre Blut über das Himmelsgewölbe gegossen worden.
Es ist noch warm, doch die
Meeresluft macht diese Wärme erträglich. Sie wandern am Ufer entlang, um der
Hitze des trockenen Bodens zu entfliehen, und einige haben sich der Sandalen
entledigt und die Gewänder geschürzt, um im Wasser gehen zu können. Petrus
erklärt: «Wenn nicht die Jüngerinnen da wären, würde ich mich ausziehen und
bis zum Hals im Wasser gehen.»
Doch er muß heraus, denn
Magdalena, die mit den anderen vorausgegangen war, kehrt zurück und sagt:
«Meister, ich kenne diese Gegend. Siehst du, dort, wo das Meer einen
gelblichen Streifen in seinem Blau hat, mündet ein Fluß, auch in der
Sommerszeit, und man muß wissen, wie man ihn durchwatet ...»
«Wir haben schon viele
durchwatet! Er wird doch nicht so groß sein wie der Nil. Wir werden auch durch
diesen kommen», sagt Petrus.
«Es ist nicht der Nil. Aber in
seinen Gewässern und an seinen Ufern leben gefährliche Wassertiere. Man muß
sehr vorsichtig sein und darf nicht barfuß gehen, um nicht verletzt zu
werden.»
«Oh! Welche denn? Vielleicht
Ungeheuer?»
«Ja, so ist es, Simon! Es sind
Krokodile; kleine zwar, aber sie genügen, um dich für eine gute Weile am Gehen
zu hindern.»
«Und was tun sie hier?»
«Sie sind für den Kult
hergebracht worden, als die Phönizier hier herrschten, glaube ich. Sie sind
hier geblieben und wurden immer kleiner, aber nicht weniger aggressiv, seit
man sie aus den Tempeln in das schlammige Wasser brachte. Jetzt sind es große
Eidechsen mit scharfen Zähnen! Die Römer kommen zu Jagdpartien und
verschiedenen Belustigungen hierher... Auch ich bin mit ihnen hier gewesen.
Alles dient dazu, sich die Zeit zu vertreiben. Außerdem sind die Häute schön,
und sie werden für viele Zwecke verwendet. Erlaubt mir daher, daß ich meine
Erfahrung nütze und euch führe.»
«Gut! Ich möchte sie aber gerne
sehen ...» sagt Petrus.
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«Vielleicht werden wir eines der
Tiere sehen, obgleich sie durch die Jagd fast ausgerottet sind.»
Sie verlassen das Ufer und gehen
landeinwärts, bis sie auf halber Strecke zwischen Hügeln und Meer eine
Hauptstraße finden. Auf dieser gelangen sie bald zu einer stark gewölbten
Brücke, die über einen kleinen Fluß führt, der zwar ein breites Flußbett hat,
doch zurzeit nur in der Mitte ein wenig Wasser führt. Schilf und Rohrpflanzen,
die jetzt im Sommer halb verbrannt sind, bilden in anderen Jahreszeiten kleine
Inselchen im Wasser. An den Ufern wachsen Sträucher und dichtbelaubte Bäume.
So sehr sie auch Ausschau halten,
sie sehen kein einziges Tier, und viele sind darüber enttäuscht. Aber als sie
die Brücke schon fast überschritten haben, deren einziger Bogen sehr hoch ist,
vielleicht um in den Regenzeiten nicht von den Fluten überschwemmt zu werden –
ein starker, möglicherweise römischer Bau – stößt Martha einen schrillen
Schrei aus und fährt entsetzt zurück. Eine übergroße Eidechse, viel mehr
scheint es nicht zu sein, jedoch mit dem klassischen Krokodilkopf, ist dabei,
die Straße zu überqueren und stellt sich nun tot.
«Hab keine Angst!» ruft
Magdalena. «Wenn man sie sieht, besteht keine Gefahr. Schlimm ist es, wenn sie
verborgen sind und man unversehens auf sie tritt.»
Doch Martha hält sich
vorsichtigerweise zurück. Auch Susanna scherzt nicht ... Maria des Alphäus ist
mutiger bei aller Vorsicht, und da sie von ihren Söhnen begleitet wird, geht
sie etwas näher heran, um das häßliche Tier zu sehen. Die Apostel sind nicht
gerade ängstlich; sie schauen und machen ihre Bemerkungen über das Untier, das
sich herabläßt, langsam den Kopf zu wenden, um sich von vorne ansehen zu
lassen. Aber nun beginnt es sich zu bewegen und scheint auf die Störenfriede
zukommen zu wollen. Ein neuer Schrei Marthas, die, von Susanna und Maria des
Kleophas gefolgt, in den Hintergrund flieht. Maria Magdalena ergreift einen
Stein und wirft ihn auf das Tier, das, an der Seite getroffen, auf dem Kiesweg
davonläuft und im Wasser verschwindet.
«Komm her, du Angsthase. Es ist
weggerannt», sagt sie zu ihrer Schwester. Die Frauen kommen näher.
«Es ist wirklich häßlich»,
bemerkt Petrus.
«Ist es wahr, Meister, daß man
ihnen einst Menschenopfer vorgeworfen hat?» will Iskariot wissen.
«Es galt als heiliges Tier und
stellte eine Gottheit dar, und so wie wir unserem Gott ein Opfer darbringen,
so machten es auch die armen Götzendiener in ihrer irrigen Auffassung.»
«Aber jetzt wohl nicht mehr?»
fragt Susanna.
«Ich halte es nicht für
ausgeschlossen, daß es in heidnischen Gegenden noch geschieht», sagt Johannes
von Endor.
«Mein Gott, aber sie opfern ihnen
wohl Tote?»
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«Nein! Sie werden ihnen lebendig
vorgeworfen. Mädchen und Kinder besonders. Die Erstlinge des Volkes! Das
wenigstens habe ich gelesen», antwortet wiederum Johannes von Endor den
Frauen, die sich entsetzt ansehen.
«Ich würde schon vor Schrecken
sterben, wenn ich mich ihnen nähern müßte», sagt Martha.
«Wirklich? Aber dies hier ist
nichts im Vergleich zu einem echten Krokodil, das mindestens dreimal länger
und breiter ist.»
«Und auch hungriger. Dieses hier
war sicher schon satt von Schlangen und Hasen.»
«Barmherzigkeit! Auch Schlangen!
Wohin hast du uns nur geführt, Herr», jammert Martha, die so erschrocken ist,
daß eine unwiderstehliche Heiterkeit alle erfaßt.
Ermastheus, der die ganze Zeit
über geschwiegen hat, sagt: «Du brauchst keine Angst zu haben. Es genügt, Lärm
zu machen, und sie laufen alle weg. Ich habe Erfahrung. Ich bin öfters in
Unterägypten gewesen.»
Sie gehen weiter und klatschen in
die Hände oder schlagen gegen die Baumstämme, bis die gefährliche Stelle
überwunden ist.
Martha hat sich Jesus genähert
und fragt mehrmals: «Aber gibt es nun wirklich keine mehr?»
Jesus blickt sie an und schüttelt
lächelnd den Kopf, er beruhigt sie: «Die Ebene von Saron ist nur Schönheit,
und wir haben sie jetzt erreicht. Aber heute haben die Jüngerinnen mich
wirklich überrascht. Ich verstehe nicht, warum du so furchtsam bist.»
«Das weiß ich auch nicht. Aber
alles was kriecht und schleicht erschreckt mich. Mir ist, als ob ich die Kälte
dieser sicherlich schleimigen Tiere auf meiner Haut fühle. Und ich frage mich,
warum es sie überhaupt gibt. Sind sie denn notwendig?»
«Das müßte man den fragen, der
sie erschaffen hat. Aber glaube mir, wenn er sie gemacht hat, dann ist das ein
Zeichen dafür, daß sie zu etwas gut sind, und wenn sie auch nur dazu dienten,
den heldenhaften Mut der Martha zu bestätigen», sagt Jesus mit einem
schelmischen Augenzwinkern.
«Oh, Herr, du scherzest mit mir
und du hast recht. Aber ich habe einfach Angst und werde mich nie überwinden
können.»
«Das werden wir noch sehen... Was
bewegt sich dort im Gebüsch?» fragt Jesus und schaut aufmerksam nach vorne auf
ein Dorngestrüpp und sonstige Sträuchern mit langen Zweigen, die an einem
Mauerwerk mit Kaktuspflanzen emporklettern.
«Noch ein Krokodil, Herr ... ?»
jammert Martha entsetzt.
Aber das Rascheln wird lauter,
und das menschliche Gesicht einer Frau kommt zum Vorschein. Sie schaut umher.
Beim Anblick der vielen Menschen ist sie unschlüssig, ob sie fliehen oder sich
in diesem wilden Gebüsch
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verstecken soll. Doch der erste
Gedanke siegt, und mit einem Schrei flieht sie.
«Ist sie aussätzig? Oder
vielleicht wahnsinnig? Oder besessen?» fragt man sich bestürzt.
Doch die Frau kehrt zurück, denn
von Caesarea kommend nähert sich ein römischer Wagen. Die Frau ist wie eine
Maus in der Falle. Sie weiß nicht, wohin sie sich wenden soll, denn Jesus und
die Seinen sind nunmehr bei dem Gebüsch, das ihr Unterschlupf geboten hatte
und zu dem sie nicht zurückkehren kann, und in Richtung des Wagens will sie
nicht gehen... In der Abenddämmerung – die Nacht bricht nach einem
prachtvollen Sonnenuntergang rasch herein – kann man erkennen, daß sie noch
jung und hübsch ist, obwohl ihre Kleider zerrissen sind und ihr Haar zerzaust
ist.
«Frau, komm hierher», befiehlt
Jesus gebieterisch.
Die Frau streckt ihm flehend die
Arme entgegen: «Tue mir nichts Böses an!»
«Komm hierher. Wer bist du? Ich
will dir nichts Böses antun»; Jesus sagt es so sanft, daß sie sich überzeugen
läßt.
Die Frau nähert sich tiefgebeugt,
wirft sich zu Boden und sagt: «Wer immer du auch sein magst, habe Erbarmen mit
mir! Töte mich, doch liefere mich nicht meinem Herrn aus. Ich bin eine
entflohene Sklavin...»
«Wer war dein Herr? Und du, woher
kommst du? Sicher bist du keine Jüdin! Deine Art zu sprechen verrät es. Und
auch dein Gewand.»
«Ich bin Griechin. Die
griechische Sklavin des... Oh, Erbarmen, versteckt mich, der Wagen kommt
gefahren ...»
Alle scharen sich um die
Unglückliche, die am Boden kauert. Das von den Dornen zerrissene Gewand läßt
die mit Striemen und Kratzern bedeckten Schultern sehen. Der Wagen fährt
vorüber, ohne daß sich einer der Insassen um die Gruppe bei der Hecke kümmert.
«Sie sind weitergefahren. Rede
also! Wenn wir können, wollen wir dir helfen», sagt Jesus und legt seine
Fingerspitzen auf ihr zerzaustes Haar.
«Ich bin Syntyche, die
griechische Sklavin eines vornehmen Römers im Gefolge des Statthalters.»
«Dann bist du also die Sklavin
Valerians», ruft Maria von Magdala aus.
«Ach! Erbarmen, Erbarmen! Zeige
mich nicht bei ihm an», fleht die Unglückliche.
«Fürchte dich nicht. Ich werde
nie mehr mit Valerian sprechen», antwortet Magdalena. Und sie erklärt Jesus:
«Er ist einer der reichsten und unflätigsten Römer, die wir hier haben. Und er
ist ebenso schmutzig wie grausam!»
«Warum bist du geflohen?» fragt
Jesus.
«Weil ich eine Seele habe. Ich
bin keine Marktware... (Die Frau schöpft
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neuen Mut, da sie sieht, daß sie
barmherzige Menschen gefunden hat.) Ich bin keine Ware. Er hat mich gekauft,
das ist wahr. Aber er hat mich nur kaufen können, um sein Haus zu schmücken,
damit ich ihm die Stunden durch Vorlesen verschönere und ihm diene, aber sonst
nichts. Die Seele gehört mir. Sie ist nicht etwas, das man kauft. Er wollte
auch sie.»
«Woher weißt du, daß du eine
Seele hast?»
«Ich bin nicht ungebildet, Herr.
Ich bin eine Kriegsbeute seit meiner frühesten Jugend. Aber ich bin keine
Plebeierin. Valerian ist nun mein dritter Herr, und er ist ein schmutziges
Tier. Aber die Worte der Philosophen sind in meinem Gedächtnis geblieben und
ich weiß, daß wir nicht nur aus Fleisch bestehen; es ist auch etwas
Unsterbliches in uns. Etwas, wofür wir keinen richtigen Namen haben. Aber seit
einiger Zeit kenne ich auch den Namen. Eines Tages kam ein Mann nach Caesarea.
Er wirkte Wunder und sprach besser als Sokrates und Plato. Man hat viel über
ihn geredet in den Bädern und Palästen oder in den goldenen Säulenhallen, und
man hat seinen erhabenen Namen beschmutzt, indem man ihn in den Gemächern
unzüchtiger Orgien nannte. Und mein Herr hat mich, ausgerechnet mich, die ich
schon fühlte, daß ich etwas Unsterbliches besitze, das nur Gott gehört und
nicht als Ware auf dem Sklavenmarkt gekauft werden kann, die Werke der
Philosophen wieder vorlesen lassen, um Vergleiche anzustellen und zu sehen, ob
diese unbekannte Sache, die der Mann, der nach Caesarea gekommen ist, "Seele"
genannt hat, dort vielleicht beschrieben wird. Mich, mich hat er dies vorlesen
lassen! Mich, die er seiner Sinnlichkeit unterjochen wollte. Und so habe ich
erfahren, daß dieses Unsterbliche die Seele ist. Und während Valerian und
seine Gesinnungsgenossen mir zuhörten und zwischen Rülpsen und Gähnen zu
verstehen, zu vergleichen und zu diskutieren versuchten, verglich ich ihre
Reden, in denen sie den Unbekannten erwähnten, mit den Worten der Philosophen.
Ich nahm sie mir zu Herzen und fühlte ein immer stärker werdendes
Selbstbewußtsein in mir, so daß ich seine Annäherungsversuche zurückwies... Er
hat mich halb totgeschlagen, bis ich ihn mit meinen Zähnen vertrieben habe...
und anderentags geflohen bin...
Seit fünf Tagen lebe ich in
diesem Gestrüpp und sammle in der Nacht Brombeeren und Kaktusfeigen. Doch man
wird mich schließlich wieder einfangen. Man sucht mich bestimmt. Ich habe ihn
viel Geld gekostet und gefalle seiner Sinnlichkeit viel zu sehr, als daß er
mich laufen ließe... Habe Erbarmen! Du bist Jude und gewiß weißt du, wo er
sich befindet; darum bitte ich dich, führe mich zu ihm, zum Unbekannten, der
zu den Sklaven und über die Seele spricht. Man hat mir gesagt, er sei arm. Ich
werde hungern müssen, aber ich möchte in seiner Nähe sein, auf daß er mich
belehre und aufrichte. Wenn man unter Bestien leben muß, wird man selbst zum
Tier, auch wenn man sich gegen sie wehrt. Ich möchte wieder meine menschliche
Würde zurückgewinnen.»
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«Dieser Mann, der Unbekannte, den
du suchst, steht vor dir!»
«Du? O unbekannter Gott der
Akropolis, sei gegrüßt!» und sie verbeugt sich, bis ihre Stirn den Boden
berührt.
«Hier kannst du nicht bleiben.
Aber ich gehe nach Caesarea...»
«Laß mich nicht allein, Herr!»
«Ich verlasse dich nicht... Ich
denke...»
«Meister, unser Wagen ist gewiß
am verabredeten Ort und wartet dort. Schicke jemanden hin, um sie zu
benachrichtigen. Auf dem Wagen wird sie in Sicherheit sein, wie in unserem
Haus», schlägt Maria Magdalena vor.
«O ja, Herr! Zu uns! Anstelle des
alten Ismael. Wir werden sie in deiner Lehre unterweisen. Sie wird dem
Heidentum entrissen werden», bittet Martha.
«Willst du mit uns kommen?» fragt
Jesus.
«Mit jedem von den Deinen, nur
nicht mehr zu ihm. Aber... hier hat eine Frau gesagt, daß sie ihn kennt? Wird
sie mich nicht verraten? Werden in ihr Haus nicht Römer kommen? Nein?»
«Habe keine Angst. Nach Bethanien
kommen keine Römer, und erst recht nicht "solche"», versichert Magdalena.
«Simon und Simon Petrus, geht und
sucht den Wagen. Wir warten hier auf euch. Wir werden später in die Stadt
gehen», befiehlt Jesus.
Als der schwere, überdeckte Wagen
sich durch den Lärm der Hufe und der Räder und die von seinem Dach baumelnde
Laterne ankündigt, erheben sich die am Gestade Wartenden, wo sie ihre
Abendmahlzeit eingenommen haben, und begeben sich auf die Straße.
Der Wagen hält schwankend am Rand
der holperigen Straße, und Simon und Petrus steigen aus, gefolgt von einer
älteren Frau, die sofort herbeieilt, um Magdalena mit den Worten zu umarmen:
«Keinen Augenblick, keinen Augenblick will ich versäumen, dir zu sagen, daß
ich glücklich bin; daß deine Mutter mit mir jubelt, weil du wieder die blonde
Rose unseres Hauses bist wie damals, als du in der Wiege schliefst, nachdem du
an meiner Brust gesogen hattest», und sie küßt und umarmt sie immer wieder.
Maria weint in ihren Armen.
«Frau, ich vertraue dir diese
junge Frau an, und ich erbitte von dir das Opfer, die ganze Nacht hier zu
warten. Morgen kannst du zum ersten Dorf an der Staatsstraße gehen und dort
warten. Wir werden um die dritte Stunde kommen», sagt Jesus zur Amme.
«Alles geschehe nach deinem
Willen! Gesegnet seist du! Erlaube mir nur, daß ich Maria die Kleider gebe,
die ich für sie mitgebracht habe.»
Und sie steigt wieder auf den
Wagen, gefolgt von der heiligen Jungfrau
14
Maria, Maria und Martha. Als sie
wegfahren, ist Magdalena so, wie wir sie in Zukunft immer sehen werden: mit
einem einfachen Gewand, einem weißen, dünnen Linnen als Schleier und einem
schmucklosen Mantel bekleidet.
«Geh auch du ganz beruhigt,
Syntyche. Morgen werden auch wir kommen. Leb wohl», grüßt Jesus. Und er geht
den Weg nach Caesarea weiter...
Am Strand ist viel Volk, das im
Licht der von Sklaven getragenen Fackeln und Laternen flaniert und die kühle
Luft genießt, die vom Meer kommt und die von der sommerlichen Schwüle
ermüdeten Lungen erfrischt. Die Spaziergänger gehören zur Klasse der reichen
Römer. Die Hebräer haben sich in ihre Häuser eingeschlossen und genießen die
Frische auf den Dächern. Der Strand gleicht einem grandiosen Empfangssaal zur
Besuchszeit. Wer hier wandelt, wird genau beobachtet und kritisiert.
Jesus aber geht den Strand
entlang... von einem Ende zum anderen. Er kümmert sich nicht um die
Bemerkungen und das Gelächter der Beobachter.
«Meister, du hier? Zu dieser
Stunde?» fragt Lydia, die in einer Sänfte sitzt, die die Sklaven am
Straßenrand abgestellt haben. Sie steht auf.
«Ich komme von Dora und habe mich
etwas verspätet. Ich bin auf der Suche nach einer Unterkunft.»
«Ich möchte dir sagen: "Hier ist
mein Haus"», und sie weist auf ein schönes Gebäude hinter ihm. «Aber ich weiß
nicht, ob...»
«Nein, ich danke dir, aber ich
kann nicht annehmen. Ich habe noch andere bei mir; zwei sind schon
vorausgegangen, um Bekannte zu benachrichtigen. Ich denke, daß sie mich
aufnehmen werden.»
Die Augen Lydias ruhen auch auf
den Frauen, auf die, zusammen mit den Jüngern, Jesus gezeigt hat; sie
entdecken Magdalena sofort.
«Maria? Du? Dann ist es also
wahr?»
Maria von Magdala hat den
angstvollen Blick einer eingekreisten gequälten Gazelle. Man kann es ihr nicht
übelnehmen, denn sie hat nicht nur Lydias Augen zu ertragen, sondern noch
viele, viele andere, die sie betrachten. Aber auch Jesus blickt auf sie, und
das gibt ihr Mut.
«Es ist wahr!»
«So haben wir dich also
verloren?»
«Nein, ihr habt mich gefunden.
Wenigstens hoffe ich, euch eines Tages in einer besseren Freundschaft auf dem
Weg, den ich endlich eingeschlagen habe, wiederzufinden. Sage es, bitte,
allen, die mich kennen! Leb wohl, Lydia. Vergiß alles Böse, das du mich hast
tun sehen. Ich bitte dich dafür um Verzeihung...»
«Aber Maria! Warum erniedrigst du
dich so? Wir haben das gleiche Leben als Reiche und Müßiggänger geführt, und
es gibt ...»
«Nein, ich habe ein schlimmeres
Leben geführt. Aber ich habe mich davon losgesagt, und für immer.»
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«ich grüße dich, Lydia», sagt der
Herr und begibt sich zu seinem Vetter Judas, der mit Thomas auf ihn zukommt.
Lydia hält Magdalena noch einen
Augenblick zurück: «Sage mir die Wahrheit, jetzt, da wir unter uns sind. Bist
du wirklich überzeugt?»
«Nicht nur überzeugt: glücklich,
Jüngerin zu sein! Ich bedauere nur eines: daß ich das Licht nicht früher
erkannt und mich von Schlamm genährt habe, anstatt von ihm. Leb wohl, Lydia
...»
Die Antwort tönt hell und klar in
der Stille, die sich um die beiden Frauen gebildet hat. Keiner der vielen
Anwesenden spricht mehr...
Maria wendet sich um und sucht
eilends den Meister einzuholen.
Ein junger Mann stellt sich vor
sie hin: «Ist das deine letzte Narretei?» fragt er und tut, als wolle er sie
umarmen. Aber halbbetrunken wie er ist, gelingt ihm dies nicht, und Maria
entflieht ihm und ruft aus: «Nein, es ist meine einzige Weisheit!»
Sie erreicht die anderen
Jüngerinnen, die sich eingemummt haben wie Mohammedanerinnen, so sehr ekelt es
sie an, von diesen lasterhaften Menschen gesehen zu werden.
«Maria», sagt Martha zaghaft,
«hast du sehr gelitten?»
«Nein. Er hat recht, jetzt werde
ich nicht mehr wegen dieser Sache leiden. Er hat recht...»
Alle biegen nun in eine dunkle
Gasse ein, um alsdann in ein großes Haus zu gehen; gewiß eine Herberge, in der
sie die Nacht verbringen.
297. DER ABSCHIED VON MARTHA,
MAGDALENA UND SYNTYCHE
Sie sind wiederum unterwegs und
wenden sich nach Osten der Ebene
ZU.
Jetzt sind die Apostel und die
beiden Jünger mit Maria Kleophä und Susanna einige Meter hinter Jesus, der mit
seiner Mutter und den beiden Schwestern des Lazarus vorausgeht. Jesus spricht
ohne zu ermüden, die Apostel jedoch schweigen. Sie scheinen müde oder
entmutigt zu sein. Nicht einmal die Schönheit der wirklich herrlichen
Landschaft berührt sie. Diese Gegend mit ihren leichten Wellen, die auf die
Ebene geworfen sind wie Polster zu Füßen eines riesigen Königs, mit ihren
Hügeln, die sich da und dort nur einige Meter hoch erheben und die
Gebirgskette des Karmels und Samarias ankündigen, ist wirklich voller Pracht.
Sowohl in der Ebene, welche die Gegend beherrscht, als auch auf den schmucken
kleinen Hügeln ist alles ein Blühen der Wiesen und ein Reifen der Früchte. Die
Gärten müssen trotz der Lage und der Jahreszeit gut bewässert sein, denn alles
gedeiht in einer Üppigkeit, die ohne genügend Wasser unvorstellbar
16
wäre. Nun verstehe ich, weshalb
die Ebene von Saron in der heiligen Schrift so oft mit Begeisterung genannt
wird. Aber die Apostel teilen diese Begeisterung in keiner Weise und gehen
bedrückt einher. Sie sind die einzigen, die an diesem heiteren Tag und an
dieser lachenden Küste betrübte Gesichter machen.
Die sehr gut gepflegte
Staatsstraße durchschneidet mit ihrem weißen Band diese äußerst fruchtbare
Gegend, und da es noch früh am Morgen ist, begegnet man oft Bauern, die mit
Lebensmitteln beladen sind, oder Reisenden, die sich nach Caesarea begeben.
Einer, der die Apostel mit einer Reihe Packesel einholt und sie zwingt, auf
die Seite zu gehen, um der Eselkarawane Platz zu machen, fragt mit Arroganz:
«Ist hier der Kischon?»
«Weiter hinten», gibt Thomas
trocken zur Antwort und zischt zwischen den Zähnen: «Du Grobian!»
«Er ist ein Samariter, und das
sagt genug!» antwortet Philippus.
Dann verfallen sie wieder in
Schweigen. Nach einigen Metern sagt Petrus, als beende er ein Selbstgespräch:
«Für das, was es uns eingebracht hat, war es der Mühe wert, einen solchen Weg
zurückzulegen!»
«Das stimmt! Warum sind wir
eigentlich nach Caesarea gegangen, wo er doch kein einziges Wort gesprochen
hat? Ich glaubte, er würde dort ein eindrucksvolles Wunder wirken, um die
Römer zu überzeugen. Aber...»sagt Jakobus des Zebedäus.
«Er hat uns an den Pranger
gestellt, das ist alles», erklärt Thomas, und Iskariot fügt hinzu: «Er hat uns
leiden lassen. Aber ihm gefallen die Beleidigungen, und er meint, sie gefallen
uns auch.»
«Wer in diesem Fall wirklich
gelitten hat, ist Maria des Theophilus», bemerkt der Zelote mit ruhiger
Stimme.
«Maria, Maria! Ist diese Maria
denn zum Mittelpunkt des Weltalls geworden? Nur sie leidet; nur sie ist
heroisch; nur sie muß unterrichtet werden. Wenn ich das gewußt hätte, dann
wäre ich ein Dieb oder Mörder geworden, um Gegenstand von so viel
Aufmerksamkeit zu sein», fährt Iskariot auf.
«Das letztemal, als wir in
Caesarea waren und er ein Wunder gewirkt und die Botschaft verkündet hat,
haben wir ihn durch unsere Unzufriedenheit über das, was er getan hatte,
betrübt», bemerkt der Vetter des Herrn.
«Wir wissen eben nicht, was wir
wollen... Macht er es so, dann brummen wir; tut er das Gegenteil, dann murren
wir ebenfalls. Wir sind voller Fehler», sagt Johannes ernst.
«Oh, schaut ihn an, der andere
Weise spricht! Sicher ist, daß wir schon seit geraumer Zeit nichts Gutes
zustande bringen.»
«Nichts, Judas? Aber jene
Griechin, Ermastheus, Abel, Maria und...»
«Mit diesen Nullen wird er das
Reich nicht errichten können», gibt
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Judas zurück, der von der
Vorstellung eines irdischen Triumphes besessen ist.
«Judas, ich bitte dich,
verurteile die Werke meines Bruders nicht. Das ist eine lächerliche Anmaßung.
Ein Kind, das seinen Lehrer verurteilen will, um nicht zu sagen: eine Null,
die sich überheben will», sagt Judas Thaddäus, der zwar sein Namensvetter ist,
aber eine unüberwindliche Abneigung gegen ihn hat.
«Ich danke dir, daß du dich damit
begnügt hast, mich Kindskopf zu nennen. Wahrlich, nachdem ich so lange im
Tempel gelebt habe, hoffte ich, doch wenigstens für erwachsen gehalten zu
werden», antwortet Iskariot sarkastisch.
«Oh, wie unerträglich sind diese
Streitereien!» seufzt Andreas.
«Wirklich! Anstatt uns bei
längerem Zusammenleben näherzukommen, trennen wir uns mehr und mehr. Wenn ich
bedenke, daß er in Sycaminon sagte, daß wir eine große Herde bilden müssen;
wie erreichen wir das, wenn wir uns sogar unter uns Hirten streiten?» bemerkt
Matthäus.
«Man darf also über nichts mehr
sprechen? Nie unsere Gedanken eröffnen? Wir sind doch keine Sklaven, meine
ich.»
«Nein, Judas, wir sind keine
Sklaven. Aber wir sind unwürdig, ihm zu folgen, weil wir ihn nicht verstehen»,
sagt der Zelote ruhig.
«Ich verstehe ihn sehr gut.»
«Nein, du verstehst ihn nicht,
und mit dir verstehen ihn mehr oder weniger alle nicht, die ihn kritisieren.
Verstehen bedeutet, ohne Widerspruch gehorchen, weil man von der Heiligkeit
dessen, der führt, überzeugt ist», sagt wieder Simon der Zelote.
«Ach so! Du beziehst dich auf
seine Heiligkeit. Ich sprach von seinen Reden. Seine Heiligkeit ist
unbestritten und unantastbar», sagt Iskariot rasch.
«Kannst du das eine vom anderen
trennen? Ein Heiliger wird immer im Besitz der Weisheit sein, und seine Worte
werden weise sein.»
«Das stimmt. Doch er macht
schädliche Äußerungen. Gewiß wegen seiner allzu großen Heiligkeit. Das gebe
ich zu. Doch die Welt ist nicht heilig, und er schafft sich
Unannehmlichkeiten. Der Philister und die Griechin zum Beispiel, glaubst du,
daß sie uns etwas nützen?»
«Aber wenn ich euch schade, ziehe
ich mich zurück», sagt Ermastheus beschämt. «Ich war gekommen, um ihn zu ehren
und Gutes zu tun.»
«Du würdest ihm Schmerz bereiten,
wenn du ihn aus diesem Grund verlassen würdest», antwortet ihm Jakobus des
Alphäus.
«Ich werde vorgeben, daß ich es
mir anders überlegt habe. Ich will mich sogleich von ihm verabschieden... und
weggehen.»
«Auf keinen Fall! Du darfst nicht
fortgehen. Es ist nicht recht, daß der Meister wegen der Nervosität eines
anderen einen guten Jünger verliert», platzt Petrus heraus.
18
«Aber wenn er wegen so einer
Kleinigkeit weglaufen will, ist das ein Zeichen dafür, daß er nicht weiß, was
er will. Laß ihn also ruhig gehen», entgegnet Judas Iskariot.
Petrus verliert die Geduld: «Ich
habe ihm versprochen, als er mir Margziam übergab, allen gegenüber väterlich
zu werden, und ich bedaure, dieses Versprechen nicht einzuhalten. Aber du
bringst mich dazu! Ermastheus ist hier und bleibt hier. Weißt du, was ich dir
sagen muß? Daß du derjenige bist, der den Willen der anderen beeinträchtigt
und sie unsicher werden läßt. Du bist einer, der Trennung und Unordnung
verursacht. Das bist du. Schäme dich dessen!»
«Was bist denn du? Der Beschützer
der...»
«Jawohl, mein Herr, genau das!
Ich weiß schon, was du sagen willst: Der Beschützer der Verschleierten, der
Beschützer des Johannes von Endor, der Beschützer des Ermastheus, der
Beschützer jener Sklavin, der Beschützer vieler anderer, die Jesus gefunden
hat und die keine so prächtigen und pfauenhaften Exemplare des Tempels sind;
die nicht aus dem heiligen Mörtel und den Spinnweben des Tempels
hervorgegangen sind; die nicht von Ölrückständen schwelende Dochte der
Tempellampen sind, die dir ähnlich sind. Um das Gleichnis deutlicher zu sagen:
Wenn der Tempel auch viel bedeutet, so ist der Meister – wenn ich kein Trottel
bin – mehr als der Tempel, und du fehlst ihm gegenüber.» Petrus schreit so
laut, daß Jesus anhält, sich umdreht und sich anschickt zurückzugehen, indem
er die Frauen alleinläßt.
«Er hat es gehört! Nun wird er
betrübt sein!» sagt der Apostel Johannes.
«Nein, Meister! Du brauchst nicht
zu kommen. Wir haben diskutiert, um uns die Langeweile zu vertreiben», sagt
Thomas prompt.
Aber Jesus bleibt stehen, so daß
sie ihn einholen.
«Über was habt ihr denn
diskutiert? Noch einmal muß ich euch sagen, daß die Frauen euch übertreffen!»
Der sanfte Vorwurf berührt die Herzen aller. Sie schweigen und senken die
Köpfe.
«Freunde, Freunde! Seid nicht
Ursache des Ärgernisses für jene, die erst jetzt dem Licht geboren werden!
Wißt ihr nicht, daß bei der Bekehrung eines Heiden oder Sünders eine
Unvollkommenheit eurerseits mehr Schaden verursacht als alle Irrtümer des
Heidentums?»
Niemand antwortet, denn sie
wissen nicht, was sie sagen sollen, um sich zu rechtfertigen oder nicht
anzuklagen.
An einer Brücke über einen
ausgetrockneten Bach steht der Wagen der Schwestern des Lazarus. Die beiden
Pferde weiden im dichten Gras am Ufer des Bachs, der wohl erst vor kurzem
ausgetrocknet ist; denn die Ufer sind dicht mit Gras bewachsen. Der Diener
Marthas und ein anderer, vielleicht der Wagenlenker, liegen auf dem Kies,
während die Frauen im geschlossenen Wagen sind, der mit einer schweren Decke
aus gegerbten Fellen
19
bedeckt ist, die wie ein dicker
Vorhang bis zum Boden des Wagens reicht. Die Jüngerinnen eilen auf den Wagen
zu, und der Diener, der sie zuerst sieht, macht die Amme darauf aufmerksam,
während der andere sich beeilt, die Pferde wieder anzuschirren.
Der Diener eilt zu seiner Herrin
und verneigt sich bis zur Erde. Die alte Amme, eine schöne Frau mit
olivfarbiger, aber anmutiger Haut, steigt rasch aus und geht zu den Herrinnen.
Aber Maria von Magdala flüstert
ihr etwas zu, und sie wendet sich sofort zur Jungfrau und sagt: «Verzeihe...
Aber die Freude, sie wiederzusehen, ist so groß, daß ich nur sie sehe. Komm,
Gesegnete! Die Sonne brennt. Im Wagen ist es schattig.»
In Erwartung der Männer, die weit
zurückgeblieben sind, steigen sie alle in den Wagen. Während sie warten und
Syntyche, nun in dem Gewand, das gestern Magdalena trug, die Füße ihrer
Herrinnen küßt – so nennt sie sie hartnäckig, obwohl ihr gesagt wurde, daß sie
weder ihre Dienerin noch ihre Sklavin sei, sondern ein Gast im Namen Jesu –
zeigt die Jungfrau das kostbare Purpurbündel und fragt, wie man diese kurzen
Fäden spinnt, deren Beschaffenheit Feuchtigkeit und Zwirnen nicht verträgt.
«Man verwendet sie nicht so, wie
sie sind, Frau. Sie werden zu Pulver zerstampft und wie jede andere Farbe
verwendet. Es ist der Schleim einer Muschel, es sind nicht Haare oder Fasern.
Siehst du, wie brüchig die Fäden werden, wenn sie trocken sind. Zerreibe sie
zu feinem Pulver und achte darauf, daß nicht ein längeres Stück das Garn oder
den Stoff fleckig macht. Am besten färbst du das Gespinst in Strähnen. Wenn du
sicher bist, daß alles pulverisiert ist, löse es auf, wie man es mit der
Koschenille oder dem Safran oder dem Indigopulver macht, oder mit anderen
Farben von Rinden, Wurzeln oder Früchten, und verwende es so. Die Farbe machst
du mit starkem Essig im letzten Spülwasser haltbar.»
«Danke, Noemi! Ich werde es so
machen, wie du mich gelehrt hast. Ich habe mit Purpurfäden gestickt, aber ich
habe sie schon gebrauchsfertig erhalten... Da kommt Jesus. Es wird Zeit,
Abschied zu nehmen, meine Töchter! Ich segne euch alle im Namen des Herrn!
Geht in Frieden und bringt Lazarus Frieden und Freude.
Leb wohl, Maria! Erinnere dich,
daß du an meiner Brust die ersten seligen Tränen geweint hast. Daher bin ich
dir Mutter; denn ein Kind weint seine ersten Tränen an der Brust seiner
Mutter. Ich bin dir Mutter und werde es immer bleiben. Was du auch der
liebsten deiner Schwestern und der liebevollsten der Ammen nicht sagen willst,
komm und sage es mir! Ich werde dich immer verstehen. Was du meinem Jesus
nicht zu sagen wagst, weil du noch in deinem Menschsein befangen bist, was er
gerade bei dir nicht will, sage es mir! Ich werde dich immer verstehen. Und
wenn du mir auch von deinen Triumphen erzählst – doch, diese schenke lieber
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ihm als duftende Rosen, denn er
ist dein Erlöser, nicht ich – werde ich mich mit dir freuen.
Leb wohl, Martha! Jetzt gehst du
freudig fort, und in dieser übernatürlichen Freude wirst du verbleiben. Du
brauchst also nichts weiter als Fortschritte machen in der Gerechtigkeit,
inmitten des Friedens, den in dir nichts mehr trüben kann. Tue es aus Liebe zu
Jesus, der dich so sehr geliebt hat, um jene, die du liebst, vollkommen zu
lieben.
Leb wohl, Noemi! Geh hin mit
deinem wiedergefundenen Schatz. Wie du sie mit Milch genährt hast, so laß nun
dich mit den Worten nähren, die sie und Martha dir sagen werden, damit du
eines Tages in meinem Sohn viel mehr siehst als nur einen Exorzisten, der die
Herzen vom Bösen befreit.
Leb wohl, Syntyche, Blume aus
Griechenland, die du es ganz alleine in dir verspürt hast, daß es etwas
Höheres als das Fleisch gibt. Jetzt wirst du in Gott erblühen, und sei du die
erste der neuen Blumen Christi aus Griechenland.
Ich freue mich sehr, euch so
vereint, wie ihr es seid, zu verlassen. Ich segne euch mit Liebe!»
Das Scharren der Tritte ist nun
schon ganz nahe.
Sie heben das schwere Zelttuch
und sehen, daß Jesus nur noch einige Meter vom Wagen entfernt ist. Sie treten
in die heiße Sonnenglut auf die Straße hinaus.
Maria von Magdala kniet zu Füßen
Jesu nieder und sagt: «Ich danke dir für alles! Und besonders auch dafür, daß
ich diese Pilgerfahrt machen durfte. Du allein hast Weisheit. Nun reise ich
ab, frei von den Überbleibseln der Maria vergangener Zeiten. Segne mich, Herr,
damit ich immer stärker werde!»
«Ja, ich segne dich! Freue dich
an den Brüdern, und mit den Brüdern bilde dich stets nach mir. Leb wohl,
Maria! Leb wohl, Martha! Sage Lazarus, daß ich ihn segne. Ich vertraue euch
diese Frau an. Ich schenke sie euch nicht. Sie ist meine Jüngerin. Doch ich
möchte, daß sie durch euch ein Minimum meiner Lehre kennenlernt. Später werde
ich kommen. Noemi, ich segne dich, und auch euch beide!»
Maria und Martha haben Tränen in
den Augen. Der Zelote grüßt sie besonders herzlich und gibt ihnen ein
Schreiben mit für seinen Diener. Die anderen werden sie alle zusammen grüßen.
Dann setzt sich der Wagen in Bewegung.
«Und nun wollen wir nach Schatten
suchen. Gott möge sie begleiten... Tut es dir sehr leid, Maria, daß sie
fortgegangen sind?» fragt er Maria des Alphäus, die ganz leise weint.
«Ja, sie waren so gut!»
«Wir werden sie bald wieder
treffen. Dann werden wir noch zahlreicher sein. Du wirst viele Schwestern
haben... oder Töchter, wenn dir das besser
21
gefällt. Alles ist Liebe, sowohl
die mütterliche als auch die schwesterliche Liebe», tröstet sie Jesus.
«Wenn dies nur keine
Schwierigkeiten bereitet», murmelt Iskariot.
«Die Liebe bereitet
Unannehmlichkeiten?»
«Nein, die Personen anderer
Rassen und anderer Stände sind unangenehm.»
«Meinst du Syntyche?»
«Ja, Meister. Schließlich gehörte
sie einem Römer, und sie in Besitz zu nehmen ist nicht gut. Er wird gegen uns
aufgebracht sein, und wir werden es mit Pontius Pilatus und seiner Härte zu
tun bekommen.»
«Aber was hat denn Pilatus damit
zu tun, wenn einer seiner Untertanen eine Sklavin verliert? Er wird schon
wissen, welchen Wert sie hat. Und wenn er nur einigermaßen redlich ist, wie
man von ihm sagt, in der Familie wenigstens, wird er finden, daß diese Frau
gut daran getan hat, zu fliehen. Wenn er aber unredlich ist, wird er sagen:
"Es geschieht dir recht. Aber vielleicht finde ich sie." Die Unredlichen haben
kein Gefühl für den Schmerz anderer. Und außerdem, armer Pontius! Mit all dem
Ärger, den wir ihm bereiten, hat er keine Zeit, sich mit den Klagen eines
Mannes abzugeben, der sich eine Sklavin hat entschlüpfen lassen!» sagt Petrus.
Und fast alle geben ihm recht und lachen über die Wutausbrüche des unzüchtigen
Römers.
Aber Jesus leitet das Gespräch
auf eine höhere Ebene. «Judas, kennst du das Deuteronomium?»
«Gewiß, Meister! Und ich zögere
nicht, zu sagen, daß nur wenige es kennen.»
«Wie urteilst du darüber?»
«Ich halte es für das Sprachrohr
Gottes.»
«Das Sprachrohr. Also das Echo
des Wortes Gottes?»
«Genau so!»
«Du hast richtig geurteilt. Aber
warum glaubst du dann nicht, daß es gut ist, das zu tun, was es gebietet?»
«Das habe ich nie gesagt. Im
Gegenteil! Ich finde, wir übertreten es zu sehr, indem wir das neue Gesetz
befolgen.»
«Das neue Gesetz ist die Frucht
des alten, das heißt, die erreichte Vollkommenheit des Glaubensbaumes. Aber
niemand unter uns vernachlässigt es. Was mich betrifft, so bin ich der erste,
der es beachtet und verhindert, daß andere es außerachtlassen.» Jesus betont
diese Worte ausdrücklich. Dann fährt er fort: «Das Deuteronomium ist
unantastbar. Auch wenn mein Reich triumphiert, und mit meinem Reich das neue
Gesetz mit seinen neuen Gesetzesbüchern und Satzungen, wird es immer auf die
neuen Gebote angewandt werden, so wie man die guten Quadersteine antiker
Gebäude für neue gebraucht, weil es perfekte Steine sind, die starke Mauern
ergeben. Aber mein Reich ist noch nicht gekommen, und ich,
22
als getreuer Israelit, verstoße
nicht gegen das Buch des Moses. Es bildet die Grundlage meiner Handlungen und
meiner Lehre. Auf dieser Grundlage baut der Sohn des Vaters als Mensch und
Meister die himmlischen Gebäude seiner Natur und Weisheit auf.
Im Deuteronomium heißt es: "Du
sollst dem Herrn den entflohenen Sklaven nicht ausliefern, der bei dir Schutz
gesucht hat. Er soll bei dir wohnen, solange es ihm gefällt, und in einer
deiner Städte Ruhe finden, und du sollst ihn nicht betrüben." Dies in dem
Falle, daß jemand durch unmenschliche Behandlung zur Flucht veranlaßt wird. In
meinem Falle, im Falle der Syntyche, ist es nicht die Flucht in eine begrenzte
Freiheit, sondern die Flucht in die unbegrenzte Freiheit des Sohnes Gottes.
Und du willst, daß ich der Lerche, die der Schlinge der Jäger entflohen ist,
aufs neue ein Netz spanne und sie in ihr Gefängnis zurückführe, um sie nach
der Freiheit auch der Hoffnung zu berauben. Nein, niemals! Ich preise Gott,
denn wie die Reise nach Endor dem Vater einen Sohn eingebracht hat, so hat mir
die Reise nach Caesarea dieses Geschöpf zugeführt, damit ich es dem Vater
bringe.
In Sycaminon habe ich euch von
der Macht des Glaubens gesprochen. Heute werde ich zu euch über das Licht der
Hoffnung sprechen. Aber jetzt wollen wir in diesem dichten Obstgarten
verweilen, um etwas zu essen und uns auszuruhen, denn die Sonne brennt, als ob
sich die Hölle geöffnet hätte.»
298. JESUS SPRICHT ÜBER DIE
HOFFNUNG
Einige Winzer kommen mit Körben
voll goldgelber Trauben, die aus Bernstein gemacht scheinen, durch den
Obstgarten und fragen die Apostel: «Seid ihr Pilger oder Fremde?»
«Wir sind Galiläer und pilgern
zum Karmel», antwortet Jakobus des Zebedäus, der mit den Fischerfreunden die
Beine reckt, um einen Rest von Schläfrigkeit zu überwinden, für alle. Iskariot
und Matthäus erwachen soeben im Gras, in das sie sich gelegt hatten; die
älteren hingegen sind müde und schlafen noch. Jesus spricht mit Johannes von
Endor und Ermastheus, während Maria und Maria des Kleophas in der Nähe sind,
aber schweigen.
Die Winzer fragen: «Kommt ihr von
weit her?»
«Von Caesarea, unserem letzten
Aufenthalt. Doch zuvor sind wir in Sycaminon und in noch weiter entfernten
Städten gewesen. Wir kommen aus Kapharnaum.»
«Oh! Welch ein weiter Weg in
dieser Jahreszeit! Warum seid ihr nicht in unser Haus gekommen? Dort ist es,
seht ihr es? Wir hätten euch kühles
23
Wasser zur Erfrischung eurer
Glieder und Nahrung gegeben; ländliche zwar, aber gute. Kommt doch jetzt!»
«Wir sind dabei aufzubrechen.
Gott möge es euch trotzdem vergelten.»
«Der Karmel flieht nicht auf
einem feurigen Wagen wie sein Prophet», sagt ein Bauer halb ernst.
«Es kommt kein Wagen mehr vom
Himmel, um die Propheten zu entführen. Es gibt keine Propheten mehr in Israel.
Man sagt, daß Johannes schon tot sei», sagt ein anderer Bauer.
«Tot? Seit wann denn?»
«Reisende aus Transjordanien
haben es uns erzählt. Habt ihr ihn verehrt?»
«Wir waren seine Jünger!»
«Warum habt ihr ihn verlassen?»
«Um dem Lamm Gottes zu folgen,
dem Messias, den er angekündigt hat. Dieser ist immer noch in Israel, ihr
Männer! Und mehr als ein feuriger Wagen wäre notwendig, ihn würdig in den
Himmel zu führen! Glaubt ihr nicht an den Messias?»
«Und ob wir glauben! Wir haben
uns vorgenommen, ihn nach der Ernte aufzusuchen. Man sagt, daß er dem Gesetz
treu ergeben ist und an den vorgeschriebenen Feiertagen den Tempel aufsucht.
Wir werden bald zum Laubhüttenfest reisen und dann jeden Tag im Tempel auf ihn
warten, um ihn zu sehen. Wenn wir ihn nicht finden, werden wir auf die Suche
gehen, bis wir ihn gefunden haben. Ihr, die ihr ihn kennt, sagt uns: ist es
wahr, daß er sich fast immer in Kapharnaum aufhält? Ist es wahr, daß er
hochgewachsen, jung, bleich und blond ist und eine Stimme hat, die anders ist
als die aller anderen Menschen, die die Herzen rührt und die sogar Tiere und
Pflanzen hören?»
«Alle mit Ausnahme der Herzen der
Pharisäer, Gamala. Sie sind die verstocktesten.»
«Sie sind nicht einmal Tiere. Sie
sind Dämonen, jener eingeschlossen, dessen Name ich trage. Aber sagt: Ist es
wahr, daß er so gut ist und mit allen spricht, alle tröstet, die Kranken heilt
und die Sünder bekehrt?»
«Glaubt ihr das?»
«Ja. Wir möchten es jedoch von
euch wissen, die ihr ihm folgt. Oh, wenn ihr uns doch zu ihm führen könntet!»
«Aber müßt ihr nicht die Reben
pflegen?»
«Wir müssen auch die Seele
pflegen, die mehr wert ist als die Reben. Ist er jetzt in Kapharnaum? Wenn wir
uns anstrengen, könnten wir in zehn Tagen hin und zurück sein ...»
«Er ist hier, den ihr sucht. Er
hat sich in eurem Obstgarten ausgeruht und spricht jetzt mit dem Alten und dem
Jungen. Bei ihm sind auch seine Mutter und ihre Schwester.»
«Er ist da! ... Oh! ... Was tun
wir jetzt?»
24
Sie sind vor Staunen wie
erstarrt. Sie sind ganz Auge, um zu sehen. Ihre ganze Lebenskraft liegt in den
Pupillen.
«Und nun? Ihr hattet ein so
großes Verlangen, ihn zu sehen, und nun rührt ihr euch nicht? Seid ihr zur
Salzsäule erstarrt?» neckt sie Petrus.
«Nein... es ist... Aber ist denn
der Messias so einfach?»
«Wie meint ihr denn, daß er sein
sollte? Auf einem flammenden Thron sitzend und mit einem königlichen Mantel
angetan? Habt ihr ihn euch wie einen neuen Achaschwerosch vorgestellt?»
«Nein. Aber so einfach, er, der
so heilig ist!»
«Gerade weil er heilig ist, ist
er so einfach, Mann! Gut, machen wir es so... Meister! Hab Geduld, komm
hierher und wirke ein Wunder. Hier sind Leute, die dich suchen und die wie
versteinert stehen, seit sie dich gesehen haben. Komm und gib ihnen die
Bewegung und die Sprache wieder!»
Jesus, der sich auf den Anruf hin
umgewandt hat, erhebt sich lächelnd und kommt auf die Winzer zu, die ihn
völlig entgeistert ansehen, fast als würden sie sich fürchten.
«Der Friede sei mit euch. Habt
ihr nach mir verlangt? Hier bin ich!»Dann öffnet er, wie immer, seine Arme,
als ob er sich anbieten wolle. Die Winzer fallen auf die Knie und sind ganz
still.
«Fürchtet euch nicht! Sagt mir,
was ihr wollt.»
Sie bieten ihm ihre mit
Weintrauben gefüllten Körbe an, ohne ein Wort zu sagen. Jesus bewundert die
herrlichen Früchte und sagt: «Danke», streckt die Hand aus, nimmt eine Traube
und beginnt, die Beeren zu essen.
«O allmächtiger Gott! Er ißt wie
wir!» seufzt der, welcher Gamala genannt wird.
Es ist unmöglich, über diesen
Ausruf nicht zu lachen. Auch Jesu Lächeln ist ausgeprägter als gewöhnlich. Und
wie um sich zu entschuldigen, sagt er: «Ich bin der Menschensohn!»
Diese Geste hat geholfen, die
ekstatische Gefühllosigkeit zu überwinden, und Gamala sagt: «Würdet ihr nicht
in unser Haus kommen, wenigstens bis zur Vesperzeit? Wir sind zahlreich, denn
wir sind sieben Brüder mit Frauen und Kindern, sowie den Alten, die friedlich
auf den Tod warten.»
«Laßt uns gehen. Ihr weckt die
Gefährten und kommt uns nach. Mutter, komm mit Maria.»
Und Jesus folgt den Bauern, die
aufgestanden sind und etwas seitwärts gehen, um ihn wandeln zu sehen. Der enge
Pfad führt zwischen Stämmen von Bäumen hindurch, die durch Weinstöcke
miteinander verbunden sind.
Sie kommen bald zum Haus, besser
gesagt, zu den Häusern; denn es ist ein kleines Viereck von Häusern mit einem
gemeinsamen großen Hof in der Mitte; dort befindet sich ein Brunnen, zu dem
man durch einen langen
25
Laubengang gelangt, der als
Vorhalle dient und sicher bei Nacht mit dem schweren Tor abgeschlossen wird.
«Der Friede sei mit diesem Haus
und mit denen, die darin wohnen», sagt Jesus beim Eintreten, indem er die Hand
zum Segen erhebt, um sie alsbald sinken zu lassen und ein halbnacktes Kind zu
liebkosen, das ihn ganz verzückt ansieht. Es ist schön in seinem ärmellosen
Hemdchen, das ihm von den runden Schultern gerutscht ist, steht aufrecht auf
seinen nackten Beinchen, hat ein Fingerchen im Mund und hält im anderen
Händchen eine in Öl getauchte Brotkruste.
«Das ist David, das Kind meines
jüngeren Bruders», erklärt Gamala, während sich ein anderer Winzer zum
nächsten Haus begibt, dort Bescheid sagt und wieder herauskommt, um in das
nächste zu gehen, und so weiter. Bald schauen überall neugierige Menschen
aller Altersstufen heraus, ziehen sich dann zurück und kommen nach einer
kurzen Toilette wieder zum Vorschein. Im Schatten eines vorspringenden Daches,
an einen riesigen Feigenbaum gelehnt, sitzt ein Greis mit einem Stab in den
Händen. Er hebt kaum sein Haupt, als ob ihn nichts interessieren würde.
«Das ist unser Vater», erklärt
Gamala, «einer der Alten des Hauses; auch die Frau Jakobs hat ihren Vater, der
allein geblieben war, mit hierher gebracht; und dann ist auch noch die alte
Mutter Lias, der jüngsten Frau hier, da. Unser Vater ist blind. Über seine
Augen hat sich ein Schleier gelegt. So viel Sonne in den Feldern! So viel
Hitze von der Erde! Armer Vater! Er ist sehr traurig. Aber er ist sehr gut. Er
wartet jetzt auf seine Enkel, denn sie sind seine einzige Freude.»
Jesus begibt sich zu dem Alten.
«Gott segne dich, Vater!»
«Wer du auch sein magst, Gott
möge deinen Segen erwidern», antwortet der Alte und wendet sein Haupt in die
Richtung der Stimme.
«Dein Los ist hart, nicht wahr?»
fragt Jesus sanft, und er gibt ein Zeichen, daß niemand verrate, wer spricht.
«Es kommt von Gott nach dem
vielen Guten, das er mir in meinem langen Leben gegeben hat. Wie ich das Gute
von Gott angenommen habe, so muß ich auch das Unglück mit meinen Augen
hinnehmen. Es dauert ja schließlich nicht ewig. Es wird im Schoß Abrahams zu
Ende sein.»
«Du hast recht! Es wäre
schlimmer, wenn die Seele blind wäre.»
«Ich habe mir immer Mühe gegeben,
sie wach zu halten.»
«Wie hast du das gemacht?»
«Du, der du mit mir sprichst,
bist noch jung. Deine Stimme sagt es mir. Du bist wohl nicht wie die Jünglinge
von heute, die alle blind sind, weil sie ohne Religion sind. Schau, es ist ein
großes Unglück, nicht zu glauben und nicht zu tun, was Gott uns aufgetragen
hat. Ein Greis sagt es dir, mein Junge! Wenn du das Gesetz übertrittst, wirst
du blind sein auf Erden und im anderen Leben. Du wirst niemals Gott schauen.
Denn der Tag wird einmal kommen, an dem der Messias, der Erlöser, uns die Tore
zu
26
Gott öffnet. Ich bin zu alt, um
diesen Tag auf Erden zu erleben. Aber ich werde ihn im Schoß Abrahams sehen.
Deswegen beklage ich mich über nichts. Denn ich hoffe, daß ich mit diesen
Schatten bezahlen kann, was ich Gott aus Undankbarkeit schuldig bin, und damit
das ewige Leben verdiene. Aber du bist jung. Bewahre deinen Glauben, mein
Sohn, damit du den Messias sehen kannst. Denn die Zeit ist nahe. Der Täufer
hat es gesagt. Du wirst ihn noch sehen. Doch wenn deine Seele blind ist, wirst
du wie jene sein, von denen Isaias sagt: "Sie haben Augen und sehen nicht!"»
«Möchtest du sehen, Vater?» fragt
Jesus und legt eine Hand auf das weiße Haupt.
«Ich möchte sehen, ja! Aber
lieber will ich sterben, ohne ihn zu sehen, als daß ich ihn sehen kann und
meine Söhne ihn nicht erkennen. Ich habe noch den alten Glauben, der mir
genügt. Sie! ... Oh! Die Welt von heute... !»
«Vater, dann schau auf den
Messias, und dein Abend sei gekrönt mit Freude.» Jesus läßt seine Hand von den
weißen Haaren über die Stirne bis zum bärtigen Kinn gleiten, wie bei einer
Liebkosung. Dann beugt er sich nieder, um auf derselben Höhe zu sein wie das
Gesicht des Greises.
«O allerhöchster Herr! Aber ich
sehe ja! Ich sehe... Wer bist du, mit diesem Gesicht, das mir unbekannt und
doch so vertraut ist, als ob ich es schon gesehen hätte? ... Aber! ... Oh,
Dummkopf, der ich bin! Du, der du mir das Augenlicht wiedergegeben hast, bist
der gepriesene Messias! Oh, oh!» Der Alte weint auf die Hände Jesu, die er
ergriffen hat, und bedeckt sie mit Küssen und Tränen. Die ganze Verwandtschaft
ist in Aufregung.
Jesus befreit eine Hand, liebkost
noch einmal den Alten und sagt: «Ja, ich bin es! Komm, damit du außer meinem
Antlitz auch mein Wort kennenlernst.» Und er begibt sich zu einer Stiege, die
zu einer von einer dichten Pergola beschatteten Terrasse führt. Alle folgen
ihm.
«Ich hatte meinen Jüngern
versprochen, von der Hoffnung zu sprechen, und ich will dazu ein Gleichnis
benützen. Das Gleichnis ist dieser alte Israelit. Der Vater im Himmel gibt mir
das Thema, um euch von der großen Tugend zu sprechen, die wie die Arme eines
Jochs den Glauben und die Liebe stützt.
O süßes Joch! Galgen der
Menschheit, wie der Querbalken des Kreuzes. Thron des Heiles, Stütze der
heilbringenden Schlange, die in der Wüste aufgerichtet wurde. Galgen der
Menschheit. Brücke der Seele, um den Flug ins Licht anzutreten. Sie ist
gesetzt zwischen dem unerläßlichen Glauben und die vollkommenste Liebe; denn
ohne Hoffnung kann es keinen Glauben geben, und ohne Hoffnung stirbt die
Liebe.
Der Glaube setzt die sichere
Hoffnung voraus. Wie kann man glauben, zu Gott zu gelangen, wenn man nicht auf
seine Güte hofft? Wie kann man sich im Leben wieder aufrichten, wenn man nicht
auf eine Ewigkeit
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hofft? Wie können wir in
Gerechtigkeit ausharren, wenn uns nicht die Hoffnung belebt, daß Gott jede
unserer guten Taten sieht und belohnt? Und ebenso, wie könnte die Liebe
bestehen, wenn in uns keine Hoffnung wäre? Die Hoffnung bereitet der Liebe den
Weg. Denn ein Mensch muß hoffen, um lieben zu können. Die Verzweifelten lieben
nicht mehr. Die Treppe besteht aus Stufen und Geländer: der Glaube ist gleich
den Stufen; die Hoffnung ist das Geländer; oben ist die Liebe, zu der man
durch die beiden anderen aufsteigt. Der Mensch hofft, um zu glauben; er
glaubt, um zu lieben.
Dieser Mann hat zu hoffen
verstanden. Er wurde geboren, ein Kind Israels wie alle anderen. Er ist
aufgewachsen mit derselben Lehre wie die anderen. Er ist Sohn des Gesetzes
geworden wie alle anderen. Er ist Mann, Gatte, Vater und Greis geworden, immer
hoffend auf die den Patriarchen gegebenen und durch die Propheten wiederholten
Verheißungen. Im Alter sind Schatten auf seine Augen gefallen, aber nicht in
sein Herz. In ihm ist immer die Hoffnung lebendig geblieben. Die Hoffnung,
Gott zu schauen. Gott zu schauen im anderen Leben. Und in der Hoffnung auf
dieses ewige Schauen, eine noch innigere und teurere Hoffnung: den Messias zu
sehen. Ohne zu wissen, wer der Jüngling war, der zu ihm sprach, hat er mir
gesagt: "Wenn du das Gesetz verläßt, wirst du blind sein auf Erden und im
Himmel. Du wirst Gott nicht sehen und den Messias nicht erkennen."
Er hat wie ein Weiser gesprochen.
Zu viele Blinde gibt es jetzt in Israel. Sie haben keine Hoffnung mehr, denn
die Auflehnung gegen das Gesetz hat sie in ihnen getötet. Diese Auflehnung,
die immer Auflehnung ist, auch wenn man sie in heilige Gewänder kleidet,
sobald das Wort Gottes nicht voll angenommen wird. Ich sage: das Wort Gottes,
nicht die Zusätze, die die Menschen gemacht haben und die wegen ihrer Unzahl
und weil sie eben von Menschen stammen, sogar von denen vernachlässigt werden,
die sie gemacht haben, und von den anderen nur mechanisch, gezwungenermaßen,
mühsam und fruchtlos befolgt werden. Sie haben keine Hoffnung mehr und lachen
über die ewigen Wahrheiten. Darum haben sie auch keinen Glauben und keine
Liebe mehr. Das göttliche Joch, das dem Menschen von Gott auferlegt wurde, um
sich in Gehorsam und Verdienst zu wandeln; das himmlische Kreuz, das Gott dem
Menschen gegeben hat, um die Schlangen des Bösen zu besiegen und das Heil zu
erlangen, hat den Querbalken verloren, der die helle und die rote Flamme trug:
den Glauben und die Liebe; und so ist die Finsternis in die Herzen eingekehrt.
Der Greis hat mir gesagt: "Es ist
ein großes Unglück, nicht zu glauben und nicht zu tun, was Gott geboten hat."
Das ist wahr! Ich bestätige es
euch. Es ist schlimmer als die leibliche Blindheit, die noch geheilt werden
kann, um einem Gerechten die Freude zu schenken, die Sonne, die Wiesen, die
Früchte der Erde, die Gesichter
28
der Kinder und Enkel
wiederzusehen; und vor allem das zu sehen, was die Hoffnung seiner Hoffnung
war: Den Messias des Herrn zu sehen. Ich wünschte, daß eine solche Tugend in
den Herzen aller Israeliten lebendig wäre, besonders in jenen der
Gesetzeskundigen. Es genügt nicht, im Tempel gewesen oder vom Tempel zu sein,
und es genügt nicht, die Worte des Buches auswendig zu wissen. Man muß sie
mittels der drei göttlichen Tugenden zum Leben des eigenen Lebens machen.
Hier habt ihr dafür ein Beispiel:
wo diese lebendig sind, ist alles leicht. Auch das Ertragen von Unglück. Denn
das Joch Gottes ist stets ein leichtes Joch, das nur auf dem Fleisch lastet,
aber den Geist nicht niederdrückt. Geht hin in Frieden, die ihr in diesem Haus
guter Israeliten verbleibt. Der Friede sei mit dir, alter Vater! Du hast die
Gewißheit, daß Gott dich liebt. Beschließe deine gerechten Tage, indem du
deine Weisheit in die Herzen der Kinder deines Blutes legst. Ich kann nicht
hier bleiben. Aber mein Segen bleibt in diesem Haus, reich an Gnaden wie die
Trauben dieses Weinstocks.»
Jesus möchte gehen. Aber er muß
wenigstens so lange bleiben, bis er alle Farnilienangehörigen kennengelernt
hat und alle Reisesäcke prall gefüllt sind...
Dann kann er sich auf den Weg
machen; er benützt eine Abkürzung durch den Weinberg, die ihm die Winzer
zeigen. Sie verlassen ihn nicht eher, als bis die Hauptstraße erreicht und ein
Dorf in Sicht ist, in dem Jesus und die Seinen übernachten können.
299. JESUS BEGIBT SICH MIT
JAKOBUS DES ALPHÄUS AUF DEN KARMEL
«Verkündet die Frohe Botschaft in
der Ebene von Esdrelon, bis ich wieder zu euch zurückkehre», befiehlt Jesus
seinen Aposteln an einem heiteren Morgen, während sie an den Ufern des Kischon
etwas Nahrung verzehren: Brot und Obst.
Die Apostel scheinen nicht
besonders begeistert zu sein, aber Jesus ermutigt sie, gibt ihnen Richtlinien,
an die sie sich halten können, und schließt: «Ihr habt ja auch meine Mutter
bei euch. Sie wird euch eine gute Ratgeberin sein. Geht zu den Bauern des
Jochanan und versucht, am Sabbat mit den Leuten des Doras zu sprechen. Leistet
ihnen Beistand und tröstet den alten Verwandten des Margziam mit Nachrichten
über den Knaben. Sagt ihm, daß wir ihn am Laubhüttenfest zu ihm bringen
werden. Gebt diesen Unglücklichen viel, 'alles was ihr habt. Alles, was ihr
wißt, eure ganze Liebe und unser ganzes Geld. Habt keine Angst! Wie es
ausgegeben wird, kommt es wieder herein. Wir werden nie Hungers sterben,
29
selbst wenn wir nur von Brot und
Obst leben. Und wenn ihr Nackten begegnet, dann gebt Kleider, auch die meinen.
Ja, meine zuerst! Wir werden nie nackt bleiben. Und wenn ihr Elende seht, die
nach mir verlangen, weist sie nicht zurück. Ihr habt kein Recht dazu. Leb
wohl, Mutter! Gott möge euch alle durch meinen Mund segnen! Geht beruhigt!
Komm, Jakobus!»
«Nimmst du nicht einmal deine
Tasche mit?» fragt Thomas, da er sieht, daß der Herr von dannen geht, ohne sie
zu nehmen.
«Ich brauche sie nicht. Ich werde
so beim Gehen unbehindert sein.»
Auch Jakobus läßt seine Tasche
zurück, obwohl seine Mutter sich beeilt, sie mit Brot, Käse und Früchten
vollzustopfen.
Sie gehen und folgen eine Weile
dem Ufer des Kischon; dann aber entschwinden sie an den ersten Hängen, die zum
Karmel führen.
«Mutter, nimm du uns an die Hand.
Führe uns... denn wir sind zu nichts fähig», bekennt Petrus demütig.
Maria lächelt beruhigend und
sagt: «Es ist sehr einfach. Ihr müßt nur seinen Befehlen gehorchen, dann
werdet ihr alles sehr gut machen. Laßt uns gehen.»
Jesus steigt mit Vetter Jakobus
höher, ohne zu sprechen; auch sein Begleiter schweigt. Jesus konzentriert sich
auf seine Gedanken. Jakobus, der sich an der Schwelle einer Offenbarung fühlt,
ist ganz erfüllt von ehrfurchtsvoller Liebe, von einer geistigen Furcht, und
blickt von Zeit zu Zeit auf Jesus, dessen Antlitz in seiner Sammlung bisweilen
in einem strahlenden Lächeln aufleuchtet. Er sieht ihn an, als schaue er auf
den noch nicht fleischgewordenen Gott, der in seiner unermeßlichen Majestät
erglänzt, und sein Gesicht ähnelt sehr dem des heiligen Joseph mit seinen
braunen Wangen und den Backenknochen, die sich bald röten, bald bleich werden
vor Rührung. Aber er achtet immer noch das Schweigen Jesu.
Auf steilen Abkürzungen, fast
ohne auf die Hirten zu blicken, die ihre Herden auf den grünen Halden weiden,
zwischen Büschen von Steineichen, Eschen und anderen Bäumen, steigen sie immer
höher, während ihre Mäntel die graugrünen Wacholderbüsche, die goldfarbenen
Ginsterstauden, die smaragdgrünen Sträucher mit den Perlen der Myrte und die
schaukelnden Vorhänge des Geißblattes und der blühenden Waldrebe streifen.
Sie gehen bergan und lassen
Holzarbeiter und Hirten hinter sich, bis sie nach einem ermüdenden Aufstieg
die Höhe des Berges erreichen, oder vielmehr eine kleine Ebene am Fuße einer
von riesigen Eichen gekrönten Spitze. Hohe Stämme, deren Basis die weiter
unten am Hang stehenden Bäume bilden, grenzen sie mit einer Art Brustwehr ab,
so daß die kleine Wiese wie auf einer rauschenden Unterlage liegt und abseits
von den übrigen Teilen des Berges, die zu sehen die tieferliegenden Baumkronen
30
verhindern, während im Rücken der
Gipfel seine Bäume zum Himmel reckt. Über allem der offene Himmel und in der
Ferne der weite Horizont, der sich im Sonnenuntergang rötet und im ganz
entflammten Meer versinkt. Ein Erdspalt, der nur deshalb nicht einstürzt, weil
die Wurzeln der riesigen Eichen ihn mit einem Netz von Zangen halten, öffnet
sich in einem Vorsprung, kaum breit genug, um einem nicht zu beleibten Mann
Platz zu bieten. Ein unbändiger Strauch scheint ihn zu verlängern, denn er
reckt sich horizontal von der Seite des Vorsprungs nach vorne.
Jesus öffnet nun seinen Mund und
sagt: «Jakobus, mein Bruder, hier wollen wir heute nacht bleiben. Und trotz
der großen körperlichen Müdigkeit bitte ich dich, die Nacht mit mir im Gebet
zu verbringen; die Nacht und den ganzen morgigen Tag, bis zu dieser Stunde.
Ein ganzer Tag – vierundzwanzig Stunden – ist nicht zu viel, um die Gnaden,
die ich dir geben will, zu empfangen.»
«Jesus, mein Herr und Meister,
ich werde immer tun, was du willst», antwortet Jakobus, der noch bleicher
geworden ist, als Jesus zu sprechen begonnen hat.
«Ich weiß es. Wir wollen jetzt
Brombeeren und Heidelbeeren sammeln und unseren Durst an einer Quelle stillen,
die ich etwas tiefer unten gehört habe. Laß deinen Mantel hier in diesem
Spalt. Niemand wird ihn nehmen.»
Und zusammen mit dem Vetter
umgeht er den Vorsprung, um die wilden Früchte der Sträucher im Unterholz zu
sammeln. Dann füllen sie wenige Meter weiter unten, auf der dem Weg ihres
Aufstiegs gegenüberliegenden Seite, die Feldflaschen – das einzige, was sie
mitgenommen haben – an einer plätschernden Quelle, die aus einem Gewirr von
dicken Wurzeln entspringt; sie waschen sich, um sich zu erfrischen, da die
Hitze auch hier in der Höhe noch anhält. Dann steigen sie wieder zu ihrer
Hochebene hinauf, und während die im Westen untergehende rote Sonne auf den
Gipfel scheint, essen sie, was sie gesammelt haben, und trinken noch etwas,
und lächeln sich dabei zu wie zwei glückliche Kinder oder zwei Engel. Wenige
Worte: ein Gedanke an jene, die sie in der Ebene unten zurückgelassen haben;
ein Ausruf der Bewunderung über die außerordentliche Schönheit des Tages; die
Namen der beiden Mütter... Sonst nichts.
Dann zieht Jesus den Vetter an
sich, und dieser nimmt eine Haltung ein, die sonst Johannes eigen ist. Er
lehnt sein Haupt an die Brust Jesu, läßt eine Hand im Schoß, die andere in der
Hand des Vetters ruhen, und so verharren sie, während der Abend
herniedersteigt unter dem lauten Gezwitscher der Vögel, die sich ins Gebüsch
zurückziehen, und dem immer schwächer werdenden entfernten Gebimmel der
Glocken. Das leise Rauschen des Windes, der die Wipfel kühlend streichelt und
sie nach der drückenden Hitze des Tages wieder belebt und ihnen den Tau
ankündigt.
31
So verharren sie lange, und ich
glaube, es ist nur ein Schweigen der Lippen, während die Seelen aktiver als
sonst übernatürliche Gespräche führen.
300. «AUF VOLLKOMMENE WEISE
LIEBEN, UM HEILIGMÄSSIG VORGESETZTER ZU SEIN»
Um die gleiche Stunde tags
darauf. Jakobus sitzt noch zusammengekauert im Spalt des Berges, das Haupt auf
den Knien, die er mit den Armen umschlungen hat. Es scheint, als ob er in
tiefe Betrachtung versunken oder eingeschlafen sei. Ich kann es nicht recht
erkennen. Immerhin ist er unempfindlich gegen alles, was um ihn herum vorgeht,
zum Beispiel gegenüber dem Streit zweier großer Vögel, die sich aus
irgendeinem Grund auf der Wiese bekämpfen. Ich glaube, es sind Gebirgshähne
oder Auerhähne oder Fasane, denn sie haben die Größe eines Hahns, bunte
Federn, aber keine Kämme, sondern nur einen Helm aus rotem Fleisch und etwas
wie Korallen auf dem Kopf und an den Wangen. Und wenn ihr Kopf auch klein ist,
so muß der Schnabel doch hart wie ein Stahl sein. Federn fliegen durch die
Luft und Blut spritzt auf die Erde, und alles wird von einem solchen Geschrei
begleitet, daß das Gezwitscher und Gepiepse in den Zweigen verstummt.
Vielleicht beobachten die kleinen Vögel diesen wilden Zweikampf...
Jakobus hört nichts. Jesus
hingegen hört es und kommt von der Höhe herunter, auf die er gestiegen war. Er
klatscht in die Hände und trennt die beiden Kampfhähne, die blutend
davonstieben, der eine zur Küste hin, der andere auf den Wipfel einer Eiche,
wo er sich die ganz zerzausten Federn ordnet. Jakobus hebt auch nach dem von
Jesus verursachten Geräusch nicht das Haupt. Jesus macht noch einige Schritte
und bleibt dann lächelnd mitten auf der kleinen Wiese stehen. Sein weißes
Gewand färbt sich auf der rechten Seite rot, so stark ist die Abendröte. Es
scheint, als ob der Himmel in Flammen stehe. Jakobus schläft offensichtlich
nicht, denn als Jesus kaum flüstert, wirklich nur flüstert: «Jakobus, komm
her», hebt er sein Haupt, löst die verschlungenen Arme, springt auf und geht
zu Jesus hin.
Er bleibt in einer Entfernung von
nur zwei Schritten vor ihm stehen und schaut ihn an. Auch Jesus schaut ihn an,
ernst und doch ermutigend durch ein Lächeln, das weder auf den Lippen noch im
Blick liegt, aber trotzdem zu erkennen ist. Er blickt ihn fest an, als wolle
er die geringsten Bewegungen und Regungen im Herzen des Vetters und Apostels
lesen. Dieser, der sich an der Schwelle einer Offenbarung fühlt, wird wie
gestern immer bleicher, bis er die gleiche Farbe hat wie sein Leinengewand.
Jesus
32
legt ihm die Hände auf die
Schultern und bleibt so mit ausgestreckten Armen stehen. Jakobus scheint jetzt
wirklich eine Hostie zu sein. Nur die sanften, dunkelbraunen Augen und der
kastanienbraune Bart verleihen dem erwartungsvollen Antlitz Farbe.
«Jakobus, mein Bruder, weißt du,
weshalb ich nach Stunden des Gebetes und der Betrachtung unter vier Augen mit
dir sprechen will?»
Jakobus bringt keine Antwort
heraus, so bewegt ist er. Endlich öffnet er die Lippen, um leise zu antworten:
«Um mir eine besondere Unterweisung zu erteilen, die die Zukunft betrifft,
oder weil ich der Unfähigste von allen bin. Ich danke dir jetzt schon dafür,
auch wenn es sich um einen Tadel handelt. Aber glaube mir, Meister und Herr,
wenn ich schwerfällig oder unfähig bin, dann nur, weil ich schwach bin, und
nicht aus Mangel an gutem Willen.»
«Es soll kein Tadel sein, sondern
eine Unterweisung für die Zeit, in der ich nicht mehr unter euch sein werde.
In diesen Monaten hast du in deinem Herzen viel nachgedacht über das, was ich
eines Tages am Fuße dieses Berges sagte, als ich dir versprach, mit dir
hierher zu kommen; nicht allein, um über den Propheten Elias zu reden und das
Meer zu betrachten, das dort in unendlicher Weite erglänzt, sondern um dir von
einem anderen Meer zu erzählen, das noch größer, veränderlicher und
unberechenbarer ist als dieses, das heute dem friedlichsten Becken gleicht und
vielleicht in wenigen Stunden mit gierigem Hunger Schiffe und Menschen
verschlingt. Du hast dich nie von dem Gedanken gelöst, seit ich dir gesagt
habe, daß dein Hierherkommen sich auf deine künftige Bestimmung beziehen
würde. Und so bist du jetzt noch bleicher, da du ahnst, daß es eine schwere
Aufgabe, eine verantwortungsvolle Erbschaft sein wird, die auch einen Helden
erzittern lassen könnte. Eine Verantwortung und eine Sendung, die mit der
größtmöglichen Heiligkeit eines Menschen wahrgenommen werden muß, um den
Willen Gottes nicht zu enttäuschen. Fürchte dich nicht, Jakobus! Ich will
nicht dein Verderben. Wenn ich dich dazu bestimme, so bedeutet dies, daß ich
weiß, daß es dir nicht zum Schaden, sondern zu übernatürlicher Freude
gereichen wird.
Höre mir zu, Jakobus! Schaffe
Frieden in dir durch einen schönen Akt der Hingabe an mich, damit du meine
Worte hören und behalten kannst.
Nie mehr werden wir so allein und
geistig so vorbereitet sein, um uns zu verstehen. Ich werde eines Tages
fortgehen, wie alle Menschen, die sich nur eine Zeitlang auf Erden aufhalten.
Mein Aufenthalt wird auf andere Art und Weise als der der übrigen Menschen
enden, aber auch er wird enden, und ihr werdet mich nur noch im Geist bei euch
haben; doch ich versichere dir, er wird euch niemals verlassen.
Ich werde weggehen, nachdem ich
euch gegeben habe, was nötig ist, um meine Lehre auf der Welt zu verbreiten,
nachdem ich mein Opfer vollbracht und euch die Gnade erlangt habe. Mit ihr und
mit dem siebenfachen Feuer
33
der Weisheit werdet ihr Dinge
vollbringen, die euch nur als Wahnsinn und Anmaßung erschienen, würde man euch
heute auffordern, sie zu tun.
Ich werde von euch gehen, und ihr
werdet zurückbleiben. Und die Welt, die Christus nicht verstanden hat, wird
auch die Apostel Christi nicht verstehen; daher werdet ihr verfolgt und
vertrieben werden, als ob ihr die gefährlichsten Leute für das Wohlergehen
Israels wäret. Aber da ihr meine Jünger seid, sollt ihr glücklich sein,
dieselben Bedrängnisse zu erleiden, die euer Meister erduldet hat.
Ich habe dir eines Tages im Nisan
gesagt: "Du wirst es sein, der von den Propheten des Herrn übrigbleibt." Deine
Mutter hat auf geistige Eingebung hin die Bedeutung dieser Worte schon halb
verstanden. Doch bevor sich diese Worte an meinen Aposteln bewahrheiten,
werden sie sich an dir und durch dich bewahrheitet haben.
Jakobus, alle außer dir werden
vertrieben werden, und das bis zum Ruf Gottes in seinen Himmel. Du wirst auf
dem Posten bleiben, für den Gott dich durch den Mund der Brüder bestimmt hat,
du Nachkomme des königlichen Geschlechtes, in der königlichen Stadt, um mein
Szepter zu tragen und vom wahren König zu sprechen. Vom König Israels und der
Welt und seinem erhabenen Königtum, das nur jene begreifen, denen es
geoffenbart wird. Es werden Zeiten sein, in denen du Kraft, Ausdauer, Geduld
und unbegrenzten Scharfsinn benötigen wirst.
Du wirst gerecht sein müssen,
voll Liebe, mit dem schlichten, reinen Glauben eines Kindes, und gleichzeitig
gelehrt wie ein wahrer Meister, um den vom Feind bekämpften Glauben in vielen
Herzen zu stärken; um die Irrtümer der falschen Christen zu bekämpfen; um die
Spitzfindigkeiten zu berichtigen in der Lehre des alten Israel, das schon
heute blind ist und nach der Tötung des Lichtes noch blinder sein wird, und
das die prophetischen Worte und selbst die Gebote des Vaters, aus dem ich
hervorgehe, entstellen wird, um sein eigenes Gewissen zu beruhigen und die
Welt zu überzeugen, daß ich nicht der von den Patriarchen und Propheten
Angekündigte bin; daß ich nichts anderes war als ein armer Mensch, ein
Verblendeter, ein Tor für die Besseren und ein besessener Häretiker für die
weniger Guten des alten Israel.
Ich bitte dich, dann mein anderes
Ich zu sein. Nein, das ist nicht unmöglich! Du mußt dir deinen Jesus
vergegenwärtigen, seine Taten, seine Worte, seine Werke. So als ob du dich in
die irdene Form legtest, die der Metallgießer verwendet, so mußt du dich in
mich versenken. Ich werde immer gegenwärtig sein, so gegenwärtig und lebendig
in euch, meine Getreuen, daß ihr euch mit mir vereinigen und ein anderes Ich,
mein Ich, werden könnt, wenn ihr es nur wollt.
Du aber, der du seit deiner
frühesten Jugend mit mir zusammen gewesen bist und die Speise der Weisheit aus
den Händen Marias empfangen hast, noch bevor du sie aus meinen Händen
erhieltest, der du ein Neffe
34
des gerechtesten Menschen bist,
der je in Israel gelebt hat, du mußt ein vollkommener Christus sein...»
«Ich kann nicht, ich kann nicht,
Herr! Gib diesen Auftrag meinem Bruder. Gib ihn Johannes, Simon Petrus, gib
ihn dem anderen Simon. Aber nicht mir, Herr! Warum mir? Was habe ich getan, um
ihn zu verdienen? Siehst du denn nicht, daß ich ein ganz armer Mensch bin, der
nur die einzige Fähigkeit besitzt, dich mit ganzem Herzen zu lieben und fest
an alles zu glauben, was du sagst?»
«Judas hat ein zu heftiges
Temperament. Er wird dort sehr gute Dienste leisten, wo es das Heidentum
auszumerzen gilt. Aber nicht hier, wo man die zum Christentum bekehren muß,
die sich schon allein deshalb für gerecht halten, weil sie das Volk Gottes
sind. Nicht hier, wo alle jene zu überzeugen sind, die zwar an mich glauben,
aber über den Verlauf der Dinge enttäuscht sein werden. Man muß sie davon
überzeugen, daß mein Reich nicht von dieser Welt, sondern ein ganz geistiges
Reich der Himmel ist, dessen Vorbereitung ein christliches Leben bildet, also
ein Leben, in dem die geistigen Werte vorherrschen.
Überzeugen kann man nur durch
ausdauernde Milde. Wehe dem, der den Menschen an der Gurgel packt, um ihn zu
überzeugen. Der Angegriffene wird "ja" sagen, um sich aus der Umklammerung zu
befreien, und wenn er nicht verdorben, sondern nur unwillig ist, wird er sich
auf kein Gespräch mehr einlassen wollen. Ist er aber böswillig oder auch nur
fanatisch, wird er fliehen und sich bewaffnen, um den zu töten, der anmaßend
neue Lehren vertritt.
Du wirst von Fanatikern umgeben
sein, von Fanatikern unter den Christen und unter den Israeliten. Die Ersteren
werden von dir Gewaltakte oder wenigstens die Erlaubnis dazu verlangen; denn
das alte Israel mit seiner Unerbittlichkeit und seinen Vorbehalten wird in
ihnen noch seinen Giftstachel erheben. Die anderen werden gegen dich und deine
Brüder auftreten wie zu einem heiligen Krieg zur Verteidigung des alten
Glaubens, seiner Symbole und seiner Zeremonien. Und du wirst inmitten dieses
sturmgepeitschten Meeres stehen.
Das ist das Los der Vorsteher,
und du wirst das Haupt aller sein, die in Jerusalern von deinem Christus zum
Glauben an ihn geführt worden sind. Du mußt in vollkommener Weise lieben, um
ein heiligmäßiges Oberhaupt zu sein. Nicht Waffen und Verfluchungen, sondern
dein Herz mußt du den Waffen und Flüchen der Juden entgegenhalten. Bemühe
dich, es nie den Pharisäern nachzutun, die die Heiden als Mist und Abfall
betrachten. Auch für sie bin ich gekommen; denn wahrlich, wäre ich nur für
Israel gekommen, so wäre die Erniedrigung Gottes zum Fleisch, das dem Tod
anheimfällt, unverhältnismäßig groß. Wenn es auch wahr ist, daß meine Liebe
sich mit Freuden sogar für eine einzige Seele zur Menschwerdung herabgelassen
hätte, so verlangt doch die Gerechtigkeit, die gleichfalls
35
eine göttliche Vollkommenheit
ist, daß die Erniedrigung des Unendlichen für eine unendliche Menge geschehe:
für das Menschengeschlecht!
Und um sie nicht zu vertreiben,
mußt du also sanft mit ihnen umgehen und dich darauf beschränken, in bezug auf
das Dogma unnachgiebig zu sein; doch allen anderen Lebensformen gegenüber, die
nur verschieden von den unsrigen und materieller Art sind, darfst du den Geist
nicht verletzen; du sollst vielmehr nachgiebig sein. Viel wirst du um dieser
Dinge willen mit den Brüdern zu kämpfen haben, denn Israel ist in Bräuchen
befangen, lauter äußerlichen, unnützen Bräuchen, denn sie verändern nicht den
Geist. Du jedoch sei einzig und allein um den Geist besorgt, und lehre auch
die anderen, es zu sein. Verlange nicht, daß die Heiden plötzlich ihre
Gebräuche ändern, auch du änderst die deinen nicht plötzlich. Bleibe nicht an
deiner Klippe hängen, denn man muß rudern und darf nicht still sitzen, will
man die Wracks auf dem Meer bergen, sie zur Werkstatt bringen und sie
erneuern. Und du mußt ausziehen und Wracks suchen! Es gibt sie unter den
Heiden und auch in Israel. Am Ende des weiten Meeres ist Gott, der allen
seinen Geschöpfen die Arme öffnet, ob sie nun, wie die Israeliten, wegen ihres
heiligen Ursprungs reich sind, oder arm wegen ihres Heidentums.
Ich habe gesagt: "Ihr sollt euren
Nächsten lieben!" Der Nächste ist nicht nur der Verwandte oder der eigene
Landsmann. Der Nächste ist auch der Mann aus dem hohen Norden, dessen Aussehen
ihr nicht kennt. Der Nächste ist auch der, der zu dieser Stunde einen
Sonnenaufgang bewundert in Zonen, die euch unbekannt sind, oder über die
Schneefelder der märchenhaften Bergketten Asiens eilt, oder der aus einem Fluß
trinkt, der durch unbekannte Wälder im Inneren Afrikas fließt.
Und wenn ein Sonnenanbeter zu dir
kommt, oder einer, der das gefräßige Krokodil als seinen Gott verehrt, oder
einer, der sich für den wiedergeborenen Weisen hält, der die Wahrheit erahnt
hat, ihre Vollkommenheit aber weder erfaßt noch sie seinen Anhängern zu ihrem
Heil weitergeben kann; oder wenn ein angewiderter Bürger von Rom oder Athen
mit der Bitte kommt: "Gib mir die Erkenntnis Gottes", dann kannst und darfst
du nicht sagen: "Fort mit euch, denn es wäre Profanierung, euch zu Gott zu
führen!"
Halte dir vor Augen, daß sie
nicht wissen, Israel aber weiß. Und trotzdem gibt es wahrhaftig in Israel
viele Götzendiener. Sie sind schlimmer und grausamer als der grausamste
Götzendiener der Welt und bringen nicht diesem oder jenem Götzen, sondern sich
selbst, ihrem Hochmut, Menschenopfer dar, sobald in ihnen das unstillbare
Verlangen nach Blut erwacht, das bis zum Ende der Zeiten andauern wird. Nur
wenn sie das Neue glaubensvoll in sich aufnehmen, kann dieses Verlangen
gestillt werden. Aber dann wird auch schon das Ende der Welt gekommen sein;
denn die letzten, die sagen werden: "Wir glauben, daß du Gott und der Messias
36
bist", werden die Israeliten
sein, entgegen allen Beweisen meiner Gottheit, die ich gegeben habe und noch
geben werde.
Sei wachsam und achte darauf, daß
der Glaube der Christen nicht eitel sei. Eitel wäre er, wenn er nur aus Worten
oder heuchlerischen Förmlichkeiten bestünde. Der Geist ist es, der lebendig
macht. Der Geist fehlt in der mechanischen oder pharisäischen Ausübung, die
nur eine Vortäuschung des Glaubens, aber kein echter Glaube ist. Was würde es
dem Menschen nützen, in der Versammlung der Gläubigen das Lob Gottes zu
singen, wenn alsdann alle seine Handlungen Schmähungen Gottes wären? Gott läßt
seiner nicht spotten, sondern macht in seiner Vaterschaft immer auch seine
Ansprüche als Gott und König geltend.
Wache und achte darauf, daß
niemand sich einen Platz anmaßt, der ihm nicht gebührt. Das Licht wird von
Gott gegeben werden entsprechend dem Rang, den ihr einnehmt. Gott wird euch
das Licht nicht vorenthalten, solange die Sünde die Gnade in euch nicht zum
Verlöschen bringt. Viele werden sich gerne "Meister" nennen lassen. Einer nur
ist Meister: Der, der zu dir spricht. Und eine nur ist Lehrerin: die Kirche,
seine Nachfolgerin. In der Kirche werden jene Lehrmeister sein, die geweiht
sind für den besonderen Auftrag, zu unterweisen. Jedoch wird es unter den
Gläubigen einige geben, die durch den Willen Gottes und durch ihre eigene
Heiligkeit, das heißt, durch ihren guten Willen, vom Sturmwind der Weisheit
erfaßt, predigen werden. Es wird solche geben, die aus sich selbst nicht weise
sind, aber gefügige Werkzeuge in den Händen des Handwerkers bleiben und im
Namen des Handwerkers sprechen; und wie gute Kinder wiederholen sie, was der
Vater sie zu sagen lehrt, ohne selbst alles in seiner ganzen Tragweite zu
verstehen. Ferner wird es Leute geben, die sprechen, als wären sie Meister,
und durch ihre glänzende Beredsamkeit die Einfältigen betören, im Grunde aber
stolz, hartherzig, eifersüchtig, jähzornig, lügenhaft und unzüchtig sind.
Ich beauftrage dich, die Worte
der Weisen im Herrn und der heiligen Kinder des Heiligen Geistes in dich
aufzunehmen und ihnen zu helfen, die Tiefgründigkeit dieser göttlichen Worte
zu erfassen. Denn wenn sie die Träger der göttlichen Stimme sind, so seid ihr,
meine Apostel, immer die Lehrer meiner Kirche und müßt den Müden im
übernatürlichen Sinn zu Hilfe eilen, die unter der Last dieses großartigen,
schweren Reichtums seufzen, den Gott in sie gelegt hat, damit sie ihn an die
Brüder weitergeben. Aber ich sage dir auch: Weise die Lügenworte der falschen
Propheten, deren Leben nicht mit meiner Lehre übereinstimmt, zurück! Güte,
Sanftmut, Reinheit, Liebe und Demut werden den leisen und weisen Stimmen
Gottes nie fehlen. Immer aber den anderen.
Wache und achte darauf, daß nicht
Eifersucht und Verleumdung in der Gemeinschaft der Gläubigen aufkommen; daß
niemand grollt und rachsüchtig ist. Wache und achte darauf, daß nicht das
Fleisch die Oberhand
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über den Geist gewinnt. Keiner
vermöchte Verfolgungen zu ertragen, dessen Geist das Fleisch nicht beherrscht.
Jakobus, ich weiß, daß du es tun
wirst, aber gib mir, deinem Bruder, das Versprechen, daß du mich nicht
enttäuschen wirst.»
«Aber Herr, Herr! Ich habe nur
eine Angst: die Angst, dazu nicht fähig zu sein. Mein Herr, ich bitte dich,
gib einem anderen diesen Auftrag.»
«Nein! Das geht nicht ...»
«Simon des Jonas liebt dich, und
du liebst ihn...»
«Simon des Jonas ist nicht
Jakobus aus dem Haus Davids!»
«Johannes! Johannes, der gelehrte
Engel, mach ihn zu deinem Diener hier.»
«Nein! Ich kann nicht! Weder
Simon noch Johannes besitzt dieses Nichts, das jedoch viel bei den Menschen
gilt: die verwandtschaftliche Beziehung. Du bist mein Verwandter. Nachdem sie
mich verkannt haben, werden sich die Besseren in Israel bemühen, vor Gott und
sich selbst Verzeihung zu finden, indem sie versuchen, den Herrn zu erkennen,
den sie in der Stunde Satans verflucht haben. Und sie werden glauben, diese
Verzeihung und mit ihr die Kraft, mir auf meinem Weg nachzufolgen, zu
erlangen, wenn ein Mann meines Blutes meine Stelle einnimmt. Jakobus, auf
diesem Berg haben sich sehr große Dinge ereignet. Hier verzehrte das Feuer
Gottes nicht nur das Brandopfer, das Holz und die Steine, sondern auch den
Staub und sogar das Wasser im Graben. Jakobus, glaubst du, daß Gott etwas
Ähnliches nicht mehr vollbringen kann, wenn er alles Materielle im Menschen
Jakobus verbrennt, um einen Jakobus göttlichen Feuers zu gewinnen? Wir haben
gesprochen, während der Sonnenuntergang Flammen sogar auf unsere Gewänder
geworfen hat. Glaubst du, daß der Glanz des Wagens, der Elias entführt hat,
ebenso feurig oder noch feuriger gewesen ist?»
«Viel feuriger, weil es ein
himmlisches Feuer war!»
«Bedenke also, was aus dem Herzen
wird, wenn es sich durch die Gegenwart Gottes in ihm in Feuer gewandelt hat,
weil Gott in ihm einen Nachfolger des Wortes haben will, der die
Heilsbotschaft verkündigt.»
«Doch du, du, Wort Gottes, ewiges
Wort, warum bleibst du nicht unter uns?»
«Weil ich Wort und Fleisch bin.
Durch das Wort muß ich belehren und durch das Fleisch erlösen.»
«O mein Jesus! Aber wie wirst du
erlösen? Was erwartet dich?»
«Jakobus, denke an die
Propheten!»
«Aber ist denn ihre Sprache nicht
sinnbildlich? Kannst denn du, Wort Gottes, von den Menschen mißhandelt werden?
Wollen sie nicht vielleicht sagen, daß deine Gottheit, deine Vollkommenheit
ein Martyrium erleiden wird, aber sonst nichts, weiter nichts? Meine Mutter
macht sich Sorgen um mich und Judas. Aber ich sorge mich auch um dich und
Maria und
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ebenso auch um uns, die wir so
schwach sind. Jesus, Jesus, wenn der Mensch dich überwindet, glaubst du nicht,
daß viele von uns dich dann für schuldig erachten und sich enttäuscht von dir
abwenden werden?»
«Ich bin dessen gewiß. Alle meine
Jünger werden erschüttert sein. Aber dann wird der Friede zurückkehren; dann
werden sich die besten meiner Jünger zusammenschließen, und nach meinem Opfer
und meinem Triumph wird der Geist der Stärke und Weisheit über sie kommen: der
göttliche Geist.»
«Jesus, damit ich nicht abfalle
und kein Ärgernis nehme in der furchtbaren Stunde, sage mir: was werden sie
dir antun?»
«Es ist etwas Großes, um das du
mich bittest.»
«Sage es mir, Herr!»
«Es wäre ein Schrecken für dich,
wenn du es genau erfahren würdest.»
«Das macht nichts. Durch die
Liebe, die uns vereint hat...»
«Es darf aber nicht bekannt
werden.»
«Sage es mir; dann wollen wir es
vergessen bis zu der Stunde, in der es sich erfüllen wird. Dann rufe es wieder
in mein Gedächtnis zurück, zusammen mit dieser Stunde. So werde ich an nichts
Anstoß nehmen und dir nicht im Grunde meines Herzens zum Feind werden.»
«Es wird dir nichts nützen, denn
auch du wirst dem Druck des Sturmes nachgeben.»
«Sag es mir, Herr!»
«Ich werde angeklagt, verraten,
gefangengenommen und dem Kreuzestode überliefert werden.»
«Nein! Nein!» Jakobus schreit auf
und windet sich, als ob er zu Tode getroffen wäre. «Nein», wiederholt er.
«Wenn sie dir das antun, was werden sie dann uns antun? Wie können wir so dein
Werk fortsetzen? Ich kann meine Aufgabe... meine Aufgabe nicht annehmen... Ich
kann nicht ... Ich kann nicht! Wenn du stirbst, werde auch ich wie tot sein.
Ich werde keine Kraft mehr haben. Jesus, Jesus, höre mich an! Laß mich nicht
allein! Versprich es mir... Versprich mir wenigstens dies!»
«Ich verspreche dir, daß ich
kommen werde, dich durch meinen Geist zu führen, nachdem die glorreiche
Auferstehung mich aus den Beschränkungen der Materie befreit hat. Ich und du,
wir werden eins sein, so wie jetzt, da du in meinen Armen liegst.»
Jakobus hat sich weinend an die
Brust Jesu geworfen.
«Weine nicht mehr. Wir gehen aus
dieser so licht- und zugleich qualvollen Stunde der Verzückung hervor, wie
einer, der aus dem Schatten des Todes tritt und sich an alles erinnert, außer
an den schrecklichen Moment des Todes, der zwar nur von kurzer Dauer ist, aber
doch über Jahrhunderte entscheidet. Komm, ich küsse dich, um dir zu helfen,
die Schrecken meines menschlichen Schicksals zu vergessen. Du wirst dich daran
erinnern, wenn die Zeit gekommen ist, wie du es gewünscht hast. Komm, ich
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küsse dich auf den Mund, dich,
der du dem Volk Israels meine Worte wiederholen sollst, und auf das Herz, das
lieben wird, wie ich es gesagt habe, und hier auf die Schläfe, aus der das
Leben entweichen wird, zusammen mit dem letzten Wort liebevollen Glaubens an
mich. Ich werde, geliebter Bruder, bei dir sein in den Versammlungen der
Gläubigen, in den Stunden der Betrachtung, in der Gefahr und in der Stunde des
Todes! Niemand, auch nicht dein Engel, wird deinen Geist aufnehmen, sondern
ich selbst werde ihn mit einem Kuß empfangen, so...»
Sie verbleiben eine Weile in der
Umarmung, und es scheint, daß sich Jakobus in der Freude über die Küsse Gottes
beruhigt hat, die ihn sein Leid vergessen lassen.
Als er sein Haupt erhebt, ist er
wieder Jakobus des Alphäus, gelassen und gut wie Joseph, der Bräutigam Marias.
Er lächelt Jesus zu mit einem reiferen Lächeln, ein wenig traurig, aber sehr
sanft.
«Wir wollen jetzt etwas essen,
Jakobus, und dann unter den Sternen schlafen. Beim ersten Licht werden wir ins
Tal hinabsteigen und zu den Menschen zurückkehren...» Und Jesus seufzt...
endet jedoch mit einem Lächeln: «... und zu Maria!»
«Und was werde ich zu meiner
Mutter sagen, Jesus? Und was zu den Gefährten? Sie werden mich mit Fragen
nicht verschonen ...»
«Du kannst ihnen alles sagen, was
ich dir gesagt habe; aber erinnere dich der Antworten des Elias an Achab, an
das Volk auf dem Berg, an die Macht eines von Gott Geliebten, die Völker und
Elemente gehorchen macht; an seinen Eifer, der ihn für den Herrn verzehrte und
an das, was ich dir über den Frieden sagte: daß man durch den Frieden und im
Frieden Gott begreift und ihm dient. Du kannst ihnen sagen, damit sie meinem
Beispiel folgen: "Kommt" auf daß ihr, wie Elias mit seinem Mantel den Elisäus
gewann, mit dem Mantel der Liebe neue Diener Gottes für den Herrn gewinnt. Und
jenen, die sich immer sorgen, sage, wie ich dich auf die beglückende Freiheit
von den Dingen der Vergangenheit hingewiesen habe, gleich der, die Elisäus
bezeigte, als er Ochsen und Pflug verließ. Sage ihnen, daß ich dich ferner
daran erinnert habe, daß dem, der durch Beelzebub Wunder wirken will, Böses
und nicht Gutes widerfahren wird, wie es Ochozias nach den Worten des Elias
ergangen ist. Sag ihnen schließlich, daß ich dir versprochen habe, daß das
reinigende Feuer der Liebe die Unvollkommenheiten eines jeden, der bis in den
Tod getreu ist, verbrennt und ihn direkt in den Himmel führt. Das Übrige ist
nur für dich allein.»
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301. «NENNE IHN SOHN, DER DIR
SCHMERZEN BEREITET»
Jesus verläßt die Hochebene des
Karmel und steigt auf staubbedeckten Wegen zur Ebene hinab. Die Büsche beleben
sich immer mehr mit dem Gezwitscher der Vögel, und die erste Sonne vergoldet
den östlichen Hang des Berges. Nachdem sich der leichte Nebel durch die Wärme
der Sonne verflüchtigt hat, zeigt sich die Ebene von Esdrelon in ihrer ganzen
Schönheit mit ihren um die Häuser umgebenden Obstbäumen und Weingärten. Sie
gleicht einem überwiegend grünen Teppich mit wenigen gelblichen Oasen, die
Spuren von Rot aufweisen; denn auf den abgemähten Kornfeldern blüht nun der
Klatschmohn. Die Ebene liegt in dem Dreieck zwischen Karmelgebirge, Tabor und
Kleinem Hermon. In einiger Entfernung sieht man noch weitere Berge, deren
Namen ich nicht kenne. Sie verbergen den Jordan und vereinigen sich im
Südosten mit den Bergen von Samaria.
Jesus bleibt stehen, um
nachdenklich diesen Teil von Palästina zu betrachten. Jakobus blickt ihn an
und fragt: «Betrachtest du die Schönheit dieses Gebietes?»
«Ja, auch das. Doch mehr noch
denke ich an die zukünftigen Wanderungen und an die Notwendigkeit, euch, und
ohne Verzögerung auch die Jünger auszusenden. Und es wird sich nicht um die
jetzige, noch begrenzte Arbeit handeln, sondern um eine wirklich
missionarische Tätigkeit. Es gibt viele Gegenden, die mich noch nicht kennen;
ich will aber kein Gebiet ohne mich lassen. Diese Sorge beschäftigt mich
stets: ist mir stets gegenwärtig: ausziehen und arbeiten, solange ich kann,
und alles tun ...»
«Immer wieder kommen Dinge
dazwischen, die dich aufhalten.»
«Mehr als Verzögerungen bringen
sie Änderungen in meinem Reiseplan mit sich; aber die Reisen, die wir machen,
sind nie unnütz. Doch es gibt noch so sehr viel zu tun... Auch weil ich nach
längerer Abwesenheit von einem Ort viele Herzen vorfinde, die zum
Ausgangspunkt zurückgekehrt sind und bei denen ich wieder von vorne anfangen
muß.»
«Ja, sie ermattet und ist
abstoßend, diese Teilnahmslosigkeit der Seelen, die Unbeständigkeit und der
Hang zum Bösen!»
«Niederschmetternd! Sage nicht
abstoßend! Die Arbeit Gottes ist nie
abstoßend. Die armen Seelen
müssen uns Mitleid einflößen, nicht Ab
scheu. Wir müssen immer das Herz
eines Vaters, eines guten Vaters ha
ben. Ein guter Vater betrachtet
die Krankheiten sein ' er Kinder nie mit
Abscheu. Und wir dürfen keinen
Abscheu vor Menschen haben!
«Jesus, erlaubst du mir, dir
einige Fragen zu stellen? Ich habe auch diese Nacht nicht schlafen können. Ich
habe viel nachgedacht, während ich dich schlafen sah. Im Schlaf scheinst du so
jung zu sein, Bruder! Du hast gelächelt, den Kopf auf einen Arm gelegt, wie
ein Kind. Ich konnte
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dich gut sehen, denn der Mond
leuchtete hell diese Nacht. Ich habe nachgedacht, und viele Fragen sind mir
aus dem Herzen aufgestiegen...»
«Sage sie mir.»
«Ich sagte mir: ich muß Jesus
fragen, wie wir mit unserer Unfähigkeit zu jener Gemeinschaft gelangen, die du
Kirche nennst, in der, wenn ich recht verstanden habe, gewisse Hierarchien
bestehen. Wirst du uns alles sagen, was wir zu tun haben, oder müssen wir
selbst handeln?»
«Wenn die Stunde gekommen ist,
werde ich euch das Haupt der Kirche bezeichnen. Während ich unter euch weile,
teile ich euch schon die verschiedenen Kategorien samt den Unterschieden
zwischen Aposteln, Jüngern und Jüngerinnen mit; denn sie sind unvermeidlich.
Aber ich will, daß, ebenso wie die Jünger den Aposteln Ehrfurcht und Gehorsam
erweisen müssen, auch die Apostel Liebe und Geduld ihnen gegenüber zeigen.»
«Und was sollen wir tun? Immer
und nur dich verkündigen?»
«Das ist die Hauptsache. Dann
müßt ihr in meinem Namen Sünden nachlassen und segnen, zur Gnade zurückführen
und die Sakramente spenden, die ich einsetzen werde.»
«Was sind das für Dinge?»
«Das sind übernatürliche und
geistige Mittel, die auch mit natürlichen Mitteln verbunden sind und
eingesetzt werden, um die Menschen zu überzeugen, daß der Priester tatsächlich
etwas wirkt. Du weißt ja, daß der Mensch nicht glaubt, wenn er nicht sieht. Er
braucht immer etwas, was ihm sagt, daß es etwas gibt. Wenn ich Wunder wirke,
lege ich daher die Hände auf, netze mit Speichel oder gebe einen Bissen
eingetauchten Brotes. Ich könnte auch ganz einfach in meinen Gedanken Wunder
wirken. Aber glaubst du, daß die Welt dann sagen würde: "Gott hat ein Wunder
gewirkt?" Sie würde sagen: "Er ist geheilt geworden, weil die Zeit der Heilung
gekommen war", und sie würden das Verdienst dem Arzt, der Arznei und der
körperlichen Widerstandskraft des Kranken zuschreiben. Das gleiche gilt für
die Sakramente: Formen des Kultes, die Gnaden zu verwalten, sie zu spenden
oder in den Gläubigen zu festigen. Johannes, zum Beispiel, benützte das
Untertauchen im Wasser, um die Reinigung von den Sünden zu veranschaulichen.
In Wirklichkeit war, mehr als das Wasser zur Reinigung der Glieder, der Akt
der Buße notwendig, sich wegen der begangenen Sünden als unrein zu bekennen.
Auch ich werde meine Taufe haben, meine Taufe, die nicht nur ein Zeichen sein
wird, sondern die wirkliche Reinigung vom Makel der Erbsünde. Die Seele wird
durch die Taufe denselben geistigen Stand der Gnade erwerben, den Adam und Eva
vor ihrem Sündenfall besaßen, und sie wird sogar noch heller erstrahlen, da
sie ihre Reinheit durch die Verdienste des Gottmenschen wiedererlangt hat.»
«Aber... das Wasser fließt doch
nicht über die Seele! Die Seele ist etwas
42
Geistiges. Wer kann sie berühren
im Neugeborenen, im Erwachsenen oder im Greis? Niemand!»
«Siehst du, du gibst also zu, daß
das Wasser ein materielles Mittel ist und keine geistige Wirkung haben kann?
Es wird daher nicht das Wasser, sondern das Wort des Priesters, eines Gliedes
der Kirche Christi, das für seinen Dienst geweiht ist, oder in Ausnahmefällen
das Wort eines wahren Gläubigen sein, welches das Wunder der Erlösung von der
Erbsünde im Getauften wirkt.»
«Ja, gut. Aber jeder Mensch
sündigt auch selbst noch... Und diese anderen Sünden, wer wird sie wegnehmen?»
«Immer der Priester, Jakobus!
Wird ein Erwachsener getauft, dann werden zusammen mit der Erbschuld auch die
anderen Sünden nachgelassen. Wenn der Mensch schon getauft ist und wieder
sündigt, dann wird der Priester ihn im Namen des Einen und Dreieinigen Gottes
und durch das Verdienst des menschgewordenen Wortes freisprechen, so wie ich
es bei den Sündern tue.»
«Aber du bist heilig! Wir ...»
«Ihr müßt heilig sein, denn ihr
berührt heilige Dinge und verwaltet das, was Gottes ist.»
«Dann werden wir also den
gleichen Menschen öfters taufen, wie Johannes es macht, der das Untertauchen
im Wasser vornimmt, sooft einer zu ihm kommt?»
«Johannes reinigt bei seiner
Taufe nur durch die Demut dessen, den er untertaucht. Ich habe es dir schon
gesagt. Ihr werdet den schon Getauften nicht ein zweites Mal taufen; es sei
denn, er wäre nicht mit einer apostolischen, sondern einer schismatischen
Formel getauft worden. In diesem Fall wäre eine zweite Taufe vorzunehmen, wenn
der zu taufende Erwachsene entscheidet, daß er die Taufe und damit Teilhabe an
der wahren Kirche wünscht. In den anderen Fällen, wenn es sich darum handelt,
Freundschaft und Frieden mit Gott wiederherzustellen, verbindet ihr die Worte
der Vergebung mit den Verdiensten Christi, und die Seele, die mit wahrer Reue
und demütiger Anklage zu euch gekommen ist, wird losgesprochen sein.»
«Und wenn jemand nicht kommen
kann, weil er so krank ist, daß er nicht an den Ort getragen werden kann? Wird
dieser in der Sünde sterben? Zum Schmerz der Todesangst kommt auch noch die
Furcht vor dem Gericht Gottes?»
«Nein. Der Priester wird zu dem
Sterbenden gehen und wird ihn lossprechen. Er wird ihm sogar eine umfassendere
Art von Absolution erteilen, die sich auf jedes einzelne Sinnesorgan bezieht,
durch welches der Mensch im allgemeinen zur Sünde veranlaßt wird.
Wir haben in Israel das heilige
Öl, das nach der Vorschrift des Allerhöchsten zusammengesetzt ist, und mit dem
man den Altar, den Oberhirten, die Priester und die Könige weiht. Der Mensch
ist ein wahrer Altar.
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Und König wird er durch seine
Erwählung für den Sitz im Himmel; er kann deshalb mit dem Öl der Salbung
geweiht werden. Das heilige Öl wird zusammen mit anderen Teilen des
israelitischen Kultes übernommen und meiner Kirche einverleibt werden, wenn
auch für andere Zwecke. Denn nicht alles in Israel ist schlecht und muß
verworfen werden. Vielmehr werden viele Erinnerungen an den alten Wurzelstock
in meiner Kirche erhalten bleiben. Eine davon wird das Öl der Salbung sein,
das auch in der Kirche zur Salbung des Altares, des Oberhirten, der
kirchlichen Hierarchien sowie der Könige und der Gläubigen benützt werden
wird, wenn sie Erbprinzen des Reiches Gottes werden oder besonderer Hilfe
bedürfen, um vor Gott mit von ihren Sünden gereinigten Gliedern und Sinnen
erscheinen zu können. Die Gnade des Herrn wird der Seele und auch dem Leib zu
Hilfe kommen, wenn es Gott so gefällt, zum Wohl des Kranken.
Oft wehrt sich der Körper nicht
gegen die Krankheit, auch weil die Gewissensbisse ihm den Frieden rauben und
weil Satan eingreift, der durch einen solchen Tod eine Seele für sein Reich zu
gewinnen hofft und die Hinterbliebenen zur Verzweiflung treiben möchte. Der
Kranke wird von der Umklammerung Satans und von der inneren Verwirrung frei,
wenn er die Gewißheit hat, daß Gott ihm verzeiht. Und da das Geschenk der
Gnade in den Stammeltern auch die Freiheit von Krankheiten und jeder Art des
Schmerzes beinhaltete, so kann der, dem die Gnade wiedergeschenkt ist, wie ein
neugeborenes, mit meiner Taufe getauftes Kind, auch den Sieg über die
Krankheit davontragen. Hierbei kann ihm des weiteren das Gebet seiner
Glaubensbrüder helfen, die zum Mitleid mit dem Kranken verpflichtet sind, und
zwar nicht nur in körperlicher Hinsicht, sondern vor allem in geistiger. Das
Gebet ist schon eine Form des Wunders, Jakobus. Das Gebet eines Gerechten, du
hast es bei Elias gesehen, kann Großes bewirken.»
«Ich verstehe dich nur wenig,
aber das, was ich verstehe, erfüllt mich mit Ehrfurcht vor der geistlichen
Würde deiner Priester. Wenn ich dich richtig verstehe, werden wir viel mit dir
gemeinsam haben: die Verkündigung, die Lossprechung, das Wunder. Drei
Sakramente also.»
«Nein, Jakobus! Die Verkündigung
und die Wunder sind keine Sakramente. Aber die Sakramente werden zahlreicher
sein. Sieben, wie die Arme des heiligen Leuchters im Tempel und die Gaben des
Geistes der Liebe. Und wahrlich, die Sakramente sind Gaben und Flammen,
eingesetzt, damit der Mensch in alle Ewigkeit vor dem Herrn leuchte. Es wird
auch ein Sakrament der Ehe für die Menschen geben, das angedeutet ist im
Symbol der heiligen Ehe der Sara des Raguel, die vom Dämon befreit wurde. Es
gibt dem Ehepaar alle notwendige Hilfe für ein heiliges Zusammenleben gemäß
dem Gesetz und den Forderungen Gottes. Auch Bräutigam und Braut werden zu
Dienern eines Ritus: jenem des Zeugens. Auch Ehemann und Ehefrau werden
Priester einer kleinen Kirche: der Familie.
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Sie müssen daher geweiht werden,
um mit dem Segen Gottes zu zeugen und eine Nachkommenschaft zu erziehen, die
den heiligsten Namen Gottes preist.»
«Und uns, die Priester, wer wird
uns weihen?»
«Ich, bevor ich euch verlasse.
Ihr werdet dann eure Nachfolger weihen und jene, die ihr zu Hilfe nehmt, um
den christlichen Glauben zu verbreiten.»
«Wirst du uns noch darin
unterweisen?»
«Ich und der, den ich euch senden
werde. Auch diese Herabkunft wird ein Sakrament und bei seiner Einsetzung von
Gott gewollt sein; danach wird es von jenen gespendet werden, die die Fülle
des Priestertums erhalten haben. Es wird Kraft und Erkenntnis verleihen; es
wird im Glauben bestärken; es wird heilige Frömmigkeit und heilige Furcht
erwecken; es wird Rat und übernatürliche Weisheit schenken und zudem eine
Gerechtigkeit, die durch ihre Natur und Macht das Kind, das es empfängt, zum
Erwachsenen macht. Aber das kannst du vorläufig noch nicht verstehen. Er
selbst wird es dir zu verstehen geben. Er, der göttliche Tröster, die ewige
Liebe, sobald ihr bereit seid, ihn zu empfangen. Ebenso könnt ihr jetzt ein
anderes Sakrament noch nicht verstehen. Es ist selbst für die Engel fast
unbegreiflich. Und doch werdet ihr, einfache Menschen, es im Glauben und in
der Liebe begreifen. Wahrlich, ich sage dir, wer es liebt und sich geistig
damit nährt, kann den Dämon zertreten, ohne Schaden zu erleiden. Denn ich
werde alsdann in ihm sein. Versuche, dich an diese Dinge zu erinnern, Bruder!
Deine Aufgabe wird es sein, sie deinen Gefährten und den Gläubigen
mitzuteilen, immer und immer wieder. Ihr werdet sie dann schon als Priester
Gottes betrachten, aber du wirst sagen können: "Er hat es mir eines Tages beim
Abstieg vom Karmel gesagt. Alles hat er mir gesagt, weil ich schon damals dazu
bestimmt war, Haupt der Kirche in Israel zu sein."»
«Noch etwas möchte ich dich
fragen. Ich habe diese Nacht daran gedacht. Muß ich selbst meinen Gefährten
sagen: Ich werde hier das Haupt sein? Das gefällt mir nicht. Ich tue es, wenn
du es befiehlst. Aber es gefällt mir nicht.»
«Fürchte dich nicht! Der Heilige
Geist wird auf alle herabsteigen und euch heilige Gedanken eingeben. Alle
werdet ihr die gleichen Gedanken hegen zur Ehre Gottes in seiner Kirche.»
«Wird es dann nie mehr die
jetzigen unangenehmen Streitigkeiten geben... ? Wird dann Judas des Simon
nicht mehr Ursache des Anstoßes sein?»
«Er wird es nicht mehr sein. Sei
beruhigt. Aber Schwierigkeiten wird es immer wieder geben. Deswegen habe ich
dir gesagt: Wache und überwache, ohne zu ermüden, und erfülle deine Pflicht
bis zum Äußersten.»
«Noch eine Frage, Herr! Wie soll
ich mich in Zeiten der Verfolgung
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verhalten? Demnach, was du sagst,
scheint es, daß ich von den Zwölfen als einziger zurückbleiben werde. Somit
werden sich die anderen durch die Flucht der Verfolgung entziehen. Und ich?»
«Du bleibst an deinem Platz. Denn
wenn es auch notwendig ist, daß ihr am Leben bleibt, bis die Kirche gefestigt
ist, und dies die Flucht vieler Jünger und fast aller Apostel rechtfertigt, so
würde nichts dein Davonlaufen und das Verlassen der Kirche von Jerusalern
rechtfertigen. Im Gegenteil! Je mehr sie in Gefahr ist, desto mehr mußt du
über sie wachen, als wäre sie dein eigenes Kind in Lebensgefahr. Dein Beispiel
wird den Geist der Gläubigen stärken. Sie werden es nötig haben, um die
Prüfung zu bestehen. Je schwächer du sie siehst, um so mehr mußt du ihnen
durch Mitleid und Weisheit helfen. Wenn du selbst auch stark bist, so sei doch
nicht ohne Mitleid für die Schwachen. Stärke sie im Gedanken: "Ich habe alles
von Gott erhalten, um diese meine Kraft zu erlangen. Demütig muß ich es
bekennen und liebevoll muß ich alle behandeln, die weniger mit den Gaben
Gottes gesegnet sind." Gib ihnen deine Kraft durch das Wort, durch tätige
Hilfe, Ruhe und das Beispiel.»
«Und wenn es Schlechte unter den
Gläubigen gäbe, die für andere zur Ursache des Ärgernisses werden und eine
Gefahr bilden: was soll ich dann tun?»
«Sei vorsichtig, bevor du sie
annimmst; denn besser ist es, wenige und Gute als viele und Schlechte zu
haben. Du kennst die alte Lehrfabel von den gesunden und kranken Äpfeln. Sorge
dafür, daß sie sich nicht in deiner Kirche wiederholt. Aber wenn du auch
Verräter entdeckst, so versuche mit allen Mitteln, sie wieder auf den rechten
Weg zu bringen und sei nur im äußersten Falle streng. Handelt es sich jedoch
nur um kleine persönliche Fehler, dann erschrecke sie nicht durch allzu große
Strenge. Verzeihe! Verzeihe! ... Eine von Tränen und Worten der Liebe
begleitete Vergebung ist wirkungsvoller als ein Fluch, wenn man ein Herz
erlösen will. Ist die Schuld schwerwiegend, jedoch Frucht eines plötzlichen
Angriffs Satans und so schwer, daß der Schuldige vor deinem Angesicht flieht,
so mache dich auf die Suche nach dem Schuldigen. Denn er ist das verirrte
Lamm, und du bist der Hirte! Fürchte nicht, dich zu erniedrigen, wenn du auf
schlammbedeckten Straßen gehst und in Sümpfen und Abfall wühlen mußt. Deine
Stirne wird sich bekränzen mit der Krone des Märtyrers der Liebe, und sie wird
die erste deiner drei Kronen sein... Und selbst wenn du verraten wirst, wie
der Täufer und viele andere – denn jeder Heilige hat seinen Verräter –
verzeihe! Deinem Verräter mehr als allen anderen. Verzeihe, wie Gott den
Menschen verziehen hat und verzeihen wird. Nenne ihn, der dir Schmerz bereitet
hat, wieder "Sohn", weil der Vater euch durch meinen Mund so nennt; und
wahrlich, es gibt keinen Menschen, der dem Vater im Himmel noch keinen Schmerz
zugefügt hätte ...»
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Ein langes Schweigen herrscht,
während sie über die Wiesen gehen, auf denen Schafe weiden.
Schließlich fragt Jesus: «Hast du
sonst noch Fragen?»
«Nein, Jesus! Und heute morgen
habe ich meine beängstigende Mission besser verstanden...»
«Weil du nicht mehr so verwirrt
bist wie gestern. Wenn deine Stunde gekommen ist, wirst du noch friedvoller
sein und alles noch besser verstehen...»
«Ich werde mich an alles
erinnern... an alles... mit Ausnahme von...»
«Was, Jakobus?»
«Ausgenommen das, was mich dich
heute nacht nicht ohne Tränen betrachten ließ und von dem ich nicht weiß, ob
du es mir wirklich gesagt hast und ich es glauben soll, weil du es gesagt
hast, oder ob es eine Einflüsterung des Dämons war. Wie kannst du so ruhig
sein, wenn diese Dinge dir wirklich bevorstehen sollten?»
«Und wärest du beruhigt, wenn ich
dir sagen würde: "Dort ist ein Hirte, der sich mit Mühe auf seinem
verkrüppelten Bein dahinschleppt. Schau, daß du ihn im Namen Gottes heilst?"»
«Nein, mein Herr! Ich müßte von
Sinnen sein, wenn ich von mir dächte, daß ich versucht sein könnte, deine
Stelle unberechtigterweise einnehmen zu wollen.»
«Und wenn ich es dir befehlen
würde?»
«Dann würde ich es aus Gehorsam
tun und wäre keineswegs erschrocken, denn ich wüßte, daß du es willst; und ich
hätte keine Angst, es nicht zu können, denn ganz gewiß würdest du mir die
Kraft geben, deinen Willen zu erfüllen.»
«Du sagst es, und du sagst es
gut! Du siehst also, daß ich, wenn ich dem Vater gehorche, immer im Frieden
bin.»
Jakobus weint und senkt das
Haupt.
«Willst du wirklich vergessen?»
«Wenn du willst, Herr ...»
«Du hast zwischen zwei Dingen zu
wählen: du kannst vergessen oder dich erinnern. Das Vergessen wird dich von
Schmerz und absolutem Schweigen deinen Gefährten gegenüber befreien; aber es
wird dich unvorbereitet lassen. Die Erinnerung wird dich auf deine Aufgabe
vorbereiten; denn man braucht sich nur an alles zu erinnern, was der
Menschensohn auf seinem irdischen Lebenswege erdulden muß, um sich nie zu
beklagen und sich geistig zu stärken, indem man diesen Lebensweg Christi im
hellsten Licht schaut. Wähle!»
«Glauben, sich erinnern, lieben!
Das möchte ich. Und so bald als möglich sterben, Herr...» Jakobus weint noch
immer lautlos. Nur die Tränen, die auf seinem braunen Barte glänzen, zeigen
an, daß er weint.
Jesus läßt ihn gewähren...
Endlich sagt Jakobus: «Solltest du in Zukunft
47
wieder Andeutungen
hinsichtlich... hinsichtlich deines Martyriums machen, muß ich dann sagen, daß
ich davon weiß?»
«Nein, schweige! Joseph wußte zu
schweigen über seinen Schmerz als Bräutigam, der sich verraten glaubte, und
über das Geheimnis der jungfräulichen Empfängnis und meine Natur. Ahme ihn
nach! Auch dies war ein schreckliches Geheimnis. Und doch wurde es bewahrt;
denn hätte er es aus Hochmut oder Leichtsinn nicht bewahrt, wäre die ganze
Erlösung in Gefahr geraten. Satan ist ausdauernd im Wachen und Handeln. Denk
daran! Dein Reden würde jetzt vielen, zu vielen Dingen zum Schaden gereichen.
Schweige!»
«Ich werde schweigen... Es wird
eine doppelte Last sein ...»
Jesus antwortet nicht. Er läßt es
geschehen, daß Jakobus unter seiner leinenen Kopfbedeckung ungehemmt weint.
Sie begegnen einem Mann, der ein
mißbildetes Kind auf dem Rücken trägt.
«Ist es dein Kind?» fragt Jesus.
«Ja! Es wurde mir geboren und hat
dabei die Mutter getötet. Nun ist auch meine Mutter gestorben, und ich muß es
mit zur Arbeit nehmen und auf es achten. Ich bin Waldarbeiter. Ich lege es auf
die Wiese, auf den Mantel, und während ich Bäume säge, vergnügt mein elendes
Bübchen sich mit den Blumen.»
«Du bist von einem großen Unglück
heimgesucht worden.»
«Nun ja. Doch was Gott will, das
muß man im Frieden annehmen.»
«Leb wohl, Mann, der Friede sei
mit dir!»
Der Mann geht bergaufwärts, und
Jesus und Jakobus gehen bergabwärts.
«Wieviel Unglück! Ich habe
gehofft, daß du es heilen würdest», seufzt Jakobus.
Jesus tut, als hätte er nichts
gehört.
«Meister, wüßte der Mann, daß du
der Messias bist, so hätte er dich vielleicht um ein Wunder gebeten...»
Jesus antwortet nicht.
«Jesus, darf ich dem Mann
nachgehen und es ihm sagen? Ich habe Mitleid mit dem Kind. Mein Herz ist schon
voller Schmerz. Mache mir doch wenigstens die Freude, dieses Kind geheilt zu
sehen.»
«Geh nur, ich werde hier auf dich
warten.»
Jakobus eilt davon. Er holt den
Mann ein und ruft ihm zu: «Mann, bleib stehen und höre zu! Der, der mit mir
war, ist der Messias! Gib mir dein Kind, damit ich es zu ihm bringe. Komm auch
du, wenn du willst, und sieh, ob der Meister es dir heilt.»
«Geh du, Mann! Ich muß all dies
Holz sägen. Ich habe mich verspätet wegen des Kindes. Wenn ich nicht arbeite,
habe ich nichts zu essen. Ich bin arm, und das Kind kostet mich viel. Ich
glaube an den Messias, aber es ist besser, wenn du für mich redest.»
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Jakobus bückt sich, um das auf
dem Gras liegende Kind aufzunehmen. «Sei vorsichtig», mahnt der Holzfäller,
«alles tut ihm weh!»
Tatsächlich weint das Kind
jämmerlich, als Jakobus es ein wenig hochhebt.
«Oh, welch ein Elend!» seufzt
Jakobus.
«Ein großes Leid», sagt der
Holzfäller, der an einem harten Stamm weitersägt, und fährt fort: «Könntest du
es nicht heilen?»
«Ich bin nicht der Messias. Ich
bin nur einer seiner Jünger...»
«Nun, die Ärzte lernen von den
anderen Ärzten. Die Jünger vom Meister. Sei so gut und laß es nicht noch mehr
leiden. Versuche du es! Wenn der Meister es gewollt hätte, dann wäre er
hierhergekommen. Er hat dich gesandt, weil er nicht helfen will oder weil er
will, daß du das Kind heilst.»
Jakobus ist erstaunt. Dann
entscheidet er sich. Er reckt sich auf und betet, wie er es bei Jesus gesehen
hat, und sagt: «Im Namen Jesu Christi, des Messias von Israel und des Sohnes
Gottes, werde gesund!» Und gleich darauf kniet er nieder mit den Worten: «O
mein Herr! Verzeihung! Ich habe ohne deine Erlaubnis gehandelt! Aber das
Mitleid für dieses Geschöpf Israels hat mich dazu getrieben. Erbarmen, mein
Gott! Erbarme dich seiner und meiner, des Sünders!» Und er weint hemmungslos,
über das liegende Kind gebeugt. Die Tränen fallen auf die verkrüppelten,
reglosen Beinchen.
Jesus kommt auf dem Waldweg
daher, aber niemand bemerkt ihn, weil der Holzfäller arbeitet. Jakobus weint,
und das Kind schaut ihn neugierig an und fragt mit lieblicher Stimme: «Warum
weinst du?» Und es streckt sein Händchen aus, um Jakobus zu streicheln, und
unversehens setzt es sich allein auf und umarmt Jakobus, um ihn zu trösten.
Der Ausruf des Jakobus veranlaßt den Holzfäller, sich umzuwenden, und er
sieht, daß sein Kind nun aufrecht auf seinen nicht mehr leblosen und
verkrüppelten Beinchen steht. Als er sich vollends umdreht, bemerkt er auch
Jesus.
«Da ist er! Da ist er!» schreit
er und deutet auf den Meister. Jakobus, der sich ebenfalls umgewendet hat,
sieht Jesus, der ihn mit einem Blick strahlender Freude anschaut.
«Meister, Meister! Ich weiß
nicht, wie es geschehen ist... Das Mitleid, dieser Mann... dieses Kind...
Verzeih!»
«Steh auf! Die Jünger sind nicht
mehr als der Meister, aber sie können tun, was der Meister tut, wenn sie aus
einem heiligen Beweggrund handeln. Steh auf und komm mit mir! Seid gesegnet,
ihr beiden, und vergeßt nicht, daß auch die Diener Gottes die Werke des Sohnes
Gottes vollbringen können»; er geht, Jakobus hinter sich herziehend, der immer
wieder sagt: «Aber wie konnte ich nur? Ich verstehe es nicht. Womit habe ich
in deinem Namen ein Wunder gewirkt?»
«Mit deinem Mitleid, Jakobus! Mit
deinem Verlangen, daß ich von diesem Unschuldigen und von dem Mann geliebt
werde, der zugleich glaubte
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und zweifelte. Johannes wirkte
bei Jabnia ein Wunder aus Liebe; er salbte einen Sterbenden und betete dabei.
Du hast hier durch deine Tränen und dein Mitleid geheilt; und durch dein
Vertrauen auf meinen Namen. Schau, wie friedvoll es ist, dem Herrn zu dienen,
wenn der Jünger in rechter Absicht handelt. Jetzt wollen wir rasch gehen, denn
der Mann folgt uns. Es ist nicht gut, wenn die Gefährten es jetzt schon
erfahren. Bald werde ich euch in meinem Namen aussenden... (ein tiefer Seufzer
Jesu), wie Judas des Simon es brennend wünscht (ein weiterer tiefer Seufzer).
Und ihr werdet Wunder wirken... Aber nicht für alle wird es gut sein. Schnell,
Jakobus! Simon Petrus, dein Bruder, und auch die anderen würden leiden, wenn
sie es hörten; sie sähen es als eine Bevorzugung an. Es ist aber keine! Es ist
nur geschehen, um einen von euch Zwölfen darauf vorzubereiten, die anderen zu
leiten. Wir wollen am Ufer dieses von Sträuchern überwachsenen Baches
weitergehen. So werden sich unsere Spuren verwischen. Bedauerst du es wegen
des Kindes? Oh, wir werden es wiederfinden...»
302. PETRUS PREDIGT IN ESDRELON:
«DIE LIEBE IST DAS HEIL»
«Was macht ihr bei diesem Feuer,
Freunde?» fragt Jesus, als er die Jünger bei einem wohlgeschürten Feuer
vorfindet, das an einer Wegkreuzung in der Ebene von Esdrelon brennt und die
ersten Schatten des Abends erhellt.
Die Apostel, die den Meister
nicht kommen gesehen haben, springen auf und vergessen das Feuer, um ihm
zuzujubeln. Es scheint, als hätten sie ihn seit einem Jahrhundert nicht mehr
gesehen. Dann erklären sie: «Wir haben einen Streit zwischen zwei Brüdern
Jezraels geschlichtet; sie sind so glücklich darüber gewesen, daß jeder von
ihnen uns ein Lämmlein hat schenken wollen. Wir haben die Absicht, sie zu
braten und den Arbeitern des Doras zu schenken. Michäas des Jochanan hat sie
enthäutet und zubereitet; jetzt wollen wir sie braten. Deine Mutter ist mit
Susanna und Maria die Leute des Doras benachrichtigen gegangen, damit sie am
späten Abend kommen, wenn der Aufseher sich in sein Haus eingeschlossen hat,
um dort zu zechen. Die Frauen fallen weniger auf... Wir haben versucht, wie
Wanderer in die Felder zu gehen und mit ihnen zu sprechen. Doch wir hatten
wenig Erfolg. Heute abend wollten wir uns hier versammeln und... ihnen etwas
mehr für die Seele sagen; und auch für ihr leibliches Wohl sorgen, wie du es
schon andere Male getan hast. Aber jetzt bist du ja da, und es wird noch viel
schöner werden.»
«Wer hätte gesprochen?»
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«Hm... Jeder ein wenig... Nur
so... wie es sich eben ergeben hätte. Zu mehr sind wir ja nicht fähig.
Außerdem wollen Johannes, der Zelote und dein Bruder nicht sprechen, und Judas
des Simon und Bartholomäus diesmal auch nicht... Wir haben uns sogar darüber
gezankt ...» sagt Petrus.
«Und warum wollen die Fünf nicht
reden?»
«Johannes und Simon sagen, daß es
nicht recht ist, wenn sie immer reden... Dein Bruder meint, daß ich reden
soll, weil ich sonst nie damit anfange... Bartholomäus, weil... weil er sich
fürchtet, zu lehrhaft zu reden und nicht zu überzeugen. Du siehst, daß es nur
Ausreden sind ...»
«Und du, Judas des Simon, warum
willst du nicht reden?»
«Nun, aus denselben Gründen wie
die anderen. Aus allen genannten Gründen, denn alle sind berechtigt ...»
«Viele Gründe, und einer wurde
nicht erwähnt. So will ich entscheiden, und meine Entscheidung ist
unanfechtbar. Du, Simon des Jonas, wirst sprechen, wie der weise Thaddäus
sagt. Und du, Judas des Simon, wirst ebenfalls reden. So wird einer der vielen
Gründe, der nur Gott und dir bekannt sind, aufhören zu existieren.»
«Meister, glaube mir, es gibt
keinen anderen...» versucht Judas zu entgegnen.
Doch Petrus übertönt ihn mit den
Worten: «O Herr! Ich soll in deiner Gegenwart reden? Das wird mir nicht
gelingen. Ich fürchte, daß du mich auslachst ...»
«Du willst nicht allein sein; du
willst nicht bei mir sein... Was willst du denn also?»
«Du hast recht. Aber... Was soll
ich sagen?»
«Schau, da kommt dein Bruder mit
den Lämmlein. Hilf ihm, und während du sie bratest, denke darüber nach. Alles
kann dazu dienen, Argumente zu finden.»
«Auch ein Lämmlein über der
Flamme?» fragt Petrus ungläubig.
«Auch das. Gehorche!»
Petrus stößt einen tiefen Seufzer
aus, aber er widerspricht nicht mehr. Er geht Andreas entgegen und hilft ihm,
die Tiere auf einen zugespitzten Stock, der als Bratspieß dienen soll, zu
spießen, und überwacht das Braten mit einem solchen Ausdruck der Sammlung im
Gesicht, daß man meinen könnte, einen Richter im Augenblick des Urteilspruchs
vor sich zu haben.
«Wir wollen den Frauen
entgegengehen, Judas des Simon», befiehlt Jesus, und geht auf die verlassenen
Felder des Doras zu.
«Ein guter Jünger verachtet
nicht, was der Meister nicht verachtet, Judas», sagt er nach einiger Zeit und
ohne Einleitung.
«Meister, ich verachte nicht.
Doch wie Bartholomäus fühle ich, daß ich nicht verstanden würde, und ziehe es
vor, zu schweigen.»
51
«Nathanael fürchtet, meinen
Wunsch, die Herzen zu erleuchten und zu erheben, nicht erfüllen zu können.
Auch er handelt nicht gut, weil es ihm an Vertrauen auf den Herrn mangelt.
Aber du handelst noch viel weniger richtig, denn du hast nicht Angst, nicht
verstanden zu werden, sondern du verschmähst es, die armen Bauern zu belehren,
die unwissend in allem sind, außer in der Tugend. An Tugend übertreffen sie
viele von euch. Du hast immer noch nichts begriffen, Judas! Das Evangelium ist
wirklich die Frohe Botschaft, die den Armen, den Kranken, den Sklaven und den
Verlassenen gebracht werden muß. Danach werden sie auch die anderen erhalten.
Aber sie ist vor allem bestimmt für die Unglücklichen, damit sie in ihrem
Unglück Hilfe und Trost finden.»
Judas neigt den Kopf; er
antwortet nicht.
Aus einem dichten Gebüsch treten
Maria, Maria des Kleophas und Susanna hervor.
«Mutter, ich grüße dich! Der
Friede sei mit euch, ihr Frauen!»
«Mein Sohn! Ich bin zu den...
Gequälten gegangen. Doch ich habe eine gute Nachricht erhalten, die mir keine
übermäßigen Schmerzen bereitet: Doras hat sich dieser Ländereien entledigt,
und Jochanan hat sie übernommen. Es ist kein Paradies, aber es ist nicht mehr
jene Hölle. Heute hat der Verwalter den Landarbeitern die Entscheidung
mitgeteilt. Doras ist schon weggezogen und hat auf seinem Wagen alles bis auf
das letzte Körnchen mitgeschleppt und alle ohne Nahrung zurückgelassen. Da der
Aufseher Jochanans heute nur Lebensmittel für seine Leute hat, wären die des
Doras ohne Essen geblieben. Es ist wirklich eine Vorsehung, daß wir diese
Lämmchen haben.
«Es ist auch eine Vorsehung, daß
die Arbeiter nicht mehr Doras gehören. Wir haben ihre Häuser gesehen...
Schweineställe... !» sagt Susanna entrüstet.
«Sie sind überglücklich, die
Ärmsten!» fügt Maria des Kleophas bei.
«Auch ich bin glücklich. Es wird
ihnen immerhin besser gehen als zuvor», antwortet Jesus, der zu den Aposteln
zurückkehrt.
Johannes von Endor holt ihn. Er
trägt zusammen mit Ermastheus Wasserkrüge. «Die Leute Jochanans haben sie uns
gegeben», erklärt er, nachdem er Jesus begrüßt hat.
Alle kehren zum Platz zurück, an
dem die beiden Lämmer inmitten dichter Rauchwolken geröstet werden. Petrus
dreht unablässig seinen Bratspieß und hängt seinen Gedanken nach. Judas
Thaddäus hingegen, der seinen Bruder an der Hüfte umfangen hält, geht mit ihm
auf und ab und redet eifrig. Von den übrigen bringt der eine neues Holz
herbei, der andere deckt den Tisch, der wie die Sitzgelegenheiten aus großen
Steinen zu bestehen scheint. Ich weiß es nicht.
Da kommen die Landarbeiter des
Doras. Sie scheinen mir noch magerer und zerlumpter als früher zu sein. Aber
sie sind überglücklich! Es sind
52
etwa zwanzig; und weder ein Kind
noch eine Frau ist bei ihnen. Nur arme Männer...
«Der Friede sei mit euch allen!
Wir wollen zusammen den Herrn preisen, daß er euch einen besseren Vorgesetzten
geschenkt hat. Wir wollen Ihn preisen und ihn um die Bekehrung dessen bitten,
der euch so sehr hat leiden lassen. Nicht wahr? Bist du glücklich, alter
Vater? Ich auch! Ich werde jetzt öfters mit dem Knaben kommen können. Haben
sie dir das gesagt? Du weinst vor Freude, nicht wahr? Komm, komm ohne Furcht
...»sagt er zum Großvater Margziams, der ihm ganz gebeugt und weinend die Hand
küßt und flüstert: «Ich werde den Allerhöchsten nun um nichts mehr bitten. Er
hat mir mehr gegeben, als ich erbeten habe. Jetzt möchte ich sterben, aus
Furcht, noch lange genug leben, um wiederum in mein Leid zurückzufallen.»
Die anfangs etwas schüchternen
Arbeiter fassen bald Mut, und als man auf den mit breiten Blättern bedeckten
Steinen die beiden Lämmer zerlegt und die Portionen auf große Brotfladen, die
als Teller dienen, legt, haben sich schon alle in ihrer Einfalt beruhigt und
essen mit Appetit; sie stillen ihren Hunger und berichten von den letzten
Ereignissen.
Einer sagt: «Ich habe immer die
Heuschrecken, die Maulwürfe und die Ameisen verwünscht. Aber von jetzt an
werden sie mir alle Botschafter des Herrn sein. Denn ihretwegen verlassen wir
die Hölle.» Und wenn auch der Vergleich von Ameisen und Heuschrecken mit den
himmlischen Heerscharen etwas unpassend ist, so lacht doch niemand, denn alle
fühlen die Tragik, die in diesen Worten steckt.
Die Flamme beleuchtet die kleine
Versammlung, aber die Gesichter sind nicht auf das Feuer gerichtet, und die
Augen schauen nur wenig auf das, was sie vor sich haben. Aller Augen sind dem
Antlitz Jesu zugewandt; sie werden nur einen Augenblick von ihm abgelenkt,
wenn Maria des Alphäus, die damit beschäftigt ist, die Tiere zu zerlegen, neue
Fleischstücke auf die Brotfladen für die hungrigen Arbeiter legt. Sie beendet
ihre Arbeit, indem sie zwei geröstete Keulen in Blätter wickelt und sie dem
Großvater Margziams gibt mit den Worten: «Nimm! Damit jeder auch morgen noch
einen Bissen hat. Inzwischen wird der Aufseher Jochanans Vorsorge treffen.»
«Aber ihr...»
«Wir essen nicht viel. Nimm,
nimm, Mann!»
Von den beiden Lämmern bleibt
nichts übrig als abgenagte Knochen und der durchdringende Geruch von
geronnenem Fett, das noch immer an den verlöschenden Holzscheiten brennt,
deren schwaches Licht nun die Helligkeit des Mondes ersetzt. Auch die Arbeiter
Jochanans gesellen sich zu den anderen. Es ist Zeit, mit den Reden zu
beginnen. Die blauen Augen Jesu schauen auf und suchen Judas Iskariot, der
sich in der Nähe eines Baumes ein wenig ins Dunkel gesetzt hat.
53
Und da Jesus sieht, daß Judas so
tut, als hätte er seinen Blick nicht verstanden, ruft er laut: «Judas!» Jetzt
erhebt er sich augenblicklich und tritt hervor.
«Sondere dich nicht ab. Ich bitte
dich, an meiner Statt die Frohe Botschaft zu verkünden. Ich bin sehr müde. Und
wenn ich heute abend nicht zurückgekommen wäre, dann hättet ihr sowieso
sprechen müssen.»
«Meister, ich weiß nicht, was ich
sagen soll... Stelle mir wenigstens Fragen!»
«Nicht ich habe die Fragen zu
stellen. Ihr Leute, was wollt ihr hören oder erklärt haben?» fragt er dann die
Landarbeiter.
Die Männer blicken sich
gegenseitig an... sie sind unschlüssig... Endlich fragt ein Bauer: «Wir haben
die Macht des Herrn und seine Güte erfahren. Aber wir wissen noch sehr wenig
von seiner Lehre. Vielleicht werden wir jetzt mehr davon erfahren, da wir
Jochanan gehören. Aber wir haben den lebhaften Wunsch zu erfahren, welches die
unentbehrlichsten Dinge sind, die man tun muß, um das Reich zu erlangen, das
der Messias verspricht. Ist es uns möglich, es mit dem Wenigen, das wir tun
können, verdienen?»
Judas antwortet: «Gewiß, ihr lebt
in sehr widrigen Verhältnissen. Alles um euch verschwört sich gegen euch, um
euch vom Himmelreich fernzuhalten. Die Tatsache, daß ihr nicht frei seid, zum
Meister zu gehen, wann ihr wollt; eure Lage als Knechte eines Herrn, der zwar
keine Hyäne ist wie Doras, aber anscheinend dennoch eine Dogge, da er seine
Diener gefangen hält; die Leiden und Verdemütigungen, die euch zuteil werden;
all diese Dinge sind ebenso viele ungünstige Vorbedingungen für eure Erwählung
in das Reich. Denn schwerlich hegt ihr nicht Gefühle des Grolls und der Rache,
der Kritik und des Hasses gegen den, der euch so hart behandelt. Das
grundlegend Notwendige ist aber die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Ohne sie
gibt es keine Rettung. Ihr müßt darüber wachen, daß euer Herz sich jederzeit
gefügig dem Willen Gottes unterwirft, der sich in eurem Schicksal äußert und
das geduldige Ertragen eures Herrn verlangt. Ihr dürft euren Gedanken nicht
die Freiheit eines Urteils erlauben, das weder dem Gutsbesitzer gegenüber
wohlwollend wäre, noch dankbar eurem... eurem... ich will damit sagen, ihr
sollt nicht nachdenken, damit sich in euch keine rebellischen Gedanken regen,
die die Liebe töten. Denn wer keine Liebe hat, wird nicht gerettet, da er dem
ersten und wichtigsten Gebot zuwiderhandelt. Ich bin aber fast sicher, daß ihr
euch retten könnt; denn ich sehe in euch guten Willen vereint mit Sanftmut des
Herzens. Dies läßt mich hoffen, daß ihr Haß und Rachsucht von euch
fernhaltet... Im übrigen ist die Barmherzigkeit Gottes so groß, daß sie euch
euren Mangel an Vollkommenheit verzeihen wird.»
Schweigen. Jesus steht mit tief
gesenktem Haupt da; man kann seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen; aber die
anderen Gesichter kann man
54
wohl sehen. Und es sind nicht
gerade selige Gesichter. Die Bauern sind noch beschämter als zuvor, die
Gesichter der Apostel und der Frauen sind erstaunt, ich möchte fast sagen
erschrocken.
«Wir werden versuchen, in uns
keine Gedanken aufkommen zu lassen, die nicht auf Geduld und Verzeihung
gegründet sind», antwortet demütig der Alte.
Ein anderer Bauer seufzt: «Es
wird sicher schwierig sein, zur Vollkommenheit der Liebe zu gelangen, für uns,
für die es schon viel bedeutet, daß wir nicht zu Mördern unserer
Henkersknechte geworden sind. Das Gemüt leidet, leidet, leidet, und wenn es
auch nicht haßt, so hat es doch Mühe zu lieben, wie zurückgebliebene Kinder,
denen es nicht gelingt, zu wachsen...»
«Aber nein, mein Lieber. Ich
glaube vielmehr, daß ihr, gerade weil ihr so gelitten habt, ohne rachsüchtige
Mörder zu werden, eine viel tiefere Liebe als wir. Ihr liebt, ohne euch dessen
bewußt zu sein», sagt Petrus, um sie zu trösten. Und da erst merkt er, daß er
gesprochen hat, und unterbricht sich, um zu sagen: «Oh, Meister! ... Aber...
du hast mir gesagt, ich soll reden... und ein Thema finden, auch im Lamm, das
ich gebraten habe. Und ich habe es die ganze Zeit über betrachtet, um gute
Worte zu finden für diese unsere Brüder in ihrer traurigen Lage. Aber weil ich
so töricht bin, habe ich nichts Geeignetes gefunden. Ich weiß nicht, wie es
geschehen ist, aber mir kamen davon weit entfernte Gedanken, von denen ich
nicht weiß, ob ich sie für ungewöhnlich – dann sind sie sicher von mir – oder
für heilig halten soll; in letzterem Fall würde es bedeuten, daß sie vom
Himmel sind. Ich sage sie so, wie sie mir in den Sinn gekommen sind, und du,
Meister, wirst mir eine Erklärung geben oder mich tadeln, und ihr alle sollt
Mitleid mit mir haben.
Ich habe also zunächst auf die
Flamme geschaut, und dabei ist mir dieser Gedanke gekommen: "Nun, woraus
entsteht die Flamme? Aus dem Holz. Das Holz kann aber aus sich nicht in
Flammen aufgehen. Im Gegenteil, wenn es nicht recht trocken ist, brennt es
nicht; denn das Wasser beschwert und hindert es, sich zu entzünden. Ist das
Holz tot, kann es auch verfaulen oder von Holzwürmern zerfressen werden und zu
Staub zerfallen; doch aus sich selbst wird es nie in Flammen aufgehen. Aber
siehe, wenn es jemand geschickt aufschichtet und ihm mit Feuerstein und Zunder
nahe kommt, um einen Funken zu entfachen, und wenn er noch bläst, um das
Flämmchen zu schüren, und zuerst mit dünnen Hölzern beginnt, dann steigt die
Flamme auf, wird immer schöner und nützlicher und erfaßt alles, selbst die
großen Holzblöcke." Und ich sagte mir: "Wir sind das Holz. Von selbst
entzünden wir uns nicht. Aber wir müssen dafür sorgen, daß unser Holz nicht zu
sehr von der Feuchtigkeit des Fleisches und Blutes durchtränkt wird, um dem
Funken des Zunders zu ermöglichen, es zu erfassen. Und wir müssen danach
verlangen, verbrannt zu werden, da wir, wenn wir tatenlos bleiben, von
Unwettern und Würmern
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vernichtet; das heißt, vom
Menschlichen und vom Dämon erfaßt werden. Überlassen wir uns hingegen dem
Feuer der Liebe, fängt dieses an, die kleinen Zweige zu entzünden und zerstört
sie – für mich sind die Zweiglein die Unvollkommenheiten. Dann wird es größer
und verzehrt die stärkeren Hölzer, das heißt die stärkeren Leidenschaften. Und
wir harten, klotzigen, ja häßlichen Hölzer werden dann zu jenem schönen,
körperlosen, flinken, leuchtenden Etwas: zur Flamme. Und dies geschieht, wenn
wir uns der Liebe hingeben, die Feuerstein und Zunder zugleich ist und aus dem
in diesem elenden Leben sündigen Menschen den Engel der künftigen Zeiten, den
Bürger des himmlischen Reiches, macht."
Das war mein Gedanke.»
Jesus hat ein wenig das Haupt
erhoben und hört mit geschlossenen Augen und der Spur eines Lächelns auf den
Lippen zu. Die anderen schauen auf Petrus, etwas erstaunt, doch nicht mehr
erschrocken. Ruhig fährt er fort:
«Noch etwas ist mir in den Sinn
gekommen, als ich die Tiere während des Bratens beobachtete. Sagt nur nicht,
ich sei kindisch in meinem Denken. Der Meister hat mich aufgefordert, in dem
zu suchen, was vor mir war... und ich habe ihm gehorcht.
Ich habe auf die Tiere geschaut
und mir gesagt: "Siehe, es sind zwei unschuldige, zwei sanfte Geschöpfe.
Unsere Schrift ist voll zarter Anspielungen auf das Lamm, sowohl um an den zu
erinnern, der der verheißene Messias und Erlöser sein wird, seit das mosaische
Lamm sein Symbol wurde, als auch um auszudrücken, daß Gott auch mit uns
Erbarmen hat. So sagen die Propheten. Er kommt, um seine Schafe zu sammeln, um
die Wunden zu heilen und die Verletzten zu tragen. Welche Güte!" sagte ich
mir. "Wie kann man einen Gott fürchten, der uns Armseligen so viel
Barmherzigkeit verspricht!" Aber ich sagte mir auch: "Wir müssen mild sein,
wenigstens mild, da wir schon nicht schuldlos sind. Mild sein und danach
verlangen, von der Liebe verzehrt zu werden. Denn was wird aus dem schönsten
und reinsten Lämmlein, was wird aus ihm, wenn es getötet, aber von der Flamme
nicht geröstet wird? Ein faulendes Aas. Doch wenn das Feuer es umhüllt, wird
es zur gesunden und gesegneten Speise!"
Und ich kam zur Folgerung:
"Kurzum, alles Gute entspringt der Liebe. Sie enthebt uns der Schwere des
Menschlichen; sie macht uns leuchtend und nützlich; sie läßt uns brüderlich
und Gott dankbar werden; sie verfeinert unsere natürlichen guten Eigenschaften
und trägt sie zu einer Höhe, auf der man sie als übernatürliche Tugenden
bezeichnet. Und wer tugendhaft ist, ist heilig, und wer heilig ist, besitzt
das Himmelreich. Daher sind es nicht Wissenschaft noch Furcht, die uns die
Wege der Vollkommenheit öffnen, sondern die Liebe. Sie hält uns mehr als die
Furcht vor der Strafe vom Bösen ab, denn sie verlangt danach, Gott nicht zu
betrüben. Sie lehrt uns, Mitleid mit den Brüdern zu haben und sie zu lieben,
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da sie von Gott kommen. Deswegen
ist die Liebe das Heil und die Heiligung des Menschen."
Das waren die Dinge, an die ich,
während ich auf den Braten achtete, dachte und damit meinem Jesus gehorchte.
Verzeiht mir, daß das alles ist. Aber mir hat es gut getan! Ich gebe diese
Gedanken an euch weiter in der Hoffnung, daß auch ihr aus ihnen Nutzen zieht
1»
Jesus öffnet die Augen; sie
strahlen. Er streckt einen Arm aus und legt die Hand auf die Schulter des
Petrus: «Wahrlich, du hast die richtigen Worte gefunden. Gehorsam und Liebe
haben sie dich finden lassen. Und die Demut und das Verlangen, den Brüdern
Trost zu geben, werden sie ebenso viele Sterne an ihrem dunklen Himmel sein
lassen. Gott segne dich, Simon des Jonas!»
«Gott segne dich, mein Meister!
Und du sagst nichts?»
«Morgen werden sie in den Dienst
eines neuen Herrn treten. Ich will diese neue Arbeit mit meinem Wort segnen.
Jetzt geht in Frieden, und Gott sei mit euch!»
303. JESUS SPRICHT ZU DEN
LANDARBEITERN JOCHANANS: «LIEBE IST GEHORSAM»
Die Sonne ist noch nicht
aufgegangen. Jesus steht inmitten eines verwüsteten Obstgartens des Doras.
Reihen von abgestorbenen oder sterbenden Bäumen umgeben ihn, und viele von
diesen sind schon gefällt oder ausgegraben worden. Die Arbeiter des Doras und
Jochanan und die Apostel sind um Jesus versammelt, teils stehend, teils auf
umgestürzten Baumstämmen sitzend.
Jesus beginnt zu reden: «Ein
neuer Morgen und eine neue Abreise. Und ich bin nicht der einzige, der
abreist; auch ihr reist ab, wenn nicht in materieller, so doch in moralischer
Hinsicht, indem ihr in die Dienste eines neuen Gutsherrn tretet. Ihr kommt so
mit anderen guten und frommen Arbeitern zusammen und werdet eine Familie
bilden, in der ihr von Gott und seinem Wort reden könnt, ohne dazu Verstecke
aufsuchen zu müssen. Stärkt euch gegenseitig im Glauben, helft einander, und
jeder ertrage die Fehler des anderen und diene ihm zur Erbauung.
Das ist Liebe. Ihr habt gestern
abend gehört, wenn auch in anderer Form, daß in der Liebe Rettung ist. Simon
Petrus hat euch mit einfachen Worten erklärt, wie die Liebe die bedrückende
Natur (das tägliche Leben) in eine übernatürliche verwandelt und aus einem
Individuum (das ohne Liebe verdorben und schädlich und wie ein geschlachtetes
und nicht über dem Feuer gebratenes Tier unnützer wird als ein Stück Holz, das
im Wasser vermodert und zum Feuern nicht mehr gut ist) einen Menschen machen
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kann, der schon in der Atmosphäre
Gottes lebt und daher ein Wesen ist, das der Verderbnis entrinnt und seinem
Nächsten nützt.
Daher glaubt mir, Söhne, die
große Kraft des Universums ist die Liebe. Ich werde nie müde werden, dies zu
wiederholen. Alles Unglück auf der Erde kommt von der Lieblosigkeit,
angefangen vom Tod und den Krankheiten, die aus Mangel an Liebe zum
Allerhöchsten Herrn in Adam und Eva geboren wurden.
Denn die Liebe ist Gehorsam. Wer
nicht gehorcht, ist ein Rebell. Wer ein Rebell ist, liebt den nicht, gegen den
er rebelliert. Aber auch die allgemeinen und die persönlichen Unglücksfälle
wie Kriege oder Streitigkeiten in den Familien, woher stammen sie? Vom
Egoismus, der nichts anderes ist als Lieblosigkeit. Und mit dem Ruin der
Familien kommt auch der Ruin der Güter als Strafe Gottes. Denn Gott straft
früher oder später jeden, der ohne Liebe lebt. Ich weiß, daß hier eine
Geschichte umgeht, um derentwillen ich von einigen gehaßt und von anderen mit
ängstlichem Herzen beobachtet werde; oder man bezeichnet mich als neue Strafe
und duldet mich nur aus Angst vor dieser Strafe. Es ist die Fabel, wonach mein
Blick die Felder verwüstet hat. Nicht mein Blick: es war der bestrafte
Egoismus eines ungerechten und grausamen Menschen. Würden meine Blicke allen
Grund und Boden derer, die mich hassen, verbrennen, dann gäbe es wahrlich
wenig Grünland in Palästina!
Ich räche mich nie an denen, die
mich beleidigen, sondern überlasse dem Vater all jene, die hartnäckig in ihrer
Sünde der Selbstsucht gegenüber dem Nächsten verharren, auf lästerliche Weise
die Gebote verspotten und um so grausamer werden, je mehr Worte sie hören und
Handlungen sehen, die sie von der Liebe überzeugen wollen. Ich bin immer
bereit, die Hand zu erheben und dem Reumütigen zu sagen: "Ich spreche dich
los. Geh in Frieden!" Aber ich beleidige die Liebe nicht dadurch, daß ich mich
mit unbußfertigen Herzen einverstanden erkläre. Habt dies immer vor Augen, um
die Dinge im rechten Licht zu sehen und die Fabeln Lügen zu strafen, die – ob
sie nun aus großer Verehrung oder aus haßerfüllter Angst hervorgehen – immer
von der Wahrheit abweichen.
Ihr wechselt jetzt den Herrn,
doch ohne diese Felder zu verlassen. Und wenn es auch Torheit zu sein scheint,
sie zu pflegen, so sage ich euch dennoch: tut eure Pflicht hier! Ihr habt sie
bisher aus Furcht vor unmenschlichen Strafen erfüllt. Erfüllt sie weiterhin,
auch wenn ihr nun anders behandelt werdet. Ja, ich sage euch sogar, je
menschlicher ihr behandelt werdet, desto mehr müßt ihr euch bemühen, mit
freudigem Fleiß zu arbeiten, um mit eurer Arbeit jenen zu danken, die euch mit
Menschlichkeit behandeln. Gewiß ist es richtig, daß die Herren die Pflicht
haben, menschlich mit ihren Untergebenen zu verfahren – indem sie bedenken,
daß wir alle vom gleichen Stamm sind; daß jeder Mensch nackt geboren wird und
ebenso stirbt und verwest, sowohl der Arme als auch der Reiche;
58
daß die Reichtümer nicht das Werk
derjenigen sind, die sie besitzen, sondern jener, die sie ihnen mit ehrlicher
oder unehrlicher Arbeit angehäuft haben; und daß man sich ihrer nicht rühmen,
sondern sie ohne Aufsehen und in Gerechtigkeit für gute Werke verwenden soll,
damit man ohne Strenge vom wahren Herrn, nämlich Gott, beurteilt werde, von
Gott, der sich nicht mit Edelsteinen und Goldstücken bestechen läßt, sondern
um unserer guten Werke willen unser Freund ist – wenn also all dies richtig
ist, so haben auch die Diener die Pflicht, gut zu ihren Herren zu sein.
Erfüllt mit Einfalt und gutem
Willen den Willen Gottes, der euch in diesen bescheidenen Verhältnissen haben
will. Ihr kennt das Gleichnis vom reichen Prasser und ihr könnt daraus
schließen, daß im Himmel nicht das Gold, sondern die Tugend Lohn einbringt.
Die Tugend und die Unterwerfung unter den Willen Gottes machen Gott zum Freund
des Menschen. Ich weiß, daß es sehr schwer ist, in den Werken der Menschen
immer Gott zu erkennen. So leicht es auch ist, im Guten das Wirken Gottes zu
sehen, so schwer ist es doch, es im Bösen zu erkennen, da der Mensch sich dann
leicht zu dem Gedanken verleiten läßt, daß Gott nicht gut sei. Doch ihr werdet
das Böse überwinden, das euch der von Satan versuchte Menschen zufügt, und
jenseits dieser Schranke, und obwohl sie euch Tränen kostet, erkennt ihr die
Wahrheit des Schmerzes und seine Schönheit. Der Schmerz stammt vom Bösen. Aber
Gott, der ihn nicht abschaffen will, da diese Kraft nun einmal existiert und
ein Ausdruck des geistlichen Goldes der Kinder Gottes ist, zwingt ihn, sein
Gift in ein Elixier zu verwandeln, das ewiges Leben verleiht. Denn der Schmerz
mit seinem Stachel hinterläßt in den Guten Kräfte, die sie immer mehr
vergeistigen und heiligen.
Seid daher gut, respektvoll,
untertänig. Urteilt nicht über die Herren. Einen gibt es, der urteilt. Ich
wünschte, daß euer jetziger Herr ein Gerechter werde; so wäre euer Leben
leichter, und er gewänne das ewige Leben. Aber bedenkt, je mühseliger die
Pflicht zu erfüllen ist, um so größer ist das Verdienst in den Augen Gottes.
Versucht nicht, den Herrn zu betrügen. Geld oder Gewinn, die durch Betrug
erworben werden, machen nicht reich und auch nicht satt. Bewahrt eure Hände,
eure Lippen und euer Herz rein. Dann werdet ihr euren Sabbat und eure
vorgeschriebenen Feste in der Gnade unter den Augen des Herrn feiern, auch
wenn ihr an die Scholle gebunden seid.
Wahrlich, eure mühevolle Arbeit
ist mehr wert als das scheinheilige Gebet jener, die das Gebot nur erfüllen,
um von der Welt gelobt zu werden, in Wirklichkeit aber das Gesetz nicht
achten, das gebietet, selbst und zusammen mit den Hausgenossen das Gebot des
Sabbats und der Feste Israels zu erfüllen. Denn das Gebet besteht nicht in der
äußeren Haltung, sondern kommt aus dem Gemüte. Wenn euer Herz Gott in
Heiligkeit und
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unter allen Umständen liebt,
begeht es den Sabbat und die Feste besser als die anderen, die euch daran
hindern wollen.
Ich segne euch und verlasse euch
nun, da die Sonne aufgeht und ich die Hügel erreichen möchte, bevor die Hitze
zu stark wird. Wir werden uns bald wiedersehen, denn der Herbst ist nicht mehr
fern. Der Friede sei mit euch allen, den alten und den neuen Knechten
Jochanans, und erfülle eure Herzen!»
Jesus entfernt sich, indem er an
den Bauern vorbeigeht und einen nach dem anderen segnet.
Hinter einem großen verdorrten
Apfelbaum verborgen steht ein Mann. Doch als Jesus vorübergeht und so tut, als
ob er ihn nicht bemerke, springt er hervor und sagt: «Ich bin der Verwalter
Jochanans. Er hat mir gesagt: "Wenn der Rabbi von Israel kommt, dann lasse ihn
auf meinen Gütern Aufenthalt nehmen und zu den Arbeitern sprechen. Sie werden
dann besser für uns arbeiten, denn er lehrt nur gute Dinge." Und gestern, als
er mir mitgeteilt hat, daß von heute an diese (er deutet auf die Leute des
Doras) bei mir sind und die Güter Jochanan gehören, hat er auch geschrieben:
"Wenn der Rabbi kommt, höre, was er sagt, und richte dich danach, damit uns
kein Unheil befalle. Überhäufe ihn mit Ehren, doch sorge dafür, daß er den
Fluch von den Ländereien nimmt." Denn du mußt wissen, daß sie Jochanan aus
Eigensinn erworben hat. Doch ich glaube, daß es ihn bereits reut. Es wird
schon viel sein, wenn wir aus dem Boden Weiden machen können.»
«Hast du mich reden gehört?»
«Ja, Meister!»
«Dann wißt ihr, wie ihr euch zu
verhalten habt, du und dein Herr, um den Segen Gottes zu erlangen. Teile dies
deinem Herrn mit. Was dich angeht, mäßige seine Befehle, da du aus Erfahrung
weißt, mit welcher Mühe der Mensch das Land bestellt und du in der Gunst
deines Herrn stehst. Doch ist es besser, die Gunst des Herrn zu verlieren als
die Seele. Leb wohl!»
«Aber ich muß dir Ehren
erweisen.»
«Ich bin kein Götzenbild. Ich
brauche keine Ehrenbezeugungen aus Berechnung, um Gnaden zu schenken. Ehre
mich in deinem Geist und setze in die Tat um, was du gehört hast; dann wirst
du Gott und deinem Herrn gleichzeitig dienen.»
Gefolgt von den Jüngern, den
Frauen und allen Landarbeitern geht Jesus durch die Felder und schlägt den Weg
zu den Hügeln ein, während ihn alle noch einmal grüßen.
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304. MARIA, DIE HOCHHEILIGE:
«MEIN ERBARMEN IST STÄRKER ALS ALLES»
Jesus kehrt, hügelauf-
hügelabgehend, in Richtung Nazareth zurück und nützt dabei den Schatten der
verstreut liegenden Olivenhaine und Obstgärten in dieser fruchtbaren und gut
bebauten Gegend.
Als er jedoch eine
Straßenkreuzung erreicht, wo der Weg nach Ptolemais abzweigt, bleibt er stehen
und sagt: «Wir wollen bei diesem Haus, in dem ich mich schon öfters
aufgehalten habe, anhalten und etwas Nahrung zu uns nehmen. Während die Sonne
ihre Bahn zieht, wollen wir noch ein wenig beisammen bleiben, bevor wir uns
von neuem trennen. Wir wollen nach Ptolemais gehen, meine Mutter und Maria
nach Nazareth, und Johannes mit Ermastheus nach Sycaminon.»
Sie begeben sich durch einen
Olivenhain zu einem breiten und niedrigen Bauernhaus, das der überall
gegenwärtigen Feigenbaum beschattet und das die Reben eines Weinstocks
umranken, die an der Treppe emporklettern und sich dann über der Terrasse
ausbreiten.
«Der Friede sei mit euch! Ich bin
wieder hier!»
«Komm, Meister! Deine Anwesenheit
ist immer willkommen. Gott möge dir und den Deinen Frieden schenken»,
entgegnet ein alter Mann, der mit einem Armvoll Reisig den Hof überquert. Dann
ruft er: «Sara, Sara! Der Meister mit seinen Jüngern ist da. Gib mehr Mehl in
den Teig!»
Aus einem Raum tritt eine ganz
mit Mehl bestäubte Frau, die unzweifelhaft Mehl gesiebt hat, da sie das Sieb
noch in der Hand hält. Sie kniet lächelnd vor Jesus nieder.
«Der Friede sei mit dir, Frau!
Ich habe die Mutter zu dir gebracht, wie ich dir versprochen hatte. Hier ist
sie! Und das ist ihre Schwägerin, die Mutter des Jakobus und des Judas. Wo
sind Dina und Philippus?»
Nachdem die Frau die beiden
Marien begrüßt hat, antwortet sie: «Dina hat gestern ihr drittes Mädchen
geboren. Wir sind etwas traurig, weil uns kein Enkel geschenkt worden ist.
Doch wollen wir zufrieden sein, nicht wahr, Mattathias?»
«Ja, denn es ist ein schönes
Mädchen, und es ist ja immerhin unser Blut. Wir werden es dir zeigen.
Philippus ist weggegangen, um Anna und Noemi bei seinen Eltern abzuholen. Er
wird bald zurück sein.»
Die Frau kehrt zu ihrem Teig
zurück, während der Mann, der sein Holz beim Herd niedergelegt hat, sich um
die Gäste kümmert und ihnen Hocker und frischgemolkene Milch anbietet oder
Obst und Oliven, wenn ihnen das lieber ist.
Der ebenerdige Raum ist kühl und
schattig, denn er ist sehr weit und nach beiden Seiten des Hauses geöffnet.
Die eine der Türen ist von dem Feigenbaum und die andere von einer Hecke mit
sternförmigen Blumen, die Sonnenblumen ähneln, aber nicht so groß sind wie
diese, beschattet.
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Das smaragdfarbene Licht, das in
den Raum dringt, tut den von der grellen Sonne müden Augen wohl. Im großen
Raum befinden sich Bänke und Tische; vielleicht arbeiten und weben hier die
Frauen, und die Männer reparieren die landwirtschaftlichen Geräte; oder
vielleicht werden hier die Vorräte an Mehl und Früchten aufbewahrt, worauf die
mit Haken versehenen Stangen und die Regale über den Truhen längs der Wände
hinweisen. Flockige Stränge von Flachs und Hanf hängen gleich aufgelösten
Zöpfen an der weißgekalkten Mauer, und ein feuerrotes Gewebe ist über einen
unbedeckten Webstuhl gebreitet und scheint mit seiner frohen, prächtigen Farbe
die ganze Umgebung aufzuheitern.
Die Herrin des Hauses kehrt
zurück. Sie ist mit der Brotteigvorbereitung fertig und fragt die Gäste, ob
sie das neugeborene Kindlein sehen wollen. Jesus antwortet: «Ich will es
segnen!»
Maria erhebt sich jedoch und
sagt: «Ich will gehen und die Mutter begrüßen.»
Alle Frauen verlassen den Raum.
«Hier ist es angenehm», sagt
Bartholomäus; er ist sichtlich müde.
«Ja, in diesem Schatten und
dieser Ruhe werden wir einschlafen», bemerkt Petrus, der schon ganz schläfrig
ist.
«In drei Tagen werden wir für
längere Zeit in unseren Häusern sein. Ihr werdet euch ausruhen können und nur
in der näheren Umgebung die Frohbotschaft verkünden», sagt Jesus.
«Und du?»
«Ich will in Kapharnaum bleiben
und mich gelegentlich nach Bethsaida begeben. Ich werde jenen predigen, die
dorthin kommen. Wenn der Mond des Tiari gekommen ist, werden wir uns wieder
auf den Weg machen. Gegen Abend werde ich fortfahren, euch zu belehren ...»
Jesus schweigt, denn er sieht,
daß die Müdigkeit seine Worte nutzlos macht. Er lächelt kopfschüttelnd und
betrachtet die Apostel, die, von Müdigkeit übermannt, in mehr oder weniger
bequemen Stellungen einschlafen. Im Haus und auf den der Sonne ausgesetzten
Feldern herrscht vollkommenes Schweigen. Es scheint ein verzauberter Ort zu
sein. Jesus begibt sich zur Türe bei der Blumenhecke und betrachtet durch die
Zweige die sanften galiläischen Hügel, welche die reglosen Olivenbäume grau
erscheinen lassen.
Leichte Schritte und das
unsichere Wimmern eines Neugeborenen werden über seinem Haupt hörbar. Jesus
blickt auf und lächelt seiner Mutter zu, die heruntersteigt und in den Armen
ein weißes Bündel trägt, aus dem drei rosige Dinge herausschauen: ein Köpfchen
und zwei tastende Fäustchen.
«Schau, Jesus, welch ein schönes
Mädchen. Du sahst ihm ein wenig ähnlich, als du einen Tag alt warst. Auch du
warst so blond, und man hätte denken können, daß du keine Haare hast, wenn sie
nicht schon
62
damals so gelockt wie ein
Wolkenflöckchen gewesen wären. Du warst wie eine aufblühende Rose! Und schau,
schau, jetzt öffnet es hier im Schatten die Äuglein und sucht die Brust; es
hat deine dunkelblauen Augen... O Liebes! Aber ich habe keine Milch für dich,
Kleines, Röschen, mein Täubchen!» Die Mutter Gottes wiegt das Kind, das
aufhört zu wimmern und mit dem gurrenden Laut eines Turteltäubchens
einschläft.
«Mama, hast du es mit mir auch so
gemacht?» fragt Jesus, der seine Mutter beobachtet, wie sie das Kind wiegt und
ihre Wange an das blonde Köpflein legt.
«Ja, mein Sohn! Aber zu dir habe
ich gesagt: "Mein Lämmlein!" Es ist schön, nicht wahr?»
«Sehr schön und kräftig. Die
Mutter kann zufrieden sein», bestätigt Jesus, der sich nun ebenfalls über das
unschuldige Kind beugt, um seinen Schlaf zu betrachten.
«Und doch, es ist nicht... Der
Mann ist enttäuscht, weil er nur Mädchen hat. Gewiß, wir brauchen Knaben für
unsere Äcker. Doch es ist nicht die Schuld unserer Tochter...» seufzt die
Hausherrin, die hinzugekommen ist.
«Sie sind noch jung. Sie lieben
sich und werden auch noch Knaben bekommen», sagt der Herr bestimmt.
«Da kommt Philippus... Nun wird
er finster werden...» murmelt die Frau ängstlich. Dann sagt sie lauter:
«Philippus, der Rabbi von Nazareth ist hier.»
«Es freut mich, dich zu sehen.
Der Friede sei mit dir, Meister!»
«Und mit dir, Philippus! Ich habe
dein schönes Mädchen gesehen. Ich betrachte es immer noch, denn es ist
wirklich bewundernswert. Gott segnet dich mit schönen, gesunden und guten
Kindern. Du mußt ihm dafür dankbar sein... Du antwortest nicht? Du scheinst
betrübt ...»
«Ich habe mit einem Knaben
gerechnet!»
«Du willst ihr doch nicht sagen,
daß du das unschuldige Kind anklagst, weil es ein Mädchen ist, und du willst
doch nicht mit deiner Frau hart sein?» fragt Jesus streng.
«Ich wollte einen Knaben, für den
Herrn und für mich!» ruft Philippus erregt aus.
«Glaubst du, daß du dies durch
Ungerechtigkeit und Auflehnung erreichen kannst? Hast du etwa die Gedanken
Gottes gelesen? Bist du denn mehr als er, daß du sagen kannst: "Mach es so,
denn ich bin ein Gerechter" ? Diese Frau hier, meine Jüngerin, hat zum
Beispiel keine Kinder. Sie bringt es nun fertig zu sagen: "Gesegnet sei meine
Kinderlosigkeit, die mir Flügel gibt, dir zu folgen." Und hier eine Mutter von
vier Söhnen, die sich danach sehnt, daß alle vier nicht mehr ihr gehören
mögen. Ist es wahr, Susanna und Maria? Hörst du es? Und du, der du erst seit
wenigen Jahren mit einer fruchtbaren Frau verheiratet und mit drei
Rosenknospen gesegnet bist, die deiner Liebe bedürfen, du bist verärgert? Über
wen?
63
Warum? Du kannst es nicht sagen?
Dann sage ich es: weil du ein Egoist bist! Lege sofort deinen Groll ab. Öffne
deine Arme diesem Geschöpf, das aus deinem Samen geboren wurde, und liebe es.
Auf, nimm es!» Jesus nimmt das Bündel Windeln und legt es in die Arme des
jungen Vaters. Dann spricht Jesus weiter: «Geh zu deiner Frau, die weint, und
sage ihr, daß du sie liebst. Sonst wird Gott dir wahrlich niemals einen Knaben
schenken. Ich sage es dir! Geh!»
Der Mann geht in die Kammer, in
der die Frau liegt.
«Danke, Meister!» flüstert die
Schwiegermutter. «Er war seit gestern sehr grausam...»
Der Mann kommt nach einigen
Minuten wieder und sagt: «Ich habe es getan, Herr. Die Frau dankt dir dafür.
Und sie sagt, daß sie dich bittet, dem Kind einen Namen zu geben... denn ich
wollte ihm in meinem ungerechten Haß einen zu häßlichen Namen geben ...»
«Nenne das Kind Maria! Es hat die
bitteren Tränen zusammen mit dem ersten Milchtropfen gesogen, der ebenfalls
bitter war wegen deiner Härte; daher soll es Maria heißen, und Maria wird es
lieben. Ist es nicht so, Mutter?»
«Ja, arme Kleine! Sie ist so süß.
Sie wird bestimmt gut werden und ein Sternlein des Himmels sein.»
Sie kehren in den Saal zurück, wo
die müden Apostel in tiefem Schlaf liegen, mit Ausnahme Iskariots, der auf
Nadeln zu sitzen scheint.
«Brauchst du mich, Judas ?» fragt
Jesus.
«Nein, Meister! Aber ich kann
nicht schlafen und möchte gerne hinausgehen.»
«Wer verbietet es dir? Auch ich
gehe hinaus. Ich werde zu dem kleinen Hügelchen gehen. Dort ist es schattig...
Ich werde mich im Gebet ausruhen. Willst du mit mir kommen?»
«Nein, Meister! Ich würde dich
nur stören, denn ich bin nicht in der Verfassung zu beten. Wahrscheinlich,
wahrscheinlich fühle ich mich nicht wohl, und das verwirrt mich ...»
«Dann bleibe hier! Ich zwinge
niemand. Leb wohl! Lebt wohl, ihr Frauen. Mutter, wenn Johannes von Endor
erwacht, dann schicke ihn zu mir, allein ...»
«Ja, Sohn. Der Friede sei mit
dir!»
Jesus geht hinaus. Maria und
Susanna beugen sich nieder, um das Gewebe auf dem Webstuhl zu betrachten.
Maria setzt sich, legt die Hände in den Schoß und neigt sich etwas nach vorne.
Vielleicht betet sie auch.
Maria des Alphäus ist es bald
müde, die Arbeit zu betrachten. Sie setzt sich in die dunkelste Ecke und
schläft sofort ein. Susanna gedenkt es ihr nachzutun. So bleiben nur Maria und
Judas wach. Die eine ganz in sich versenkt, der andere mit aufgerissenen
Augen. Er wendet den Blick nicht von ihr ab.
64
Endlich steht er auf und nähert
sich ihr langsam und geräuschlos. Ich weiß nicht warum, aber trotz seiner
unzweifelhaften Schönheit erinnert er mich an eine Katze oder eine Schlange,
die sich der Beute nähert. Vielleicht ist es die Abneigung, die ich gegen ihn
empfinde, die mir selbst seinen Gang trügerisch und grausam erscheinen läßt...
Er ruft leise: «Maria...»
«Was willst du von mir, Judas?»
fragt Maria sanft und schaut ihn mit ihren gütigen Augen an.
«Ich möchte mit dir sprechen.»
«Sprich, ich werde dir zuhören.»
«Nicht hier... Ich möchte nicht,
daß man mich hört... Würdest du nicht ein wenig mit mir hinausgehen? Es gibt
auch draußen Schatten...»
«Wir können gehen. Aber du siehst
ja, alle schlafen... Du könntest auch hier sprechen», sagt die Jungfrau. Sie
steht jedoch auf und geht als erste hinaus zu der hohen blühenden Hecke.
«Was willst du von mir, Judas?»
fragt sie erneut, während sie den etwas erregten Apostel, der Mühe hat, Worte
zu finden, genau ansieht. «Fühlst du dich nicht wohl? Oder hast du ein Unrecht
begangen und weißt nicht, wie du es bekennen sollst? Oder bist du im Begriff,
etwas Böses zu tun und es bedrückt dich, zu bekennen, daß du versucht wirst?
Sprich, mein Sohn! Wie ich dich körperlich gepflegt habe, so will ich auch
deine Seele pflegen. Sage mir, was dich bedrückt, und ich werde dich trösten,
wenn ich kann. Wenn ich es allein nicht kann, will ich es Jesus sagen. Auch
wenn du schwer gesündigt hast, wird er dir verzeihen, wenn ich ihn darum
bitte. Aber auch so würde dir Jesus sofort verzeihen. Doch vielleicht schämst
du dich vor ihm, dem Meister. Ich bin eine Mutter, und du brauchst dich nicht
zu schämen...»
«Ja, ich brauche mich nicht zu
schämen, denn du bist eine Mutter und sehr gut. Du bist wirklich unser Friede.
Ich... ich bin sehr beunruhigt. Ich habe einen schlechten Charakter. Ich weiß
nicht, was ich im Blut und im Herzen habe... Manchmal bin ich nicht mehr Herr
darüber... dann könnte ich die eigenartigsten Dinge tun... und die
schlimmsten.»
«Gelingt es dir auch in der Nähe
Jesu nicht, dem zu widerstehen, der dich versucht?»
«Auch da nicht. Ich leide
deswegen. Glaube es mir! Ich bin ein Unglücklicher.»
«Ich werde für dich beten,
Judas.»
«Das genügt nicht!»
«Ich werde für dich beten lassen,
ohne den Gerechten, die beten werden, zu sagen, für wen es ist.»
«Das genügt nicht!»
«Ich will die Kinder beten
lassen. Viele kommen zu mir in meinen Garten, wie die Vöglein auf der Suche
nach Körnern. Die Körner sind die Liebkosungen und Worte, die ich ihnen
schenke. Ich spreche von Gott...
65
Und sie, die Unschuldigen, ziehen
dies den Spielen und den Märchen vor. Das Gebet der Kinder ist Gott
wohlgefällig!»
«Doch nie so sehr wie deines.
Aber es genügt immer noch nicht.»
«Ich will Jesus bitten, daß er
den Vater für dich bitte.»
«Auch das würde nicht genügen.»
«Mehr als dies gibt es nicht. Das
Gebet Jesu besiegt auch die Dämonen ...»
«Ja! Doch Jesus würde nicht immer
beten, und ich werde immer wieder rückfällig... Jesus, er sagt es selbst, wird
eines Tages von uns gehen. Ich frage mich, was sein wird, wenn er nicht mehr
unter uns ist. Nun will uns Jesus zur Verkündigung aussenden. Ich habe Angst,
mit diesem meinem Feind zu gehen, der ich selbst bin, um das Wort Gottes zu
verkünden. Ich möchte für diese Stunde in mir gefestigt sein.»
«Aber mein Sohn, wenn es Jesus
nicht möglich ist, wem soll es dann möglich sein?»
«Dir, Mutter! Laß mich eine Weile
bei dir bleiben. Heiden und Dirnen waren bei dir; so kann auch ich bei dir
sein. Wenn du nicht willst, daß ich mich nachts in deinem Haus aufhalte, kann
ich zum Schlafen zu Alphäus und Maria Kleophä gehen; aber den Tag werde ich
mit dir und den Kindern verbringen. Bisher habe ich versucht, es allein zu
schaffen, aber es ist immer schlimmer geworden. Wenn ich nach Jerusalern gehe,
treffe ich dort zu viele schlechte Freunde, und in meiner jetzigen Verfassung
würden sie mich sofort aufs Korn nehmen...
Gehe ich in eine andere Stadt,
ist es ebenso. Die Versuchung der Straße verbindet sich mit jener, die ich
schon in mir habe. Gehe ich nach Kerioth zu meiner Mutter, macht mich der
Stolz zum Sklaven. Gehe ich in die Einsamkeit, zerreißt mich das Schweigen mit
den Stimmen Satans. Aber bei dir... Oh, bei dir würde ich mich anders fühlen!
... Laß mich mit dir gehen! Bitte Jesus, daß er es mir erlaubt! Willst du, daß
ich verlorengehe? Hast du Angst vor mir? Du betrachtest mich mit dem Blick
einer verwundeten Gazelle, die keine Kraft mehr hat, ihren Angreifern zu
entfliehen. Aber ich werde dich nicht beleidigen. Auch ich habe eine Mutter...
Und ich liebe dich mehr als meine eigene Mutter. Hab Erbarmen mit einem
Sünder, Maria! Schau, ich weine zu deinen Füßen... Wenn du mich abweist, kann
dies mein geistiger Tod sein ...» Und Judas weint wirklich zu Füßen Marias,
die ihn mit einem Blick des Erbarmens und der Furcht anschaut. Sie ist sehr
blaß.
Doch sie macht einen Schritt
vorwärts – denn sie hat sich ganz in die Ecke gedrückt, um Judas auszuweichen,
der sich ihr zu sehr genähert hatte – und legt eine Hand auf die dunklen Haare
Iskariots. «Schweig, damit sie dich nicht hören. Ich werde mit Jesus reden.
Und wenn er will... dann kannst du in mein Haus kommen. Das Urteil der Welt
kümmert mich nicht. Es verletzt meine Seele nicht. Ich fürchte nur, vor Gott
schuldig zu
66
werden. Die Verleumdung berührt
mich nicht. Aber ich werde nicht verleumdet, denn Nazareth weiß, daß seine
Tochter kein Ärgernis für die Stadt sein kann. Und dann, komme was will, es
drängt mich, daß dein Geist geheilt werde. Ich gehe zu Jesus. Sei beruhigt.»
Sie hüllt sich in ihren Schleier, der weiß ist wie ihr Gewand, und geht rasch
auf dem schmalen Weg den kleinen, mit Olivenbäumen bewachsenen Hügel hinauf.
Sie sucht ihren Jesus und findet
ihn in Betrachtung versunken. «Sohn, ich bin es... Höre mich an.»
«Oh, Mama! Kommst du, mit mir zu
beten? Welche Freude, welche Erleichterung bereitest du mir!»
«Was ist, mein Sohn? Bist du
müde? Traurig? Sage es mir!»
«Müde und betrübt, du sagst es.
Nicht so sehr wegen des Elends, das ich in den Herzen sehe, sondern vielmehr
wegen der Unwandelbarkeit jener, die meine Freunde sind. Aber ich will ihnen
gegenüber nicht ungerecht sein. Ein einziger nur macht mir Sorge. Es ist Judas
des Simon...»
«Sohn! Seinetwegen komme ich, um
mit dir zu reden.»
«Hat er etwas Böses getan? Hat er
dich gekränkt?»
«Nein, aber er hat mir Qualen
verursacht, wie ich sie empfinde, wenn ich einen sehr fehlerhaften Menschen
sehe... Oh, Sohn, wie krank ist doch seine Seele!»
«Und du hast Mitleid mit ihm?
Hast du keine Furcht vor ihm? Einmal hattest du doch...»
«Mein Sohn, mein Erbarmen ist
viel größer als meine Furcht. Ich möchte dir und ihm helfen, seine Seele zu
retten. Du vermagst alles, du brauchst mich nicht! Aber du sagst, daß alle mit
Christus mitarbeiten sollen bei der Erlösung... Und dieser Sohn braucht die
Erlösung so sehr!»
«Was soll ich denn noch für ihn
tun, was ich nicht schon tue?»
«Du kannst nicht mehr tun. Aber
du könntest mich etwas tun lassen. Er hat mich gebeten, sich in unserem Haus
aufhalten zu dürfen, denn er meint, dort könnte er von seinem Ungeist befreit
werden... Du schüttelst das Haupt? Du willst es nicht? Ich werde es ihm
sagen...»
«Nein, Mutter! Ich schüttle den
Kopf, weil ich weiß, daß es nutzlos ist. Judas ist wie ein Ertrinkender, der,
obgleich er weiß, daß er am Ertrinken ist, stolz die Stricke zurückweist, die
man ihm zuwirft, um ihn an Land zu ziehen. Manchmal, von Angst ergriffen,
sucht und ruft er nach Hilfe und klammert sich fest... Doch dann übermannt ihn
wieder der Hochmut, er läßt die Hilfe fallen, weist sie zurück und will es
allein schaffen... Und er wird immer schwerfälliger durch das schlammige
Wasser, das er schluckt. Damit man aber nicht sagen kann, daß ich etwas
unversucht gelassen habe, soll auch dies geschehen, arme Mutter... Ja, arme
Mama, die du dich aus Liebe zu einer Seele der Qual aussetzest, jemanden in
deiner Nähe zu haben, der dich ängstigt.»
67
«Nein, Jesus! Sag dies nicht! Ich
bin eine arme Frau, denn ich unterliege noch dem Gefühl der Antipathie. Tadle
mich! Ich verdiene es. Aus Liebe zu dir darf ich keine Abneigung empfinden.
Doch anderen gegenüber bin ich nicht arm. Oh, könnte ich dir doch Judas
geistig geheilt zurückbringen! Dir eine Seele bringen bedeutet, dir einen
Schatz geben. Wer einen Schatz hat, der ist nicht arm! ... Ich will zu Judas
gehen und ihm deine Zusage bringen. Du hast gesagt: "Die Zeit wird kommen, da
du sagen wirst: 'Wie schwer ist es, die Mutter des Erlösers zu sein"' Einmal
habe ich es schon gesagt... als Aglaia bei mir war. Aber was ist schon einmal?
Die Menschheit ist so zahlreich! Und du bist der Erlöser aller. Sohn! ...
Sohn! ... So wie ich das Kind in meinen Armen getragen habe, um es dir zum
Segnen zu bringen, laß mich nun auch Judas in den Armen halten, um ihn dir zu
bringen, damit du ihn segnen kannst...»
«Mama, Mama, er verdient dich
nicht!»
«Mein Jesus, als du gezögert
hast, Margziam dem Petrus zu geben, habe ich dir gesagt, daß ihm das helfen
könnte. Du kannst nicht leugnen, daß Petrus sich seit jenem Augenblick
verändert hat... Laß mich nur machen mit Judas.»
«Handle, wie du es für richtig
hältst. Und sei gesegnet für deine liebevolle Absicht mir und Judas gegenüber!
Nun wollen wir zusammen beten, Mutter. Es ist so schön, mit dir zu beten...»
Der Sonnenuntergang hat noch
nicht recht begonnen, als ich auch schon die Abreise von dem gastlichen Haus
beobachte.
Johannes von Endor und Ermastheus
verabschieden sich von Jesus, sobald sie auf der Strasse angelangt sind. Maria
mit den Frauen und ihrem Sohn schlagen einen Weg unter den Olivenbäumen des
Hügels ein. Sie reden miteinander. Natürlich auch über die Tagesereignisse.
Petrus sagt: «Ein schöner Narr, dieser Philippus! Er hätte beinahe Frau und
Tochter verstoßen, wenn du ihm nicht Vernunft beigebracht hättest !»
«Hoffen wir, daß seine
augenblickliche Reue anhält und ihn nicht wieder seine Laune des Frauenhasses
packt. Im Grunde... ist es nur das Verdienst der Frauen, wenn die Welt
weiterexistiert», sagt Thomas, und viele lachen über diese Äußerung.
«Gewiß, das ist wahr. Aber sie
sind viel unreiner als wir und ...» antwortet Bartholomäus.
«Ach was! Was die Unreinheit
betrifft... Auch wir sind keine Engel. Immerhin würde ich gerne wissen, ob
sich nach der Erlösung für die Frau etwas ändert. Man lehrt uns, die Mutter zu
ehren und die größte Ehrfurcht vor Schwestern, Tanten, Schwägerinnen und
Schwiegertöchtern zu haben, und dann... Fluch hier und Verwünschung dort! Im
Tempel dürfen sie nicht sein. Sich ihnen sehr oft zu nähern, ist nicht
erlaubt... Hat
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Eva gesündigt?... Jawohl! Aber
auch Adam hat gesündigt. Gott hat Eva ihre Strafe gegeben, und sie ist hart.
Genügt das nicht?»
«Aber Thomas. Die Frau wird auch
bei Moses unrein erachtet.»
«Er wäre ohne die Frauen
ertrunken... Aber nur Geduld, Bartholomäus! Auch wenn ich nicht so gelehrt bin
wie du, sondern nur ein Goldschmied, möchte ich dich daran erinnern, daß Moses
die körperliche Unreinheit der Frau erwähnt, damit wir sie respektieren, und
nicht, um sie zu verfluchen.»
Die Diskussion wird immer
lebhafter. Jesus, der mit den Frauen, Johannes und Judas Iskariot
vorausgegangen ist, bleibt stehen, wendet sich um und erklärt: «Gott hatte ein
Volk vor sich, das moralisch und geistig unreif und durch die Berührung mit
Götzendienern angesteckt worden war. Er wollte aus ihm ein körperlich und
geistig starkes Volk machen. Er gab ihm gesunde Normen für die körperliche
Kräftigung und die Rechtschaffenheit der Sitten. Er konnte nicht anders
handeln, um die männliche Begierlichkeit zu bändigen und die Sünden,
derentwegen die Erde überschwemmt und Sodom und Gomorrha verbrannt wurden, zu
verhindern. Aber in Zukunft wird die erlöste Frau nicht mehr so unterdrückt
sein wie bisher. Die Verbote, die vor der körperlichen Sünde bewahren, werden
bestehen bleiben; aber die Hindernisse für sie auf dem Weg zu Gott werden
weggeräumt. Ich bin dabei, sie wegzuräumen, um die ersten Priesterinnen der
Zukunft vorzubereiten.»
«Oh! Wird es weibliche Priester
geben?» fragt Philippus entsetzt.
«Versteht mich nicht falsch. Es
wird nicht Priesterinnen geben wie die Männer, die die Gnaden Gottes verwalten
und spenden. Ihr könnt dies jetzt noch nicht verstehen, aber Frauen werden
dennoch ein priesterliches Geschlecht bilden und den Priestern zum Wohl der
Seelen auf viele Arten helfen.»
«Werden sie auch predigen?» fragt
Bartholomäus ungläubig.
«So wie auch meine Mutter schon
predigt.»
«Werden sie apostolische Reisen
machen?» fragt Matthäus.
«Ja, sie werden den Glauben sehr
weit verbreiten, und ich muß sagen, mit noch mehr Heldenmut als die Männer.»
«Werden sie Wunder wirken?» fragt
Iskariot lachend.
«Einige werden auch Wunder
wirken. Aber haltet das Wunder nicht für etwas Wesentliches. Sie, die heiligen
Frauen, werden durch ihre Gebete jedoch viele Wunder der Bekehrung wirken.»
«Hm! Die Frauen... so sehr beten,
daß sie ein Wunder wirken?» brummt Nathanael.
«Sei nicht hartherzig wie ein
Schriftgelehrter, Bartholomäus. Was meinst du denn, was das Gebet ist?»
«Sich mit den uns bekannten
Formeln an Gott wenden.»
«Das und noch mehr. Das Gebet ist
das Gespräch des Herzens mit Gott
69
und sollte der gewohnte Zustand
des Menschen sein. Die Frau lebt zurückgezogener als wir und ist zu diesem
Gespräch mit Gott befähigter als der Mann. In ihm findet sie Trost in ihren
Leiden, Erleichterung in ihren Mühseligkeiten, nicht nur in denen des Hauses
und des Gebärens, sondern auch im Ertragen der Männer; im Gebet findet sie,
was ihre Tränen trocknet und ihr ein Lächeln ins Herz zurückbringt. Denn sie
versteht es, mit Gott zu reden, und mehr noch wird sie es in Zukunft
verstehen. Die Männer werden die Riesen der Lehre sein; immer aber werden es
die Frauen sein, die mit ihren Gebeten die Riesen und auch die Welt stützen;
denn viel Unglück wird durch ihre Gebete verhindert und viele Strafen erlassen
werden. Daher wirken sie Wunder, die zwar unsichtbar und nur Gott bekannt,
jedoch nicht unwirklich sind.»
«Auch du hast heute ein
unsichtbares, jedoch wirkliches Wunder gewirkt. Nicht wahr, Meister?» fragt
Thaddäus.
«Ja, Bruder!»
«Du hättest es besser sichtbar
machen sollen», bemerkt Philippus.
«Hätte ich die Kleine in ein
Knäblein verwandeln sollen? Das Wunder ist eine Umwandlung bestimmter Dinge,
eine wohltuende Umordnung, welche Gott dem Menschen als Erhörung des Gebetes
gewährt, um ihm zu zeigen, daß er ihn liebt, oder um ihn davon zu überzeugen,
daß er es ist, der da ist. Doch da Gott Ordnung ist, vergewaltigt er die
Ordnung nicht in übertriebenem Maß. Das Kind wurde weiblich geboren und
weiblich wird es bleiben.»
«Ich war heute morgen so
betrübt», seufzt die Jungfrau.
«Warum? Das ungeliebte Mädchen
war nicht deines», sagt Susanna und fügt hinzu: «Wenn ich bei einem Kind
irgendeine Mißbildung sehe, sage ich mir: "Gut für mich, daß es nicht meines
ist."»
«Sag das nicht, Susanna! Das ist
nicht Liebe! Auch ich könnte es sagen, denn meine einzige Mutterschaft stand
über den Naturgesetzen. Doch ich sage es nicht, denn ich denke immer: "Hätte
Gott mich nicht zur Jungfrau bestimmt, wäre jener Same vielleicht in mir
aufgegangen und ich wäre die Mutter jenes Unglücklichen geworden." Und so habe
ich Mitleid mit allen... Denn ich sage mir: "Es könnte mein Kind sein", und
als Mutter möchte ich alle gut, gesund, geliebt und liebenswert wissen, denn
das wünschen die Mütter für ihre Kinder», antwortet sanft Maria. Und Jesus
scheint sie wie mit Licht zu umkleiden, so intensiv blickt er sie mit seinen
freudestrahlenden Augen an.
«Und deshalb hast du Mitleid mit
mir...» sagt Iskariot leise.
«Mit allen! Vielleicht auch mit
dem Mörder meines Sohnes. Denn ich glaube, daß er der Verzeihung und der Liebe
am meisten bedürfte. Denn gewiß würde ihn die ganze Welt hassen.»
«Frau, da müßtest du dich sehr
anstrengen, um ihn zu verteidigen und ihm Zeit zu geben, sich zu bekehren...
Ich würde ihn als erster sofort umbringen...» sagt Petrus.
70
«Wir haben den Ort des Abschieds
erreicht, Mutter. Gott sei mit dir! Und mit dir, Maria! Und auch mit dir,
Judas!»
Sie küssen sich, und Jesus fügt
noch hinzu: «Vergiß nicht, daß ich dir etwas Großes zugestanden habe, Judas!
Mache daraus etwas Gutes und nicht etwas Schlechtes. Leb wohl!»
Und Jesus entfernt sich mit den
übrigen Elf und Susanna eilends in östlicher Richtung, während Maria, die
Schwägerin und Iskariot geradeaus gehen.
305. «DAS GUTE TUN IST EIN
STÄRKERES GEBET ALS DIE PSALMEN»
Jesus betritt die Synagoge von
Kapharnaum, die sich langsam mit Gläubigen füllt, da es Sabbat ist. Das
Erstaunen, ihn zu sehen, ist sehr groß. Alle weisen flüsternd auf ihn hin, und
der eine oder andere zieht diesen oder jenen Apostel am Gewand, um zu
erfahren, wann sie in die Stadt zurückgekehrt sind, da niemand wußte, daß sie
kommen würden.
«Wir sind soeben am Brunnen des
Feigenbaumes eingetroffen. Wir sind von Bethsaida gekommen, um keinen Schritt
mehr machen zu müssen, als das Gesetz erlaubt, Freund», antwortet Petrus dem
Urias, dem Pharisäer, und dieser, beleidigt, von einem Fischer als Freund
angeredet zu werden, geht verärgert weg, um die Seinen einzuholen und sich in
die erste Reihe zu begeben.
«Ärgere ihn nicht, Simon»,
bemerkt Andreas.
«Ihn ärgern? Er hat mich gefragt,
und ich habe ihm geantwortet, daß auch wir das Gehen vermeiden, um den Sabbat
zu heiligen.»
«Sie werden sagen, daß wir uns
mit dem Boot abgemüht haben...»
«Sie werden eines Tages noch
sagen, daß wir uns mit Atmen abgemüht haben! Blödsinn! Das Boot, der Wind und
die Wellen haben die Mühe, nicht wir, die wir im Boot fahren.»
Andreas nimmt die Antwort hin und
schweigt.
Nach den einleitenden Gebeten
kommt der Augenblick der Lesung eines Abschnittes und der Auslegung desselben.
Der Synagogenvorsteher bittet Jesus darum; doch Jesus deutet auf die Pharisäer
und sagt: «Sie sollen es tun!» Doch da sie es nicht tun wollen, muß er reden.
Jesus liest aus dem
dreiundzwanzigsten Kapitel des ersten Buches Samuel, wo berichtet wird, wie
David von den Syphitern verraten und dem Saul ausgeliefert wurde, der in Gibea
war. Er gibt die Schriftrolle zurück und beginnt zu sprechen.
«Die Übertretung des Gebotes der
Liebe, der Gastfreundschaft, der Redlichkeit ist immer etwas Schlechtes. Doch
der Mensch scheut sich
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nicht, es mit der größten
Leichtfertigkeit zu tun. Hier haben wir eine Episode, die sowohl von dieser
Übertretung, als auch von der darauffolgenden Strafe Gottes berichtet.
Die Handlungsweise der Syphiter
war schädlich, die des Saul nicht weniger. Die ersteren waren niederträchtig
in der Absicht, sich beim Stärkeren einzuschmeicheln und daraus Nutzen zu
ziehen. Der andere war es in der Absicht, den Gesalbten des Herrn aus dem Weg
zu räumen. Der Egoismus führte sie zusammen. Und auf den unwürdigen Vorschlag
wagte der falsche und sündhafte König Israels eine Antwort zu geben, in
welcher der Name Gottes genannt wurde: "Der Herr segne euch dafür! "
Das war eine Verhöhnung der
Gerechtigkeit Gottes! Eine gewohnheitsmäßige Verhöhnung! Denn die Bosheit des
Menschen ruft gar zu oft den Namen des Herrn als Zeugen und seinen Segen an.
Es wird heißen: "Du sollst den Namen des Herrn nicht vergeblich aussprechen!"
Und kann es einen schlimmeren Mißbrauch geben als den Namen des Herrn
anzurufen, um ein Verbrechen gegen den Nächsten zu begeben? Und doch ist das
eine weiter verbreitete Sünde als alle anderen; und sie wird gleichgültig auch
von jenen begangen, die immer die ersten bei den Versammlungen des Herrn, bei
den Zeremonien und bei der Unterweisung sind. Bedenkt, daß es sündhaft ist,
alles zu erforschen, sich zu merken und vorzubereiten, um dadurch dem Nächsten
zu schaden. Es ist sündhaft, andere dazu zu verleiten, den Nächsten
auszuforschen und alles zu seinem Schaden zu lenken, sie zu diesem Zweck mit
Geld zu bestechen oder ihnen Schwierigkeiten anzudrohen, damit sie jemandem
schaden.
Ich mache euch darauf aufmerksam,
daß es Sünde ist. Ich mache euch darauf aufmerksam, daß es Egoismus und Haß
ist, wenn man sich so verhält. Und ihr wißt, daß Haß und Egoismus die Feinde
der Liebe sind. Ich mache euch darauf aufmerksam, denn es geht mir um eure
Seelen. Ich liebe euch und möchte euch nicht in Sünde sehen. Ich will nicht,
daß Gott euch strafen muß, wie dies bei Saul der Fall war; denn zur gleichen
Zeit, da er David verfolgte, um ihn gefangenzunehmen und zu töten, ließ Gott
sein Land durch die Philister verwüsten. Wahrlich, dies wird immer dem
geschehen, der dem Nächsten schadet. Sein Sieg währt nicht länger als das Gras
auf der Wiese. Rasch wird es wachsen, aber auch rasch verdorren und unter dem
unachtsamen Schritt des Vorübergehenden zertreten werden. Dagegen ist das
anständige Verhalten, das ehrsame Leben, mühsam zu verwirklichen und
durchzuhalten. Doch zur Gewohnheit geworden, wird es zu einem mächtigen und
blätterreichen Baum, den der Sturm nicht zerzaust und die Sonnenhitze nicht
verbrennt. Wahrlich, wer dem Gesetz treu bleibt, wirklich treu, wird zu einem
mächtigen Baum werden, der von den Leidenschaften nicht gebeugt und vom Feuer
Satans nicht verbrannt werden kann.
72
Ich habe gesprochen. Wenn jemand
noch etwas zu sagen hat, soll er es tun.»
«Wir möchten dich fragen, ob du
für uns, die Pharisäer, gesprochen hast ?»
«Ist denn die Synagoge voller
Pharisäer? Ihr seid nur vier; die Menge besteht aus Hunderten von Personen.
Das Wort ist für alle.»
«Die Anspielung jedoch war ganz
klar.»
«In der Tat ist es aber noch nie
vorgekommen, daß sich jemand nach einer Andeutung selbst angeklagt hat. Ihr
tut dies. Aber warum klagt ihr euch an, da ich es nicht tue? Glaubt ihr, ihr
verhaltet euch, wie ich gesagt habe? Ich weiß es nicht. Wenn es aber so ist,
dann richtet euch nach meinen Worten. Denn der Mensch ist schwach und kann
sündigen. Doch Gott verzeiht ihm, wenn er seine aufrichtige Reue und den
Willen, nicht mehr zu sündigen, sieht. Das Verharren-Wollen im Bösen aber ist
eine doppelte Sünde, und für sie gibt es keine Verzeihung.»
«Wir haben diese Sünde nicht.»
«Dann braucht ihr meiner Worte
wegen nicht betrübt zu sein.»
Der Zwischenfall ist beendet, und
in der Synagoge ertönt der Gesang der Hymnen. Dann scheint die Versammlung bis
zu ihrem Ende ohne weitere Zwischenfälle abzulaufen. Doch der Pharisäer
Joachim entdeckt in der Menge einen Menschen und fordert ihn durch Zeichen und
Blicke auf, nach vorne zu kommen.
Es ist ein Mann von etwa fünfzig
Jahren mit einem verkrüppelten Arm, dessen eine Hand auch kleiner als die
andere ist, da er an Muskelschwund leidet.
Jesus sieht es. Er sieht auch das
Getue, mit dem man ihn darauf aufmerksam machen will. Widerwillen und Mitleid
spiegeln sich auf seinem Gesicht; doch er wehrt den Angriff nicht ab und
begegnet der Lage mit Bestimmtheit.
«Komm hierher, in die Mitte»,
befiehlt er dem Mann.
Als er vor ihm steht, wendet er
sich an die Pharisäer und sagt: «Warum versucht ihr mich? Habe ich nicht
soeben gegen die Arglist und den Haß gesprochen? Und habt ihr nicht soeben
behauptet, diesen Fehler nicht zu haben? Ihr antwortet nicht? Antwortet
wenigstens auf diese Frage: Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes oder Böses zu tun?
Ist es erlaubt, ein Leben zu retten oder es zu vernichten? Ihr antwortet
nicht? So werde ich für euch antworten, und vor dem ganzen Volk, das besser
urteilen kann als ihr, da es einfach und ohne Haß und Hochmut ist. Es ist
nicht erlaubt, am Sabbat zu arbeiten. Aber es ist erlaubt, am Sabbat zu beten;
wie aber das Beten erlaubt ist, so ist es auch erlaubt, Gutes zu tun, denn
Gutes tun ist ein höheres Gebet als die Hymnen und die Psalmen, die wir
gesungen haben. Dagegen ist es weder am Sabbat noch an einem anderen Tag
erlaubt, Böses zu tun. Und ihr habt es getan, da ihr diesen Menschen hierher
beordert
73
habt, der nicht einmal von
Kapharnaum ist und den ihr vor zwei Tagen habt kommen lassen, weil ihr wußtet,
daß ich in Bethsaida war und in meine Stadt kommen würde. Und ihr habt es
getan, um mich anklagen zu können. So begeht ihr auch die Sünde, eure Seele zu
töten, anstatt sie zu retten. Doch soweit es mich betrifft, will ich euch
verzeihen und den Glauben dieses Menschen nicht enttäuschen, dem ihr gesagt
habt, wenn er hierher käme, würde ich ihm helfen und ihn heilen, obwohl ihr
mir damit eine Falle stellen wolltet. Er ist unschuldig, denn er ist gekommen
ohne andere Absicht als die, geheilt zu werden. Und so soll es sein! Mann,
strecke deine Hand aus und geh in Frieden!»
Der Mann gehorcht, und seine Hand
ist geheilt und sieht aus wie die andere. Er benützt sie sofort, um damit
einen Zipfel des Mantels Jesu zu ergreifen und zu küssen, indem er sagt: «Du
weißt, daß mir die Absicht dieser Menschen nicht bekannt war. Hätte ich sie
gekannt, wäre ich nicht gekommen und hätte eine vertrocknete Hand vorgezogen,
anstatt ihnen gegen dich zu dienen. Darum bitte ich dich, sei mir nicht böse!»
«Geh in Frieden, Mann! Ich kenne
die Wahrheit und habe für dich nur Wohlwollen.»
Die Menschen gehen, während sie
den Vorfall besprechen, hinaus, gefolgt von Jesus mit den elf Aposteln.
306. EIN TAG JUDAS ISKARIOTS IN
NAZARETH
Das Haus von Nazareth wäre
geeignet wie kein anderes, den Geist zu erheben. In ihm herrscht Friede,
Stille, Ordnung. Heiligkeit scheint aus jedem seiner Steine zu strahlen, aus
den Pflanzen des Gartens aufzusteigen und vom heiteren Firmament zu regnen,
das sich als himmlische Kuppel darüber wölbt. In Wirklichkeit geht sie von ihr
aus, die darin wohnt; die sich behende und leise mit jugendlichen, untadeligen
Bewegungen darin ergeht, mit demselben leichten Schritt, mit dem sie als Braut
hier eintrat, und demselben sanften Lächeln, das beruhigt und liebkost.
Die Sonne scheint zu dieser
Morgenstunde auf die rechte Seite des Hauses, die sich an die erste Welle des
Hügels schmiegt. Nur die Wipfel der Bäume nützen sie aus; als erste die
Ölbäume, die dazu dienen, das Erdreich mit ihren Wurzeln zusammenzuhalten; die
übriggebliebenen, knorrigen, mächtigen Ölbäume, deren größere Äste sich zum
Himmel recken, als wollten sie dessen Segen herabrufen oder als beteten sie
ebenfalls an diesem Ort des Friedens. Es sind die letzten Bäume des Ölgartens
Joachims, die einst zahlreich waren und, betenden Pilgern gleich, ihren
Bittgang bis zu den fernen Äckern ausdehnten, wo die Olivenhaine und die
74
Äcker in Weiden übergehen, und
von denen nun in dem stark verkleinerten Eigentum Joachims nur wenige
geblieben sind.
Dann erfreuen sich der
Sonnenstrahlen der Mandelbaum und die Apfelbäume, die hoch und mächtig den
Schirm ihrer Zweige über den Gemüsegarten ausbreiten. Als dritter trinkt der
Granatapfelbaum die Strahlen und als letzter der Feigenbaum am Haus, wenn die
Sonne schon die wohlgepflegten Blumen und das Gemüse in den viereckigen Beeten
und längs der Hecken unter dem Laubengang voller Trauben streichelt. Die
summenden Bienen fliegen wie goldene Tropfen auf alles, was ihnen süßen,
duftenden Seim bieten kann. Da ist ein kleiner Zweig Geißblatt, den sie
überfallen, und auch die Hecke mit ihren glockenförmigen Blüten, die ein
Büschel bilden und einen starken Duft verbreiten; ich kenne ihren Namen nicht,
doch muß es ein Nachtgewächs sein, da sich die Blüten gerade schließen. Die
Bienen haben es eilig, an diesen Blüten zu nippen, bevor sich die
Blütenblätter zum Schlaf zusammenfalten.
Maria geht eilends von den
Taubennestern zu dem Brünnchen, das bei der kleinen Grotte plätschert, und von
dort ins Haus zu ihrer Arbeit; und selbst bei der Arbeit findet sich noch
Gelegenheit, die Blumen und die Tauben, die auf den Wegen einhertrippeln oder
einen Rundflug über das Haus und den Garten machen, zu bewundern.
Judas Iskariot kommt mit
Pflanzen, Wurzeln und Knollen beladen zurück. «Ich grüße dich, Mutter! Man hat
mir alles gegeben, was ich verlangt habe. Ich bin rasch gegangen, damit sie
nicht leiden; und ich hoffe, daß sie wachsen wie das Geißblatt. Im kommenden
Jahre wirst du dich des armen Judas und seines Aufenthaltes hier erinnern»,
sagt er, indem er aus einer Tasche vorsichtig Pflanzen mit Wurzelballen, deren
Erde in feuchte Blätter gehüllt ist, herausnimmt, und aus einer anderen Tasche
Wurzeln und Knollen.
«Ich danke dir sehr, Judas,
wirklich! Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin, diese
Geißblattstaude bei der Grotte zu haben. Als ich noch klein war, befand sich
dort im Hintergrund bei den Feldern, die damals noch uns gehörten, eine noch
viel schönere Grotte, und Efeu und Geißblatt umrankten sie mit Zweigen und
Blüten und bildeten einen Vorhang zum Schutz der winzigen Lilien, die bis in
die Grotte hinein wuchsen, die ganz grün war vom zarten Gewebe des
Venusstrauches. Denn gerade dort entspringt eine Quelle... Im Tempel dachte
ich immer an diese Quelle, und ich sage dir, wenn ich als Tempeljungfrau vor
dem heiligen Vorhang betete, fühlte ich Gott nicht näher. Vielmehr träumte ich
dort von süßen Zwiegesprächen meiner Seele mit dem Herrn...
Mein Joseph ließ mich diese hier
vorfinden, mit einem kleinen Rinnsal zum Nutzen des Gartens, aber mehr noch,
um mir eine Freude mit einer kleinen Grotte zu machen, die der früheren
nachgebildet war... Joseph war gut, selbst in den kleinsten Dingen. Er hatte
mir Geißblatt und Efeu
75
angepflanzt; der Efeu lebt heute
noch, während das Geißblatt in den Jahren des Exils eingegangen ist... Ich
habe später wieder eines gepflanzt, das vor drei Jahren auch einging. Nun hast
du es wieder angepflanzt. Es hat Wurzeln geschlagen, siehst du? Du bist ein
sehr guter Gärtner.»
«Ja, als kleiner Junge liebte ich
die Pflanzen sehr, und meine Mutter lehrte mich, sie zu pflegen... Nun werde
ich an deiner Seite wieder zum Knaben, Mutter, und suche die früheren
Kenntnisse wieder hervor, um dir Freude zu bereiten. Du bist so gut zu mir...
!» antwortet Judas und arbeitet wie ein Fachmann, indem er die Pflanzen an den
geeignetsten Stellen einsetzt. Dann geht er zur Hecke der Nachtgewächse und
pflanzt dort ein Gewirr von Wurzeln, von denen ich nicht weiß, ob es
Maiglöckchen oder andere Blumen sind. «Hier passen sie gut hin», sagt er,
während er mit einer Hacke die Erde über den eingegrabenen Wurzeln festdrückt.
«Sie brauchen nicht viel Sonne. Der Diener Eleazars wollte sie mir nicht
geben; doch ich habe so darauf bestanden, daß ich sie schließlich doch bekam.»
«Auch diesen indischen Jasmin
wollten sie Joseph nicht geben. Er machte einige Arbeiten ohne Lohn, um ihn
mir zu verschaffen. Die Pflanzen haben sich von Jahr zu Jahr besser
entwickelt.»
«Ich bin fertig, Mutter. Nun
werde ich alles gießen, und es wird gut gedeihen.» Er begießt die Pflanzen und
wäscht sich dann am Brunnen die Hände.
Maria betrachtet ihn; er ist so
verschieden von ihrem Sohn, aber auch so verschieden von dem Judas gewisser
stürmischer Stunden. Sie blickt ihn forschend an, denkt nach, geht auf ihn zu,
legt ihm die Hand auf den Arm und fragt ihn sanft: «Geht es dir nun besser,
Judas; in deinem Gemüte, meine ich?»
«Oh, Mutter! Viel besser! Ich bin
im Frieden. Und du siehst es. Deine Gegenwart und die kleinen Dinge tun mir
wohl und helfen mir. Ich dürfte diesen Frieden, diese innere Sammlung nie
verlassen! Hier... Wie fern ist die Welt von diesem Haus... !» Judas
betrachtet den Garten, die Pflanzen, das Haus... Er schließt: «Aber wenn ich
hierbleibe, würde ich nie ein Apostel werden. Und ich will einer werden ...»
«Indessen, glaube es mir, eine
rechtschaffene Seele zu bewahren ist besser als kein wahrer Apostel zu sein.
Wenn du spürst, daß die Berührung mit der Welt dich verwirrt; wenn du
begreifst, daß dir Ehrungen und Lob, die dem Apostel gezollt werden, schaden,
dann verzichte lieber darauf, Judas! Es ist besser für dich, ein einfacher,
aber heiliger Jünger meines Jesus zu sein, als ein sündhafter Apostel.»
Judas neigt gedankenvoll das
Haupt. Maria überläßt ihn seinen Betrachtungen und kehrt ins Haus zu ihren
Arbeiten zurück.
Judas steht zunächst einige Zeit
ruhig da. Dann geht er in dem Laubengang auf und ab. Er hat die Arme
verschränkt und das Haupt geneigt. Er
76
denkt nach und geht auf und ab,
wobei er von Gesten begleitete Selbstgespräche führt ... Ein unverständliches
Selbstgespräch. Aber die Gesten sind die eines Menschen, der voller
Widersprüche steckt. Es scheint, daß er jemanden anfleht oder ihn zurückweist,
oder sich beklagt, oder etwas verwünscht, und sein Gesichtsausdruck wechselt
von dem eines fragenden zu dem eines erschrockenen und schließlich eines
angstvollen Menschen, bis er die Züge der schlimmsten Augenblicke trägt. Judas
bleibt plötzlich auf halbem Weg stehen und verharrt so eine Weile mit einem
wahrhaft dämonischen Ausdruck... Dann schlägt er die Hände vors Gesicht und
flieht auf den Vorsprung des Ölgartens, außerhalb des Gesichtskreises Marias;
er weint, das Gesicht in den Händen verborgen, bis er sich beruhigt und mit
dem Rücken gegen einen Ölbaum gelehnt wie erschrocken sitzenbleibt...
Jetzt ist es nicht mehr Morgen,
sondern ein herrlicher Sonnenuntergang geht seinem Ende zu. Nazareth öffnet
die Türen seiner Häuser, die tagsüber der furchtbaren orientalischen
Sommerhitze wegen verschlossen waren. Frauen, Männer und Kinder gehen in die
Gärten oder auf die Straßen, die noch heiß, aber nicht mehr sonnenbeschienen
sind, um am Brunnen beim Spiel oder bei Gesprächen in Erwartung des
Abendessens etwas frische Luft zu schöpfen... Feierliche Begrüßungsszenen,
Geschwätz, Gelächter und Geschrei, je nachdem, ob es Männer, Frauen oder
Kinder sind.
Auch Judas kommt heraus und
begibt sich mit den kupfernen Kannen zur Quelle. Als die Nazarener ihn sehen,
deuten sie auf ihn und reden ihn mit dem Beinamen "Jünger vom Tempel" an. In
den Ohren des Judas klingt das wie Musik. Er geht liebenswürdig grüßend
vorüber, legt aber auch eine gewisse Zurückhaltung an den Tag, die eine nahe
Verwandte des Hochmuts ist.
«Du bist sehr gut zu Maria,
Judas», sagt ein bärtiger Nazarener.
«Sie verdient es, und noch weit
mehr. Sie ist wirklich eine große Frau Israels. Ihr könnt euch glücklich
schätzen, sie als Mitbürgerin zu besitzen.»
Das Lob für die Frau von Nazareth
ist sehr schmeichelhaft für die Nazarener, die einander mitteilen, was Judas
gesagt hat.
Dieser ist inzwischen beim
Brunnen angelangt und wartet, bis die Reihe an ihm ist; er treibt seine
Höflichkeit so weit, daß er die Krüge einer Greisin trägt, die nicht aufhört,
ihn dafür zu loben und ihn schließlich segnet. Er holt auch noch Wasser für
zwei Frauen, die durch ihre Säuglinge auf den Armen behindert sind. Den
Schleier etwas lüftend, flüstern diese: «Gott möge es dir vergelten!»
«Die Nächstenliebe ist die erste
Pflicht eines Freundes Jesu», antwortet Judas mit einer Verneigung. Und er
füllt seine Krüge und geht dann zum Haus zurück.
77
Auf dem Weg wird er vom
Synagogenvorsteher von Nazareth und von anderen eingeladen, am folgenden
Sabbat zu sprechen.
«Nun bist du schon zwei Wochen
bei uns und hast uns noch keine andere Unterweisung zuteil werden lassen als
die einer großen Höflichkeit uns allen gegenüber», beklagt sich der
Synagogenvorsteher, der von anderen Greisen des Ortes begleitet wird.
«Wenn euch die Predigt eures
größten Sohnes nicht genehm ist, wie kann euch meine Predigt gefallen, der ich
nur sein Schüler und obendrein noch Judäer bin?» entgegnet Judas.
«Dein Verdacht ist ungerecht und
betrübt uns. Wir meinen es ehrlich mit unserer Einladung. Du bist Jünger und
Jude, das ist wahr; aber du bist vom Tempel. Du kannst daher reden; denn im
Tempel wird gelehrt. Der Sohn Josephs ist nur ein Zimmermann ...»
«Aber er ist der Messias!»
«Das sagt er... Ob es aber wahr
ist! Ist es vielleicht nicht nur Einbildung?»
«Aber seine Heiligkeit,
Nazarener! Seine Heiligkeit!» Judas ist verärgert über die Ungläubigkeit der
Nazarener.
«Er ist groß, das ist wahr! Aber
von da bis zum Messias ist es noch weit! ... Und dann... Warum spricht er so
harte Worte?»
«Hart? Nein! Mir scheint er nicht
hart zu sein. Vielmehr... nun ja, das schon, er ist zu ehrlich und streng. Er
läßt keine Sünde zu; er unterläßt es nicht, einen Mißbrauch zu tadeln... und
das mißfällt. Er legt den Finger direkt auf die Wunde. Und das tut weh. Aber
er tut es aus Heiligkeit. Oh, gewiß! Nur aus diesem Grund handelt er so. Ich
habe ihm schon oft gesagt: "Jesus, du schadest dir!" Aber er will nicht auf
mich hören...»
«Du liebst ihn sehr. Und da du
gelehrt bist, könntest du ihn anleiten.»
«Oh! Gelehrt... nein. Aber
praktisch veranlagt, das ja. Vom Tempel, wißt ihr! Ich kenne die Gebräuche.
Ich habe Freunde. Der Sohn des Annas ist wie ein Bruder zu mir. Übrigens, wenn
ihr etwas vom Synedrium benötigt, dann sagt es nur... Doch nun laßt mich Maria
das Wasser bringen. Sie erwartet mich zu Hause mit der Abendmahlzeit.»
«Komm nachher zurück. Auf meiner
Terrasse ist es kühl. Wir werden unter Freunden sein und miteinander reden...»
«Ja. Auf Wiedersehen», und Judas
geht nach Hause, wo er sich bei Maria für die Verspätung entschuldigt und
erzählt, daß ihn der Synagogenvorsteher und einige der Ältesten des Ortes
aufgehalten haben. Und er schließt: «Sie möchten, daß ich am Sabbat rede. Der
Meister hat es mir aufgetragen. Was meinst du, Mutter? Rate du mir!»
«Mit dem Synagogenvorsteher
reden... oder in der Synagoge reden?»
«Beides. Ich möchte mit niemandem
und zu niemandem reden, denn ich weiß, daß sie gegen Jesus sind, und es
scheint mir auch, daß es ein Sakrileg ist, dort zu reden, wo nur er, der
Meister, ein Recht hat zu reden.
78
Doch sie haben sehr darauf
bestanden! Sie wollen mich nach dem Abendessen bei sich haben... Ich habe
beinahe zugesagt. Und wenn du glaubst, daß ich fähig bin, mit meinen Reden
ihren Widerstand gegen den Meister zu brechen, werde ich hingehen und
sprechen, wenn es mir auch noch so schwer fällt. Ich werde mich bemühen recht
langmütig mit ihrer Hartnäckigkeit sein. Denn ich habe endlich verstanden, daß
man mit Härte nichts erreicht. Ich werde nicht mehr in den gleichen Fehler
verfallen wie in Esdrelon. Es mißfiel dem Meister sehr! Er hat mir nichts
gesagt, aber ich habe es von selbst begriffen. Ich werde es nicht mehr tun.
Aber ich will Nazareth erst verlassen, nachdem ich es überzeugt habe, daß der
Meister der Messias ist und daß man an den Messias glauben und ihn lieben
muß.»
Judas spricht, während er am
Tisch, am Platz Jesu sitzt und ißt, was Maria ihm zubereitet hat. Es tut mir
weh, sehen zu müssen, daß er an diesem Platz sitzt, Maria gegenüber, die ihm
zuhört und ihn wie eine Mutter bedient.
Nun antwortet sie: «Es wäre
wirklich gut, wenn Nazareth die Wahrheit erfahren und annehmen würde. Ich
werde dich nicht davon abhalten. Geh nur. Niemand weiß besser als du, daß
Jesus Liebe verdient. Bedenke, wie sehr er dich liebt und wie er es dir
beweist, indem er dich immer entschuldigt und dich so weit als möglich
zufriedenstellt... Diese Überlegung soll dich zu heiligen Worten und Taten
befähigen.»
Das Abendessen ist rasch beendet.
Judas geht, um die Blumen des Gartens zu gießen, bevor das Tageslicht
endgültig schwindet; darauf macht er sich auf den Weg, während Maria auf der
Terrasse zurückbleibt, wo sie sich damit beschäftigt, die Wäschestücke zu
falten, die sie zum Trocknen aufgehängt hatte.
Nachdem Judas Alphäus der Sara
und Maria Kleophä begrüßt hat, die an der Haustüre der letzteren miteinander
reden, geht er direkt zum Haus des Synagogenvorstehers. Auch die beiden
Vettern des Herrn und sechs andere ältere Männer befinden sich dort.
Nach umständlichen Begrüßungen
setzen sich alle würdevoll auf die mit Kissen gepolsterten Sitze und erquicken
sich mit Anis- und Pfefferminzwasser, das angenehm kühl sein muß, da die
Metallkannen in der immer noch warmen Luft schwitzen; und dies trotz der
Brise, die von den Hügeln im Norden von Nazareth kommt und die Wipfel der
Bäume bewegt.
«Ich freue mich, daß du unsere
Einladung angenommen hast. Du bist noch jung. Ein bißchen Ablenkung tut gut»,
sagt der Vorsteher, der Judas gegenüber sehr aufmerksam ist.
«Ich fürchtete, euch zu
belästigen, wenn ich früher gekommen wäre. Ich weiß, daß ihr Jesus und seine
Jünger verachtet...»
«Verachten? Nein, wir sind nur
mißtrauisch... und, geben wir es nur
79
zu, durch sein zu offenes Wort
verletzt. Wir dachten, daß du uns verachtest, und haben dich deshalb nicht
früher eingeladen.»
«Ich? Verachten? Im Gegenteil!
Ich verstehe euch sehr gut... Ja, ja! Ich bin davon überzeugt, daß es zwischen
ihm und euch schließlich doch Frieden geben wird. Das ist besser für ihn, aber
auch für euch. Für ihn, weil er alle braucht; für euch, weil es sich nicht
lohnt, Feinde des Messias genannt zu werden.»
«Und du glaubst also wirklich,
daß er der Messias ist?» fragt Joseph des Alphäus. «Er hat nichts von der
königlichen Gestalt, die uns prophezeit worden ist. Vielleicht sehen wir ihn
so, weil wir ihn als Zimmermann gekannt haben... Aber... Wo steckt in ihm der
Befreierkönig?»
«Auch David schien nur ein
Hirtenjunge zu sein. Aber ihr wißt, daß kein König größer war als er. Nicht
einmal Salomon in all seiner Pracht war wie er. Denn schließlich hat er nur
das Erbe Davids übernommen und war nie so erleuchtet wie dieser. Aber denkt an
die Gestalt Davids! Sie ist riesenhaft. Von einer königlichen Würde, die schon
den Himmel berührt. Betrachtet also nicht die Herkunft des Christus, um an
seinem Königtum zu zweifeln. David war König und Hirte. Oder besser,
Hirtenjunge und dann König. Jesus ist König und Zimmermann. Oder besser,
Zimmermann und dann König.»
«Du sprichst wie ein Rabbi. Man
merkt, daß du im Tempel erzogen worden bist», sagt der Synagogenvorsteher.
«Könntest du das Synedrium wissen lassen, daß ich, der Synagogenvorsteher, für
eine private Angelegenheit der Hilfe des Tempels bedarf?»
«Aber gewiß! Selbstverständlich!
Eleazar! Kein Problem. Oder Joseph, der Älteste? Kennst du ihn? Den Reichen in
Arimathäa? Vielleicht der Schriftgelehrte Sadok... und dann... Oh, du brauchst
nur zu reden!»
«Dann sei morgen mein Gast. Wir
werden bei dieser Gelegenheit darüber reden.»
«Dein Gast? Nein! Ich verlasse
diese heilige und betrübte Frau Maria nicht. Ich bin gekommen, um ihr
Gesellschaft zu leisten ...»
«Was ist mit unserer Schwägerin?
Wir wissen, daß sie gesund und in ihrer Armut glücklich ist», sagt Simon des
Alphäus.
«Ja. Und wir lassen sie nie
allein. Meine Mutter ist immer in ihrer Nähe. Und ebenso ich und meine Frau.
Wenn... Auch wenn ich ihr die Schwäche dem Sohn gegenüber nicht verzeihen
kann. Und auch nicht den Schmerz meines Vaters, der Jesu wegen nur zwei seiner
Söhne an seinem Sterbebett sehen konnte. Und noch einiges mehr... Aber die
Mißstände in der Verwandtschaft ruft man nicht von den Dächern!» seufzt Joseph
des Alphäus.
«Du hast recht! Man flüstert sie
im tiefen Keller, wenn man einem Freund sein Herz ausschüttet. Aber so ist es
mit vielen Schmerzen! Auch ich habe die meinigen als Jünger... Doch wir wollen
nicht darüber reden.»
80
«Im Gegenteil! Gerade darüber
wollen wir sprechen. Was gibt es? Schlimmes für Jesus? Wir billigen sein
Verhalten nicht; doch wir sind immer noch Verwandte und bereit, mit ihm gegen
die Feinde zu kämpfen. Sprich!» sagt Joseph.
«Schlimmes? Nein! Ich sagte nur
so... Aber der Schmerzen eines Jüngers sind viele! Man leidet nicht nur wegen
der Art und Weise, wie der Meister seine Freunde und Feinde behandelt, wodurch
er sich selbst schadet, sondern auch, weil man sehen muß, daß er nicht geliebt
wird. Ich wollte, daß ihr ihn alle liebt...»
«Aber wie kann man ihn lieben? Du
sagst es selbst! Er hat eine Art, mit den Leuten umzugehen... Er war nicht so,
bevor er die Mutter verließ», entschuldigt sich der Synagogenvorsteher. «Ist
das nicht wahr, ihr alle?»
Alle stimmen feierlich zu und
preisen den schweigsamen, sanftmütigen, zurückhaltenden Jesus früherer Zeiten.
«Wer hätte gedacht, daß er so
werden könnte, wie er nun ist? Vorher nur Haus und Verwandte! Und jetzt?» sagt
ein sehr alter Nazarener.
Judas seufzt: «Arme Frau!»
«Sag doch endlich, was du weißt!
Sprich!» schreit Joseph.
«Nicht mehr, als auch dir bekannt
ist. Glaubst du, es ist ihr angenehm, allein zu sein?»
«Wenn Joseph so lange gelebt
hätte wie euer Vater, wäre es nicht dazu gekommen», bemerkt ein anderer
Nazarener, der auch schon sehr alt ist.
«Glaube das nicht, Mann! Dasselbe
wäre geschehen. Wenn man... gewisse Ideen hat!» sagt Judas.
Ein Diener bringt einige Lampen
und stellt sie auf den Tisch; denn die Nacht ist mondlos, wenn auch der Himmel
im Schein der Sterne strahlt. Mit den Lampen werden auch neue Getränke
gebracht, die der Synagogenvorsteher sofort Judas anbietet.
«Danke! Ich will mich nicht
länger aufhalten. Ich habe Maria gegenüber Pflichten», sagt er und steht auf.
Auch die beiden Söhne des Alphäus erheben sich und sagen: «Wir werden dich
begleiten. Wir haben denselben Weg...» Und mit großen Gesten verabschieden sie
sich von der Versammlung, die jetzt nur noch aus dem Synagogenvorsteher und
den sechs Greisen besteht.
Die Straßen sind schon verlassen
und ruhig. Von den Dächern der Häuser kommt schwaches Gemurmel tiefer Stimmen.
Die Kinder schlafen schon in ihren Bettchen und es fehlt ihr Gezwitscher, das
dem fröhlicher Vögel gleicht. Mit den Stimmen kommt von den Dächern der
reichen Häuser auch der schwache Lichtschimmer der Öllampen.
Die beiden Söhne des Alphäus und
Judas legen schweigsam ein Stück Weges zurück; dann bleibt Joseph stehen,
nimmt Judas am Arm und sagt: «Höre, ich habe verstanden, daß du etwas weißt,
aber in Gegenwart von Fremden nicht darüber reden wolltest. Doch mir mußt du
es nun
81
sagen. Ich bin der Älteste der
Familie und habe das Recht und die Pflicht, alles zu erfahren.»
«Und ich bin hierher gekommen in
der Absicht, es euch zu sagen und den Meister, Maria, eure Brüder und euren
Namen zu schützen. Es ist eine sehr peinliche Angelegenheit. Es ist schwer, es
anzuhören und es zu sagen, denn es sieht nach Verrat aus. Aber ich bitte euch,
mich recht zu verstehen. Das ist es nicht. Es ist nur Liebe und Klugheit. Ich
weiß viele Dinge, die euch übrigens auch nicht neu sind. Ich weiß sie von
meinen Freunden im Tempel. Ich weiß, daß sie für Jesus gefährlich sind, und
auch für den guten Namen der Familie. Ich habe versucht, es dem Meister
verständlich zu machen. Aber es ist mir nicht gelungen! Im Gegenteil! Je mehr
Ratschläge ich ihm gebe, desto schlimmer handelt er und bewirkt dadurch, daß
er immer mehr kritisiert und immer verhaßter wird. Das kommt daher, daß er so
heilig ist und die Welt nicht versteht. Es ist aber traurig, wenn man
mitansehen muß, wie eine heilige Sache wegen der Unklugheit ihres Gründers
zugrunde geht.»
«Nun, was gibt es? Sag alles! Und
wir werden Vorsorge treffen. Nicht wahr, Simon?»
«Ganz gewiß! Aber mir scheint es
unmöglich, daß Jesus Unklugheiten begeht und gegen seine Sendung handelt ...»
«Aber wenn es dieser gute
Jüngling, der Jesus doch liebt, sagt?! Siehst du, wie du bist? Immer der
gleiche! Unsicher, zaghaft. Du läßt mich immer im wichtigsten Augenblick
allein. Ich allein gegen die ganze Verwandtschaft. Du sorgst dich nicht einmal
um unseren guten Namen und unseren armen Bruder, der sich selbst ins Unglück
stürzt!»
«Nein! Er stürzt sich nicht ins
Unglück! Aber er schadet sich, das ist es.»
«Sprich, sprich!» drängt Joseph,
während Simon verwirrt schweigt.
«Ich möchte sprechen... aber ich
will sicher sein, daß ihr Jesus meinen Namen nicht nennt... Schwört es!»
«Wir schwören es beim heiligen
Vorhang. Rede!»
«Auch nicht eurer Mutter, und
noch weniger den Brüdern dürft ihr mitteilen, was ich euch nun sage.»
«Sei unseres Schweigens
versichert!»
«Und werdet ihr auch Maria
gegenüber schweigen? Um sie nicht zu kränken... Wie ich schweigen kann, so ist
es auch eure Pflicht, auf den Frieden dieser armen Mutter bedacht zu sein...»
«Wir werden allen gegenüber
schweigen. Wir schwören es dir!»
«Dann hört... Jesus beschränkt
sich nicht mehr darauf, sich Heiden, Zöllnern und Dirnen zu nähern, dafür aber
die Pharisäer und andere Persönlichkeiten zu beleidigen; er tut wirklich
absurde Dinge. Denkt einmal, im Land der Philister ließ er uns umherwandern
und zog einen schwarzen Ziegenbock hinter sich her. Dann hat er einen
Philister in die Schar seiner Jünger aufgenommen. Und zuvor ein Kind, das er
angenommen hatte.
82
Wißt ihr, welche Bemerkungen
darüber gefallen sind? Und erst vor einigen Tagen hat er eine Griechin, die
als Sklavin einem römischen Herrn entflohen war, aufgenommen. Und dann seine
Reden, die ganz im Widerspruch zu den bekannten Weisheitslehren stehen. Nun
ja, er scheint verrückt geworden zu sein. Und er schadet sich selbst. Im Land
der Philister hat er sich sogar in eine Zauberzeremonie eingemischt und sich
mit ihnen auf einen Wettstreit eingelassen, als wäre er ihresgleichen. Er hat
sie besiegt, aber... Die Schriftgelehrten und Pharisäer hassen ihn schon; wenn
ihnen nun diese Dinge zu Ohren kommen, was wird dann erst geschehen? Ihr habt
die Pflicht, einzugreifen und dies zu verhindern.»
«Das ist sehr schlimm. Sehr
schlimm! Aber wie konnten wir das wissen? Wir sind hier... Und in Zukunft? Wer
wird uns auf dem laufenden halten?»
«Und doch, es geht euch an, es
ist eure Pflicht, einzugreifen und es zu verhindern. Die Mutter ist die
Mutter, sie ist zu gut. Ihr dürft sie nicht allein lassen; weder seinetwegen
noch aus Furcht vor der Welt. Auch diese beständige Jagd auf die Dämonen...
Man sagt, daß er sich des Beelzebub bedient hat. Sagt mir, ob ihm das nützlich
sein kann. Und dann, was für ein König kann er je werden, wenn das Volk ihn
jetzt schon auslacht und sich über ihn ärgert?»
«Aber... macht er wirklich solche
Sachen?» fragt Simon ungläubig.
«Fragt ihn nur selbst. Er wird es
zugeben. Er rühmt sich dessen sogar.»
«Du müßtest uns darüber
berichten...»
«Ja, das werde ich tun! Sollte
ich etwas Neues beobachten, werde ich es euch mitteilen. Aber ich bitte euch:
schweigt, jetzt und immer allen gegenüber!»
«Wir haben es geschworen. Wann
wirst du abreisen?»
«Nach dem Sabbat. Jetzt habe ich
keinen Grund mehr, hier zu bleiben. Ich habe meine Pflicht getan.»
«Und wir danken dir dafür. Ach!
Ich habe es ja immer gesagt, daß er ein anderer geworden ist! Du, Bruder,
wolltest es mir nicht glauben... Siehst du nun, daß ich richtig urteilte?»
sagt Joseph des Alphäus.
«Ich zögere immer noch, es zu
glauben. Judas und Jakobus sind schließlich keine Dummköpfe. Warum haben sie
uns nichts gesagt? Warum treffen sie nicht Vorsorge, wenn solche Dinge
wirklich vorkommen?» sagt Simon des Alphäus.
«Mensch, du wirst mir nicht die
Unehre antun, meinen Worten nicht zu glauben?» fährt Judas beleidigt auf.
«Nein... Aber... Genug! Verzeih
mir, wenn ich dir sage: ich werde glauben, wenn ich sehe!»
«Nun gut! Du wirst bald sehen und
mir sagen: "Du hast richtig geurteilt." Wir sind bei eurem Haus angelangt. Ich
verlasse euch. Gott sei mit euch!»
83
«Gott sei mit dir, Judas! Und...
höre! Sprich auch du nicht mit anderen darüber. Um unserer Ehre willen...»
«Ich werde es nicht einmal der
Luft sagen. Lebt wohl!»
Er geht eilends davon, betritt
leise das Haus und steigt auf die Terrasse, wo Maria, die Hände im Schoß, den
mit unzähligen Sternen besäten Himmel betrachtet. Beim Schein der kleinen
Lampe, die Judas angezündet hat, um die Stufen hinaufzugehen, sieht man zwei
Tränenspuren auf den Wangen Marias glänzen.
«Warum weinst du, Maria?» fragt
Judas ängstlich.
«Weil mir scheint, daß in der
Welt mehr Gefahren sind als Sterne am Himmel. Gefahren für meinen Jesus...»
Judas betrachtet sie aufmerksam und besorgt. Doch sie schließt sanft: «Aber
mich tröstet die Liebe der Jünger... Liebt ihn sehr, meinen Jesus... Liebt
ihn... Willst du noch hier bleiben, Judas? Ich will in meine Kammer
hinuntergehen. Maria Kleophä hat sich auch schon zur Ruhe begeben, nachdem sie
den Sauerteig für morgen bereitet hat.»
«Ja, ich bleibe. Es ist so schön
hier.»
«Der Friede sei mit dir, Judas!»
«Der Friede sei auch mit dir,
Maria!»
307. UNTERWEISUNGEN DER APOSTEL
ZU BEGINN DES APOSTOLATES
Jesus und die Apostel – es sind
alle da, ein Zeichen dafür, daß Judas Iskariot nach vollbrachter Tat zu den
Gefährten zurückgekehrt ist – sitzen im Haus von Kapharnaum bei Tisch.
Es ist Abend. Das abnehmende
Tageslicht dringt durch die Tür und die weitgeöffneten Fenster herein, durch
die man den Übergang des Sonnenuntergangs von Purpur zu einem unwirklichen,
schillernden Rot, das sich an den Rändern in Violett und schließlich in Grau
wandelt. Es läßt mich an ein Stück Papier denken, das, wenn man es ins Feuer
wirft, wie die Kohle, an der es sich entzündet, verbrennt und sich dabei nach
einem kurzen Aufflammen an den Rändern rollt, um dann in einer bleiernblauen
Farbe zu erlöschen, die schließlich in ein fast perlweißes Grau übergeht.
«Es ist warm», sagt Petrus und
zeigt auf eine große Wolke, die den Westen in letztere Farben kleidet. «Es ist
warm und wird keinen Regen geben. Das ist Nebel, keine Wolke. Heute nacht
werde ich im Boot schlafen; dort ist es etwas kühler.»
«Nein! Heute nacht wollen wir in
den Ölgarten gehen. Ich muß mit euch reden. Jetzt ist ja auch Judas zurück. Es
ist Zeit, euch einiges zu
84
sagen. Ich kenne einen luftigen
Platz. Dort werden wir uns wohlfühlen. Steht auf und laßt uns gehen.»
«Ist es weit?» fragen sie und
nehmen ihre Mäntel.
«Nein, ganz in der Nähe. Nur ein
Steinwurf vom letzten Haus entfernt. Ihr könnt die Mäntel zurücklassen. Nehmt
jedoch Zunder und Feuerstein mit, damit wir bei der Rückkehr Licht machen
können.»
Sie verlassen den oberen Raum und
gehen die Stufen hinunter, nachdem sie den Herrn des Hauses und seine Frau,
die sich auf der kühlen Terrasse erholen, gegrüßt haben.
Jesus wendet dem See den Rücken
zu, geht durch das Dorf und dann etwa zweihundert oder dreihundert Meter durch
den Olivenhain eines ersten kleinen Hügels. Er hält auf einer Anhöhe, die
wegen ihrer vorspringenden und freien Lage bei dieser Schwüle einen luftigen
Aufenthalt bietet.
«Setzt euch und hört mir
aufmerksam zu! Die Stunde ist gekommen, da auch ihr die Frohe Botschaft
verkünden sollt. Ich habe nun ungefähr die Hälfte meines öffentlichen Lebens
hinter mir, die der Vorbereitung der Herzen auf mein Reich dient. Jetzt ist es
Zeit, daß auch meine Apostel an der Vorbereitung dieses Reiches teilnehmen.
Die Könige machen es so, wenn sie die Eroberung eines Reiches beschlossen
haben. Zuerst prüfen sie und beraten sich mit anderen, um deren Meinung zu
erfahren und sie auf das Ziel vorzubereiten, das sie verfolgen. Dann ziehen
sie bei ihrer vorbereitenden Arbeit zuverlässige Personen ins Vertrauen und
senden sie in das Land, das sie erobern wollen. Und immer mehr Boten schicken
sie aus, bis das Land in all seinen geographischen und ethischen Eigenheiten
bekannt ist. Nachdem dies geschehen ist, vollendet der König sein Werk, indem
er sich zum König dieses Landes erklärt und krönt. Und das kostet Blut. Denn
Siege kosten immer Blut...»
«Wir sind bereit, für dich zu
kämpfen und unser Blut zu vergießen», erklären die Apostel einstimmig.
«Ich will kein anderes Blut
vergießen als das des Heiligen und der Heiligen.»
«Willst du die Eroberung beim
Tempel beginnen und ihn zur Stunde der Opfer überfallen? ...»
«Wir wollen uns nicht weiter
darüber auslassen, Freunde. Die Zukunft werdet ihr zur rechten Zeit erfahren.
Aber zittert nicht vor Schrecken. Ich versichere euch, daß ich die Zeremonien
nicht durch einen Überfall unterbrechen will. Dennoch wird es Verwirrung
geben, und ein Abend wird kommen, an dem der Schrecken das rituelle Gebet
verhindert. Der Schrecken der Sünder. Ich aber werde an jenem Abend im Frieden
sein. Im Frieden dem Geist und dem Leib nach. In einem vollkommenen, seligen
Frieden...»
Jesus blickt einen nach dem
anderen seiner zwölf Apostel an, und es
85
scheint, als betrachte er
zwölfmal die gleiche Buchseite und müßte zwölfmal das Wort lesen, das darauf
geschrieben steht: Verständnislosigkeit. Er lächelt und fährt dann fort: «Ich
habe mich also entschlossen, euch auszusenden, um weiter vorzudringen, als ich
dies allein zu tun vermag. Doch wird es zwischen meiner Art zu verkündigen und
der eurigen vorsichtshalber Unterschiede geben, die ich festlege, um euch
nicht in allzugroße Schwierigkeiten zu bringen – in Schwierigkeiten, die große
Gefahren für eure Seele und euren Leib darstellen könnten – und um meinem Werk
nicht zu schaden. Ihr seid noch nicht ausreichend vorbereitet, um euch
jedwedem nähern zu können, ohne Schaden zu nehmen oder anzurichten; und noch
weniger seid ihr heroisch genug, um der Welt geistig die Stirn bieten und
ihrer Rachsucht entgegentreten zu können.
Daher geht auf euren
Predigtreisen nicht zu den Heiden und nicht in die Städte der Samariter,
sondern zu den verirrten Schafen des Hauses Israel. Es gibt auch unter diesen
noch so viel zu tun; denn ich sage euch, die Menge um mich herum, die euch so
zahlreich erscheint, stellt nur den hundertsten Teil von allen dar, die in
Israel den Messias erwarten und ihn weder kennen noch wissen, daß er bereits
unter ihnen weilt. Bringt ihnen den Glauben an mich und die Erkenntnis meiner
Gegenwart. Auf euren Wegen predigt also: "Das Himmelreich ist nahe." Diese
Verkündigung diene als Grundlage. Darauf baut eure ganze Predigt auf. Ihr habt
über dieses Reich so viel von mir erfahren! Ihr braucht nur zu wiederholen,
was ich euch gesagt habe. Aber der Mensch bedarf, um von den geistigen
Wahrheiten angezogen und überzeugt zu werden, materieller Süßigkeiten, so als
wäre er ein ewiges Kind, das seine Aufgaben nicht macht und sein Handwerk
nicht erlernt, wenn es nicht durch das Zuckerwerk der Mutter oder durch eine
Belohnung des Lehrers oder des Meisters ermuntert wird. Damit ihr nun ein
Mittel habt, dessentwegen man euch glaubt und euch aufsucht, übergebe ich euch
das Geschenk des Wunderwirkens...»
Die Apostel, außer Jakobus des
Alphäus und Johannes, springen in die Höhe, schreien, protestieren und sind
begeistert, jeder nach seinem Temperament.
In Wirklichkeit ist nur Judas
Iskariot von dem Gedanken geschmeichelt, daß er nun Wunder wirken kann. Er,
der seiner Seele keine Rechenschaft gibt über den falschen und eigennützigen
Vorwurf, ruft aus: «Es war Zeit, daß auch wir dies tun können, um ein
Mindestmaß an Autorität über die Menge zu haben!»
Jesus schaut ihn fest an, sagt
aber nichts. Petrus und der Zelote, die soeben sagen: «Nein, Herr, wir sind
dessen nicht würdig! Das ist Sache der Heiligen!» tadeln Judas, und der Zelote
sagt: «Wie kannst du dir erlauben, dem Meister einen Vorwurf zu machen, du
törichter und hochmütiger Mensch!» während Petrus auffährt: «Das Mindestmaß?
Was
86
willst du denn noch mehr tun als
Wunder wirken? Willst du vielleicht Gott werden? Hast du die gleichen Gelüste
wie Luzifer?»
«Ruhe!» gebietet Jesus. Dann
fährt er fort: «Es gibt etwas, was noch mehr wert ist als ein Wunder und was
die Menge ebenfalls, und zwar gründlicher und dauerhafter überzeugt: ein
heiliges Leben! Aber davon seid ihr noch weit entfernt, und du, Judas, am
weitesten von allen. Doch laßt mich nun weiterreden, denn es ist eine lange
Unterweisung.
Geht also hin und heilt die
Kranken, reinigt die Aussätzigen, erweckt die körperlich oder seelisch Toten;
denn Körper und Geist können gleicherweise krank, aussätzig oder tot sein. Und
ihr wißt auch, wie man Wunder wirken kann: durch ein Leben der Buße,
inbrünstiges Gebet und das aufrichtige Verlangen, die Allmacht Gottes
aufleuchten zu lassen; durch tiefe Demut, lebhafte Liebe, flammenden Glauben
und die Hoffnung, die sich durch keinerlei Schwierigkeiten entmutigen läßt. In
Wahrheit sage ich euch, alles ist dem möglich, der diese Elemente in sich
vereint.
Auch die Dämonen werden fliehen
vor dem von euch ausgesprochenen Namen des Herrn, wenn ihr in euch besitzt,
was ich gesagt habe. Diese Macht ist euch von mir und unserem Vater gegeben.
Man kann sie mit keiner Münze kaufen. Nur unser Wollen kann sie gewähren, und
nur ein gerechtes Leben kann sie verdienen. Aber, so wie sie euch umsonst
gegeben wird, so sollt ihr sie auch anderen, die ihrer bedürfen, umsonst
zugutekommen lassen. Wehe euch, wenn ihr die Gabe Gottes entehrt, indem ihr
sie dazu benützt, euren Beutel zu füllen. Sie ist nicht eure Kraft, sie ist
die Macht Gottes. Benützt sie, doch eignet sie euch nicht an und sagt nicht:
"Sie gehört mir!" So, wie sie euch gegeben wird, kann sie euch auch genommen
werden. Simon des Jonas hat gerade zu Judas des Simon gesagt: "Hast du die
gleichen Gelüste wie Luzifer?" Er hat es gut ausgedrückt. Wer sagt: "Ich tue,
was Gott tut, denn ich bin Gott", macht es Luzifer nach. Seine Bestrafung ist
bekannt. Bekannt ist auch, was jenen geschah, die im irdischen Paradiese von
der verborgenen Frucht aßen infolge der Verführung durch den Neid Satans, der
außer den rebellischen Engeln, die schon dort waren, noch andere Unglückliche
in seiner Hölle haben wollte, aber auch infolge der Verlockung durch den
eigenen vollkommenen Hochmut. Die einzige Frucht, die ihr ernten dürft, sind
die Seelen, die ihr durch das Wunder für den Herrn gewinnt und die ihr dem
Herrn geben müßt. Das sind eure Münzen. Sonst nichts. Im anderen Leben werdet
ihr euch eures Schatzes erfreuen.
Geht ohne Reichtümer. Tragt weder
Gold, noch Silber, noch Münzen in eurem Gürtel. Nehmt auch keinen Reisesack
mit zwei oder mehr Kleidern und doppelter Fußbekleidung mit, keinen Wanderstab
und keine von Menschen gemachten Waffen; denn eure apostolischen Besuche
werden jetzt kurz sein, und an jedem Vorabend des Sabbats werden wir uns
wieder
87
zusammenfinden; dann könnt ihr
eure schmutzigen Gewänder ablegen und müßt keine Kleider zum Wechseln
mitnehmen. Auch braucht ihr keinen Wanderstab, denn der Weg ist angenehm, und
auf Hügeln und Ebenen benötigt man andere Dinge als auf hohen Bergen und in
der Wüste. Waffen sind überflüssig. Sie sind gut für einen Menschen, der die
heilige Armut und die göttliche Vergebung nicht kennt. Aber ihr habt keine
Schätze zu bewachen oder vor den Dieben zu schützen. Der einzige, den ihr
fürchten müßt, der einzige Dieb für euch ist Satan. Und ihn besiegt man mit
Beharrlichkeit und Gebet, nicht mit Schwert und Keulen. Wer euch beleidigt,
dem verzeiht. Nehmen sie euch den Mantel weg, dann gebt ihnen auch das Kleid.
Selbst wenn ihr wegen eurer Sanftmut und eurer Loslösung von den Reichtümern
nackt dasteht, so seid ihr den Engeln des Herrn und auch der unendlichen
Reinheit Gottes nicht anstößig; denn eure Liebe würde euren nackten Körper mit
Gold bedecken, die Sanftmut würde euch mit einem Gürtel zieren und die
Vergebung gegenüber dem Dieb würde euch Mantel und königliche Krone sein. Ihr
wäret also besser gekleidet als ein König; und zudem mit unvergänglichen
Stoffen.
Seid nicht besorgt um eure
Nahrung. Ihr werdet immer haben, was euren Bedürfnissen angepaßt und eurer
Sendung dienlich ist; denn der Arbeiter ist der Nahrung wert, die ihm seine
Arbeit einbringen muß. Immer! Und wenn die Menschen nicht dafür sorgen, wird
Gott für seinen Arbeiter sorgen. Ich habe euch schon gezeigt, daß es zum Leben
und Predigen nicht eines mit gierig verschlungener Nahrung vollgestopften
Leibes bedarf. Ein solcher ist gut für das unreine Tier, dessen Lebenszweck
darin besteht, fett zu werden, um dann nach der Schlachtung auch die Menschen
fett zu machen. Ihr aber sollt nur euren Geist und den der anderen gut nähren
mit der Speise der Weisheit. Ein Geist, den die Völlerei nicht stumpfsinnig
macht, und ein Herz, das sich von der Übernatur ernährt, entzündet sich an der
Weisheit. Ihr seid nie so redselig gewesen, wie nach der Rückkehr von dem
Berg. Damals habt ihr nur gegessen, was nötig war um nicht zu sterben. Und
doch wart ihr am Ende der Zurückgezogenheit stark und fröhlich wie nie zuvor.
Stimmt das vielleicht nicht?
In jeder Stadt oder Ortschaft, in
der ihr einkehrt, erkundigt euch, ob dort jemand lebt, der würdig ist, euch
aufzunehmen. Nicht weil ihr Simon, Judas, Bartholomäus, Jakobus oder Johannes
seid, sondern weil ihr die Gesandten des Herrn seid. Selbst wenn ihr verachtet
gewesen wäret, Mörder, Diebe oder Zöllner, die nun aber bereuen und in meinem
Dienst stehen, verdientet ihr Achtung, weil ihr meine Gesandten seid. Ich sage
noch mehr: Wehe euch, wenn ihr euch nur als meine Gesandten ausgebt, innerlich
aber verworfen und vom Teufel seid! Wehe euch! Die Hölle wäre noch wenig im
Vergleich zu dem, was ihr durch euren Betrug verdient. Solltet ihr jedoch
gleichzeitig Gesandte Gottes und im Verborgenen auch Verworfene, Zöllner,
Räuber oder Mörder sein, oder sollte auch nur
88
ein Verdacht gegen euch in den
Herzen aufkeimen, so müßte euch dennoch Ehre und Achtung erwiesen werden, weil
ihr meine Gesandten seid. Das Auge des Menschen muß über das Werkzeug
hinaussehen, muß den Gesandten und den Zweck, Gott und sein Werk, über das oft
fehlerhafte Werkzeug hinaus erkennen. Nur in Fällen schwerer Schuld, die dem
Glauben der Herzen schaden könnte, werde ich jetzt, und später mein
Nachfolger, dafür sorgen, daß das verdorbene Glied abgetrennt wird. Denn es
ist nicht recht, daß durch einen dem Teufel anheimgefallenen Priester Seelen
von Gläubigen verlorengehen. Nie wird es erlaubt sein, daß, um die am
apostolischen Körper entstandenen Wunden zu bedecken, solch angefaulte
Körperteile erhalten bleiben, die mit ihrer abstoßenden Erscheinung und ihrem
dämonischen Gestank Seelen vertreiben oder vergiften.
Ihr sollt euch daher erkundigen,
welche Familie ein rechtschaffenes Leben führt, wo die Frauen zurückhaltend
sind und züchtige Sitten herrschen. Dort werdet ihr eintreten und verweilen,
bis ihr den Ort wieder verlaßt. Macht es nicht wie die Drohnen, die, nachdem
sie an einer Blüte gesaugt haben, zu einer anderen fliegen, die ihnen
reichlicher Nektar bietet. Bleibt, wo ihr seid, sei es, daß ihr zu Menschen
kommt, die gute Betten und reiche Tische haben, sei es, daß ihr zu Menschen
kommt, die einer bescheidenen Familie angehören, aber reich an Tugenden sind.
Sucht nie das "Bessere" für den Körper, der vergänglich ist, sondern gebt
diesem immer das Schlechtere, behaltet aber alle Rechte dem Geist vor. Und das
sage ich euch, weil es gut ist, wenn ihr so handelt: gebt bei der Wahl eines
Aufenthaltes soweit als möglich den Armen den Vorzug, um sie nicht zu
demütigen und in Erinnerung an mich, der ich arm bin, arm bleibe und mich
dessen rühme, und auch, weil die Armen oft besser sind als die Reichen. Ihr
findet immer gerechte Arme, während es schwer ist, Reiche anzutreffen, die
nicht ungerecht sind. Sagt also nicht zu eurer Entschuldigung: "Ich habe nur
bei den Reichen Güte gefunden", um euren Hang zum Wohlleben zu rechtfertigen!
Wenn ihr ein Haus betretet, dann
grüßt mit meinem Gruß, dem schönsten Gruß, den es gibt. Sagt: "Der Friede sei
mit euch! Der Friede sei in diesem Haus", oder "Der Friede komme in dieses
Haus!" Denn ihr, Gesandte Jesu und Verkünder der Frohen Botschaft, tragt den
Frieden bei euch, und euer Kommen an einen Ort bringe ihm Frieden. Ist er des
Friedens unwürdig, kehrt er zu euch zurück; ist er des Friedens würdig, kommt
er und bleibt in ihm. Achtet jedoch darauf, daß ihr friedfertig seid, damit
ihr Gott zum Vater habt. Ein Vater hilft immer. Und wenn euch Gott hilft,
vermögt ihr alles zu tun und alles gut zu tun.
Es kann auch sein, und es wird
sicher vorkommen, daß eine Stadt oder ein Haus euch nicht aufnimmt und euch
nicht anhören will; daß man euch verjagen, verspotten oder auch mit
Steinwürfen verfolgen wird wie lästige Propheten. Dort ist es mehr als
anderswo nötig, friedfertig, demütig
89
und sanftmütig zu sein. Denn
sonst wird euch der Zorn übermannen und ihr werdet sündigen, indem ihr die zu
Bekehrenden verwirrt und ihren Unglauben noch vermehrt. Wenn ihr aber
Beleidigung, Verfolgung und Spott ruhig hinnehmt, dann bekehrt ihr mit der
schönsten Predigt: mit der stillen Predigt wahrer Tugend. Ihr werdet dann
eines Tages den Feinden von heute auf eurem Weg begegnen, und sie werden euch
sagen: "Wir haben euch gesucht, denn eure Art zu handeln hat uns von der
Wahrheit, die ihr verkündet, überzeugt. Verzeiht uns und nehmt uns als Jünger
an, denn wir haben euch verkannt. Jetzt erkennen wir euch als Heilige. Und da
ihr Heilige seid, müßt ihr die Gesandten eines Heiligen sein, und wir glauben
jetzt an ihn." Doch beim Verlassen der Stadt oder des Hauses, die euch nicht
aufgenommen haben, schüttelt den Staub von euren Schuhen, damit der Hochmut
und die Härte dieses Ortes nicht einmal an euren Sohlen haften bleiben.
Wahrlich, ich sage euch: Am Tag des Gerichtes wird es Sodom und Gomorrha
weniger schlimm ergehen als dieser Stadt.
Seht, ich sende euch wie Lämmer
unter die Wölfe. Seid daher klug wie die Schlangen und einfältig wie die
Tauben. Denn ihr wißt, wie die Welt, in der es wahrlich mehr Wölfe als Schafe
gibt, mich behandelt, der ich Christus bin. Ich kann mich mit meiner Macht
verteidigen, und ich werde es auch tun, bis die Stunde des vorübergehenden
Triumphes der Welt gekommen ist. Ihr aber habt diese Macht nicht und bedürft
daher größerer Klugheit und Einfalt; und größerer Vorsicht, um vorerst dem
Kerker und der Geißelung zu entgehen. Denn ihr vertragt jetzt noch nicht
einmal einen spöttischen oder gehässigen Blick, obgleich ihr behauptet, euer
Leben für mich hingeben zu wollen. Später wird eine Zeit kommen, in der ihr
stark sein werdet wie Helden gegen alle Verfolgungen, ja stärker noch als
Helden, mit einem für die Welt so unbegreiflichen Heldenmut, daß sie ihn
Torheit nennen wird. Nein, es wird nicht Torheit sein: Ihr werdet durch die
Liebe in vollkommener Weise an die Stelle des Gottmenschen treten und
vollbringen, was ich schon getan habe. Um diesen Heldenmut verstehen zu
können, muß man ihn sehen, studieren und vom überirdischen Standpunkt aus
beurteilen. Denn er ist etwas Übernatürliches, das alle Grenzen der
menschlichen Natur übersteigt. Könige, Könige des Geistes werden meine Helden
sein, in Ewigkeit Könige und Helden...
Zu dieser Zeit wird man Hand an
euch legen und euch gefangennehmen; man wird euch vor die Gerichte schleppen,
vor die Vorsteher und die Könige, damit diese euch richten und verurteilen
wegen der großen Sünde in den Augen der Welt, Knechte Gottes, Diener und
Verwalter des Guten, Lehrer der Tugenden zu sein. Und ihr werdet gegeißelt und
auf tausenderlei Arten bis zum Tod gequält werden. Und ihr werdet Zeugnis von
mir ablegen vor Königen, Herrschern und Nationen und mit eurem Blut bekennen,
daß ihr Christus, den wahren Sohn des wahren Gottes, liebt.
Wenn ihr in ihren Händen seid,
dann macht euch keine Sorgen darüber,
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was ihr antworten und was ihr
sagen sollt. Eure einzige Sorge sei, euren Richtern und Anklägern nicht zu
zürnen, da Satan sie so sehr auf Abwege führt, daß sie blind sind für die
Wahrheit. Die Worte, die ihr sagen müßt, werden euch in diesem Augenblick
eingegeben. Euer Vater wird sie euch auf die Lippen legen, so daß nicht ihr
redet, um zum Glauben zu bekehren und die Wahrheit zu bekennen, sondern der
Geist des Vaters wird es sein, der aus euch spricht.
Der Bruder wird den Bruder, der
Vater den Sohn töten, und die Söhne werden sich auflehnen gegen ihre Eltern
und sie dem Tod überliefern. Nein, verliert dann nicht den Mut und nehmt
keinen Anstoß. Antwortet mir, welches ist für euch das größte Verbrechen:
einen Vater, einen Bruder, einen Sohn oder Gott selbst zu töten?»
«Gott kann man nicht töten», sagt
Judas Iskariot trocken.
«Das ist wahr. Er ist der
unfaßbare Geist», bestätigt Bartholomäus. Und die anderen sind, obwohl sie
schweigen, der gleichen Ansicht.
«Ich bin Gott und Fleisch», sagt
Jesus ruhig.
«Niemand denkt daran, dich zu
töten», entgegnet Iskariot.
«Ich bitte euch: beantwortet
meine Frage.»
«Aber es ist selbstverständlich
eine größere Sünde, Gott zu töten!»
«Nun gut: Gott wird vom Menschen
getötet im Fleisch des Gottmenschen und in der Seele der Mörder des
Gottmenschen. Und wie man ohne zu zaudern dieses Verbrechen begeht, werden
ebenso auch die Verbrechen der Väter, der Brüder und der Söhne gegen die
Söhne, die Brüder und die Väter geschehen. Ihr werdet wegen meines Namens von
allen gehaßt werden. Doch wer bis zum Tod ausharrt, wird gerettet werden. Wenn
man euch in der einen Stadt verfolgt, dann flieht in eine andere, nicht aus
Feigheit, sondern um der neugeborenen Kirche Christi Zeit zu lassen,
heranzuwachsen; damit aus dem schwachen und unfähigen Säugling ein Erwachsener
werde, der dem Leben und auch dem Tod furchtlos die Stirn bietet. Wem der
Geist es eingeben wird zu fliehen, soll fliehen. So, wie ich geflohen bin, als
ich noch Kind war. Wahrlich, im Leben meiner Kirche werden sich alle
Ereignisse meines menschlichen Lebens wiederholen. Alle! Angefangen vom
Geheimnis seiner Entwicklung in der Demut der ersten Zeit, bis zu den Stürmen
und Nachstellungen der Bösen und der Notwendigkeit zu fliehen, um weiter zu
existieren; von der Armut und der unermüdlichen Arbeit bis zu vielen anderen
Dingen, die ich augenblicklich durchlebe und die ich noch zu erdulden habe,
bevor ich auf ewig triumphiere. Wem der Geist rät zu bleiben, soll bleiben.
Denn wenn er auch getötet würde, lebte er und würde der Kirche nützen. Denn
was der Geist Gottes rät, ist immer gut.
Wahrlich, ich sage euch, ihr und
eure Nachfolger werdet nicht aufhören, die Städte und Wege Israels zu
durchwandern bis zur Wiederkunft des Menschensohnes. Denn Israel wird wegen
einer schrecklichen Sünde
91
wie Spreu von einem Wirbelwind
erfaßt und über die ganze Welt zerstreut werden, und Jahrhunderte und
Jahrtausende werden vergehen, bevor es wiederum auf der Tenne des Jebusiters
Arauna vereint sein wird. Jedesmal, wenn es versucht, sich vor der dazu
bestimmten Stunde zu sammeln, wird es wieder vom Sturmwind erfaßt und
zerstreut; denn Israel muß seine Sünde so viele Jahrhunderte lang beweinen,
als Blutstropfen aus den Adern des Lammes Gottes fließen, das für die Sünden
der Welt geschlachtet werden wird. Und meine Kirche, die in mir und meinen
Aposteln geschlagen wird, wird dennoch ihre mütterlichen Arme öffnen und
versuchen müssen, Israel unter ihrem Mantel zu versammeln, wie eine Glucke
ihre verirrten Küklein. Wenn ganz Israel sich unter dem Mantel der Kirche
Christi birgt, dann werde ich kommen.
Doch das sind die Zukunft
betreffende Dinge. Wir wollen von den nun bevorstehenden reden.
Denkt immer daran, daß der Jünger
nicht mehr ist als der Meister, und der Diener nicht mehr als sein Herr. Daher
soll sich der Jünger damit begnügen, wie sein Meister zu sein, und das ist
schon eine unverdiente Ehre; und der Diener damit, wie der Herr zu sein, und
es ist schon übernatürliche Güte, wenn euch dies gewährt wird.
Wenn sie den Herrn des Hauses
Beelzebub genannt haben, wie werden sie dann seine Knechte nennen? Und können
die Knechte aufbegehren, wenn der Herr nicht aufbegehrt, weder haßt noch
verflucht, sondern ruhig in seiner Gerechtigkeit sein Werk fortsetzt und sein
Gericht auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt: wenn er nämlich alles
versucht haben wird, um zu überzeugen, und das hartnäckige Verharren in der
Sünde gesehen hat? Nein, die Knechte dürfen nicht tun, was der Herr nicht
getan hat. Sie sollen ihn vielmehr nachahmen und bedenken, daß auch sie Sünder
sind, während er ohne Sünde war.
Fürchtet daher die nicht, die
euch "Dämonen" nennen. Die Wahrheit wird eines Tages erkannt werden, und dann
wird man sehen, wer die Dämonen gewesen sind: ihr oder sie. Es ist nichts so
verborgen, daß es nicht aufgedeckt, und nichts so geheim, daß es nicht bekannt
werden würde.
Das sage ich euch jetzt, bei
Nacht und im geheimen, denn die Welt ist nicht würdig, alle Worte des Wortes
zu hören, und die Stunde ist noch nicht gekommen, da auch die Unwürdigen sie
erfahren werden. Wenn aber die Stunde gekommen ist, da alles bekannt sein
soll, müßt ihr alles, was ich euch jetzt mehr in die Seele als ins Ohr
flüstere, im Licht und von den Dächern verkünden. Denn dann wird die Welt mit
dem Blut getauft sein, und dieser Schild gegen Satan wird es der Welt
ermöglichen – wenn sie will – die Geheimnisse Gottes zu begreifen; Satan wird
nur jenen schaden können, die nach dem Bisse Satans verlangen und ihn meinem
Kuß vorziehen. Aber acht von zehn Teilen der Welt wollen nicht begreifen; nur
Minderheiten sind wißbegierig, um alles befolgen zu können,
92
was zu meiner Lehre gehört. Das
spielt keine Rolle. Da man die beiden heiligen Teile nicht von der Masse der
Ungerechten trennen kann, predigt meine Lehre selbst von den Dächern, predigt
sie von den Höhen der Berge, auf den grenzenlosen Meeren und in den
Eingeweiden der Erde. Wenn die Menschen nicht hören wollen, werden die Vögel
und die Winde, die Fische und die Wellen die göttlichen Worte vernehmen; und
die Eingeweide der Erde werden das Echo an die unterirdischen Quellen, an die
Mineralien, an die Metalle weitergeben, und alle werden sich daran erfreuen,
denn auch sie sind von Gott erschaffen, um der Schemel meiner Füße und die
Freude meines Herzens zu sein.
Fürchtet jene nicht, die den Leib
töten, aber die Seele nicht töten können; fürchtet nur ihn, der euere Seele
ins Verderben stürzen und sie beim Letzten Gericht dem auferstandenen Körper
wieder einverleiben kann, um sie ins höllische Feuer zu werfen. Fürchtet euch
nicht! Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Pfennig? Und doch, wenn der
Vater es nicht erlaubt, wird keiner von ihnen trotz aller Nachstellungen der
Menschen gefangen. Fürchtet euch daher nicht! Der Vater kennt euch. Auch die
Haare eures Hauptes hat er gezählt. Und ihr bedeutet ihm viel mehr als viele
Sperlinge!
Und ich sage euch, wer mich vor
den Menschen bekennen wird, den werde auch ich vor dem Vater, der im Himmel
ist, bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich
vor meinem Vater verleugnen. Bekennen heißt: meine Lehre befolgen und in die
Tat umsetzen; verleugnen heißt: meinen Weg verlassen aus Feigheit, aus
dreifacher Begierde, aus niedriger Berechnung oder aus menschlicher Rücksicht
auf einen der eurigen, der gegen mich ist. So wird es kommen.
Denkt nicht, daß ich gekommen
sei, um Eintracht auf die Erde und für die Erde zu bringen. Mein Friede ist
viel erhabener als der berechnende Friede, mit dem man das tägliche Leben
meistert. Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.
Das scharfe Schwert, das die Schlingpflanzen durchtrennt, die im Schlamm
zurückhalten, um so den Weg für die Flüge zum Übernatürlichen freizumachen.
Ich bin gekommen, den Sohn mit dem Vater, die Tochter mit der Mutter und die
Schwiegertochter mit der Schwiegermutter zu entzweien. Denn ich bin der, der
herrscht und alle Rechte über seine Untertanen besitzt. Niemand hat größere
Rechte auf die Liebe der Menschen als ich. Denn in mir vereinen und
vervollkommnen sich alle Zuneigungen, und ich bin Vater, Mutter, Bräutigam,
Bruder und Freund und liebe euch wie sie, und wie sie, will ich geliebt
werden. Wenn ich sage: "Ich will" ' dann vermag keine Bindung zu widerstehen,
und das Geschöpf gehört mir. Ich habe es mit dem Vater erschaffen. Durch mich
wird es gerettet. Ich habe das Recht, es zu besitzen.
Wahrlich, die Feinde des Menschen
sind, neben den Dämonen, die
93
Menschen selbst; und die Feinde
des neuen Menschen, des Christen, werden die seines Hauses sein mit ihren
Klagen, Drohungen und Bitten. Wer also von jetzt an Vater und Mutter mehr
liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Wer den Sohn oder die Tochter mehr
liebt als mich, ist meiner nicht wert. Wer sein tägliches Kreuz nicht auf sich
nimmt, so wie es ist -bestehend aus Verzicht, Ergebenheit, Gehorsam,
Heroismus, Schmerzen, Krankheiten, Kämpfen und aus allem, was der Wille Gottes
schickt -und mir damit nicht folgt, ist meiner nicht wert. Wer mehr an seinem
irdischen Leben als an dem seiner Seele hängt, wird das wahre Leben verlieren.
Wer aber sein irdisches Leben aus Liebe zu mir verloren hat, wird das ewige,
glückselige Leben dafür empfangen.
Wer euch aufnimmt, der nimmt mich
auf. Wer mich aufnimmt, der nimmt ihn auf, der mich gesandt hat. Wer einen
Propheten als Propheten aufnimmt, wird eine Belohnung erhalten, die der Liebe
angemessen ist, die er dem Propheten entgegengebracht hat; und wer einen
Gerechten als Gerechten aufnimmt, wird den Lohn erhalten, der einem Gerechten
entspricht. Denn wenn jemand einen Propheten als Propheten erkennt, beweist er
damit, daß auch er ein Prophet, also sehr heilig ist, weil ihn der Geist
Gottes in seinen Armen hält; und wer einen Gerechten als Gerechten betrachtet,
beweist damit, daß er selbst ein Gerechter ist; denn sich ähnliche Seelen
erkennen sich gegenseitig. Einem jeden wird somit nach Gerechtigkeit vergolten
werden. Wer aber einem meiner Diener, selbst wenn es der geringste ist, auch
nur einen Becher Wasser gibt, wird belohnt werden. Und Diener Jesu sind alle,
die ihn mit einem heiligen Leben predigen; sie können Könige oder Bettler,
Weise oder Unwissende, Greise oder Kinder sein, denn in jedem Lebensalter und
in allen Schichten kann man mein Jünger sein. In Wahrheit sage ich euch: Wer
einem meiner Jünger, weil er mein Jünger ist, einen Becher Wasser in meinem
Namen gibt, der wird seine Belohnung nicht verlieren.
Ich habe gesprochen. Nun wollen
wir beten und dann nach Hause gehen. Beim Morgengrauen müßt ihr aufbrechen und
zwar so: Simon des Jonas mit Johannes, Simon der Zelote mit Judas Iskariot,
Andreas mit Matthäus, Jakobus des Alphäus mit Thomas, Philippus mit Jakobus
des Zebedäus und Judas, mein Bruder, mit Bartholomäus. Das gilt für diese
Woche. Danach gebe ich neue Anweisungen. Nun laßt uns beten!»
Sie beten mit lauter Stimme.
94
308. «BIST DU DER MESSIAS?»FRAGEN
DIE GESANDTEN DES TÄUFERS
Jesus ist mit Matthäus allein,
der wegen einer Verletzung am Fuß, nicht mit den anderen predigen gehen
konnte! Doch Kranke und solche, die nach der Frohen Botschaft verlangen,
füllen die Terrasse und den freien Platz im Garten, um ihm zuzuhören und Hilfe
von ihm zu erhalten.
Jesus beendet seine Predigt und
sagt: «Nachdem wir zusammen das große Wort Salomons erwogen haben: "Im
Überfluß der Gerechtigkeit liegt die höchste Stärke", fordere ich euch auf,
euch diesen Reichtum anzueignen; denn er ist die Münze für den Eintritt in das
Himmelreich. Bleibt in meinem Frieden, und Gott sei mit euch!»
Dann wendet er sich den Armen und
den Kranken zu – in vielen Fällen sind sie beides zusammen – und hört gütig
ihre Berichte an, hilft mit Geld, gibt gute Ratschläge, heilt durch Auflegen
der Hände und mit dem Wort. Matthäus an seiner Seite verteilt das Geld.
Jesus hört gerade aufmerksam
einer armen Witwe zu, die ihm unter Tränen vom unvorhergesehenen Tod ihres
Mannes, eines Schreiners, erzählt, der vor wenigen Tagen an seiner Hobelbank
eingetreten ist. «Ich bin hierher gekommen, um dich zu suchen, und die ganze
Verwandtschaft des Toten klagt mich an, unordentlich und hartherzig zu sein;
sie verflucht mich jetzt. Aber ich bin gekommen, da ich weiß, daß du
auferwecken kannst; wenn ich dich rechtzeitig gefunden hätte, wäre mein Mann
auferweckt worden. Du warst nicht da ... Nun ist er im Grab, seit zwei
Wochen... ich bin hier mit fünf Kindern ... Die Verwandten hassen mich und
helfen mir nicht. Ich habe Ölbäume und Weinreben. Wenige zwar, doch sie würden
mir das Brot für den Winter einbringen, wenn ich sie bis zur Ernte behalten
könnte. Aber ich habe kein Geld, denn mein Mann hatte eine schwache Gesundheit
und konnte nur wenig arbeiten, und um auf den Beinen zu bleiben, aß und trank
er auch zuviel. Er sagte, der Wein täte ihm gut. Doch er brachte nur ein
doppeltes Übel mit sich: er tötete ihn und verzehrte die Ersparnisse, die
wegen seiner Schwäche sehr gering waren. Er war gerade dabei, einen Karren und
einen Schrank anzufertigen, und er hatte einen Auftrag für zwei Betten, für
Tische und Regale. Aber nun... sind sie nicht fertig geworden, und mein Sohn
ist noch nicht acht Jahre alt. Das Geld dafür wird mir fehlen. Ich werde die
Werkzeuge und das Holz verkaufen müssen. Den Wagen und den Schrank kann ich
nicht verkaufen, da sie ja noch nicht fertig sind; so werde ich sie als
Brennholz hergeben müssen. Das Geld wird nicht reichen, denn ich, meine alte
und kranke Mutter und fünf Kinder, wir sind sieben Personen... Ich werde den
Weinberg und die Ölbäume verkaufen müssen... Aber du weißt ja, wie die Welt
ist... Sie saugt jeden aus, der in Not ist. Sage mir, was soll ich tun? Ich
wollte die Hobelbank und die Werkzeuge
95
für den Sohn aufbewahren, der
schon etwas vom Handwerk versteht... und möchte das Land behalten, um davon
leben zu können... und um für die Mädchen eine Aussteuer zu haben...»
Jesus hört sich all dies an, als
die Unruhe im Volk ihn darauf aufmerksam macht, daß etwas Neues vor sich geht.
Er wendet sich um und sieht drei Männer, die sich einen Weg durch die Menge
bahnen. Dann wendet er sich wieder der Witwe zu und sagt: «Wo wohnst du?»
«In Chorazim, an der Straße, die
zu der warmen Quelle führt. Ein niedriges Haus zwischen zwei Feigenbäumen.»
«Gut. Ich werde kommen und den
Wagen und den Schrank fertigstellen; dann kannst du sie an die Auftraggeber
verkaufen. Erwarte mich morgen bei Sonnenaufgang.»
«Du? Du willst für mich
arbeiten?!» Die Frau ist außer sich vor Staunen.
«Ich werde wieder einmal mein
Handwerk ausüben und dir Frieden schenken. Darüberhinaus will ich den
herzlosen Menschen von Chorazim eine Lehre der Nächstenliebe erteilen.»
«O ja! Herzlos sind sie! Wenn
doch der alte Isaak noch da wäre! Er ließe mich nicht Hungers sterben. Doch er
ist zurückgekehrt zu Abraham...»
«Weine nicht! Geh beruhigt! Hier
etwas, das für heute genügt. Morgen werde ich kommen. Geh in Frieden!»
Die Frau wirft sich nieder, um
sein Gewand zu küssen und geht erleichtert von dannen.
«Dreimal heiliger Meister, darf
ich dich grüßen?» fragt einer der neu Angekommenen, die sich voll Ehrfurcht
hinter Jesus gestellt und gewartet haben, bis er die Frau verabschiedet, und
so sein Versprechen gehört haben. Der Mann, der grüßte, heißt Manaen.
Jesus wendet sich um und sagt
lächelnd: «Der Friede sei mit dir, Manaen! Du hast dich also meiner erinnert?»
«Immer, Meister! Ich hatte die
Absicht, ins Haus des Lazarus oder zum Ölgarten zu gehen, um bei dir zu sein.
Doch vor Ostern wurde der Täufer gefangengenommen. Er wurde durch Verrat
wieder gefangengenommen und ich fürchtete, daß in Abwesenheit des Herodes, der
für das Osterfest nach Jerusalern gegangen war, Herodias befehlen würde, den
Heiligen zu töten. Sie wollte nicht zum Fest nach Sion gehen, weil sie
angeblich krank war. Krank, ja, wegen ihres Hasses und ihrer
Ausschweifungen... Ich bin in Machaerus gewesen, um sie zu überwachen... und
um die treulose Frau zu zügeln, die imstande wäre, ihn eigenhändig
umzubringen... Sie tut es nicht, weil sie fürchtet, die Gunst des Herodes zu
verlieren, der aus Furcht oder aus Überzeugung Johannes verteidigt und sich
darauf beschränkt, ihn gefangenzuhalten. Nun ist Herodias vor der drückenden
Hitze nach Machaerus geflohen und hat sich auf eine Burg,
96
die sie dort besitzt,
zurückgezogen. Ich bin mit diesen meinen Freunden und Jüngern des Johannes
gekommen. Er hat sie gesandt, damit sie dir einige Fragen stellen. Und ich
habe mich ihnen angeschlossen.»
Die Leute, die von Herodes reden
hören und erkennen, wer da spricht, drängen sich neugierig um die Gruppe, die
aus Jesus und den drei Männern besteht.
«Was wollt ihr mich fragen?»
fragt Jesus, nachdem er die beiden ernsten Männer begrüßt hat.
«Rede du, Manaen; du weißt ja
alles und bist befreundet mit ihm», sagt einer der beiden.
«Siehe, Meister, du mußt sie
entschuldigen, wenn sie aus übergroßer Liebe als Jünger mißtrauisch werden
gegen jemand, den sie für einen Gegner oder Rivalen ihres Meisters halten. So
machen es die Deinen, so die des Johannes. Es ist eine begreifliche
Eifersucht, weiche die ganze Liebe der Jünger für ihren Meister ausdrückt.
Ich... bin unparteiisch, und sie, die bei mir sind, können es bestätigen; denn
ich kenne dich und Johannes, und ich liebe euch in Gerechtigkeit, und wenn ich
dich auch als den liebe, der du bist, so habe ich es doch vorgezogen, das
Opfer zu bringen und bei Johannes zu bleiben, weil ich auch ihn als den
verehre, der er ist, und er augenblicklich in größerer Gefahr ist als du.
Wegen dieser Liebe, die die Pharisäer mit ihrem Haß nur vergrößern, haben sie
angefangen zu bezweifeln, daß du der Messias bist. Sie haben dies Johannes
bekannt, im Glauben, ihm eine Freude zu bereiten; sie sagten: "Für uns bist du
der Messias. Niemand kann heiliger sein als du." Aber Johannes hat sie
getadelt und Gotteslästerer genannt, und nach dem Tadel hat er ihnen mit etwas
sanfterer Stimme erklärt, was alles darauf hinweist, daß du der wahre Messias
bist. Schließlich, als er sie immer noch nicht überzeugt sah, hat er zwei von
ihnen genommen, diese hier, und zu ihnen gesagt: "Geht zu ihm und fragt ihn in
meinem Namen: 'Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir einen anderen
erwarten?'" Er hat nicht die Hirten gesandt, die früher seine Jünger waren,
denn sie glauben an dich, und so hätte es nicht viel geholfen. Er hat diese
beiden ausgewählt, die im Zweifel waren, damit sie dir näherkommen und ihr
Wort die Zweifel der Gesinnungsgenossen vertreibt. Ich habe sie begleitet, um
dich sehen zu können. So, das Meinige habe ich gesagt. Nun beruhige sie und
behebe ihre Zweifel.»
«Aber glaube nicht, daß wir
feindlich gesinnt sind, Meister! Die Worte Manaens könnten dich das vermuten
lassen. Wir... wir... wir kennen den Täufer seit Jahren und haben ihn immer
für einen Heiligen, einen Büßer und einen Erleuchteten gehalten. Dich...
kennen wir nur durch die Aussagen der anderen. Und du weißt, was das Wort der
Menschen wert ist... Es schafft und zerstört den Ruf und die Lobsprüche im
Streit zwischen dem Lobredner und dem Widersacher, so wie eine Wolke sich
bildet und sich wieder auflöst durch zwei entgegengesetzte Winde.»
97
«Ich weiß, ich weiß. Ich lese in
eurem Geist, und eure Augen lesen die Wahrheit in dem, was euch umgibt, so wie
eure Ohren mein Gespräch mit der Witwe vernommen haben. Das sollte genügen,
euch zu überzeugen. Aber ich sage euch: betrachtet, wer mich umgibt. Hier sind
keine Reichen und Genießer, hier sind keine anstoßerregenden Personen.
Vielmehr arme, kranke, ehrbare Israeliten, die das Wort Gottes hören wollen.
Und nichts anderes. Dieser hier, jener dort, diese Frau, jenes Mädchen und der
Greis, sie sind krank hierhergekommen und nun sind sie gesund. Fragt sie, und
sie werden euch sagen, was ihnen fehlte, wie sie geheilt wurden und wie es
ihnen jetzt geht. Tut es, tut es! Ich will inzwischen mit Manaen sprechen»,
und Jesus zieht sich zurück.
«Nein, Meister! Wir zweifeln
nicht an deinen Worten. Gib uns nur eine Antwort, die wir Johannes überbringen
können, damit er sieht, daß wir hierhergekommen sind und damit er mit Hilfe
deiner Worte unsere Freunde überzeugen kann.»
«Geht und berichtet dem Johannes
folgendes: "Die Tauben hören; dieses Mädchen war taubstumm. Die Stummen reden;
jener Mann war von Geburt an stumm. Die Blinden sehen." Mann, komm her und
sage diesen hier, was du hattest», sagt Jesus und nimmt einen Geheilten beim
Arm.
Dieser erklärt: «Ich bin Maurer,
und mir fiel ein Eimer mit ungelöschtem Kalk auf das Gesicht. Der Kalk hat mir
die Augen verbrannt. Seit vier Jahren lebte ich in Finsternis. Der Messias hat
mir die vertrockneten Augen mit seinem Speichel angefeuchtet, und jetzt sind
sie frischer, als sie in meinem zwanzigsten Lebensjahr waren. Er sei dafür
gepriesen!»
Jesus fährt fort: «Und mit den
Blinden, Tauben und Stummen richten sich die Lahmen auf, und die Krüppel gehen
wieder. Seht dort den Greis, der zuvor noch hinkte; nun geht er aufrecht wie
eine Palme in der Wüste und flink wie eine Gazelle. Die schlimmsten
Krankheiten werden geheilt. Du, Frau, was hattest du?»
«Ein Übel an meiner Brust, weil
ich vielen gierigen Mündern Milch geben mußte. Und dieses Übel an der Brust
hat an meinem Leben gezehrt. Aber nun, seht her», und sie öffnet die Tunika,
zeigt die unversehrte Brust und fügt hinzu: «Sie war eine einzige Wunde.» Sie
weist auf das Kleid, das noch von Eiter getränkt ist. «Jetzt gehe ich nach
Hause, lege ein reines Gewand an und bin wieder stark und glücklich. Gestern
bin ich von Mitleidigen sterbenskrank hierhergebracht worden, und ich war so
unglücklich... wegen der Kinder, die bald ohne Mutter gewesen wären. Ewiges
Lob dem Erlöser!»
«Hört ihr? Ihr könnt auch den
Synagogenvorsteher dieser Stadt über seine Tochter und deren Auferweckung
befragen. Und auf dem Weg nach Jericho geht an Naim vorbei und fragt nach dem
Jüngling, der in Anwesenheit der ganzen Stadt ins Leben zurückkehrte, als man
gerade dabei war ihn ins Grab zu senken. So könnt ihr berichten, daß die Toten
aufstehen,
98
daß viele Aussätzige geheilt
werden; das könnt ihr an vielen Orten Israels erfahren; aber wenn ihr wollt,
dann geht nach Sycaminon und sucht nach den Jüngern; und ihr werdet ihrer
viele finden. Sagt also zu Johannes, daß die Aussätzigen rein werden. Und sagt
auch, denn ihr könnt es sehen, daß den Armen die Frohe Botschaft verkündet
wird. Selig, der kein Ärgernis an mir nimmt! Erzählt dies Johannes. Und sagt
ihm, daß ich ihn mit meiner ganzen Liebe segne!»
«Danke, Meister. Segne auch uns
vor unserer Abreise.»
«Ihr könnt nicht während dieser
heißen Stunden aufbrechen. Bleibt darum bis zum Abend meine Gäste. Ihr werdet
so für einen Tag das Leben des Meisters teilen, der zwar nicht Johannes ist,
den Johannes aber liebt, weil er weiß, wer er ist. Kommt ins Haus! Dort ist es
kühl, und ihr könnt euch erquicken. Lebt wohl, meine Zuhörer! Der Friede sei
mit euch!»Nachdem er die Leute entlassen hat, geht er mit den drei Gästen ins
Haus...
... Was in diesen schwülen
Stunden geredet wird, weiß ich nicht. Was ich jetzt sehe, ist die Vorbereitung
der Abreise der beiden Jünger nach Jericho. Manaen scheint zu bleiben, denn
sein Pferd wird nicht mit den beiden starken Mauleseln vor das Tor der
Hofmauer geführt. Die beiden Abgesandten des Johannes besteigen nach vielen
Verbeugungen vor dem Meister und Manaen ihre Tiere und wenden sich immer
wieder um und grüßen, bis eine Wegbiegung sie den Blicken entzieht.
Viele Leute von Kapharnaum sind
herbeigeeilt, um dieser Abreise beiwohnen zu können; denn die Nachricht von
der Ankunft der Jünger des Johannes und die Antwort Jesu haben bereits die
Runde in der Ortschaft, und ich glaube, auch in der ganzen Nachbarschaft,
gemacht. Ich sehe Leute aus Bethsaida und Chorazim, die sich an die
Abgesandten des Johannes gewandt haben, um sich nach ihm zu erkundigen und
Grüße an ihn aufzutragen – vielleicht sind es ehemalige Jünger des Johannes
-und die nun mit denen von Kapharnaum reden. Jesus, an dessen Seite Manaen
geht, will sich wieder ins Haus begeben. Doch das Volk drängt sich neugierig
um ihn, um den Milchbruder des Herodes und seine ehrfurchtsvollen Gesten Jesus
gegenüber zu beobachten und um mit dem Meister zu sprechen.
Auch Jairus, der
Synagogenvorsteher, ist unter ihnen. Aber Gott sei Dank ist kein Pharisäer
zugegen. Jairus sagt gerade: «Johannes wird zufrieden sein. Du läßt ihm nicht
nur eine erschöpfende Antwort zukommen, sondern hast den beiden während ihres
Aufenthalts auch gute Lehren erteilt und ein Wunder gewirkt.»
«Und noch dazu kein kleines!»
sagt ein Mann.
«Ich habe absichtlich meine
Tochter gebracht, damit alle sie heute sehen können. Nie ist es ihr so gut
gegangen, und für sie ist es eine Freude,
99
zum Meister zu kommen. Habt ihr
ihre Antwort gehört? "Ich weiß nicht mehr, was der Tod ist. Aber ich erinnere
mich, daß ein Engel mich gerufen und durch ein immer heller werdendes Licht
geführt hat, an dessen Ende Jesus war. Und wie ich ihn da in meinem Geist sah,
der in mich zurückgekehrt war, sehe ich ihn nicht einmal jetzt; ihr und ich,
wir sehen jetzt nur den Menschen. Aber mein Geist hat Gott gesehen, der im
Menschen eingeschlossen ist." Und so gut ist sie seitdem geworden. Sie war
schon vorher gut, aber nun ist sie ein wahrer Engel. Ach, meinetwegen können
die anderen sagen, was sie wollen: du allein bist heilig!»
«Aber auch Johannes ist heilig»,
sagt einer von Bethsaida.
«Ja. Aber er ist zu streng.»
«Er ist nicht strenger mit den
anderen als mit sich selbst.»
«Aber er wirkt keine Wunder, und
man sagt, daß er fastet wie ein Magier.»
«Und doch ist er heilig!» Der
Wortwechsel in der Menge wird immer heftiger.
Jesus erhebt die Hand und streckt
sie mit der gewohnten Geste aus, die er macht, wenn er Ruhe und Aufmerksamkeit
verlangt, weil er reden will. Es tritt sofort Schweigen ein.
Jesus sagt: «Johannes ist heilig
und groß. Schaut weder auf seine Handlungsweise noch auf das Fehlen von
Wundern. Wahrlich, ich sage euch: "Er ist ein Großer des Reiches Gottes." Dort
wird er in seiner ganzen Größe erscheinen.»
Viele klagen, daß er so streng
war und ist, daß er manchmal sogar etwas rauh zu sein scheint. Wahrlich, ich
sage euch, er hat ja schon wie ein Riese gearbeitet, um die Wege des Herrn zu
bereiten. Und wer so arbeitet, hat keine Zeit, sich in Weichlichkeiten zu
verlieren. Hat er nicht am Jordan die Worte des Isaias erwähnt, die ihn und
den Messias vorhersagten: "Jedes Tal wird ausgefüllt, jeder Berg wird
abgetragen werden; was krumm ist, soll gerade, und was rauh ist, soll
geglättet werden", um so die Wege des Herrn und Königs vorzubereiten? Doch in
Wahrheit hat er mehr getan als ganz Israel, um mir den Weg zu bereiten! Wer
Berge abtragen und Täler ausfüllen, Wege ebnen und schwierige Aufstiege leicht
machen soll, muß hart arbeiten. Denn er war der Vorläufer und mir nur um
wenige Monde voraus; alles mußte geschehen, bevor die Sonne am Tag der
Erlösung hoch am Himmel stand. Die Zeit ist da, die Sonne steigt empor, um
über Sion und von dort aus über die ganze Welt zu strahlen. Johannes hat den
Weg bereitet, wie es seine Aufgabe war. Was habt ihr in der Wüste gesucht? Ein
Schilfrohr, das jeder Wind hin- und herbewegt? Was seid ihr hingegangen, zu
sehen? Einen Menschen in weichlichen Kleidern? Aber diese wohnen in den
Palästen der Könige, eingehüllt in weiche Gewänder, von tausend Dienern und
Schmeichlern umgeben, und sind selbst nur Schmeichler eines armen Menschen.
Hier ist einer von diesen. Fragt ihn,
100
ob er nicht Abscheu vor dem Leben
am Hof empfindet und Bewunderung für den rauhen und einsamen Felsen, auf den
Blitze und Hagelkörner fallen und um die Winde brausen, die ihn zerschmettern
wollen, während er aufrecht dasteht und sich mit allen seinen Kräften zum
Himmel erhebt und die Freude der Höhe predigt, erhaben und aufstrebend wie
eine Flamme, die zum Himmel steigt.
Das ist Johannes! So sieht ihn
Manaen; denn er hat die Wahrheit des Lebens und des Todes begriffen und sieht
die Größe dort, wo sie wirklich ist, auch wenn sie sich unter dem Anschein der
Rauheit verbirgt.
Und ihr, was habt ihr in Johannes
gesehen, als ihr ihn aufgesucht habt? Einen Propheten? Einen Heiligen? Ich
sage es euch: er ist mehr als ein Prophet. Er ist mehr als viele Heilige; denn
er ist es, von dem geschrieben steht: "Siehe, ich sende meinen Engel vor dir
her, damit er deinen Weg dir bereite."
Engel! Bedenkt dies! Ihr wißt,
daß die Engel reine Geister sind – von Gott geschaffen nach seinem geistigen
Bild – als eine Verbindung zwischen dem Menschen: der Vollkommenheit des
sichtbaren und materiellen Geschaffenen, und Gott: der Vollkommenheit des
Himmels und der Erde, dem Schöpfer des geistigen und irdischen Reiches. Im
Menschen, auch im heiligsten, sind es immer Fleisch und Blut, die einen
Abgrund zwischen ihm und Gott schaffen. Und der Abgrund wird immer tiefer
durch die Sünde, die auch belastet, was geistig im Menschen ist. Da erschafft
Gott die Engel, Geschöpfe, die die höchste Stufe der Schöpfungsleiter
erreichen, so wie die Mineralien ihre Grundlage bilden; die Mineralien, der
Staub, aus dem die Erde besteht, die anorganische Materie im allgemeinen.
Reine Spiegel des göttlichen Gedankens, willensbegabte Flammen, wirkend durch
die Liebe, bereit zu verstehen und zu handeln, frei im Wollen wie wir, aber in
einer ganz heiligen Weise, die keine Auflehnung und keine Sünde kennt: das
sind die Engel, die Anbeter Gottes, seine Boten bei den Menschen, unsere
Beschützer, die Spender des Lichtes, das sie umkleidet, und des Feuers, das
sie anbetend aufnehmen.
Johannes wird in der Sprache der
Propheten "Engel" genannt. Ich aber sage euch: Unter den von der Frau
Geborenen ist keiner größer als Johannes der Täufer. Und doch wird der
Kleinste im Himmelreich größer sein als er, der Mensch. Denn ein jeder im
Reich des Himmels ist Sohn Gottes und nicht Sohn einer Frau. Strebt daher alle
danach, Bewohner des Reiches zu werden.
Was habt ihr einander zu fragen?»
«Wir sagten: Aber wird Johannes
im Reich sein? Und wie wird er dort sein?»
«Mit seinem Geist gehört er schon
zum Reich; er wird auch nach dem Tod dort sein – eine der herrlichsten Sonnen
des ewigen Jerusalern. Und dies durch die Gnade, die ohne Makel in ihm ist,
und durch sein eigenes
101
Wollen. Denn aus heiligen Gründen
war und ist er auch gegen sich selbst streng. Seit dem Täufer und zukünftig
gehört das Himmelreich jenen, die es sich erobern mit der Kraft, die gegen das
Böse kämpft, und nur die Starken werden es an sich reißen. Denn jetzt ist
bekannt, was man tun muß, um dieses Reich zu erwerben. Es ist nicht mehr die
Zeit, in der nur das Gesetz und die Propheten sprachen. Sie haben gesprochen
bis zu Johannes.
Jetzt spricht das Wort Gottes,
und es verbirgt nicht ein Jota von dem, was zu wissen notwendig ist für diese
Eroberung. Wenn ihr an mich glaubt, müßt ihr auch Johannes ansehen als den,
der wie Elias kommen mußte. Wer Ohren hat zu hören, der höre.
Aber womit soll ich dieses
Geschlecht vergleichen? Es ist jenem ähnlich, das die Knaben beschreiben, die
auf dem Marktplatz sitzen und ihren Kameraden zurufen: "Wir haben die Flöte
geblasen, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Trauerlieder angestimmt, und
ihr habt nicht geweint." Und in der Tat, Johannes, der nicht ißt und trinkt,
ist gekommen, und dieses Geschlecht sagt: "Er kann es tun, weil ihm der Teufel
hilft." Der Menschensohn ist gekommen, der ißt und trinkt, und sie sagen: "Er
ist ein Prasser und ein Trinker, ein Freund der Zöllner und der Sünder." So
wird der Weisheit von ihren Söhnen Gerechtigkeit erwiesen! ... Wahrlich, ich
sage euch, nur Kinder können die Wahrheit erfassen, denn in ihnen ist keine
Bosheit.»
«Das hast du gut gesagt,
Meister», sagt der Synagogenvorsteher. «Dies ist der Grund, weshalb meine
Tochter, die noch ohne Bosheit ist, dich so sieht, wie wir dich zu sehen nicht
imstande sind. Und doch überströmen diese Stadt und die benachbarten Orte von
deiner Macht, Weisheit und Güte, und ich muß bekennen: sie machen keine
anderen Fortschritte als die Fortschritte in der Bosheit gegen dich. Sie
bessern sich nicht. Und das Gute, das du für sie wirkst, wandelt sich bei
ihnen in Haß gegen dich.»
«Wie redest du, Jairus? Du
verleumdest uns! Wir sind hier, weil wir Christus treu sind», sagt einer von
Bethsaida.
«Ja! Wir! Aber wie viele sind
wir? Weniger als hundert aus drei Städten, die zu Jesu Füßen liegen müßten.
Unter den Fehlenden, ich rede von den Männern, ist die Hälfte feindselig
gesinnt, ein Viertel gleichgültig, und vom Rest will ich annehmen, daß er
nicht kommen konnte. Ist das nicht Schuld in den Augen Gottes? Wird dieser Haß
und diese Hartnäckigkeit im Bösen nicht bestraft? Rede du, Meister, der du es
weißt; und wenn du schweigst, dann tust du es nur aus Güte, und nicht, weil du
es nicht weißt. Du bist langmütig, und dies wird als Unkenntnis und Schwäche
ausgelegt. Sprich also; möge deine Rede wenigstens die Gleichgültigen
aufrütteln, wenn schon die Böswilligen sich wahrscheinlich nicht bekehren,
sondern immer noch bösartiger werden.»
«Ja. Es ist Sünde und wird
bestraft. Denn die Gabe Gottes darf nie
102
verachtet oder zum Bösen benützt
werden. Wehe dir, Chorazim, wehe dir, Bethsaida, die ihr schlechten Gebrauch
macht von den Gaben Gottes! Wenn in Tyrus und in Sidon jene Wunder geschehen
wären, die in eurer Mitte geschehen sind, hätten sie schon längst mit
Bußgürteln und Asche auf den Häuptern Buße getan und wären zu mir gekommen.
Daher sage ich euch, daß Tyrus und Sidon am Tag des Gerichtes mehr
Barmherzigkeit zuteil werden wird als euch. Und du, Kapharnaum, glaubst du,
daß du wegen der Gastfreundschaft, die du mir gewährt hast, in den Himmel
erhoben wirst? Du wirst bis zur Hölle hinabsteigen. Denn wenn in Sodom die
Wunder geschehen wären, die ich bei euch gewirkt habe, würde es heute noch
blühen; man hätte an mich geglaubt und hätte sich bekehrt. Daher wird Sodom am
Tag des Gerichtes mehr Barmherzigkeit erfahren, denn es hat den Erlöser und
sein Wort nicht gekannt, und seine Schuld ist daher weniger groß als die
deine, da du den Messias gekannt, sein Wort gehört und dennoch dein Unrecht
nicht eingesehen hast.
Da Gott aber gerecht ist, wird
jenen von Kapharnaum, Bethsaida und Chorazim, die geglaubt haben und sich
heiligen, indem sie meinem Wort gehorchen, große Barmherzigkeit zuteil werden.
Denn es ist nicht recht, daß die Gerechten mit hineingezogen werden in das
Verderben der Bösen. Was deine Tochter betrifft, Jairus, und dein Kind,
Zacharias, und deine Enkel, Benjamin, sage ich euch, daß sie, weil sie ohne
Bosheit sind, Gott schon sehen. Ihr selbst erkennt, welch reiner und
fruchtbarer Glaube in ihnen lebt, vereint mit himmlischer Weisheit und einem
Verlangen nach Liebe, das die Erwachsenen nicht besitzen.»
Und Jesus, die Augen zum Himmel
erhebend, der sich in der Abenddämmerung verdunkelt, ruft aus: «Ich danke dir,
Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du diese Dinge den Weisen und Klugen
verborgen, den Kleinen aber geoffenbart hast. Denn du hast dein Wohlgefallen
daran, o Vater. Alles ist mir vom Vater anvertraut, und niemand erkennt ihn,
außer der Sohn und jene, welchen der Sohn ihn hat offenbaren wollen. Und ich
habe dich den Kleinen, den Demütigen und den Reinen geoffenbart; denn Gott
teilt sich diesen mit, und die Wahrheit senkt sich wie der Same in das nackte
Erdreich, und der Vater läßt seine Strahlen darauf regnen, damit er Wurzel
fasse und zum Baum werde.
Wahrlich, der Vater bereitet die
Geister der Kinder, der Kinder dem Alter nach oder dem Wollen nach, vor, auf
daß sie die Wahrheit erkennen und ich Freude an ihrem Glauben habe...»
103
309. JESUS ARBEITET ALS SCHREINER
FÜR EINE WITWE VON CHORAZIM
Jesus arbeitet sichtlich mit
Freude in einer Schreinerwerkstatt. Er ist dabei, ein Rad fertigzustellen. Ein
schmächtiger, trauriger Knabe hilft ihm, indem er ihm dieses oder jenes
Werkzeug reicht. Manaen sitzt als untätiger, doch bewundernder Zeuge auf einer
Bank an der Mauer. Jesus hat das schöne Linnengewand abgelegt und trägt ein
dunkles Kleid, das nicht ihm gehört und nur bis zur Wadenmitte reicht. Ein
sauberes, doch geflicktes Arbeitsgewand des verstorbenen Zimmermanns. Jesus
ermutigt den Knaben durch sein Lächeln und gute Worte und bringt ihm bei, wie
man den Leim zubereitet und die Wände des Schrankes poliert.
«Du hast ihn schnell
fertiggemacht, Meister», sagt Manaen, indem er sich erhebt und mit einem
Finger über den vollendeten Schrank fährt, den der Knabe mit einer Flüssigkeit
poliert.
«Er war beinahe fertig... !»
«Diese deine Arbeit möchte ich
gerne haben. Aber der Auftraggeber ist schon gekommen und ich glaube, er hat
Anspruch darauf... Du hast ihn enttäuscht. Er hatte schon gehofft, alles
nehmen und gegen das wenige Geld, das er geliehen hatte, eintauschen zu
können. So nimmt er nur, was er bestellt hat. Wenn es wenigstens einer wäre,
der an dich glaubt... Dann hätten diese Arbeiten einen unermeßlichen Wert für
ihn. Aber hast du ihn gehört ... ?»
«Laß ihn nur! Übrigens gibt es
hier Holz, und die Frau wäre bestimmt glücklich, wenn es Verwendung fände und
sie einen Nutzen davon hätte. Bestelle einen Schrank, und ich werde ihn dir
machen...»
«Wirklich, Meister? Aber gedenkst
du denn, noch weiterzuarbeiten?»
«So lange, bis kein Holz mehr da
ist. Ich bin ein gewissenhafter Arbeiter», sagt Jesus herzlich lächelnd.
«Ein Schrank von dir angefertigt!
Oh, welche Reliquie! Aber was soll ich hineintun?»
«Was du willst, Manaen. Es wird
nur ein Kasten sein!»
«Aber du hast ihn gemacht!»
«Nun ja! Auch der Vater hat den
Menschen, alle Menschen erschaffen. Und doch, was legen die Menschen in sich
hinein?» Jesus redet und arbeitet; er geht auf die Suche nach den notwendigen
Werkzeugen hin und her, zieht den Schraubstock an, bohrt, hobelt und
drechselt, je nach Bedarf.
«Die Sünde haben wir in uns
hineingelegt, das ist wahr.»
«Siehst du? Und glaube nur, daß
der von Gott erschaffene Mensch mehr als ein von mir gemachter Schrank ist.
Verwechsle nie den Gegenstand mit der Handlung. Meine Arbeit soll für dich nur
eine Reliquie für den Geist sein.»
«Was bedeutet das?»
104
«Das bedeutet, daß sie deinem
Geist eine Lehre gibt durch das, was ich tue.»
«Über deine Liebe, deine Demut,
deine Arbeitsamkeit, also... über diese Tugenden, nicht wahr?»
«Ja. Und tue du in Zukunft
dasselbe.»
«Ja, Meister! Aber machst du mir
den Schrank?»
«Ich will ihn dir machen. Aber
schau, da du ihn immer als Reliquie betrachten wirst, lasse ich dich dafür
bezahlen. Wenigstens kann man dann sagen, daß auch ich einmal geldgierig war.
Aber du weißt, für wen das Geld ist... Für diese Waisenkinder ...»
«Verlange von mir, was du willst,
ich will es dir geben. Dann wird mein Müßiggang, während du, Sohn Gottes,
arbeitest, gerechtfertigt sein.»
«Es steht geschrieben: "Du sollst
dein Brot im Schweiße deines Angesichts essen."»
«Aber das gilt für den sündigen
Menschen, nicht für dich!»
«Oh! Eines Tages werde ich der
Schuldbeladene sein, und die Sünden der ganzen Welt auf mir lasten. Ich will
sie mit mir nehmen bei meinem ersten Abschied.»
«Glaubst du, daß die Welt dann
nicht mehr sündigen wird?»
«So müßte es sein... Doch sie
wird immer sündigen. Deswegen wird die Last, die auf mir liegt, so groß
werden, daß sie mir das Herz bricht; denn die Sünden, die von Adam bis zu
jener Stunde begangen worden sind, und alle, die von da an bis an das Ende der
Zeiten begangen werden, werden auf mir lasten. Ich werde alles für den
Menschen bezahlen!»
«Und der Mensch wird dich nicht
verstehen und dich immer noch nicht lieben... Glaubst du, daß Chorazim sich
bekehren wird durch diese stille, heilige Unterweisung? Durch diese Arbeit,
die du verrichtest, um einer Familie zu helfen?»
«Es wird sich nicht bekehren. Es
wird sagen: "Er wollte arbeiten, um sich die Zeit zu vertreiben und um Geld zu
haben." Aber ich habe kein Geld mehr. Ich gebe alles weg. Ich gebe immer
alles, was ich habe, bis zum letzten Pfennig; ich habe gearbeitet, um Geld
geben zu können.»
«Und das Essen für dich und
Matthäus?»
«Gott wird dafür sorgen.»
«Aber uns hast du zu essen
gegeben.»
«Ja.»
«Wie hast du das gemacht?»
«Frage den Hausherrn.»
«Ich will ihn danach fragen,
sobald wir nach Kapharnaum zurückgekehrt sind.»
Jesus lächelt friedlich in seinen
blonden Bart.
Ein Schweigen, in dem nur das
Knirschen des Schraubstocks, in den zwei Stücke eines Rades gespannt sind, zu
hören ist.
105
Dann fragt Manaen: «Was gedenkst
du vor dem Sabbat zu tun?»
«Ich gehe nach Kapharnaum, um auf
die Apostel zu warten. Wir haben ausgemacht, uns jeden Freitagabend zu treffen
und den ganzen Sabbat zusammen zu verbringen. Dann werde ich Aufträge
erteilen, und wenn Matthäus wieder gesund ist, sind wir sechs Paare, die
ausziehen, um die Frohe Botschaft zu verkünden, außer... Willst du mit ihnen
gehen?»
«Ich ziehe es vor, bei dir zu
bleiben, Meister... Darf ich dir jedoch einen Rat geben?»
«Sprich! Wenn er gut ist, will
ich ihn befolgen.»
«Bleibe niemals ganz allein. Du
hast viele Feinde, Meister!»
«Ich weiß es. Aber glaubst du,
daß die Apostel viel helfen könnten im Falle einer Gefahr?»
«Sie lieben dich, glaube ich!»
«Gewiß, aber das würde nichts
nützen. Wenn die Feinde die Absicht hätten, mich gefangenzunehmen, würden sie
mit einer Mannschaft kommen, die zahlreicher ist als die Gruppe der Apostel.»
«Bleibe aber trotzdem nicht
allein.»
«In zwei Wochen werde ich viele
Jünger um mich haben. Ich will sie vorbereiten, um sie auszusenden, die Frohe
Botschaft zu verkünden. Dann werde ich nicht mehr allein sein. Sei beruhigt!»
Während sie so reden, kommen
viele Neugierige aus Chorazim und blicken verstohlen nach ihnen; dann gehen
sie wieder weg, ohne etwas zu sagen.
«Sie sind erstaunt, dich bei der
Arbeit zu sehen.»
«Ja. Aber sie sind nicht demütig
genug, um zu sagen: "Er belehrt uns auf diese Weise." Die Besten, die ich hier
hatte, gehören jetzt zu den Jüngern, abgesehen von einem Alten, der gestorben
ist. Das hat keine Bedeutung. Unterweisung ist immer Unterweisung.»
«Was werden die Apostel sagen,
wenn sie erfahren, daß du so arbeitest?»
«Es sind elf, denn Matthäus hat
sich schon darüber geäußert. Also werden es elf verschiedene Ansichten sein.
Die meisten werden nicht damit einverstanden sein; aber es wird mir dazu
dienen, sie zu belehren.»
«Darf ich bei dieser Belehrung
anwesend sein?»
«Wenn du bei mir bleiben
willst...»
«Aber ich bin nur ein Jünger, und
sie sind Apostel!»
«Was für den Apostel gut ist,
wird auch dem Jünger nicht schaden.»
«Es wird sie stören, wenn sie in
meiner Gegenwart zur Gerechtigkeit ermahnt werden.»
«Das soll ihrer Demut dienen.
Bleibe, bleibe, Manaen! Ich behalte dich gerne bei mir.»
«Und ich bleibe gerne bei dir.»
Die Witwe erscheint und sagt:
«Die Mahlzeit ist bereit, Meister. Aber du arbeitest zuviel ...»
106
«Ich verdiene mein Brot, Frau!
Und dann... Hier ist ein neuer Kunde. Auch er möchte einen Schrank haben. Er
wird gut dafür bezahlen. Der Platz für das Holz wird leer», sagt Jesus,
während er eine zerrissene Arbeitsschürze ablegt, die er sich vorgebunden
hatte, und aus dem Raum geht, um sich an einem Becken zu waschen, das die Frau
für ihn in den Garten gestellt hat.
Und sie sagt mit einem scheuen
Lächeln, das sich nach so langer Zeit der Trauer wieder auf ihrem Gesicht
zeigt: «Der Platz für das Holz ist leer, das Haus ist erfüllt von deiner
Gegenwart und das Herz von Frieden! Ich fürchte mich nicht mehr vor der
Zukunft, Meister. Und du sollst keine Angst haben, daß wir dich jemals
vergessen.»
Sie gehen in die Küche, und alles
ist zu Ende.
310. «DIE LIEBE IST DAS GEHEIMNIS
UND DAS GEBOT DER HERRLICHKEIT»
Jesus, an dessen Seite Manaen
geht, verläßt das Haus der Witwe und sagt: «Der Friede sei mit dir und den
deinen. Nach dem Sabbat werden wir uns wiedersehen. Leb wohl, kleiner Joseph!
Morgen sollst du dich ausruhen und spielen. Danach kannst du mir wieder
helfen. Warum weinst du?»
«Ich fürchte, daß du nicht
wiederkommen wirst.»
«Ich sage immer die Wahrheit.
Aber tut es dir denn so leid, daß ich fortgehe?»
Der Knabe bejaht mit einem
Kopfnicken.
Jesus streichelt ihn und sagt:
«Ein Tag geht schnell vorüber. Morgen bleibst du bei der Mama und den
Geschwistern. Ich bin bei meinen Aposteln und spreche zu ihnen. In diesen
Tagen habe ich mit dir gesprochen und dich arbeiten gelehrt; nun gehe ich zu
ihnen, um ihnen beizubringen, wie man predigt und wie man gut wird. Du hättest
nicht viel von mir, Kind, allein unter so vielen Männern.»
«Oh, ich würde mich trotzdem
freuen, denn ich wäre bei dir.»
«Ich habe verstanden. Frau, dein
Sohn macht es wie viele, und zwar wie die Besten. Er will mich nicht
verlassen. Hast du genug Vertrauen, um ihn mir bis übermorgen zu überlassen?»
«Oh, Herr! Alle würde ich dir
geben! Bei dir sind sie sicher wie im Himmel... Dieser Knabe, der am meisten
mit dem Vater zusammen war, hat zu viel gelitten. Nun kommt es ihm wieder zum
Bewußtsein... Siehst du? ... Er weint nur dauernd und leidet. Weine nicht,
mein Kind! Frag den Herrn, ob es wahr ist, was ich sage. Meister, um ihn zu
trösten, sage ich ihm immer, daß er den Vater nicht verloren hat, sondern daß
er nur vorübergehend von uns fortgegangen ist.»
107
«Das ist die Wahrheit, kleiner
Joseph. Es ist so, wie deine Mutter es sagt!»
«Aber solange ich nicht sterbe,
werde ich ihn nicht wiederfinden. Ich bin noch klein. Und wenn ich alt werde
wie Isaak, wie lange muß ich dann noch warten?»
«Armes Kind! Aber die Zeit
vergeht geschwind.»
«Nein, Herr! Seit drei Wochen
fehlt mir der Vater, und es kommt mir schon so lange vor! ... Ich kann nicht
ohne ihn leben...» und er weint lautlos, doch mit tiefem Schmerz.
«Siehst du? So macht er es immer.
Und besonders, wenn er nicht beschäftigt ist mit Dingen, die ihn ganz in
Anspruch nehmen. Der Sabbat ist eine Qual. Ich befürchte, daß er sterben
wird...»
«Nein! Ich habe einen anderen
Knaben ohne Vater und ohne Mutter. Er war abgemagert und traurig. Nun, da er
bei einer guten Frau in Bethsaida ist und die Gewißheit hat, nicht von seinen
Eltern getrennt zu sein, ist er körperlich und seelisch aufgeblüht. So wird es
auch deinem Sohn ergehen. Nachdem, was ich ihm sagen werde, und weil die Zeit
ein großer Arzt ist, und nicht zuletzt, wenn er dich ruhiger sehen wird in
bezug auf das tägliche Brot, wird auch er ruhiger werden. Auf Wiedersehen,
Frau! Die Sonne sinkt, und ich muß gehen. Komm, Joseph. Verabschiede dich von
der Mutter, den Geschwistern und der Großmutter und dann folge mir geschwind
nach.»
Jesus geht.
«Was wirst du nun deinen Aposteln
sagen?»
«Daß ich einen alten Jünger und
einen neuen habe.»
Sie gehen nach Chorazim, das sich
mit Menschen belebt. Eine Gruppe von Männern hält Jesus auf: «Gehst du fort?
Bleibst du nicht über den Sabbat hier?»
«Nein, ich gehe nach Kapharnaum.»
«Ohne die ganze Woche ein Wort
gesagt zu haben? Sind wir deines Wortes nicht würdig?»
«Habe ich euch nicht sechs Tage
lang die besten Worte gesagt?»
«Wann denn? Und wem?»
«Allen. An der Hobelbank des
Zimmermanns! Tagelang habe ich gepredigt, daß man den Nächsten lieben und ihm
in jeder Weise helfen muß, und besonders schwachen Menschen wie Witwen und
Waisenkindern. Auf Wiedersehen, ihr Leute von Chorazim. Betrachtet am Sabbat
diese meine Lektion.» Und Jesus geht seines Weges und läßt die Bürger
sprachlos zurück.
Doch der Knabe, der ihn nun im
Laufschritt einholt, veranlaßt die Bürger aufs neue, Jesus aufzuhalten und
neugierig zu fragen: «Nimmst du den Knaben der Witwe mit? Warum?»
«Um ihn zu lehren, daß Gott Vater
ist und daß er in Gott auch den
108
verlorenen Vater wiederfinden
wird. Und auch, damit es hier einen gibt, der anstelle des alten Isaak
glaubt.»
«Bei deinen Jüngern sind drei aus
Chorazim.»
«Bei meinen Jüngern, aber nicht
hier. Dieser wird hierbleiben. Lebt wohl.» Und indem er den Knaben zwischen
sich und Manaen nimmt, geht er schnell durch die Felder nach Kapharnaum, wo
die Apostel schon eingetroffen sind.
Die Apostel sitzen auf der
Terrasse im Schatten der Pergola um Matthäus herum und berichten dem
Kameraden, der noch nicht geheilt ist, von ihren Erlebnissen. Sie drehen sich
beim leisen Geräusch, das die Sandalen auf der Treppe verursachen, um und
sehen das blonde Haupt Jesu, das hinter der Mauer der Terrasse auftaucht. Sie
eilen ihm entgegen, er lächelt ihnen zu... und sie bleiben überrascht stehen,
weil sie hinter Jesus einen kleinen Knaben erblicken. Manaen kommt würdevoll
in seinem weißen Linnengewand herauf, das nun noch viel schöner wirkt mit dem
kostbaren Gürtel und dem feuerroten Mantel aus gefärbter Leinwand, der wie
Seide glänzt, ihm lässig über die Schultern herabfällt und beinahe eine
Schleppe bildet; mit der Kopfbedeckung aus Byssus, die von einem goldenen
Diadem gehalten wird und der verzierten Scheibe, welche die hohe Stirne
schmückt und ihm das Aussehen eines ägyptischen Königs verleiht. Seine
Anwesenheit verhindert eine Lawine von Fragen, die ihre Augen aber sehr
deutlich ausdrücken.
Doch nach gegenseitiger Begrüßung
setzen sich die Apostel um Jesus herum und fragen: «Und dieses Kind?» Sie
deuten dabei auf den Knaben.
«Es ist meine letzte Eroberung.
Ein kleiner Joseph; Zimmermann wie der große Joseph, der mein Vater gewesen
ist. Deswegen ist er mir so lieb, wie auch ich ihm lieb bin. Nicht wahr, Kind?
Komm her, daß ich dich mit meinen Freunden bekanntmache, von denen du schon so
viel gehört hast. Dies hier ist Simon Petrus, der Mann, der am liebsten von
allen zu den Kindern ist. Und dies ist Johannes, ein großer Knabe, der dir
auch beim Spielen von Gott erzählen wird. Dies ist Jakobus, sein Bruder, ernst
und gut wie ein älterer Bruder. Und dies ist Andreas, der Bruder des Simon
Petrus; du wirst dich gleich mit ihm vertragen, denn er ist sanft wie ein
Lamm. Und dann hier Simon, der Zelote; er liebt die vaterlosen Kinder sehr und
würde bestimmt durch die ganze Welt ziehen, um sie zu suchen, wenn er nicht
bei mir wäre. Und dieser hier ist Judas des Simon und neben ihm sind Philippus
von Bethsaida und Nathanael. Schau nur, wie sie dich ansehen! Sie haben auch
Kinder und lieben die Kinder. Das sind meine Brüder Jakobus und Judas. Sie
lieben alles, was ich liebe, also werden sie auch dich lieben. Nun gehen wir
zu Matthäus, der an einer Wunde am Fuß leidet und nicht böse auf die Kinder
ist, die ihn bei ihrem ausgelassenen Spiel versehentlich mit einem spitzen
Stein getroffen haben. Nicht wahr, Matthäus?»
109
«O nein, Meister! Ist er der Sohn
der Witwe?»
«Ja! Er ist sehr gut, aber immer
noch sehr traurig.»
«Oh, armes Kind! Ich werde den
kleinen Jakob rufen lassen, und du wirst mit ihm spielen.» Matthäus streichelt
ihn und zieht ihn mit einer Hand zu sich hin.
Jesus beendet die Vorstellung mit
Thomas, der, praktisch wie er ist, dem Kind eine Weintraube anbietet, die er
vom Weinstock genommen hat.
«Nun seid ihr Freunde», schließt
Jesus und setzt sich wieder hin, während das Kind an seinen Trauben lutscht
und Matthäus antwortet, der es in seiner Nähe behält.
«Aber wo bist du denn die ganze
Woche allein gewesen?»
«In Chorazim, Simon des Jonas.»
«Das weiß ich. Aber was hast du
dort getan? Bist du bei Isaak gewesen?»
«Isaak, der Alte, ist gestorben.»
«Was hast du dann getan?»
«Hat es dir Matthäus nicht
gesagt?»
«Nein! Er hat nur gesagt, daß du
dich vom Tag unserer Abreise an in Chorazim aufgehalten hättest.»
«Matthäus ist viel tüchtiger als
du. Er kann schweigen, du aber kannst deine Neugier nicht beherrschen.»
«Nicht die meinige allein,
sondern die von uns allen.»
«Nun ja, ich bin nach Chorazim
gegangen, um die in die Tat umgesetzte Nächstenliebe zu predigen.»
«Die in die Tat umgesetzte
Nächstenliebe? Was willst du damit sagen?» fragen viele.
«In Chorazim lebt eine Witwe mit
fünf Kindern und einer alten kranken Frau. Der Mann ist unversehens an der
Hobelbank gestorben und hat viel Elend und unfertige Arbeit zurückgelassen.
Chorazim hat kein bißchen Mitleid mit dieser unglücklichen Familie. Ich bin
hingegangen, um die Arbeiten zu vollenden und...»
Es kommt zu einem großen
Durcheinander. Die einen fragen, die anderen protestieren. Einer tadelt
Matthäus, weil er es zugelassen hat; ein anderer bewundert Jesus und wieder
ein anderer tadelt ihn. Doch Kritik und Proteste sind leider in der Überzahl.
Jesus läßt sich den Sturm legen,
so wie er entstanden ist, und sagt nur: «Übermorgen will ich dorthin
zurückkehren und auch in den folgenden Tagen, so lange, bis ich alle Arbeiten
beendet habe. Ich hoffe, daß wenigstens ihr dafür Verständnis habt. Chorazim
ist eine harte Nuß ohne Kern. Seid wenigstens ihr keine tauben Nüsse. Du,
Kind, reiche mir die Nuß, die Simon dir gegeben hat, und höre auch du gut zu.
Seht ihr diese Nuß? Ich nehme
sie, da ich kein anderes Schalenobst zur Verfügung habe; aber, um das
Gleichnis besser zu verstehen, denkt an die
110
Kerne der Pinien oder der Palmen,
an die härtesten, an jene der Oliven zum Beispiel. Es sind verschlossene
Behältnisse, ohne Fugen, steinhart und aus kompaktem Holz. Sie gleichen
magischen Schreinen, die nur mit Gewalt geöffnet werden können. Doch wenn
einer auf den Boden fällt und ein Vorübergehender ihn in die Erde stampft, was
geschieht? Der Schrein öffnet sich und bildet Wurzeln und Blätter. Wie kann
das von allein geschehen? Uns kostet es Mühe, ihn mit dem Hammer
aufzuschlagen, und doch öffnet sich dieser Kern von selbst. Hat der Same
vielleicht magische Kräfte? Nein! Er enthält ein Mark. Oh, etwas sehr Weiches
im Vergleich zur harten Schale! Und das Mark nährt etwas noch viel kleineres:
den Keim. Das ist der Trieb, der die Schale sprengt und eine Pflanze mit
Blättern, Krone und Wurzeln bildet. Versucht, die Nüsse einzugraben, und dann
wartet ab. Ihr werdet sehen, daß einige sich öffnen, andere nicht. Grabt jene,
die sich nicht öffnen, wieder aus. Zerschlagt sie mit dem Hammer, und ihr
werdet sehen, daß es leere Schalen sind. Es ist daher weder die Feuchtigkeit
des Bodens noch die Wärme, welche die Nuß öffnet, sondern das Mark, vielmehr
die Seele des Marks: der Keim, der anschwillt, die Schale sprengt und öffnet.
Dies ist das Gleichnis. Doch wir
wollen es auf uns anwenden.
Was habe ich getan, das nicht gut
sein soll? Verstehen wir uns noch so wenig, daß ihr nicht begreift, daß
Heuchelei eine Sünde und das Wort Wind ist, wenn es nicht in die Tat umgesetzt
wird? Habe ich euch nicht immer wieder gesagt: "Liebet einander! Die Liebe ist
das Gebot und das Geheimnis der Herrlichkeit?" Und ich, der ich dies predige,
sollte ohne Liebe sein? Soll ich euch das Beispiel eines Meisters der Lüge
geben? Nein, niemals!
O meine Freunde! Unser Körper ist
wie eine harte Nuß. In der harten Schale ist das Mark eingeschlossen: die
Seele, und in ihr befindet sich der Keim, den ich hineingelegt habe. Er
besteht aus vielen Elementen. Doch das wichtigste ist die Liebe. Sie sprengt
die Schale, um den Geist aus der Umklammerung der Materie zu befreien und ihn
wieder mit Gott zu vereinigen, der die Liebe ist. Die Liebe übt man nicht nur
mit Worten oder Geld. Man übt Liebe nur mit Liebe. Das soll kein Wortspiel
sein. Ich hatte kein Geld, und Worte genügten nicht in diesem Fall. Hier waren
sieben Personen an der Schwelle des Hungers und der Bedrängnis. Die
Verzweiflung streckte ihre schwarzen Fangarme aus, um zu erfassen und zu
ersticken. Die Welt zog sich hart und egoistisch vor diesem Unglück zurück.
Die Welt hat damit bewiesen, daß sie die Worte des Meisters nicht begreift. So
hat der Meister eben durch die Tat gepredigt. Ich war fähig und frei, es zu
tun. Und ich hatte die Pflicht, diese Elenden, die die Welt nicht liebt, für
die ganze Welt zu lieben. All das habe ich getan. Wollt ihr mich immer noch
tadeln? Oder muß nicht vielmehr ich euch in Gegenwart eines Jüngers tadeln,
der es nicht für unter seiner Würde gehalten hat, sich
111
zwischen Sägemehl und Hobelspänen
aufzuhalten, um den Meister nicht zu verlassen, und der sich, dessen bin ich
gewiß, mehr von mir überzeugen ließ, als er mich über Bretter gebeugt sah, als
wenn er mich auf einem Thron gesehen hätte? Muß nicht vielmehr ich euch in
Gegenwart eines Kindes tadeln, das mich als den erkannt hat, der ich bin,
trotz seiner absoluten Unkenntnis des Messias und trotz des Unglücks, das es
bedrückt?
Ihr schweigt? Bereut nicht nur,
solange ich die Stimme erhebe, um eure falschen Ansichten zu berichtigen. Ich
tue es aus Liebe. Legt deshalb in euch den Keim, der heiligt und die Schale
sprengt, sonst bleibt ihr immer unnütze Wesen. Ihr müßt zu dem bereit sein,
was ich getan habe. Aus Liebe zum Nächsten und um die Seele zu Gott zu führen
darf euch keine Mühe abschrecken. Die Arbeit, welcherart auch immer sie sei,
demütigt nie. Demütigend sind jedoch die niedrigen Handlungen: Falschheit,
falsche Anschuldigungen, Härte, Übergriffe, Ausbeutung, Verleumdungen und
Wollust. Diese erniedrigen den Menschen. Und doch werden sie ohne Scham
begangen, auch von jenen, die sich für vollkommen halten und sich ganz sicher
geärgert haben, als sie mich mit Säge und Hammer arbeiten sahen. Oh! Oh! Der
Hammer! Der unwürdige Hammer, wie edel wird er, wenn man mit ihm Nägel ins
Holz schlägt, um einen Gegenstand herzustellen, mit dem man den Waisenkindern
Nahrung verschaffen kann. Wie erscheint doch der gewöhnliche Hammer, den meine
Hände zu einem guten Zweck verwenden, nicht mehr als unedel, und alle jene
werden ihn haben wollen, die jetzt noch Ärgernis daran nehmen!
O Mensch, Geschöpf, das du Licht
und Wahrheit sein solltest, wie bist du doch Finsternis und Lüge! Aber
begreift wenigstens ihr, was das Gute ist! Was die Liebe ist! Was der Gehorsam
ist! Wahrlich, ich sage euch, daß es viele Pharisäer gibt. Und sie fehlen auch
nicht unter denen, die mich umgeben.»
«Nein, Meister, sag das nicht!
Nein... Nur weil wir dich lieben, wollen wir gewisse Dinge nicht... !»
«Eben weil ihr bis heute noch
nichts begriffen habt. Ich habe vom Glauben und von der Hoffnung gesprochen
und gedacht, daß keine neuen Worte notwendig wären, um von der Liebe zu reden;
denn ich ströme so viel Liebe aus, daß ihr davon durchdrungen sein müßtet.
Aber ich sehe, daß ihr sie nur dem Namen nach kennt, ohne ihre wahre Natur und
Gestalt erkannt zu haben. So wie ihr den Mond kennt.
Erinnert ihr euch, daß ich gesagt
habe, daß die Hoffnung der Querbalken des süßen Joches ist, das den Glauben
und die Liebe trägt, und daß sie das Kreuz der Menschheit und der Thron des
Heiles ist? Aber ihr habt den Sinn meiner Worte nicht verstanden. Warum habt
ihr mich nicht um eine Erklärung gebeten? Jetzt will ich sie euch geben. Die
Hoffnung ist ein Joch, weil sie den Menschen zwingt, seinen törichten Hochmut
unter der Last der ewigen Wahrheiten zu beugen. Und sie ist das Kreuz dieses
112
Hochmuts. Ein Mensch, der auf
Gott, seinen Herrn, hofft, demütigt notwendigerweise seinen Stolz, der sich
"Gott" nennen möchte, und erkennt, daß er nichts ist und Gott alles ist; daß
er nichts kann, Gott aber alles vermag; daß er vergänglicher Staub ist,
während Gott Ewigkeit ist und den Staub auf eine höhere Stufe erhebt, indem er
ihm den Lohn der Ewigkeit zuteil werden läßt. Der Mensch nagelt sich an sein
heiliges Kreuz, um das wahre Leben zu erlangen. Und es heften ihn die Flammen
des Glaubens und der Liebe daran, während die Hoffnung, die zwischen beiden
steht, ihn zum Himmel erhebt.
Daher merkt euch diese Lehre:
wenn die Liebe fehlt, ist der Thron ohne Licht, und der Körper, nur an einer
Seite angenagelt, hängt in den Schlamm und kann den Himmel nicht mehr sehen.
Dadurch werden auch die heilsamen Wirkungen der Hoffnung zunichte gemacht, und
es endet damit, daß der Glaube ebenfalls unfruchtbar wird; denn losgelöst von
zwei der drei göttlichen Tugenden, verfällt er in Siechtum und tödliche Kälte.
Lehnt Gott auch nicht in den
geringsten Dingen ab. Denn es ist eine Ablehnung Gottes, wenn man dem Nächsten
aus heidnischem Stolz die Hilfe versagt.
Meine Lehre ist ein Joch, das die
schuldige Menschheit niederdrückt; sie ist ein großer Hammer, der die harte
Schale zerschlägt, um den Geist zu befreien. Sie ist ein Joch und ein Hammer,
ja; doch wer sie annimmt, spürt die Müdigkeit, die alle anderen menschlichen
Lehren und alle anderen menschlichen Dinge erzeugen, nicht. Und auch wer sich
von dem Hammer schlagen läßt, spürt nicht den Schmerz, in seinem menschlichen
Ich zerschmettert zu werden, sondern er empfindet ein Gefühl der Befreiung.
Warum sucht ihr euch davon zu befreien, um es durch all das, was Blei und
Schmerz ist, zu ersetzen? Ihr habt alle eure Schmerzen und Mühen. Die ganze
Menschheit hat Schmerzen und Mühen, die manchmal die menschlichen Kräfte
übersteigen. Angefangen vom Kind, das wie dieses schon eine große Bürde auf
seinen kleinen Schultern trägt, die es niederdrückt und ihm das Lächeln von
den Lippen und die Sorglosigkeit aus seinem Geist reißt, bis hin zum Greis,
der mit all den Enttäuschungen, Mühen, Lasten und Wunden seines langen Lebens
auf das Grab zugeht. Aber meine Lehre und mein Glaube sind eine Erleichterung
dieser niederdrückenden Lasten. Daher werden sie die "Frohe Botschaft"
genannt. Und wer sie annimmt und ihr gehorcht, wird schon auf Erden selig
sein; denn Gott wird ihn trösten und die Tugenden werden ihm den Weg leicht
und hell machen, als wären sie gute Schwestern, die ihn an der Hand nehmen,
mit brennenden Lampen den Weg und das Leben erhellen und ihm die ewigen
Verheißungen Gottes singen, bis er im Frieden den müden Körper der Erde zum
irdischen Schlaf überläßt und im Paradies wieder erwacht.
113
Warum wollt ihr Menschen
belastet, trostlos, müde, angeekelt und verzweifelt sein, wenn ihr erleichtert
und gestärkt sein könntet? Warum wollt auch ihr, meine Apostel, die Last, die
Schwierigkeit und die Strenge der Mission spüren, während ihr mit dem
Vertrauen eines Kindes nur heiteren Fleiß und lichtvolle Leichtigkeit in ihrer
Ausführung kennen und begreifen würdet, daß sie nur für die Unbußfertigen, die
Gott nicht kennen, streng ist, für die Getreuen Gottes aber wie eine Mutter,
die beim Gehen hilft und dem Kind Steine, Dornen, Schlangennester und Gräben
aufzeigt, damit es sie erkenne und nicht ihrer Gefahr ausgesetzt sei ?
Jetzt seid ihr betrübt. Eure
Betrübnis hatte einen elenden Anfang! Ihr wart zuerst untröstlich über meine
Demut, als wäre sie ein Verbrechen gegen mich selbst. Nun seid ihr traurig,
weil ihr begriffen habt, daß ihr mich betrübt habt und noch so weit von der
Vollkommenheit entfernt seid. Doch nur bei wenigen ist diese zweite
Traurigkeit frei von Stolz; vom Stolz, der verletzt ist durch die
Feststellung, daß ihr noch ein Nichts seid, während ihr aus Hochmut vollkommen
sein möchtet. Habt wenigstens die willige Demut, den Vorwurf anzunehmen und zu
bekennen, daß ihr gefehlt habt, und versprecht in eurem Herzen, daß ihr die
Vollkommenheit für ein übermenschliches Ziel anstreben wollt. Dann kommt zu
mir. Ich weise euch zurecht, aber ich verstehe euch und habe Mitleid.
Kommt zu mir, ihr Apostel, und
kommt zu mir alle, ihr Menschen, die ihr an materiellen, an moralischen
Schmerzen und an seelischen Schmerzen leidet. Diese letzteren verursacht der
Kummer darüber, daß ihr noch nicht fähig seid, euch zu heiligen, wie ihr es
aus Liebe zu Gott und mit Eifer und ohne Rückfälle ins Böse tun möchtet. Der
Weg der Heiligung ist lang und geheimnisvoll, und manchmal erfüllt er sich
ohne Wissen des Wanderers, der im Dunkeln weitergeht, mit dem Geschmack des
Giftes im Mund, und glaubt, nicht voranzukommen und den himmlischen Trank
nicht trinken zu können, und nicht weiß, daß auch diese geistige Blindheit ein
Teil der Vollkommenheit ist.
Selig jene, dreimal selig, welche
ihren Weg fortsetzen, ohne die Freuden des Lichtes und der Süßigkeiten zu
verspüren, und nicht aufgeben, weil sie nichts sehen und hören, und nicht
stehenbleiben und sagen: "Solange Gott mir keine Freuden gewährt, gehe ich
nicht weiter." Ich sage euch: die dunkelste Straße wird plötzlich ganz
leuchtend und öffnet sich himmlischen Gefilden. Das Gift, das den Geschmack
für menschliche Dinge verdorben hat, wandelt sich in paradiesische Süßigkeit
für jene Mutigen, die erstaunt sagen werden: "Wie dies? Warum wird mir so viel
Süßigkeit und Freude zuteil?" Weil sie ausgeharrt haben und Gott sie schon auf
Erden über das jubeln läßt, was im Himmel auf sie wartet.
Aber vorerst, um standzuhalten,
kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Ihr Apostel, und mit
euch alle Menschen, die Gott suchen,
114
die über die Schmerzen der Erde
weinen, die sich allein dahinschleppen, ich will euch erquicken. Nehmt mein
Joch auf euch. Es ist keine Last. Es ist eine Stütze. Umfangt meine Lehre, als
wäre sie eine geliebte Braut. Ahmt euren Meister nach, der sich nicht damit
begnügt, euch zu segnen, sondern auch tut, was er euch lehrt. Lernt von mir,
der ich sanft und demütig von Herzen bin. Ihr werdet die Ruhe eurer Seelen
finden; denn Sanftmut und Demut gewähren das Reich auf Erden und im Himmel.
Ich habe euch schon gesagt, daß die wahren Sieger unter den Menschen jene
sind, die mit Liebe erobern, und Liebe ist immer Sanftmut und Demut. Ich werde
euch niemals auftragen, Dinge zu tun, die über eure Kräfte gehen, denn ich
liebe euch und will euch bei mir in meinem Reich haben. Nehmt daher meine
Grundsätze und meine Lehre an und bemüht euch, mir und dem, was meine
Glaubenslehre euch sagt, ähnlich zu werden. Habt keine Angst, denn mein Joch
ist süß und meine Bürde ist leicht, die Herrlichkeit aber, die ihr genießen
werdet, wenn ihr mir treu bleibt, ohnegleichen. Unendlich und ewig...
Ich lasse euch nun eine Weile
allein. Ich gehe mit dem Kind zum See. Es wird dort Freunde finden... Dann
werden wir zusammen das Brot brechen. Komm, Joseph! Ich werde dich mit den
Kindern bekanntmachen, die mich lieben.»
311. «DAS HERZ IST NICHT MEHR
BESCHNITTEN»
Der gleiche Schauplatz wie bei
der vorhergehenden Vision. Jesus verabschiedet sich von der Witwe, hat jedoch
schon den kleinen Joseph an der Hand und sagt zur Frau: «Es wird niemand
kommen vor meiner Rückkehr, außer einem Heiden. Doch wer auch kommen mag,
halte ihn bis übermorgen auf und sage ihm, daß ich gewiß kommen werde.»
«Ich werde es sagen, Meister.
Wenn Kranke kommen sollten, dann will ich sie beherbergen, wie du es mich
gelehrt hast.»
«Auf Wiedersehen also, und der
Friede sei mit euch! Komm, Manaen!»
Aus dieser kurzen Bemerkung
entnehme ich, daß Kranke und Unglückliche Jesus in Chorazim aufgesucht haben
und daß Jesus der Evangelisierung durch die Arbeit auch die durch das Wunder
hinzugefügt hat. Und wenn Chorazim immer noch gleichgültig bleibt, ist dies
ein Zeichen dafür, daß es sich um wilden und unkultivierbaren Boden handelt.
Und dennoch geht Jesus durch die Stadt und grüßt jene, die ihn grüßen, als ob
nichts vorgefallen wäre. Dann nimmt er das Gespräch mit Manaen wieder auf, der
noch nicht weiß, ob er nach Machaerus abreisen oder eine Woche länger bleiben
soll...
115
Im Haus von Kapharnaum bereitet
man sich unterdessen auf den Sabbat vor. Matthäus empfängt, noch etwas
hinkend, die Gefährten, versorgt sie mit Wasser und frischem Obst und befragt
sie über ihre Missionen.
Petrus rümpft die Nase, als er
sieht, daß schon Pharisäer auf das Haus zuschlendern: «Sie wollen uns den
Sabbat vergiften. Ich schlage vor, daß wir dem Meister entgegengehen und ihm
sagen, daß er nach Bethsaida gehen soll, um diese zu enttäuschen.»
«Und meinst du, daß der Meister
es tun würde?» fragt sein Bruder.
«Außerdem ist im unteren Raum der
arme Unglückliche, der auf ihn wartet», bemerkt Matthäus.
«Man könnte ihn mit dem Boot nach
Bethsaida bringen, und ich oder ein anderer könnte dem Meister entgegengehen»,
sagt Petrus.
«Ich hätte nichts dagegen ...»
sagt Philippus, der seine Familie in Bethsaida hat und deshalb gerne dorthin
gehen würde.
«Schaut, schaut! Die Wache ist
heute durch Schriftgelehrte verstärkt worden. Laßt uns gehen, ohne Zeit zu
verlieren. Ihr geht mit dem Kranken durch den Garten und verschwindet hinter
dem Haus. Ich bringe das Boot zum "Feigenbrunnen", und Jakobus hilft mir
dabei. Simon der Zelote und die Brüder Jesu gehen dem Meister entgegen.»
«Ich gehe nicht weg mit dem
Besessenen», ruft Iskariot aus.
«Warum? Hast du Angst, daß Satan
sich an dich hängt?»
«Beunruhige mich nicht, Simon des
Jonas. Ich habe gesagt, daß ich nicht gehe, und ich gehe nicht!»
«So geh mit den Vettern Jesus
entgegen.»
«Nein.»
«Los! Dann komm mit zum Boot.»
«Nein!»
«Aber was willst du denn? Du
findest immer Hindernisse...»
«Ich will bleiben, wo ich bin:
hier! Ich habe vor niemand Angst und laufe nicht davon. Außerdem wäre der
Meister mit dieser Lösung nicht zufrieden. Es gäbe eine weitere vorwurfsvolle
Predigt, und ich will sie nicht durch eure Schuld zu hören bekommen. Ihr könnt
gehen. Ich bleibe hier und berichte ...»
«Auf keinen Fall! Entweder alle
oder keiner», schreit Petrus.
«Dann also keiner, denn der
Meister ist schon hier. Da kommt er», sagt der Zelote, der auf den Weg
geschaut hatte, ernst.
Petrus murmelt unzufrieden in
seinen Bart. Aber er geht mit den anderen Jesus entgegen. Nach den ersten
Begrüßungen sagen sie ihm, daß ein Besessener, der blind und taub ist, seit
vielen Stunden mit den Angehörigen auf seine Ankunft wartet.
Matthäus erklärt: «Er ist wie
leblos. Er hat sich auf leere Säcke geworfen und sich dann nicht mehr bewegt.
Die Angehörigen hoffen auf dich. Komm und erquicke dich; danach kannst du ihm
helfen.»
116
«Nein, ich gehe sofort zu ihm. Wo
ist er?»
«Im unteren Raum beim Herd. Ich
habe ihn mit den Angehörigen dorthin gebracht, denn es sind viele Pharisäer
und Schriftgelehrte da, die auf der Lauer zu liegen scheinen.»
«Ja, es wäre besser, ihnen diese
Befriedigung nicht zu geben», brummt Petrus.
«Ist Judas des Simon nicht da?»
fragt Jesus.
«Er ist im Haus geblieben. Er muß
immer das tun, was die anderen nicht tun», murrt Petrus wieder.
Jesus schaut ihn an, tadelt ihn
aber nicht. Er eilt zum Haus und überläßt den Knaben Petrus, der ihn liebkost,
aus seinem breiten Gürtel ein Pfeifchen zieht und sagt: «Eines für dich und
das andere für meinen Sohn. Morgen abend werde ich dich zu ihm bringen. Ich
habe sie mir von einem Hirten anfertigen lassen, dem ich von Jesus erzählt
habe.»
Jesus geht in das Haus, grüßt
Judas, der gerade damit beschäftigt ist, das Geschirr in Ordnung zu bringen,
und geht dann direkt auf eine Art dunklen, niedrigen Vorratsschrank zu, der
sich neben dem Ofen befindet.
«Laßt den Kranken herauskommen»,
befiehlt Jesus.
Ein Pharisäer, der nicht aus
Kapharnaum ist, aber eine noch saurere Miene als die Pharisäer des Ortes
macht, sagt: «Es ist kein Kranker, es ist ein Besessener!»
«Das ist stets eine Krankheit des
Geistes...»
«Aber er kann weder sehen noch
sprechen...»
«Es ist immer eine Krankheit des
Geistes, die sich auf die Glieder und Organe ausdehnt. Hättest du mich
ausreden lassen, so hättest du erfahren, daß ich dies sagen wollte. Auch das
Fieber ist im Blut, wenn man krank ist; aber durch das Blut greift es bald
diesen, bald jenen Teil des Körpers an.»
Der Pharisäer weiß nichts darauf
zu entgegnen und schweigt.
Der Besessene wird vor Jesus
geführt. Er bewegt sich nicht. Matthäus hat recht. Er wird vom Dämon stark
behindert. Die Menge der Neugierigen nimmt ständig zu. Es ist unglaublich, wie
die Leute, besonders in der Stunde einer Sensation, schnell zusammenlaufen an
dem Ort, wo irgendetwas geschieht. Die Vornehmen von Kapharnaum sind nun da,
und unter ihnen die vier Pharisäer; Jairus ist gekommen, und in einer Ecke,
mit der Ausrede, die Ordnung zu überwachen, steht der römische Zenturio, und
mit ihm Bürger von anderen Städten.
«Im Namen Gottes, verlasse die
Augen und die Zunge dieses Menschen. Ich will es! Befreie dieses Geschöpf von
dir! Es ist dir nicht erlaubt, es zu besitzen. Fahre aus!» ruft Jesus und
streckt gebietend die Hände aus.
Das Wunder beginnt mit einem
Wutausbruch des Dämons und endet mit einem Freudenschrei des Befreiten, der
ruft: «Sohn Davids! Sohn Davids, Heiliger und König!»
117
«Wie kann er denn wissen, wer es
ist, der ihn geheilt hat?» fragt ein Schriftgelehrter.
«Aber das ist doch alles nur eine
Komödie! Diese Leute werden bezahlt, damit sie dies tun!» sagt ein Pharisäer
mit Achselzucken.
«Aber von wem, wenn es erlaubt
ist zu fragen?» fragt Jairus.
«Auch von dir!»
«Und zu welchem Zweck?»
«Um Kapharnaum berühmt zu
machen!»
«Setze deine Intelligenz nicht zu
sehr herunter, indem du Dummheiten sagst, und beschmutze deine Zunge nicht mit
Lügen. Du weißt, daß es nicht wahr ist, und solltest begreifen, daß du eine
Dummheit sagst. Was hier geschehen ist, ist schon in vielen Teilen Israels
geschehen. So ist also überall jemand, der bezahlt? Wahrlich, ich wußte nicht,
daß das Volk in Israel so reich ist! Denn ihr, und mit euch alle Großen, zahlt
ganz gewiß nicht dafür. Also zahlt das Volk, das allein den Meister liebt.»
«Du bist Synagogenvorsteher und
liebst ihn. Dort ist Manaen. Und in Bethanien ist Lazarus des Theophilus. Das
sind keine Plebejer.»
«Aber sie und ich sind ehrenhafte
Menschen. Wir betrügen niemand in irgendeiner Weise. Und erst recht nicht in
Sachen des Glaubens. Wir erlauben es uns nicht, weil wir Gott fürchten und
begriffen haben, was Gott wohlgefällig ist: die Ehrlichkeit.»
Die Pharisäer wenden sich von
Jairus ab und fallen über die Verwandten des Geheilten her: «Wer hat euch
gesagt, daß ihr hierherkommen sollt?»
«Wer? Viele! Bereits Geheilte und
Verwandte von Geheilten.»
«Aber was haben sie euch
gegeben?»
«Gegeben? Die Zusicherung, daß er
ihn heilen würde.»
«Aber war er wirklich krank?»
«O ihr arglistigen Menschen!
Glaubt ihr denn, daß alles nur vorgetäuscht ist? Geht nach Gadara, wenn ihr
uns nicht glaubt, und fragt nach dem Unglück der Familie Annas des Ismael.»
Die Leute von Kapharnaum fühlen
sich beleidigt und regen sich auf, während die Galiläer aus der Umgebung
Nazareths erklären: «Er ist doch der Sohn des Zimmermanns Joseph!»
Die Bürger von Kapharnaum, die an
Jesus glauben, schreien: «Nein! Er ist das, was er selber sagt, und das, was
der Geheilte von ihm gesagt hat: Sohn Gottes und Sohn Davids.»
«Aber steigert doch nicht noch
die Schwärmerei des Volkes mit euren Behauptungen», sagt ein Schriftgelehrter
verächtlich.
«Wer ist er denn eurer Meinung
nach?»
«Ein Beelzebub!»
«Uh! Natternzungen! Ihr Lästerer!
Ihr Besessenen! Ihr mit Blindheit des Herzens Geschlagenen! Unser Verderben.
Auch die Freude am Messias
118
möchtet ihr uns stehlen, he? Ihr
Wucherer! Ihr Geizkragen!» Ein schönes Durcheinander!
Jesus, der sich in die Küche
zurückgezogen hatte, um einen Schluck Wasser zu trinken, kehrt gerade
rechtzeitig auf die Schwelle zurück, um noch einmal die bösartige und dumme
Anklage der Pharisäer zu hören: «Er ist nichts anderes als ein Beelzebub, da
die Dämonen ihm gehorchen. Sein Vater, der große Beelzebub, hilft ihm, und er
vertreibt die Dämonen mit nichts anderem als mit Hilfe Beelzebubs, des Fürsten
der Dämonen.»
Jesus steigt die zwei kleinen
Stufen der Schwelle hinunter, schreitet aufrecht, ernst und ruhig vorwärts und
bleibt vor der Gruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten stehen. Er schaut sie
scharf an und sagt dann: «Auch auf Erden sehen wir, daß ein Reich, das in zwei
sich bekämpfende Parteien geteilt ist, von innen her schwach wird und leicht
von den Nachbarstaaten angegriffen, verwüstet und unterjocht werden kann, die
es dann zu ihrem Sklaven machen. Auch auf der Erde sehen wir, daß eine in
feindliche Parteien gespaltene Stadt keinen Wohlstand mehr aufweist. Und so
ist es auch in einer Familie, deren Mitglieder durch den Haß voneinander
getrennt sind; sie löst sich auf und zerbröckelt, ist zu nichts mehr nütze und
wird zum Gespött der Mitbürger. Die Eintracht ist nicht nur Pflicht, sondern
auch Klugheit. Denn sie erhält unabhängig, stark und liebend. Dies sollten die
Patrioten, die Bürger und die Familienmitglieder bedenken, wenn sie sich, von
der Selbstsucht getrieben, für Trennungen und Gewalttätigkeiten entscheiden,
die immer gefährlich sind, da sie zum Verfall der Einigkeit führen und die
gegenseitige Zuneigung zerstören.
Und diese Klugheit wenden jene
an, die die Herren der Welt sind. Betrachtet Rom in seiner unleugbaren Macht,
die uns so bedrückt. Es beherrscht die ganze Welt. Aber die Römer sind sich
einig im gemeinsamen Wunsch und Willen, zu herrschen. Auch unter ihnen gibt es
gewisse Gegensätze, Antipathien, Aufstände. Aber das tritt in den Hintergrund.
Nach außen sind sie ein einziger Block, ohne Risse, ohne Beschädigungen. Alle
wollen dasselbe, und sie erreichen es, weil sie es wollen. Und sie werden
herrschen, solange sie gemeinsam dasselbe wollen.
Betrachtet dieses Beispiel des
Zusammenhaltens aus Klugheit und denkt darüber nach: wenn diese Kinder der
Welt so sind, wie wird dann erst Satan sein? Sie sind für uns Teufel. Aber
ihre heidnische Dämonie ist nichts im Vergleich zur vollkommenen Dämonie
Satans und seiner Dämonen. Dort, in jenem ewigen Reich, ohne Zeit, ohne Ende,
grenzenlos in Verschlagenheit und Boshaftigkeit; dort, wo man sich freut, Gott
und den Menschen schaden zu können, und wo das einzige bittere, schmerzliche
Vergnügen darin besteht, Schaden zuzufügen, hat man mit verfluchter
Vollkommenheit eine geistige Einmütigkeit erreicht im alleinigen Willen: zu
schaden.
119
Wenn ihr nun Zweifel über meine
Macht erwecken und daran festhalten wollt, daß es Satan ist, der mir hilft,
weil ich ein kleiner Beelzebub bin, gerät dann Satan nicht in Widerspruch mit
sich selbst und seinen Dämonen, wenn ich diese aus ihrem Besitz vertreibe? Und
wenn er mit sich selbst uneinig ist, wie kann dann sein Reich fortbestehen?
Nein, so ist es nicht. Satan ist sehr schlau und schadet sich nicht selbst. Er
will sein Reich in den Herzen ausbreiten und nicht das Gegenteil. Sein Leben
besteht darin, zu stehlen, zu schaden, zu lügen, zu beleidigen und zu
beunruhigen. Gott Seelen und den Menschen den Frieden zu stehlen. Den
Geschöpfen des Vaters Schaden zuzufügen und ihm selbst Schmerz zu bereiten. Zu
lügen, um irrezuführen. Zu beleidigen, um Spaß daran zu haben. Zu verwirren,
weil er Unordnung ist. Er kann sich nicht ändern. Er ist ewig in seinem Wesen
und seinen Methoden.
Doch, antwortet auf diese Frage:
wenn ich die Dämonen im Namen Beelzebubs austreibe, in welchem Namen treiben
eure Söhne sie aus? Wollt ihr behaupten, daß auch sie Beelzebub sind? Wenn ihr
das sagt, werden sie euch Verleumder nennen. Und ist ihre Heiligkeit so groß,
daß sie auf die Anklage nicht reagieren, dann verurteilt ihr euch selbst, denn
ihr bekennt damit eure Überzeugung, daß es in Israel viele Dämonen gibt, und
Gott wird euch richten im Namen der Söhne Israels, die als Dämonen angeklagt
wurden. Von wem auch immer das Urteil stammen mag, sie werden schließlich eure
Richter sein, dort, wo das Urteil nicht mehr durch menschlichen Druck zustande
kommt.
Wenn ich jedoch, wie es der
Wahrheit entspricht, die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, dann ist
dies der Beweis dafür, daß das Reich Gottes und der König dieses Reiches
gekommen sind. Dieser König hat eine solche Macht, daß keine andere Macht
seinem Reich widerstehen kann. Daher binde und zwinge ich die Räuber der
Kinder meines Reiches, die von ihnen besetzten Orte zu verlassen und mir ihre
Beute zurückzugeben, damit ich davon Besitz ergreifen kann. Macht es
vielleicht nicht auch jener so, der in ein Haus, das ein Starker bewohnt,
eindringen will, um ihm seine Habe wegzunehmen (ob diese nun auf gerechte oder
ungerechte Weise erworben worden ist)? Er macht es so. Er geht hinein und
fesselt ihn. Und wenn er das getan hat, kann er das Haus ausräumen. Ich binde
den Engel der Finsternis, der sich angeeignet hat, was mein ist, und ich nehme
ihm das Gut, das er mir geraubt hat. Und nur ich allein kann dies tun, denn
ich allein bin der Starke, der Vater künftiger Zeiten, der Friedensfürst.»
«Erkläre uns, was das bedeutet:
"Der Vater der künftigen Zeiten." Glaubst du denn, daß du bis zu den kommenden
Zeitaltern leben wirst, und glaubst du, was noch törichter ist, daß du die
Zeit erschaffen kannst, du armer Mensch? Die Zeit gehört Gott!» fragt ein
Schriftgelehrter.
«Und du, Schriftgelehrter, fragst
mich das? Weißt du denn nicht, daß
120
ein Zeitalter kommt, das zwar
einen Anfang, aber kein Ende haben und mir gehören wird? In diesem werde ich
triumphieren und alle jene um mich versammeln, die dessen würdig sind; und sie
werden ewig leben, wie dieses Zeitalter ewig sein wird, das ich erschaffen
werde und mit dessen Erschaffung ich schon begonnen habe, indem ich den Geist
über das Fleisch, die Welt und die Unterwelt setze, die ich zurückstoße, weil
ich alles kann.
Deswegen sage ich euch, wer nicht
für mich ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der
zerstreut. Denn ich bin der, der ich bin. Und wer nicht an das glaubt, was
schon prophezeit worden ist, sündigt gegen den Heiligen Geist, dessen Wort,
das weder Lüge noch Irrtum ist und ohne Widerstand geglaubt werden muß, die
Propheten verkündet haben.
Denn ich sage euch: alles wird
dem Menschen verziehen werden, jede seiner Sünden und Gotteslästerungen; denn
Gott weiß, daß der Mensch nicht nur Geist, sondern auch Fleisch ist, und zwar
ein Fleisch, das versucht wird und plötzlichen Schwächen unterliegt. Aber die
Lästerung gegen den Geist wird nicht verziehen werden. Wer gegen den
Menschensohn gesprochen hat, dem wird noch verziehen werden, denn die Last des
Fleisches, das mich und den Menschen umhüllt, der gegen mich spricht, kann
noch zum Irrtum führen. Aber wer gegen den Heiligen Geist gesprochen hat, dem
wird nicht verziehen werden, weder in diesem noch im zukünftigen Leben; denn
die Wahrheit ist klar, heilig, unleugbar und dem Geist eingeprägt in einer
Weise, die nicht zum Irrtum führen kann. Jene, die ausdrücklich den Irrtum
wollen, täuschen sich. Die vom Heiligen Geist gesprochene Wahrheit leugnen
heißt, das Wort Gottes und die Liebe, die dieses Wort aus Liebe zu den
Menschen geschenkt hat, leugnen. Und die Sünde gegen die Liebe wird nicht
verziehen.
Jeder bringt die Früchte seiner
Pflanze. Ihr bringt die eurigen, und es sind keine guten Früchte. Habt ihr
einen guten Baum in den Obstgarten gepflanzt, wird er gute Früchte tragen;
habt ihr aber einen schlechten Baum, dann wird auch die Frucht, die ihr von
ihm pflückt, schlecht sein, und alle werden sagen: "Dieser Baum ist nicht
gut." Denn an der Frucht erkennt man den Baum.
Und wie glaubt ihr, gut sprechen
zu können, ihr, die ihr böse seid? Denn der Mund redet von dem, wovon das Herz
voll ist. Und vom Überfluß dessen, was wir in uns haben, leiten wir unsere
Handlungen und Reden ab. Der gute Mensch zieht aus seinem guten Schatz gute
Dinge hervor, der Böse aus seinem bösen Schatz schlechte Dinge. Und er redet
und handelt seinem Innersten gemäß.
Wahrlich ich sage euch, der
Müßiggang ist schlecht. Aber besser ist es, müßig zu sein, als böse Dinge zu
tun. Und ich sage euch auch, es ist besser zu schweigen als unnütze und
böswillige Reden zu führen. Auch wenn Schweigen Müßiggang sein kann, so
schweigt eher, als daß ihr mit der
121
Zunge sündigt. Ich versichere
euch, am Tag des Gerichtes wird über jedes unnötig gesprochene Wort
Rechenschaft gefordert werden. Nach den gesprochenen Worten werden die
Menschen gerechtfertigt oder verurteilt. Seid daher vorsichtig, ihr, die ihr
euch nicht darauf beschränkt, müßig zu sein, sondern Böses tut, um die Herzen
von der Wahrheit zu entfernen, die zu euch spricht.»
Die Pharisäer beraten sich mit
den Schriftgelehrten, und dann heucheln sie alle zusammen Höflichkeit und
fragen: «Meister, man glaubt leichter an das, was man sieht. Gib uns daher ein
Zeichen, damit wir glauben können, daß du der bist, der zu sein du vorgibst.»
«Ihr seht, daß in euch die Sünde
gegen den Heiligen Geist ist, der mich mehrmals als das menschgewordene Wort
prophezeit hat? Als das Wort und den Erlöser, der zur bestimmten Zeit gekommen
ist, angekündigt und gefolgt von prophetischen Zeichen, und der das wirkt, was
der Geist sagt.»
Sie antworten: «An den Geist
glauben wir; aber wie können wir dir glauben, wenn wir nicht mit unseren Augen
ein Zeichen sehen?»
«Wie könnt ihr denn an den Geist
glauben, dessen Wirken geistig ist, wenn ihr nicht an mein Wirken glaubt, das
euren Augen sichtbar ist? Mein Leben ist voll von Zeichen. Genügt es noch
nicht? Nein! Ich selbst antworte: nein, es genügt noch nicht. Diesem
ehebrecherischen und bösen Geschlechte, das ein Zeichen verlangt, wird nur ein
Zeichen gegeben werden: das des Propheten Jonas. So wie Jonas drei Tage im
Bauch des Walfisches war, so wird der Menschensohn drei Tage im Schoß der Erde
sein. In Wahrheit sage ich euch, die Niniviten werden am Tag des Gerichtes wie
alle Menschen auferstehen, und sie werden sich gegen dieses Geschlecht erheben
und es verurteilen. Denn sie taten Buße nach der Predigt des Jonas, ihr aber
nicht. Und hier ist einer, der mehr ist als Jonas. Die Königin des Südens wird
auferstehen und sich erheben gegen euch, und sie wird euch verdammen, denn sie
kam von den äußersten Enden der Erde, um die Wahrheit Salomons zu vernehmen.
Und hier ist einer, der mehr ist als Salomon.»
«Warum sagst du, daß dieses
Geschlecht ehebrecherisch und schlecht sei? Es wird nicht schlimmer sein als
die anderen. In ihm gibt es ebenso Heilige, wie es sie bei den anderen gegeben
hat. Die Gesellschaft Israels hat sich nicht verändert. Du beleidigst uns.»
«Ihr beleidigt euch selbst, indem
ihr euren Seelen schadet und sie von der Wahrheit entfernt und damit von der
Erlösung. Ich antworte euch dennoch. Dieses Geschlecht ist nur äußerlich und
in seiner Bekleidung heilig, innerlich ist es nicht heilig. Es gibt in Israel
die gleichen Wörter, um die gleichen Dinge zu bezeichnen. Aber das entspricht
nicht der Wirklichkeit der Dinge. Es gibt die gleichen Gebräuche, Gewänder und
Riten. Doch es fehlt ihnen der Geist. Ihr seid ehebrecherisch, weil ihr die
übernatürliche
122
Ehe mit dem göttlichen Gesetz
verworfen und in zweiter, ehebrecherischer Vereinigung den Bund mit dem Gesetz
Satans geschlossen habt. Ihr seid nur an einem hinfälligen Glied beschnitten.
Das Herz ist nicht beschnitten. Und böse seid ihr, weil ihr euch verkauft habt
an den Bösen. Ich habe gesprochen.»
«Du beleidigst uns allzusehr.
Wenn es aber so ist, warum befreist du Israel nicht vom Dämon, damit es heilig
werde?»
«Will Israel das denn? Nein! Die
Armen, die kommen, wollen vom Dämon erlöst werden, den sie in sich fühlen wie
eine Last und eine Schande. Ihr fühlt ihn nicht. Und es ist unnötig, euch
davon zu befreien, denn da ihr nicht den Willen habt, befreit zu werden,
würdet ihr sogleich wieder und in noch stärkerem Maß von ihm erfaßt werden.
Denn wenn ein unreiner Geist einen Menschen verlassen hat, dann treibt er sich
in öden Gegenden herum und sucht nach Ruhe, findet sie aber nicht. Nicht
materiell öde Gegenden, versteht ihr! Öde, weil sie ihm feindlich gesinnt sind
und ihn nicht aufnehmen, wie die trockene Erde den Samen nicht aufnimmt. Da
sagt er sich: "Ich will in mein Haus zurückkehren, aus dem ich gegen meinen
Willen vertrieben worden bin. Ich bin gewiß, daß es mich aufnehmen und mir
eine Ruhestätte gewähren wird."
So kehrt er zurück zu dem, der
sein war, und oft findet er ihn bereit, ihn aufzunehmen; denn wahrlich, ich
sage euch, der Mensch hat mehr Heimweh nach Satan als nach Gott, und wenn
Satan ihm keine körperliche Krankheit bringt, wird er sich über keine andere
Art der Besitzergreifung beklagen. Der Dämon kehrt also zurück und findet das
Haus leer, ausgefegt, geschmückt und nach Sauberkeit duftend vor. Da geht er
noch sieben andere Dämonen holen, denn er will es nun nicht mehr verlieren,
und mit diesen sieben Dämonen, die schlimmer sind als er, kehrt er zurück, und
alle richten sich ein. Dieser zweite Zustand eines Bekehrten, der rückfällig
wird, ist schlimmer als der erste. Denn der Dämon weiß, wie sehr dieser Mensch
Liebhaber Satans und Gott undankbar ist, und Gott kehrt nicht dorthin zurück,
wo man seine Gnaden mit Füßen tritt. Ein Rückfall in die Fänge Satans ist
schlimmer als ein Rückfall in eine schon einmal geheilte tödliche
Schwindsucht. Eine Besserung oder Heilung ist ausgeschlossen. So wird es auch
dieser Generation ergehen, die, vom Täufer bekehrt, wieder Sünderin sein
wollte, da sie den Bösen liebt und nicht mich.»
Ein Gemurmel, das weder Billigung
noch Protest ausdrückt, geht durch die Menschenmenge, die nun schon so
zahlreich ist, daß sie sogar auf der Straße außerhalb des Gartens steht. Viele
Menschen sitzen auf der Mauer, auf dem Feigenbaum des Gartens und auf den
Bäumen der Nachbargärten; denn alle wollen den Disput zwischen Jesus und
seinen Feinden hören. Das Gemurmel geht, wie eine Welle, die sich zum Strand
wälzt, von Mund zu Mund bis zu den Aposteln, die Jesus am nächsten
123
stehen. Es sind Petrus, Johannes,
der Zelote und die Söhne des Alphäus; denn die anderen befinden sich teils auf
der Terrasse, teils in der Küche. Nur Judas Iskariot hat sich unter die
Menschen auf der Straße gemischt.
Und Petrus, Johannes, der Zelote
und die Söhne des Alphäus greifen dieses Gemurmel auf und sagen zu Jesus:
«Meister, deine Mutter und deine Brüder sind da. Sie sind auf der Straße und
suchen dich, denn sie möchten mit dir reden. Gebiete den Leuten, Platz zu
machen, damit sie zu dir gelangen können; denn sicher hat sie ein triftiger
Grund veranlaßt, dich hier aufzusuchen.»
Jesus hebt das Haupt und sieht
hinter der Menschenmenge das angsterfüllte Antlitz seiner Mutter, die gegen
die Tränen ankämpft, während Joseph des Alphäus aufgeregt mit ihr spricht; er
sieht, wie sie trotz des Drängens von Joseph immer wieder energisch Zeichen
der Verneinung macht. Er sieht auch das verlegene Gesicht Simons, der
sichtlich betrübt und angeekelt ist ... Aber Jesus lächelt nicht und gebietet
nichts. Er läßt die Betrübte in ihrem Schmerz und die Vettern dort, wo sie
sind.
Er richtet die Augen auf die
Volksmenge, und indem er den Aposteln in seiner Nähe antwortet, antwortet er
auch den weiter entfernt Stehenden, die versuchen, der Blutsverwandtschaft
Vorrang gegenüber der Pflicht zu verschaffen.
«Wer ist meine Mutter? Wer sind
meine Brüder?»
Er läßt seinen Blick über die
Menge schweifen, mit ernstem, bleichem Gesicht wegen der Gewalt, die er sich
antun muß, um die Pflicht über die Gefühle und das Blut zu stellen, um seine
Bindung an die Mutter zu verleugnen, um dem Vater zu dienen, und sagt, indem
er mit einer ausladenden Geste auf die Menge weist, die sich im roten Schein
der Fackeln und im silbernen Mondlicht um ihn drängt: «Hier ist meine Mutter,
hier sind meine Brüder. Jene, die den Willen Gottes tun, sind meine Brüder,
meine Schwestern und meine Mutter. Andere habe ich nicht. Auch die Meinen
werden es sein, wenn sie als erste und mit größerer Vollkommenheit als die
anderen den Willen Gottes erfüllen bis zur gänzlichen Aufopferung jedes
anderen Willens oder der Stimme des Blutes und der Zuneigung.»
Das Stimmengewirr in der Menge
wird lauter, wie ein von einem plötzlichen Wind gepeitschtes Meer.
Die Schriftgelehrten beginnen zu
fliehen und sagen: «Er ist ein Dämon! Er verleugnet sogar sein eigenes Blut!»
Die Verwandten drängen sich vor
und rufen: «Er ist wahnsinnig! Er quält sogar seine Mutter!»
Die Apostel sagen: «Wahrlich, in
diesen Worten liegt sein ganzer Heroismus.»
Die Menge sagt: «Wie sehr er uns
liebt!»
Mit Mühe bahnen sich Maria, Simon
und Joseph einen Weg durch die
124
Menge. Maria ist ganz Sanftmut,
Joseph ganz Wut, Simon ganz verlegen. Sie gelangen zu Jesus.
Und Joseph stellt ihn sofort zur
Rede: «Bist du wahnsinnig? Du beleidigst alle. Du hast nicht einmal Respekt
vor deiner Mutter. Aber nun bin ich hier und will es dir verwehren. Ist es
wahr, daß du als Arbeiter da- und dorthin ziehst? Wenn dies wahr ist, warum
arbeitest du nicht in deiner Werkstatt, um deine Mutter zu ernähren? Warum
lügst du und sagst, daß deine Arbeit die Verkündigung ist, du Müßiggänger und
undankbarer Mensch, wenn du doch zur Lohnarbeit in ein fremdes Haus gehst?
Wahrlich, du scheinst von einem Dämon besessen zu sein, der dich verführt.
Antworte!»
Jesus wendet sich um und nimmt
den Knaben Joseph bei der Hand, zieht ihn zu sich, greift ihm unter die
Achseln, hebt ihn hoch und sagt: «Meine Arbeit war, dieses hungrige Kind und
seine Angehörigen zu ernähren und sie davon zu überzeugen, daß Gott gut ist.
In Chorazim habe ich auf diese Weise Liebe und Demut gepredigt. Und nicht nur
in Chorazim. Das gilt auch für dich, Joseph, ungerechter Bruder. Aber ich
verzeihe dir, denn ich weiß dich von den Zähnen der Schlange gebissen. Und ich
verzeihe auch dir, Simon, der du wankelmütig bist. Meiner Mutter habe ich
nichts zu verzeihen, noch hat sie mir etwas zu verzeihen, denn sie richtet mit
Gerechtigkeit. Die Welt kann tun, was sie will. Ich tue, was Gott will! Und
mit dem Segen des Vaters und meiner Mutter bin ich glücklicher, als wenn mich
die ganze Welt auf weltliche Art als ihren König ausrufen würde. Komm, Mutter.
Weine nicht! Sie wissen nicht, was sie tun. Verzeihe ihnen.»
«Oh, mein Sohn! Ich weiß. Du
weißt. Es gibt nichts weiter hinzuzufügen...»
«Es gibt nichts weiter zu tun,
als den Menschen zu sagen: Geht hin in Frieden!»
Und Jesus segnet die Menge und
begibt sich dann, an der rechten Hand Maria und an der linken Hand das Kind
führend, zur Treppe und steigt als erster hinauf.
312. DER TOD JOHANNES DES TÄUFERS
Jesus heilt soeben Kranke; nur
Manaen ist bei ihm. Sie sind in dieser Morgenstunde im Haus von Kapharnaum, im
schattigen Garten. Manaen trägt nicht mehr den kostbaren Gürtel noch die
Goldplatte an seiner Stirne. Das Gewand wird von einer Wollkordel und die
Kopfbedeckung von einem gewobenen Band gehalten. Jesu Haupt ist unbedeckt, wie
üblich, wenn er sich im Haus aufhält.
125
Nach Heilung und Tröstung der
Kranken steigt Jesus mit Manaen in den oberen Raum hinauf. Sie setzen sich
beide auf das Fensterbrett auf der Seite zum Gebirge, denn die Seeseite ist
ganz von der Sonne beschienen, die noch immer sehr heiß brennt, obwohl die
Hundstage schon längst vorüber sein müßten.
«Bald beginnt die Weinlese», sagt
Manaen.
«Ja. Dann wird das Laubhüttenfest
folgen... und bald wird der Winter da sein. Wann gedenkst du abzureisen?»
«Hin! ... Ich würde nie
abreisen... Aber ich denke an den Täufer. Herodes ist ein Schwächling. Wenn
man einen guten Einfluß auf ihn ausübt, wird er zwar nicht gut... aber
wenigstens nicht blutdürstig. Doch es gibt nur wenige, die ihn gut beraten.
Und dieses Weib! ... Dieses Weib! ... Ich möchte hierbleiben, bis die Apostel
zurückkehren. Ich bilde mir nichts ein... doch etwas zähle ich noch...
obgleich mein Ansehen sich sehr verringert hat, seit sie begriffen haben, daß
ich die Wege des Guten wandle. Doch das macht mir nichts aus. Ich möchte den
wahren Mut haben, alles zu verlassen, um dir vollkommen nachfolgen zu können
wie die Jünger, die du erwartest. Aber werde ich es wohl je fertigbringen?
Uns, die wir nicht aus dem Volk stammen, fällt es schwerer, dir zu folgen.
Warum nur?»
«Weil ihr an die armen Reichtümer
gefesselt seid, die euch zurückhalten.»
«Ich kenne jedoch auch einige,
die nicht eigentlich reich, dafür aber gelehrt sind, oder auf dem Weg, es zu
werden; auch sie kommen nicht!»
«Auch sie haben die Fangarme der
armseligen Reichtümer, die sie zurückhalten. Man ist nicht nur reich, wenn man
Geld hat. Es gibt auch den Reichtum des Wissens. Nur wenige begreifen das
Bekenntnis Salomons: "O Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist Eitelkeit."
Kohelet hat es wiederholt und erweitert, nicht so sehr dem Umfang, sondern
vielmehr dem tiefen Sinn nach. Erinnerst du dich? Die menschliche Wissenschaft
ist Eitelkeit, denn sie vermehrt nur das menschliche Wissen und ist "Angst und
Betrübnis des Geistes, und wer die Wissenschaft vermehrt, vermehrt auch die
Ängste." Wahrlich, ich sage dir, so ist es! Und ich sage dir auch, daß es
nicht so wäre, wenn die menschliche Wissenschaft gestützt und gezügelt würde
durch die übernatürliche Weisheit und die heilige Liebe Gottes. Der Genuß ist
Eitelkeit, weil er nicht andauert, sondern schnell vergeht und nach dem
Aufflackern Asche und Leere hinterläßt.
Die unter allen möglichen
Anstrengungen angehäuften Güter sind Eitelkeit für den Menschen, der sterben
und sie anderen hinterlassen muß und mit seinen Gütern den Tod nicht
fernhalten kann. Die Frau, in der nur das Weibliche betrachtet und begehrt
wird, ist Eitelkeit. Daraus kann man schließen, daß das einzige, das nicht
Eitelkeit ist, in der heiligen Furcht Gottes und dem Gehorsam seinen Geboten
gegenüber besteht;
126
also in der Weisheit des
Menschen, der nicht nur Fleisch ist, sondern auch eine zweite Natur besitzt:
die geistige. Wer so zu entscheiden und zu wollen versteht, weiß sich
loszulösen von allen Fallstricken armseligen Besitzes um unbeschwert der Sonne
entgegenzugehen.»
«Ich will mir diese Worte gut
merken. Wieviel hast du mir in diesen Tagen gegeben! Jetzt kann ich wieder den
Tändeleien des Hofes entgegengehen, der nur den Törichten glanzvoll, mächtig
und frei erscheint, während er in Wirklichkeit nichts anderes ist als Elend,
Kerker und Finsternis. Ich will zurückkehren mit einem Schatz, der es mir
erlauben wird, in Erwartung des Besseren besser zu leben. Aber werde ich je
dieses Bessere erreichen, das darin besteht, dir ganz anzugehören ?»
«Du wirst es erreichen!»
«Wann? Im kommenden Jahre? Oder
später? Oder wenn das Alter mich weise gemacht hat?»
«Du wirst dorthin gelangen, wenn
du im Lauf von wenigen Stunden die Reife des Geistes und die Vollkommenheit
des Wollens erreichen wirst.»
Manaen betrachtet ihn
nachdenklich und forschend... Doch er fragt nicht weiter.
Es folgt ein Schweigen. Dann sagt
Jesus: «Bist du schon Lazarus von Bethanien begegnet?»
«Nein, Meister! Ich kann sagen,
nein. Denn wenn eine Begegnung stattgefunden hat, so ist daraus keine
Freundschaft entsprungen. Weißt du... Ich bin bei Herodes, und Herodes ist
gegen ihn... Deshalb ...»
«Lazarus würde dich jetzt über
den Dingen sehen, in Gott. Du mußt versuchen, dich ihm als Mitjünger zu
nähern.»
«Ich will es tun, wenn du es
willst.»
Vom Garten dringen aufgeregte
Stimmen herauf. Sie fragen ängstlich: «Der Meister! Der Meister! Ist er hier?»
Die singende Stimme der Herrin
des Hauses antwortet: «Im oberen Saal ist er. Wer seid ihr? Kranke?»
«Nein, Jünger des Johannes; wir
wollen zu Jesus von Nazareth.»
Jesus schaut aus dem Fenster und
sagt: «Der Friede sei mit euch! Oh, ihr seid es! Kommt, kommt!»
Es sind die drei Hirten Johannes,
Matthias und Simeon. «Oh, Meister!» sagen sie und schauen mit schmerzerfüllten
Gesichtern nach oben. Nicht einmal der Anblick Jesu kann sie aufheitern.
Jesus verläßt den Raum, um ihnen
auf der Terrasse entgegenzugehen. Manaen folgt ihm. Sie begegnen sich gerade
dort, wo die Treppe auf der sonnigen Terrasse endet.
Die drei knien nieder und küssen
den Boden. Dann sagt Johannes für alle: «Nun nimm du uns auf, Herr, denn wir
sind deine Erbschaft.» Tränen rinnen über das Gesicht des Jüngers und über die
Gesichter seiner Begleiter.
127
Jesus und Manaen rufen
gleichzeitig aus: «Johannes?»
«Er ist getötet worden ...»
Das Wort fällt wie ein mächtiges
Getöse, das jedes Geräusch auf Erden übertönt. Und doch ist es sehr leise
gesagt worden. Aber es versteinert den, der es ausspricht, und den, der es
hört. Es scheint, daß die Erde, um es aufzunehmen und zu bewältigen, jeden
anderen Laut unterdrückt. Es scheint, daß die Erde all ihre Geräusche
verstummen läßt, um in schauernder Erregung zu horchen, so tief ist die
herrschende Stille und die völlige Reglosigkeit der Tiere in den Gewässern und
in der Luft. Das Gurren der Tauben, das Flöten der Amsel und die Chöre der
Sperlinge sind verstummt, eine zirpende Grille schweigt plötzlich, wie von
einem Hammerschlag getroffen, und auch der Wind, der mit dem Weinlaub und den
Blättern gespielt und ihnen ein leises Seidenrauschen entlockt hatte, steht
still.
Jesus wird bleich wie Elfenbein,
während seine Augen sich weiten und mit glänzenden Tränen füllen. Er breitet
die Arme aus und sagt mühsam mit tiefer Stimme: «Friede dem Märtyrer der
Gerechtigkeit und meinem Vorläufer!» Dann verschränkt er die Arme, sammelt
sich im Geist -gewiß betet er – und vereinigt sich mit dem Geist Gottes und
des Täufers.
Manaen wagt nicht, sich zu
rühren. Im Gegensatz zu Jesus ist er sichtlich errötet, als befinde er sich
kurz vor einem Zornausbruch. Darin ist er wie erstarrt, und die mechanische
Bewegung der Rechten, die den Gürtel seines Gewandes erfaßt, und der Linken,
die unbewußt nach dem Dolch sucht, verrät seine Verwirrung... Manaen schüttelt
den Kopf im Bedauern über seine Vergeßlichkeit, da er sich nicht daran
erinnert hat, daß er waffenlos ist, um "der Jünger des Sanftmütigen in der
Nähe des Sanften" zu sein.
Jesus öffnet wieder Mund und
Augen. Sein Antlitz, sein Blick und seine Stimme haben wieder den Ausdruck
göttlicher Majestät, den man bei ihm für üblich hält. Es bleibt nur eine
große, von Frieden gemäßigte Traurigkeit zurück.
«Kommt und berichtet mir! Von
heute an seid ihr die Meinen.»
Er geleitet sie ins Zimmer,
schließt die Türe, zieht die Vorhänge zu, um sich angesichts des Schmerzes und
der Schönheit des Todes des Täufers zu sammeln und eine Trennung zu vollziehen
zwischen der Vollkommenheit dieses Lebens und der verdorbenen Welt.
«Sprecht!» gebietet er.
Manaen scheint immer noch wie
versteinert zu sein. Er ist nahe bei der Gruppe. Doch er sagt kein Wort.
«Es war am Abend des Festes...
Ein unvorhergesehenes Ereignis... Nur zwei Stunden zuvor hatte Herodes sich
mit Johannes beraten und sich von ihm wohlwollend verabschiedet... Und ganz
kurz bevor es geschehen ist... der Mord, das Martyrium, das Verbrechen, die
Verherrlichung, hatte er
128
einen Diener mit gekühlten
Früchten und erlesenen Weinen zu dem Gefangenen entsandt. Johannes hat diese
Dinge unter uns verteilt... Er hat nie von seiner Strenge abgelassen... Wir
waren allein bei ihm... denn Manaen hatte dafür gesorgt, daß wir als
Küchendiener und Stallknechte im Palast arbeiten konnten. Es war eine Gnade,
die uns erlaubte, zu jeder Zeit unseren Johannes sehen zu können... Wir waren
in den Küchen, ich und Johannes, während Simeon die Stallknechte überwachte,
damit sie die Pferde der Gäste gut betreuten... Der Palast war voll von
Offizieren und hohen Herren aus Galiläa. Herodias hatte sich nach einem
heftigen Streit am Morgen mit Herodes in ihre Gemächer eingeschlossen...»
Manaen unterbricht ihn: «Aber
wann ist diese Hyäne gekommen?»
«Zwei Tage zuvor. Ganz
unvermutet... Sie sagte dem Monarchen, sie könne nicht länger ohne ihn leben
und wolle an seinem Festtag anwesend sein. Schlange und Zauberin wie immer,
hat sie ihn zu ihrem Spielball gemacht... Aber Herodes hatte sich am Morgen
dieses Tages, obschon trunken von Wein und Wollust, geweigert, dem Weib zu
gewähren, was es mit lautem Geschrei verlangte. Und niemand ahnte, daß es sich
um das Leben des Johannes handelte...
Sie hatte sich beleidigt in ihre
Gemächer zurückgezogen. Sie hatte die königliche Speise verschmäht, die ihr
Herodes auf einem kostbaren Tablett gesandt hatte. Sie behielt nur eine
erlesene Schale voll Früchte zurück und sandte Herodes dafür einen Krug Wein,
der mit Drogen vermischt war. Das genügte, um seine trunksüchtige und
lasterhafte Natur zum Verbrechen zu verleiten!
Von den Tafeldienern erfuhren
wir, daß nach dem Tanz der Hofschauspielerinnen, oder vielmehr während
desselben, auch Salome tanzend im Festsaal erschienen war. Und die
Schauspielerinnen hatten sich vor der Königstochter an die Wand zurückgezogen.
Der Tanz war vollkommen, haben sie uns gesagt, anstößig und vollkommen. Der
Gäste würdig... Herodes ... Vielleicht hat er neuen Geschmack an seiner
Blutschande gefunden ... Am Schluß dieses Tanzes sagte er voller Begeisterung
zu Salome: "Du hast gut getanzt! Ich schwöre dir, daß du dafür eine Belohnung
erhältst. Ich schwöre dir, daß ich dir alles geben werde, um was du mich
bittest. In Gegenwart aller schwöre ich es dir. Es ist das Wort des Königs und
gilt selbst ohne Schwüre. Verlange also, was du willst."
Und Salome, die nun Verwirrung,
Unschuld und Bescheidenheit vortäuschte, hüllte sich nach so viel
Schamlosigkeit mit keuscher Gebärde in ihre Schleier und sagte: "Erlaube mir,
o Großer, daß ich einen Augenblick nachdenke. Ich will mich zurückziehen und
wiederkommen, denn deine große Gunst hat mich verwirrt"; und sie zog sich
zurück, um zu ihrer Mutter zu gehen.
Selma hat mir berichtet, daß sie
lachend zurückgekommen sei und gesagt habe: "Mutter, du hast gesiegt! Gib mir
die Schale." Und Herodias
129
befahl der Sklavin mit einem
Ausruf des Triumphes, dem Mädchen die zurückbehaltene Schale zu übergeben und
sagte: "Geh und kehre mit dem verhaßten Kopf zurück, und ich will dich in
Perlen und Gold kleiden." Selma hat voller Entsetzen gehorcht.
Salome kam tanzend in den Saal
zurück, und tanzend kniete sie zu Füßen des Königs nieder und sagte: "Hier bin
ich! Auf dieser Schale, die du meiner Mutter gesandt hast als Unterpfand, daß
du sie liebst und mich liebst, will ich das Haupt des Johannes erhalten. Dann
werde ich nochmals tanzen, wenn es dir gefällt. Ich werde den Tanz des Sieges
tanzen, denn ich habe gesiegt. Ich habe dich besiegt, König! Ich habe das
Leben besiegt, ich bin glücklich!» Das sagte sie, und uns teilte es ein
befreundeter Mundschenk mit.
Herodes fühlte sich zwischen zwei
Wünschen hin- und hergerissen: er wollte einerseits seinem Wort treu und
andererseits gerecht sein. Doch er verstand es nicht, gerecht zu sein, da er
ein Ungerechter ist. Er gab dem Henker, der hinter dem Königsthron stand, ein
Zeichen, und dieser nahm die Schüssel aus den Händen Salomes und verließ den
Saal des Gastmahls und begab sich zu den unteren Gemächern. Wir sahen ihn den
Hof überqueren, ich und Johannes; und kurz darauf hörten wir den Schrei
Simeons: "Mörder!" Und dann sahen wir ihn mit dem Haupt in der Schale
zurückkommen... Johannes, dein Vorläufer, war tot ...»
«Simeon, kannst du mir sagen, wie
er gestorben ist?» fragt Jesus nach einer Weile.
«Ja. Er betete... Er hatte mir
zuvor gesagt: "Bald werden die beiden Abgesandten zurückkehren, und wer nicht
glaubt, wird glauben. Aber denke daran, wenn ich bei ihrer Rückkehr nicht mehr
leben sollte, sage ihnen, was ich, einer, der dem Tod nahe ist, noch einmal zu
dir sage, damit du es ihnen sagst: Jesus von Nazareth ist der wahre Messias!"
Er dachte immer an dich... Der Henker trat ein... Ich schrie laut. Johannes
erhob das Haupt und sah ihn. Er stand auf und sagte: "Nur das Leben kannst du
mir nehmen. Aber die Wahrheit bleibt und daß es nicht statthaft ist, Böses zu
tun." Er wollte mir gerade noch etwas sagen, als der Henker das große, schwere
Schwert schwang. Johannes stand noch auf seinen Füßen, als das Haupt von
seinem Rumpf fiel mit einem großen Blutstrahl, der seine behaarte Haut rötete
und sein mageres Gesicht, in dem die Augen wie Ankläger offen und lebendig
blieben, wachsbleich werden ließ. Das Haupt rollte mir zu Füßen... Zusammen
mit seinem Körper fiel ich aus Schwäche und Schmerz zu Boden... Dann...
Dann... nachdem Herodias das Haupt mißhandelt hatte, wurde es den Hunden
vorgeworfen. Doch wir standen schon bereit, es aufzuheben, hüllten es in einen
kostbaren Schleier und fügten es dem Rumpf wieder an. Wir verließen mit dem
Leichnam bei Nacht Machaerus und balsamierten ihn dann bei Sonnenaufgang mit
Hilfe anderer Jünger im Grün eines
130
Akaziengebüsches ein. Doch er
wurde uns für weitere Entstellungen entrissen... Denn sie kann ihn nicht
vernichten und kann ihm nicht verzeihen... Und ihre Sklaven waren aus Furcht
vor dem Tod wilder als Schakale und rissen ihm das Haupt ab. Wenn du nur dort
gewesen wärest, Manaen...»
«Wenn ich dort gewesen wäre...
Aber dieses Haupt wird ihr Fluch sein. Die Herrlichkeit des Vorläufers wird um
nichts vermindert, auch wenn sein Körper unvollständig ist. Nicht wahr,
Meister?»
«Das ist wahr! Auch wenn die
Hunde ihn vernichtet hätten, es hätte nichts an seiner Herrlichkeit geändert.»
«Und das Wort bleibt unverändert,
Meister. Seine Augen, obwohl verunstaltet durch eine große Wunde, sagen immer
noch: "Es ist dir nicht erlaubt." Doch wir haben ihn verloren!» sagt Matthias.
«Jetzt gehören wir dir, denn so
hat er gesagt und uns auch versichert, daß du es schon weißt.»
«Ja! Seit Monaten schon gehört
ihr mir. Wie seid ihr gekommen?»
«Zu Fuß, in Etappen. Ein langer,
beschwerlicher Weg war es auf heißem Sand, unter glühender Sonne und von
Schmerz gequält. Ungefähr zwanzig Tage sind wir unterwegs gewesen...»
«Jetzt werdet ihr euch ausruhen!»
Manaen fragt: «Sagt mir, war
Herodes nicht erstaunt über meine Abwesenheit ?»
«Ja. Zuerst war er beunruhigt,
dann wurde er wütend. Aber nachdem der Wutanfall vorüber war, sagte er: "Ein
Richter weniger!" So hat es uns der befreundete Mundschenk berichtet.»
Jesus fügt hinzu: «Ein Richter
weniger! Er hat Gott als Richter und das genügt. Kommt hierher, wo wir
schlafen. Ihr seid müde und mit Staub bedeckt. Ihr werdet hier Kleider und
Sandalen eurer Gefährten finden. Nehmt sie und erfrischt euch. Was dem einen
gehört, gehört allen. Du, Matthias, der du groß bist, kannst eines von meinen
Kleidern nehmen. Dann werden wir sehen. Gegen Abend, denn es ist der Vorabend
des Sabbats, werden meine Apostel zurückkommen. In der nächsten Woche wird
Isaak mit den Jüngern kommen, und dann werden auch Benjamin und Daniel, und
nach dem Laubhüttenfest sogar Elias, Joseph und Levi hier sein. Es ist Zeit,
daß sich zu den Zwölfen noch andere gesellen. Geht nun und ruht euch aus!»
Manaen begleitet sie und kehrt
dann zurück. Jesus bleibt zusammen mit Manaen. Er setzt sich nachdenklich
nieder, sichtlich traurig, und stützt sein Haupt mit der Hand und den Ellbogen
auf das Knie. Manaen sitzt am Tisch und rührt sich nicht. Doch er macht ein
finsteres Gesicht.
Nach geraumer Zeit hebt Jesus das
Haupt, schaut ihn an und fragt: «Und du? Was willst du jetzt tun?»
«Ich weiß es noch nicht... Es
gibt keinen Grund mehr, in Machaerus zu
131
bleiben. Doch möchte ich noch am
Hof bleiben, um zu erfahren... und um dich durch mein Wissen beschützen zu
können.»
«Es wäre besser für dich, wenn du
mir ohne Verzögerung folgen würdest. Aber ich zwinge dich nicht. Du wirst
kommen, wenn der alte Manaen sich ganz aufgelöst haben wird.»
«Ich möchte auch dieser Frau den
Kopf entreißen... Sie ist nicht wert, ihn zu besitzen ...»
Jesus sagt mit einem leichten
Anflug von Lächeln trocken: «So bist du also noch nicht dem menschlichen
Reichtum abgestorben. Aber du bist mir trotzdem teuer. Ich weiß, daß ich dich
nicht verliere, selbst wenn ich warte. Und ich kann warten ...»
«Meister, ich möchte dir meine
Hochherzigkeit schenken, um dich zu trösten; denn du leidest, ich sehe es!»
«Das ist wahr! Ich leide. Sehr
sogar! Sehr... !»
«Nur wegen Johannes? Das glaube
ich nicht. Du weißt ihn im Frieden.»
«Ich weiß ihn im Frieden und
fühle ihn nahe!»
«Was ist es dann?»
«Was dann? ... Manaen, wem geht
die Morgendämmerung voraus?»
«Dem Tag, Meister! Warum fragst
du das?»
«Weil der Tod des Johannes dem
Tag vorausgeht, an dem ich der Erlöser sein werde. Und das Menschliche in mir
zittert bei diesem Gedanken... Manaen, ich steige auf den Berg. Bleib du hier.
Empfange die Ankommenden und hilf denen, die schon da sind. Bleibe bis zu
meiner Rückkehr. Dann kannst du tun, was du willst. Leb wohl!»
Jesus geht aus dem Saal. Er geht
langsam die Treppe hinunter und durch den Garten und verschwindet auf einem
kleinen Pfad zwischen zerzausten Gärten und Olivenhainen, Apfelbäumen,
Weinstöcken und Feigenbäumen. Er steigt den Hang eines kleinen Hügels hinauf;
und ich sehe ihn nicht mehr.
313. «GEHEN WIR NACH TARICHÄA»
Es ist schon Nacht, als Jesus ins
Haus zurückkehrt. Er betritt es, ohne im Garten ein Geräusch zu machen, und
blickt in die dunkle Küche, die aber leer ist. Dann schaut er in die beiden
Räume, wo Matten und Betten sind. Auch sie sind leer. Nur die gewechselten
Kleider, die auf einem Haufen liegen, besagen, daß die Apostel zurück sind.
Das Haus scheint unbewohnt zu sein, so ruhig ist es.
Jesus steigt, ohne das geringste
Geräusch zu verursachen, in der Helle des Vollmondes die Stufen hinauf und
gelangt auf die Terrasse. Er
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überquert sie und gleicht einem
Gespenst, das sich lautlos bewegt. Ein leuchtendes Gespenst. Im bleichen Weiß
des Mondlichtes wirkt er schmaler und noch größer. Er hebt den Vorhang, der
vor der Türe des oberen Raumes hängt. Drinnen sitzen in Gruppen oder einzeln
die Apostel mit den Jüngern des Johannes und Manaen; Margziam ist, das Haupt
auf den Knien des Petrus, eingeschlafen. Der Mond hat es sich zur Aufgabe
gemacht, den Raum zu erleuchten; sein phosphoreszierendes Licht flutet durch
die offenen Fenster herein. Niemand spricht. Und niemand schläft, mit Ausnahme
des Knaben, der auf einer Strohmatte sitzt.
Jesus tritt leise ein; der erste,
der ihn bemerkt, ist Thomas. «Oh, Meister!» sagt er und springt auf.
Die anderen schütteln sich alle.
Petrus versucht ungestüm aufzuspringen; doch er erinnert sich des Knaben,
erhebt sich sanft, legt den braunen Kopf Margziams auf seinen Sitz und kommt
als letzter zu Jesus, während der Meister, mit der müden Stimme eines
Menschen, der viel gelitten hat, Johannes, Jakobus und Andreas antwortet, die
ihm ihren Schmerz mitteilen.
«Ich verstehe es. Aber nur wer
nicht glaubt, ist über einen Tod untröstlich. Nicht wir, die wir wissen und
glauben, daß Johannes nicht mehr von uns getrennt ist. Früher war er von uns
getrennt: entweder er von mir oder ich von ihm. Jetzt nicht mehr! Wo er ist,
da bin ich. Und wo ich bin, ist auch er.»
Petrus streckt seinen grauen Kopf
zwischen den jugendlichen Köpfen nach vorne, und Jesus sieht ihn. «Hast auch
du geweint, Simon des Jonas?»Petrus antwortet mit einer noch rauheren Stimme
als sonst: «Ja, Herr! Denn auch ich habe zu Johannes gehört... Und dann...
Und... wenn ich bedenke, daß ich mich am Tag vor dem letzten Sabbat geärgert
habe, weil ich meinte, daß die Anwesenheit der Pharisäer uns den Sabbat
verbittern würde! Dieser Sabbat aber ist wahrhaft bitter! Ich habe den Knaben
mitgebracht... um einen noch schöneren Sabbat zu haben... Und nun...»
«Laß dich nicht entmutigen, Simon
des Jonas. Johannes ist nicht verloren. Ich sage es auch dir. Dafür haben wir
drei Jünger, die gut ausgebildet sind. Wo ist der Knabe?»
«Dort, Meister! Er schläft.»
«Laß ihn schlafen», sagt Jesus
und beugt sich über das dunkle Köpfchen. Dann fragt er: «Habt ihr schon zu
Abend gegessen?»
«Nein, Meister. Wir haben auf
dich gewartet und waren in Sorge wegen der Verspätung, da wir nicht wußten, wo
wir dich suchen sollten; es schien uns, als hätten wir auch dich verloren.»
«Wir haben noch Zeit, beisammen
zu sein. Auf, bereitet das Abendessen, denn nachher gehen wir anderswo hin.
Ich habe das Bedürfnis, mich mit meinen Freunden zurückzuziehen; hier wären
wir immer von Menschen umgeben.»
133
«Ich schwöre dir, ich würde sie
nicht ertragen; besonders diese Schlangen von pharisäischen Seelen. Und es
könnte etwas passieren, wenn in der Synagoge ein spöttisches Lächeln über uns
um ihren Mund spielen sollte!»
«Gut, Simon! ... Ich habe auch
das eingerechnet. Daher bin ich gekommen, um euch mit mir zu nehmen.»
Im Schein der auf beiden Seiten
des Tisches angezündeten Lämpchen kann man die Veränderungen der Gesichtszüge
besser erkennen.
Nur Jesus ist von einer
feierlichen Majestät, und Margziam lächelt im Schlaf.
«Das Kind hat schon vorher
gegessen», erklärt Simon.
«So lasse es schlafen», sagt
Jesus.
Inmitten der Seinen opfert er die
kargen Speisen auf und verteilt sie an die Anwesenden, die sie lustlos
verzehren. Das Abendessen ist bald beendet.
«Sagt mir nun, was ihr getan habt
...» ermuntert sie Jesus.
«Ich bin mit Philippus im Gebiet
von Bethsaida gewesen. Wir haben deine Botschaft verkündet und ein krankes
Kind gepflegt», sagt Petrus.
«Eigentlich war es Petrus, der es
geheilt hat», sagt Philippus, der nicht für etwas gelobt werden möchte, was er
nicht getan hat.
«Oh, Herr, ich weiß nicht, wie
ich es gemacht habe. Ich habe viel gebetet, mit meinem ganzen Herzen, denn ich
hatte Mitleid mit dem kranken Kind. Dann salbte ich es mit Öl und rieb es mit
meinen rauhen Händen ein... und es wurde gesund. Als ich sah, daß seine
Gesichtsfarbe wiederkehrte und es die Augen öffnete, also wieder auflebte,
bekam ich fast Angst.»
Jesus legt ihm wortlos die Hand
aufs Haupt.
«Johannes hat die Leute in
Staunen versetzt, als er einen Dämon ausgetrieben hat. Aber das Reden war dann
meine Sache», sagt Thomas.
«Auch dein Bruder Judas hat
dasselbe getan», sagt Matthäus.
«Ebenso auch Andreas», fügt
Jakobus des Alphäus bei.
«Simon der Zelote hingegen heilte
einen Aussätzigen. Oh, er hatte keine Angst, ihn zu berühren! Und zu mir sagte
er dann: "Aber habe doch keine Angst. Der Wille Gottes hält alle körperlichen
Übel von uns fern"», berichtet Bartholomäus.
«Das hast du gut gesagt, Simon!
Und ihr beiden?» fragt Jesus Jakobus des Zebedäus und Iskariot, die ein wenig
abseits stehen, der erste mit den drei Jüngern des Johannes redend, der andere
allein und verdrossen.
«Oh, ich habe nichts getan», sagt
Jakobus. «Aber Judas hat drei mächtige Wunder gewirkt: einen Blinden, einen
Lahmen und einen Besessenen hat er geheilt; mir schien, daß es ein Verrückter
war. Aber die Leute sagten so...»
«Und du stehst da mit einem
solchen Gesicht, obwohl dir Gott so geholfen hat?» sagt Petrus.
134
«Auch ich kann demütig sein»,
antwortet Iskariot.
«Daraufhin sind wir von einem
Pharisäer eingeladen worden. Ich habe mich nicht wohl gefühlt. Aber Judas weiß
besser mit ihnen umzugehen und hat ihn wahrhaftig bezähmt. Am ersten Tag war
er zurückhaltend, aber dann... nicht wahr, Judas?»
Judas nickt, ohne ein Wort zu
sagen.
«Sehr gut! Ihr werdet es immer
besser machen. Nächste Woche werden wir beisammen bleiben. Nun... Simon, geh
und bereite die Boote vor! Auch du, Jakobus!»
«Für alle, Meister? Wir haben
nicht alle Platz.»
«Kannst du nicht noch eines
bekommen?»
«Ich werde meinen Schwager darum
bitten. Einverstanden? Ich gehe.»
«Geh, und sobald du fertig bist,
komm zurück. Gib nicht viele Erklärungen.»
Die vier Fischer brechen auf. Die
anderen steigen hinunter, um ihre Reisesäcke und Mäntel zu holen. Manaen
bleibt bei Jesus. Das Kind schläft ruhig weiter.
«Meister, gehst du weit fort?»
«Ich weiß es noch nicht... Sie
sind müde und betrübt. Ich auch... Ich habe vor, nach Tarichäa auf die Felder
zu gehen, um mich in Frieden zurückzuziehen...»
«Ich habe das Pferd, Meister.
Wenn du erlaubst, werde ich dir dem Ufer entlang folgen. Wirst du lange dort
bleiben?»
«Vielleicht die ganze Woche, aber
nicht länger.»
«Dann werde ich kommen, Meister.
Segne mich bei diesem ersten Abschied. Und nimm mir eine Last vom Herzen.»
«Welche, Manaen?»
«Ich mache mir Vorwürfe, weil ich
Johannes alleingelassen habe. Wenn ich dort gewesen wäre, vielleicht...»
«Nein! Es war seine Stunde! Er
hat sich gewiß gefreut, als er gesehen hat, daß du zu mir gekommen bist.
Belaste dich nicht damit. Versuche im Gegenteil, dich rasch und gut von der
einzigen Last, die du noch hast, zu befreien: dem Vergnügen, ein Mensch zu
sein. Werde Seele, Manaen! Du kannst es. Du hast die Fähigkeit, es zu sein.
Leb wohl, Manaen! Mein Friede sei mit dir! Wir werden uns bald in Judäa
wiedersehen.»
Manaen kniet nieder, und Jesus
segnet ihn. Dann hilft er ihm auf und küßt ihn.
Die anderen kommen wieder herein
und nehmen von ihm Abschied, sowohl die Apostel als auch die Jünger des
Johannes. Darauf erscheinen die Fischer: «Es ist soweit, Meister, wir können
gehen.»
«Gut. Verabschiedet euch von
Manaen, der bis morgen abend hier bleibt. Nehmt die Lebensmittel und Wasser;
dann wollen wir gehen. Macht wenig Lärm.»
135
Petrus beugt sich nieder, um
Margziam zu wecken.
«Nein, laß ihn. Er könnte weinen.
Ich werde ihn auf den Arm nehmen», sagt Jesus und hebt das Kind sanft auf, das
ein wenig jammert, sich aber dann instinktiv in den Armen Jesu zurechtlegt.
Sie löschen die Lampen und gehen
hinaus. Nachdem sie die Türe verschlossen haben, steigen alle hinunter. Am
Ende des Gartens verabschieden sie sich nochmals von Manaen, und dann begeben
sie sich, einer hinter dem anderen, auf der mondhellen Straße zum See: einem
riesigen silbernen Spiegel unter dem im Zenit stehenden Mond. Wie drei rote
Tropfen auf dem ruhigen Spiegel leuchten die drei Fackeln der Boote, die schon
im Wasser sind. Sie verteilen sich auf diese, und zuletzt steigen auch die
Fischer ein. Petrus und ein Bursche in das Boot Jesu, Johannes und Andreas in
das zweite Boot, Jakobus und ein anderer Junge in das dritte.
«Wohin, Meister?» fragt Petrus.
«Nach Tarichäa. Dort, wo wir nach
dem Wunder bei den Gerasenern gelandet sind. Jetzt wird es nicht sumpfig sein.
Eine große Ruhe wird dort herrschen.»
Petrus fährt hinaus, und die
anderen folgen ihm mit ihren Booten. Keiner spricht. Erst als sie auf dem See
sind und Kapharnaum im Schein des Mondes, der alles mit seinem Silberstaub
überschüttet, entschwindet, sagt Petrus, als spräche er mit seinem
Steuerruder: «Gefällt mir. Morgen werden sie uns suchen, alte Barke, und dir
haben wir es zu verdanken, wenn sie uns nicht finden.»
«Mit wem redest du, Simon?» fragt
Bartholomäus.
«Mit der Barke. Weißt du denn
nicht, daß sie für die Fischer wie eine Braut ist? Wie viel habe ich schon mit
ihr gesprochen! Mehr als mit Porphyria. Meister! ... Ist das Kind gut
zugedeckt? Es ist feucht auf dem See bei Nacht...»
«Ja! Höre Simon! Komm her, ich
muß mit dir reden...»
Petrus überläßt das Steuer dem
Schiffsjungen und geht zu Jesus.
«Ich habe Tarichäa gesagt. Doch
es genügt, wenn wir nach dem Sabbat dort sind, um Manaen wieder begrüßen zu
können. Kennst du einen Platz in der Nähe, wo wir in Frieden sein könnten?»
«Oh, Meister! In Frieden? Wir
oder auch die Boote? Für diese braucht es Tarichäa oder Häfen am anderen Ufer.
Aber wenn es für uns sein soll, dann genügt es, wenn du dich in die Wildnis
jenseits des Jordan begibst, wo nur die Tiere dich aufspüren können... oder
vielleicht der eine oder andere Fischer, der die Netze bewacht. Wir können die
Boote in Tarichäa lassen. Wir werden in der Morgendämmerung dort ankommen und
rasch die Furt durchqueren. Um diese Zeit ist es sehr leicht.»
«Gut, so werden wir es machen...»
«Ekelt dich die Welt auch an?
Ziehst du die Fische und die Mücken vor? Du hast recht!»
136
«Ich empfinde keinen Ekel. Man
darf keinen empfinden. Aber ich will verhindern, daß ihr Ärgernis erregt, und
will mich in diesen Stunden des Sabbats mit euch trösten.»
«Mein Meister... !» Petrus küßt
ihn auf die Stirne und geht davon, indem er sich eine dicke Träne abwischt,
die gerade hervorquillt und in den Bart rinnen will. Er geht zu seinem Steuer
zurück und lenkt das Boot nach Süden, während das Mondlicht abnimmt und der
Mond schließlich hinter einem Hügel verschwindet. Doch, obgleich er sein
großes Gesicht vor den Augen der Menschen verbirgt, erhellt er immer noch den
Himmel und den östlichen Strand. Der Rest ist dunkelblau und kaum erkennbar im
Schein der Fackel am Bug.
314. UNTERREDUNG MIT EINEM
SCHRIFTGELEHRTEN
Als Jesus seinen Fuß auf das
rechte Ufer des Jordan setzt, eine gute Meile, vielleicht etwas mehr von der
kleinen Halbinsel Tarichäa entfernt, dort wo schöne grüne Äcker liegen, weil
die Erde in der Tiefe feucht ist und so auch die empfindlichsten Pflanzen am
Leben erhält, findet er viel Volk vor, das ihn erwartet.
Die Vettern kommen ihm mit Simon
dem Zeloten entgegen: «Meister, die Boote haben uns angekündigt... Vielleicht
ist auch Manaen für sie zum Wegweiser geworden...»
«Meister», entschuldigt sich
Manaen. «Ich bin in der Nacht abgereist, um nicht gesehen zu werden, und habe
mit niemandem gesprochen. Glaube es mir! Viele haben mich gefragt, wo du
hingegangen bist. Aber ich habe allen nur gesagt: "Er ist abgereist." Doch ich
glaube, ein Fischer hat den Schaden angerichtet, als er sagte, er habe dir ein
Boot gegeben...»
«Dieser Dummkopf von einem
Schwager!» ruft Petrus aus. «Ich habe ihm doch gesagt, daß er nichts verraten
darf! Ich habe ihm auch gesagt, daß wir nach Bethsaida gehen und ihm den Bart
ausreißen würden, wenn er etwas verrät. Ich werde es tun! Oh, ich werde es
tun! Und jetzt? Lebt wohl, Friede, Abgeschiedenheit und Ruhe!»
«Beruhige dich, Simon. Wir haben
ja schon unsere friedlichen Tage gehabt. Übrigens habe ich bereits das Ziel,
den ich verfolge, teilweise erreicht: euch zu belehren, zu trösten und zu
beruhigen, um Beleidigungen und Reibereien zwischen euch und den Pharisäern
von Kapharnaum zu vermeiden. Jetzt gehen wir zu denen, die auf uns warten, um
ihren Glauben und ihre Liebe zu belohnen. Ist diese Liebe nicht auch etwas,
was uns erhebt? Wir leiden unter dem Haß. Hier ist Liebe, darum ist es
Freude!»
Petrus beruhigt sich wie ein
Wind, der schlagartig aufhört zu blasen,
137
und Jesus geht zu der Menge der
Kranken, die ihn mit sehnsuchtsvollen Gesichtern erwarten; er heilt einen nach
dem anderen, gütig und geduldig auch einem Schriftgelehrten gegenüber, der ihm
sein krankes Kind vorstellt.
Dieser Schriftgelehrte sagt ihm:
«Siehst du? Du fliehst. Aber es ist unnütz. Haß und Liebe sind klug im finden.
Hier hat dich die Liebe gefunden, wie es im Hohenlied geschrieben steht. Du
bist ja schon für viele wie der Bräutigam des Hohenliedes. Und man kommt zu
dir, wie Sulamith dem Bräutigam trotz der Runden der Wächter und der
Viergespanne des Amminadab entgegengeht.»
«Warum sagst du das? Warum?»
«Weil es wahr ist! Es ist
gefahrvoll, zu dir zu kommen, denn du bist verhaßt. Weißt du denn nicht, daß
du in der Gunst Roms stehst, und der Tempel dich haßt?»
«Warum versuchst du mich, Mann!
Du legst Arglist in deine Worte, um dem Tempel und Rom meine Antworten zu
bringen. Ich habe deinen Sohn nicht aus Arglist geheilt...»
Der Schriftgelehrte neigt, durch
den sanften Vorwurf verwirrt, das Haupt und bekennt: «Ich sehe, daß du
wirklich die Herzen der Menschen kennst. Verzeih... Ich sehe, daß du wirklich
heilig bist. Verzeih! Ich bin hierher gekommen, um in mir die Hefe gären zu
lassen, die andere in mich gestreut haben...»
«Und die in dir die geeignete
Wärme gefunden hat, um aufzugehen.»
«Ja, das ist wahr... Aber jetzt
gehe ich ohne Hefe im Herzen weg. Oder besser gesagt, mit einer neuen Hefe.»
«Ich weiß es. Ich trage dir
nichts nach. Viele sind durch eigenen Willen schuldig, viele durch den Willen
anderer. Und der gerechte Richter wird verschiedene Maßstäbe anlegen, wenn er
über sie urteilen wird. Du, Schriftgelehrter, sei gerecht und verführe in
Zukunft nicht, wie du verführt worden bist. Wenn die Welt Druck auf dich
ausübt, dann betrachte die lebendige Gnade, die dein Sohn ist, der vom Tod
errettet wurde, und sei Gott dankbar!»
«Dir!»
«Gott! Ihm gebührt alle Ehre und
Preis. Ich bin sein Messias und lobe und preise ihn als erster. Ich gehorche
ihm als erster. Denn der Mensch erniedrigt sich nicht, wenn er Gott in
Wahrheit verehrt, aber er entwürdigt sich, wenn er der Sünde dient.»
«Du sagst es gut. Sprichst du
immer so? Für alle?»
«Für alle! Ob ich zu Annas, zu
Gamaliel oder zu einem bettelnden Aussätzigen auf einer Bahre rede, die Worte
sind immer dieselben, weil es nur eine Wahrheit gibt.»
«Rede also, da wir alle hier
sind, um ein Wort oder eine Gunst von dir zu erbitten.»
138
«Ich werde reden. Damit man nicht
sagen kann, daß ich voreingenommen bin gegen den, der ehrlich in seinen
Überzeugungen ist.»
«Die ich gehabt habe, sind schon
dahin. Aber es ist wahr, ich war ehrlich in ihnen. Ich glaubte, Gott einen
Dienst zu erweisen, als ich dich bekämpfte.»
«Du bist aufrichtig. Und deshalb
verdienst du, Gott zu verstehen, der niemals Lüge ist. Doch deine
Überzeugungen sind noch nicht gestorben, ich sage es dir. Nur oberflächlich
gesehen scheinen sie abgestorben zu sein; denn sie sind wie verbranntes
Unkraut, dessen Wurzeln noch leben und vom Erdreich genährt werden. Der Tau
lädt sie ein, neue Triebe zu bilden und diese wiederum, neue Blätter. Du mußt
darüber wachen, daß dies nicht geschieht, sonst wirst du aufs neue vom Unkraut
überwuchert. Israel stirbt sehr schwer.»
«Muß Israel also sterben? Ist es
eine schlechte Pflanze?»
«Es muß sterben, um auferstehen
zu können.»
«Ein geistige Reinkarnation?»
«Eine geistige Entfaltung! Es
gibt keine Reinkarnationen, bei keiner Art.»
«Manche glauben aber daran.»
«Sie sind im Irrtum!»
«Der Hellenismus hat auch in uns
einen solchen Glauben aufkommen lassen. Die Gelehrten weiden sich daran und
rühmen sich seiner wie einer vornehmen Speise.»
«Es handelt sich um den absurden
Widerspruch derer, die den Fluch über jeden aussprechen, der eine der
sechshundertdreizehn kleinen Vorschriften übertreten hat.»
«Das ist wahr. Aber... so ist es.
Man macht gerne nach, was man doch im Grunde haßt.»
«Dann ahmt mich nach, da ihr mich
haßt. Es wird besser für euch sein.»
Der Schriftgelehrte muß
notgedrungen über diese Folgerung Jesu lachen. Das Volk steht mit offenem Mund
da und hört zu, und die entfernter Stehenden lassen sich von ihren Nachbarn
die Worte der beiden wiederholen.
«Aber im Vertrauen gesagt, was
hältst du von der Reinkarnation?»
«Ich habe dir schon gesagt, daß
es ein Irrtum ist.»
«Manche behaupten, daß die
Lebenden aus den Toten hervorgehen und die Toten aus den Lebenden, denn das,
was ist, kann nicht vernichtet werden.»
«Was ewig ist, kann nicht
vernichtet werden, das ist wahr. Aber sage mir, glaubst du, daß dem Schöpfer
selbst Grenzen gesetzt sind .»
«Nein, Meister! Dies anzunehmen
hieße, ihn herabsetzen.»
«Du sagst es. Und kann man sich
dann vorstellen, daß er die Reinkarnation des Geistes erlaubt, weil er nur
eine beschränkte Anzahl von Seelen zur Verfügung hat?»
139
«Das kann man nicht annehmen. Und
doch gibt es Leute, die so denken.»
«Und was noch schlimmer ist: so
denkt man auch in Israel. Dieser Gedanke einer Unsterblichkeit des Geistes,
der schon bei einem Heiden groß ist, auch wenn er mit dem Irrtum eines
ungerechten Werturteils über die Art dieser Unsterblichkeit verbunden ist,
sollte bei den Israeliten vollkommen sein. Wer ihn jedoch im heidnischen Sinn
auslegt, macht einen geschmälerten, erniedrigenden, schuldhaften Gedanken
daraus. Er erniedrigt den Gedanken, der sich als bewundernswürdig erweist,
wenn er beim Heiden von sich aus der Wahrheit nahekommt und damit die
Zusammensetzung der menschlichen Natur bestätigt, in der Ahnung eines
unvergänglichen Lebens, des geheimnisvollen Dings, das den Namen Seele trägt
und uns von den Tieren unterscheidet. Es ist eine Erniedrigung des Gedankens,
wenn einer die göttliche Weisheit und den wahren Gott kennt und doch in einer
so hohen geistigen Angelegenheit Materialist wird. Der Geist wandert nur vom
Schöpfer zum Geschöpf und vom Geschöpf zum Schöpfer, zu dem er nach dem Leben
zurückkehrt, um von ihm das Urteil über Leben und Tod zu empfangen. Und dort,
wo er hingesandt wird, bleibt er ewig. Das ist die Wahrheit!»
«Läßt du das Fegfeuer nicht
gelten?»
«Doch. Warum fragst du das?»
«Weil du sagst: "Wohin er gesandt
wird, da bleibt er." Der Aufenthalt im Fegfeuer aber ist zeitlich begrenzt.»
«Es gehört in meinen Gedanken
schon zum ewigen Leben. Das Fegfeuer ist schon "Leben"! Ohnmächtig, gebunden,
aber immerhin Leben. Nach Beendigung des zeitweiligen Aufenthaltes im Fegfeuer
erlangt der Geist das vollkommene Leben; er erreicht es ohne Schranken und
Bande. Zwei Dinge sind es, die bleiben: der Himmel und der Abgrund, das
Paradies und die Hölle. Zwei Arten von Seelen bleiben: die Seligen und die
Verdammten. Doch aus den drei Reichen, die nun bestehen, kehrt kein Geist mehr
zurück, um Fleisch anzunehmen. Und das bis zur endgültigen Auferstehung, die
für immer die Umkleidung der Geister mit dem Fleisch, des Unsterblichen mit
dem Sterblichen, abschließen wird.»
«Des Ewigen, nicht wahr?»
«Ewig ist Gott. Ewig sein heißt,
weder Anfang noch Ende haben. Und so ist nur Gott. Die Unsterblichkeit ist
eine unendliche Fortsetzung des Lebens von dem Augenblick an, da es begonnen
hat. Und so ist es mit dem Geist des Menschen. Das ist der Unterschied.»
«Du sagst aber: "Ewiges Leben".»
«Ja. Sobald einer ins Leben
gerufen worden ist, kann er durch den Geist, die Gnade und den Willen das
ewige Leben erlangen. Nicht die Ewigkeit. Das Leben setzt Anfang voraus. Man
sagt nicht: "Das Leben Gottes", denn Gott hat keinen Anfang gehabt.»
140
«Und du?»
«Ich werde leben, weil ich auch
Fleisch bin und die Seele des Christus im menschlichen Fleisch mit dem
göttlichen Geist vereint habe.»
«Gott heißt "der Lebendige".»
«Tatsächlich kennt er den Tod
nicht. Er ist Leben. Unerschöpfliches Leben. Nicht Leben Gottes! Aber Leben!
Nur das! Es sind Feinheiten, o Schriftgelehrter! Aber Weisheit und Wahrheit
kleiden sich in Feinheiten.»
«Sprichst du so zu den Heiden?»
«Nein! Sie würden es nicht
verstehen. Ich zeige ihnen die Sonne. Aber so, wie ich sie einem Kind zeigen
würde, das bis dahin blind und töricht gewesen und nun auf wunderbare Weise
sehend und klug geworden ist. Die Sonne als Gestirn, ohne auf ihr Wesen
einzugehen. Aber ihr von Israel seid weder blind noch töricht. Seit
Jahrhunderten hat der Finger Gottes euch die Augen geöffnet und den Geist
geklärt...»
«Das ist wahr, Meister. Und doch
sind wir blind und töricht.»
«Ihr habt euch selbst so gemacht
und wollt das Wunder dessen nicht, der euch liebt.»
«Meister...»
«Das ist Wahrheit,
Schriftgelehrter!»
Dieser senkt das Haupt und
schweigt. Jesus läßt ihn stehen und geht weiter, und im Vorübergehen liebkost
er Margziam und das Söhnchen des Schriftgelehrten, die zusammen mit bunten
Steinchen spielen. Was folgt, die Unterhaltung mit dieser oder jener Gruppe,
ist mehr als eine Predigt. Und doch ist es eine ununterbrochene Predigt, denn
sie hebt jeden Zweifel auf, klärt jeden Gedanken, faßt zusammen oder erweitert
das schon Gesagte und setzt sich mit den verschiedenen Anschauungen
auseinander.
Und so gehen die Stunden dahin...
315. DIE ERSTE BROTVERMEHRUNG
Am selben Ort wie tags zuvor. Nur
dringt die Sonne nicht mehr von Osten her durch die Waldung, welche die Ufer
des Jordan an dieser verwilderten Stelle beim Ausfluß des Seewassers in das
Flußbett säumt, sondern sie sendet von Westen her ihre letzte roten Strahlen
über den Himmel. Unter diesem dichten Blätterwerk ist das Licht stark gedämpft
und neigt schon zu den friedlichen Tönungen des Abends. Die Vögel sind wie
trunken von der Sonne, die sie im Lauf des Tages genossen, und der reichlichen
Nahrung, die sie auf den umliegenden Feldern gefunden haben; sie zwitschern
und singen aus voller Kehle auf den Wipfeln der Bäume. Der Abend sinkt
hernieder, während der Tag sich mit seiner letzten Pracht schmückt. Die
Apostel machen Jesus, der immer noch
141
unterweist und die ihm gestellten
Fragen beantwortet, darauf aufmerksam.
«Meister, der Abend nähert sich.
Der Ort ist einsam, fern von Häusern und Dörfern, dunkel und feucht. Bald wird
man sich hier nicht mehr sehen und nicht einmal mehr gehen können. Der Mond
geht spät auf. Entlasse die Menschen, damit sie nach Tarichäa oder in die
Dörfer am Jordan gehen und sich Nahrung kaufen und ein Obdach suchen können.»
«Es ist nicht nötig, daß sie
weggehen. Gebt ihr ihnen zu essen. Sie können hier schlafen, wie sie hier
geschlafen haben, als sie auf mich warteten.»
«Wir haben nur noch fünf Brote
und zwei Fische, Meister. Du weißt es.»
«Bringt sie mir!»
«Andreas, geh und suche den
Knaben. Er hat die Aufsicht über die Tasche. Soeben war er noch mit dem Sohn
des Schriftgelehrten und zwei anderen Knaben zusammen; sie haben sich
Blumenkränze gemacht, weil sie König spielen.»
Andreas geht rasch weg. Auch
Johannes und Philippus suchen Margziam in der Menge, die ständig in Bewegung
ist. Sie finden ihn fast gleichzeitig, mit dem Sack mit den Lebensmitteln auf
dem Rücken, einem blühenden Zweig um den Kopf und einem Gürtel von Waldreben,
von dem als Schwert ein Schilfrohr herabhängt. Bei ihm sind sieben weitere,
ebenso aufgeputzte Kinder. Sie bilden das Gefolge des Sohnes des
Schriftgelehrten, eines sehr zarten Knaben mit ernstem Blick, der viel
gelitten haben muß. Er ist reichlicher geschmückt als die anderen und spielt
den König.
«Komm, Margziam, der Meister will
dich haben!»
Margziam läßt die Freunde stehen
und eilt weg, ohne seine blumigen Ehrenzeichen abzulegen. Aber die anderen
folgen ihm, und bald darauf ist Jesus von einer kleinen Gruppe
blumengeschmückter Knaben umgeben. Er liebkost sie, während Philippus aus dem
Sack ein Bündel mit dem Brot und zwei dicken Fischen holt; etwa zwei Kilo
Fisch. Sie würden nicht einmal für die siebzehn, mit Margziam eigentlich
achtzehn Personen des Gefolges Jesu reichen. Sie bringen Brot und Fisch zu
Jesus.
«Gut! Bringt mir jetzt Körbe.
Siebzehn, so viele ihr seid. Margziam soll an die Kinder Brot und Fisch
austeilen...» Jesus blickt den Schriftgelehrten scharf an, der immer noch in
seiner Nähe steht, und fragt ihn: «Willst auch du unter die Hungrigen Speisen
verteilen?»
«Ich würde es gerne tun, doch ich
habe selbst nichts.»
«Gib von dem Meinen, ich erlaube
es dir.»
«Aber... hast du denn die
Absicht, fünftausend Männer und dazu noch die Frauen und die Kinder mit diesen
zwei Fischen und fünf Broten zu speisen?»
«Ohne Zweifel! Sei nicht
ungläubig! Wer glaubt, sieht, wie das Wunder geschieht!»
142
«Oh, dann möchte ich auch helfen,
die Speisen zu verteilen!»
«So laß dir einen Korb geben.»
Die Apostel kommen mit hohen,
schmalen, niedrigen und breiten Körben zurück. Der Schriftgelehrte bringt
einen ziemlich kleinen Brotkorb. Man sieht, daß sein Glaube oder sein Unglaube
ihn diesen hat aussuchen lassen, da er meint, keinen größeren zu brauchen.
«Gut! Stellt sie alle vor mich
hin. Die Leute sollen sich in Reihen hinsetzen, so gut es geht.»
Während dies geschieht, hebt
Jesus das Brot mit den Fischen darauf zum Himmel, opfert beides auf, betet und
segnet es. Der Schriftgelehrte läßt ihn keinen Moment aus den Augen. Dann
bricht Jesus die fünf Brote in achtzehn Teile, macht auch aus den Fischen
achtzehn Stücklein und legt davon je eines in jeden Korb. Aus den Brotstücken
macht er je zwanzig Brocken, nicht mehr, und legt sie wieder in die Körbe.
«Nun nehmt die Körbe, verteilt,
bis alle satt sind. Geh, Margziam, und teile an deine Spielgefährten aus.»
«Uh, wie schwer er ist!» sagt
Margziam, als er seinen Korb nimmt und damit gleich zu seinen kleinen Freunden
geht. Er geht gebeugt, als sei er schwer beladen.
Die Apostel, die Jünger, Manaen
und der Schriftgelehrte sehen ihm, unsicher geworden, nach... Dann nehmen auch
sie ihre Körbe, blicken sich kopfschüttelnd an und sagen: «Das Kind scherzt!
Sie wiegen nicht mehr als zuvor.»
Der Schriftgelehrte schaut in
seinen Korb und greift mit der Hand hinein; denn es ist bereits dunkel im
Dickicht, in dem Jesus sich befindet, während es auf der Lichtung noch
halbwegs hell ist. Trotz der Bestätigung ihrer Zweifel gehen sie auf das Volk
zu und beginnen auszuteilen. Und sie verteilen, verteilen und verteilen. Ab
und zu wenden sie sich erstaunt um, und blicken auf Jesus, der in immer
größerer Entfernung und mit verschränkten Armen an einem Baum lehnt, während
er über ihr Erstaunen fein lächelt.
Sie verteilen lange und
reichlich... Margziam, der einzige, der nicht verblüfft ist, lacht fröhlich,
während er den Schoß vieler armer Kinder mit Brot und Fischen anfüllt. Er ist
auch der erste, der zu Jesus zurückkommt und sagt: «Ich habe viel, viel, sehr
viel gegeben... denn ich weiß, was Hunger ist... !» Er hebt sein jetzt nicht
mehr mageres Gesichtlein, erbleicht und reißt die Augen auf... Doch Jesus
liebkost ihn, und das Lächeln kehrt wieder auf das Kindergesicht zurück, das
sich vertrauensvoll an Jesus, seinen Lehrer und Beschützer, schmiegt.
Langsam kommen auch die Apostel
und Jünger zurück, stumm vor Staunen. Der letzte ist der Schriftgelehrte, der
auch nichts sagt, aber eine Geste macht, die mehr ausdrückt als eine lange
Rede. Er kniet nieder und küßt den Saum des Gewandes Jesu.
143
«Nehmt euren Teil und gebt auch
mir ein wenig davon. Wir wollen die Speise Gottes essen.»
Sie essen Brot und Fisch, jeder
entsprechend seinem Hunger... Indessen tauschen die gesättigten Menschen ihre
Meinungen aus. Auch jene in der Nähe Jesu getrauen sich nun zu sprechen und
betrachten dabei Margziam, der mit den Kindern lacht und seinen Fisch fertig
ißt.
«Meister», fragt der
Schriftgelehrte, «warum hat das Kind sofort das Gewicht gespürt und wir nicht?
Ich habe auch hineingegriffen. Es waren nur ein paar Brotbrocken und ein
einziges Stücklein Fisch darin. Ich habe die Schwere erst gespürt beim Gang zu
den Leuten. Aber wenn es das Gewicht von dem gehabt hätte, was ich austeilte,
wären zwei Maulesel nötig gewesen, um den Korb, nein, einen mit
Nahrungsmitteln beladenen Wagen zu ziehen. Anfangs war ich sparsam... dann
fing ich an zu geben, zu geben, und um nicht ungerecht zu sein, ging ich zu
den ersten zurück und gab ihnen nochmals; denn sie hatten das erste Mal nur
wenig bekommen. Und doch hat es gereicht.»
«Auch ich habe gespürt, wie der
Korb schwerer wurde, während ich hinging; ich habe sofort viel gegeben, denn
ich verstand, daß du ein Wunder gewirkt hattest», sagt Johannes.
«Ich hingegen habe mich zunächst
hingesetzt und den Korb in den Schoß geleert, um zu sehen... Ich habe viele
Brote gesehen. Da bin ich gegangen», sagt Manaen.
«Ich habe sie gezählt, denn ich
wollte mich nicht blamieren. Es waren fünfzig Brotstückchen. Ich habe mir
gesagt: "Ich will sie an fünfzig Personen austeilen und dann zurückkehren."
Ich habe gezählt. Doch bei fünfzig angekommen, war das Gewicht immer noch das
gleiche. Da habe ich nachgesehen. Es waren immer noch viele darin. So bin ich
gegangen und habe an Hunderte verteilt. Doch es wurden nie weniger», sagt
Bartholomäus.
«Ich, ich muß gestehen, daß ich
nicht geglaubt habe. Ich habe die Brotbrocken und das Fischstück in die Hand
genommen, sie angesehen und bei mir gesagt: "Was soll das? Jesus will einen
Scherz machen... !" Ich stand hinter einem Baum und schaute auf ihn und auf
die Stücklein und hoffte, daß sie sich vermehren würden, und zweifelte
zugleich daran. Aber es blieben immer dieselben. Ich wollte schon
zurückkehren, als Matthäus vorbeikam und sagte: "Hast du gesehen, wie schön
sie sind?" "Was
denn?" habe ich gefragt. "Nun die
Brote und die Fischlein .. Bist du
denn verrückt? Ich sehe nur
Brotbrocken." Geh und teile sie mit Vertrauen aus und du wirst sehen. "Ich
habe die wenigen Brocken in den Korb zurückgelegt und bin zögernd
weitergegangen... Und dann... Verzeih mir, Jesus, denn ich bin ein Sünder!»
sagt Thomas.
«Nein, du bist ein Weltmensch. Du
denkst weltlich.»
«Auch ich, Herr. So sehr, daß ich
dachte, ihnen zum Brot noch ein
144
Geldstück zu geben, damit sie
anderswo essen könnten. Ich glaubte, dir helfen zu können, einen besseren
Eindruck zu machen», sagt Iskariot. «Wie bin ich also – wie Thomas – oder noch
schlimmer?»
«Noch viel mehr als Thomas, du
bist "weltlich".»
«Und doch wollte ich, um des
Himmels willen, Almosen geben! Es war mein eigenes Geld...»
«Almosen für dich selbst und
deinen Hochmut. Und Almosen für Gott. Doch er bedarf ihrer nicht. Almosen für
deinen Hochmut sind Sünde, kein Verdienst.»
Judas neigt das Haupt und
schweigt.
«Ich habe geglaubt, daß ich
diesen Bissen Fisch und diese Bröcklein Brot noch kleiner machen müßte, damit
sie genügen könnten. Aber ich habe nicht daran gezweifelt, daß sie ihrem
Nährwert und ihrer Anzahl nach ausreichen könnten. Ein Tropfen Wasser, von dir
gegeben, kann nahrhafter sein als eine volle Mahlzeit», sagt der Zelote.
«Und was habt ihr gedacht?» fragt
Petrus die Vettern Jesu.
«Wir haben uns an Kana
erinnert... und haben nicht gezweifelt», sagt Judas ernst.
«Und du, Jakobus, mein Bruder,
dachtest du nur daran?»
«Nein! Ich dachte, es könnte
eines der Sakramente sein, von denen du zu mir gesprochen hattest... Ist es
so, oder irre ich mich?»
Jesus lächelt: «Es ist so, und
ist doch nicht so. Mit der Wahrheit vom Nährwert eines Tropfen Wassers, von
der Simon sprach, muß der Gedanke an eine spätere Gestalt verbunden werden.
Doch jetzt ist es noch kein Sakrament.»
Der Schriftgelehrte betrachtet
ein Brotstückchen in seiner Hand.
«Was machst du damit?»
«Ein... Andenken.»
«Auch ich behalte eines. Ich
werde es in einem kleinen Säcklein Margziam an den Hals hängen», sagt Petrus.
«Ich will es meiner Mutter
bringen», sagt Johannes.
«Wir, wir haben alles
aufgegessen...» sagen die anderen beschämt.
«Steht auf! Geht noch einmal mit
den Körben herum und sammelt die Reste ein. Sucht die Ärmsten aus dem Volk
heraus und bringt sie, zusammen mit den Körben, zu mir. Dann geht ihr alle,
ihr, meine Jünger, zu den Booten und fahrt auf den See hinaus, zur Ebene von
Genesareth. Ich will die Leute entlassen, nachdem ich die Ärmsten beschenkt
habe, und euch dann einholen.»
Die Apostel gehorchen... und
kehren mit zwölf gefüllten Körben zurück. Es folgen ihnen etwa dreißig Bettler
oder sehr elende Menschen.
«Gut so. Geht nun.»
Die Apostel und die Jünger des
Johannes verabschieden sich von Manaen und gehen etwas widerstrebend weg, weil
sie Jesus verlassen müssen.
145
Doch sie gehorchen. Manaen wartet
noch mit Jesus, bis die Menge sich im letzten Tageslicht nach den Dörfern
aufmacht oder eine Schlafstätte im hohen trockenen Schilf sucht. Dann nimmt er
Abschied. Vor ihm, ja sogar als einer der ersten, ist der Schriftgelehrte
weggegangen; denn er ist mit seinem Söhnchen den Aposteln gefolgt.
Nachdem alle gegangen oder schon
in Schlaf gesunken sind, erhebt sich Jesus, segnet die Schlafenden, und
langsamen Schrittes geht er zum See auf die Halbinsel von Tarichäa zu, die
sich einige Meter über dem Wasserspiegel erhebt, als wäre sie ein Stück eines
in den See geschobenen Hügels. Und an seinem Fuß angelangt, steigt er, ohne in
die Stadt hineinzugehen, sondern sie umgehend, auf die kleine Erhebung, setzt
sich auf einen spitzen Felsvorsprung nieder und betet im Angesicht des Himmels
und im Schein der klaren Mondnacht.
316. JESUS WANDELT AUF DEM WASSER
Es ist spät am Abend, beinahe
Nacht, denn man sieht kaum etwas auf dem Weg, der sich einem Hügel
emporschlängelt, auf dem vereinzelte Bäume stehen. Es scheinen Olivenbäume zu
sein, doch wegen des schwachen Lichtes kann ich es nicht mit Sicherheit sagen.
Sie sind nicht sehr hoch, dichtbelaubt und gewunden, wie es Ölbäume gewöhnlich
sind.
Jesus ist allein. Er ist
weißgekleidet und trägt einen dunkelblauen Mantel. Er steigt empor und geht
zwischen den Bäumen durch. Er geht mit langem und sicherem Schritt. Nicht
schnell, aber durch die langen Schritte kommt er doch rasch voran, ohne sich
zu beeilen. Schließlich erreicht er einen balkonartigen Vorsprung, von dem aus
man auf den See sieht, der ruhig unter dem Schein der Sterne liegt, die schon
den Himmel mit ihren Lichtaugen bedecken. Die Stille umhüllt Jesus in ihrer
ruhigen Umarmung, läßt ihm das Volk und die Erde aus dem Gedächtnis
entschwinden und verbindet ihn mit dem Himmel, der herabzusteigen scheint, um
das Wort Gottes anzubeten und es mit dem Licht seiner Gestirne zu liebkosen.
Jesus betet in seiner üblichen
Haltung: aufrecht stehend mit ausgebreiteten Armen. Hinter seinem Rücken steht
ein Olivenbaum, an dessen dunklen Stamm er gekreuzigt zu sein scheint. Das
Laubwerk überragt ihn kaum, groß wie er ist, und ersetzt durch ein zu Christus
passendes Wort die Aufschrift am Kreuz. Dort: «König der Juden»; hier: «König
des Friedens.» Der friedliche Olivenbaum sagt dem, der es versteht, das
richtige Wort. Jesus betet lange. Dann setzt er sich auf dem Vorsprung, auf
dem der Baum steht, auf einen Wurzelknoten, und nimmt seine übliche Haltung
ein, mit den gefalteten Händen und den auf den Knien aufgestützten
146
Ellbogen. Er ist in Betrachtung
versunken. Wer weiß, welch göttliches Gespräch er mit dem Vater und dem Geist
in dieser Stunde führt, in der er allein ist und ganz Gott angehören kann.
Gott mit Gott!
Es kommt mir vor, als ob viele
Stunden so vorübergingen, denn ich sehe, daß die Sterne ihre Position
gewechselt haben und viele bereits im Westen untergegangen sind.
Gerade als sich im äußersten
Osten ein schwacher Schein bemerkbar macht, der noch nicht Licht genannt
werden kann, schüttelt ein leichter Windstoß den Olivenbaum. Darauf herrscht
wieder Stille. Bald danach wird der Wind stärker. Die in kurzen Abständen
kommenden Windstöße werden heftiger. Das Licht des Morgengrauens hat Mühe,
sich durch die dunklen Wolkenmassen, die den Himmel bedecken und von immer
stärkeren Windstößen getrieben werden, einen Weg zu bahnen. Auch der See ist
nicht mehr ruhig. Ein Sturm scheint aufzukommen, der sehr dem ähnelt, den ich
schon in der Vision vom Sturm auf dem Meer gesehen habe. Das Rauschen der
Blätter und das Schäumen des Wassers erfüllen nun die Luft, die noch vor
kurzem so ruhig war.
Jesus erwacht aus seiner
Betrachtung. Er erhebt sich und schaut auf den See. Im Licht der letzten
Sterne und des ärmlichen Morgengrauens sucht er etwas und sieht die Barke des
Petrus, die sich mühsam dem gegenüberliegenden Ufer nähern will, es aber nicht
schafft. Jesus hüllt sich fester in seinen Mantel, zieht den Saum, der ihm
beim Abstieg hinderlich wäre, wie eine Kapuze über sein Haupt und eilt, nicht
auf der Straße, sondern auf einem Pfad, direkt zum See hinunter. Er geht so
rasch, daß er zu fliegen scheint.
Am Ufer angelangt, das von den
Wellen gepeitscht wird, die auf dem Kies einen flockigen Schaum bilden,
schreitet er rasch weiter, als ob er nicht auf einem flüssigen Element,
sondern auf dem glattesten und festesten Grund und Boden wandle. Jetzt wird er
Licht. Es scheint, als ob das wenige Licht, das von den verblassenden Sternen
und der stürmischen Dämmerung ausgeht, sich auf ihn konzentriere und sein
schlanker Körper phosphoresziere. Er fliegt auf den Wellen, auf den
schäumenden Wellenkronen und in den dunklen Tälern zwischen Welle und Welle
dahin, mit nach vorn gestreckten Armen und dem sich um sein Antlitz blähenden
Mantel, der wie ein kurzer Flügelschlag flattert, da er eng um den Leib
gezogen ist.
Die Apostel sehen Jesus und
stoßen einen Angstschrei aus, den der Wind zu Jesus trägt.
«Fürchtet euch nicht, ich bin
es!» Die Stimme Jesu dringt mühelos über den See, obwohl Gegenwind herrscht.
«Bist du es wirklich, Meister?»
fragt Petrus. «Wenn du es bist, dann laß mich zu dir kommen und mit dir auf
dem Wasser wandeln.»
Jesus lächelt. «Komm!» sagt er
einfach, als wäre es die einfachste Sache der Welt, auf dem Wasser zu wandeln.
147
Und Petrus, nur mit der kurzen
ärmellosen Tunika bekleidet, springt über Bord und geht Jesus entgegen.
Doch als er ungefähr fünfzig
Meter von der Barke und ebensoweit von Jesus entfernt ist, packt ihn die
Angst. Bis dahin hat ihn sein Liebesimpuls getragen. Nun überkommt ihn das
Menschliche,... und er fürchtet für sein Leben. Wie einer, der sich auf
schlüpfrigem Boden oder vielmehr auf Treibsand befindet, beginnt er zu wanken,
zu gestikulieren und unterzugehen. Und je mehr er gestikuliert und sich
fürchtet, um so mehr sinkt er ein.
Jesus ist stehengeblieben und
schaut auf ihn. Ernst und erwartungsvoll. Aber er streckt nicht einmal seine
Hände aus. Er hat vielmehr die Arme vor der Brust verschränkt, sagt kein Wort
und macht keinen Schritt.
Petrus sinkt ein. Die Knöchel,
die Waden, die Knie verschwinden. Das Wasser reicht ihm schon bis an die
Lenden und ist bald beim Gürtel angelangt. Ein großer Schrecken zeichnet sein
Gesicht. Ein Schrecken, der auch seine Gedanken lähmt. Er ist nur noch ein
Mensch, der fürchtet, ertrinken zu müssen. Er denkt nicht einmal daran, daß er
schwimmen kann. Er ist vor Furcht betäubt.
Endlich blickt er auf Jesus.
Dieser Blick genügt, um ihn begreifen zu lassen, wo die Rettung zu suchen ist:
«Meister, Herr, rette mich!»
Jesus löst die Arme und wie von
Wind oder Wellen getragen, eilt er auf den Apostel zu, streckt ihm die Hand
entgegen und sagt: «Oh, was bist du für ein kleingläubiger Mensch! Warum hast
du an mir gezweifelt? Warum hast du es allein schaffen wollen?»
Petrus, der sich krampfhaft an
der Hand Jesu festhält, antwortet nicht. Er schaut ihn nur mit einem Gemisch
aus einem Rest von Furcht und aufkommender Reue an, um zu sehen, ob er erzürnt
ist.
Doch Jesus lächelt und hält ihn
am Handgelenk fest, bis sie das Boot erreicht haben und eingestiegen sind.
Dann befiehlt er: «Geht ans Ufer. Dieser hier ist ganz durchnäßt.» Und er
betrachtet lächelnd den gedemütigten Apostel.
Die Wellen glätten sich und
erleichtern die Landung, und die Stadt, die zuvor einmal von einer Anhöhe
sichtbar war, liegt nun am Gestade.
Hier endet die Vision.
317. «WENN IHR GLAUBEN HABT,
KOMME ICH UND BRINGE EUCH AUSSER GEFAHR»
Jesus sagt: «Oft warte ich nicht
einmal, bis ich gerufen werde, wenn ich meine Kinder in Gefahr sehe. Und oft
komme ich auch dem zu Hilfe, der ein undankbarer Sohn ist.
148
Ihr schlaft oder seid von den
Sorgen des Lebens und den Geschäften der Welt eingenommen. Ich wache und bete
für euch. Als Engel aller Menschen stehe ich schützend über euch, und nichts
ist mir schmerzlicher, als euch nicht beistehen zu können, weil ihr meinen
Beistand ablehnt und es vorzieht, selbst mit allem fertig zu werden, oder, was
noch schlimmer ist, den Bösen um Hilfe anruft.
Wie ein Vater, der von einem Sohn
hören muß: "Ich liebe dich nicht, ich will dich nicht, geh fort aus meinem
Haus!", so fühle ich mich gedemütigt und schmerzlich berührt, mehr als durch
meine Wunden. Aber wenn ihr mich nicht ablehnt und nicht sagt: "Geh fort!",
sondern durch das Leben abgelenkt seid, dann bin ich der ewig Wachende, der
bereit ist, einzugreifen, bevor ihr mich angerufen habt. Und wenn ich auf ein
Wort von euch warte, wie ich es manchmal tue, so nur, um mich gerufen zu
fühlen. Welche Liebkosung und wie süß ist es für mich, wenn ich mich von den
Menschen angerufen höre und fühle, daß sie sich daran erinnern, daß ich der
Erlöser, der Retter, bin.
Ich kann dir nicht sagen, welch
unendliche Freude mich durchdringt und erhebt, wenn mich jemand liebt und
anruft, noch bevor die Stunde der Not gekommen ist. Er ruft mich an, weil er
mich mehr als alles in der Welt liebt und ihn eine Freude, die der meinen
gleicht, erfüllt, wenn er nur ruft: "Jesus, Jesus!", wie es die Kinder tun,
wenn sie "Mama, Mama!" rufen und es ihnen scheint, als ob Honig auf ihre
Lippen käme, da schon allein das Wort "Mama" die Wonne des mütterlichen Kusses
mit sich bringt.
Die Apostel ruderten gemäß meinem
Befehl, Kapharnaum zu erreichen und mich dort zu erwarten. Ich hatte mich nach
dem Wunder der Brotvermehrung von der Menge abgesondert, aber nicht aus
Unwillen über sie oder aus Müdigkeit. Ich bin nie der Menschen überdrüssig
geworden, nicht einmal, wenn sie mich schlecht behandelt haben. Nur wenn ich
das Gesetz mit Füßen getreten und das Haus Gottes entweiht sah, überkam mich
Entrüstung. Aber dann war es nicht meinetwegen, sondern wegen der Sache des
Vaters, denn ich war auf Erden der erste der Diener Gottes, um dem Vater im
Himmel zu dienen.
Ich bin nie müde geworden, mich
dem Volk zu widmen, auch wenn ich sie so verbohrt, langsam und menschlich sah,
daß selbst jene den Mut verloren hätten, die sich ihrer Sendung vollkommen
gewachsen fühlten. Gerade weil ich sie so schwach sah, habe ich meine
Belehrungen immer wiederholt. Ich habe sie wie zurückgebliebene Schüler
behandelt und ihren Geist auch bei den einfachsten Entdeckungen und
Unternehmungen geleitet, so wie ein geduldiger Lehrer die unerfahrenen
Händchen seiner Schüler führt, wenn sie die ersten Buchstaben schreiben, damit
sie immer fähiger werden, zu begreifen und auszuführen.
Wieviel Liebe habe ich den
Menschen geschenkt! Ich faßte sie an ihrer
149
Menschlichkeit, um sie zum Geist
zu führen. Auch ich habe mit dem Fleisch begonnen. Aber während Satan sich des
Fleisches bedient, um zur Hölle zu führen, führte ich sie durch das Fleisch
zum Himmel.
Ich hatte mich zurückgezogen, um
dem Vater für die Brotvermehrung zu danken. Viele Tausende hatten gegessen.
Ich hatte ihnen ans Herz gelegt, zu sagen: «Dank dem Herrn.» Aber wenn der
Mensch einmal Hilfe erlangt hat, dann weiß er nicht Dank zu sagen. So habe ich
es für sie getan. Und danach... Und danach habe ich mich mit dem himmlischen
Vater in einer unendlichen Sehnsucht der Liebe vereinigt. Ich war auf der
Erde, aber wie eine Hülle ohne Leben. Mein Geist war hingezogen zu meinem
Vater, den ich wie über sein Wort gebeugt verspürte, das zu ihm sagte: "Ich
liebe dich, o Heiliger Vater!" Meine Freude war es, ihm zu sagen: "Ich liebe
dich." Es ihm als Mensch zu sagen, nicht nur als Gott. Ihm zu huldigen mit dem
Gefühl des Menschen, so wie ich ihm meinen Herzschlag als Gott anbot. Ich
hatte das Gefühl, der Magnet zu sein, der alle Liebe der Menschen, die ein
wenig Gott lieben, an sich zieht und sie in der Schale seines Herzens
darbietet. Es schien mir, als ob ich ganz allein wäre: der Mensch, oder
besser, das Menschengeschlecht, das wie in den Tagen der Unschuld wieder in
der Abendfrische mit Gott sprach.
Aber obgleich meine Seligkeit,
denn es war Seligkeit der Liebe, vollkommen war, machte sie mich dennoch nicht
blind für die Nöte der Menschen, und ich bemerkte die Gefahr meiner Söhne auf
dem See. Und ich löste mich um der Menschen willen von der Liebe. Die Liebe
muß immer hilfsbereit sein!
Sie hielten mich für ein
Gespenst. Oh, wie oft haltet ihr armen Kinder mich für ein Gespenst, für ein
furchterregendes Wesen! Wenn ihr immer an mich dächtet, würdet ihr mich sofort
wiedererkennen. Aber ihr habt so viele andere Sorgen in euren Herzen, und
diese verwirren euch die Sinne. Doch ich gebe mich zu erkennen. Oh, wenn ihr
mich fühlen könntet!
Warum ist Petrus eingesunken,
nachdem er schon so viele Meter auf dem Wasser gewandelt war? Du hast es
gesagt: weil sein Menschsein seinen Geist überwältigt hatte.
Petrus war zu sehr Mensch. Wäre
Johannes an seiner Stelle gewesen, hätte er weder so viel gewagt noch wäre er
so wankelmütig gewesen. Die Reinheit verleiht Klugheit und Festigkeit. Aber
Petrus war "Mensch" im wahrsten Sinn des Wortes. Er hatte das Verlangen, der
erste zu sein; zu zeigen, daß niemand den Meister mehr liebte als er. Er
wollte sich vordrängen und glaubte sich schon über die Schwächen des Fleisches
erhaben, nur weil er einer der Meinen war. Statt dessen versagte der arme
Simon bei den Prüfungen in wenig erhabener Weise. Aber es war notwendig, denn
er war dazu bestimmt, die Barmherzigkeit des Meisters in der entstehenden
Kirche fortzusetzen.
Petrus läßt sich nicht nur von
der Furcht um sein gefährdetes Leben
150
übermannen, sondern wird, wie du
gesagt hast, "ein zitterndes Fleisch". Er überlegt nicht mehr und schaut mich
nicht mehr an.
Auch ihr macht es so. Je größer
die Gefahr ist, um so mehr wollt ihr euch selbst helfen. Als ob ihr selbst
etwas tun könntet! Niemals entfernt ihr euch, verschließt ihr mir euer Herz
und verurteilt ihr mich sogar so sehr wie in den Stunden, in denen ihr auf
mich vertrauen und mich anrufen müßtet.
Petrus verflucht mich nicht. Aber
er vergißt mich, und ich muß die Macht meines Willens benützen, um seinen
Geist zu mir zurückzurufen: damit er seine Augen zu seinem Meister und Erlöser
erhebe. Ich spreche ihn im voraus von seiner Sünde des Zweifels los, weil ich
ihn liebe, diesen impulsiven Menschen, der, einmal in der Gnade gefestigt, in
der Gnade voranzuschreiten weiß, ohne je in Verwirrung oder Müdigkeit zu
verfallen bis zu seinem Märtyrertod; der unermüdlich bis zu seinem Tod sein
mystisches Netz auswirft, um seinem Meister Seelen zuzuführen. Und wenn er
mich anruft, dann gehe ich nicht nur zu ihm: ich eile ihm zu Hilfe und halte
ihn fest, um ihn in Sicherheit zu bringen.
Milde kann man mir vorwerfen,
denn ich habe Verständnis für alle Milderungsgründe meines Petrus. Ich bin der
beste Verteidiger und Richter, den es je gegeben hat und je geben wird. Für
alle. Ich verstehe euch, meine armen Kinder! Und selbst wenn ich euch ein Wort
des Tadels sage, so wird mein Lächeln es mildern. Ich liebe euch. Damit ist
alles gesagt.
Ich will, daß ihr Glauben habt.
Und wenn ihr ihn habt, komme ich und führe euch aus der Gefahr. Oh, wenn die
Erde es verstände zu sagen: "Meister, Herr, rette mich!" Ein Schrei – aber von
der gesamten Menschheit – würde genügen, und augenblicklich würde Satan mit
seinen Henkersknechten besiegt zu Boden fallen! Aber ihr könnt es nicht
glauben. Ich bemühe mich, immer neue Mittel zu finden, um euch zum Glauben zu
bringen. Doch sie fallen in euren Schlamm wie der Stein in den Schlamm eines
Sumpfes und bleiben dort begraben.
Ihr wollt die Gewässer eures
Geistes nicht reinigen. Ihr liebt es, faulender Schlamm zu sein. Trotzdem
werde ich als ewiger Erlöser weiterhin meine Pflicht tun. Und wenn ich auch
nicht die ganze Welt retten kann, weil sie nicht gerettet werden will, so
werde ich doch jene vor der Welt retten, die, um mich lieben zu können, wie
ich geliebt werden soll, nicht mehr von der Welt sind.»
151
318. BEGEGNUNG MIT DEN JÜNGERN
Jesus befindet sich in der Ebene
von Chorazim, im oberen Jordantal, zwischen dem See Genesareth und dem
Meronsee. Ein Land voller Weinberge, in denen bereits die Lese begonnen hat.
Er muß schon seit einigen Tagen hier sein, denn heute morgen haben sich ihm
die Jünger angeschlossen, die in Sycaminon waren, und unter ihnen befinden
sich die beiden neuen Jünger Stephanus und Hermas. Isaak entschuldigt sich,
daß er nicht früher kommen konnte, und sagt, daß ihn die Neuankömmlinge und
die Überlegungen, ob es gut sei oder nicht, sie mitzubringen, zurückgehalten
haben.
«Aber», sagt er weiter, «ich habe
gedacht, daß der Weg zum Himmel allen offensteht, die guten Willens sind; mir
scheint, daß sie, obwohl Schüler Gamaliels, zu uns gehören.»
«Du hast gut gesprochen und
gehandelt. Führe sie zu mir.»
Isaak geht und kehrt mit den
beiden zurück.
«Der Friede sei mit euch! Habt
ihr euch so sehr vom apostolischen Wort überzeugen lassen, daß ihr euch uns
anschließen wollt?»
«Ja! Mehr noch von deinem Wort.
Weise uns nicht zurück, Meister!»
«Warum sollte ich das tun?»
«Weil wir von Gamaliel kommen.»
«Deswegen? Ich ehre den großen
Gamaliel und möchte ihn bei mir haben, denn er ist dessen würdig. Nur das
fehlt ihm noch, um seine Weisheit vollkommen zu machen. Was hat er euch
gesagt, als ihr ihn verlassen habt? Ihr habt euch doch sicher von ihm
verabschiedet?»
«Ja. Er hat uns gesagt: "Selig
seid ihr, die ihr glauben könnt. Betet, damit ich vergessen kann, um mich
wieder erinnern zu können!"»
Die Apostel, neugierig um Jesus
geschart, blicken sich gegenseitig an und fragen leise: «Was hat er damit
sagen wollen? Vergessen, um sich zu erinnern?»
Jesus hört das Flüstern und
erklärt: «Er will seine Weisheit vergessen, um die meinige annehmen zu können.
Er will vergessen, Rabbi Gamaliel zu sein, um sich daran zu erinnern, daß er
ein Sohn Israels in Erwartung des Gesalbten ist. Er will sich selbst
vergessen, um sich der Wahrheit zu erinnern.»
«Aber Gamaliel ist doch kein
Lügner, Meister», entschuldigt ihn Hermas.
«Nein! Es ist das Durcheinander
armer menschlicher Worte, das lügenhaft ist. Ihr setzt die Worte anstelle des
Wortes! Die Worte aber muß man vergessen. Man muß sich ihrer entledigen und
nackt und jungfräulich zur Wahrheit kommen, um von ihr bekleidet und
befruchtet zu werden. Das verlangt Demut. Hier liegt die Schwierigkeit...»
«So müssen wohl auch wir
vergessen?»
152
«Ohne Zweifel! Alles vergessen,
was des Menschen ist, und euch dessen erinnern, was Gottes ist. Kommt, ihr
könnt es.»
«Wir wollen es tun», versichert
Hermas.
«Habt ihr schon das Leben eines
Jüngers gelebt?»
«Ja! Seit dem Tag, da wir
erfuhren, daß der Täufer getötet worden war. Die Botschaft kam sehr rasch nach
Jerusalern durch die Höflinge und Hauptleute des Herodes. Sein Tod hat uns aus
der Saumseligkeit gerissen», antwortet Stephanus.
«Das Blut der Märtyrer ist immer
Leben für die Lauen, Stephanus. Erinnere dich daran!»
«Ja, Meister! Wirst du heute
sprechen? Ich hungere nach deinem Wort.»
«Ich habe schon gesprochen. Aber
ich werde wieder und sehr oft zu euch Jüngern sprechen. Eure Gefährten, die
Apostel, haben ihre Mission schon begonnen nach einer eingehenden
Vorbereitung. Doch sie genügen nicht für die Bedürfnisse der Welt. Und alles
muß rechtzeitig fertig sein. Ich habe sozusagen eine Frist, während welcher
ich alles getan haben muß. Ich bitte euch alle um Hilfe und verspreche euch im
Namen Gottes Hilfe und eine Zukunft in der Herrlichkeit.»
Das scharfe Auge Jesu entdeckt
einen Mann, der gänzlich in einen leinenen Mantel eingehüllt ist.
«Bist du nicht der Priester
Johannes?»
«Ja, Meister! Trockener als das
Tal des Fluches ist das Herz der Juden. Ich bin geflohen, um dich zu suchen.»
«Und das Priestertum?»
«Der Aussatz hatte mich ein
erstes Mal davon ausgeschlossen; die Menschen ein zweites, weil ich dich
liebe. Deine Gnade zieht mich an: zu dir! Auch sie vertreibt mich von einem
geschändeten Ort, um mich zu einem reinen Ort zu führen. Du hast mich
gereinigt, Meister, an Leib und Seele. Und etwas Reines kann und darf sich
nicht mehr dem Unreinen nähern. Das wäre eine Beleidigung für den, der es
gereinigt hat.»
«Du sprichst ein strenges Urteil.
Aber es ist nicht ungerecht.»
«Meister, die Fehler einer
Familie sind allen bekannt, die in der Familie leben, und werden nur denen
mitgeteilt, die rechtschaffenen Herzens sind. Du bist es. Und du weißt alles.
Anderen werde ich es nicht sagen. Hier sind außer dir deine Apostel und zwei,
die es wie du und ich wissen. Deshalb ...»
«Gut! Aber... Oh, auch du? Der
Friede sei mit dir! Bist du wieder gekommen, um uns Nahrung zu bringen?»
«Nein, um von dir Nahrung zu
erhalten.»
«Hattest du eine schlechte
Ernte?»
«O nein! Sie war noch nie so gut
wie dieses Jahr. Aber, mein Meister, ich suche ein anderes Brot und eine
andere Ernte: deine! Und bei mir ist
153
der Aussätzige, den du auf meinem
Besitztum geheilt hast. Er ist zu seinem Herrn zurückgekehrt. Aber er und ich,
wir haben jetzt einen Herrn, dem wir folgen und dienen werden: dich!»
«Kommt. Einer, zwei, drei,
vier... Eine gute Ernte! Aber habt ihr über eure Stellung im Tempel
nachgedacht? Ihr kennt euch aus, ich ebenfalls... Mehr brauche ich nicht zu
sagen...»
«Ich bin ein freier Mensch und
gehe, mit wem ich will», sagt der Priester Johannes.
«Und ich auch», erklärt der
letzte Ankömmling, der Schriftgelehrte Johannes, der am Sabbat für die
Verpflegung am Fuß des Berges der Seligpreisungen gesorgt hatte.
«Und wir ebenfalls», sagen Hermas
und Stephanus.
Und Stephanus fügt hinzu: «Sprich
zu uns, Herr! Wir wissen noch nicht, worin genau unsere Sendung besteht. Sage
uns die grundlegenden Dinge, damit wir dir sofort dienen können. Alles andere
werden wir lernen in deiner Nachfolge.»
«Ja. Auf dem Berg hast du von den
Seligkeiten gesprochen. Und das war eine Lektion für uns. Aber was sollen wir
mit der zweiten Liebe, der Nächstenliebe, tun?» fragt der Schriftgelehrte
Johannes.
«Wo ist Johannes von Endor?»
fragt Jesus, anstatt eine Antwort zu geben.
«Dort, Meister, bei den
Geheilten.»
«Er soll hierherkommen.»
Johannes von Endor eilt herbei.
Jesus legt ihm mit einem besonderen Gruß die Hand auf die Schulter und sagt:
«Nun will ich reden. Ich will euch vor mir haben, euch mit dem heiligen Namen:
dich, meinen Apostel; dich, den Priester; dich, den Schriftgelehrten; dich,
Johannes, Jünger des Täufers; und endlich dich, um den Kranz der Gnaden, die
Gott gegeben hat, zu schließen. Und wenn ich dich auch als letzten nenne, so
weißt du doch, daß du in meinem Herzen nicht der letzte bist. Ich habe dir
eines Tages diese Predigt versprochen. Jetzt sollst du sie hören.»
Wie gewöhnlich steigt Jesus auf
eine kleine Erhöhung, damit alle ihn sehen können. Vor sich in der ersten
Reihe hat er die fünf Johannes; hinter diesen ist die Menge der Jünger, die
sich mit denen vermischt haben, die aus allen Teilen Palästinas gekommen sind,
weil sie der Heilung oder des Wortes bedürfen.
«Der Friede sei mit euch allen,
und die Weisheit sei über euch!
Hört. Eines Tages, es ist schon
länger her, wurde ich von jemand gefragt, ob und bis zu welchem Punkt Gott mit
den Sündern barmherzig ist. Der danach fragte, war ein Sünder, dem vergeben
worden war, der sich jedoch von der vollständigen Verzeihung Gottes nicht
überzeugen ließ. Ich habe ihn mit Gleichnissen beruhigt und ihm versprochen,
daß ich für ihn immer über die Barmherzigkeit sprechen würde, damit sein
reumütiges
154
Herz, das gleich einem verirrten
Kind weinte, die Gewißheit habe, sich schon auf den Besitzungen seines
himmlischen Vaters zu befinden.
Gott ist Barmherzigkeit, denn
Gott ist Liebe.
Der Diener Gottes muß barmherzig
sein und damit Gott nachahmen.
Gott bedient sich der
Barmherzigkeit als eines Mittels, um die verirrten Söhne an sich zu ziehen.
Der Diener Gottes muß sich der
Barmherzigkeit bedienen als eines Mittels, um die verirrten Söhne zu Gott
zurückzuführen.
Das Gebot der Liebe ist für alle
verpflichtend. Aber es ist dreifach verpflichtend für die Diener Gottes.
Man kann den Himmel nicht
erwerben, wenn man nicht liebt. Aber das brauche ich nur den Gläubigen zu
sagen. Den Dienern Gottes sage ich: "Man kann die Gläubigen nicht für den
Himmel gewinnen, wenn man nicht vollkommen liebt."
Und ihr, wer seid ihr? Ihr, die
ihr euch um mich drängt? Zum größten Teil seid ihr Menschen, die nach einem
vollkommenen Leben streben; nach dem gesegneten, mühevollen, erleuchteten
Leben eines Dieners Gottes, eines Dieners Christi. Welche Pflichten habt ihr
in diesem Leben als Diener und Werkzeug Gottes? Ihr müßt Gott und euren
Nächsten in vollkommener Weise lieben. Wie? So, daß ihr Gott zurückbringt, was
die Welt, das Fleisch und Satan Gott geraubt haben. Auf welche Weise? Durch
die Liebe. Die Liebe hat tausend Arten, sich auszudrücken, und ein einziges
Verlangen: Liebe zu lehren.
Denken wir an unseren schönen
Jordan! Wie mächtig ist er in Jericho! Doch war er es schon an der Quelle?
Nein! Er war nur ein Wasserfaden, und er wäre es noch, wenn er stets allein
geblieben wäre. Aber von den Bergen und Hügeln, von beiden Seiten seines Tales
gelangen Tausende von Zuflüssen zu ihm, die ihrerseits von Hunderten von
Bächen gebildet werden und sich alle in sein Flußbett ergießen, das wächst und
wächst und wächst, bis er von einem lieblichen, silberblauen Bächlein, das in
seiner Kindheit noch lacht und scherzt, zu einem breiten, feierlichen,
geruhsamen Fluß geworden ist, der wie ein himmelblaues Band zwischen den
smaragdgrünen Ufern dahinfließt.
So ist die Liebe. Anfangs ein
Faden bei den Kindern zu Beginn des Lebensweges, die sich nur aus Furcht vor
Strafe gerade noch vor der schweren Sünde retten. Dann schreiten sie auf dem
Weg der Vollkommenheit voran, und siehe da: auf den rauhen, trockenen, stolzen
und harten Bergen der Menschheit entspringen aus dem Willen zu lieben Bäche
über Bäche dieser grundlegenden Tugend, und alles dient dazu, sie entspringen
und anwachsen zu lassen: die Schmerzen und die Freuden, so, wie auf dem Berg
der gefrorene Schnee und die ihn schmelzende Sonne den Bach hervorbringen.
Alles dient dazu, ihnen den Weg zu öffnen: die Demut wie die Reue; alles dient
dazu, sie dem Hauptfluß zuzuführen. Denn die Seele,
155
die es drängt, diesen Weg zu
gehen, liebt den Abstieg in die Verleugnung des eigenen Ichs und trachtet
danach, wieder emporzusteigen, angezogen von der göttlichen Sonne, nachdem sie
zum mächtigen, schönen, wohltuenden Fluß geworden ist.
Die Bäche, die den jungen Fluß
der noch scheuen Liebe nähren, sind außer den Tugenden auch die Werke, welche
die Tugenden zu vollbringen anleiten. Die Werke sind, wenn sie Zuflüsse der
Liebe sein sollen, Werke der Barmherzigkeit. Betrachten wir sie zusammen!
Einige waren Israel schon bekannt; andere will ich euch bekanntmachen, denn
mein Gesetz ist die Vervollkommnung der Liebe.
Die Hungrigen speisen!
Es ist dies eine Pflicht der
Dankbarkeit und der Liebe. Eine Pflicht der Nachfolge. Die Söhne sind dem
Vater dankbar für das Brot, das er ihnen verschafft, und wenn sie größer sind,
tun sie es ihm nach und verschaffen ihren eigenen Kindern Brot. Auch dem
Vater, der aus Altersgründen nicht mehr arbeitsfähig ist, verschaffen sie
durch ihre eigene Arbeit das Brot, als liebevolle und pflichtschuldige
Rückerstattung des Guten, das sie einst empfangen haben.
Das vierte Gebot sagt: "Du sollst
Vater und Mutter ehren." Und ihr sollt ihre Hilflosigkeit ehren und sie nicht
dazu zwingen, ihr Brot bei anderen erbetteln zu müssen.
Doch dem vierten Gebot geht das
erste voraus: "Du sollst aus deinem ganzen Wesen Gott lieben", und das zweite:
"Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst." Gott lieben um seiner selbst
willen und ihn im Nächsten lieben, das ist Vollkommenheit.
Man liebt ihn, wenn man dem
Hungrigen Brot gibt, in Erinnerung daran, daß Gott so oft des Menschen Hunger
durch Wundertaten gestillt hat. Aber auch ohne das Manna und die Wachteln zu
nennen, beachten wir das fortwährende Wunder des Korns, das durch die Güte
Gottes keimt. Gott macht die Erde für die Bebauung geeignet, regelt die Winde,
den Regen, die Wärme und die Jahreszeiten, damit der Same Ähre und die Ähre
Brot werde.
Und war es nicht ein Wunder
seiner Barmherzigkeit, daß er mit seinem übernatürlichen Licht den sündhaften
Sohn erleuchtet und ihn gelehrt hat, daß die hohen, zarten Gräser, die unter
dem Einfluß der Sonnenhitze zu goldenen, in eine harte Hülle dorniger Spelzen
eingeschlossenen Körnern werden und zur Nahrung dienen, wenn sie gesammelt,
gedroschen, gemahlen, gesiebt und gebacken sind? Gott hat den Menschen all
dies gelehrt: wie das Korn gesammelt, gereinigt, gemahlen, vermengt und
gebacken werden soll. Er legte die Steine neben die Ähren und ließ das Wasser
neben den Steinen fließen; er entzündete durch die Spiegelung, den Reflex des
Wassers und der Sonne, das erste Feuer auf Erden, und über das Feuer trug der
Wind die Körner, so daß sie geröstet wurden und
156
angenehmen Duft verbreiteten. Der
Mensch sollte verstehen, daß das geröstete Korn besser schmeckt als das rohe,
das die Vögel fressen, oder das zu einem klebrigen Brei mit Wasser vermengte
Mehl. Ihr denkt nicht daran, wenn ihr das gute Brot, das im Haus gebacken
wurde, eßt, wieviel Barmherzigkeit diese Vollkommenheit des Backens ausdrückt;
welchen Weg das menschliche Wissen zurückgelegt hat, um von der ersten Ähre,
die der Mensch wie das Pferd kaute, zum heutigen Brot zu gelangen. Und durch
wen? Durch den Geber des Brotes. Und das gilt für jede Art von Nahrung, die
der Mensch durch das wohltätige Licht des Verstandes aus Pflanzen und Tieren
gewinnt, mit denen der Schöpfer die Erde, den Ort der väterlichen Strafe für
den sündigen Sohn, ausgestattet hat.
Die Hungernden zu speisen ist
Gebet der Dankbarkeit dem Herrn und Vater gegenüber, der unseren Hunger
stillt. Es ist eine Nachahmung des Vaters, der uns ohne unser Verdienst als
sein Ebenbild erschaffen hat, das wir immer mehr vervollkommnen sollen, indem
wir seine Handlungen zum Vorbild nehmen.
Die Durstigen tränken!
Habt ihr darüber nachgedacht, was
geschehen würde, wenn der Vater nicht mehr regnen ließe? Und doch, wenn er
sagen würde: "Wegen eurer Herzenshärte gegen die Durstigen will ich die Wolken
daran hindern, Wasser auf die Erde zu regnen": könnten wir uns ihm widersetzen
und fluchen? Das Wasser kommt, mehr noch als das Korn, von Gott. Denn das Korn
wird vom Menschen angebaut, aber nur Gott allein bestellt die Felder der
Wolken, die als Regen oder Tau, als Nebel oder Schnee herabkommen und die
Äcker tränken, die Zisternen füllen und die Flüsse und Seen anschwellen
lassen, die den Fischen Aufenthalt gewähren, die wiederum den Menschen
zusammen mit anderen Tieren ernähren. Könnt ihr daher jemand, der sich mit der
Bitte: "Gib mir zu trinken" an euch wendet, sagen: "Nein, das Wasser gehört
mir, ich gebe es dir nicht?" Lügner! Wer von euch hat auch nur eine einzige
Schneeflocke oder einen Tropfen Wasser gemacht? Wer von euch hat mit seiner
Sternenwärme auch nur einen einzigen Tautropfen hervorgebracht? Niemand! Gott
tut es. Und wenn die Wasser vom Himmel fallen und wieder zum Himmel
aufsteigen, dann geschieht dies nur, weil Gott diesen Teil der Schöpfung, wie
alle anderen, regelt. Gebt daher das gute, frische Wasser der Adern des
Erdbodens, das reine Wasser eures Brunnens oder das, welches eure Zisternen
gefüllt hat; gebt es dem, der Durst hat. Es sind die Wasser Gottes; sie
gehören allen. Gebt sie jenen, die durstig sind. Für dieses kleine Werk, das
euch kein Geld kostet und keine andere Mühe erfordert als die, einen Becher
oder einen Krug zu reichen, werdet ihr im Himmel eine Belohnung erhalten, ich
versichere es euch. Denn nicht das Wasser, sondern die Tat der Liebe ist groß
in den Augen und im Urteil Gottes.
157
Die Nackten bekleiden!
Auf den Straßen der Welt geht das
nackte, verschmähte, erbarmungswürdige Elend vorüber. Es sind sich selbst
überlassene Greise, durch Krankheit oder Unglücksfälle arbeitsunfähig
gewordene Menschen; es sind Aussätzige, die durch die Güte Gottes zum Leben
zurückkehren; es sind kinderreiche Witwen, vom Unglück verfolgt und von allem
beraubt, was Wohlstand bedeutet; es sind unschuldige Waisenkinder. Wenn ich
das Auge über die weite Erde schweifen lasse, sehe ich überall Menschen, die
nackt oder nur mit Lumpen bedeckt sind, welche gerade noch die Sittsamkeit
bewahren, jedoch nicht vor der Kälte schützen; und diese Menschen betrachten
mit betrübten Augen die Reichen, die in weichen Gewändern und mit weichem
Schuhwerk an den Füßen vorübergehen. Eine sanfte Traurigkeit in den Guten,
eine haßerfüllte Niedergeschlagenheit in den weniger Guten! Aber warum helft
ihr ihnen nicht in ihrer Niedergeschlagenheit und macht sie nicht besser, wenn
sie gut sind, und warum vernichtet ihr nicht durch eure Liebe ihren Haß, wenn
sie weniger gut sind?
Sagt nicht: "Ich habe nur für
mich." Wie bei den Broten, so ist immer etwas mehr als das absolut Notwendige
auf den Tischen und in den Schränken fast aller, die nicht ganz verarmt sind.
Unter meinen Zuhörern ist mehr als einer, der es verstanden hat, aus einem
abgetragenen Gewand ein Kleid für ein Waisenkind oder sonst ein armes Kind zu
machen; der es verstanden hat, aus einem alten Leinentuch Windeln für ein
unschuldiges Kind herzustellen, dem das Nötigste fehlt. Und da ist einer, der
selber betteln mußte und doch jahrelang das erbettelte Brot mit den
Aussätzigen geteilt hat, die nicht betteln und die Hand an den Schwellen der
Reichen nicht ausstrecken durften. Wahrlich, ich sage euch, diese Barmherzigen
sind nicht unter den Reichen zu suchen, wohl aber in den Scharen der Armen,
die aus eigener Erfahrung wissen, wie schmerzlich die Armut ist.
Und wie beim Wasser und beim Brot
bedenkt, daß Wolle und Leinen, in die ihr euch kleidet, von Tieren und
Pflanzen stammen, die der Vater nicht allein für die Reichen, sondern für alle
Menschen geschaffen hat. Denn Gott hat den Menschen einen einzigen Reichtum
gegeben: seinen eigenen der Gnade, der Gesundheit, des Verstandes, aber nicht
den schmutzigen Reichtum des Goldes, das nicht schöner ist als andere Metalle
und weniger nützlich als das Eisen, aus dem man Spaten, Pflüge, Sicheln,
Sensen, Messer, Hämmer, Sägen und Hobel, die heiligen Werkzeuge der heiligen
Arbeit, anfertigt; ihr aber habt das Gold zu einem edlen Metall erhoben, zu
einer nutzlosen, lügenhaften Vornehmheit, durch Einflüsterung Satans, der aus
euch, den Kindern Gottes, Wilde und Raubtiere macht. Den Reichtum der heiligen
Dinge hat er euch gegeben, um euch immer heiliger werden zu lassen! Nicht aber
den mörderischen Reichtum, der so viel Blut und Tränen vergießen läßt. Gebt,
wie auch euch gegeben wurde! Gebt im
158
Namen des Herrn, ohne zu
befürchten, nackt bleiben zu müssen. Besser wäre es, vor Kälte zu sterben,
weil man sich für einen Bettler entblößt hat, als unter weichen Gewändern aus
Mangel an Liebe das Herz erfrieren zu lassen.
Die Wärme des vollbrachten guten
Werkes ist wohltuender als die Wärme eines Mantels aus reinster Wolle, und die
bedeckten Glieder des Armen sprechen zu Gott und bitten ihn: "Segne den, der
uns bekleidet hat."
Wer Hunger und Durst stillt und
Nackte bekleidet und sich selbst einschränkt, um geben zu können, vereinigt
die heilige Mäßigkeit mit der heiligsten Liebe; wer von dem gibt, was er durch
die Güte Gottes reichlich besitzt, und damit das Los unglücklicher Brüder, die
durch die Bosheit der Menschen oder durch Krankheit das Nötigste entbehren,
auf heilige Weise verändert, vereint mit der heiligen Mäßigkeit und der
heiligsten Liebe noch die heilige Gerechtigkeit. Wenn ihr aber dem Pilger
Gastfreundschaft gewährt, verbindet ihr die Liebe mit dem Vertrauen in den
Nächsten. Auch das ist eine Tugend, wißt ihr? Eine Tugend, die bekundet, daß
wer sie hat, außer der Liebe auch Rechtschaffenheit besitzt. Denn wer
rechtschaffen ist, handelt recht, und wer gewohnt ist, gut zu handeln, nimmt
dies auch von den anderen an und beweist damit, daß er das Vertrauen und die
Einfalt hat, die Worte der anderen für wahr zu halten; er läßt erkennen, daß
er selbst in großen und kleinen Dingen die Wahrheit sagt und nicht an der
Ehrlichkeit anderer zweifelt.
Warum einem Fremden gegenüber,
der euch um Obdach bittet, denken: "Und wenn er ein Räuber und Mörder ist?"
Hängt ihr so sehr an eurem Reichtum, daß ihr bei jeder Ankunft eines Fremden
um ihn bangen müßt? Hängt ihr so sehr an eurem Leben, daß ihr vor Schrecken
erstarrt, wenn ihr daran denkt, daß man es euch nehmen könnte? Glaubt ihr denn
nicht, daß Gott euch gegen Räuber verteidigen kann? Ihr fürchtet, daß der
Wanderer ein Dieb sein könnte, und habt keine Angst vor dem finsteren Gast,
der euch des Unersetzlichen beraubt? Wie viele beherbergen den Teufel in ihrem
Herzen! Ich könnte sagen: alle beherbergen die Hauptsünde, doch zittert keiner
deswegen. Ist etwa nur das Gut des Reichtums und des Lebens kostbar? Und ist
nicht die Ewigkeit viel kostbarer, die ihr euch durch die Sünde rauben und
töten laßt? Arme, arme Seelen, die ihres Schatzes beraubt und den Mördern
überlassen werden, als ob sie wertlos wären, während man die Häuser
verbarrikadiert, Riegel anbringt und sich Hunde und Tresore anschafft, um
Dinge zu schützen, die man nicht in die Ewigkeit mitnehmen kann! Warum wollt
ihr in jedem Pilger einen Dieb sehen? Wir sind Brüder und müssen den
vorüberziehenden Brüdern unser Haus öffnen. Ist der Pilger nicht von unserem
Blut? O ja! Er ist vom Blut Adams und Evas. Ist er nicht unser Bruder? Aber
sicher! Es gibt nur einen Vater: Gott, der uns allen eine gleiche Seele
gegeben hat, so wie ein Vater den Söhnen eines Ehebettes das gleiche Blut
gibt. Ist der
159
Pilger arm? Seht zu, daß ihr
nicht noch ärmer seid als er, im Geist, ohne Freundschaft. Ist sein Kleid
zerrissen? Seht zu, daß eure Seele nicht noch mehr zerrissen ist durch die
Sünde! Ist sein Fuß mit Staub oder Schlamm bedeckt? Sorgt dafür, daß das
Laster euer Ich nicht mehr beschmutzt hat als das weite Wandern die Sandalen.
Ist sein Aussehen häßlich? Sorgt dafür, daß das eure in den Augen Gottes nicht
häßlicher ist. Ist seine Sprache euch fremd? Sorgt dafür, daß eure Sprache des
Herzens in der Stadt Gottes nicht unverständlich wird.
Seht im Pilger einen Bruder. Alle
sind wir Pilger auf dem Weg zum Himmel, und alle pochen wir an den Türen längs
des Weges, der zum Himmel führt. Die Türen sind die Patriarchen und die
Gerechten, die Engel und die Erzengel, an die wir uns, um Hilfe und Schutz
wenden, damit wir das Ziel erreichen, ohne im Dunkel der Nacht und in der
eisigen Kälte eine Beute der Wölfe und Schakale, der Leidenschaften und
Dämonen zu werden. So wie wir wollen, daß die Engel und Heiligen uns mit Liebe
öffnen, uns beherbergen und uns die Kraft geben, das Leben fortzusetzen, so
sollen auch wir den Pilgern dieser Erde öffnen. Und seid versichert, jedesmal,
wenn wir das Haus und die Arme öffnen und einen Unbekannten mit dem süßen
Ausruf "Bruder" empfangen und dabei an Gott denken, der ihn kennt, legen wir
viele Meilen auf dem Weg zurück, der zum Himmel führt.
Die Kranken besuchen!
Oh, wahrlich, ebenso wie alle
Menschen Pilger sind, so sind auch alle Kranke. Und die schwersten Krankheiten
sind jene des Geistes, die unsichtbaren und todbringendsten. Und doch bewirken
sie keinen Abscheu. Die moralische Wunde stößt nicht ab. Der Gestank des
Lasters ekelt nicht an. Die dämonische Tollheit flößt keine Furcht ein. Das
Geschwür des geistig Aussätzigen ruft keinen Widerwillen hervor. Man flieht
nicht vor dem Grab, das voll ist vom Eiter eines an der Seele toten und
verwesten Menschen. Wer sich einer solchen Unreinheit nähert, wird nicht
verflucht. Armer, kurzsichtiger Mensch! Aber sagt: Was ist mehr wert, der
Geist oder Fleisch und Blut? Hat die Materie die Macht, das Geistige durch
ihre Berührung zu zerstören? Nein! Ich sage euch: nein! Der Geist hat einen
unendlichen Wert im Vergleich zu Fleisch und Blut; aber das Fleisch hat nicht
mehr Macht als der Geist. Der Geist kann nicht verdorben werden durch
materielle Dinge, wohl aber durch geistige. Wenn daher jemand einen
Aussätzigen pflegt, wird sein Geist dadurch nicht aussätzig, vielmehr fällt
jeder Makel der Sünde von ihm ab durch die heroisch geübte Nächstenliebe, die
so weit reicht, daß er sich aus Mitleid mit dem Bruder im Tal des Todes
absondert. Denn die Liebe ist Freispruch von der Sünde und die erste aller
Reinigungen.
Geht immer von dem Gedanken aus:
"Was würde ich mir wünschen,
160
wenn ich in seiner Lage wäre?" So
wie ihr selbst möchtet, daß man euch tut, so sollt ihr auch eurem Nächsten
tun. Jetzt hat Israel noch seine alten Gesetze. Aber der Tag wird kommen, und
sein Morgengrauen ist nicht mehr fern, da man als Zeichen absoluter Schönheit
das Abbild dessen verehren wird, in dem der Mann der Schmerzen des Isaias und
der Gequälte des Psalms Davids wiederzuerkennen ist. Er wird, da er sich zum
Aussätzigen gemacht hat, der Erlöser des Menschengeschlechtes sein; und zu
seinen Wunden werden, wie die Hirsche zu den Wasserquellen, alle Dürstenden',
Kranken, Erschöpften und Weinenden auf der Erde eilen, und er wird sie
tränken, heilen und stärken und sie zu Getrösteten im Geist und im Fleisch
machen; und die Besten werden danach verlangen, ihm ähnlich zu werden,
gekreuzigt aus Liebe, um die Menschen zu erlösen und so das Werk des Königs,
des Erlösers der Welt, fortzusetzen.
Ihr, die ihr noch Israel seid,
aber schon die Flügelansätze zum Flug in das Himmelreich habt, beginnt von
jetzt an mit der neuen Einschätzung und Bewertung der Krankheiten und lobt
Gott, der euch gesund erhält, und neigt euch über den, der leidet und stirbt.
Einer meiner Apostel hat einmal zu seinem Bruder gesagt: "Fürchte dich nicht,
einen Aussätzigen zu berühren, denn keine Krankheit kann uns anstecken, wenn
Gott es nicht will."
Er hat recht gehabt. Gott schützt
seine Diener. Aber wenn ihr euch auch ansteckt beim Pflegen der Kranken, so
steht ihr doch im anderen Leben auf der Liste der Märtyrer aus Liebe.
Die Gefangenen besuchen!
Glaubt ihr, daß sich auf den
Galeeren nur Verbrecher befinden? Die menschliche Gerechtigkeit ist an einem
Auge blind und hat an dem anderen Sehstörungen, so daß es Kamele sieht, wo nur
Wolken sind, und eine Schlange mit einem blühenden Zweig verwechselt. Sie
urteilt schlecht und noch schlechter, wenn der, welcher sie führt, oft
vorsätzlich Nebel und Rauch erzeugt, damit sie noch unklarer sehe. Aber selbst
wenn alle Gefangenen Diebe und Räuber wären, würden wir übel daran tun, uns
selbst zu Räubern und Mördern zu machen, indem wir ihnen durch unsere
Verachtung die Hoffnung auf Verzeihung nehmen.
Arme Gefangenen! Sie wagen nicht,
die Augen zu Gott zu erheben, da sie die Last ihrer Verbrechen fühlen. Die
Ketten hemmen wahrlich mehr den Geist als den Fuß. Aber wehe, wenn sie an Gott
verzweifeln! Dem Verbrechen am Nächsten fügen sie noch das der Verzweiflung an
der Vergebung hinzu. Die Galeere ist Sühne, wie es auch der Tod auf dem
Schafott ist. Aber es genügt nicht, für das an der menschlichen Gesellschaft
begangene Verbrechen zu büßen. Auch und vor allem Gott muß Genugtuung
geleistet werden, wenn man das ewige Leben erlangen will. Und wer sich
auflehnt und verzweifelt, sühnt nur der Gesellschaft gegenüber. Dem
161
Verurteilten oder dem Gefangenen
gehört die Liebe der Brüder. Sie soll ein Licht in der Finsternis sein. Sie
wird zur Stimme, zur Hand, die nach oben weist, während die Stimme sagt:
"Meine Liebe sagt dir, daß Gott auch dich liebt. Er hat mir diese Liebe zu dir
ins Herz gelegt, mein unglücklicher Bruder." Und das Licht erlaubt es, in Gott
den barmherzigen Vater zu erkennen.
Ein noch größeres Recht auf eure
Liebe haben die Märtyrer der menschlichen Ungerechtigkeit; die gänzlich
Unschuldigen und jene, die eine grausame Macht zu töten gezwungen hat. Urteilt
nicht auch noch dort, wo das Urteil schon ausgesprochen worden ist. Ihr wißt
nicht, weshalb der Mensch töten konnte. Ihr wißt nicht, daß es oftmals nur ein
Toter ist, der mordet; ein der Vernunft beraubter Mensch, der nur noch
mechanisch handelt, weil ein grausamer Mord, die Gemeinheit eines grausamen
Verrats, ihm den Verstand genommen hat. Gott weiß es, und das genügt. Im
anderen Leben wird man viele von den Galeeren, die getötet und gestohlen
haben, im Himmel wiederfinden, und man wird viele, die scheinbar getötet und
beraubt wurden, in der Hölle entdecken, weil sie in Wirklichkeit die wahren
Räuber des Friedens, der Redlichkeit und des Vertrauens der anderen waren;
weil sie die wahren Mörder eines Herzens gewesen sind: diese Pseudo-Opfer.
Opfer nur, weil sie zuletzt getroffen wurden, nachdem sie jahrelang
stillschweigend gemordet haben. Mord und Diebstahl sind Sünde. Aber wer tötet
und raubt, weil er von anderen dazu angehalten wurde, und dann bereut, wird
nicht so sehr bestraft werden wie der, der zur Sünde verleitet hat und nicht
bereut.
Daher urteilt nie und seid
barmherzig mit den Gefangenen. Denkt immer daran, daß, wenn alle Morde und
Diebstähle bestraft würden, nur wenige Männer und Frauen nicht in den
Gefängnissen oder am Kreuz sterben müßten. Die Frauen, die empfangen haben und
dann nicht zulassen, daß ihre Frucht das Licht der Welt erblickt: wie wird man
sie nennen? Oh, spielen wir nicht mit Worten! Sagen wir ihnen ganz offen ihren
Namen: "Mörderinnen". Jene Menschen, die den anderen das Ansehen und die
Stellung rauben, wie sollen wir sie nennen? Nun, einfach das, was sie sind:
"Diebe". Jene Männer und Frauen, die Ehebrecher oder die Qual ihrer Familien
sind und ihre Angehörigen dadurch zum Mord oder Selbstmord treiben, und die
Großen der Erde, die ihre Untergebenen zur Verzweiflung treiben und mit der
Verzweiflung zu Gewalttaten, welchen Namen sollen sie haben? Hier ist er:
"Menschenmörder". Und? Keiner entflieht? Ihr seht, daß wir mit diesen
Strafwürdigen, die der Gerechtigkeit entgangen sind und Häuser und Städte
füllen, die uns auf den Straßen begegnen, in den Herbergen schlafen wie wir,
und mit uns am selben Tisch sitzen, zusammenleben, ohne uns Gedanken zu
machen. Und doch, wer ist ohne Sünde? Wenn der Finger Gottes an die Wand des
Speisesaales die Gedanken der Geladenen schriebe; wenn er auf die Stirn der
einzelnen
162
Gäste schriebe, was sie sind oder
waren, dann würde nur auf den wenigsten in Buchstaben des Lichtes stehen:
"Unschuldig". Auf den anderen Stirnen würde mit Buchstaben, grün wie der Neid
oder schwarz wie der Verrat, oder rot wie das Verbrechen, geschrieben stehen:
"Ehebrecher", "Mörderin", "Dieb", "Menschenmörder"!
Seid daher ohne Überheblichkeit
barmherzig gegen die, menschlich gesprochen, weniger glücklichen Brüder, die
in den Gefängnissen sitzen und dort für das sühnen, wofür ihr nicht sühnt,
obwohl ihr die gleichen Sünden begangen habt. Dies wird eurer Demut von Nutzen
sein.
Die Toten begraben!
Die Betrachtung des Todes ist
eine Schule des Lebens. Ich möchte euch allen den Tod vor Augen halten und
sagen: Versteht als Heilige zu leben, damit ihr nur den einen Tod zu erdulden
habt: die zeitweilige Trennung des Leibes vom Geist, um dann siegreich und
wiedervereint aufzuerstehen und ewig selig zu werden.
Alle kommen wir nackt auf die
Welt. Alle sterben wir und fallen der Verwesung anheim. König oder Bettler.
Wie man geboren wurde, so stirbt man auch. Wenn der Reichtum der Könige auch
eine längere Erhaltung des Leichnams gestattet, so kann das Fleisch doch
letztlich der Zersetzung nicht entgehen. Was sind denn die Mumien? Fleisch?
Nein! Vom Harz verhärtete Materie, die zu Holz geworden ist. Keine Beute der
Würmer, weil entleert und von den Essenzen verbrannt, aber Beute der
Holzwürmer wie altes Holz.
Der Staub kehrt zum Staub zurück,
wie Gott gesagt hat. Und nur weil dieser Staub der Seele als Hülle gedient hat
und von ihr belebt worden ist, ist er zu etwas geworden, das die Herrlichkeit
Gottes – die Seele des Menschen – berührt hat; man kann sagen, daß er
geheiligter Staub geworden ist, nicht anders als die Dinge, die mit dem
heiligen Zelt in Berührung gekommen sind. Wenigstens einen Augenblick war die
Seele vollkommen: als der Schöpfer sie erschuf. Dann wurde sie von der
Erbsünde entstellt und ihrer Vollkommenheit beraubt, und nur durch ihren
Ursprung verleiht sie der Materie Schönheit; durch diese Schönheit, die von
Gott kommt, wird auch der Körper schöner und verdient Achtung. Wir sind
Tempel, und als solche verdienen wir Ehre, genauso wie die Orte, an denen das
heilige Zelt gestanden hat, immer geehrt worden sind.
Erweist daher den Toten die Liebe
der ehrenvollen Ruhe in Erwartung der Auferstehung und seht in den wunderbaren
Harmonien des menschlichen Körpers den Gedanken und den Finger Gottes, der ihn
vollkommen erschaffen und geformt hat, indem ihr auch im Leichnam das Werk des
Herrn verehrt.
Doch der Mensch ist nicht nur
Fleisch und Blut. Er ist auch Seele und Gedanke. Auch sie leiden, und man muß
ihnen Barmherzigkeit erweisen.
163
Es gibt Unwissende, die Böses
tun, nur weil sie das Gute nicht kennen. Wie viele kennen die Sache Gottes
nicht oder nur mangelhaft, und auch nicht die Gesetze der Moral! Wie Darbende
schmachten sie, weil niemand sie sättigt, und ihre Kräfte schwinden, weil es
ihnen an nährender Wahrheit mangelt. Geht und belehrt sie, denn dazu habe ich
euch gesammelt und sende ich euch aus. Gebt dem Hunger der Seelen das Brot des
Geistes. Unwissende belehren entspricht auf geistigem Gebiet dem "Hungernde
speisen"; und wenn eine Belohnung verheißen wird für ein Brot, das man einem
Hungernden reicht, damit er an diesem Tag nicht sterben müsse, welcher Lohn
wird dann dem gegeben werden, der einen Geist mit ewigen Wahrheiten nährt, um
ihm das ewige Leben zu schenken? Behaltet nicht für euch, was ihr wißt.
Umsonst und ohne Maß wurde es euch gegeben. Gebt es ohne Geiz weiter, denn es
ist ein Geschenk Gottes, wie das Wasser des Himmels, und muß gegeben werden,
wie es gegeben wurde.
Seid nicht geizig und seid auch
nicht stolz auf euer Wissen, sondern gebt mit Demut und Hochherzigkeit. Und
schenkt die klare und wohltuende Erquickung des Gebetes den Lebenden und
Verstorbenen, die nach Gnade dürsten. Man darf den durstigen Mündern das
Wasser nicht vorenthalten. Und wonach lechzen die Herzen der leidenden
Lebenden und der büßenden Seelen der Toten? Nach Gebeten! Nach Gebeten, die
durch die Liebe und den Opfergeist wirksam werden.
Das Gebet muß wahr sein, nicht
mechanisch wie das Geräusch des Rades auf dem Weg. Ist es das Geräusch oder
das Rad, das den Wagen fortbewegt? Es ist das Rad, das sich dreht, um den
Wagen voranzubringen. Das gleiche gilt für das mechanische und das wirksame
Gebet. Das erste tönt, und sonst nichts. Das zweite ist ein Werk, das Kräfte
verbraucht und die Leiden vermehrt, aber den Zweck erreicht. Betet mehr durch
Opfer als mit den Lippen, dann verschafft ihr den Lebenden und den Toten
Erquickung, indem ihr das zweite Werk der geistlichen Barmherzigkeit
vollbringt. Die Welt wird eher durch die Gebete jener gerettet werden, die zu
beten verstehen, als durch geräuschvolle, unnütze und mörderische Schlachten.
Viele Menschen in der Welt haben
reiches Wissen. Aber sie besitzen keinen festen Glauben. Als ob sie sich mit
zwei sich gegenüberstehenden Schlachtreihen befassen müßten, pendeln sie hin
und her, ohne einen Schritt vorwärts zu kommen, und mühen sich ab, ohne etwas
zu erreichen. Das sind die Zweifler. Es sind jene, die beständig ein "wenn und
aber" und ein "doch dann" auf den Lippen haben. Sie, die fragen: "Wird es auch
so sein?" "Und wenn es mir nicht gelingt?" und so weiter. Es sind die
Zaghaften, die nicht wissen, wo sie sich festhalten sollen; sie taumeln; man
muß sie nicht nur stützen, sondern sie auch an jedem neuen Wendepunkt während
des Tages führen.
Oh, sie brauchen viel Geduld und
Liebe, mehr als ein geistig zurückgebliebenes Kind! Aber, im Namen des Herrn,
laßt sie nicht im Stich! Gebt
164
diesen Gefangenen ihres eigenen
Ichs, ihrer nebelhaften Krankheit, euren so lichtvollen Glauben, eure feurige
Kraft. Führt sie zur Sonne und zur Höhe! Seid diesen Unsicheren Meister und
Väter, ohne zu ermüden und ohne die Geduld zu verlieren. Treiben sie euch zur
Verzweiflung? Macht nichts! Auch ihr treibt mich oft zur Verzweiflung, und
noch mehr den Vater im Himmel, der oft denken muß, daß das Wort wohl umsonst
Fleisch angenommen hat, weil der Mensch auch jetzt noch zweifelt, obwohl er
das Wort Gottes reden hört.
Ihr wollt euch doch nicht
einbilden, daß ihr mehr als Gott, mehr als ich seid! Öffnet also diesen
Gefangenen des "wenn" und "aber" die Gefängnisse. Befreit sie von den Ketten
des "Kann ich es?" und "Wenn es mir nicht gelingt?" Überzeugt sie, daß es
genügt, sein Bestes zu tun, um Gott zufriedenzustellen. Und wenn ihr seht, daß
sie den Halt verlieren, dann geht nicht vorüber, sondern richtet sie wieder
auf, wie es die Mütter tun, die nicht weitergehen, wenn ihr Kind fällt,
sondern stehenbleiben, ihm aufhelfen, es sauber machen, es trösten und es
schützen, bis es die Angst vor einem neuen Fall verloren hat. Und monate- und
jahrelang machen sie es so mit dem Kind, wenn es schwache Beinchen hat.
Kleidet die Nackten des Geistes
mit Verzeihung, wenn sie euch beleidigen.
Beleidigung ist Lieblosigkeit.
Die Lieblosigkeit entfernt von Gott. Wer andere beleidigt, wird nackt, und nur
die Verzeihung des Beleidigten bekleidet seine Nacktheit wieder, denn sie
führt ihn zu Gott zurück. Gott wartet mit der Verzeihung, bis der Beleidigte
verziehen hat. Er verzeiht sowohl dem vom Menschen Beleidigten als auch dem
Beleidiger des Menschen und Gottes. Es gibt keinen, der seinen Herrn noch nie
beleidigt hätte. Aber Gott verzeiht uns, wenn wir unserem Nächsten verzeihen,
und er verzeiht dem Nächsten, wenn der Beleidigte ihm verziehen hat. Es wird
euch geschehen, wie ihr tut. Verzeiht, wenn ihr Verzeihung wollt, und ihr
werdet euch im Himmel über die Nächstenliebe, die ihr geübt habt, freuen wie
über einen Sternenmantel, der auf eure heiligen Schultern gelegt wurde.
Seid barmherzig mit den
Weinenden!
Sie sind die Verwundeten des
Lebens, die Kranken des verletzten Herzens. Schließt euch nicht in eure
Selbstzufriedenheit wie in eine Festung ein. Weint mit den Weinenden! Tröstet
die Trauernden! Füllt die Leere aus, die durch den Tod eines Verwandten
entstanden ist! Seid den Waisen Väter, den Eltern Kinder, und seid allen
Brüder und Schwestern!
Liebt! Warum nur die Glücklichen
lieben? Sie haben schon ihren Anteil an der Sonne. Liebt die Weinenden! Sie
sind am wenigsten liebenswert für die Welt, denn die Welt kennt den Wert der
Tränen nicht. Ihr kennt
165
ihn. Liebt daher die Weinenden!
Liebt sie, wenn sie sich in ihr Schicksal ergeben. Liebt sie noch mehr, wenn
sie sich gegen das Leid auflehnen. Keine Vorwürfe, sondern Güte, um sie von
der Wahrheit des Schmerzes zu überzeugen und sie über den Schmerz zu belehren.
Sie können durch den Schleier der Tränen das Antlitz Gottes nur entstellt
sehen und betrachten ihn als eine rächende Übermacht.
Nein! Nehmt keinen Anstoß an den
falschen Vorstellungen, die das Fieber des Schmerzes erzeugt. Kommt ihnen zu
Hilfe, um sie vom Fieber zu befreien.
Euer lebendiger Glaube soll wie
das Eis sein, das man dem Fiebernden reicht. Ist das Fieber gesunken und die
Niedergeschlagenheit und die Schwäche eines aus einem schrecklichen Traum
Erwachten eingetreten, behandelt ihn wie ein Kind, das durch eine Krankheit
geistig zurückgeblieben ist, und sprecht ihm wieder sanft und geduldig von
Gott wie von etwas Neuem... Oh, welch ein schönes Märchen, um das ewige Kind,
das der Mensch ist, zu zerstreuen! Dann schweigt! Seid nicht aufdringlich...
Die Seele arbeitet alleine weiter. Helft ihr mit Liebkosungen und Gebet. Und
wenn sie dann sagt: "Es ist also nicht Gott gewesen?" dann erwidert: "Nein! Er
wollte dir nicht wehtun, denn er liebt dich auch für den, der dich nicht mehr
lieben kann, weil er tot ist oder dich aus einem anderen Grund verlassen hat."
Und wenn die Seele sagt: "Aber ich habe ihn angeklagt", dann antwortet: "Er
hat es vergessen, denn es war im Fieber." Wenn er dann hinzufügt: "Ich
verlange nach ihm", dann erklärt: "Hier ist er! Er steht an der Türe deines
Herzens und wartet nur darauf, daß du ihm öffnest."
Ertragt lästige Menschen!
Sie stören die Ruhe des kleinen
Hauses unseres Ichs, wie die Wanderer die Ruhe des Hauses stören, in dem wir
wohnen. Aber so, wie ich euch gesagt habe, daß ihr die einen empfangen sollt,
so sage ich euch auch, daß ihr die anderen empfangen sollt.
Sind sie euch lästig? Aber wenn
ihr sie auch nicht liebt wegen der Störung, die sie euch verursachen, so
lieben sie doch euch mehr oder weniger. Um dieser Liebe willen nehmt sie auf.
Und wenn sie auch neugierig, gehässig, beleidigend werden, übt immer Geduld
und Liebe! Ihr könnt sie mit eurer Geduld bessern. Ihr könnt durch eure
Lieblosigkeit Ärgernis erregen. Es soll euch schmerzen, daß sie sündigen; aber
noch mehr soll es euch schmerzen, wenn ihr die Ursache der Sünden seid und
selbst sündigt. Nehmt sie in meinem Namen auf, wenn ihr sie nicht mit eurer
Liebe aufnehmen könnt. Gott wird euch belohnen und euren Besuch erwidern,
indem er die bösen Erinnerungen mit seinen übernatürlichen Liebeserweisen
auslöscht.
Schließlich, bestattet die
Sünder, um ihre Rückkehr zum Leben der
166
Gnade vorzubereiten. Wißt ihr,
wann ihr dies tut? Wenn ihr sie mit väterlicher, geduldiger und liebevoller
Eindringlichkeit ermahnt. Es ist, als ob ihr die Häßlichkeiten des Körpers,
eine nach der anderen, begraben würdet, bevor ihr den Körper zu Grabe tragt,
in Erwartung des Befehles Gottes: "Erhebe dich und komme zu mir!"
Wir Juden reinigen die Toten aus
Ehrfurcht vor der Auferstehung des Fleisches. Die Ermahnung der Sünder kommt
einer Reinigung der Glieder vor dem Begräbnis gleich. Das Übrige wird die
Gnade des Herrn tun. Reinigt sie mit Liebe, Tränen und Opfern. Entreißt die
Seelen auf heroische Weise dem Verderben. Seid heroisch!
Ihr werdet nicht unbelohnt
bleiben. Denn wenn schon für ein dem Durstigen gereichtes Glas Wasser eine
Belohnung gegeben wird, was wird dem dann gegeben werden, der eine Seele vor
dem höllischen Durst bewahrt?
Ich habe gesprochen. Diese Werke
der leiblichen und geistigen Barmherzigkeit vermehren die Liebe. Geht und tut
sie! Der Friede Gottes und mein Friede seien allezeit mit euch.»
319. DER GEIZ UND DER TÖRICHTE
REICHE
Jesus befindet sich auf einem
Hügel am westlichen Ufer des Sees. Vor seinen Augen breiten sich die Städte
und Dörfer der beiden Ufer aus, doch direkt am Fuß seines Hügels liegen
Magdala und Tiberias. Ersteres hat ein ganz in Gärten verstecktes
Luxusviertel, das von den armen Häusern der Fischer, Bauern und einfachen
Leute durch einen zurzeit ausgetrockneten Bach getrennt ist; die andere Stadt,
in all ihren Teilen herrlich, kennt weder Armut noch Verfall und erstrahlt
schön und neu am See in der Sonne. Zwischen der einen und der anderen Stadt
die wenigen, aber wohlgepflegten Gärten in der kleinen Ebene, dann, an den
Hängen bis zu den Kuppen der Hügel, die Olivenhaine. Hinter dem Rücken Jesu
sieht man den Sattel des Berges der Seligpreisungen, an dessen Fuß sich die
Hauptstraße hinzieht, die vom Mittelmeer nach Tiberias führt. Vielleicht hat
Jesus diese Stelle wegen der Nähe der sehr belebten Straße ausgewählt, auf der
die Menschen von vielen Orten am See oder vom Inneren Galiläas kommen und am
Abend auch leicht nach Hause zurückkehren oder eines der Dörfer erreichen
können, um Unterkunft zu finden. Es ist hier nicht so heiß wegen der Höhenlage
und der großen Bäume, die auf dem Gipfel die Ölbäume ablösen.
Tatsächlich hat sich schon viel
Volk zu den Aposteln und Jüngern gesellt. Menschen, die gekommen sind, um
Jesus um Gesundheit oder Rat zu bitten. Leute, die aus Neugierde gekommen oder
weil sie von Freunden
167
eingeladen worden sind. Eine
große Volksmenge also. Die Jahreszeit, die nicht mehr so heiß ist, sondern
schon zur herbstlichen Milde neigt, lädt mehr denn je dazu ein, Jesus
aufzusuchen.
Jesus hat schon Kranke geheilt
und zu den Menschen gesprochen, gewiß über den ungerechten Reichtum und die
Loslösung von diesem, die notwendig ist für alle, um sich den Himmel zu
verdienen, aber unerläßlich für jene, die Jesu Jünger sein wollen. Und nun
antwortet er auf die Fragen des einen oder anderen reichen Jüngers, die
darüber ein wenig beunruhigt sind.
Der Schriftgelehrte Johannes
sagt: «Muß ich also vernichten, was ich habe, und die Meinen des ihrigen
entledigen?»
«Nein! Gott hat dir Besitz
gegeben. Mache ihn der Gerechtigkeit dienstbar und bediene dich seiner mit
Redlichkeit. Das heißt: erhalte mit dem Besitz deine Familie, das ist Pflicht;
behandle die Diener menschlich, das ist Liebe; tue den Armen Gutes und komme
den armen Jüngern zu Hilfe. So werden dir deine Besitztümer nicht ein
Hindernis, sondern eine Hilfe sein.»
Darauf wendet Jesus sich an alle:
«Wahrlich, ich sage euch, daß selbst der ärmste Jünger Gefahr läuft, den
Himmel zu verlieren, wenn er mein Priester geworden ist und aus Liebe zu den
Reichtümern gegen die Gerechtigkeit fehlt, indem er mit den Reichen gemeinsame
Sache macht. Wer reich oder böse ist, wird oft versuchen, euch mit Geschenken
zu verlocken, um eure Zustimmung für seine Lebensweise und seine Sünde zu
erhalten. Es wird auch unter meinen Jüngern geschehen, daß sie der Versuchung,
Geschenke anzunehmen, erliegen. Das darf nicht sein! Der Täufer lehrt es euch!
Wahrlich, ohne Richter zu sein, war er ein vollkommener Richter und Lehrer
gemäß dem Deuteronomium: "Du sollst keine persönliche Rücksicht und keine
Geschenke nehmen, denn sie blenden die Augen der Weisen und verdrehen die
Worte der Gerechten." Zu oft läßt der Träger des Schwertes der Gerechtigkeit
die Klinge stumpf werden durch das Gold, das ein Sünder ihm daraufschüttet.
Nein, das darf nicht sein!
Versteht es, arm zu sein, seid bereit zu sterben, aber schließt nie ein
Bündnis mit der Sünde. Nicht einmal mit der Entschuldigung, das Gold für die
Armen zu verwenden. Es ist verfluchtes Gold und würde ihnen nur schaden. Es
ist das Gold eines üblen Kompromisses.
Ihr seid als Jünger bestellt,
Lehrer, Ärzte und Erlöser zu sein. Was würde aus euch werden, wenn ihr aus
Eigennutz Mitläufer des Bösen würdet? Meister der schlechten Wissenschaft,
Ärzte, die den Kranken töten; nicht Retter, sondern Mitschuldige am Verderben
der Seelen.»
Einer aus der Menge tritt vor und
sagt: «Ich bin kein Jünger. Aber ich bewundere dich. Antworte mir daher auf
diese Frage: Ist es erlaubt, daß einer dem anderen Geld vorenthält?»
168
«Nein, Mann! Das ist Diebstahl,
genauso, wie wenn jemand einem Vorübergehenden die Tasche nimmt.»
«Auch wenn das Geld der Familie
gehört?»
«Auch dann! Es ist ungerecht,
wenn einer sich das Geld aller anderen aneignet.»
«Dann komm auf dem Weg nach
Damaskus nach Abelmain, Meister, und befiehl meinem Bruder, mir meinen Anteil
am Erbe des verstorbenen Vaters zu geben, der kein Testament hinterlassen hat.
Mein Bruder hat alles an sich genommen. Es ist bekannt, daß wir Zwillinge der
ersten und einzigen Geburt sind. Ich habe also die gleichen Rechte wie er.»
Jesus schaut ihn an und sagt:
«Das ist eine peinliche Angelegenheit, und dein Bruder handelt sicher nicht
recht. Alles, was ich tun kann, ist, für dich und mehr noch für ihn beten,
damit er sich bekehre, und in dein Dorf kommen, dort predigen und dadurch sein
Herz rühren. Ich scheue den Weg nicht, wenn ich den Frieden unter euch
wiederherstellen kann.»
Der Mann fährt giftig auf: «Was
soll ich mit deinen Worten anfangen? In diesem Fall braucht es anderes als
Worte.»
«Aber hast du mich nicht gebeten,
deinem Bruder zu befehlen ...»
«Befehlen ist nicht dasselbe wie
predigen. Der Befehl ist immer mit einer Drohung verbunden. Drohe ihm, daß du
ihn schlägst, wenn er mir nicht das Meine gibt. Du kannst es tun. Wie du
Gesundheit schenkst, so kannst du auch Krankheiten geben.»
«Mann, ich bin gekommen, um zu
bekehren, nicht um zu schlagen. Aber wenn du Vertrauen in meine Worte hast,
wirst du Frieden finden.»
«Welche Worte?»
«Ich habe dir gesagt, daß ich für
dich und deinen Bruder beten werde, damit du getröstet wirst, und er sich
bekehrt.»
«Märchen! Geschichten! Ich bin
nicht so dumm, an sie zu glauben. Komm und befiehl.»
Jesus, der sanft und geduldig
war, wird nun machtvoll und streng. Er richtet sich auf, während er sich
bisher ein wenig über das korpulente und zornige Männlein geneigt hat, und
sagt: «Wer hat mich zum Schiedsrichter zwischen euch bestellt? Niemand! Aber
um diesen Zwist zwischen zwei Brüdern zu beheben, war ich bereit zu kommen und
meine Mission als Friedensstifter und Erlöser auszuüben, und wenn du an meine
Worte geglaubt hättest, hättest du bei deiner Rückkehr nach Abelmain deinen
Bruder schon bekehrt vorgefunden. Du kannst nicht glauben. Und so wirst du das
Wunder nicht erlangen. Wenn es dir gelungen wäre, dich dieses Schatzes zu
bemächtigen, dann hättest du ihn behalten und deinen Bruder leer ausgehen
lassen; denn wahrlich, so wie ihr als Zwillinge geboren seid, so habt ihr auch
die gleichen Leidenschaften, und du hast, wie dein Bruder, nur eine Liebe: das
Gold, und einen Glauben: das Gold. Bleib also bei deinem Glauben. Leb wohl!»
169
Der Mann geht fluchend davon, ein
Ärgernis für die anderen, die ihn bestrafen möchten. Doch Jesus hält sie
zurück und sagt: «Laßt ihn gehen. Warum wollt ihr euch die Hände beschmutzen,
indem ihr einen groben Menschen schlagt? Ich verzeihe ihm, denn er ist vom
Dämon des Goldes besessen, der ihn verführt. Macht es mir nach! Wir wollen für
diesen Unglücklichen beten, damit er wieder ein Mensch mit einer schönen,
freien Seele wird.»
«Es ist wahr: auch sein
Gesichtsausdruck ist durch seine Habgier ganz abscheulich geworden. Hast du
ihn gesehen?» fragen sich die Jünger und die Leute, die in der Nähe stehen,
gegenseitig.
«Es ist wahr! Es ist wahr! Er ist
ein ganz anderer geworden.»
«Ja. Als er den Meister
zurückwies, hätte er ihn beinahe geschlagen, während er ihn beschimpfte, und
nahm den Gesichtsausdruck eines Dämons an.»
«Ein teuflischer Verführer. Er
wollte den Meister zu einer Schlechtigkeit verführen ...»
«Hört», sagt Jesus. «Tatsächlich
spiegelt sich der Seelenzustand eines Menschen in seinem Antlitz wieder. Es
ist, als ob der Dämon sich im Äußeren des von ihm besessenen Menschen zeigte.
Es gibt nur wenige von Dämonen besessene Menschen, die sich nicht durch ihre
Werke und durch ihr Aussehen als das verraten, was sie sind. Und diese wenigen
sind die vollkommen Bösen und vollkommen Besessenen.
Das Gesicht des Gerechten
hingegen ist immer schön, selbst wenn seine Züge entstellt sind, denn es ist
schön durch eine übernatürliche Schönheit, die sich vom Innern auf das Äußere
überträgt. Nicht nur gewissermaßen, sondern tatsächlich können wir beobachten,
wie dem von Lastern Unberührten auch Frische des Fleisches eigen ist. Die
Seele ist in uns und durchdringt uns ganz. Die Fäulnis einer verkommenen Seele
aber verdirbt auch das Fleisch, während die Düfte einer reinen Seele es
schützen. Die verdorbene Seele treibt das Fleisch zu wüsten Sünden an, und
diese machen alt und entstellen. Die reine Seele fordert das Fleisch zu einem
reinen Leben auf, und so bewahrt es seine Frische und strahlt Würde aus.
Sorgt dafür, daß in euch die
reine Jugend des Geistes erhalten bleibt oder daß ihr sie wiedererlangt, wenn
sie verlorengegangen ist, und hütet euch vor jeder Begehrlichkeit der Sinne
oder der Macht. Das Leben des Menschen hängt nicht vom Überfluß der Güter ab,
die er besitzt, und weder das irdische noch das andere Leben, das ewige, hängt
davon ab! Es hängt ab von der Lebensweise. Und mit dem Leben das Glück dieser
Erde und des Himmels. Denn der Lasterhafte ist nie wirklich glücklich, während
den Tugendhaften immer eine himmlische Freude erfüllt, auch wenn er arm und
einsam ist. Nicht einmal der Tod beeindruckt ihn. Denn weder Sünden noch
Gewissensbisse lassen ihn die Begegnung mit Gott fürchten; er trauert dem
nicht nach, was er zurücklassen muß. Er weiß, daß sein
170
Schatz im Himmel ist, und er geht
wie einer, der von seinem Erbe, dem heiligen Erbe, Besitz ergreifen will,
ruhig und froh dem Tod entgegen, der ihm die Tore öffnet zum Reich, wo sein
Schatz ist.
Bereitet jetzt euren Schatz vor.
Beginnt schon in der Jugend, ihr, die ihr noch jung seid; arbeitet unablässig,
ihr Älteren, die ihr wegen eures Alters dem Tod näher seid. Und da ihr nicht
wißt, wann ihr diese Welt verlaßt und der Jüngling oft vor dem Greis stirbt,
verschiebt diese Arbeit nicht und schafft euch einen Schatz an Tugenden und
guten Werken für das andere Leben, damit euch nicht der Tod ereilt, bevor ihr
einen Schatz an Verdiensten im Himmel habt. Viele sagen: "Oh, ich bin noch
jung und stark! Jetzt will ich mein Leben genießen, später will ich mich
bekehren!" Großer Irrtum!
Hört dieses Gleichnis. Einem
reichen Mann haben seine Ländereien eine reichliche Ernte gebracht. Wirklich
eine wunderbare Ernte. Er betrachtet glücklich all seinen Reichtum, der sich
in Hülle und Fülle auf seinen Feldern und seinen Tennen anhäuft; und da er
keinen Platz mehr in den Scheunen hat, um ihn unterzubringen, benützt er sogar
die Räume seines Hauses. Dann sagt er zu sich: "Ich habe gearbeitet wie ein
Sklave, aber die Erde hat mich nicht enttäuscht. Ich habe für zehn Ernten
gearbeitet, und jetzt will ich mich entsprechend ausruhen. Wie kann ich alles
unterbringen? Ich will nichts verkaufen, denn ich wäre dann gezwungen, wieder
zu arbeiten für eine neue Ernte im nächsten Jahre. Ich mache es so: Ich will
meine Scheunen abreißen und größere bauen, in denen meine ganze Ernte, und was
ich besitze, Platz hat. Dann will ich zu meiner Seele sagen: 'O meine Seele!
Du hast nun Vorrat für viele Jahre. Ruhe dich aus, iß und trink und laß es dir
gut gehen."' Dieser Mann verwechselt wie so viele andere den Körper mit der
Seele und vermischt das Heilige mit dem Unheiligen, denn wahrlich, in der
Schwelgerei und im Müßiggang erfreut sich die Seele nicht, sondern sie
verkümmert; so ruht er sich wie viele andere nach der ersten großen Ernte auf
den Feldern des Guten aus, da ihm scheint, daß schon alles getan ist.
Wißt ihr denn nicht, daß man,
wenn man die Hand an den Pflug gelegt hat, durchhalten muß, zehn oder hundert
Jahre, solange das Leben dauert; denn Aufhören ist ein Verbrechen gegen sich
selbst, durch das man die Erlangung einer größeren Herrlichkeit unmöglich
macht; es ist ein Rückschritt, denn wer beim Durchschnittlichen stehenbleibt,
kommt nicht nur nicht mehr vorwärts, er geht vielmehr rückwärts. Der Schatz
des Himmels muß sich von Jahr zu Jahr vermehren, um Wert zu haben. Denn, wenn
die Barmherzigkeit auch mit dem gütig sein wird, der nur wenige Jahre Zeit
hatte, so ist sie nicht Helfershelfer der Trägen, die viele Jahre haben und
wenig tun. Es ist ein Schatz, der ständig anwachsen muß, sonst ist er kein
gewinnbringendes, sondern totes Kapital, und dies auf Kosten des im Himmel
wartenden Friedens. Gott sagte zum Törichten:
171
"Du törichter Mensch, der du den
Körper und die irdischen Güter mit dem, was Geist ist, verwechselst und die
Gnade Gottes in Schlechtes verkehrst, wisse, daß noch heute nacht deine Seele
von dir gefordert werden und der Körper leblos zurückbleiben kann. Was du
vorbereitet hast, wem wird es gehören? Kannst du es mitnehmen? Du wirst ohne
deine irdische Ernte und ohne Verdienste für den Himmel erworben zu haben vor
mir erscheinen und im anderen Leben arm sein. Besser wäre es für dich gewesen,
du hättest mit deiner Ernte Barmherzigkeit am Nächsten geübt. Denn wenn du
gegen deinen Nächsten barmherzig bist, ist Gott auch dir barmherzig. Anstatt
an Müßiggang zu denken, hättest du Tätigkeiten nachgehen sollen, die deinem
Körper wahren Nutzen und deiner Seele Verdienste einbringen, bis ich dich
rufen werde." Und der Mann starb in der Nacht und wurde streng gerichtet.
Wahrlich, ich sage euch, so geht
es dem, der irdische Reichtümer sammelt, aber in den Augen Gottes arm bleibt.
Nun geht und zieht einen Nutzen aus der Lehre, die ich euch gegeben habe. Der
Friede sei mit euch!»
Jesus segnet das Volk und zieht
sich mit den Aposteln und den Jüngern in einen dichten Hain zurück, um etwas
zu essen und sich auszuruhen. Doch während der Mahlzeit fährt er mit der
Belehrung fort und kommt auf ein Thema zurück, über das er schon oft zu den
Aposteln gesprochen hat. Doch es ist gut, darauf wieder und wieder einzugehen,
da der Mensch sich zu sehr von seinen törichten Ängsten überwältigen läßt.
«Glaubt mir», sagt er, «daß man
nur darauf bedacht sein muß, an Tugend reich zu werden. Und achtet darauf, daß
eure Bemühungen niemals mit Aufregung und Unruhe verbunden sind. Das Gute ist
den Unruhen, den Ängsten und der Hetze, die noch an Geiz, Eifersucht und
menschliches Mißtrauen erinnern, feind.
Eure Arbeit sei ausdauernd,
vertrauensvoll, friedfertig. Ohne plötzlichen Beginn und plötzliche
Unterbrechung. So machen es die Wildesel. Aber niemand außer einem
Schwachsinnigen bedient sich ihrer, wenn er sicher reisen will. Friedfertig in
Siegen, friedfertig in Niederlagen! Auch die Tränen über einen begangenen
Fehler, der euch betrübt, weil ihr damit Gott mißfallen habt, müssen friedvoll
sein, getröstet durch Demut und Vertrauen. Die Niedergeschlagenheit und der
Zorn auf sich selbst sind immer ein Zeichen von Hochmut und Mißtrauen. Wenn
einer demütig ist, weiß er, daß er ein armer Mensch und den Nöten des
Fleisches unterworfen ist, das manchmal triumphiert. Wenn einer demütig ist,
hat er kein zu großes Vertrauen in sich selbst, sondern er vertraut auf Gott
und bleibt auch bei Fehlschlägen ruhig und sagt: "Verzeih mir, Vater. Ich
weiß, daß du meine Schwächen kennst, die mich manchmal übermannen. Ich glaube,
daß du Mitleid mit mir hast. Ich habe das feste Vertrauen, daß du mir in
Zukunft noch mehr als in der Vergangenheit helfen wirst, obwohl ich dich so
wenig zufriedengestellt habe."
172
Und dann, seid weder apathisch
noch geizig hinsichtlich der Gaben Gottes. Gebt, was ihr an Weisheit und
Tugend besitzt. Seid tätig im Geist, so wie die Menschen in den Dingen des
Fleisches geschäftig sind. Und was das Fleisch betrifft, macht es nicht jenen
in der Welt nach, die immer um ihre Zukunft besorgt sind und fürchten, es
könnte ihnen an Überfluß fehlen, es könnten Krankheiten oder Tod kommen, es
könnten ihnen Feinde Schaden zufügen und so weiter.
Gott weiß, was ihr nötig habt.
Fürchtet daher nicht für eure Zukunft. Seid frei von Ängsten, die schwerer
wiegen als die Ketten der Galeerensträflinge. Sorgt euch nicht um euer Leben
oder um das, was ihr essen, trinken und womit ihr euch bekleiden sollt. Das
Leben des Geistes ist mehr wert als das Leben des Körpers, und der Körper ist
mehr wert als das Gewand; denn ihr lebt mit dem Körper und nicht mit dem
Gewand, und durch die Abtötung des Körpers helft ihr dem Geist, das ewige
Leben zu erlangen. Gott weiß, wie lange er die Seele in eurem Körper lassen
wird; solange wird er euch das Notwendige geben. Er gibt es den Raben,
unreinen Tieren, die sich von Kadavern nähren und ihre Daseinsberechtigung
darin haben, daß sie die Verwesung beseitigen. Und da sollte er es euch nicht
geben? Sie haben keine Vorratskammern und Scheunen, und Gott ernährt sie doch.
Ihr seid Menschen und keine Raben. Gegenwärtig seid ihr die Blüte der
Menschheit, denn ihr seid die Jünger des Meisters, die Verkünder des
Evangeliums in dieser Welt, die Diener Gottes. Und glaubt ihr, daß Gott, der
sich um die Lilien der Felder kümmert und sie wachsen läßt und schöner kleidet
als Salomon gekleidet war, ohne daß sie etwas anderes tun als ihn durch ihren
Duft anzubeten, es euch an Kleidung fehlen läßt?
Ihr könnt nicht einmal in einen
zahnlosen Mund einen Zahn einsetzen; ihr könnt ein verkrüppeltes Bein nicht um
eine Daumenbreite wachsen lassen, noch einem blinden Auge die Sehkraft
wiedergeben. Und wenn ihr dazu nicht fähig seid, wie könnt ihr dann glauben,
daß es euch gelingt, Elend und Krankheiten von euch fernzuhalten und den Staub
in Nahrung zu verwandeln? Ihr könnt es nicht! Doch seid nicht schwach im
Glauben; ihr werdet immer haben, was ihr braucht. Sorgt euch nicht wie die
Menschen der Welt, die sich abrackern, um sich vergnügen zu können. Ihr habt
euren Vater, der weiß, was euch fehlt. Ihr müßt allein darauf bedacht sein,
und es soll eure erste Sorge sein, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu
suchen, alles übrige wird euch hinzugegeben werden.
Fürchte dich nicht, meine kleine
Herde! Meinem Vater hat es gefallen, euch zum Reich zu berufen, damit ihr
dieses Reich besitzt. Ihr könnt daher nach ihm streben und dem Vater mit eurem
guten Willen und eurem heiligen Tun helfen. Verkauft eure Güter und gebt
Almosen, wenn ihr allein seid. Laßt den Euren das Nötige, wenn ihr das Haus
verlaßt, um mir zu folgen; denn es ist gerecht, den Kindern und den Frauen das
Brot nicht
173
vorzuenthalten. Wenn ihr euer
Geld nicht opfern könnt, dann opfert den Reichtum des Mitgefühls. Auch das
sind Münzen, die Gott als solche bewertet, und zwar wie reinstes Gold und
Perlen, die kostbarer sind als die des Meeres; wie Rubinen, die seltener sind
als die aus dem Schoß der Erde. Denn meinetwegen auf die eigene Familie
verzichten bedeutet Liebe, die vollkommener ist als lauteres Gold, eine Perle
aus Tränen und ein Rubin aus Blut, das aus der Wunde des Herzens quillt, das
zerrissen wurde durch die Trennung von Vater und Mutter, von Frau und Kindern.
Und diese Börsen bekommen keine
Löcher, dieser Schatz geht nie verloren. Diebe können nicht in den Himmel
eindringen. Die Motte zerstört nicht, was dort aufgehoben ist. Habt den Himmel
im Herzen und das Herz im Himmel bei eurem Schatz. Denn das Herz, sei es gut
oder böse, ist immer dort, wo es glaubt, daß sich sein Schatz befindet. So wie
das Herz also dort ist, wo der Schatz ist – im Himmel – so ist der Schatz
dort, wo das Herz ist – also in euch -; ja, der Schatz ist im Herzen, und mit
dem Schatz der Heiligen ist im Herzen der Himmel der Heiligen.
Seid immer bereit wie einer, der
auf Reisen gehen will oder auf seinen Herrn wartet. Ihr seid Diener Gottes,
des Herrn. Jede Stunde kann er euch zu sich rufen oder dorthin kommen, wo ihr
seid. Seid daher immer bereit, aufzubrechen oder ihm mit zur Reise oder zur
Arbeit gegürteten Lenden und mit brennenden Lampen Ehre zu erweisen. Beim
Verlassen des Hochzeitssaales mit einem, der euch in den Himmel, oder bei der
Weihe an Gott auf Erden, vorausgegangen ist, kann Gott sich euer, die ihr
wartet, erinnern und sagen: "Gehen wir zu Stephanus oder Johannes, zu Jakobus
oder Petrus." Gott kommt unversehens und sagt: "Komm!" Seid daher bereit, ihm
die Tür zu öffnen, wenn er kommt, oder aufzubrechen, wenn er euch ruft.
Selig die Diener, die der Herr
wachend findet, wenn er kommt. Wahrlich, um sie für ihre treue Erwartung zu
belohnen, wird er sein Gewand schürzen und sie am Tisch Platz nehmen lassen,
um sie zu bedienen. Das kann zur ersten, zur zweiten oder zur dritten
Nachtwache geschehen. Ihr wißt es nicht. Seid daher immer wachsam! Selig seid
ihr, wenn euch der Herr wachend findet! Täuscht euch nicht, indem ihr sagt:
"Es ist noch Zeit! Heute nacht wird er nicht kommen." Es könnte schlecht
ausgehen. Ihr wißt es nicht. Wenn einer wüßte, wann der Dieb kommt, würde er
das Haus nicht unbewacht und den Bösewicht nicht die Türe und die Schlösser
aufbrechen lassen. Seid auch ihr wachsam, denn wenn ihr am wenigsten daran
denkt und darauf vorbereitet seid, wird der Menschensohn kommen und sagen:
"Die Stunde ist gekommen."»
Petrus, der sogar vergessen hat,
fertigzuessen, um dem Herrn zuzuhören, fragt nun: «Was du da sagst, gilt das
für uns oder für alle?»
«Es gilt für euch und für alle.
Doch mehr für euch, denn ihr seid wie Aufseher, die der Herr an die Spitze
seiner Diener gestellt hat; ihr seid
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doppelt verpflichtet, bereit zu
sein, als Aufseher und als einfache Gläubige.
Wie muß der vom Herrn an die
Spitze der Diener bestellte Aufseher sein, um jedem zur rechten Zeit den
gerechten Anteil zu geben? Er muß gewissenhaft und treu sein. Um seine Pflicht
zu erfüllen und um die Untergebenen ihre Pflicht erfüllen zu lassen. Sonst
würden die Angelegenheiten des Herrn, der dafür bezahlt, daß der Aufseher ihn
vertritt und in seiner Abwesenheit die Geschäfte abwickelt, Schaden leiden.
Selig der Knecht, den der Herr bei seiner Rückkehr treu, eifrig und gerecht
vorfindet. Wahrlich, ich sage euch, er wird ihn auch zum Aufseher über andere
Güter, alle seine Güter, machen und sich ausruhen und sich in seinem Herzen
freuen über die Sicherheit, die ein solcher Diener ihm gibt.
Wenn aber dieser Knecht sich
sagt: "Oh, gut! Der Herr ist weit fort und hat mir geschrieben, daß sich seine
Rückkehr verzögern wird. So kann ich tun, was ich will, und wenn seine Ankunft
bevorsteht, werde ich mich um alles kümmern"; wenn er dann zu essen und zu
trinken beginnt, bis er betrunken ist, und betrunken Anordnungen gibt, und die
guten Knechte, die ihm unterstellt sind, sich weigern, ihm zu gehorchen, um
dem Herrn keinen Schaden zuzufügen; wenn er dann anfängt, Diener und
Dienerinnen zu schlagen, so daß sie krank werden und dahinsiechen; wenn er
glaubt, glücklich zu sein und sagen zu können: "Endlich kann ich einmal
verkosten, was es heißt, Herr zu sein und von allen gefürchtet zu werden", was
wird dann geschehen? Es wird geschehen, daß der Herr zurückkehrt, wenn er es
am wenigsten erwartet; vielleicht in eben dem Augenblick, da er Geld einsteckt
oder einen der schwächeren Knechte besticht. Dann -das sage ich euch – wird
der Herr ihn von seinem Posten als Aufseher und sogar aus den Reihen seiner
Diener verjagen, denn es ist nicht statthaft, Untreue und Verräter unter den
Redlichen zu lassen. Und je mehr der Herr ihn zuvor geliebt und unterwiesen
hatte, desto mehr wird er bestraft werden.
Denn je besser man die Absichten
und den Willen des Herrn kennt, desto mehr ist man gehalten, alles mit
äußerster Sorgfalt auszuführen. Wer nicht alles ausführt, was der Herr ihm
ausführlich gesagt hat, wird schwer bestraft werden, während ein geringerer
Diener, der wenig weiß und Fehler macht im Glauben, das Richtige zu tun,
weniger bestraft werden wird. Von dem, dem viel gegeben wurde, wird auch viel
verlangt werden, und wer beauftragt war, viel zu verwalten, wird viel geben
müssen; denn von meinen Verwaltern wird auch die Seele des Kindes gefordert
werden, das nur eine Stunde gelebt hat.
Die Auserwählung durch mich
bedeutet nicht ein Ausruhen in einem kühlen, blühenden Wald. Ich bin gekommen,
Feuer auf die Erde zu bringen und was kann ich anderes verlangen, als daß es
brenne! Deshalb
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mühe ich mich und will, daß ihr
euch abmüht bis zum Tod und bis die Erde zu einem Scheiterhaufen des
himmlischen Feuers geworden ist.
Ich muß mit einer Taufe getauft
werden. Und wie sehr drängt es mich, daß es bald geschehe! Fragt ihr euch
nicht, warum? Weil ich euch dadurch zu Trägern des Feuers werden lassen kann,
zu Arbeitern, die in allen und gegen alle gesellschaftlichen Schichten wirken
werden, um aus ihnen eine einzige Gemeinschaft zu machen: die Herde Christi.
Glaubt ihr, daß ich gekommen sei,
Frieden auf die Erde zu bringen? Den Frieden, den die Welt will? Nein,
vielmehr Zwietracht und Trennung. Denn von nun an und solange die ganze Erde
nicht eine einzige Herde ist, werden von fünf, die in einem Haus wohnen, drei
gegen zwei sein, und der Vater wird gegen den Sohn sein, und der Sohn gegen
den Vater, und die Mutter gegen die Töchter, und diese gegen sie, und die
Schwiegermütter und die Schwiegertöchter werden einen Grund mehr haben, sich
nicht zu verstehen; denn eine neue Sprache wird auf manchen Lippen sein, und
es wird ein Babel geben, denn das Reich der menschlichen und übermenschlichen
Beziehungen wird eine tiefe Erschütterung erleben. Aber dann wird die Stunde
kommen, in der alle durch eine neue Sprache verbunden sind: die Sprache, die
von all denen gesprochen wird, die vom Nazarener erlöst sind; und der Strom
der Gefühle wird gereinigt werden und aller Schmutz auf den Grund sinken, und
an der Oberfläche werden die klaren Wellen der himmlischen Seen erglänzen.
Wahrlich, mir zu dienen ist kein
Ausruhen, wie die Menschen den Sinn dieses Wortes auslegen. Es braucht dazu
Heroismus und Beharrlichkeit. Aber ich sage euch: am Ende wird Jesus sein,
immer noch Jesus, der sich gürten wird, um euch zu bedienen und sich zusammen
mit euch zu einem ewigen Gastmahl niederzusetzen, und Mühe und Schmerz werden
vergessen sein.
Und nun, da uns niemand mehr
sucht, wollen wir zum See gehen. Wir werden uns in Magdala ausruhen. In den
Gärten Marias des Lazarus ist Platz für alle, und sie hat das Haus dem Pilger
und seinen Freunden zur Verfügung gestellt. Es ist nicht nötig, daß ich euch
sage, daß Maria Magdalena, die Sünderin, gestorben und Maria des Lazarus durch
ihre Reue als Jüngerin Jesu zu einem neuen Leben erstanden ist. Ihr wißt es
schon, denn die Nachricht davon hat sich verbreitet wie ein Lauffeuer. Aber
das wißt ihr noch nicht: alle persönlichen Güter Marias des Lazarus sind für
die Diener Gottes und für die Armen Christi bestimmt. Laßt uns gehen...»
176
320. IM GARTEN MARIA MAGDALENAS
Jesus ist nicht mehr dort, wo er
bei der letzten Vision war. Er befindet sich jetzt in einem großen Garten, der
bis zum See reicht und in dessen Mitte ein Haus liegt. Dieser Garten dehnt
sich hinter dem Haus dreimal so weit aus wie davor und an den Seiten.
Es gibt dort Blumen, aber vor
allem Bäume und grüne Winkel, die teils kostbare Marmorbecken umrahmen, teils
steinerne Tische und Sitze bergen. Da und dort, bei Lorbeer- und Buchsstauden
und Wasserbecken, in deren klarem Wasser sie sich einst spiegelten, müssen
auch Statuen gestanden haben, von denen nur noch die Sockel übriggeblieben
sind. Die Anwesenheit Jesu mit den Seinen und die der Leute von Magdala,
darunter auch der kleine Benjamin, der gewagt hatte, Iskariot zu sagen, daß er
böse sei, läßt mich vermuten, daß es die Gärten um das Haus Magdalenas sind...
gereinigt und hergerichtet für ihre neue Aufgabe; alle Dinge, die Anstoß
erwecken oder an ihre Vergangenheit erinnern könnten, sind weggeräumt worden.
Das graublaue Gekräusel des Sees
spiegelt den Himmel wider, an dem Wolken voll der ersten Herbstregen
dahinziehen, doch ist er auch so schön, in diesem ruhigen und friedlichen
Licht eines Tages, der nicht heiter, aber auch noch nicht regnerisch ist. An
den Ufern des Sees gibt es nicht mehr viele Blumen, aber dafür hat sie der
größte Maler, der Herbst, mit seinen ockerfarbenen und purpurnen
Pinselstrichen bemalt, während das sterbende Laub der Bäume und Reben sich
verfärbt, bevor sie der Erde ihre lebenden Gewänder überlassen.
Eine Stelle im Garten einer
Villa, die wie diese hier am See liegt, ist von so flammendem Rot, als wolle
sich Blut ins Wasser ergießen; es ist eine Hecke aus biegsamen Zweigen, die
der Herbst in eine feurige Kupferfarbe getaucht zu haben scheint, während am
Ufer die Weiden mit ihren schmalen, blausilbernen Blättern schimmern, die nun
vor dem Sterben blasser sind als sonst.
Jesus schaut nicht auf das, was
ich sehe. Er schaut auf die armen Kranken, denen er Heilung gewährt. Er schaut
auf die armen Bettler, an die er Almosen verteilt. Er schaut auf die Kinder,
die ihm von den Müttern entgegengehalten werden, damit er sie segne. Und er
schaut auf eine Gruppe von Schwestern, die ihm von ihrem einzigen Bruder
berichten, dessen Benehmen die Mutter an Herzeleid hat sterben lassen und der
das ganze Vermögen verpraßt hat; sie bitten Jesus, ihnen einen Rat zu erteilen
und für sie zu beten.
«Gewiß will ich beten. Ich will
Gott bitten, daß er euch den Frieden gebe, daß euer Bruder sich bekehre und
sich eurer erinnere; daß er euch erstatte, was recht ist, und vor allem, daß
er euch wieder liebe. Denn wenn er euch liebt, wird er auch alles andere tun.
Ihr aber, liebt ihr ihn oder
177
empfindet ihr Groll gegen ihn?
Verzeiht ihr ihm von Herzen, oder sind eure Tränen mit Haß gemischt? Auch er
ist unglücklich. Mehr als ihr! Trotz der Reichtümer ist er ärmer als ihr, und
man muß Mitleid mit ihm haben. Er besitzt die Liebe nicht mehr, und auch Gott
liebt ihn nicht mehr. Seht ihr, wie unglücklich er ist? Ihr und eure Mutter,
die schon als erste vorangegangen ist, werdet mit dem Tod jubelnd das traurige
Leben beenden, zu dem er euch gezwungen hat. Er aber nicht. Einen falschen
Genuß würde er für eine schreckliche, ewige Qual eintauschen. Kommt näher zu
mir! Ich will zu allen sprechen, indem ich zu euch spreche.»
Und Jesus begibt sich in die
Mitte einer mit Blütensträuchern bewachsenen Wiese, wo früher eine Statue
stand. Ihr Sockel ist von einer niedrigen Myrthenhecke und Zwergröschen
umgeben. Jesus stellt sich vor diese Hecke und gibt zu verstehen, daß er reden
möchte. Alle schweigen und scharen sich um ihn.
«Der Friede sei mit euch! Hört!
Es steht geschrieben: "Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst." Aber wer ist der Nächste? Das ganze
Menschengeschlecht im allgemeinen. Dann, im engeren Sinn, alle Landsleute; im
noch engeren, alle Mitbürger; dann alle Verwandten, und schließlich der letzte
Kreis dieses Kranzes der Liebe, der wie Rosenblätter das Innere der Blume
umgibt, die Liebe zu den Brüdern dem Blut nach: den am nächsten Stehenden. Das
Zentrum des Herzens der Blume der Liebe ist Gott. Die Liebe zu ihm ist die
erste, die wir haben müssen. Danach kommt die Liebe zu den Eltern, denn Vater
und Mutter bilden sozusagen den kleinen "Gott" auf Erden; sie haben bei
unserer Erschaffung mitgewirkt und unermüdlich für uns gesorgt. Um diesen
Fruchtknoten herum, dessen Blütenstempel und Staubgefäße schimmernd und die
Düfte der Liebe ausströmen, schließen sich die Kreise der verschiedenen
Liebesarten an. Der erste ist der Kreis der Geschwister, die aus dem gleichen
Schoß stammen und vom gleichen Blut sind wie wir.
Aber warum soll man den Bruder
lieben? Nur weil er vom gleichen Fleisch und Blut stammt wie wir? So machen es
auch die Vöglein, die im gleichen Nest versammelt sind. Sie haben tatsächlich
nichts anderes gemeinsam als dies: daß sie aus der gleichen Brut stammen und
daß sie auf der Zunge den gleichen Geschmack des Speichels von Vater und
Mutter verspüren. Wir Menschen sind mehr als die Vögel. Wir haben mehr als ein
Fleisch und Blut. Wir haben noch einen Vater außer dem irdischen Vater und der
Mutter. Wir haben eine Seele, und wir haben Gott, den Vater aller Menschen.
Daher müssen wir den Bruder als Bruder lieben, dem unser Vater und unsere
Mutter das Leben geschenkt haben, und als Bruder, der Gott zum Vater hat.
Wir müssen ihn also auch geistig
lieben, nicht nur menschlich. Wir müssen ihn lieben nicht allein wegen des
Fleisches und des Blutes, sondern wegen des Geistes, den wir gemeinsam haben.
Es ist unsere Pflicht,
178
unseren Bruder mehr dem Geist als
dem Fleisch nach zu lieben, denn der Geist ist mehr als das Fleisch. Und der
himmlische Vater ist mehr als der menschliche. Der Geist hat einen höheren
Wert als das Fleisch, und unser Bruder wäre viel unglücklicher, wenn er den
himmlischen Vater verlieren würde, als wenn er den irdischen entbehren müßte.
Ein irdisches Waisenkind zu sein
ist herzzerreißend, aber es ist nur eine halbe Vaterlosigkeit. Sie
beeinträchtigt nur das, was irdisch ist, unser Bedürfnis nach Beistand und
Liebe. Wenn aber der Geist zu glauben weiß, wird er nicht durch den Tod des
Vaters getrübt, sondern vielmehr steigt der Geist des Sohnes, wie von der
Kraft der Liebe angezogen, empor, um sich dorthin zu begeben, wo sich der
Gerechte befindet. Und ich sage euch, daß das Liebe ist, Liebe zu Gott und zum
Vater, der mit seiner Seele aufgestiegen ist zum Ort der Weisheit. Auch der
Sohn steigt zu diesem Ort auf, wo er näher bei Gott ist. Es fehlt ihm nicht an
echter Hilfe, an den Gebeten des Vaters, der nunmehr vollkommen zu lieben
versteht. Gezügelt von der Gewißheit, daß der Vater jetzt sein Tun besser als
zu Lebzeiten sieht, und dem Wunsch, sich durch ein heiliges Leben wieder mit
ihm zu vereinigen, führt er nun ein redlicheres Leben.
Deswegen muß man sich mehr um die
Seele als um den Körper des eigenen Bruders kümmern. Armselig wäre die Liebe,
die sich nur um das kümmert, was vergänglich ist, während sie vernachlässigt,
was nicht verdirbt; diese Vernachlässigung zieht den Verlust der ewigen
Glückseligkeit nach sich. Gar zahlreich sind jene, die sich mit unnützen
Dingen abmühen und sich aufreiben für etwas, was nur relativen Wert hat,
während sie aus dem Auge verlieren, was wirklich notwendig ist. Die guten
Schwestern und die guten Brüder sollen nicht nur dafür sorgen, daß die Kleider
in Ordnung sind, daß Speise und Trank bereitstehen, oder daß sie mit ihrer
Arbeit den Brüdern helfen, sondern sie müssen sich auch über die Seelen der
Brüder neigen und deren Stimmen lauschen, ihre Fehler sehen und sich mit
liebevoller Geduld bemühen, ihnen einen gesunden und heiligen Geist zu
vermitteln, wenn sie in ihren Reden oder Fehlern eine Gefahr für ihr ewiges
Leben erkennen. Und sie müssen, wenn der Bruder gegen sie fehlt, ihm zu
verzeihen suchen und die Verzeihung Gottes erbitten durch seine Rückkehr zur
Liebe, ohne die Gott nicht verzeihen kann.
Im Buch Leviticus heißt es: "Du
sollst deinen Bruder nicht in deinem Herzen hassen, sondern ihn öffentlich zur
Rede stellen, um seinetwegen keine Schuld auf dich zu laden." Aber vom
Nichthassen bis zum Lieben ist ein weiter Weg. Es könnte euch scheinen, daß
Abneigung, Abkehr und Gleichgültigkeit keine Sünden sind, da sie ja nicht Haß
sind. Nein! Ich komme, um die Liebe und notwendigerweise auch den Haß in ein
neues Licht zu rücken; denn je mehr die erstere sich erhebt, um so tiefer
fällt der andere.
Meine Lehre ist Vollkommenheit.
Sie ist Feinheit des Fühlens und des
179
Urteilens. Sie ist die Wahrheit,
nicht Metapher und Umschreibung. Und ich sage euch, daß Abneigung, Abkehr und
Gleichgültigkeit schon Haß sind, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie
nicht Liebe sind. Das Gegenteil von Liebe ist Haß. Könnt ihr der Abneigung
einen anderen Namen geben? Der Abkehr von einem Menschen? Der
Gleichgültigkeit? Wer liebt, empfindet Zuneigung zum Geliebten; wenn er ihm
also abgeneigt ist, liebt er ihn nicht mehr. Wer liebt, bleibt ihm, auch wenn
das Leben ihn räumlich vom Geliebten entfernt, geistig nah. Wer sich daher
geistig von jemandem trennt, liebt ihn nicht mehr. Wer liebt, kennt keine
Gleichgültigkeit gegen den Geliebten, sondern er interessiert sich für alles,
was ihn betrifft. Wenn daher jemand einem anderen gegenüber gleichgültig wird,
so ist dies ein Zeichen dafür, daß er keine Liebe mehr für ihn empfindet. Ihr
seht also, daß diese drei Dinge Äste eines einzigen Baumes sind: des Hasses.
Was geschieht, sobald uns jemand, den wir lieben, beleidigt? In neunzig von
hundert Fällen empfinden wir, wenn auch nicht gleich Haß, so doch Abneigung
oder Gleichgültigkeit. Nein, handelt nicht so. Laßt euer Herz nicht erkalten
in diesen drei Formen des Hasses. Liebt!
Aber ihr werdet euch fragen: "Wie
können wir das?" Ich antworte euch: "So wie Gott es kann, der auch den liebt,
der ihn beleidigt. Eine schmerzliche, aber immer gute Liebe!" Ihr fragt
weiter: "Und wie sollen wir es machen?" Ich gebe euch das neue Gesetz über die
Beziehungen zum schuldigen Bruder und sage: "Wenn dein Bruder dich beleidigt,
dann kränke ihn nicht durch öffentlichen Tadel, sondern gehe in deiner Liebe
so weit, daß sie vor den Augen der Welt den Fehler verbirgt." Denn es wird dir
als großes Verdienst in den Augen Gottes angerechnet, wenn du deinem Stolz
jegliche Genugtuung vorenthältst.
Oh! Wie sehr gefällt es dem
Menschen, andere wissen zu lassen, daß er beleidigt wurde und darunter leidet!
Wie ein törichter Bettler geht er nicht zum König, um eine Goldmünze zu
erbitten, sondern zu anderen törichten Bettlern, um sich eine Handvoll Asche,
Schmutz und einen giftigen, brennenden Trunk zu erbetteln. Denn das gibt die
Welt dem Beleidigten, der sich beklagt und um Trost bettelt. Gott, der König,
aber gibt dem pures Gold, der nach einer Beleidigung ohne Groll zu seinen
Füßen weint und von ihm, der Liebe und Weisheit ist, Kraft der Liebe und
Unterweisung erbittet. Wenn ihr also getröstet werden wollt, dann geht zu Gott
und handelt mit Liebe.
Ich sage euch und vervollständige
damit das alte Gesetz: "Wenn dein Bruder gegen dich gefehlt hat, geh und
versuche, ihn unter vier Augen auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Wenn er
dich anhört, hast du deinen Bruder wiedergewonnen. Und gleichzeitig hast du
viele Segnungen Gottes erworben. Wenn er dich aber nicht anhört, sondern
zurückweist und in seiner Schuld verharrt, dann hole, damit er nicht glaube,
du seist
180
mit der Beleidigung einverstanden
oder der brüderlichen Liebe gegenüber gleichgültig, zwei oder drei Zeugen, die
ernst, gut und vertrauenswürdig sind, und wiederhole in ihrer Gegenwart deinen
Versuch, damit diese Zeugen bestätigen können, daß du alles getan hast, um
deinen Bruder heiligmäßig zu bessern. Denn das ist die Pflicht eines guten
Bruders, da das dir zugefügte Unrecht seiner Seele schadet und du dich um
seine Seele kümmern mußt. Wenn er dann immer noch nicht hört, lasse es die
Synagoge wissen, damit sie ihn im Namen Gottes zur Ordnung rufe. Wenn er sich
auch jetzt nicht bessert und die Synagoge oder den Tempel zurückweist, wie er
dich zurückgewiesen hat, so sei er dir wie ein Zöllner und Heide!"
Verfahrt euch so mit euren
Brüdern dem Blut und der Liebe nach. Auch eure entferntesten Nächsten müßt ihr
mit Heiligkeit behandeln, ohne Habsucht, ohne Unerbittlichkeit, ohne Haß. Ist
es notwendig, das Gericht anzurufen und du gehst mit deinem Gegner dorthin, so
versuche, o Mensch, der du dich oft durch deine eigene Schuld in schlimmeren
Situationen befindest, dich noch auf dem Weg mit ihm auszusöhnen, ob du nun im
Recht oder Unrecht bist. Denn die menschliche Gerechtigkeit ist immer
unvollkommen, und gewöhnlich siegt die Verschlagenheit über die Gerechtigkeit;
und der Schuldige kann als Unschuldiger aus dem Prozeß hervorgehen, während
du, Unschuldiger, selbst für schuldig erkannt wirst. In diesem Fall würde dir
nicht nur dein Recht verweigert werden, sondern du müßtest, obgleich
unschuldig, infolge der Verleumdung die Rolle des Schuldigen übernehmen, und
der Richter würde dich dem Vollstrecker des Urteils überliefern, der dich
nicht freilassen würde, bis du den letzten Pfennig bezahlt hättest.
Sei versöhnlich. Leidet dein
Stolz darunter? Sehr gut! Schrumpft dein Beutel dabei? Noch besser! Die
Hauptsache ist, daß deine Heiligkeit zunimmt. Habt kein Verlangen nach Gold.
Seid nicht auf Lob bedacht. Handelt so, daß Gott euch loben kann. Bereitet
euch einen guten Platz im Himmel vor! Und betet für die, die euch beleidigen,
damit sie bereuen. Wenn euch dies gelingt, werden sie selbst euch Ehre
erweisen und euch Gutes tun. Tun sie es nicht, wird Gott daran denken!
Geht nun, denn es ist Essenszeit.
Nur die Armen sollen hierbleiben und sich an den Tisch der Apostel setzen. Der
Friede sei mit euch!»
181
321. JESUS SENDET DIE
ZWEIUNDSIEBZIG AUS, IHN ZU VERKÜNDIGEN
Jesus hat nach der Mahlzeit die
Armen entlassen und ist mit den Aposteln und Jüngern im Garten Maria
Magdalenas zurückgeblieben. Sie setzen sich an das Ufer des ruhigen Sees, auf
dem die Fischerboote dahinsegeln.
«Sie werden einen guten Fang
machen», bemerkt Petrus, der sie beobachtet.
«Auch du wirst einen guten Fang
machen, Simon des Jonas!»
«Ich, Herr? Wann? Willst du, daß
ich für die Mahlzeit von morgen zum Fischfang hinausfahre? Ich gehe sofort
und...»
«Wir brauchen uns in diesem Haus
nicht um die Nahrung zu kümmern. Den Fang, den ich meine, wirst du in Zukunft
und auf geistigem Gebiet tun. Und mit dir werden gute Fischer sein, die
meisten von diesen hier.»
«Nicht alle, Meister?» fragt
Matthäus.
«Nicht alle! Aber sie, die
ausharren und meine Priester sein werden, werden gute Fänge machen.»
«Bekehrungen, nicht wahr?» fragt
Jakobus des Zebedäus.
«Bekehrungen, Vergebung, Führung
zu Gott. Oh, viele Dinge!»
«Höre, Meister! Du hast vorhin
gesagt, wenn einer den Bruder nicht anhört, nicht einmal in Gegenwart von
Zeugen, dann soll er in die Synagoge gebracht werden. Wenn ich aber recht
verstanden habe, was du uns sagst seit wir uns kennen, muß ich annehmen, daß
die Synagoge durch die Kirche ersetzt werden wird, durch deine Gründung. Wohin
werden wir dann gehen, wenn wir uns mit hartnäckigen Brüdern versöhnen
wollen?»
«Ihr geht zu euch selbst, denn
ihr werdet meine Kirche sein. Daher kommen die Gläubigen zu euch, um sich in
ihren Angelegenheiten beraten zu lassen oder andere beraten zu können. Aber
ich sage euch noch mehr. Ihr werdet dann nicht nur belehren können, ihr werdet
auch in meinem Namen lossprechen können. Ihr werdet aus den Ketten der Sünde
befreien, und zwei, die sich lieben, trauen können, damit sie ein Fleisch
seien. Und was ihr getan habt, wird gültig sein in den Augen Gottes, wie wenn
Gott selbst es getan hätte. Wahrlich, ich sage euch: was ihr auf Erden binden
werdet, wird auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet,
wird auch im Himmel gelöst sein. Ferner sage ich euch, damit ihr die Macht
meines Namens, der brüderlichen Liebe und des Gebetes begreift, wenn zwei
meiner Jünger, und damit meine ich alle, die an mich glauben, sich versammeln,
um eine gerechte Sache in meinem Namen zu erbitten, so wird sie ihnen von
meinem Vater gegeben werden, denn das Gebet ist eine große Macht, und eine
große Macht ist ebenso die brüderliche Liebe; aber eine noch größere,
unendliche Macht ist mein
182
Name und meine Gegenwart unter
euch. Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten
unter ihnen und bete mit ihnen, und der Vater wird dem nichts verweigern, der
mit mir betet. Viele erhalten nichts, weil sie allein beten, weil sie um
unerlaubte Dinge beten, weil sie mit Stolz oder mit einer Sünde im Herzen
beten. Schafft euch ein reines Herz, damit ich bei euch sein kann, und dann
betet, und ihr werdet erhört werden.»
Petrus ist nachdenklich geworden.
Jesus sieht es und fragt ihn nach dem Grund. Und Petrus erklärt: «Ich denke an
die große Aufgabe, zu der wir berufen sind. Ich fürchte mich davor. Ich habe
Angst, nicht fähig dazu zu sein.»
«Tatsächlich, Simon des Jonas
oder Jakobus des Alphäus oder Philippus und so weiter, ihr wäret nicht fähig
dazu. Doch der Priester Petrus, der Priester Jakobus, der Priester Philippus
oder der Priester Thomas wird dazu fähig sein, denn er wird zusammen mit der
göttlichen Weisheit wirken.»
«Und... wie oft müssen wir
unseren Brüdern verzeihen? Wie oft, wenn sie gegen die Priester sündigen, und
wie oft, wenn sie sich gegen Gott versündigen? Denn wenn sich nichts ändert,
werden sie gegen uns sündigen, wie sie jetzt gegen dich sündigen. Sage mir, ob
ich immer verzeihen muß oder nur einige Male. Siebenmal zum Beispiel, oder
noch öfter?»
«Ich sage dir, nicht nur
siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal, eine Zahl ohne Maß! Denn auch der
Vater im Himmel verzeiht euch immer wieder, euch, die ihr vollkommen sein
solltet. Und wie er mit euch tut, so sollt auch ihr tun, denn ihr vertretet
Gott auf Erden. Hört! Ich will euch ein Gleichnis erzählen, das allen dienen
wird.»
Und Jesus, der von den Aposteln
umgeben in einem Buchsbaumrondell gewesen ist, begibt sich nun zu den Jüngern,
die sich respektvoll bei einem mit klarem Wasser gefüllten Becken
niedergelassen haben. Das Lächeln Jesu ist wie ein Signal, daß er nun reden
wird. Während er mit seinen ruhigen, langen Schritten herankommt, mit denen er
in kurzer Zeit und ohne Eile einen längeren Weg zurücklegen kann, freuen sie
sich wie Kinder, die sich geliebt wissen, und bilden einen Kreis, einen Kranz
aufmerksamer Gesichter. Jesus lehnt sich gegen einen hohen Baum und beginnt zu
reden.
«Was ich vorher zum Volk gesagt
habe, das soll jetzt für euch vervollständigt und erklärt werden, denn ihr
seid die Auserwählten des Volkes. Vom Apostel Simon des Jonas wurde ich
gefragt: "Wie oft soll ich verzeihen? Wem? Und warum?" Ich habe ihm
geantwortet, und ich will nun meine Antwort für euch alle wiederholen, da ihr
schon jetzt wissen müßt, was gerecht ist.
Hört, warum und wie oft man
verzeihen soll. Man muß verzeihen, wie Gott verzeiht, der, wenn jemand auch
tausendmal sündigt und es bereut,
183
tausendmal verzeiht; der
verzeiht, wenn er nur sieht, daß der Schuldige nicht den Willen zur Sünde hat
noch das Verlangen nach dem, was zur Sünde verführt, und daß die Sünde nur die
Folge einer menschlichen Schwäche ist. Nur im Fall eines freiwilligen
Verharrens in der Sünde kann es für die gegen das Gesetz begangenen Sünden
keine Verzeihung geben. Doch soweit euch diese Verfehlungen persönlich treffen
und schmerzen, verzeiht! Verzeiht immer dem, der euch Böses zufügt. Verzeiht,
damit auch euch verziehen werde; denn auch ihr habt gegen Gott und die Brüder
gefehlt. Die Verzeihung öffnet das Reich des Himmels sowohl dem, der
Verzeihung erlangt, als auch dem, der verziehen hat. Die Verzeihung gleicht
dem, was einst zwischen einem König und seinen Dienern geschah.
Ein König wollte mit seinen
Dienern Abrechnung halten. Er rief also einen nach dem anderen zu sich,
angefangen bei den Höchstgestellten. Es kam einer, der ihm zehntausend Talente
schuldete. Aber der Schuldner konnte den Vorschuß nicht zurückzahlen, den der
König ihm gegeben hatte, damit er sich Häuser und Besitz jeder Art beschaffe,
denn er hatte aus vielen mehr oder weniger berechtigten Gründen das für diese
Zwecke geliehene Geld nicht sorgfältig verwendet. Der König, unwillig über
seine Trägheit und Wortbrüchigkeit, befahl, ihn, seine Frau, seine Kinder und
alles, was er besaß, zu verkaufen, bis er seine Schuld beglichen hätte. Doch
der Diener warf sich dem König zu Füßen und flehte unter Tränen: "Laß mich
gehen. Habe noch etwas Geduld, und ich will dir alles zurückgeben, was ich dir
schulde, bis zum letzten Denar!" Der König erbarmte sich dieses verzweifelten
Mannes – denn er war ein guter König – und gab nicht nur seinen Bitten nach,
sondern erließ ihm schließlich sogar die gesamte Schuld, als er erfuhr, daß
der mangelnde Fleiß auch auf Krankheiten zurückzuführen war.
Der Diener ging glücklich von
dannen. Beim Hinausgehen stieß er aber auf einen anderen Diener, einen armen
Untergebenen, dem er hundert Denare geliehen hatte, die er von den tausend
Talenten des Königs genommen hatte. Überzeugt, in der Gunst des Königs zu
stehen, glaubte er, daß ihm alles erlaubt sei; und er packte diesen
Unglücklichen am Hals und sagte: "Gib mir sofort zurück, was du mir schuldig
bist!" Vergeblich weinte der Mann, warf sich zu Boden und jammerte: "Habe
Erbarmen mit mir, der ich so viel Unglück hatte. Habe noch ein wenig Geduld,
und ich will dir alles bis zum letzten Pfennig zurückgeben!" Der
erbarmungslose Knecht rief sofort die Soldaten herbei und ließ den
Unglücklichen ins Gefängnis werfen, damit er sich entscheide, ob er bezahlen
oder die Freiheit oder sogar das Leben verlieren wolle.
Die Angelegenheit kam den
Freunden des Unglücklichen zu Ohren. Sie wurden alle traurig und berichteten
ihrem Herrn, dem König, davon. Dieser ließ den unbarmherzigen Knecht vor sich
führen, blickte ihn streng an und sagte: "Du böser Knecht. Ich habe dir
geholfen, damit auch du
184
Barmherzigkeit übest und damit du
dir ein Besitztum aufbauen kannst; ich habe dir ferner geholfen, indem ich dir
die Schuld nachließ, nachdem du mich so inständig um Geld gebeten hattest. Du
hattest mit deinesgleichen kein Mitleid, während ich, der König, dir so viel
Mitleid bezeigte. Warum hast du nicht gehandelt, wie ich gehandelt habe?" Und
er überließ ihn den Gefängniswärtern, damit sie ihn gefangen hielten, bis
alles bezahlt wäre, und sagte: "Weil du kein Erbarmen gehabt hast mit einem,
der dir nur wenig schuldig war, während du von mir, dem König, so viel
Erbarmen erfahren hast, findest du auch jetzt bei mir kein Erbarmen mehr!"
So wird auch mein Vater mit euch
verfahren, wenn ihr unbarmherzig gegen die Brüder seid; denn nachdem ihr so
viel von Gott erhalten habt, seid ihr ihm mehr schuldig als ein einfacher
Gläubiger. Bedenkt, daß ihr mehr als alle anderen die Pflicht habt, ohne Sünde
zu sein. Bedenkt, daß Gott euch eine große Summe vorstreckt, aber auch
verlangt, daß ihr Rechenschaft darüber ablegt. Denkt daran, daß niemand mehr
als ihr Liebe üben und verzeihen können muß.
Seid keine Knechte, die viel für
sich haben wollen, aber nichts denen abgeben, die sie darum bitten. Wie ihr
tut, so wird auch euch getan werden. Und es wird von euch auch Rechenschaft
gefordert über die Taten derjenigen, die durch euer Beispiel zum Guten oder
zum Bösen angeleitet worden sind. Oh, wahrlich, wenn ihr andere heiligt,
werdet ihr eine große Herrlichkeit im Himmel besitzen! Aber wenn ihr Verderber
oder träge im Heiligen seid, werdet ihr hart bestraft werden.
Ich sage es euch noch einmal!
Wenn einer von euch sich nicht bereit fühlt, Opfer seiner eigenen Mission zu
sein, soll er weggehen, aber nicht gegen sie fehlen. Er lasse es weder an
seiner eigenen Ausbildung noch an der der anderen fehlen, wo es sich um
wahrhaft schwerwiegende Dinge handelt. Er muß sich Gott zum Freund machen,
indem er in seinem Herzen immer Vergebung für die Schwachen hegt. Denn seht,
jeder, der dem Nächsten zu verzeihen weiß, wird auch von seinem Vater
Verzeihung erlangen.
Der Aufenthalt ist zu Ende. Das
Laubhüttenfest ist nahe. Jene, zu denen ich heute in der Frühe gesprochen
habe, werden morgen aufbrechen, um mir vorauszugehen und mich den Menschen
anzukündigen. Die, die zurückbleiben, sollen deswegen nicht betrübt sein. Ich
habe einige von ihnen aus Gründen der Vorsicht zurückbehalten, nicht weil ich
sie mißachte. Sie werden bei mir bleiben, und bald will ich auch sie
aussenden, wie die ersten zweiundsiebzig. Die Ernte ist groß, und der Arbeiter
werden immer wenige sein, gemessen am Bedarf. Es wird also immer Arbeit für
alle geben. Daher bittet ohne Eifersucht den Herrn der Ernte, daß er immer
neue Arbeiter in seine Ernte sende.
Nun geht! Ich und meine Apostel
haben euch in diesen Tagen über die
185
Arbeit, die ihr zu tun habt,
unterwiesen und alles wiederholt, was ich den Zwölfen gesagt habe vor ihrer
Aussendung. Einer von euch hat mich gefragt: "Aber wie werde ich in deinem
Namen heilen können?" Heilt immer zuerst den Geist. Versprecht den Kranken das
Reich Gottes, wenn sie an mich glauben können; und wenn ihr in ihnen Glauben
seht, dann befehlt der Krankheit zu weichen; sie wird weichen. Und so macht es
auch mit den Kranken im Geist! Erweckt als erstes den Glauben. Teilt ihnen mit
sicherem Wort die Hoffnung mit. Ich werde alsdann das Meinige tun und in ihnen
die göttliche Liebe entzünden, so wie ich sie auch euch ins Herz gelegt habe,
nachdem ihr an mich geglaubt und auf meine Barmherzigkeit gehofft habt.
Fürchtet weder die Menschen noch Satan. Sie werden euch nicht schaden. Hütet
euch nur vor der Sinnlichkeit, dem Stolz und dem Geiz. Dann werdet ihr euch
Satan und den von Satan besessenen Menschen stellen können.
Geht nun! Geht mir auf dem Weg
längs des Jordan voraus. Wenn ihr Jerusalern erreicht habt, begebt euch zu den
Hirten im Tal von Bethlehem und kommt mit ihnen zu dem euch bekannten Ort.
Dort wollen wir zusammen das heilige Fest feiern, um dann gestärkter denn je
zu unserer Mission zurückzukehren.
Geht in Frieden! Ich segne euch
im heiligen Namen des Herrn!»
322. DIE BEGEGNUNG MIT LAZARUS IM
LAGER DER GALILÄER
Das berühmte Lager der Galiläer –
ich glaube, Jesus wollte damit den Ort bezeichnen, wo er sich mit den
zweiundsiebzig vorausgesandten Jüngern treffen will – ist nichts anderes als
ein Teil des Ölberges, an dem die Straße nach Bethanien vorbeiführt. Es ist
genau der Ort, an dem ich in einer weit zurückliegenden Vision Joachim und
Anna mit dem damals noch kleinen Alphäus habe lagern sehen, anläßlich des
Laubhüttenfestes, das der Empfängnis der Jungfrau vorausging.
Der Ölberg ist eine sanfte
Anhöhe. Alles ist sanft an diesem Berg: der Anstieg, der Ausblick der Gipfel.
Er strahlt Frieden aus mit seinen Ölbäumen und seiner Stille. In diesem
Augenblick nicht, denn jetzt wimmelt er von Menschen, die mit dem Aufstellen
der Laubhütten beschäftigt sind. Doch normalerweise ist es ein Ort der Ruhe
und der Betrachtung. Zur Linken – von dem aus gesehen, der nach Norden blickt
– ist eine kleine Niederung und dann eine weitere Anhöhe, jedoch nicht so hoch
wie der Ölberg selbst.
Und hier, auf dieser Erhebung,
schlagen die Galiläer ihr Lager auf. Ich weiß nicht, ob es ein religiöser,
nunmehr jahrhundertealter Brauch ist,
186
oder ob es die Römer angeordnet
haben, um Streitigkeiten mit den Juden oder Leuten aus anderen Gegenden, die
den Galiläern nicht so gut gesinnt sind, zu vermeiden. Ich weiß nur, daß ich
schon viele Galiläer sehe, und unter diesen Alphäus der Sara aus Nazareth,
Judas, den alten Gutsbesitzer von Meron, den Synagogenvorsteher Jairus und
andere, die von Bethsaida, Kapharnaum und sonstigen galiläischen Städten
gekommen sind, deren Namen ich jedoch nicht kenne.
Jesus weist ihnen am östlichen
Rand des Lagers den Platz für ihre Hütten an. Die Apostel, zusammen mit
einigen Jüngern, unter denen sich auch der Schriftgelehrte Johannes, der
Synagogenvorsteher Timoneus, ferner Stephanus, Ermastheus, Joseph von Emmaus
und Abel von Bethlehem in Galiläa befinden, machen sich daran, die Hütten
aufzubauen. Sie arbeiten, während Jesus mit den Kindern von Kapharnaum
spricht, die sich um ihn geschart haben, ihn hundert Dinge fragen und ihm
weitere hundert anvertrauen, als auf der Straße von Bethanien Lazarus mit dem
unzertrennlichen Maximinus daherkommt. Jesus wendet ihnen den Rücken zu und
sieht sie nicht kommen. Doch Iskariot sieht sie und gibt dem Meister ein
Zeichen, so daß er die Kinder verläßt und lächelnd den Freunden entgegengeht.
Maximinus bleibt stehen, um den beiden bei ihrer ersten Begegnung volle
Freiheit zu lassen. Und Lazarus läuft die letzten hundert Meter so rasch er
kann, mit einem Lächeln, in dem Schmerz auf den Lippen und Tränen in den Augen
zittern. Lazarus wirft sich ihm mit einem heftigen Tränenausbruch an die
Brust.
«Warum, mein Freund? Weinst du
denn immer noch ... ?» fragt ihn Jesus und küßt ihn auf die Schläfe, da er
einen Kopf größer als Lazarus ist und Lazarus noch dazu in seiner Umarmung der
Liebe und der Hochachtung gebückt dasteht.
Endlich hebt Lazarus den Kopf und
sagt: «Ich weine, ja. Ich habe dir im vergangenen Jahre die Perlen meiner
Tränen der Trauer geschenkt, und es ist nur recht und billig, daß ich dir auch
die Perlen meiner Freudentränen schenke. Oh, Meister! Mein Meister! Ich
glaube, es gibt nichts demütigeres und heiligeres als gute Tränen... Und ich
schenke sie dir, um dir zu danken für meine Maria, die jetzt wieder ein
glückliches, heiteres, reines und gutes Mädchen ist... noch besser als damals,
als sie noch ein Kind war. Und ich, der ich mich über sie erhaben fühlte in
meinem Stolz als gesetzestreuer Israelit, fühle mich nun so klein, ein Nichts,
im Vergleich zu ihr, die kein Geschöpf mehr ist, sondern eine Flamme. Eine
heiligende Flamme! Ich... ich kann nicht verstehen, wo sie die Weisheit, die
Worte und Taten findet, die das ganze Haus erbauen. Ich betrachte sie, wie man
ein Geheimnis betrachtet. Wie konnten nur so viel Feuer und so viele Perlen
unter so viel Schmutz verborgen sein und gedeihen? Weder ich noch Martha
werden so hoch steigen wie sie. Wie ist sie dazu fähig, da ihr das Laster doch
die Flügel zerrissen hatte? Ich kann es nicht verstehen ...»
187
«Es ist auch nicht notwendig, daß
du verstehst. Es genügt, daß ich verstehe. Aber ich sage dir: Maria hat die
gewaltigen Energien ihres Wesens auf das Gute gerichtet. Sie hat ihr
Temperament den Gesetzen der Vollkommenheit unterworfen. Und da es das
Temperament einer mächtigen Unbedingtheit ist, geht sie diesen Weg ohne
Vorbehalte. Sie bedient sich ihrer Erfahrung im Bösen, um im Guten so groß zu
sein wie sie es im Bösen war, und ebenso wie zuvor dem Bösen, gibt sie sich
jetzt Gott ganz hin. Sie hat das Gebot verstanden: liebe Gott mit deinem
ganzen Sein, mit deinem ganzen Körper, mit deiner ganzen Seele und mit allen
deinen Kräften! Wenn Israel aus Marien bestünde, wenn die Welt aus Marien
bestünde, dann hätten wir das Reich Gottes, wie es im höchsten Himmel sein
wird, schon auf Erden.»
«Oh, Meister, Meister! Und es ist
Maria von Magdala, die solche Worte verdient... ?!»
«Es ist Maria des Lazarus. Die
große Schwester meines großen Freundes. Wie habt ihr erfahren, daß ich hier
bin, da meine Mutter noch nicht nach Bethanien gekommen ist?»
«Der Verwalter vom "Trügerischen
Gewässer" hat mich nach einem Gewaltmarsch erreicht und mir mitgeteilt, daß du
kommen würdest. Und ich habe jeden Tag einen Diener hierher gesandt. Vor
kurzem ist er gekommen und hat gesagt: "Er ist eingetroffen und hält sich im
Lager der Galiläer auf." Ich bin sofort aufgebrochen...»
«Aber du leidest ...»
«Sehr, Meister! Die Beine...»
«Und du bist gekommen! Ich hätte
dich bald aufgesucht...»
«Ich hatte es zu eilig, dir meine
Freude mitzuteilen. Seit Monaten fühle ich sie in mir. Ein Brief! Was ist
schon ein Brief, um so etwas mitzuteilen? Ich konnte es einfach nicht mehr
erwarten... Wirst du nach Bethanien kommen?»
«Gewiß! Gleich nach dem Fest.»
«Du wirst von vielen erwartet...
Die Griechin... Welch ein Geist! Ich spreche viel mit ihr, da sie danach
verlangt, von Gott zu erfahren. Sie ist sehr gebildet... und bringt mich in
Verlegenheit, denn ich weiß viele Dinge nicht so genau. Da bist du nötig!»
«Ja, ich werde kommen. Gehen wir
nun zu Maximinus, und dann bitte ich dich, mein Gast zu sein. Meine Mutter
wird sich freuen, wenn sie dich sieht, und du wirst dich ausruhen. Sie wird
bald mit dem Knaben ankommen.»
Und Jesus geht zu Maximinus, der
niederkniet, um ihn zu begrüßen...
188
323. DIE ZWEIUNDSIEBZIG JÜNGER
BERICHTEN JESUS, WAS SIE GETAN HABEN
In der langen Abenddämmerung
eines heiteren Oktobertages kehren die zweiundsiebzig Jünger mit Elias, Joseph
und Levi zurück. Sie sind müde und staubbedeckt, aber sehr glücklich!
Glücklich sind auch die drei Hirten, die nun frei sind, dem Meister zu dienen.
Glücklich sind sie auch darüber, daß sie nach langen Jahren der Trennung
wieder mit den einstigen Gefährten zusammensein können. Glücklich sind die
zweiundsiebzig Jünger, weil sie ihre Mission gut ausgeführt haben. Die
Gesichter strahlen mehr als die Lämpchen, die die Hütten beleuchten, welche
für die zahlreichen Gruppen von Pilgern aufgestellt worden sind.
In der Mitte befindet sich die
Hütte Jesu, und etwas weiter unten die Hütte Marias und Margziams, der ihr bei
der Zubereitung des Abendessens hilft. Ringsum stehen die Hütten der Apostel.
Und in der des Jakobus und des Judas ist Maria des Alphäus; in der des
Johannes und Jakobus Maria Salome mit ihrem Mann; in der nächsten Susanna mit
ihrem Ehemann, der offiziell weder Apostel noch Jünger ist... aber sein Recht,
dort zu sein, geltend gemacht hat, weil er seiner Frau die Erlaubnis gegeben
hat, Jesus nachzufolgen. Dann kommen die Hütten der Jünger, teils mit, teils
ohne Familie. Jene, die allein sind – was bei den meisten der Fall ist – haben
sich mit einem oder mehreren Kameraden zusammengetan. Johannes von Endor hat
den Ermastheus zu sich geholt. Er hat sich jedoch auch bemüht, so nahe als
möglich bei der Hütte Jesu zu sein, weshalb Margziam oft zu ihm geht, um ihm
dieses oder jenes zu bringen oder ihn mit seinen intelligenten, kindlichen
Aussprüchen zu erfreuen, weil er glücklich ist, bei Jesus, Maria und Petrus
und bei dem Fest zu sein.
Nachdem alle ihre Abendmahlzeit
beendet haben, steigt Jesus den Hang des Ölbergs hinauf; die Jünger folgen ihm
in großer Zahl. Abseits von der Menge und vom Lärm berichten sie Jesus nach
dem gemeinsamen Gebet ausführlicher über ihre Erfahrungen.
Mit Erregung und Freude sagen
sie: «Weißt du, Meister, daß nicht nur die Kranken, sondern auch die Dämonen
uns unterworfen waren durch die Kraft deines Namens? Welche Macht, Meister!
Wir, wir armen Männer konnten, nur weil du uns ausgesandt hast, den Menschen
aus der schrecklichen Gewalt der Dämonen befreien...» Sie erzählen von
verschiedenen Fällen, die sich da und dort begeben haben. Nur von einem
berichten sie: «Die Eltern, oder besser die Mutter und die Nachbarn, haben ihn
gegen seinen Willen zu uns gebracht. Doch der Dämon hat uns verspottet mit den
Worten: "Ich bin seinem Willen gemäß zurückgekehrt, nachdem Jesus von Nazareth
mich von hier vertrieben hatte, und ich lasse ihn nicht mehr los, denn er
liebt mich mehr als euren Meister und hat mich gesucht"; und plötzlich entriß
er ihn mit unwiderstehlicher Kraft
189
denen, die ihn hielten, und stieß
ihn einen steilen Hang hinunter. Wir liefen hinzu, um zu sehen, ob er
zerschmettert sei. Aber nein! Er rannte wie eine junge Gazelle und fluchte und
schimpfte auf teuflische Weise ... Wir hatten Mitleid mit der Mutter... Aber
er! Aber er! Oh, kann ein Dämon das tun?»
«Das und noch Schlimmeres», sagt
Jesus traurig.
«Wenn du da gewesen wärest...»
«Nein! Ich hatte ihm gesagt: "Geh
und falle nicht mehr in deine Sünde zurück!" Er hat es gewollt. Er wußte, daß
das Böse ihn anzog, und hat sich nicht dagegen gewehrt. Er ist verloren. Es
ist etwas anderes, wenn jemand wegen seiner primitiven Unkenntnis vom Teufel
besessen ist, als wenn er sich in Besitz nehmen läßt, obwohl er weiß, daß er
sich damit wiederum an den Teufel verkauft. Aber sprecht nicht von ihm. Er ist
ein hoffnungslos abgetrenntes Glied. Er will bewußt das Böse. Loben wir lieber
den Herrn für die Siege, die er euch gewährt hat. Ich kenne den Namen des
Schuldigen, und ich kenne die Namen der Geretteten. Ich sah Satan wie einen
Blitz vom Himmel fallen durch euer Verdienst verbunden mit meinem Namen. Denn
ich habe auch eure Opfer und eure Gebete gesehen; die Liebe, mit der ihr zu
den Unglücklichen gegangen seid, um zu tun, was ich euch aufgetragen hatte.
Ihr habt es mit Liebe getan, und Gott hat euch gesegnet. Andere werden tun,
was ihr tut, aber sie werden es ohne Liebe tun. Und sie werden keine
Bekehrungen erlangen... Aber freut euch nicht darüber, daß euch die Geister
unterlegen sind, sondern freut euch, weil eure Namen im Himmel geschrieben
stehen. Und sorgt dafür, daß sie dort nie ausgelöscht werden!»
«Meister, wann werden jene
kommen, die keine Bekehrungen bewirken können? Vielleicht, wenn du nicht mehr
bei uns sein wirst?» fragt ein Jünger, dessen Namen ich nicht kenne.
«Nein, Agapus. Zu jeder Zeit!»
«Wie? Auch während du uns
belehrst und liebst?»
«Ja! Und was die Liebe angeht,
werde ich euch immer lieben, auch wenn ihr fern von mir seid. Meine Liebe wird
euch immer erreichen, und ihr werdet sie fühlen.»
«Oh, das ist wahr! Eines Abends
habe ich es gefühlt, als ich in Verlegenheit war, weil ich einem, der mir
Fragen stellte, nicht antworten konnte. Ich war schon dabei, beschämt zu
fliehen. Doch dann habe ich mich deiner Worte erinnert: "Habt keine Angst! Im
richtigen Augenblick werden euch die Worte, die ihr sagen müßt, eingegeben";
ich habe dich im Geist angerufen. Ich sagte: "Gewiß liebt Jesus mich. Ich rufe
seine Liebe zu Hilfe", und Liebe wurde mir zuteil. Wie ein Feuer, wie ein
Licht... eine Kraft ... Der mir gegenüberstehende Mann bemerkte meine
Verlegenheit, grinste höhnisch und zwinkerte seinen Freunden zu. Er war
sicher, den Disput zu gewinnen. Ich habe den Mund geöffnet, und es war fast
ein
190
Wortschwall, der freudig meinem
törichten Mund entquoll. Meister, bist du wirklich gekommen, oder war es nur
Einbildung? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß am Ende der Mann – es war ein
junger Schriftgelehrter – mir die Arme um den Hals schlang und sagte:
"Glücklich bist du, und glücklich ist, der dich zu dieser Weisheit geführt
hat", und er schien mir bereit zu sein, dich aufzusuchen. Wird er kommen?»
«Der Gedanke des Menschen ist
unbeständig wie ein auf das Wasser geschriebenes Wort, und sein Wille ist
unruhig wie die Flügel der Schwalbe, die umherfliegt, um sich die letzte
Nahrung des Tages zu verschaffen. Doch du, bete für ihn... Und ja, ich bin zu
dir gekommen. Außer mit dir bin ich auch mit Matthias und Timoneus, Johannes
von Endor, Simon und Samuel des Jonas gewesen. Die einen haben mich gerufen,
die anderen nicht. Doch ich war mit euch allen. Ich werde immer bei dem sein,
der mir mit Liebe und in Wahrheit dient, bis ans Ende der Zeiten.»
«Meister, du hast uns noch nicht
gesagt, ob unter den Anwesenden solche sind, die keine Liebe haben...»
«Das zu wissen ist nicht nötig.
Es wäre Mangel an Liebe meinerseits, wenn ich euch Abneigung gegen einen
Gefährten, der nicht lieben kann, einflößen würde.»
«Aber gibt es solche? Das kannst
du doch sagen...»
«Es gibt solche! Die Liebe ist
das Einfachste, das Süßeste und das Seltenste, was es gibt, und nicht immer
blüht sie auf, wenn sie gesät wird.»
«Aber wenn wir dich nicht lieben,
wer kann dich dann lieben?»
Es entsteht ein fast unwilliges
Murren unter den Aposteln und Jüngern durch den Verdacht und den Schmerz.
Jesus senkt die Lider. Er
verschleiert auch den Blick, damit dieser nichts verrate. Doch er nimmt eine
ergebene, sanfte, traurige Haltung an, wobei sich seine Hände öffnen und die
Handflächen nach oben gerichtet sind zum Zeichen einer resignierten
Feststellung, und sagt: «Es müßte so sein. Aber es ist nicht so. Viele kennen
sich selbst noch nicht. Ich aber kenne sie. Und ich habe Mitleid!»
«Oh, Meister, Meister! Aber ich
werde es doch nicht sein?» fragt Petrus, indem er sich Jesus nähert und dabei
den armen Margziam zwischen sich und den Meister stellt. Er legt seine kurzen,
sehnigen Arme auf die Schultern Jesu, faßt ihn dann und schüttelt ihn wie von
Sinnen aus Angst, einer von denen zu sein, die Jesus nicht lieben.
Jesus öffnet die Augen wieder,
die, obwohl sie immer noch traurig sind, nun wieder strahlen, schaut dem
erschrockenen Petrus in das fragende Gesicht und sagt: «Nein, Simon des Jonas!
Du bist nicht einer von ihnen. Du kannst lieben und wirst immer zu lieben
verstehen. Du bist mein Fels, Simon des Jonas. Ein guter Felsen! Auf ihn werde
ich die mir liebsten Dinge niederlegen, und ich bin sicher, daß du sie
beschützen wirst, ohne Verwirrung zu kennen.»
191
«Ich vielleicht?» «Ich?» «Ich?»
Die Fragen wiederholen sich wie ein Echo, das von Mund zu Mund geht.
«Beruhigt euch! Seid beruhigt und
bemüht euch alle, die Liebe zu besitzen.»
«Aber wer von uns liebt am
meisten?»
Jesus läßt seinen Blick über alle
schweifen: eine lächelnde Liebkosung. Dann senkt er den Blick auf Margziam,
der immer noch zwischen ihm und Petrus gezwängt ist, schiebt Petrus etwas
beiseite und sagt, indem er das Kind der Schar zuwendet:
«Hier ist der, der unter euch am
stärksten liebt. Das Kind! Doch fürchtet euch nicht, ihr, die ihr schon Bärte
auf den Wangen und weiße Fäden in den Haaren habt. Jeder, der in mir
wiedergeboren wird, wird ein "Kind". Oh, geht in Frieden! Lobt Gott, der euch
berufen hat, denn ihr seht mit euren eigenen Augen die Wunder des Herrn. Selig
jene, die sehen werden, was ihr seht. Denn ich versichere euch, viele
Propheten und Könige haben sich gesehnt, zu sehen, was ihr seht, und haben es
nicht gesehen; viele Patriarchen hätten gerne gewußt, was ihr wißt, und wußten
es nicht, und viele Gerechte hätten gerne gehört, was ihr hört, und konnten es
nicht hören. Aber von nun an werden alle, die mich lieben, alles verstehen.»
«Und dann? Wenn du uns verlassen
hast, wie du sagst?»
«Dann werdet ihr für mich reden.
Und dann... Oh, große Scharen, nicht an Zahl, sondern an Gnaden, die das
sehen, wissen und hören werden, was ihr jetzt seht, wißt und hört! Oh, große,
geliebte Scharen meiner "Kleinen Großen"! Ewige Augen, ewige Geister, ewige
Ohren! Wie kann ich euch erklären, euch, die ihr mich umringt, was dieses
ewige Leben sein wird; mehr als ewig, unermeßlich, dieses ewige Leben aller,
die mich lieben und die ich ewig liebe; die Bewohner Israels sein werden, auch
wenn sie in Jahrhunderten leben, da Israel nichts anderes mehr sein wird als
die Erinnerung an eine Nation, und die die Zeitgenossen des in Israel lebenden
Jesus sein werden? Sie werden mit mir und in mir sein und sogar erkennen, was
die Zeit ausgelöscht und der Hochmut widerlegt hat. Welchen Namen soll ich
ihnen geben? Ihr Apostel, ihr Jünger, ihr Gläubigen werdet Christen genannt
werden. Und sie? Welchen Namen werden sie haben? Einen Namen, der nur im
Himmel bekannt ist. Welchen Lohn werden sie schon auf Erden erhalten? Meinen
Kuß, meine Stimme, die Wärme meiner Menschheit. Alles, alles, alles! Mich
selbst! Ich in ihnen, sie in mir. Die vollkommene Vereinigung...
Geht! Ich bleibe, meinen Geist zu
beglücken in der Betrachtung meiner künftigen Gläubigen und vollkommen
Liebenden. Der Friede sei mit euch!»
192
324. IM TEMPEL AM LAUBHÜTTENFEST
Jesus ist auf dem Weg zum Tempel.
Eine Gruppe von Jüngern geht ihm voraus, während die Gruppe der Jüngerinnen,
bestehend aus der Mutter, Maria Kleophä, Maria Salome, Susanna, Johanna des
Chuza, Elisa von Betsur, Annalia von Jerusalern, Martha und Marcella, ihm
nachkommt. Magdalena ist nicht dabei. Um Jesus herum die zwölf Apostel und
Margziam.
Jerusalern zeigt sich in der
ganzen Pracht der festlichen Tage. Volk aller Herren Länder füllt die Straßen.
Gesänge, Reden, gemurmelte Gebete, Flüche der Eseltreiber, vereinzeltes
Kinderweinen... Und über dem Ganzen ein klarer Himmel, der zwischen den
Häusern herunterschaut, und eine heitere Sonne, die die Farben der Gewänder
belebt und die sterbenden Farben der Laubengänge und Bäume, die hinter den
Mauern der verschlossenen Gärten oder Terrassen zu sehen sind, aufleuchten
läßt.
Bisweilen begegnet Jesus ihm
bekannten Personen, und der Gruß ist mehr oder weniger ehrerbietig, je nach
Stimmung des Begegneten. So ist der Gruß Gamaliels tief, jedoch bemessen; er
blickt dabei Stephanus, der ihm aus der Gruppe der Jünger zulächelt, scharf an
und ruft ihn, nachdem er sich vor Jesus verbeugt hat, auf die Seite, um einige
Worte an ihn zu richten, worauf Stephanus zu seiner Gruppe zurückkehrt.
Ehrfurchtsvoll ist der Gruß des alten Synagogenvorstehers Kleophas von Emmaus,
der ebenfalls mit seinen Mitbürgern zum Tempel geht. Schroff wie eine
Verwünschung ist die Erwiderung des Grußes durch die Pharisäer aus Kapharnaum.
Ein Sich-nieder-Werfen in den
Staub und ein Küssen der Füße Jesu ist der Gruß der Bauern Jochanans, die vom
Verwalter angeführt werden. Die Menge bleibt erstaunt stehen, um diese Gruppe
von Menschen zu beobachten, die sich an einer Wegkreuzung zu Füßen eines
jungen Mannes niederwerfen, der weder ein Pharisäer noch ein berühmter
Schriftgelehrter, weder ein Satrap noch ein mächtiger Höfling ist; manch einer
fragt, wer er wohl sei, und ein Gemurmel wird laut: «Es ist der Rabbi von
Nazareth, der, der Messias sein soll.»
Proselyten und Heiden drängen
sich neugierig um die Gruppe und drücken sie an die Mauer. Sie versperren den
anderen Pilgern den Weg, bis eine Schar Eseltreiber das Hindernis fluchend
auseinanderjagt.
Doch die Menge schließt sich
sofort wieder zusammen, wobei die Frauen von den Männern – anspruchsvoll und
brutal in ihren Äußerungen, die auch von Glauben zeugen – getrennt werden.
Alle wollen die Kleider Jesu berühren, ihm ein Wort sagen, ihn etwas fragen.
Aber es ist verlorene Mühe, denn ihr eigenes, eiliges, ungestümes und
unruhiges Gedrängel bewirkt, daß es keinem gelingt, und auch die Fragen und
Antworten gehen in einem unverständlichen Lärm unter.
193
Der einzige, der sich nicht an
dem Durcheinander beteiligt, ist der Großvater Margziams, der mit einem Schrei
auf den Schrei des Enkels geantwortet und gleich nach der Begrüßung des
Meisters den Jungen an sein Herz gedrückt hat. Auf den Fersen hockend, die
Knie am Boden, nimmt er ihn auf den Schoß, liebkost ihn unter Tränen und
Küssen, stellt ihm Fragen und hört ihm zu. Der Alte ist so glücklich, als wäre
er schon im Paradies.
Die römischen Soldaten stürzen
herbei, weil sie glauben, ein Streit sei ausgebrochen. Doch als sie Jesus
sehen, lächeln sie nur und ziehen sich beruhigt zurück; sie begnügen sich
damit, den Anwesenden zu raten, die wichtige Straßenkreuzung freizugeben.
Jesus gehorcht ihnen sofort. Er benützt den von den Römern geschaffenen freien
Raum, die ihm einige Schritte vorausgehen, wie um ihm einen Weg zu bahnen, in
Wirklichkeit aber um auf ihren Posten zurückzukehren; denn die römische Wache
ist sehr verstärkt worden, so als ob Pilatus wüßte, daß unter den Menschen
Unzufriedenheit herrscht und daher in diesen Tagen, da Jerusalern von Hebräern
wimmelt, die aus allen Himmelsrichtungen gekommen sind, ein Aufstand
stattfinden könnte.
Es ist schön, Jesus zu sehen, dem
der römische Trupp vorausgeht und einen Weg bahnt, wie einem König, der sich
zu seinen Besitztümern begibt. Er hat dem Kind und dem Alten durch eine
Gebärde zu verstehen gegeben: «Bleibt beisammen und folgt mir», und zum
Aufseher sagt er: «Ich bitte dich, überlasse mir deine Leute. Sie sollen bis
heute abend meine Gäste sein.»
Der Verwalter antwortet
ehrerbietig: «Alles, was du willst, soll geschehen», und nach einer tiefen
Verneigung geht er allein von dannen.
Jesus ist nun ganz nahe beim
Tempel, und das Menschengewühl gleicht sehr dem Gewimmel der Ameisen am
Eingang eines Ameisenhaufens; es wird noch größer, als ein Landarbeiter
Jochanans ruft: «Da ist der Gutsherr!» Er fällt auf die Knie, um ihn zu
grüßen, und andere tun es ihm nach.
Jesus bleibt mitten in der Gruppe
der Bauern stehen, die sich um ihn geschart und nun zu Boden geworfen haben.
Er schaut in die bezeichnete Richtung und begegnet dem Blick eines Pharisäers,
der mir nicht unbekannt ist; aber ich kann mich nicht erinnern, wo ich ihn
gesehen habe. Der Pharisäer Jochanan ist von anderen Angehörigen seiner Kaste
umgeben: ein Haufen kostbarer Stoffe, Fransen, Spangen, Gürtel und Pomp, alles
reicher als bei gewöhnlichen Sterblichen. Jochanan schaut aufmerksam auf
Jesus: ein Blick reiner Neugierde, jedoch nicht ehrfurchtslos. Er grüßt sogar
und neigt steif und kaum merklich seinen Kopf. Es ist immerhin ein Gruß. Auch
zwei oder drei andere Pharisäer grüßen, während wieder andere verächtlich auf
ihn blicken oder vorgeben, anderswohin zu schauen; lediglich einer erlaubt
sich eine Beleidigung. Nur darum kann es
194
sich handeln, denn ich sehe, daß
alle, die Jesus umgeben, zusammenzucken und selbst Jochanan dreht sich
plötzlich um, um den Beleidiger mit einem vernichtenden Blick zurechtzuweisen.
Dieser ist jünger als Jochanan und hat harte, ausgeprägte Gesichtszüge.
Als sie vorbei sind und die
Bauern zu reden wagen, sagt einer von ihnen: «Es ist Doras, der dich verflucht
hat, Meister.»
«Laß ihn nur machen. Ich habe
euch, die ihr mich preist», erwidert Jesus ruhig.
An einem Torbogen steht Manaen
mit einigen anderen. Als er Jesus sieht, erhebt er mit einem Freudenruf die
Arme: «Glücklich der Tag, da ich dich finde!» und geht mit seinen Begleitern
auf Jesus zu. Er grüßt ihn ehrfurchtsvoll unter dem schattigen Torbogen, wo
ihre Stimmen wie unter einer Kuppel widerhallen.
Während er ihm Ehre erweist,
kommen dicht an der Apostelgruppe die Vettern Simon und Joseph mit anderen
Nazarenern vorbei; sie grüßen nicht ...
Jesus betrachtet sie schmerzlich
berührt, sagt aber nichts. Judas und Jakobus sprechen erregt miteinander, und
Judas rennt unwillig davon, ohne daß der Bruder ihn zurückhalten könnte. Doch
Jesus ruft ihn mit so gebieterischer Stimme zurück: «Judas, komm hierher!» daß
der unruhige Sohn des Alphäus kehrtmacht ...
«Laß sie nur. Sie sind
Samenkörner, die den Frühling noch nicht verspürt haben. Laß sie im Dunkel der
harten Scholle. Ich werde in sie eindringen, selbst wenn die Scholle zu einem
geschlossenen Jaspis um den Samen würde. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich
es tun.»
Aber stärker als die Antwort
Judas des Alphäus ertönt das trostlose Weinen Marias des Alphäus. Das
anhaltende Weinen eines gedemütigten Menschen.
Doch Jesus wendet sich ihr nicht
zu, um sie zu trösten, obwohl ihr Klagen laut unter dem Gewölbe hallt. Er
spricht weiter mit Manaen, der sagt: «Diese meine Begleiter sind Jünger des
Johannes. Sie wollen ebenso wie ich dir angehören.»
«Der Friede sei mit den guten
Jüngern! Dort vorne sind Matthias, Johannes und Simeon, die für immer bei mir
sind. Ich nehme euch in die Schar meiner Jünger auf, wie ich sie aufgenommen
habe, denn mir sind alle lieb und teuer, die vom heiligen Vorläufer zu mir
kommen.»
Die Tempelmauern sind erreicht.
Jesus gibt Iskariot und Simon dem Zeloten Anweisungen für den Kauf der
liturgischen Opfergaben. Dann ruft er den Priester Johannes zu sich und sagt:
«Du, der du von hier bist, lade einige Leviten ein, von denen du weißt, daß
sie würdig sind, die Wahrheit kennenzulernen; denn dieses Jahr kann ich
wahrlich ein Fest der Freude feiern. Nie mehr wird ein Tag so herrlich
sein...»
«Warum, Meister?» fragt der
Schriftgelehrte Johannes.
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«Weil ich euch alle um mich habe,
entweder sichtbar gegenwärtig oder in eurem Geist.»
«Aber wir werden doch immer bei
dir sein und mit uns viele andere!»versichert ungestüm der Apostel Johannes,
dem alle beistimmen.
Jesus lächelt und schweigt,
während der Priester Johannes zusammen mit Stephanus in den Tempel vorausgeht,
um den Auftrag auszuführen. Jesus ruft ihnen nach: «Wir treffen uns im Vorhof
der Heiden.»
Sie treten ein und begegnen
sogleich Nikodemus, der eine tiefe Verbeugung macht, sich Jesus jedoch nicht
nähert, sondern nur ein friedvolles Lächeln mit dem Meister tauscht.
Während die Frauen stehenbleiben,
wo es ihnen erlaubt ist, begibt sich Jesus mit den Jüngern zum Gebet an den
Ort der Hebräer. Nachdem alle Riten vollzogen sind, kommt er zurück, um mit
den im Vorhof der Heiden Wartenden zusammenzutreffen.
Die sehr weiten und hohen
Säulenhallen sind voller Menschen, die den Lesungen der Rabbis lauschen. Jesus
begibt sich dorthin, wo er die beiden Apostel und die vorausgesandten Jünger
warten sieht. Sofort bildet sich eine Gruppe um ihn; zu den Aposteln und
Jüngern gesellen sich zahlreiche Personen aus der Menschenmenge im marmornen
Hof. Die Neugierde ist so groß, daß auch einige Schüler der Rabbis – ich weiß
nicht, ob freiwillig oder von ihren Meistern geschickt – sich der Gruppe um
Jesus anschließen.
Jesus fragt ganz unvermittelt:
«Warum drängt ihr euch so um mich? Sagt es. Ihr habt doch bekannte und weise
Rabbis, die ein großes Ansehen genießen. Ich bin der Unbekannte, der
Unerwünschte. Warum kommt ihr also zu mir?»
«Weil wir dich lieben», sagen
einige, und andere: «Weil deine Worte anders sind als die der anderen», und
wieder andere: «Um deine Wunder zu sehen», und: «Weil wir von dir gehört
haben», und: «Nur du allein hast Worte des ewigen Lebens, und deine Werke
entsprechen deinen Worten», und schließlich: «Weil wir uns deinen Jüngern
anschließen wollen.»
Jesus schaut jeden einzelnen
Sprecher an, als wolle er ihn mit seinem Blick durchbohren, um seine
verborgensten Gefühle kennenzulernen, und mancher, der dem Blick nicht
standhält, entfernt sich oder versteckt sich wenigstens hinter einer Säule
oder hinter Leuten, die größer sind als er. Jesus fährt fort:
«Aber wißt ihr auch, was es heißt
und was es sein soll, mir nachzufolgen? Ich antworte nur auf diese Worte, denn
die Neugierde verdient keine Antwort, und wer nach meinen Worten hungert, hat
folglich auch Liebe zu mir und das Verlangen, sich mir anzuschließen. Die
Leute, die mit mir gesprochen haben, kann man in zwei Gruppen aufteilen: in
die der Neugierigen, denen ich keine Aufmerksamkeit schenke, und in die guten
Willens, die ich ohne Täuschung über das Ausmaß dieser Berufung unterrichte.
196
Mir als Jünger nachzufolgen will
heißen, auf jede andere Liebe zu verzichten und nur eine einzige Liebe zu
haben: die Liebe zu mir. Eigenliebe, sündige Liebe zu Reichtum, Sinnlichkeit
oder Macht, ehrenhafte Gattenliebe, heilige Liebe zur Mutter und zum Vater,
natürliche Liebe zu den Kindern und den Geschwistern, all das muß meiner Liebe
weichen, wenn einer mir angehören will. Wahrlich, ich sage euch: freier als
die Vögel, die in den Lüften umherschweifen, müssen meine Jünger sein, und
freier als die Winde, die am Firmament dahinziehen und von niemandem und von
nichts aufgehalten werden können. Frei, ohne schwere Ketten, ohne die Bande
irdischer Liebe, ohne die feinen Spinngewebe selbst der leichtesten Schranken.
Der Geist ist wie ein zarter Schmetterling, der im schweren Kokon des
Fleisches eingeschlossen ist, und es genügt das schillernde, feine Gewebe
einer Spinne, um seinen Flug zu erschweren oder ganz zu verhindern. Diese
Spinne ist die Sinnlichkeit und die Trägheit im Opferbringen. Ich will alles,
ohne Rückhalt. Der Geist bedarf dieser Freiheit im Geben, dieser
Hochherzigkeit im Schenken, um die Gewißheit zu haben, daß er nicht im
Spinngewebe der Zuneigungen, der Gewohnheiten, der Erwägungen und der
Befürchtungen hängenbleibt; im dichten Spinngewebe, das von der riesenhaften
Spinne, dem Seelenräuber Satan, gewoben wird.
Wenn einer zu mir kommen will und
nicht heiligmäßig seinen Vater, seine Mutter, seine Gattin, seine Kinder,
seine Brüder und Schwestern, ja, sogar sein eigenes Leben haßt, kann er nicht
mein Jünger sein. Ich habe gesagt: "heiligmäßig". Ihr sagt in eurem Herzen:
"Haß kann nie heilig sein, er selbst lehrt es. Daher widerspricht er sich."
Nein. Ich widerspreche mir nicht. Ich sage, man soll hassen, was die wahre
Liebe beschwert: die leidenschaftliche, erdgebundene Liebe zu Vater und
Mutter, zu Frau und Kindern, zu Brüdern und Schwestern und zum eigenen Leben.
Andererseits verlange ich von euch, daß ihr eure Verwandten und das Leben mit
der leichten Freiheit, die der Seele eigen ist, liebt. Liebt sie in Gott und
durch Gott, doch zieht sie niemals Gott vor, und seid darum bemüht, sie zu dem
Gott zu führen, bei dem der Jünger schon ist, zum Gott der Wahrheit. So werdet
ihr die Verwandten und Gott heiligmäßig lieben, die beiden Arten der Liebe
miteinander versöhnen, und die Bande des Blutes nicht zur Last, sondern zu
Flügeln, nicht zur Schuld, sondern zur Gerechtigkeit werden lassen. Ihr sollt
auch bereit sein, euer Leben zu hassen, um mir zu folgen. Derjenige haßt sein
Leben, der es in meinen Dienst stellt und nicht fürchtet, es zu verlieren
oder, menschlich gesprochen, es traurig zu verbringen. Aber es ist nur ein
scheinbarer Haß, ein Gefühl, das irrtümlicherweise Haß genannt wird von dem
Menschen, der sich nicht über sein rein irdisches Dasein erheben kann und nur
wenig über dem Tier steht. In Wirklichkeit ist dieser scheinbare Haß, der im
Verzicht auf sinnliche Befriedigungen besteht, um den Geist besser gedeihen zu
lassen, Liebe. Liebe, und zwar die höchste und segensreichste Liebe, die es
gibt.
197
Dieser Verzicht auf niedrige
Genugtuungen und auf die Sinnlichkeit der Zuneigung, dieses Auf-sich-Nehmen
von Tadel und ungerechten Bemerkungen, diese Gefahr, bestraft, verschmäht,
verflucht und vielleicht sogar verfolgt zu werden, bedeuten eine Reihe von
Qualen für uns. Aber man muß sie umarmen und sie auf sich nehmen wie ein
Kreuz, wie einen Schandpfahl, an dem man jede vergangene Schuld sühnt, um
gerechtfertigt vor Gott zu erscheinen, von dem wir jegliche Gnade, die wahre,
mächtige heilige Gnade Gottes empfangen, auch für jene, die wir lieben. Wer
nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nicht nachfolgt, kann nicht mein
Jünger sein.
Überlegt es euch daher sehr gut,
ihr, die ihr sagt: "Wir sind gekommen, um uns deinen Jüngern anzuschließen."
Es ist keine Schande, sondern Weisheit, wenn man sich prüft und dann sich
selbst und den anderen bekennt: ich habe nicht das Zeug, ein Jünger zu werden.
Selbst die Heiden haben als Grundlage einer ihrer Lehren die Notwendigkeit,
"sich selbst zu erkennen" ' und ihr Israeliten, wäret ihr dazu nicht fähig, um
den Himmel zu erringen?
Denn, erinnert euch immer: selig
jene, die zu mir kommen werden. Aber besser ist es, nicht zu kommen und Sohn
des Gesetzes zu bleiben wie bisher, als mich und den, der mich gesandt hat, zu
verraten.
Wehe denen, die gesagt haben:
"Ich komme", und dann Christus schaden, weil sie die christliche Lehre
verraten, die den Kleinen und den Guten Ärgernis geben! Wehe ihnen! Dennoch
wird es sie geben, und immer wird es sie geben!
Macht es daher wie der Mensch,
der einen Turm bauen will. Zuerst berechnet er genau die Kosten und zählt sein
Geld, um zu sehen, ob er genügend hat, um ihn fertigzustellen; damit er, wenn
die Grundmauern einmal beendet sind, nicht die Arbeit einstellen muß, weil
kein Geld mehr da ist. In diesem Fall würde er auch das verlieren, was er
zuvor hatte, ohne Turm und ohne Geld bleiben und sich noch dazu den Spott der
Menschen zuziehen, die sagen würden: "Dieser hier hat zu bauen angefangen,
ohne fertigbauen zu können. Nun kann er sich den Bauch mit den Ruinen seines
unvollendeten Bauwerkes füllen."
Macht es auch wie die irdischen
Könige und zieht aus den nichtigen Ereignissen dieser Welt eine übernatürliche
Lehre. Wenn ein König Krieg gegen einen anderen König führen will, überlegt er
alles, das Für und Wider ruhig und sorgfältig. Er berechnet, ob der Nutzen,
den er von der Eroberung hat, das Lebensopfer seiner Untergebenen wert ist. Er
prüft, ob seine Streitkräfte, die zwar tapfer, aber auch geringer an Zahl als
die des Gegners sind, einen Ort erobern können; und wenn ein König sich
eingestehen muß, daß es unwahrscheinlich ist, daß zehntausend Mann
zwanzigtausend besiegen, wird er, bevor er es zum Krieg kommen läßt, dem
Gegner eine Gesandtschaft mit reichen Geschenken schicken, um ihn
198
zu besänftigen und den Verdacht
zu beseitigen, den er durch seine Kriegsvorbereitungen erweckt hat. Er wird
ihn mit Freundschaftsbezeugungen entwaffnen und einen Friedensvertrag mit ihm
abschließen, der tatsächlich immer noch vorteilhafter ist als Krieg, sowohl in
menschlicher als auch in geistiger Hinsicht.
So müßt auch ihr es machen, bevor
ihr ein neues Leben beginnt und der Welt entgegentretet. Denn dies ist die
Aufgabe meiner Jünger: aufzutreten gegen die stürmischen und wilden Strömungen
der Welt, des Fleisches und Satans. Wenn es euch an Mut fehlt, aus Liebe zu
mir auf alles zu verzichten, dann kommt nicht zu mir, denn ihr könnt nicht
meine Jünger sein.»
«Gut. Was du sagst, ist wahr»,
bestätigt ein Schriftgelehrter, der sich unter die Gruppe gemischt hat. «Aber
wenn wir uns aller Dinge entäußern, womit können wir dir dann dienen? Das
Gesetz hat Gebote, die wie Münzen sind, die Gott den Menschen gibt, damit sie
sich mit ihnen das ewige Leben erkaufen. Du sagst: "Verzichtet auf alles", und
nennst den Vater, die Mutter, die Reichtümer, die Ehren. Gott hat uns diese
Dinge gegeben und durch den Mund Moses gesagt, man solle sie heiligmäßig
benützen, um gerecht in den Augen Gottes zu erscheinen. Wenn du uns alles
wegnimmst, was gibst du uns dafür?»
«Die wahre Liebe, ich habe es
gesagt, o Rabbi. Ich gebe euch meine Lehre, die kein Jota vom alten Gesetz
wegnimmt, sondern es noch vervollkommnet.»
«Dann sind wir alle gleicherweise
Jünger, denn wir haben alle dieselben Dinge.»
«Wir haben sie alle nach dem
mosaischen Gesetz. Aber nicht alle haben sie nach dem von mir im Geist der
Liebe vervollkommneten Gesetz, und nicht alle erwerben durch dieses die
gleichen Verdienste. Auch meine eigenen Jünger werden nicht alle die gleiche
Anzahl von Verdiensten erwerben, und manch einer wird sogar seine einzige
Münze verlieren: die Seele.»
«Wie? Wem mehr gegeben wird, dem
wird auch mehr verbleiben. Deine Jünger, besser noch, deine Apostel, folgen
dir in deiner Sendung und kennen deine Lehre. Sie haben am meisten bekommen.
Auch die wirklichen Jünger haben sehr viel bekommen, weniger die, die nur dem
Namen nach deine Jünger sind, und gar nichts jene, die, wie ich, dir nur
zufällig zuhören. Es ist selbstverständlich, daß im Himmel die Apostel am
meisten, die wirklichen Jünger viel, die Jünger dem Namen nach weniger, und
die, wie ich, gar nichts erhalten werden.»
«Menschlich gesprochen ist es
selbstverständlich, aber nur menschlich gesprochen. Denn nicht alle sind
fähig, die erhaltenen Güter nutzbringend zu verwenden. Höre dieses Gleichnis
und verzeih, wenn ich allzulange hier belehre. Aber ich bin die
vorüberfliegende Schwalbe und halte
199
mich nur kurz im Haus des Vaters
auf, da ich für die ganze Welt gekommen bin und da diese kleine Welt des
Tempels von Jerusalern nicht will, daß ich den Flug unterbreche und dort
bleibe, wohin die Ehre des Herrn mich ruft.»
«Warum sprichst du so?»
«Weil es die Wahrheit ist.»
Der Schriftgelehrte blickt umher
und senkt dann den Kopf. Daß es die Wahrheit ist, sieht er auf allzu vielen
Gesichtern der Synedristen, Rabbis und Pharisäer geschrieben, die dazu
beigetragen haben, den Auflauf um Jesus bedeutend zu vergrößern. Gesichter,
die grün vor Galle oder purpurrot vor Zorn sind, und Blicke, die
unausgesprochene Fluchworte und giftiger Geifer sind. Überall gärt der Groll
und der Wunsch ist sichtbar, dem Heiland zu schaden, und wenn es bei dem
Wunsch bleibt, dann nur aus Furcht vor den vielen, die den Meister mit
Verehrung umringen und zu allem bereit wären, um ihn zu verteidigen; aus
Furcht, von Rom bestraft zu werden, das Milde walten läßt gegenüber dem
friedlichen Meister von Galiläa.
Jesus fährt in Ruhe fort, in
einem Gleichnis seine Gedanken darzulegen:
«Ein Mann, der die Absicht hatte,
eine weite Reise zu unternehmen, die eine längere Abwesenheit erforderte, rief
alle seine Diener zusammen und übergab ihnen alle seine Güter. Dem einen gab
er fünf Silbertalente, dem anderen zwei Silbertalente und einem dritten ein
Goldtalent, einem jeden nach seinem Rang und seiner Tüchtigkeit. Dann reiste
er ab.
Der Diener, der fünf Talente
Silber erhalten hatte, handelte geschickt, und nach einiger Zeit brachten sie
ihm fünf weitere Talente ein. Der Diener mit den zwei Silbertalenten tat
dasselbe und verdoppelte die erhaltene Summe. Der aber, dem der Herr am
meisten gegeben hatte, ein Talent aus echtem Gold, nahm es und machte aus
Furcht vor seiner eigenen Unfähigkeit, vor Dieben und vor tausend anderen
eingebildeten Dingen und vor allem aus Trägheit eine große Grube in die Erde
und verbarg darin das Geld seines Herrn.
Viele, viele Monate gingen
vorüber, und schließlich kehrte der Herr zurück. Er rief sofort seine Diener
zu sich, damit sie Rechenschaft über das ihnen übergebene Geld ablegten. Es
kam der, der die fünf Silbertalente erhalten hatte, und sagte: "Hier, mein
Herr. Du hast mir fünf Talente gegeben. Es schien mir nicht recht, das von dir
erhaltene Geld einfach liegen zu lassen. Ich habe mich umgetan und dir weitere
fünf Talente dazuverdient. Mehr vermochte ich nicht .. Gut, sehr gut, du guter
und getreuer Knecht. Du bist im kleinen treu, willig und ehrlich gewesen. Ich
will dich über viele meiner Güter setzen. Nimm teil an der Freude deines
Herrn!"
Dann kam der andere, der zwei
Talente erhalten hatte, und sagte: "Ich habe mir erlaubt, dein Geld zu deinem
Nutzen zu gebrauchen. Hier sind
200
die Abrechnungen, die dir zeigen,
wie ich dein Geld verwendet habe. Siehst du? Es waren zwei Silbertalente. Nun
sind es vier. Bist du zufrieden, mein Herr?" Und der Herr gab diesem guten
Knecht die gleiche Antwort, die er dem ersten gegeben hatte.
Zuletzt kam auch der, der das
größte Vertrauen des Herrn genossen und von ihm ein Goldtalent erhalten hatte.
Er nahm es aus seinem Kästchen und sagte: "Du hast mir am meisten anvertraut,
denn du weißt, daß ich klug und treu bin, so wie ich weiß, daß du
anspruchsvoll und streng bist und keine Verluste duldest und, wenn dir Unglück
zustößt, dich an dem rächst, der dir am nächsten steht. Du erntest, wo du
nicht gesät hast, sammelst in Wahrheit ein, wo du nicht ausgestreut hast. Du
läßt deinem Bankier oder deinem Verwalter keinen Pfennig nach, in keinem Fall.
Du willst das Geld, das du gefordert hast. So habe ich aus Furcht, deinen
Besitz zu vermindern, das Geld genommen und es versteckt. Niemandem habe ich
vertraut, nicht einmal mir selbst. Jetzt habe ich es ausgegraben und gebe es
dir zurück! Hier ist dein Talent."
"Oh, du schlechter, fauler
Knecht! Du hast mich wahrlich nicht geliebt, denn du hast mich nicht gekannt
und hast nicht danach getrachtet, einen Gewinn mit dem dir anvertrauten Geld
zu machen. Du hast das Vertrauen, das ich dir geschenkt habe, verraten und
dich selbst Lügen gestraft, dich selbst angeklagt und verurteilt. Du hast
gewußt, daß ich ernte, wo ich nicht gesät habe, daß ich sammle, wo ich nicht
ausgestreut habe. Warum hast du nicht dafür gesorgt, daß ich einsammeln und
ernten kann? So antwortest du auf mein Vertrauen? So wenig kennst du mich?
Warum hast du das Geld nicht einem Bankier gebracht? Dann hätte ich es bei
meiner Rückkehr wenigstens mit Zinsen abheben können. Ich selbst hatte dich
mit besonderer Sorgfalt darin unterwiesen, und du, törichter Müßiggänger, hast
nichts getan. Es seien dir daher das Talent und alle deine anderen Güter
genommen. Sie sollen dem gegeben werden, der die zehn Talente hat."
"Aber er hat doch schon zehn,
während dem anderen nichts mehr bleibt..." entgegnete man ihm.
"So ist es recht. Wer ein Kapital
hat und es arbeiten läßt, dem wird noch mehr gegeben werden, im Überfluß. Aber
wer nichts hat, weil er nichts haben wollte, dem wird auch das noch genommen,
was ihm gegeben wurde. Der unnütze Knecht, der mein Vertrauen mißbraucht und
die ihm verliehenen Gaben nicht benützt, soll aus meinem Besitztum entfernt
werden und weinend und sich in seinem Herzen anklagend seines Weges ziehen."
Dies ist das Gleichnis. Wie du
siehst, o Rabbi, ist dem, der am meisten hatte, am wenigsten geblieben, weil
er die Gabe Gottes nicht zu benützen verstand. Es ist nicht gesagt, daß nicht
einer von denen, die nur dem Namen nach Jünger sind oder mir nur zufällig
zuhören und die als einzige Münze ihre Seele haben, das Goldtalent und auch
die Zinsen dafür erhalten kann,
201
die einem der am meisten
Begünstigten weggenommen werden. Zahllos sind die Überraschungen des Herrn,
denn unberechenbar sind die Reaktionen der Menschen. Ihr werdet sehen, daß
Heiden zum ewigen Leben gelangen und Samariter den Himmel besitzen; und ihr
werdet sehen, wie reine Israeliten und selbst einige meiner Nachfolger den
Himmel und das ewige Leben verlieren.»
Jesus schweigt und wendet sich
der Tempelmauer zu, als wolle er jede weitere Diskussion vermeiden. Aber ein
Lehrer des Gesetzes, der sich unter dem Torbogen niedergesetzt hatte, um
ernsthaft zuzuhören, steht auf, stellt sich vor Jesus hin und fragt: «Meister,
was muß ich tun, um das ewige Leben zu erlangen? Du hast anderen geantwortet,
antworte auch mir!»
«Warum willst du mich versuchen?
Warum willst du lügen? Hoffst du, daß ich etwas sage, was nicht mit dem Gesetz
übereinstimmt, weil ich Gedanken anfüge, die es erklären und vervollkommnen?
Was steht im Gesetz geschrieben? Antworte mir! Welches ist sein wichtigstes
Gebot?»
«"Du sollst den Herrn deinen Gott
lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, mit allen deinen
Kräften und deinem ganzen Gemüte! Und du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst!"»
«So ist es, du hast gut
geantwortet. Tue das, und du wirst das ewige Leben erlangen.»
«Aber wer ist denn mein Nächster?
Die Welt ist voll von guten und bösen Menschen, von Bekannten und Unbekannten,
von Freunden und Feinden Israels. Wer ist also mein Nächster?»
«Ein Mann stieg durch die
Schluchten der Gebirge von Jerusalern nach Jericho hinab. Er wurde von Räubern
überfallen. Sie schlugen ihn grausam, beraubten ihn all seiner Habe, selbst
seiner Gewänder, und ließen ihn mehr tot als lebendig am Rand der Straße
liegen.
Kurz darauf kam ein Priester des
Weges, der seinen Dienst im Tempel beendet hatte. Oh, er duftete noch nach den
Räucherpfannen des Heiligtums! Auch seine Seele hätte nach übernatürlicher
Güte und Liebe duften müssen, da er im Haus Gottes, sozusagen in Berührung mit
dem Allerheiligsten, gewesen war. Der Priester aber hatte es eilig, nach Hause
zu kommen. Er schaute daher den Verletzten an, blieb aber nicht stehen,
sondern ging eiligst weiter und überließ den Unglücklichen seinem Schicksal.
Dann zog ein Levit vorbei. Er,
der im Tempel diente, sollte sich verunreinigen? Das kam nicht in Frage. Er
raffte sein Gewand, damit es nicht vom Blut beschmutzt werde, warf einen
flüchtigen Blick auf den, der jammernd in seinem Blut lag, und begab sich
rasch nach Jerusalern zum Tempel.
Als dritter kam ein Samariter,
der von Samaria zur Furt zog. Er sah das Blut, blieb stehen, entdeckte den
Verletzten in der Dämmerung, stieg vom Esel, näherte sich ihm, labte ihn mit
einem Schluck kräftigen Weines,
202
zerriß seinen Mantel, um daraus
Binden zu machen, und nachdem er die Wunden zuerst mit Essig gewaschen und
dann mit Öl gesalbt hatte, verband er ihn liebevoll. Schließlich lud er den
Verletzten auf seinen Esel und führte vorsichtig das Tier, wobei er
gleichzeitig den Verletzten festhielt und ihn mit guten Worten tröstete, ohne
auf die Mühe oder dessen jüdische Nationalität zu achten. In der Stadt
angekommen, brachte er ihn in eine Herberge, wachte die ganze Nacht bei ihm,
und am nächsten Morgen, als er sah, daß es ihm besser ging, vertraute er ihn
dem Gastwirt an, zahlte im voraus und sagte: "Trage Sorge für ihn, als wäre
ich es selbst. Bei meiner Rückkehr will ich dir erstatten, was du mehr
ausgegeben hast, und zwar reichlich, wenn du ihn gut behandelst." Dann ging er
fort.
Lehrer des Gesetzes, antworte
mir: welcher von diesen dreien war dem, der von den Räubern überfallen worden
war, der Nächste? Vielleicht der Priester? Vielleicht der Levit? Oder nicht
vielmehr der Samariter, der nicht danach fragte, wer der Verletzte sei, warum
er verletzt war und ob er gut daran tat, ihm Hilfe zu leisten, da er dadurch
Geld und Zeit verlor und zudem Gefahr lief, als Schuldiger angeklagt zu
werden?»
Der Gesetzeslehrer antwortet:
«Letzterer war ihm der Nächste, da er Mitleid mit ihm hatte und ihm
Barmherzigkeit widerfahren ließ.»
«Tue das gleiche und liebe den
Nächsten und Gott im Nächsten, und du wirst das ewige Leben verdienen.»
Niemand wagt es nun, etwas zu
sagen, und Jesus benützt die Gelegenheit, um die Frauen einzuholen, die bei
der Umfassungsmauer auf ihn warten, und mit ihnen wieder in die Stadt zu
gehen. Indessen hat sich den Jüngern auch ein Priesterpaar angeschlossen, oder
besser: ein Priester und ein Levit, letzterer noch sehr jung, der andere wie
ein Patriarch.
Doch Jesus spricht jetzt mit
seiner Mutter, und Margziam steht zwischen ihnen. Er fragt sie: «Hast du mich
gehört, Mutter?»
«Ja, mein Sohn, und zur
Traurigkeit Marias des Kleophas hat sich die meinige gesellt. Sie hat geweint,
kurz bevor sie den Tempel betreten hat ...»
«Ich weiß es, Mutter. Ich kenne
auch den Grund. Aber sie soll nicht weinen. Nur beten!»
«Oh, sie betet viel! Alle diese
Abende hat sie in ihrer Hütte neben den schlafenden Söhnen gebetet und
geweint. Ich habe es gehört durch die dünne Wand aus Zweigen. Sie sah Joseph
und Simon so nahe und doch so fern... ! Sie ist nicht die einzige, die weint.
Bei mir hat Johanna, die dir so heiter erscheint, auch geweint...»
«Warum Mutter?»
«Weil... Chuza... ein so...
unerklärliches Benehmen hat. Manchmal ist er freundlich zu ihr, und dann weist
er sie wieder in allem zurück. Wenn sie allein sind und niemand sie sehen
kann, ist er der vorbildliche Mann wie immer. Doch wenn andere Leute bei ihm
sind, vom Hof natürlich,
203
wird er herrisch und verächtlich
gegen seine sanfte Frau. Sie versteht nicht, warum...»
«Ich will es dir sagen. Chuza ist
ein Diener des Herodes. Verstehe mich, Mutter: "ein Diener". Ich sage es
Johanna nicht, um ihr kein Leid zu bereiten. Aber es ist so. Wenn er nicht den
Tadel und den Spott des Herrschers zu befürchten hat, ist er der gute Chuza.
Wenn er sie jedoch zu befürchten hat, ist er es nicht mehr.»
«Es ist so, weil Herodes wegen
Manaen so erzürnt ist ...»
«Es ist so, weil Herodes ganz
außer sich ist wegen der nachträglichen Gewissensbisse, die ihm sein Nachgeben
gegenüber Herodias verursacht. Doch Johanna hat schon so viel Gutes in ihrem
Leben gehabt. Sie muß unter ihrem Diadem auch den Bußgürtel tragen.»
«Auch Annalia weint ...»
«Warum?»
«Weil ihr Bräutigam gegen dich
ist.»
«Sie soll nicht weinen. Sage es
ihr. Es ist ein Beschluß Gottes. Es ist göttliche Güte. Ihr Opfer wird Samuel
wieder zum Guten führen. Vorerst wird er nicht auf die Eheschließung drängen.
Ich habe ihr versprochen, sie mit mir zu nehmen. Sie wird mir im Tod
vorangehen...»
«Sohn... !»
Maria umklammert die Hand Jesu
und wird bleich.
«Liebe Mutter! Es ist für die
Menschen. Du weißt es. Es geschieht aus Liebe zu den Menschen. Wir wollen
unseren Kelch mit gutem Willen trinken. Nicht wahr?»
Maria schluckt ihre Tränen
hinunter und antwortet: «Ja.» Ein schmerzerfülltes, herzzerreißendes «Ja».
Margziam hebt das Gesichtlein und
sagt zu Jesus: «Warum sagst du so schlimme Dinge, die der Mutter Schmerz
bereiten? Ich werde dich nicht sterben lassen. So wie ich die Lämmlein
verteidigt habe, so will ich auch dich verteidigen.»
Jesus liebkost ihn, und um das
Gemüt der beiden Betrübten zu erleichtern, fragt er das Kind: «Was werden wohl
deine Schäflein machen? Trauerst du ihnen nicht nach?»
«Oh, ich bin ja bei dir! Doch
denke ich immer an sie und frage mich: "Hat Porphyria sie wohl auf die Weide
geführt? Hat sie auch aufgepaßt, daß Spuma nicht in den See fällt?" Weißt du,
Spuma ist sehr lebhaft. Ihre Mutter ruft sie und ruft ... Aber was hilft es?
Sie macht, was sie will, und Neve, der so gefräßig ist, daß er nicht weiß,
wann es genug ist und krank wird? Weißt du, Meister? Ich verstehe, was es
bedeutet, in deinem Namen Priester zu sein. Mehr als die anderen verstehe ich
es. Sie (und er weist mit der Hand auf die Apostel, die hinterher kommen)
sagen viele große Worte, machen viele Pläne... für später. Ich sage: "Ich will
der Hirte sein, wie für die Schäflein, und ebenso für die Menschen. Das wird
genügen." Meine
204
und deine Mutter hat mir gestern
so etwas Nettes von den Propheten erzählt ... Sie hat gesagt: "Genau so ist
unser Jesus." Ich habe in meinem Herzen gedacht: "Ich will auch so sein."
Darauf habe ich zu unserer Mutter gesagt: "Ich will auch so sein. Jetzt bin
ich noch ein Lamm, bald aber werde ich ein Hirte sein. Jesus hingegen ist
Hirte und wird später Lamm sein. Du aber bist immer das Lamm, nur unser Lamm,
weiß, schön, lieb und mit Worten, die süßer sind als Milch. Gerade deshalb ist
Jesus so sehr das Lamm: weil er aus dir, dem Lämmlein des Herrn, geboren
wurde."»
Jesus neigt sich nieder und küßt
ihn herzlich. Dann fragt er: «Willst du wirklich Priester werden?»
«Aber gewiß, mein Herr! Deswegen
versuche ich ja, gut zu sein und viel zu lernen. Ich gehe immer zu Johannes
von Endor. Er behandelt mich stets als Mann und mit viel Güte. Ich will ein
Hirte der verirrten und nicht verirrten Schäflein werden und der Arzt und
Hirte der Verwundeten oder Zerbrochenen, wie der Prophet sagt. Oh, wie schön!»
Das Kind macht einen Freudensprung und klatscht in die Hände.
«Was hat denn diese Grasmücke,
daß sie so fröhlich ist?» fragt Petrus, der näher kommt.
«Er sieht sein Leben ganz klar
bis zum Ende, und ich weihe diese seine Vision mit meinem "Ja".»
Sie bleiben vor einem hohen Haus
stehen, das, wenn ich nicht irre, in der Nähe des Vororts Ophel liegt, doch in
einem eher herrschaftlichen Viertel.
«Werden wir hier bleiben?»
«Dies ist das Haus, das Lazarus
mir für das Freudenfestmahl angeboten hat. Maria ist auch schon hier.»
«Warum ist sie nicht mit uns
gekommen? Aus Furcht vor Spott?»
«O nein! Ich habe es ihr
befohlen.»
«Warum, Herr?»
«Weil der Tempel empfindlicher
ist als eine schwangere Frau. Solange ich kann, und nicht aus Feigheit, will
ich ihn nicht reizen.»
«Das wird dir nichts nützen,
Meister. Ich würde ihn an deiner Stelle nicht nur reizen, sondern ihn den Berg
Moriah hinunterwerfen, mit allen, die darin sind.»
«Du bist ein Sünder, Simon! Man
muß für seinesgleichen beten und sie nicht töten.»
«Ich bin ein Sünder. Aber du
nicht... und du solltest es tun!»
«Einer wird es schon tun. Aber
erst nachdem das Maß der Sünde voll ist.»
«Welches Maß?»
«Ein Maß, das den ganzen Tempel
füllen und sogar Jerusalern überschwemmen wird. Du kannst es nicht
verstehen... Oh, Martha! Öffne also dem Pilger dein Haus.»
205
Martha macht sich bemerkbar und
öffnet. Alle betreten einen langen Vorraum, der in einem gepflasterten Hof mit
vier Bäumen in den vier Ecken endet. Ein weiter Saal öffnet sich über dem
Erdgeschoß, und durch die offenen Fenster sieht man die ganze Stadt mit ihren
auf- und abführenden Straßen und Gassen. Ich schließe daraus, daß das Haus an
den südlichen oder südöstlichen Hängen der Stadt liegt.
Der Saal ist für sehr viele Gäste
hergerichtet. Die Tische sind parallel zueinander aufgestellt. Hundert
Personen können hier leicht bewirtet werden. Maria Magdalena, die in den
Vorratskammern beschäftigt war, eilt herbei und wirft sich vor Jesus nieder.
Dann kommt auch Lazarus mit einem seligen Lächeln auf seinem kränklichen
Antlitz.
Nach und nach treten die Gäste
ein, die einen leicht verlegen, die anderen etwas selbstsicherer. Doch die
Liebenswürdigkeit der Frauen bewirkt, daß sich bald alle wie zu Hause fühlen.
Der Priester Johannes führt die
beiden, die er aus dem Tempel geholt hat, zu Jesus. «Meister, mein guter
Freund Jonathan und mein jugendlicher Freund Zacharias. Sie sind wahre
Israeliten ohne Bosheit und Arglist.»
«Der Friede sei mit euch! Ich
freue mich, euch hier zu haben. Der Ritus soll auch bei diesen frohen Bräuchen
eingehalten werden. Es ist schön, daß der alte Glaube dem neuen, der dem
gleichen Stamm entspringt, die Freundeshand reicht. Setzt euch an meine Seite,
bis die Stunde der Mahlzeit kommt.»
Der Patriarch Jonathan spricht,
während der junge Levit neugierig da- und dorthin schaut, erstaunt und
vielleicht auch eingeschüchtert. Ich glaube, er möchte ein gewandtes Benehmen
an den Tag legen, aber in Wirklichkeit ist er wie ein Fisch außerhalb des
Wassers. Glücklicherweise kommt ihm Stephanus zu Hilfe und stellt ihm
nacheinander die Apostel und die wichtigsten Jünger vor.
Der alte Priester streicht seinen
schneeweißen Bart und sagt: «Als Johannes zu mir kam, ausgerechnet zu mir,
seinem Lehrmeister, um mir seine Heilung anzuzeigen, hatte ich den Wunsch,
dich kennenzulernen. Meister, ich verlasse kaum mehr meine Behausung. Ich bin
alt... Ich habe jedoch gehofft, dich noch vor meinem Tod kennenzulernen, und
Jahwe hat mich erhört. Ihm sei Preis dafür!
Heute habe ich dich im Tempel
gehört. Du überragst Hillel, den Alten, den Weisen. Ich will und kann nicht
daran zweifeln, daß du es bist, den mein Herz erwartet. Aber du weißt, was es
heißt, achtzig Jahre lang den Glauben Israels eingeatmet zu haben, so wie er
in Jahrhunderten... menschlicher Ausformung geworden ist. Er ist in unser Blut
übergegangen. Ich bin schon so alt! Wenn man dir zuhört, ist es, als ob man
dem Plätschern einer frischen Quelle lausche. O ja! Ein jungfräuliches Wasser!
Aber ich... ich bin durchtränkt von abgestandenem Wasser, das von
206
sehr weit herkommt ... und das
mit so vielen Dingen beschwert ist. Was soll ich tun, um mich dieser Sättigung
zu entledigen und dich zu kosten?»
«An mich glauben und mich lieben!
Anderes ist für den gerechten Jonathan nicht erforderlich.»
«Doch ich werde bald sterben!
Werde ich Zeit haben, alles zu glauben, was du sagst? Ich bin kaum mehr
imstande, allen deinen Worten zu folgen oder sie durch den Mund eines anderen
kennenzulernen. Was bleibt mir also zu tun?»
Du wirst sie im Himmel erlernen.
Nur der Verdammte stirbt der Weisheit, während der in Gottes Gnade Sterbende
das wahre Leben erlangt und in der Weisheit lebt. Was glaubst du, wer ich
bin?»
«Du kannst kein anderer sein als
der Erwartete, dessen Vorläufer der Sohn meines Freundes Zacharias war. Hast
du ihn gekannt?»
«Er war mit mir verwandt!»
«Oh, dann bist du also ein
Verwandter des Täufers?»
«Ja, Priester!»
«Er ist tot... und ich kann nicht
sagen: Unglücklicher!, denn er ist nach Erfüllung seiner Sendung in
Gerechtigkeit gestorben und... O schreckliche Zeiten, in denen wir leben
müssen! Ist es nicht besser, in Abrahams Schoß zurückzukehren?»
«Ja, Priester! Aber es werden
noch bitterere Zeiten kommen.»
«Wirklich? Wohl durch Rom?»
«Nicht durch Rom allein! Das
sündhafte Israel wird die Hauptschuld tragen.»
«Es ist wahr. Gott schlägt uns.
Wir verdienen es. Aber auch Rom... Hast du von den Galiläern gehört, die
Pilatus, während sie ein Opfer darbrachten, töten ließ? Ihr Blut hat sich mit
dem Blut des Opfertiers vermischt. Bis zum Altar sind sie gekommen!»
«Ich habe davon gehört.»
Alle Galiläer geben ihrem Zorn
über diese Gewalttat durch lautes Geschrei Ausdruck: «Es ist wahr, daß er ein
falscher Messias war. Aber warum seine Jünger töten, nachdem sie ihn bereits
geschlagen hatten? Warum zu jener Stunde? Waren sie vielleicht größere
Sünder?»
Jesus gebietet Ruhe und sagt:
«Ihr fragt euch, ob sie größere Sünder als viele andere Galiläer gewesen sind
und ob sie aus diesem Grund getötet wurden? Nein, das waren sie nicht.
Wahrlich, ich sage euch, daß sie bezahlt haben und daß viele andere noch
bezahlen werden, wenn ihr euch nicht zum Herrn bekehrt. Wenn ihr nicht alle
Buße tut, geht ihr alle ebenso zugrunde, in Galiläa und anderswo. Gott ist
erzürnt über sein Volk. Ich sage es euch. Man soll nicht glauben, daß die
Bestraften immer die Schlimmsten sind. Jeder prüfe sich selbst, urteile über
sich selbst, und nicht über andere. Auch jene achtzehn, auf welche der Turm
von Siloe stürzte und sie tötete, waren nicht die größten Sünder in
Jerusalern. Ich
207
sage es euch. Tut Buße, wenn ihr
nicht zermalmt werden wollt wie sie, auch nicht dem Geist nach. Komm, Priester
Israels! Die Tafel ist gedeckt. Du sollst aufopfern und segnen, denn der
Priester muß immer geehrt werden für das, was er vertritt und woran er
erinnert, und du bist der Patriarch unter uns, die wir alle jünger sind.»
«Nein, Meister! Nein! In deiner
Gegenwart kann ich es nicht tun. Du bist der Sohn Gottes!»
«Du opferst auch den Weihrauch
vor dem Altar. Glaubst du vielleicht nicht, daß Gott auch dort zugegen ist?»
«Ja, das glaube ich! Mit all
meinen Kräften!»
«Also? Wenn du nicht zitterst bei
der Aufopferung vor der allerheiligsten Herrlichkeit des Allerhöchsten,
weshalb willst du dann zittern vor der Barmherzigkeit, die sich in Fleisch
gekleidet hat, um auch dir den Segen Gottes zu bringen, bevor es für dich
Nacht wird? Oh, wißt ihr denn nicht, daß ich den Schleier des Fleisches über
meine unfaßbare Gottheit gelegt habe, damit sich der Mensch Gott nähern kann,
ohne sterben zu müssen? Komm, glaube und sei glücklich! In dir verehre ich
alle heiligen Priester von Aaron angefangen bis zum letzten gerechten Priester
Israels, der vielleicht du bist; denn wahrlich, die priesterliche Heiligkeit
liegt bei uns darnieder wie eine Pflanze ohne Wasser.»
325. JOSEPH UND NIKODEMUS
BERICHTEN: IM TEMPEL WEISS MAN VON JOHANNES UND SYNTYCHE
Jesus ist mit den Aposteln und
den Jüngern auf dem Weg nach Bethanien. Er spricht gerade zu den Jüngern,
denen er den Auftrag gibt, sich in zwei Gruppen aufzuteilen. Die Judäer sollen
sich nach Judäa begeben, und die Galiläer sollen jenseits des Jordan
stromaufwärts gehen, um den Messias zu verkünden. Diese Aufforderung stößt auf
einigen Widerstand. Mir scheint, daß das Ostjordanland bei den Israeliten
nicht in gutem Ruf steht. Sie reden davon wie von einer heidnischen Gegend.
Das beleidigt aber die Jünger von jenseits des Jordan, unter ihnen besonders
den Synagogenvorsteher, der wohl das größte Ansehen genießt, und einen Jungen,
dessen Namen ich aber nicht kenne; beide verteidigen leidenschaftlich die
Städte und ihre Bewohner.
Timoneus sagt: «Komm nach Aera,
Herr, du wirst sehen, ob man dich dort nicht achtet. Du wirst in Judäa keinen
so großen Glauben finden wie dort. Ich aber will nicht hingehen. Behalte mich
bei dir und schicke einen Judäer oder einen Galiläer in meine Stadt. Sie
werden sehen, wie sie allein auf mein Wort hin an dich glauben wird.»
Der Jüngling sagt: «Ich habe zu
glauben begonnen, ohne dich je gesehen
208
zu haben. Ich habe dich gesucht,
nachdem meine Mutter mir verziehen hatte. Aber ich bin glücklich, dorthin
zurückzukehren, obwohl es mir den Spott böser Mitbürger, wie ich einst einer
war, und den Tadel der Guten wegen meiner vergangenen Lebensführung einbringen
wird. Aber das macht mir nichts aus. Ich werde dich mit meinem Beispiel
predigen.»
«Du sagst es gut. Tue, was du
gesagt hast. Danach werde ich kommen. Auch du, Timoneus, auch du hast gut
gesprochen. Hermas und Abel von Bethlehem in Galiläa werden also nach Aera
gehen und mich dort verkünden, und du, Timoneus, wirst bei mir bleiben. Doch
ich liebe diese Streitigkeiten nicht. Ihr seid nicht mehr Juden oder Galiläer,
ihr seid Jünger. Das genügt! Der Name und die Sendung machen euch in Herkunft,
Rang und in allem gleich. Nur in etwas könnt ihr euch unterscheiden: in der
Heiligkeit. Sie wird individuell verschieden sein, je nach dem Grad, den jeder
Jünger zu erreichen versteht. Aber ich möchte, daß ihr alle den gleichen Grad
erreicht: die Vollkommenheit. Seht ihr die Apostel? Auch sie unterschieden
sich voneinander durch ihre Herkunft und andere Dinge. Jetzt, nach einem Jahr
und mehr der Unterweisung, sind sie einzig und allein die Apostel. Tut es
ihnen nach! So wie bei euch der Priester neben dem ehemaligen Sünder, der
Reiche neben dem früheren Bettler, und der Jüngling neben dem Greis steht, so
sollt ihr auch die Trennung abbauen, die sich aus der unterschiedlichen
Herkunft ergibt. Ihr habt eine einzige Heimat, den Himmel! Ihr habt euch alle
freiwillig auf den Weg zum Himmel begeben. Erweckt nie bei den Feinden den
Eindruck, daß ihr untereinander verfeindet seid. Euer Feind ist die Sünde,
sonst niemand!»
Sie gehen eine Zeitlang
schweigend weiter. Dann macht sich Stephanus an den Meister heran und sagt:
«Ich möchte dir etwas sagen. Ich habe gehofft, daß du mich danach fragen
würdest, aber du hast es nicht getan. Gestern hat Gamaliel mit mir
gesprochen...»
«Ich habe es gesehen.»
«Fragst du mich nicht, was er zu
mir gesagt hat?»
«Ich warte darauf, daß du es mir
sagst, denn der gute Jünger hat keine Geheimnisse vor dem Meister.»
«Gamaliel... Meister, gehen wir
einige Meter voraus...»
«Gehen wir nur. Aber du könntest
es auch in Gegenwart aller sagen ...»
Sie entfernen sich einige
Schritte. Stephanus macht ein verlegenes Gesicht und sagt: «Ich möchte dir
einen Rat geben, Meister. Verzeih mir...»
«Wenn er gut ist, werde ich ihn
annehmen. Rede also.»
«Meister, das Synedrium erfährt
früher oder später alles. Es ist eine Einrichtung mit tausend Augen und
hundert Fangarmen. Es dringt überall ein, sieht alles und hört alles. Es hat
mehr... Spione, als des Tempels Mauern Steine haben. Viele leben davon...»
«Vom Spionieren, sprich nur
fertig. Es ist die Wahrheit, und ich kenne
209
sie. Also? Was ist denn mehr oder
weniger Wahres im Synedrium gesagt worden?»
«Es ist gesagt worden... Alles.
Ich weiß nicht, wie sie gewisse Dinge erfahren können. Ich weiß nicht einmal,
ob sie wahr sind... Aber ich wiederhole dir wörtlich, was Gamaliel mir gesagt
hat: "Sag dem Meister, daß er Ermastheus beschneiden lassen oder ihn für immer
wegschicken soll. Es ist nicht nötig, weiteres hinzuzufügen."»
«Tatsächlich, es ist nicht nötig.
Erstens, weil ich gerade deswegen nach Bethanien gehe und dort bleiben werde,
bis Ermastheus wieder reisen kann. Und dann, weil keine Rechtfertigung die
Voreingenommenheit... und die Zurückhaltung Gamaliels aufheben könnte, der an
der Tatsache Ärgernis nimmt, daß ich einen an einem Körperteil Unbeschnittenen
bei mir habe! Oh, wenn man doch in sich und um sich schauen würde! Wie viele
Unbeschnittene gibt es in Israel!»
«Aber Gamaliel...»
«Er ist der perfekte Vertreter
des alten Israel. Er ist nicht böswillig, aber... Schau diesen Kieselstein an.
Ich könnte ihn zertrümmern, aber nicht geschmeidig machen. So ist es auch bei
ihm. Er muß zermalmt werden, um wieder neu gebildet zu werden, und ich werde
es tun.»
«Willst du Gamaliel bekämpfen?
Gib acht! Er ist mächtig.»
«Bekämpfen? Wie einen Feind?
Nein! Anstatt ihn zu bekämpfen, will ich ihn lieben, indem ich ihn wegen
seines mumifizierten Verstandes in einem seiner Wünsche zufriedenstelle und
einen Balsam über ihn ausgieße, der ihn auflösen wird, damit ich ihn dann
wieder neu bilden kann.»
«Auch ich werde dafür beten, daß
dies geschehen möge, denn ich habe ihn gern. Tue ich recht daran?»
«Ja! Du mußt ihn lieben und für
ihn beten, und du wirst es tun. Gewiß wirst du es tun. Vielmehr, du wirst mir
helfen, den Balsam zu bereiten... Du wirst Gamaliel sagen, er soll sich
beruhigen, denn ich habe schon für Ermastheus vorgesorgt und bin ihm für den
Rat dankbar. Wir sind jetzt in Bethanien und wollen hier anhalten, damit ich
euch alle segnen kann; denn dies ist der Ort der Trennung.»
Er begibt sich wieder zu der
zahlreichen Gruppe der Apostel und Jünger, segnet sie und entläßt alle, mit
Ausnahme von Ermastheus, Johannes von Endor und Timoneus.
Dann legt er mit den
Zurückgebliebenen rasch die kurze Strecke zurück, die ihn noch vom Gittertor
des Lazarus trennt, das schon zu seinem Empfang geöffnet ist. Beim Betreten
des Gartens hebt er die Hand, um das gastliche Haus zu segnen, in dessen
großem Park bereits die Besitzer des Hauses und die frommen Frauen warten, die
über Margziam, der die mit den letzten Rosen geschmückten Wege entlangläuft,
lachen. Mit den Besitzern und den Frauen kommen, nach einem Ausruf der
letzteren, Joseph von Arimathäa und Nikodemus auf einem Seitenweg daher, die
210
ebenfalls Gäste des Lazarus sind,
um in Ruhe mit dem Meister zusammen sein zu können. Alle eilen Jesus entgegen.
Maria mit ihrem sanften Lächeln, Maria von Magdala mit ihrem Ausruf der Liebe:
«Rabbomi!», Lazarus hinkend, die beiden feierlichen Synedristen, und zum
Schluß die frommen Frauen von Jerusalern und Galiläa. Gesichter mit Runzeln
und glatte, junge Frauengesichter, zart wie ein Engelsgesicht das mädchenhafte
Gesichtlein der Annalia, das bei der Begrüßung des Meisters errötet.
«Ist Syntyche nicht da?» fragt
Jesus nach der ersten Begrüßung.
«Sie ist mit Sara, Marcella und
Noemi beim Tischdecken. Sieh, da kommen sie schon.»
Tatsächlich erscheinen zusammen
mit der alten Esther der Johanna zwei von Alter und von erlittenem Schmerz
gezeichnete Gesichter zwischen zwei heiteren, und schließlich das ernste und
doch friedvolle Gesicht der Griechin, die sich von den anderen durch ihre
Herkunft und auch sonst durch ein gewisses Etwas unterscheidet.
Ich könnte sie nicht einmal als
eine wirkliche, eigentliche Schönheit bezeichnen, und doch beeindrucken ihre
Augen, deren Schwarz durch ein dunkles Indigo gemildert wird, unter der hohen,
vornehmen Stirne mehr als ihr Körper, der gewiß schöner ist als ihr Gesicht,
ein Körper, schlank, ohne mager zu sein, proportioniert, harmonisch im Gehen
und in der Bewegung. Es ist ihr Blick, der beeindruckt, dieser intelligente,
offene, tiefe Blick, der die Welt anzuziehen scheint, das Gute prüft,
Nützliches und Heiliges für sich behält und ablehnt, was böse ist. Es ist
dieser aufrichtige Blick, der sich erforschen läßt bis in die Tiefen und in
dem sich die Seele zeigt, um den zu ergründen, der sich ihr nähert. Wenn es
wahr ist, daß man einen Menschen nach den Augen beurteilen kann, dann sage
ich, daß Syntyche eine Frau mit sicherem Urteilsvermögen und beständigen,
rechtschaffenen Gedanken ist. Sie kniet mit den anderen nieder und erhebt sich
erst, als der Meister sie dazu auffordert.
Jesus geht durch den grünen
Garten bis zur Säulenhalle vor dem Haus und tritt dann in einen Saal ein, in
dem die Diener bereitstehen, um Erfrischungen anzubieten und den angekommenen
Gästen bei der Reinigung vor der Mahlzeit behilflich zu sein. Während sich
alle Frauen zurückziehen, bleibt Jesus mit den Aposteln im Saal. Johannes von
Endor geht mit Ermastheus zum Haus Simons des Zeloten, um dort die Reisesäcke
abzulegen, mit denen sie beladen sind.
«Ist der Jüngling, der mit
Johannes dem Einäugigen gekommen ist, der Philister, den du aufgenommen hast?»
fragt Joseph.
«Ja, Joseph. Woher weißt du das?»
«Meister... Ich und Nikodemus,
wir fragen uns schon seit einigen Tagen, wie wir es erfahren haben und wie es
andere im Tempel wissen können ... Sicher ist, daß wir es wissen. Vor dem
Laubhüttenfest, bei einer der Sitzungen, die immer den Festen vorausgehen,
haben einige Pharisäer
211
behauptet, genau zu wissen, daß
sich unter deinen Jüngern außer den... – verzeih, Lazarus – außer den
bekannten und unbekannten Sünderinnen und den Zöllnern – verzeih, Matthäus,
Sohn des Alphäus – und außer den ehemaligen Galeerensträflingen auch ein
unbeschnittener Philister und eine Heidin befinden. Was die Heidin angeht, mit
der bestimmt Syntyche gemeint ist, so ist es selbstverständlich, daß man es
weiß oder es zumindest vermutet. Das Durcheinander, das der Römer angerichtet
hat, war groß und Gegenstand des Gelächters der übrigen Römer und vieler
Juden; auch weil er umherging und unter Jammern und Drohen seine entflohene
Sklavin da und dort suchte und sogar den König Herodes belästigte, weil er
sagte, sie habe sich im Haus der Johanna versteckt und der Tetrarch müsse
seinem Verwalter gebieten, sie ihrem Eigentümer zurückzugeben. Aber daß unter
den vielen Männern, die dir folgen, ein Philister, ein Unbeschnittener, ein
früherer Sträfling ist... Wie sie das erfahren haben, das ist seltsam! Sehr
seltsam! Meinst du nicht auch?»
«Es ist seltsam und auch wieder
nicht seltsam. Ich will für Syntyche und den früheren Sträfling sorgen.»
«Ja, du wirst gut daran tun, vor
allem Johannes zu entfernen. Er paßt nicht in deine Reihen.»
«Joseph, bist du vielleicht ein
Pharisäer geworden?» fragt Jesus streng.
«Nein... aber...»
«Soll ich etwa nur wegen der
törichten Skrupel des ärgsten Pharisäertums eine Seele verletzen, die
wiedergeboren wurde? Nein, das werde ich nicht tun. Ich werde für seine Ruhe
sorgen. Für seine. Nicht für meine. Ich werde über seine Ausbildung wachen,
wie ich über die des unschuldigen Margziam wache. Wahrlich, es besteht kein
Unterschied zwischen ihnen bezüglich ihrer geistigen Unwissenheit. Der eine
sagt zum ersten Mal Worte der Weisheit, weil Gott ihm verziehen hat, weil er
in Gott wiedergeboren ist, weil Gott den Sünder an sich gezogen hat. Der
andere sagt sie, weil er nach einer armseligen Kindheit nun in das
Jünglingsalter gekommen ist, über das außer der Liebe Gottes die Liebe des
Menschen wacht, und die Seele öffnet wie eine Blüte unter der Sonne. Seine
Sonne ist Gott. Der eine ist im Begriff, die letzten Worte zu sagen... Habt
ihr denn keine Augen, um zu sehen, daß er sich in Bußübungen und in Liebe
verzehrt?
Oh, wahrlich, ich möchte viele
Johannes von Endor in Israel und unter meinen Dienern haben. Ich wünschte, daß
auch du, Joseph und du, Nikodemus, sein Herz hättest, und vor allem, daß es
der hätte, der ihn verraten hat; diese elende Schlange, die sich unter dem
Gewand der Freundschaft verbirgt und den Spion spielt, bevor sie zum Mörder
wird. Diese Schlange, die den Vogel um seine Flügel beneidet und ihm
nachstellt, um sie ihm auszureißen und ihn in den Kerker zu werfen. Ach nein!
Der Vogel ist dabei, sich in einen Engel zu verwandeln. Selbst wenn die
Schlange ihm die Flügel entreißen könnte, so würden sie sich an ihrem
schlüpfrigen
212
Körper sogleich in Dämonenflügel
verwandeln. Jeder Verräter ist schon ein Dämon.»
«Aber wo ist er? Sagt es, damit
ich ihm sofort die Zunge ausreiße», ruft Petrus aus.
«Du würdest besser daran tun, ihm
die Giftzähne auszureißen», sagt Judas des Alphäus.
«Nein! Am besten ist es, wir
erwürgen ihn, damit er nichts mehr anstellen kann! Solche Menschen schaden
immer», sagt Iskariot mit Nachdruck.
Jesus blickt ihn fest an und
schließt: «... und lügen. Doch niemand soll ihm etwas antun. Er verdient es
nicht. Man darf den Vogel nicht zugrundegehen lassen, um sich mit der Natter
zu beschäftigen. Was Ermastheus betrifft, so will ich wegen seiner
Beschneidung im Haus des Lazarus Aufenthalt nehmen. Er wird aus Liebe zu mir
und um den Verfolgungen der kleinlichen Geister Israels zu entgehen, die
heilige Religion unseres Volkes annehmen. Es ist nur ein Übergang aus der
Finsternis zum Licht, und nicht unerläßlich, auf daß Licht in ein Herz komme.
Aber ich gewähre es, um die Empfindlichkeit Israels zu besänftigen und den
wahren Willen des Philisters, zu Gott zu gelangen, zu zeigen. Aber ich sage
euch, in der Zeit Christi ist das nicht nötig, um Gott anzugehören. Es genügen
Wille und Liebe, es genügt das reine Gewissen. Wo werden wir die Griechin
beschneiden? An welcher Stelle ihres Geistes, da sie es von sich aus und
besser als viele in Israel verstanden hat, die Gegenwart Gottes zu erkennen?
Wahrlich, unter den Anwesenden sind viele Finsternis im Vergleich zu den von
euch als Finsternis Verachteten. Auf jeden Fall könnt ihr, der Verräter und
die Synedristen, die Verantwortlichen benachrichtigen, daß das Ärgernis heute
noch behoben wird.»
«Für wen gilt das? Für alle
drei?»
«Nein, Judas des Simon. Für
Ermastheus. Für die anderen zwei werde ich sorgen. Hast du sonst noch Fragen?»
«Ich nicht, Meister!»
«Auch ich habe dir sonst nichts
zu sagen. Ich möchte euch nur bitten, mir zu sagen, wenn ihr es wißt, was mit
dem Herrn der Syntyche geschehen ist?»
«Pilatus hat ihn mit dem ersten
Schiff nach Italien gesandt, um keine Scherereien mit Herodes und den Hebräern
im allgemeinen zu haben. Pilatus macht schlimme Zeiten durch... und die
genügen ihm...» sagt Nikodemus.
«Ist diese Nachricht sicher?»
«Ich kann sie prüfen lassen, wenn
du meinst, Meister», sagt Lazarus.
«Ja, tue das und sage mir dann
die Wahrheit.»
«Doch in meinem Haus wird
Syntyche trotzdem sicher sein.»
«Ich weiß es. Auch Israel schützt
eine Sklavin, die einem fremden, grausamen Herrn entflohen ist. Aber ich will
es wissen.»
213
«Ich jedoch möchte wissen, wer
der Verräter, der Nachrichtenübermittler, der löbliche Spion der Pharisäer ist
... das kann man erfahren; und ich will erfahren, wer die anklagenden
Pharisäer sind. Heraus mit den Namen der Pharisäer und ihrer Stadt! Ich
spreche von den Pharisäern, die die schöne Arbeit der Spionage übernommen
haben, indem sie einen von uns bestochen haben – denn bestimmte Dinge wissen
nur wir, die alten und die neuen Jünger – um das Synedrium über die Handlungen
des Meisters, die alle gerecht sind, unterrichten zu können. Ein Teufel ist,
wer das Gegenteil sagt und denkt, und ...»
«Schweige, Simon des Jonas, ich
befehle es dir!»
«Ich gehorche, auch auf die
Gefahr hin, daß mir durch die Anstrengung die Herzadern platzen. Aber das
Schöne des Tages ist dahin...»
«Nein! Warum denn? Hat sich
zwischen uns etwas geändert? Also? Oh, mein Simon! Komm an meine Seite, wir
sprechen über das, was gut ist ...»
«Man sagt mir, daß das Mahl
bereit ist», sagt Lazarus.
«Dann gehen wir zu Tisch...»
326. SYNTYCHE SPRICHT IM HAUS DES
LAZARUS
Jesus hat sich in dem von
Säulengängen umgebenen Hof, der sich im Innern des Hauses befindet,
niedergelassen, im Hof, den ich am Morgen der Auferstehung Jesu voll von
Jüngern gesehen habe. Er sitzt auf einer mit Kissen bedeckten Marmorbank, den
Rücken an die Wand des Hauses gelehnt, von den Besitzern des Hauses, den
Aposteln, den Jüngern Johannes und Timoneus und von Joseph und Nikodemus und
den frommen Frauen umgeben. Er hört gerade Syntyche zu, die aufrecht vor ihm
steht und anscheinend auf eine seiner Fragen antwortet. Alle hören in den
verschiedensten Stellungen mehr oder weniger aufmerksam zu, die einen auf
Bänken, die anderen auf dem Boden sitzend, wieder andere aufrecht stehend oder
an die Säulen oder die Wände gelehnt.
«... es war ein Bedürfnis, um
nicht die ganze Last meiner Lage zu verspüren. Es ging darum, mich zu
überzeugen, daß ich nicht allein bin, nicht eine von der Heimat verbannte
Sklavin und daß meine Mutter und meine Brüder, der Vater und die so sanfte und
gütige Ismene nicht für immer verloren sind. Wenn auch die ganze Welt sich
verschworen hätte, uns zu trennen, so wie Rom uns getrennt und wie Lasttiere
verkauft hat, uns, die Freien, ein Ort hätte uns doch alle wieder vereint, das
Jenseits. Man muß bedenken, daß unser Leben nicht nur aus Materie besteht, die
man in Ketten legen kann, sondern daß es eine freie Kraft in sich birgt, die
keine Kette halten kann, außer der freiwilligen, in moralischer Unordnung und
214
materieller Schwelgerei zu leben.
Ihr nennt es "Sünde". Jener und jene, die im Dunkel meiner Nacht als Sklavin
mein Licht waren, beschreiben es anders. Aber auch sie geben zu, daß die von
bösen und fleischlichen Leidenschaften an den Körper gefesselten Seelen nicht
an den Ort gelangen, den ihr das Reich Gottes nennt. Daher muß man es
vermeiden, der Materie zu verfallen, und sich bemühen, Abstand zum Körper zu
gewinnen und sich die Tugend zum Vermächtnis zu machen, um die selige
Unsterblichkeit zu erlangen und die Wiedervereinigung mit seinen Lieben.
Man muß denken, daß die Seele der
Toten nicht gehindert wird, der Seele der Lebenden beizustehen, und man
deshalb die Seele der Mutter in der Nähe fühlen kann und ihren Blick und ihre
Stimme wiederfindet, die zur Seele der Tochter spricht, welche sagen kann:
"Ja, Mutter! Damit ich zu dir kommen kann, ja, um deinen Blick nicht zu
trüben, ja, um deine Stimme nicht in Tränen zu ersticken, ja, um deinen
Aufenthalt im Hades, wo du im Frieden bist, nicht zu verdunkeln, ja, für all
dies halte ich meine Seele frei. Es ist der einzige Besitz, den ich habe, den
mir niemand nehmen kann und den ich rein bewahren will, um tugendhaft denken
und handeln zu können." So zu denken bedeutet Freiheit und Freude, und so will
ich denken und handeln! Denn es ist nur eine halbe und falsche Philosophie,
anders zu handeln als man denkt.
So zu denken bedeutete für mich,
auch im Exil ein Vaterland zu haben, ein vertrautes Vaterland im eigenen Ich,
mit seinen Altären, seinem Glauben, seinem Wissen, seinen Gefühlen... Ein
großes Vaterland, ein geheimnisvolles – oder vielleicht auch nicht so
geheimnisvolles – durch das Geheimnisvolle der Seele, die sich des Jenseits
bewußt ist, wenn sie es auch gegenwärtig nur sieht wie ein Seemann vom weiten
Meer aus an einem dunstigen Morgen die Beschaffenheit der Küste erkennt:
verschwommen, skizzenhaft, nur da und dort scharf umrissene Stellen, die aber
dem müden Seefahrer, den die Stürme umhergeworfen haben, genügen, um zu sagen:
"Siehe, dort ist der Hafen und der Friede!" Die Heimat der Seelen, der Ort der
Herkunft... der Ort des Lebens.
Denn das Leben geht aus dem Tod
hervor... Oh! Das habe ich nur halb verstanden, bis ich eines deiner Worte
gehört habe. Danach... danach war es, als ob ein Sonnenstrahl den Diamanten
meines Gedankens getroffen hätte. Alles wurde Licht, und ich habe begriffen,
wie weit die Lehrmeister Griechenlands vorgedrungen sind und sich dann doch
verirrt haben, da ihnen etwas fehlte, um das Theorem des Lebens und des Todes
richtig zu lösen: das Wissen um die Existenz des wahren Gottes, des Herrn und
Schöpfers des Alls.
Darf ich ihn mit diesen meinen
heidnischen Lippen nennen? Ja, ich darf es, denn wie alle komme auch ich von
ihm. Denn er hat Fähigkeiten in die Seelen aller Menschen gelegt, und in die
weisesten eine höhere Intelligenz, wodurch sie uns wie mit übermenschlicher
Macht ausgestattete
215
Halbgötter erscheinen. Ja, denn
er hat sie jene Wahrheiten schreiben lassen, die schon Religion sind, wenn
auch nicht eine göttliche wie deine, die moralisch und fähig ist, die Seelen
"lebend" zu erhalten, nicht nur für diese Zeit hier auf Erden, sondern für
immer.
Danach habe ich verstanden, was
es heißt: "Das Leben wird aus dem Tod hervorgehen." Der dies gesagt hat, war
wie ein noch nicht völlig Betrunkener, dessen Verstand aber schon etwas
benebelt war.
Er sprach ein erhabenes Wort,
verstand es aber selbst nicht ganz. Ich, verzeih, o Herr, meinen Hochmut, ich
habe es besser als er verstanden, und seit jenem Augenblick bin ich
glücklich.»
«Was hast du verstanden?»
«Daß diese Existenz nur das
embryonale Stadium des Lebens ist, und daß das wahre Leben beginnt, wenn der
Tod uns gebiert... dem Hades, wenn ich eine Heidin bin, und dem ewigen Leben,
wenn ich an dich glaube. Habe ich es richtig gesagt?»
«Frau, du hast es gut gesagt»,
lobt sie Jesus.
Nikodemus unterbricht: «Aber wie
hast du von den Worten des Meisters erfahren?»
«Wer Hunger hat, der sucht
Nahrung, Herr. Ich habe meine Nahrung gesucht. Ich war Vorleserin, da ich
gebildet war und eine schöne Stimme und Aussprache hatte; so konnte ich viel
in den Bibliotheken meiner Herren lesen. Aber meine Lektüre befriedigte mich
nicht. Ich fühlte, daß es noch anderes gab jenseits der mit menschlicher
Weisheit gefüllten Regale, und wie eine Gefangene im goldenen Käfig klopfte
ich an die Türen, brach ich die Türen auf, um hinauszugehen, um zu finden...
Als ich mit dem letzten Herrn
nach Palästina kam, fürchtete ich, in die Finsternis zu fallen... statt dessen
ging ich dem Licht entgegen.
Die Worte der Diener von Caesarea
waren wie ebenso viele Axthiebe, die die Wände rissig machten und immer
größere Öffnungen schufen, durch die dein Wort eindringen konnte. Ich sammelte
alle diese Worte und Nachrichten. Dann fädelte ich wie ein Kind die Perlen
auf, schmückte mich damit und schöpfte daraus Kraft, um immer reiner zu werden
und zur Wahrheit zu gelangen. In der Läuterung glaubte ich sie schon auf Erden
finden zu können. Selbst auf Kosten des Lebens wollte ich rein sein für die
Begegnung mit der Wahrheit, der Weisheit, der Gottheit. Herr, ich sage
sinnlose Worte! Man schaut erstaunt auf mich. Aber du hast mich gefragt ...»
«Sprich, sprich, es ist
notwendig.»
«Mit Willenskraft und
Enthaltsamkeit habe ich den äußeren Bedrängnissen widerstanden. Ich hätte nach
weltlicher Auffassung frei und glücklich sein können, wenn ich es nur gewollt
hätte. Aber ich wollte nicht das Wissen mit dem Genuß vertauschen, denn ohne
Weisheit nützen die anderen Tugenden nichts. Er, der Philosoph, hat es gesagt:
"Gerechtigkeit,
216
Mäßigkeit und Willenskraft, die
nicht von Wissen begleitet sind, gleichen einer gemalten Szene, einer durchaus
sklavischen Tugend, ohne Halt und Wirklichkeit." Ich wollte wirkliche Dinge
haben. Der törichte Herr sprach in meiner Gegenwart über dich. Da schien es
mir, als würden die Wände zu Schleiern. Es genügte, den Schleier zu zerreißen
und sich mit der Wahrheit zu vereinigen. Ich habe es getan.»
«Du wußtest aber nicht, daß du
uns finden würdest», sagt Judas Iskariot.
«Ich verstand und glaubte, daß
Gott die Tugend belohnt. Ich wollte weder Gold noch Ehren, nicht einmal die
Freiheit dieser Welt. Ich wollte die Wahrheit. Ich bat Gott, mir sie oder den
Tod zu geben. Ich wollte, daß mir die Erniedrigung erspart bliebe, mit meiner
Zustimmung ein "Objekt" zu werden. Indem ich auf alles Körperliche
verzichtete, um dich zu suchen, o Herr – denn das Suchen mittels der Sinne ist
immer unvollkommen, du hast es gesehen, als ich bei deinem Anblick floh, durch
die Augen in die Irre geführt – habe ich mich Gott hingegeben, der über und in
uns ist, und der zur Seele spricht. Ich habe dich gefunden, denn die Seele hat
mich zu dir geführt.»
«Deine ist eine heidnische
Seele», sagt wiederum Iskariot.
«Aber die Seele hat immer etwas
von Gott in sich, besonders wenn sie sich bemüht hat, sich vor dem Irrtum zu
bewahren... und daher wendet sie sich den Dingen ihrer eigenen Natur zu.»
«Du vergleichst dich mit Gott?»
«Nein.»
«Warum sagst du dann solche
Dinge?»
«Wie? Du, ein Jünger des
Meisters, fragst mich das? Mich, die Griechin, die erst seit kurzem die
Freiheit wiedererlangt hat? Hörst du denn nicht zu, wenn er spricht? Oder ist
in dir die Gärung des Körpers so stark, daß sie dich betäubt? Sagt er denn
nicht immer, daß wir Kinder Gottes sind? Also sind wir Götter, wenn wir Kinder
des Vaters sind, seines und unseres Vaters, von dem er immer spricht. Du
könntest mir vorwerfen, daß ich nicht demütig bin, aber nicht, daß ich
ungläubig und unaufmerksam bin.»
«Du meinst also, daß du gläubiger
bist als ich? Glaubst du, daß dich die Bücher deines Griechenlandes alles
gelehrt haben?»
«Nein! Weder das eine noch das
andere. Doch die Bücher der Gelehrten, woher sie auch stammen mögen, haben mir
das Minimum gegeben, um mich aufrecht halten zu können. Ich zweifle nicht
daran, daß ein Israelit mehr ist als ich. Aber ich bin zufrieden mit dem Los,
das mir von Gott auferlegt worden ist. Was kann ich denn mehr wünschen? Ich
habe alles gefunden, als ich den Meister fand, und ich glaube, es war eine
Fügung, denn ich sehe eine Macht, die über mich wacht und mir eine große
Bestimmung zugedacht hat, der ich nur gefolgt bin, da ich sie als etwas Gutes
erkenne.»
217
«Etwas Gutes? Du bist Sklavin
gewesen, bei grausamen Herren... Wenn der letzte dich zum Beispiel
zurückgeholt hätte, wie hättest du dann deiner Bestimmung folgen können, du,
die du so klug bist?»
«Du nennst dich Judas, nicht
wahr?»
«Ja, und?»
«Nichts! Ich will mir außer
deiner Ironie auch deinen Namen merken. Schau, Ironie ist auch bei
Tugendhaften nicht angebracht... Wie ich meiner Bestimmung hätte folgen
können? Ich hätte mich vielleicht umgebracht, denn manchmal ist es wirklich
besser, zu sterben als weiterzuleben, obwohl der Philosoph sagt, es sei nicht
gut und gottlos, für sein eigenes Wohl zu sorgen, da nur die Götter das Recht
haben, uns zu sich zu rufen. Jedoch hat mich dieses Warten auf ein Zeichen der
Götter stets davon abgehalten, mir das Leben zu nehmen, als mich die Ketten
meines traurigen Schicksals drückten. Aber in einer erneuten Gefangenschaft
bei meinem lasterhaften Herrn hätte ich das göttliche Zeichen gesehen und
hätte es vorgezogen zu sterben, anstatt so weiterzuleben. Auch ich habe eine
Würde, Mann!»
«Und wenn er dich jetzt
zurückholen würde? Wäre deine Lage dann noch immer dieselbe... ?»
«Jetzt würde ich mich nicht mehr
umbringen. Jetzt weiß ich, daß die Vergewaltigung des Fleisches den Geist, der
nicht mit ihr einverstanden ist, nicht verletzt. Jetzt würde ich Widerstand
leisten, bis ich der Gewalt unterläge, bis ich mit Gewalt getötet würde. Denn
auch das würde ich als ein Zeichen Gottes ansehen, daß er mich durch eine
Gewalttat zu sich ruft. Jetzt würde ich ruhig sterben, da ich weiß, daß ich
nur verlieren kann, was vergänglich ist.»
«Du hast gut geantwortet, Frau»,
sagt Lazarus, und auch Nikodemus stimmt zu.
«Der Selbstmord ist niemals
erlaubt», sagt Iskariot.
«Viele Dinge sind verboten, und
man achtet nicht auf das Verbot. Aber du, Syntyche, mußt glauben, daß Gott, so
wie er dich immer geführt hat, dich auch davor bewahrt hätte, daß du dir
selbst Gewalt antust. Nun geh! Ich wäre dir dankbar, wenn du das Kind suchen
und es mir bringen würdest», sagt Jesus sanft.
Die Frau verneigt sich bis zur
Erde und geht weg. Alle blicken ihr nach.
Lazarus flüstert: «Sie ist immer
so! Ich kann nicht verstehen, wie die Dinge, die in ihr "Leben", für uns in
Israel "Tod" gewesen sind. Wenn du Gelegenheit hast, sie noch einmal zu
prüfen, wirst du sehen, daß gerade der Hellenismus, der uns verdorben hat, die
wir schon im Besitz einer Weisheit waren, sie gerettet hat. Warum?»
«Weil die Wege des Herrn
wunderbar sind und er sie denen öffnet, die sie verdienen. Jetzt, Freunde,
entlasse ich euch, denn es wird Abend. Ich freue mich, daß ihr alle die
Griechin habt sprechen hören. Aus der Erfahrung,
218
daß Gott sich den Besten
enthüllt, zieht die Uhre, daß es verwerflich und gefährlich ist, jedes
Geschöpf, das nicht aus Israel stammt, aus den Scharen Gottes auszuschließen.
Dies sei euch eine Regel für die Zukunft ... murre nicht, Judas des Simon, und
du, Joseph, habe keine unnötigen Skrupel. Ihr seid in keiner Weise
verunreinigt, wenn ihr in der Nähe einer Griechin seid. Sorgt dafür, daß ihr
nicht den Dämon herankommen laßt und beherbergt. Leb wohl, Joseph! Leb wohl,
Nikodemus! Werde ich euch noch einmal sehen, solange ich hier bin? Da kommt
Margziam... Komm, Kind, grüße die Häupter des Synedriums. Was sagst du ihnen?»
«Der Friede sei mit euch und...
ich füge hinzu: Betet für mich in der Stunde des Rauchopfers.»
«Du hast es nicht nötig, Kind.
Aber warum denn ausgerechnet zu dieser Stunde?»
«Weil Jesus das erste Mal, als
ich mit ihm den Tempel besuchte, vom Gebet des Abends sprach... Oh, es ist so
schön...!»
«Und du, wirst du auch für uns
beten? Wann?»
«Ich werde beten. Morgens und
abends werde ich beten. Damit Gott euch vor der Sünde bewahren möge, bei Tag
und bei Nacht!»
«Was wirst du sagen, Kind?»
«Ich werde beten: "Allmächtiger
Herr, mach aus Joseph und Nikodemus wahre Freunde Jesu." Das ist genug. Denn
wer ein wahrer Freund ist, fügt seinem Freund kein Leid zu, und wer Jesus kein
Leid zufügt, kann gewiß sein, den Himmel zu erwerben.»
«Gott möge dich so bewahren,
Kind!» sagen die beiden Synedristen und liebkosen es. Dann grüßen sie den
Meister, die Jungfrau und Lazarus im besonderen und die übrigen alle zusammen
und gehen fort.
327. DIE MISSION DER VIER APOSTEL
IN JUDÄA
Jesus kehrt mit den Aposteln von
einem apostolischen Besuch in der Umgebung von Bethanien zurück. Es muß eine
kurze Reise gewesen sein, denn sie haben nicht einmal die Brotbeutel
mitgenommen. Sie reden miteinander. «Es war eine gute Idee Salomons, des
Fährmanns, nicht wahr, Meister?»
«Ja, ein guter Gedanke.»
Natürlich muß Iskariot den
anderen widersprechen: «Ich sehe nicht viel Gutes darin. Er hat uns das
gegeben, was ihm jetzt als Jünger nicht mehr dient. Da gibt es nichts zu
rühmen ...»
«Ein Haus dient immer», sagt der
Zelote ernst.
«Wenn es wie das deine wäre. Aber
was ist es? Eine ungesunde Hütte!»
«Es ist alles, was Salomon
besitzt», entgegnet der Zelote.
219
«So wie er dort alt geworden ist,
ohne krank zu werden, so werden auch wir ab und zu dort wohnen können. Was
willst du eigentlich? Sollen alle Häuser wie das des Lazarus sein!» bemerkt
Petrus.
«Ich will gar nichts. Ich sehe
nur die Notwendigkeit dieses Geschenkes nicht ein. Wenn man schon dort ist,
kann man auch in Jericho Aufenthalt nehmen. Es liegt nur einige Stadien davon
entfernt, und für Leute wie wir, die wie Verfolgte gezwungen sind, andauernd
zu wandern, bedeuten einige Stadien nichts.»
Jesus greift ein, bevor die
Geduld der anderen zu Ende ist, wofür es schon deutliche Anzeichen gibt.
«Salomon hat im Verhältnis zu seinem Besitz mehr als alle anderen gegeben. Er
hat alles gegeben. Er hat es aus Liebe gegeben. Er hat es gegeben, um uns ein
Obdach zu sichern für den Fall, daß Regengüsse oder Hochwasser uns in der
unwirtlichen Gegend überraschen sollten, und vor allem für den Fall, daß die
Unfreundlichkeit der Juden so groß werden sollte, daß es ratsam wäre, einen
Fluß zwischen uns und ihnen zu haben. Dies, soweit es das Geschenk betrifft.
Daß ein Jünger, der so arm und ungebildet, aber auch so treu und bereitwillig
ist, zu einer solchen Hochherzigkeit gelangt, die seinen festen Willen
kundgibt, für immer mein Jünger zu sein, bereitet mir große Freude. Wahrlich,
ich sehe, daß viele Jünger trotz der wenigen Unterweisungen, die sie von mir
erhalten haben, euch, die ihr so viel belehrt worden seid, übertreffen. Ihr
seid noch immer nicht fähig, besonders du, mir das zu opfern, was euch gar
nichts kostet: euer persönliches Urteil. Das deinige ist immer hart und
unbeugsam.»
«Du sagst, daß der Kampf gegen
sich selbst der schwerste ist...»
«Du willst mir damit also sagen,
daß ich fehlgehe, wenn ich behaupte, daß er nichts kostet, nicht wahr? Aber du
hast wohl begriffen, was ich sagen will! Für den Menschen, und du bist
wahrlich ein echter Mensch, hat nur das Wert, was käuflich ist. Das Ich hat
keinen Handelswert. Es sei denn, daß man sich einem anderen verkauft und dabei
einen Gewinn erhofft. Das ist ein Schacher gleich dem, den die Seele mit Satan
treibt, ja ein noch weitergehender. Denn außer der Seele bemächtigt er sich
auch des Denkens oder des Urteilsvermögens oder der Freiheit des Menschen, du
magst es nennen, wie du willst. Es gibt auch Unglückliche dieser Art... Aber
jetzt wollen wir nicht an sie denken. Ich habe Salomon gelobt, weil ich den
vollen Wert seiner Tat anerkenne. Das genügt!»
Eine Zeitlang herrscht Schweigen,
dann beginnt Jesus wieder zu sprechen: «In einigen Tagen wird Ermastheus
imstande sein zu wandern, ohne Schaden zu nehmen. Ich will nach Galiläa
zurückkehren. Aber ihr sollt nicht alle mit mir kommen. Ein Teil von euch wird
in Judäa bleiben, um dann mit den Jüngern aus Judäa zurückzukehren, damit wir
zum Fest der Lichter alle beisammen sind.»
«Solange? Oje! Wen wird es denn
treffen?»sagen die Apostel zueinander.
220
Jesus bemerkt das Flüstern und
antwortet: «Es trifft Judas des Simon, Thomas, Bartholomäus und Philippus.
Aber ich habe nicht gesagt, daß ihr bis zum Fest der Lichter in Judäa bleiben
sollt. Ich will nur, daß ihr die Jünger sammelt oder benachrichtigt, damit sie
zum Fest der Lichter bei uns sein können. Ihr sucht sie also zu
benachrichtigen und sammelt sie. ihr werdet sie überwachen, ihnen helfen und
mir dann nachkommen. Bringt die mit, die ihr findet; den anderen hinterlaßt
ihr die Nachricht, daß sie nachkommen sollen. Wir haben schon Freunde in den
wichtigsten Ortschaften von Judäa. Sie werden uns den Gefallen tun, es den
Jüngern mitzuteilen. Denkt daran, daß ich bei der Rückkehr nach Galiläa am
jenseitigen Ufer des Jordan entlang über Gerasa, Bozrah und Arbela bis nach
Aera kommen werde, und sammelt auch jene, die es bei meinem Vorbeikommen nicht
gewagt haben, um Belehrung oder Wunder zu bitten und dies seither bereuen.
Führt sie zu mir. Ich werde bis zu eurer Ankunft in Aera verweilen.»
«Dann wäre es besser, wenn wir
gleich aufbrächen», sagt Iskariot.
« Nein! Ihr sollt am Abend vor
meiner Abreise aufbrechen und euch zu Jonas im Gethsemane begeben. Am Tag
darauf schlagt ihr den Weg nach Judäa ein. So wirst du deine Mutter sehen und
ihr in dieser Zeit der landwirtschaftlichen Verträge helfen können.»
«Sie hat nunmehr seit Jahren
gelernt, sie allein zu machen.»
«Oh, hast du vergessen, daß du
letztes Jahr bei der Weinernte unentbehrlich warst?» fragt Petrus anzüglich.
Judas wird röter als Klatschmohn
und häßlich durch seinen Zorn und seine Beschämung. Doch Jesus kommt jeder
Antwort zuvor und sagt: «Ein Sohn ist immer Hilfe und Trost für seine Mutter.
Bis Ostern und nach Ostern wird sie dich nicht mehr sehen. Daher gehe und tue,
was ich dir sage!»
Judas entgegnet Petrus nichts
mehr; er läßt seinen Zorn an Jesus aus: «Meister, weißt du, was ich dir sagen
muß? Ich habe den Eindruck, daß du mich loswerden willst, weil du mich
verdächtigst: weil du ungerechterweise glaubst, daß ich schuld an etwas bin,
weil du es mir gegenüber an Liebe fehlen läßt, weil...»
«Judas! Genug! Ich könnte dir
viele Worte sagen. Ich sage dir nur: "Gehorche!"» Jesus ist majestätisch bei
diesen Worten. Hochaufgerichtet, mit blitzenden Augen und ernstem Antlitz...
Er läßt den, der ihn anblickt, erzittern. Auch Judas zittert. Er folgt als
letzter der Gruppe, während Jesus allein an der Spitze geht. Zwischen ihm und
Jesus wandert die verstummte Gruppe der Apostel.
221
328. JESUS VERLÄSST BETHANIEN, UM
SICH AUF DIE ANDERE SEITE DES JORDAN ZU BEGEBEN
«Lazarus, mein Freund, ich bitte
dich, mit mir zu kommen», sagt Jesus auf der Schwelle des Saales, wo Lazarus
auf einem Lager halb ausgestreckt liegt und in einer Schriftrolle liest.
«Sofort, Meister! Wohin?» fragt
Lazarus und erhebt sich unverzüglich.
«Durch die Felder. Ich möchte mit
dir allein sein.»
Lazarus blickt ihn fassungslos an
und sagt: «Hast du traurige Nachrichten vernommen, die du mir im geheimen
mitteilen willst? Oder... Nein, ich will nicht daran denken...»
«Ich möchte mich nur mit dir
beraten, und nicht einmal die Luft darf wissen, was wir besprechen werden. Laß
den Wagen kommen, denn ich möchte dich nicht ermüden. Wenn wir auf dem offenen
Feld angekommen sind, will ich dann mit dir reden.»
«So will ich selbst den Wagen
lenken, damit auch der Diener nicht erfährt, was wir besprochen haben.»
«Ja. Genau so!»
«Ich gehe sofort, Meister. Ich
werde gleich bereit sein», und er verläßt den Saal.
Auch Jesus geht hinaus, nachdem
er etwas nachdenklich im reichgeschmückten Saal stehengeblieben war. Beim
Nachdenken hat er mechanisch zwei oder drei Gegenstände berührt und die zur
Erde gefallene Schriftrolle aufgehoben. Als er sie schließlich an ihren Platz
in einem Regal zurückgelegt hat, mit dem angeborenen Ordnungssinn, der in
Jesus so stark ausgeprägt ist, bleibt er mit ausgestrecktem Arm stehen, um
seltsame Kunstgegenstände, die auf einem Regal aneinandergereiht stehen, zu
betrachten, wenigstens solche, die sich sehr von den in Palästina vorkommenden
unterscheiden. Es handelt sich um sehr alte Krüge und Becher, mit Flachreliefs
und Malereien, ähnlich den Verzierungen der Tempel des alten Griechenland und
der Totenurnen. Was er außer dem Gegenstand an und für sich noch sieht, weiß
ich nicht... Er geht hinaus in den Innenhof, wo sich die Apostel befinden.
«Wohin gehen wir, Meister?»
fragen sie, als sie sehen, daß Jesus sich den Mantel umhängt.
«Nirgendwohin. Ich gehe mit
Lazarus hinaus. Ihr bleibt hier und wartet auf mich, alle zusammen. Ich werde
bald wieder zurück sein.»
Die Zwölf schauen sich
gegenseitig an... Sie sind nicht zufrieden... Petrus sagt: «Gehst du allein?
Sei vorsichtig ...»
«Hab keine Sorge! Seid nicht
müßig, während ihr wartet. Unterweist noch Ermastheus, damit er das Gesetz
immer besser kennenlernt, und vermeidet Zank und Grobheiten. Ertragt einander,
liebt euch!»
222
Er begibt sich zum Garten, und
alle folgen ihm. Bald kommt ein leichter, bedeckter Wagen, auf dem sich
bereits Lazarus befindet.
«Du fährst mit dem Wagen?»
«Ja, damit Lazarus seine Beine
nicht zu sehr anstrengen muß. Auf Wiedersehen. Margziam, sei brav. Der Friede
sei mit euch allen!»
Er besteigt den Wagen, unter dem
der Kies auf dem Weg knirscht. Sie verlassen den Garten und schlagen die
Hauptstraße ein.
«Fährst du zum "Trügerischen
Gewässer", Meister?» schreit Thomas ihm nach.
«Nein! Noch einmal sage ich euch:
Seid gut zueinander!»
Das Pferd fällt in einen wackeren
Trab. Der Weg von Bethanien nach Jericho führt durch eine Landschaft, die sich
entlaubt, und je mehr es der Ebene zugeht, desto mehr bemerkt man das
Absterben des Grüns.
Jesus denkt nach. Lazarus
schweigt und beschäftigt sich nur mit dem Lenken des Pferdes. Als sie die
Ebene erreicht haben, eine fruchtbare Ebene, schon bereit, den Samen des
künftigen Getreides aufzunehmen, schlafend in ihren Weinbergen wie eine Frau,
deren Frucht erst vor kurzem das Licht der Welt erblickt hat und die sich nun
von der süßen Mühe ausruht, läßt Jesus anhalten. Lazarus lenkt das Pferd auf
einen Seitenweg, der zu fernen Häusern führt... und erklärt: «Hier werden wir
noch ungestörter sein als auf der großen Straße. Die Bäume schützen uns vor
den Blicken der Vorübergehenden.» Eine Gruppe niedriger, dichter Gewächse
bildet gleichsam einen Wandschirm gegen die Neugier Vorüberziehender. Lazarus
steht aufrecht vor Jesus und wartet.
«Lazarus, ich muß Johannes von
Endor und Syntyche entfernen. Du siehst, daß die Klugheit es rät und auch die
Liebe. Für den einen und für die andere wäre es eine gefährliche Prüfung und
ein unnötiger Schmerz, wenn sie von den Verfolgungen erfahren würden, die
gegen sie im Gang sind; es könnten sich, wenigstens für den einen, sehr
peinliche Überraschungen ergeben.»
«In meinem Haus...»
«Nein! Nicht in deinem Haus. Man
würde sie vielleicht nicht physisch angreifen, aber moralisch belästigen. Die
Welt ist grausam und zermalmt ihre Opfer. Ich möchte nicht, daß diese beiden
schönen Seelenkräfte so verlorengehen. Daher möchte ich, wie ich eines Tages
den alten Ismael mit Sara verband, jetzt den armen Johannes mit Syntyche
vereinen. Ich möchte, daß er in Frieden stirbt, daß er nicht allein ist und
sich nicht einbildet, weggeschickt zu werden, nicht weil er der "Exsträfling"
ist, sondern weil er der Jünger und Proselyt ist, den man anderswohin
entsenden kann, um den Meister zu verkünden. Syntyche wird ihm helfen...
Syntyche ist eine schöne Seele und wird eine große Kraft in der zukünftigen
Kirche und für sie sein. Kannst du mir raten, wo ich sie hinschicken könnte?
Nach Judäa, nach Galiläa oder auch in die Dekapolis? Dorthin, wo ich
223
und meine Apostel und Jünger
hingehen werden, kann ich sie nicht schicken. In die heidnische Welt auch
nicht. Wohin also? Wo können sie nützlich und sicher sein?»
«Meister... ich soll es dir
raten?!»
«Nein, nein! Sprich nur! Du
meinst es gut mit mir und wirst sie nie verraten, denn du liebst alle, die ich
liebe, und du bist nicht so engherzig wie die anderen.»
«Ich... Ja... Ich würde dir
raten, sie dorthin zu schicken, wo ich Freunde habe. Nach Zypern oder Syrien.
Du kannst wählen. In Zypern habe ich Vertrauenspersonen, und in Syrien ebenso!
Dort habe ich noch einige kleine Häuser und einen Verwalter, der treuer als
ein Schäflein ist. Unser alter Philippus! Für mich würde er alles tun, was ich
ihm sage. Wenn du es mir erlaubst, können alle, die Israel verfolgt und die du
liebst, sich von nun ab meine Gäste nennen und sicher im Haus verweilen. Oh,
es ist kein Königspalast! Es ist ein Haus, in dem Philippus mit seinem Neffen
wohnt, der die Gärten von Antigonea betreut. Die geliebten Gärten meiner
Mutter! Wir haben sie zu ihrem Gedächtnis erhalten. Sie hatte Pflanzen aus
ihrem Garten in Judäa dorthin gebracht, seltene Gewürzkräuter... Die Mutter!
... Sie hat viel Gutes für die Armen getan... Sie waren ihr geheimes Reich...
Meine Mutter... Ich werde sie bald besuchen, um ihr zu sagen: "Freue dich, o
gute Mutter! Der Erlöser ist auf Erden." Sie hatte dich erwartet...» Zwei
Tränenspuren sind auf dem leidvollen Antlitz des Lazarus sichtbar. Jesus
blickt ihn an und lächelt. Lazarus faßt sich: «Aber sprechen wir von dir!
Scheint dir der Ort geeignet zu sein?»
«Ja, und einmal mehr möchte ich
dir danken, für mich und für sie. Du nimmst mir eine große Sorge ab ...»
«Wann werden sie abreisen? Ich
frage, um einen Brief für Philippus vorzubereiten. Ich werde ihm sagen, es
seien zwei meiner Freunde von hier, die der Ruhe bedürfen. Wird das genügen?»
«Ja, das wird genügen. Ich bitte
dich, nicht einmal die Luft darf von all dem erfahren. Du siehst, man
spioniert mir nach ...»
«Ich sehe es. Ich werde nicht
einmal mit den Schwestern darüber reden. Aber wie wirst du sie dorthin
bringen? Du hast die Apostel bei dir...»
«Jetzt will ich ohne Judas des
Simon, Thomas, Philippus und Bartholomäus bis nach Aera hinaufgehen. Indessen
werde ich Syntyche und Johannes gründlich unterweisen, damit sie reichlich mit
der Wahrheit ausgerüstet dorthin reisen. Danach will ich nach Meron und weiter
nach Kapharnaum hinab. Dort angekommen, werde ich die Vier noch einmal mit
anderen Aufgaben wegschicken und schließlich die beiden nach Antiochia
abreisen lassen. Ich bin dazu gezwungen...»
«Du kannst den Deinen nicht
trauen, du hast recht... Meister, es schmerzt mich, dich bedrückt zu sehen
...»
«Deine wahre Freundschaft tröstet
mich sehr... Lazarus, ich danke
224
dir... Übermorgen werde ich
abreisen und deine Schwestern mitnehmen. Ich brauche viele Jüngerinnen, um
unter ihnen Syntyche verbergen zu können. Auch Johanna des Chuza wird kommen.
Von Meron wird sie nach Tiberias gehen, weil sie dort den Winter verbringen
will. Ihr Gatte will es so, um sie in seiner Nähe zu haben, da Herodes für
einige Zeit nach Tiberias zurückkehren wird.»
«Es soll alles geschehen, wie du
es willst. Meine Schwestern sind dein, so wie ich, meine Häuser, meine Diener
und meine Güter es sind. Alles ist dein, Meister. Gebrauche es zum Guten. Ich
will den Brief für Philippus vorbereiten. Es ist besser, wenn ich ihn dir
persönlich mitgebe.»
«Danke, Lazarus.»
«Es ist alles, was ich tun
kann... Wäre ich gesund, würde auch ich kommen... Heile mich, Meister, und ich
werde kommen.»
«Nein, Freund! Du dienst mir so,
wie du bist!»
«Auch, wenn ich nichts tue?»
«Ja. Oh, mein Lazarus!» und Jesus
umarmt und küßt ihn.
Sie besteigen wieder den Wagen
und kehren zurück. Nun ist Lazarus schweigsam und nachdenklich; Jesus fragt
ihn nach dem Grund.
«Ich denke daran, daß ich
Syntyche verliere. Ihr Wissen und ihre Güte haben mich angezogen...»
«Jesus erwirbt sie jetzt ...»
«Es ist wahr, es ist wahr. Wann
werde ich dich wiedersehen, Meister?»
«Im Frühjahr.»
«Bis zum Frühling nicht mehr? Im
vergangenen Jahr warst du zum Lichterfest bei mir...»
«Dieses Jahr will ich die Apostel
zufriedenstellen. Aber im nächsten Jahr werde ich oft bei dir sein, ich
verspreche es dir.»
Bethanien liegt in der
Oktobersonne. Sie sind beinahe angekommen, als Lazarus das Pferd anhält und
sagt: «Meister, du tust gut daran, den Mann von Kerioth zu entfernen. Ich
fürchte ihn. Er liebt dich nicht. Er hat mir nie gefallen. Er ist ein
sinnlicher und habgieriger Mensch, und deswegen zu jeder Sünde fähig. Meister,
er war es, der dich angezeigt hat...»
«Hast du dafür Beweise?»
«Nein!»
«Dann darfst du auch nicht
urteilen. Du bist nicht sehr erfahren im Urteilen. Erinnere dich, daß du deine
Maria für hoffnungslos verloren gehalten hast. Sage nicht, es sei mein
Verdienst. Sie hat mich zuerst gesucht.»
«Auch das ist wahr. Doch hüte
dich vor Judas.»
Bald danach betreten sie den
Garten, wo die Apostel schon voller Neugierde warten.
Die Abwesenheit von vier
Aposteln, vor allem die des Judas, ist der
225
Grund, daß die Gruppe der
Zurückgebliebenen vertraulicher und freier wirkt: wirklich eine Familie, deren
Häupter Jesus und Maria sind; Maria, die an diesem heiteren Oktobermorgen
Bethanien verläßt und sich nach Jericho begibt, um an das andere Ufer des
Jordan zu gelangen. Die Frauen sind um Maria versammelt, und es fehlt nur
Annalia in der Gruppe der Jüngerinnen, also die drei Marien, Johanna, Susanna,
Elisa, Marcella, Sara und Syntyche. Um Jesus sind Petrus, Andreas, Jakobus,
Judas des Alphäus, Matthäus, Johannes, Jakobus des Zebedäus, Simon der Zelote,
Johannes von Endor, Ermastheus und Timoneus geschart, während Margziam wie ein
Geißböcklein hüpfend sich einmal der einen, dann wieder der anderen Gruppe
anschließt, die wenig voneinander entfernt wandern. Mit schweren Taschen
beladen, ziehen sie fröhlich auf der von einer milden Sonne beschienenen
Straße dahin durch die feierlich ruhende Landschaft.
Johannes von Endor schreitet
mühsam voran unter der Last, die er auf den Schultern trägt. Petrus merkt es
und sagt: «Gib her, da du den ganzen Ballast wieder hast mitnehmen wollen.
Hast du dich danach gesehnt?»
«Der Meister hat es mir
aufgetragen.»
«So? Nicht zu glauben! Und
warum?»
«Ich weiß es nicht. Er hat
gestern abend gesagt: "Nimm deine Bücher und folge mir mit ihnen!"»
«Oh, nicht zu glauben, nicht zu
glauben... Aber wenn er es gesagt hat, muß es wohl gut sein. Vielleicht tut er
es für die Frau. Wie viele Dinge weiß sie doch! Weißt auch du alle diese
Dinge?»
«Fast alle! Sie ist sehr
gelehrt.»
«Aber du wirst uns nun nicht
immer mit dieser Last folgen, oder doch?»
«Oh, ich glaube nicht. Ich weiß
es nicht. Aber ich kann sie auch selbst tragen...»
«Nein, Freund! Ich möchte nicht,
daß du krank wirst. Du bist in einer schlechten Verfassung, weißt du?»
«Ich weiß es. Ich fühle, daß der
Tod naht.»
«Mach keine Scherze! Laß uns
wenigstens Kapharnaum erreichen. Es ist so schön jetzt, da wir unter uns sind,
ohne ihn... Diese verfluchte Zunge! Wieder habe ich das gegebene Versprechen
gebrochen! Meister! Meister !»
«Was willst du, Simon?»
«Ich habe über Judas gemurrt, und
ich hatte dir doch versprochen, es nicht mehr zu tun. Verzeihe mir!»
«Ja. Versuche doch, es nicht mehr
zu tun.»
«Ich kann noch 489mal deine
Verzeihung erhalten...»
«Was sagst du denn da, Bruder?»
fragt Andreas erstaunt.
Petrus wendet seinen Hals unter
dem Gewicht der Tasche des Johannes
226
von Endor, während sein
gutmütiges Gesicht in einem schalkhaften Lächeln aufleuchtet: «Erinnerst du
dich nicht mehr daran, daß er gesagt hat, man solle siebzigmal siebenmal
verzeihen? So habe ich noch 489mal Vergebung zugut. Ich führe genau Buch.»
Alle lachen; auch Jesus kann ein
Lächeln nicht unterdrücken. Doch er antwortet: «Du würdest gut daran tun, über
alle deine guten Werke Buch zu führen, du großes Kind!»
Petrus geht zu ihm, legt seinen
rechten Arm um Jesu Hüfte und sagt:
«Mein teurer Meister! Wie
glücklich bin ich, bei dir zu sein, ohne... Ah! Auch du bist glücklich... und
verstehst schon, was ich sagen möchte. Wir sind unter uns. Auch deine Mutter
ist dabei. Auch das Kind ist da. Wir kommen nun nach Kapharnaum. Das Wetter
ist schön ... Fünf Gründe, um glücklich zu sein. Oh, wie schön ist es, mit dir
zu wandern. Wo werden wir heute abend haltmachen?»
«In Jericho.»
«Im letzten Jahr haben wir dort
die Verschleierte gesehen. Wer weiß, was mit ihr geschehen ist... Ich wäre
neugierig, es zu erfahren... Wir haben auch den mit den Weinbergen
angetroffen...» Das Lachen des Petrus steckt an, so schallend ist es. Alle
lachen bei der Erinnerung an die Szene der Begegnung mit Judas von Kerioth.
«Du bist wirklich
unverbesserlich, Simon!» tadelt Jesus...
«Ich habe nichts gesagt, Meister.
Aber ich mußte lachen bei der Erinnerung an sein Gesicht, als er uns dort...
in seinen Weinbergen begegnet ist.» Petrus lacht so herzlich, daß er
stehenbleiben muß, während die anderen lachend weitergehen.
Petrus wird von den Frauen
eingeholt. Maria fragt sanft: «Was hast du, Simon?»
«Ach, ich kann es nicht sagen.
Ich würde sonst wieder gegen die Liebe fehlen. Aber... Mutter, sage mir, du,
die du so weise bist. Wenn ich jemanden verdächtige oder, was schlimmer ist,
verleumde, dann sündige ich natürlich. Aber wenn ich über eine Sache lache,
die allen bekannt ist, über einen Vorfall, der zum Lachen reizt, wie zum
Beispiel die Überraschung eines Lügners, seine Verlegenheit, seine
Entschuldigungen, und wieder darüber lache, wie wir damals darüber gelacht
haben, sündige ich dann ebenfalls?»
«Es ist eine Unvollkommenheit in
der Liebe. Es ist keine Sünde wie die Verleumdung oder die üble Nachrede und
nicht einmal wie die Schmeichelei, aber es ist immerhin ein Mangel an Liebe.
Es ist wie ein Faden, der aus einem Gewebe gezogen wird. Es ist kein wahrer
Riß, und der Stoff ist auch nicht abgenützt, aber es ist immerhin etwas, das
die Unversehrtheit des Stoffes und seine Schönheit beeinträchtigt und lichte
Stellen und Löcher zur Folge haben kann. Meinst du nicht auch?»
Petrus fährt sich mit der Hand
über die Stirn... und sagt etwas beschämt:
227
«Ja, das glaube ich auch, habe
jedoch nie daran gedacht.»
«Denke jetzt daran und tue es
nicht mehr. Es gibt ein Gelächter, das beleidigender wirkt als Ohrfeigen. Hat
jemand gefehlt? Haben wir ihn bei einer Lüge oder sonst etwas ertappt? Nun,
warum sich daran erinnern? Warum die anderen daran erinnern? Wir wollen einen
Schleier über die Fehler des Bruders breiten und immer daran denken: "Wenn ich
der Schuldige wäre, hätte ich es gerne, wenn einer sich dessen erinnern und
andere daran erinnern würde?" Es gibt innerliches Erröten, Simon, das sehr
schmerzen kann. Schüttle nicht das Haupt! Ich weiß schon, was du sagen
willst... Aber auch die Schuldigen empfinden es, glaube es mir. Du mußt immer
von der Frage ausgehen: "Möchte ich, daß mir so geschieht?" Du wirst sehen,
daß du dann nie mehr gegen die Liebe sündigst. Du wirst immer großen Frieden
in dir haben. Schau, wie Margziam hüpft und glücklich singt. Das kommt daher,
daß er ein unbelastetes Herz hat. Er braucht sich nicht um Wege und Ausgaben
zu kümmern oder um das, was er zu sagen hat. Er weiß, daß andere sich um all
dies kümmern. Mache du es ebenso! Überlasse alles Gott. Auch das Urteil über
die Menschen. Wieso willst du dich mit der Last der Entscheidung und des
Urteils beladen, solang du wie ein Kind sein kannst, das vom lieben Gott
geführt wird? Es wird die Zeit kommen, da du Richter und Schiedsrichter sein
mußt: dann wirst du sagen: "Oh, wieviel leichter war es früher, und wieviel
ungefährlicher!" Du wirst dich einen Toren nennen, weil du dich, bevor es an
der Zeit war, mit so viel Verantwortung beladen hast. Urteilen! Welch eine
schwierige Sache! Hast du gehört, was Syntyche vor einigen Tagen gesagt hat?
"Nachforschungen mittels der Sinne sind immer unvollkommen." Das hat sie sehr
gut gesagt. Oft urteilen wir, weil ein Sinn uns dazu drängt. Also mit größter
Unvollkommenheit. Laß das Urteilen beiseite ...»
«Ja, Maria! Dir verspreche ich
es. Aber ich weiß nicht all die schönen Dinge, die Syntyche weiß!»
«Bedauerst du es? Weißt du nicht,
daß ich mich davon befreien möchte, um nur das zu wissen, was du weißt?»
«Wirklich. Warum denn?»
«Weil man sich mit der
Wissenschaft auf Erden zurechtfinden kann, aber mit der Weisheit den Himmel
erwirbt. Ich besitze die Wissenschaft, du die Weisheit.»
«Aber mit deiner Wissenschaft
hast du es fertiggebracht, zu Jesus zu gelangen! Also ist sie etwas Gutes.»
«Sie ist mit so vielen Irrtümern
vermischt, daß ich mich ihrer entäußern möchte, um mich mit der Weisheit neu
zu kleiden. Weg mit den verzierten und eitlen Gewändern. Mein Gewand soll das
strenge, unauffällige Kleid der Weisheit sein, das nicht vergänglich, sondern
unsterblich ist. Das Licht der Wissenschaft zittert und flackert, jenes der
Weisheit strahlt gleichmäßig und beständig wie das Göttliche, dem es
entstammt.»
228
Jesus hat den Schritt
verlangsamt, um zuzuhören. Er wendet sich um und sagt zu der Griechin: «Du
brauchst nicht danach zu streben, dich von allem zu befreien, was du weißt,
sondern mußt aus deinem Wissen die Körner der ewigen Weisheit herausholen, die
von Geistern unleugbaren Wertes erworben wurden.»
«Dann haben also diese Köpfe in
sich den Mythos des den Göttern geraubten Feuers wiederholt?»
«Ja, Frau! Jedoch nicht geraubt.
Sie haben es verstanden, diese Körner zu sammeln, wenn die Gottheit sie mit
ihrem Feuer streifte und liebkoste; sie sind in der gefallenen Menschheit
zerstreute Beispiele für das, was der Mensch ist: ein mit Vernunft begabtes
Wesen.»
«Meister, du mußt mir sagen, was
ich behalten und was ich vergessen soll. Ich habe kein rechtes
Urteilsvermögen. Und dann fülle die leeren Stellen mit dem Licht deiner
Weisheit.»
«Das ist es, was ich zu tun
beabsichtige. Ich werde dir zeigen, bis zu welchem Punkt dein Gedanke weise
ist, und ihn dann fortsetzen von diesem Punkt an bis zum Ziel, der Wahrheit.
Es wird auch für die gut sein, die dazu bestimmt sind, in Zukunft mit vielen
Heiden in Berührung zu kommen.»
«Wir verstehen nichts davon,
Herr», seufzt Jakobus des Zebedäus.
«Wenig einstweilen. Doch eines
Tages werdet ihr verstehen, so wie auch die heutige Unterweisung und deren
Notwendigkeit. Du, Syntyche, zähle mir die für dich dunkelsten Punkte auf, und
während der Aufenthalte werde ich sie dir erklären.»
«Ja, mein Herr! Es ist der Wunsch
meiner Seele, der mit deinem Wunsch verschmilzt. Ich, die Jüngerin der
Wahrheit, und du, der Lehrmeister. Der Traum meines Lebens: der Besitz der
Wahrheit.»
329. DER KAUFMANN VON JENSEITS
DES EUPHRAT
Am Ende einer fruchtbaren Ebene,
die sich jenseits des Jordan erstreckt und in dieser milden und heiteren
Jahreszeit gegen Ende Oktober angenehm zu durchwandern ist, und nach einem
Aufenthalt in einem Dorf, das am Fuße der ersten Hügel einer beachtlichen
Gebirgskette liegt, hat Jesus sich wieder auf den Weg gemacht und sich einer
langen Karawane mit zahlreichen Saumtieren und wohlbewaffneten Männern
angeschlossen. Mit letzteren hat er gesprochen, während sie ihre Tiere an den
Wasserbecken des Marktplatzes tränkten.
Es sind meist große,
braungebrannte Männer, die schon ein asiatisches Aussehen haben. Auf einem
kräftigen Maultier sitzt der Führer der Karawane, bis an die Zähne bewaffnet
und zusätzlich mit Waffen, die vom
229
Sattel herunterhängen, versehen.
Doch er behandelt Jesus mit großer Hochachtung.
Die Apostel fragen Jesus: «Wer
ist das?»
«Ein reicher Kaufmann von
jenseits des Euphrat. Ich habe ihn gefragt, wohin er geht. Er war sehr
höflich. Er reist durch die Städte, die ich zu besuchen beabsichtige. Dies ist
Vorsehung auf diesen Bergen, da wir Frauen bei uns haben.»
«Fürchtest du irgend etwas?»
«Was Raub angeht, nicht, denn wir
besitzen nichts. Aber es würde genügen, für die Frauen zu fürchten. Eine
Handvoll Räuber überfällt niemals eine so starke Karawane, und sie kann uns
auch nützlich sein, um die besseren Gebirgspässe ausfindig zu machen und die
schwierigen zu überwinden. Er hat mich gefragt: "Bist du der Messias?" und
nachdem ich es ihm bestätigt hatte, hat er gesagt: "Ich war vor einigen Tagen
im Vorhof der Heiden und habe dich mehr gehört als gesehen, denn ich bin
klein. Gut, ich will dich beschützen, und du wirst mich beschützen. Ich habe
sehr wertvolle Waren."»
«Ist er ein Proselyt?»
«Ich glaube nicht. Aber
vielleicht stammt er noch von unserem Volk ab.»
Die Karawane bewegt sich langsam
voran, als wolle sie die Kräfte der Tiere nicht erschöpfen, weil sie einen
langen Marsch durchhalten müssen. Daher ist es leicht, ihnen zu folgen. Ja,
oft ist es sogar nötig, Halt zu machen, da die Treiber die beladenen Tiere an
schwierigen Stellen einzeln passieren lassen und sie am Zaum führen.
Obwohl es sich um ein wirkliches
Gebirge handelt, ist die Gegend doch sehr fruchtbar und gut bebaut. Vielleicht
schützen die immer höher werdenden Berge im Nordosten vor den kalten
Nordwinden und den schädlichen Ostwinden, was die Kulturen begünstigt. Die
Karawane folgt dem Lauf eines Gießbaches, der sicher in den Jordan mündet. Er
ist reich an Wasser, das von wer weiß welchen Gipfeln stammt. Die Aussicht ist
schön und wird immer schöner, je höher man kommt. Im Westen sieht man die
Jordanebene und jenseits davon undeutlich die Hügel und Berge des nördlichen
Judäa, während sich im Osten und Süden die Aussicht ständig ändert; zuweilen
schweift der Blick in die Ferne, zuweilen bieten sich ihm grüne Hügel oder
felsige Berge dar, die die Sicht behindern wie die unvorhergesehenen Mauern
eines Labyrinthes.
Die Sonne geht hinter den Bergen
von Judäa unter und rötet lebhaft den Himmel und die Berge, als der reiche
Kaufmann, der sein Maultier angehalten hat, um die Karawane vorüberziehen zu
lassen, zu Jesus sagt: «Wir müssen den Ort vor Einbruch der Nacht erreichen.
Doch viele, die bei dir sind, scheinen müde zu sein. Die heutige Wegstrecke
ist anstrengend. Laß sie auf die Begleitesel steigen, es sind ruhige Tiere.
Sie werden
230
sich die ganze Nacht ausruhen
können, und es wird für sie keine Mühe sein, eine Frau zu tragen.»
Jesus stimmt zu, und der Mann
gebietet der Karawane Halt, um die Frauen auf die Tiere aufsteigen zu lassen.
Jesus läßt auch Johannes von Endor ein Pferd besteigen. Die, die zu Fuß
weitergehen, Jesus eingeschlossen, nehmen die Zügel, um den Ritt der Frauen zu
sichern. Margziam will auch... den Mann spielen, und obwohl er vor Müdigkeit
beinahe umfällt, will er absolut zu niemandem in den Sattel steigen, sondern
nimmt den Zügel des Maulesels der jungfräulichen Mutter, die sich somit
zwischen Jesus und dem Kind befindet, und marschiert tapfer voran.
Der Kaufmann ist in Jesus Nähe
geblieben und sagt zu Maria: «Frau, siehst du das Dorf? Es ist Ramot. Dort
machen wir Halt. Ich bin in der Herberge bekannt, denn ich mache zweimal im
Jahre diese Reise, während ich die anderen beiden Male entlang der Küste
reise, um zu verkaufen oder zu kaufen. Mein Leben ist hart. Aber ich habe
zwölf Söhne; und sie sind noch klein. Ich habe spät geheiratet. Einen habe ich
zurückgelassen, als er gerade neun Tage alt war, und bald werde ich ihn mit
den ersten Zähnchen wiedersehen.»
«Eine schöne Familie», stimmt
Maria zu und sagt: «Der Himmel möge sie dir erhalten!»
«Ich kann mich über seine Hilfe
nicht beklagen, obwohl ich ihrer nicht würdig bin.»
Jesus fragt: «Bist du wenigstens
ein Proselyt?»
«Ich müßte es sein... Meine
Vorfahren waren echte Israeliten. Doch dann haben wir die Gebräuche unseres
Wohnortes angenommen...»
«Die Seele gewöhnt sich nur an
das Leben in einer Atmosphäre: in der des Himmels.»
«Du hast recht. Aber weißt du...
Der Urahn heiratete keine Israelitin, und die Kinder wurden im Glauben
nachlässig... Die Söhne der Söhne heirateten ebenso nicht aus Israel stammende
Frauen, gaben ihren Kindern jedoch immer jüdische Namen, denn wir waren
ursprünglich Juden. Jetzt bin ich, der Enkel der Enkel... nichts mehr. Im
Kontakt mit allen habe ich von jedem etwas angenommen, so daß ich nun selbst
nichts bin.»
«Das ist kein guter Grund, und
ich werde es dir beweisen. Wenn du auf diesem Weg, den du gut kennst, fünf
oder sechs Personen begegnen würdest, die zu dir sagen: "Aber nein, geh in
diese Richtung." "Kehre zurück." "Bleib stehen." "Geh nach Osten." "Wende dich
nach Westen." Was würdest du antworten?»
«Ich würde sagen: "Ich weiß, daß
dies der kürzeste und richtige Weg ist; ich will ihn nicht verlassen."»
«Ferner: du hast zum Beispiel ein
Geschäft zu erledigen und weißt, wie du es am besten tun kannst. Würdest du
auf die hören, die dich aus Übermut oder berechnender Arglist anders beraten
wollen?»
231
«Nein, ich würde das befolgen,
von dem ich aus Erfahrung weiß, daß es besser ist.»
«Sehr gut! Jahrtausende des
Glaubens liegen hinter dir, der du von Israel abstammst. Du bist nicht dumm
und auch nicht ungebildet. Weshalb läßt du dich, was den Glauben betrifft,
durch alle beeinflussen, während du dich, was Geldwährung oder Sicherheit der
Straßen anbelangt, nicht beirren läßt? Meinst du nicht, daß es dich, auch
menschlich gesprochen, entehrt, Gott dem Geld und dem Weg hintanzustellen ...
?»
«Ich stelle Gott nicht an die
letzte Stelle. Aber ich habe ihn aus den Augen verloren...»
«Weil Handel, Geld und Leben
deine Götter sind. Aber es ist immer noch Gott, der dir den Besitz dieser
Dinge gewährt... Warum bist du in den Tempel hineingegangen?»
«Aus Neugierde. Ich bin aus einem
Haus gekommen, in dem ich zu tun hatte, und habe auf der Straße eine Gruppe
von Männern gesehen, die dich verehrten, und da habe ich mich an das Gespräch
mit einer Teppichweberin in Askalon erinnert. Ich habe mich erkundigt, wer du
bist, denn ich habe vermutet, daß du es sein könntest, von dem die Frau
gesprochen hatte. Als mir dies bestätigt wurde, bin ich dir nachgegangen. Ich
hatte an jenem Tag gerade alle meine Geschäfte erledigt... Dann habe ich dich
aus den Augen verloren. In Jericho habe ich dich wiedergesehen, doch nur einen
Augenblick. Jetzt habe ich dich wiedergefunden...»
«Du siehst also, wie Gott unsere
Wege zusammenführt. Ich habe nichts, was ich dir für dein Entgegenkommen
schenken könnte. Doch bevor wir auseinandergehen, hoffe ich, dir ein Geschenk
geben zu können, vorausgesetzt, daß du mich nicht vorher verläßt.»
«Nein, das werde ich nicht tun!
Alexander Misaze zieht sich nicht zurück, wenn er sich angeboten hat! Hier,
hinter dieser Biegung, beginnt das Dorf. Ich reite voraus. Wir werden uns in
der Herberge wiedersehen»; und er eilt beinahe im Galopp am Wegrand davon.
«Er ist ein ehrlicher und
unglücklicher Mensch, mein Sohn», sagt Maria.
«Du möchtest ihn glücklich in der
Weisheit machen, nicht wahr?» Sie lächeln sich im ersten Schatten des Abends
sanft zu.
... Während des langen
Oktoberabends sind alle Pilger im großen Saal der Herberge versammelt. Sie
sind bereit, sich zur Ruhe zu begeben. In einer Ecke, ganz allein, sitzt der
Kaufmann über seinen Abrechnungen. In der gegenüberliegenden Ecke befindet
sich Jesus mit den Seinen. Andere Gäste sind nicht da. Aus den Ställen dringt
Eselsgeschrei, Gewieher und Gebell, was darauf schließen läßt, daß in der
Herberge auch noch andere Leute zugegen sind. Vielleicht sind sie schon
schlafen gegangen.
Margziam ist in den Armen der
Mutter Jesu eingeschlafen und hat auf einmal vergessen, daß er "ein Mann" ist.
Petrus macht ein Nickerchen,
232
und er ist nicht der einzige, der
dies tut. Auch die flüsternden älteren Frauen sind schläfrig und wortkarg.
Ganz wach sind nur Jesus, Maria, die Schwestern des Lazarus, Syntyche, Simon
der Zelote, Johannes und Judas.
Syntyche kramt in der Tasche des
Johannes von Endor, als ob sie etwas suche. Dann aber zieht sie es vor, zu den
anderen zu gehen, um Judas des Alphäus zuzuhören, der über die Folgen des
Exils in Babylon spricht und mit den Worten schließt: «... vielleicht ist
dieser Mann noch ein Resultat des Exils. Jedes Exil ist ein Ruin...»
Syntyche macht eine
unwillkürliche Kopfbewegung, sagt aber nichts; und Judas des Alphäus schließt:
«Es ist jedoch sehr eigenartig, daß man sich so leicht einer Sache entäußern
kann, die ein Schatz vieler Jahrhunderte ist, und ganz anders wird, besonders
in religiösen Dingen und bei einer Religion wie der unseren ...»
Jesus antwortet: «Du brauchst
dich nicht darüber zu wundern, wenn du im Schoß Israels Samaria betrachtest.»
Schweigen... Die dunklen Augen
Syntyches blicken unverwandt auf das ruhige Profil Jesu. Sie schaut ihn fest
an, sagt aber nichts. Jesus spürt den Blick und wendet sich, um sie anzusehen.
«Hast du nichts nach deinem
Geschmack gefunden?»
«Nein, Herr! Ich bin an jenem
Punkt angelangt, wo ich die Vergangenheit nicht mehr mit der Gegenwart, die
früheren Ideen nicht mehr mit den jetzigen vereinbaren kann. Es kommt mir fast
wie Fahnenflucht vor, denn die früheren Ideen haben mir wirklich geholfen, zu
den jetzigen zu gelangen. Dein Apostel hat es gut gesagt... Doch mein "Ruin"
ist ein glücklicher.»
«Was ist bei dir ruiniert
worden?»
«Der ganze Glaube an den
heidnischen Olymp, Herr, und doch bin ich etwas verwirrt, denn beim Lesen
eurer Schriften – Johannes hat sie mir gegeben, und ich lese sie, denn ohne
Kenntnis gibt es keinen Besitz -habe ich gefunden, daß es auch in eurer
Geschichte... in den Anfängen, möchte ich sagen, Tatsachen gibt, die sich von
den unseren nicht sehr unterscheiden. Nun möchte ich wissen...»
«Ich habe dir gesagt: Frage, und
ich werde dir antworten.»
«Ist denn alles Irrtum in der
Religion der Götter?»
«Ja, Frau! Es gibt nur einen
Gott, der nicht von jemand gemacht wurde und nicht dem unterworfen ist, was
wir Leidenschaften und menschliche Bedürfnisse nennen: einen einzigen, ewigen,
vollkommenen Gott, den Schöpfer.»
«Ich glaube es. Aber ich möchte
antworten können, nicht mit einer Formel, die keinen Widerspruch duldet,
sondern mit einer, die diskutiert werden kann, um zu überzeugen bei den
Fragen, die andere Heiden mir vielleicht stellen. Ich habe mir selbst, und
kraft dieses gütigen und väterlichen Gottes, zwar ungenaue, jedoch
hinreichende Antworten geben
233
können, um meinen Geist
zufriedenzustellen. Aber in mir war der Wille, zur Wahrheit zu gelangen.
Andere werden vielleicht weniger als ich danach streben, obwohl alle dieses
Verlangen haben müßten. Ich denke nicht daran, den Seelen gegenüber tatenlos
zu bleiben. Was ich empfangen habe, möchte ich weitergeben, um jedoch geben zu
können, muß ich wissen. Gib mir das Wissen, und ich will dir dienen im Namen
der Liebe. Heute, unterwegs, als ich das Gebirge betrachtete, riefen mir
manche Ausblicke auf die Gebirgsketten Griechenlands und die Geschichte des
Vaterlandes lebhaft ins Gedächtnis, und durch Gedankenassoziation fielen mir
die Mythen des Prometheus und des Deukalion ein... Auch ihr habt etwas
ähnliches in der Verdammung Luzifers, im Einhauchen des Lebens in den Lehm und
in der Sintflut Noes. Leichte Übereinstimmungen, die jedoch eine Erinnerung
sind... Nun sage mir: wie könnten wir davon wissen, wenn zwischen uns und euch
keine Verbindung bestünde? Ihr habt diese Wahrheiten sicher vor uns besessen.
Doch wie sind sie zu uns gekommen? Wir sind in vielen Dingen sehr unwissend.
Wie konnten wir vor Tausenden von Jahren Sagen haben, die an eure Wahrheiten
erinnern?»
«Frau, du solltest dies weniger
mich als andere fragen. Denn du hast Werke gelesen, die allein schon auf dein
Warum antworten können. Du bist heute durch eine Gedankenverbindung, durch die
Erinnerung an deine heimatlichen Berge, auch an die heimatlichen Mythen
erinnert worden, nicht wahr? Warum das?»
«Weil meine wiedererwachte
Gedankenwelt mich daran erinnerte.»
«Sehr gut! Auch die Seelen der
Urahnen, die deiner Heimat eine Religion gegeben haben, erinnerten sich
unklar, wie es einem Unvollkommenen ergeht, einem von der geoffenbarten
Religion Getrennten. Doch haben sie sich immer an etwas erinnert. In der Welt
gibt es viele Religionen. Nun, wenn wir hier in einem klaren Bild alle ihre
Einzelheiten vor uns hätten, würden wir sehen, daß sich durch all den Schlamm
ein goldener Faden zieht, ein Faden, der viele Knoten hat, in denen Körnchen
echter Wahrheit enthalten sind.»
«Aber kommen wir nicht alle vom
gleichen Stamm? Du sagst es. Wie kommt es, daß die Ahnen der Ahnen unseres
Stammbaumes es nicht verstanden haben, die Wahrheit weiterzugeben? Ist es
nicht eine Ungerechtigkeit, daß sie dieser beraubt worden sind?»
«Du hast die Genesis gelesen,
nicht wahr? Was hast du gefunden? Eine mehrfache Sünde an ihrem Anfang, eine
Sünde, die alle drei Bereiche des Menschen umfaßt: Materie, Gedanken und
Geist. Dann ein Brudermord. Dann ein Doppelmord als Gegengewicht zum Werk
Enochs, das Licht in den Herzen zu bewahren. Dann die Verdorbenheit, die aus
der Sinnenlust der Kinder Gottes mit den Kindern der Welt entstand. Trotz der
Reinigung durch die Sintflut und der Wiederherstellung der Rasse aus gutem
Samen konnte sie nicht fortbestehen, weder durch Steinblöcke, wie es eure
234
Mythen berichten, noch durch den
Raub des lebenswichtigen Feuers durch die Menschen, sondern nur durch das
Einflößen des Lebensfeuers durch Gott, wie damals, als Gott das erstemal den
nach seinem Abbild und zur Gestalt des Menschen modellierten Lehm beseelt hat.
Aber von neuem zeigte sich das Ferment des Hochmuts, die Beleidigung Gottes:
"Wir wollen den Himmel berühren!" Es folgte darauf der Fluch Gottes: "Ihr
sollt zerstreut werden und euch nicht mehr verstehen!" Wie das Wasser, welches
gegen einen Stein stößt, sich in Rinnsale teilt und sich nicht mehr vereinigt,
so teilte sich das ursprüngliche Geschlecht in verschiedene Rassen auf. Durch
die Sünde und die Strafe Gottes in die Flucht getrieben, hat sich die
Menschheit zerstreut und nicht mehr vereinigt; sie trug die Verwirrung in
sich, die der Hochmut geschaffen hatte. Aber die Seelen erinnern sich, etwas
bleibt allezeit in ihnen zurück. Die Tugendhaftesten und die Weisesten
erkennen immer noch einen schwachen Schein in der Dunkelheit der Mythen: das
Licht der Wahrheit. Die Erinnerung an das schon vor dem Leben gesehene Licht
ist es, das in ihnen Wahrheiten wachruft, in denen Teile der geoffenbarten
Wahrheit enthalten sind. Hast du mich verstanden?»
«Teilweise. Aber ich will darüber
nachdenken. Die Nacht ist die Freundin des Denkenden und der Sammlung.»
«Dann wollen wir hingehen und uns
sammeln, jeder für sich. Gehen wir, Freunde! Der Friede sei mit euch Frauen.
Der Friede mit euch, meine Jünger! Der Friede sei mit dir, Alexander Misaze!»
«Gott sei mit dir, Herr! Auf
Wiedersehen!» antwortet der Kaufmann mit einer Verbeugung...
330. VON RAMOT NACH GERASA
In dem etwas harten Licht eines
ziemlich windigen Morgens erscheint die Eigenheit dieser Ortschaft, die auf
einer felsigen Plattform von einem Kranz von Gipfeln umgeben ist, in ihrer
charakteristischen Schönheit. Sie gleicht einem Tablett aus Granit, auf dem
Häuser, Häuslein, Brücken und Brunnen zum Spielen für ein Riesenkind
zusammengewürfelt sind.
Die Häuser scheinen aus dem
Kalkfelsen herausgeschnitten zu sein, der das Grundmaterial dieser Gegend
bildet. Übereinandergelegte Blöcke, manche ohne Verputz, manche nicht einmal
recht behauen, bilden die Häuslein eines Krippendorfes, das ein großes
erfinderisches Kind gebaut hat.
Rings um dieses Dorf sieht man
die fruchtbare, baumreiche Landschaft, verschiedenartig in ihren Kulturen. Von
der Höhe aus gesehen erscheint sie wie ein Teppich mit Quadraten, Trapezen und
Dreiecken, die
235
einen erdbraun, frisch gepflügt,
andere smaragdgrün mit dem durch den herbstlichen Regen nachgewachsenen Gras,
andere rötlich durch die letzten Blätter der Reben oder Obstgärten, etwas
graugrün durch die Pappeln und Weiden, emailgrün durch Eichen und
Johannisbrotbäume oder braungrün durch Zypressen und Tannen. Sehr, sehr schön!
Es gibt Straßen, die wie Bänder
von einem Knotenpunkt, vom Dorf, zur fernen Ebene oder auch zu den höchsten
Bergen führen, sich in den Wäldern verbergen oder mit einem grauen Band das
Grün der Wiesen und das Braun der gepflügten Äcker durchschneiden.
Da ist auch ein lachender
Wasserlauf, der außerhalb des Ortes silbern bis zur Quelle führt, die im
zarten Blau entspringt und dann die Abhänge und Schluchten hinunterrinnt,
verschwindet und wieder erscheint, scherzend, immer stärker und immer blauer
werdend, bis ihr Wasser so mächtig geworden ist, daß es dem Schilf und den
Wasserpflanzen, die in der Zeit der Dürre wachsen, nicht mehr erlaubt, es grün
zu färben, sondern den Himmel widerspiegelt, nachdem die Stengel jetzt mit dem
Schleier des nun schon tiefen Wassers bedeckt sind.
Der Himmel ist von einem
unwirklichen Blau: eine kostbare Emailscheibe von reinstem Blau, ohne den
geringsten Makel auf ihrer bewundernswerten Fläche.
Die Karawane setzt sich wieder in
Bewegung mit den Frauen im Sattel, weil, wie der Kaufmann sagt, die Straße
außerhalb des Dorfes noch beschwerlich sein wird und man sich beeilen muß,
Gerasa vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Eingehüllt und eilig, weil
gut ausgeruht, gehen sie auf der Straße vorwärts, die durch herrliche Wälder
hinaufführt, am höchsten Gipfel eines einsamen Berges vorbei, der sich wie ein
enormer Block auf den Rücken der darunterliegenden Hügel erhebt. Ein wahrer
Riese, wie man sie an den höchsten Stellen unseres Apennin antreffen kann.
«Galaad», sagt der Kaufmann, der
bei Jesus geblieben ist, der immer noch die Zügel des Maultieres hält, das die
Jungfrau trägt. Er fügt hinzu: «Danach wird die Straße besser. Bist du nie
hier gewesen?»
«Nie! Ich wollte im Frühjahr
herkommen. Aber man hat mich in Galgala zurückgewiesen.»
«Dich abgewiesen? Welch ein
Irrtum!»
Jesus betrachtet ihn und
schweigt.
Der Kaufmann hat Margziam zu sich
in den Sattel genommen, denn das Kind hat sich abgemüht, mit seinen kurzen
Beinen mit den Pferden Schritt zu halten. Auch Petrus merkt, daß die Pferde
rasch traben. Er setzt alle seine Kräfte ein und versucht den anderen
nachzukommen, bleibt aber immer etwas hinter der Karawane zurück. Er schwitzt,
doch er ist zufrieden, denn er hört Margziam lachen, sieht die Mutter Maria
ausgeruht und den Herrn froh. Er spricht schnaufend mit Matthäus und seinem
236
Bruder Andreas, die wie er hinter
den anderen herlaufen, und erheitert sie mit den Worten: «Wenn ich außer den
Beinen auch Flügel hätte, wäre ich heute morgen glücklicher.» Er hat sich wie
die anderen aller Lasten entledigt und die Säcke an die Sättel der Frauen
gebunden; aber die Straße ist wirklich schrecklich und führt über Steine, die
schlüpfrig sind von Tau. Die beiden Jakobus mit Johannes und Thaddäus sind
tüchtiger und halten Schritt mit den Mauleseln der Frauen. Simon der Zelote
spricht mit Johannes von Endor. Timoneus und Ermastheus führen ebenfalls
Maultiere.
Endlich ist das Schlimmste
überwunden, und eine ganz neue Szenerie öffnet sich dem erstaunten Auge. Das
Jordantal ist endgültig verschwunden. Jetzt schweift das Auge im Osten über
eine Hochebene von riesigen Ausmaßen, auf der sich kaum angedeutete Hügel
erheben, um der Landschaft ihre Eintönigkeit zu nehmen. Ich hätte niemals
gedacht, daß es so etwas in Palästina gibt. Es scheint, daß die Berge sich
nach dem felsigen Unwetter versteinert und beruhigt haben in einer riesigen
Woge, die zwischen Erde und Himmel hängengeblieben ist, und zur Erinnerung an
seine ehemalige Wucht da und dort in den Einschnitten der Hügel den Schaum der
verfestigten Kämme zurückgelassen hat, während sich das Wasser der Flut in
eine glatte Oberfläche von wunderbarer Pracht ausgebreitet hat. Zu dieser
Landschaft leuchtenden Friedens gelangt man durch eine letzte Schlucht, wild
wie der Abgrund zwischen zwei Sturzwellen, in der noch ein schäumender
Sturzbach fließt, der sich von Osten kommend in einem stürmischen, wütenden
Lauf zwischen Felsen und Wasserfällen nach Westen ergießt, ganz im Gegensatz
zum fernen Frieden der ausgedehnten Ebene.
«Nun wird die Straße gut. Wenn du
erlaubst, werde ich einen Halt anordnen», sagt der Kaufmann.
«Ich lasse mich von dir führen,
Mann. Du bist des Weges kundig.»
Sie steigen alle ab und verteilen
sich auf dem Hang, suchen Holz, um die Mahlzeit zu kochen, und Wasser für die
müden Füße und die ausgetrockneten Kehlen. Die von den Lasten befreiten Tiere
weiden auf der fetten Wiese oder steigen zum klaren Wasser des Baches hinab.
Düfte von verbranntem Harz und gebratenem Fleisch verbreiten sich von den
kleinen Feuerstellen, die errichtet worden sind, um die Lämmer zu braten.
Die Apostel haben sich ein
Feuerchen angezündet, auf dem sie den gesalzenen Fisch wärmen, nachdem sie ihn
im kühlen Wasser des Baches gewaschen haben. Doch der Kaufmann sieht es und
kommt mit einem enthäuteten Lämmlein oder Böcklein daher und fordert sie auf,
es anzunehmen. Petrus schickt sich an, es zu braten, nachdem er es mit
frischen Kräutern gewürzt hat.
Die Mahlzeit ist schnell bereitet
und rasch verzehrt. Unter der hohen Mittagssonne wird der Marsch auf einer
besseren Straße wieder aufgenommen, die am Sturzbach entlang in Richtung
Nordost in ein Gebiet
237
wunderbarer Fruchtbarkeit führt.
Die Felder sind hier gut bebaut und reich an Schafherden und Schweinen, die
grunzend vor der Karawane davonrennen.
«Die ummauerte Stadt ist Gerasa,
Herr. Eine Stadt mit großer Zukunft. Sie wird jetzt gerade ausgebaut, und ich
glaube nicht zu irren, wenn ich sage, daß sie bald mit Jaffa und Askalon, mit
Tyrus und anderen Städten in bezug auf Schönheit, Handel und Reichtum
verglichen werden kann. Die Römer erkennen ihre Bedeutung auf dem Weg, der vom
Roten Meere, und daher von Ägypten, über Damaskus zum Pontischen Meere führt.
Sie helfen den Gerasenern beim Ausbau. Sie haben gute Augen und einen guten
Spürsinn. Zurzeit hat sie nur einen reichen Handel, aber bald... Oh, sie wird
schön und reich sein! Ein kleines Rom mit Tempeln und Teichen, Theatern und
Thermen. Ich hatte hier nur Handelsgeschäfte, aber jetzt habe ich schon
Grundstücke erworben, um auf ihnen Warenhäuser zu errichten und sie in Kürze
für teuren Preis wieder zu verkaufen. Vielleicht werde ich auch ein
herrschaftliches Haus erbauen lassen, um hier meine alten Tage zu verbringen,
wenn Balthasar, Nabor, Felix und Sidmia die Handelsplätze innehaben und
verwalten können, die ich in Sinope, Tyrus, Joppe und Alexandrien an der
Mündung des Nils besitze. Indessen wachsen die anderen drei Söhne heran, und
ich will ihnen die Warenhäuser von Gerasa, von Askalon und vielleicht auch die
von Jerusalern überlassen. Die Mädchen, reich und schön, werden umworben sein,
gute Ehen schließen und mir viele Enkel schenken...»
Der Kaufmann erträumt mit offenen
Augen die rosigste und goldigste Zukunft.
Jesus fragt ihn ruhig: «Und
dann?»
Der Kaufmann schüttelt sich,
schaut ihn erstaunt an und sagt schließlich: «Und dann? Dann ist es aus. Dann,
ach, dann kommt der Tod... Es ist traurig, aber es ist so.»
«Dann mußt du alle Tätigkeit,
allen Handel, alle Gefühle zurücklassen?»
«Herr, ich möchte es nicht! Aber
so wie ich geboren wurde, so werde ich auch sterben und alles zurücklassen
müssen», und er stößt einen Seufzer aus, der durch seine Stärke die ganze
Karawane vorantreibt...
«Aber wer sagt dir denn, daß man
beim Tod alles zurücklassen muß?»
«Wer? Aber das ist doch eine
Tatsache! Wenn man stirbt, ist man... nichts mehr. Hände, Augen, Ohren, alles
vergeht.»
«Aber du bist nicht nur Hände,
Augen und Ohren.»
«Ich bin ein Mensch. Ich weiß es.
Ich habe noch andere Dinge. Doch alles hört mit dem Tod auf. Es ist wie beim
Sonnenuntergang. Der Untergang löscht alles aus ...»
«Aber der Sonnenaufgang schafft
alles wieder neu, oder besser, läßt alles wieder erscheinen. Du bist ein
Mensch, du hast es gesagt. Du bist kein Tier wie das, das du reitest. Es ist
wirklich an seinem Ende, wenn es
238
stirbt, du aber nicht. Du hast
eine Seele. Weißt du es nicht? Nicht einmal dies weißt du mehr?»
Der Kaufmann fühlt den leisen
Vorwurf, der traurig und sanft zugleich ist, und neigt flüsternd das Haupt:
«Das weiß ich wohl noch...»
«Nun also? Weißt du nicht, daß
die Seele überlebt?»
«Ich weiß es.»
«Also? Weißt du nicht, daß sie
auch im anderen Leben noch eine Tätigkeit hat? Eine heilige, wenn sie heilig
ist, eine schlimme, wenn sie böse ist. Sie hat ihre Gefühle. Oh, und wie sie
diese hat! Gefühle der Liebe, wenn sie heilig ist, des Hasses, wenn sie
verdammt ist. Haß gegen wen? Gegen die Ursachen ihrer Verdammung. In deinem
Fall gegen die Geschäftigkeit, die Warenhäuser, die menschlichen Beziehungen.
Liebe zu was? Zu den gleichen Dingen. Wieviel Segen über die Kinder und über
die Tätigkeit der Kinder kann eine Seele vermitteln, die im Frieden des Herrn
ist!»
Der Mann wird nachdenklich.
Schließlich sagt er: «Es ist zu spät. Ich bin alt.» Er hält den Maulesel an.
Jesus lächelt und antwortet: «Ich
zwinge dich nicht. Ich rate dir nur.» Dann wendet er sich um zu den Aposteln,
die beim Halt vor dem Einzug in die Stadt den Frauen beim Absteigen helfen und
ihre Taschen tragen.
Die Karawane setzt sich wieder in
Bewegung und zieht rasch durch das bewachte Tor mit den beiden Türmen in die
lebhafte Stadt ein.
Der Kaufmann wendet sich zu Jesus
um: «Willst du noch bei mir bleiben?»
«Wenn du mich nicht fortschickst,
warum nicht?»
«Wegen dem, was ich dir gesagt
habe. Für dich, den Heiligen, muß ich ein Ekel sein.»
«O nein! Ich bin für die Menschen
gekommen, die so sind wie du. Ich liebe euch, denn ihr seid die Bedürftigsten.
Du kennst mich noch nicht. Aber ich bin die Liebe, die umhergeht, um Liebe zu
erbetteln.»
«Dann empfindest du also keinen
Haß gegen mich?»
«Ich liebe dich!»
Der Mann hat ein Glänzen in der
Tiefe seiner Augen und sagt mit einem Lächeln: «Dann bleiben wir beisammen.
Ich werde drei Tage in Gerasa bleiben, um meine Geschäfte zu erledigen. Ich
tausche die Maulesel gegen Kamele ein. Ich habe in den wichtigsten Orten Tiere
zum Wechseln für meine Karawanen und einen Diener, der nach den Tieren sieht,
die ich dort zurücklasse. Was wirst du tun?»
«Ich werde am Sabbat predigen.
Ich hätte dich verlassen, wenn du nicht angehalten hättest, denn der Sabbat
ist dem Herrn heilig.»
Der Mann runzelt die Stirne,
denkt nach und gibt dann zu, als ob es ihn Mühe kostete: «Ja... das ist wahr.
Er ist dem Gott Israels heilig. Er ist heilig! Er ist heilig!» Er betrachtet
Jesus... «Ich werde ihn dir weihen, wenn du erlaubst.»
239
«Gott, nicht seinem Diener!»
«Gott und dir, indem ich dich
anhöre. Ich werde heute meine Angelegenheiten erledigen, und morgen vormittag
werde ich dir zuhören. Kommst du jetzt mit zur Herberge?»
«Selbstverständlich. Ich habe die
Frauen bei mir und bin hier fremd.»
«Hier ist meine Herberge. Sie
gehört mir, denn hier habe ich jedes Jahr meine Stallungen. Aber es sind auch
große Räume für die Waren da. Wenn du meinst ...»
«Gott möge es dir vergelten. Laß
uns gehen!»
331. DIE PREDIGT IN GERASA
Er glaubte unbekannt zu sein!
Aber als er am folgenden Morgen den Fuß vor das Gebäude des Alexander setzt,
findet er schon Menschen vor, die auf ihn warten. Jesus ist mit seinen
Aposteln. Die Frauen und Jünger sind im Haus geblieben, um sich auszuruhen.
Das Volk grüßt und umringt ihn
und teilt ihm mit, daß es ihn schon kennt, und zwar durch die Worte eines von
den Dämonen Geheilten, der jetzt mit zwei Jüngern weggegangen ist, die vor
zwei Tagen hier vorbeigekommen sind. Jesus hört gütig alle diese Reden an und
geht dabei durch die Stadt, in der in vielen Vierteln der Lärm der Bauarbeiten
laut widerhallt. Maurer, Steinmetzen, Schmiede und Zimmerleute arbeiten,
richten auf, ebnen, füllen Vertiefungen auf, bearbeiten Steine für die Mauern,
schmieden das Eisen für diesen oder jenen Zweck, sägen dicke Stämme, schneiden
sie zu kräftigen Balken und hobeln.
Jesus geht vorüber und schaut zu.
Dann schreitet er über eine Brücke, die über einen durch die Ortschaft
plätschernden Bach führt, an dessen Seiten sich wie längs eines Flusses die
Häuser erheben. Er geht dann zum höheren Stadtteil hinauf, der nicht ganz
waagrecht ist, da die Südwestseite etwas höher liegt als die Nordostseite,
doch sie liegen beide höher als die Stadtmitte, die der kleine Wasserlauf
teilt. Von dort, wo Jesus stehengeblieben ist, hat man eine gute Aussicht. Die
Stadt in ihrer gesamten Ausdehnung ist hier zu sehen, und hinter ihr bilden im
Süden, im Osten und im Westen niedrige, grüne Hügel ein Hufeisen, während sich
im Norden dem Auge eine weite Ebene öffnet, die am Horizont eine leichte
Erhebung aufweist. Diese liegt vergoldet in der Morgensonne, die das gelbliche
Laubwerk der Weinstöcke prächtig aufleuchten läßt, als wolle sie die
Melancholie der sterbenden Blätter mit der Pracht eines goldenen
Pinselstriches vermindern.
Jesus beobachtet, und die Leute
von Gerasa schauen ihn an. Jesus gewinnt sie, als er sagt: «Diese Stadt ist
sehr schön. Laßt sie auch in der
240
Gerechtigkeit und Heiligkeit
schön werden. Die Hügel, den Bach, die grüne Ebene hat Gott euch geschenkt.
Rom hilft euch jetzt, Häuser und schöne Bauwerke zu errichten. Aber an euch
allein liegt es, ihr den Namen einer heiligen und gerechten Stadt zu geben.
Die Stadt ist, was die Bürger aus ihr machen. Denn die Stadt ist ein in einen
Mauerring eingeschlossener Teil der Gesellschaft. Aber was die Stadt ausmacht,
das sind die Bürger. Die Stadt an sich ist nicht sündig. Der Bach, die Brücke,
die Häuser, die Türme können nicht sündigen. Sie sind Materie, nicht Seele.
Jene, die innerhalb der Stadtmauer leben, in den Häusern, in den Werkstätten,
die über die Brücke gehen und sich im Fluß baden, sie können sündigen. Man
sagt von einer aufwieglerischen und grausamen Stadt: "Es ist eine böse Stadt!"
Doch es ist schlecht ausgedrückt. Nicht die Stadt, sondern ihre Bürger sind
böse.
Die einzelnen Menschen, die durch
ihren Zusammenschluß ein Vielfaches werden und zugleich ein Einziges sind:
eine Stadt. Nun hört! Wenn in einer Stadt zehntausend Einwohner gut und nur
tausend nicht gut sind, kann man dann sagen, daß diese Stadt böse ist? Das
könnte man nicht behaupten. Wenn in einer Stadt von zehntausend Bewohnern
viele Parteien bestehen und jede auf ihr eigenes Wohl bedacht ist, kann man
dann noch sagen, daß diese Stadt einig ist? Das kann man nicht. Glaubt ihr
also, daß diese Stadt gut gedeihen wird? Sie wird es nicht.
Ihr von Gerasa seid euch nun alle
einig in der Absicht, aus eurer Stadt etwas Großes zu machen. Es wird euch
gelingen, weil ihr alle dasselbe wollt und einer mit dem anderen wetteifert,
dieses Ziel zu erreichen. Wenn sich aber morgen unter euch Parteien bilden
würden, und die eine sagte: "Nein, es ist besser, sich nach Westen
auszubreiten", und eine andere: "Auf keinen Fall, wir werden uns nach Norden
ausdehnen, der Ebene zu", und eine dritte: "Weder das eine noch das andere.
Alle zusammen im Zentrum, beim Fluß, wollen wir wohnen", was würde dann
geschehen? Es würde geschehen, daß die begonnenen Arbeiten eingestellt und das
geliehene Kapital zurückverlangt würden; wer die Absicht gehabt hätte, sich
hier niederzulassen, würde in eine andere Stadt ziehen, wo sich die Bürger
einig sind. Was schon gebaut ist, würde verfallen, denn es wäre den Unwettern
ausgesetzt, ohne daß es wegen der Streitigkeiten der Bürger vollendet wäre.
Ist es so oder nicht? Ihr sagt,
daß es so ist, und ihr habt recht. Es muß also Einigkeit unter den Bürgern
herrschen zum Wohl der Stadt und auch zum Wohl der Bürger, denn das Wohl der
Gesellschaft ist das Wohlergehen aller, die sie bilden.
Aber es gibt nicht nur die
Gesellschaft, wie ihr sie euch vorstellt, die Gesellschaft der Bürger und der
Landsleute, oder die kleine und wertvolle Gesellschaft der Familie. Es gibt
eine viel weitere, unendlichere Gemeinschaft: die der Seelen. Wir alle, die
wir leben, haben eine Seele. Die Seele
241
stirbt nicht mit dem Körper,
sondern überlebt ihn in Ewigkeit. Die Absicht des göttlichen Schöpfers, der
dem Menschen die Seele gegeben hat, war es, die Seelen der Menschen an einem
einzigen Ort zu vereinigen: im Himmel, durch die Schaffung des Himmelreiches,
in dem Gott der Herrscher ist und die Menschen nach einem heiligen Leben und
einem friedlichen Entschlafen die seligen Untergebenen sein sollten. Satan
kam, um zu trennen, zu verwirren, zu zerstören und Gott und die Seelen zu
betrüben. Er legte die Sünde in die Herzen und brachte mit ihr am Ende des
Lebens dem Körper den Tod, in der Hoffnung, so auch die Seele zu gewinnen. Ihr
Tod ist die Verdammung. Auch das ist eine Art von Existenz, doch entbehrt man
in ihr das wahre Leben und den ewigen Jubel, die beseligende Anschauung Gottes
und seinen ewigen Besitz im ewigen Licht. Die Menschheit teilte sich in ihrem
Wollen wie eine in sich widersprechende Parteien aufgeteilte Stadt, und so
ging sie ins Verderben.
Ich habe es bereits anderswo
gesagt, wo man mich anklagte, die Dämonen mit Beelzebub auszutreiben: "Jedes
Reich, das in sich selbst geteilt ist, wird zugrundegehen." Tatsächlich würde
Satan, wenn er sich selbst austriebe, sich selbst und sein Reich der
Finsternis zerstören. Wegen der Liebe Gottes zu der von ihm erschaffenen
Menschheit, bin ich gekommen, um daran zu erinnern, daß nur ein Reich heilig
ist: das Himmelreich! Ich bin gekommen, um euch zu predigen, auf daß ihm die
Besten zuströmen. Oh, ich wünschte, daß alle, auch die Schlimmsten, kämen,
sich bekehrten und sich vom Dämon befreien ließen, der sie sichtbar in der
seelischen Besessenheit, die sich auch körperlich bemerkbar macht, und
verborgen in der geistigen Besessenheit als Sklaven hält. Deswegen gehe ich,
die Kranken zu heilen und die Dämonen aus den besessenen Körpern zu
vertreiben, die Sünder zu bekehren, ihnen im Namen des Herrn zu vergeben, sie
über das Reich zu belehren und Wunder zu wirken, um euch von meiner Macht zu
überzeugen und zu beweisen, daß Gott mit mir ist. Denn man kann keine Wunder
wirken, wenn man Gott nicht zum Freund hat. Wenn ich daher mit dem Finger
Gottes die Teufel vertreibe und die Kranken heile, die Aussätzigen reinige,
die Sünder bekehre, das Reich ankündige, über das Reich belehre und im Namen
Gottes zu ihm rufe, wenn das Wohlgefallen Gottes klar und unleugbar mit mir
ist, dann können nur die gesetzlosen Feinde das Gegenteil behaupten, und es
ist das Zeichen dafür, daß das Reich Gottes zu euch gekommen ist und errichtet
werden muß, denn jetzt ist die Stunde seiner Gründung.
Wie wird das Reich Gottes in der
Welt und in den Herzen errichtet? Durch die Rückkehr zum mosaischen Gesetz und
die genaue Kenntnis desselben, wenn es noch unbekannt ist, und vor allem durch
die unbedingte Anwendung des Gesetzes als solches bei jedem Ereignis und in
jedem Augenblick des Lebens.
Welches ist dieses Gesetz? Ist es
so streng, daß es nicht durchführbar
242
ist? Nein! Es ist eine Reihe von
zehn heiligen und leicht zu beachtenden Geboten, die der moralisch gute
Mensch, der wahrhaft gute Mensch, sich selbst auferlegen würde, selbst wenn er
im wirren Dickicht der unzugänglichsten Wälder des geheimnisvollen Afrika
begraben wäre.
Es lautet:
"Ich bin der Herr dein Gott, und
es gibt keinen anderen Gott außer mir.
Du sollst den Namen Gottes nicht
vergeblich nennen.
Du sollst den Sabbat heiligen
nach dem Gebot Gottes und dem Bedürfnis der Kreatur.
Ehre Vater und Mutter, wenn du
lange leben willst und es dir gut gehen soll auf Erden und im Himmel.
1)u sollst nicht töten.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst nicht Ehebruch begehen.
Du sollst kein falsches Zeugnis
ablegen gegen deinen Nächsten.
Du sollst die Frau deines
Nächsten nicht begehren.
Du sollst nicht begehren deines
Nächsten Gut."
Wo ist der Mensch mit gutem
Herzen, auch wenn er ein Wilder ist, der nicht sagen müßte, wenn er seinen
Blick auf das richtet, was ihn umgibt: "Dies alles kann nicht von selbst
entstanden sein. Es muß daher Einer sein, der mächtiger ist als die Natur und
selbst der Mensch, Einer der dies alles gemacht hat." Er betet diesen
Mächtigen an, ob er nun seinen heiligsten Namen kennt oder nicht, denn er
fühlt, daß es Ihn gibt. Er hat eine so große Ehrfurcht vor ihm, daß er schon
beim Nennen des Namens, den er ihm gegeben hat oder der ihm genannt wurde,
erzittert und gewahr wird, daß er betet, selbst wenn er nur seinen Namen mit
Ehrfurcht ausspricht. Es ist tatsächlich schon Gebet, den Namen Gottes in der
Absicht anzurufen, ihn anzubeten oder ihn dem Volk, das ihn nicht kennt,
bekanntzumachen.
So erkennt jeder Mensch allein
aus sittlicher Umsicht es als seine Pflicht, seinen Gliedern Ruhe zu gewähren,
um sie für das ganze Leben zu erhalten. Um so mehr muß der Mensch, der den
Gott Israels, den Schöpfer und Herrn des Weltalls, kennt, diese körperliche
Ruhe dem Herrn weihen, wenn er nicht dem Pferd gleich sein will, das müde auf
seinem Lager liegt und Korn zwischen seinen kräftigen Zähnen kaut.
Auch das Blut ruft nach Liebe für
jene, die es gegeben haben; wir sehen es am Eselsfüllen, das jetzt schreiend
dem Muttertier, das vom Markt kommt, entgegeneilt. Das Junge hat in der Herde
gespielt, es hat die Mutter gesehen und sich erinnert, von ihr Milch erhalten
zu haben und von ihr liebevoll abgeleckt, verteidigt und erwärmt worden zu
sein. Seht ihr? Mit den weichen Nüstern reibt es den Hals des Muttertieres, es
galoppiert vor Freude auf und ab und drückt den jungen Rücken gegen die
Flanken, die es getragen haben. Die Eltern zu lieben ist eine Pflicht und eine
Freude.
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Kein Tier liebt das Tier nicht,
das es geboren hat. Sollte denn der Mensch noch weniger sein als der Wurm im
Schlamm des Erdreichs?
Der sittlich gute Mensch tötet
nicht. Gewaltanwendung widerstrebt ihm. Er spürt, daß es nicht erlaubt ist,
irgend jemandem das Leben zu nehmen, denn nur Gott, der es gegeben hat, hat
das Recht, es zu nehmen. Der Mensch schreckt vor dem Mord zurück.
Ebenso bemächtigt sich der
sittlich gesunde Mensch nicht der Dinge eines anderen. Er zieht das mit reinem
Gewissen an einer klaren Quelle genossene Brot dem saftigen Braten, der Frucht
eines Diebstahls, vor. Er zieht es vor, auf dem Boden zu schlafen, den Kopf
auf einem Stein als Kissen, die Sterne, die Frieden und Trost auf das ehrliche
Gewissen träufeln, über sich, als unruhig auf einem gestohlenen Lager zu
schlummern.
Wenn er moralisch gesund ist,
verlangt er nicht nach Frauen, die nicht die seinen sind, und legt sich nicht
in niedriger und ehrloser Weise in das Ehebett eines anderen, sondern sieht in
der Frau seines Freundes eine Schwester und hat für sie keine Blicke und kein
Verlangen, die sich einer Schwester gegenüber nicht geziemen.
Ein rechtschaffener Mensch,
selbst wenn er nur von Natur aus gut ist, ohne andere Kenntnis des Guten als
die seines guten Gewissens, erlaubt sich nicht, etwas zu bezeugen, was nicht
wahr ist, denn solch ein Handeln scheint ihm einem Mord oder Diebstahl
gleichzukommen, und so ist es auch. Er hat vielmehr ehrenhafte Lippen wie auch
ein ehrenhaftes Herz, darum hat er auch ehrbare Blicke, die nicht die Frau
eines anderen begehren. Er sehnt sich nicht einmal danach, denn er fühlt, daß
das Verlangen der erste Antrieb zur Sünde ist; und er ist auch nicht neidisch,
weil er gut ist. Der Gute ist nie neidisch. Er ist zufrieden mit seinem Los.
Glaubt ihr, daß dieses Gesetz so
viel von euch verlangt, daß es nicht zu halten ist? Tut euch selbst nicht
Unrecht! Ich bin überzeugt, ihr tut es nicht. Wenn ihr es nicht tut, errichtet
ihr das Reich Gottes in euch und in eurer Stadt. Denn in ihm werdet ihr euch
eines Tages wiederfinden, glücklich vereint mit allen, die ihr geliebt habt
und die, wie ihr, das ewige Reich in der unendlichen Freude des Himmels
erworben haben.
Aber in unserem Innersten wohnen
die Leidenschaften wie Bürger innerhalb der Stadtmauer. Es ist daher
erforderlich, daß alle Kräfte des Menschen dasselbe erstreben, nämlich die
Heiligkeit. Sonst strebt ein Teil vergeblich nach dem Himmel, während ein
anderer Teil die Tore unbewacht und den Verführer, den Verräter, eindringen
läßt oder durch unnützes Gerede und Trägheit das Wirken eines Teiles der im
Geist lebenden Bürger zunichte macht und so die innerliche Stadt zugrunde
gehen läßt und sie der Herrschaft der Disteln, der Giftpflanzen, des Unkrauts,
der Schlangen, der Skorpione, der Mäuse, der Schakale und Eulen, das heißt,
den bösen Leidenschaften und den Engeln Satans, überläßt. Man muß ohne
Unterlaß wachen wie Wachtposten auf den
244
Mauern, um zu verhindern, daß der
Böse dort eintrete, wo wir das Reich Gottes errichten wollen.
. Wahrlich ich sage euch: solange
der Starke bewaffnet den Eingang eines Hauses bewacht, kann er alles dessen
sicher sein, was sich darin befindet. Wenn aber ein Stärkerer kommt oder wenn
er das Tor unbewacht läßt, wird ihn der Stärkere besiegen und entwaffnen, und
er, nunmehr der Waffen beraubt, in die er sein Vertrauen setzte, wird sich
demütigen lassen und ergeben müssen, während der Starke ihn gefangennimmt und
die Beute des Besiegten an sich reißt. Wenn der Mensch aber in Gott lebt, in
der Treue zum Gesetz und in heiligmäßig geübter Gerechtigkeit, ist Gott mit
ihm, ich bin mit ihm, und nichts Böses kann ihm widerfahren. Die Vereinigung
mit Gott ist die Waffe, die kein Starker besiegen kann. Die Verbindung mit mir
ist die Sicherheit des Sieges und der Erringung der ewigen Tugenden, für die
auf ewig ein Platz im Reich Gottes gegeben wird. Aber wer sich von mir loslöst
oder mich zu seinem Feind macht, wirft damit die Waffen und die Sicherheit
meines Wortes weg. Wer das Wort zurückweist, weist Gott zurück. Wer Gott
zurückweist, ruft Satan herbei. Wer Satan anruft, zerstört, was er für die
Eroberung des Reiches besitzt.
Wer daher nicht mit mir ist, ist
gegen mich, und wer nicht pflegt, was ich gesät habe, wird ernten, was der
Feind gesät hat. Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut, und arm und nackt
wird er vor den höchsten Richter kommen, der ihn zu seinem Herrn schickt, an
den er sich verkauft hat, da er Beelzebub dem Gesalbten vorzog.
Bürger von Gerasa! Errichtet in
euch und in eurer Stadt das Reich Gottes.»
Eine trillernde Frauenstimme
erhebt sich wie der Gesang einer Lerche über dem Gemurmel der bewundernden
Menge und besingt die neue Glückseligkeit, das heißt, die Herrlichkeit Marias:
«Selig der Schoß, der dich getragen hat, und die Brust, die dich genährt hat.»
Jesus wendet sich der Frau zu,
die in Bewunderung des Sohnes seine Mutter preist. Er lächelt, denn süß ist
für ihn der Lobpreis seiner Mutter. Aber dann sagt er: «Noch viel seliger
jene, die das Wort Gottes hören und es befolgen. Tue du es, o Frau!»
Dann segnet er und begibt sich
ins Freie, gefolgt von seinen Aposteln, die ihn fragen: «Warum hast du das
gesagt?»
«Wahrlich, ich sage euch, daß im
Himmel nicht mit dem gleichen Maß gemessen wird wie auf Erden. Meine Mutter
selbst wird nicht so sehr wegen ihrer unbefleckten Seele selig sein, sondern
weil sie auf das Wort Gottes gehört und es gehorsam in Tat umgesetzt hat. Das
"Es sei die Seele Marias ohne Sünde" ist ein Wunder des Schöpfers. Ihm gebührt
daher das Lob. Aber das "Mir geschehe nach deinem Worte" ist das Wunderbare
meiner Mutter. Deswegen ist ihr Verdienst so groß. So groß, daß nur
245
dank dieser ihrer Bereitschaft,
auf das Wort Gottes zu lauschen, der durch den Mund Gabriels gesprochen hat,
und durch ihren Willen, das Wort Gottes in Tat umzusetzen, ohne
Schwierigkeiten und unmittelbare und künftige Leiden, die aus dieser Hingabe
herrühren, abzuwägen, der Erlöser auf die Welt gekommen ist. Ihr seht also,
daß sie meine selige Mutter ist, nicht nur, weil sie mich geboren und
aufgezogen hat, sondern weil sie das Wort Gottes gehört und in ihrem Gehorsam
verwirklicht hat. Aber jetzt wollen wir nach Hause zurückkehren. Meine Mutter
weiß, daß ich nur kurze Zeit draußen bleibe, und sie könnte in Sorge geraten,
wenn sie sieht, daß ich mich verspäte. Wir sind in einem halbheidnischen Land.
Aber in Wirklichkeit ist es besser als andere. Dennoch, laßt uns gehen. Gehen
wir hinten an der Mauer entlang, um der Menge zu entfliehen, die mich noch
einmal aufhalten würde. Schnell hinunter, hinter dieses dichte Wäldchen ...»
332. DER SABBAT IN GERASA
Lang sind die Stunden des Tages,
wenn man nicht weiß, was man tun soll. Die Begleiter Jesu wissen wirklich
nicht, was sie an diesem Sabbat anfangen sollen, in einem Land, in dem sie
keine Bekannten haben, und in einem Haus, in dem die Verschiedenheit der
Sprache und der Gebräuche eine Trennung bildet; als ob die Vorurteile der
Juden nicht genügten, um sie von den Kameltreibern und Knechten in der
Karawane Alexander Misazes fernzuhalten. Daher sind viele im Bett geblieben
oder stehen schläfrig in der Sonne, die den weiten viereckigen Hof des Hauses
erwärmt. Der Hof ist eingerichtet, um Karawanen zu beherbergen, mit
Wasserbecken und Ringen an den Mauern und den Säulen eines schlichten Ganges,
der längs der vier Seiten verläuft, mit zahlreichen Ställen und Scheunen für
Heu und Stroh an drei Seiten. Die Frauen haben sich in ihre Räume
zurückgezogen. Man sieht keine von ihnen.
Margziam unterhält sich auch im
geschlossenen Hof und beobachtet die Arbeiten der Stallknechte, die die
Maultiere striegeln, ausmisten, die Hufe kontrollieren und die losen Hufeisen
befestigen. Noch interessanter ist es – da es sich um etwas Neues handelt – zu
sehen, wie die Kameltreiber mit ihren Kamelen umgehen, jetzt schon die Ladung
für jedes einzelne Tier vorbereiten und die Tiere niederknien und wieder
aufstehen lassen, um festzustellen, ob die Lasten richtig verteilt sind. Nach
jeder dieser Proben werden die Kamele mit einer Handvoll trockenem Gemüse –
anscheinend Bohnen – belohnt, und schließlich erhalten sie noch
Johannisbrotschoten, die auch die Männer mit Genuß kauen.
Margziam staunt wirklich und
schaut, ob er nicht jemand findet, mit
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dem er sein Staunen teilen kann.
Doch zu seiner Enttäuschung muß er feststellen, daß die Erwachsenen sich nicht
um die Kamele kümmern. Entweder reden sie miteinander oder sie schlafen. Er
geht zu Petrus, der selig schläft und seinen Kopf auf dem weichen Heu liegen
hat, und zieht ihn am Ärmel. Petrus öffnet halb die Augen und fragt: «Was ist
los? Wer will etwas von mir?»
«Ich. Komm die Kamele ansehen.»
«Laß mich schlafen! Ich habe
schon viele gesehen... Sie sind so häßlich.»
Das Kind geht zu Matthäus, der
die Kasse prüft, da er auf dieser Reise der Schatzmeister ist: «Ich bin bei
den Kamelen gewesen, weißt du? Sie fressen wie die Schafe, weißt du? Sie knien
sich nieder wie die Menschen und gleichen Schiffen, die auf- und abgehen. Hast
du sie gesehen?»
Matthäus, der sich wegen der
Unterbrechung verrechnet hat, antwortet trocken: «Ja», und wendet sich wieder
seinen Münzen zu.
Eine weitere Enttäuschung...
Margziam schaut sich um... Siehe da, Simon der Zelote und Judas Thaddäus, die
miteinander reden...
«Wie schön sind die Kamele und
wie gut! Sie wurden beladen und von ihrer Last befreit, und sie sind auf den
Boden niedergegangen, damit der Mann sich nicht bemühen mußte. Dann haben sie
Johannisbrotschoten gefressen. Auch die Männer haben davon gegessen. Ich hätte
gerne welche... Aber ich kann mich nicht verständlich machen. Komm mit...»,
und er nimmt Simon bei der Hand.
Dieser, noch vertieft in das
friedliche Gespräch mit Thaddäus, antwortet zerstreut: «Ja, mein Lieber...
Geh, geh und paß auf, daß du dir nicht weh tust.»
Margziam schaut ihn erstaunt
an... Simon hat nicht die richtige Antwort gegeben. Fast kommen ihm die
Tränen. Er geht entmutigt fort und lehnt sich an eine Säule...
Jesus kommt aus einem Raum und
sieht ihn betrübt und allein dastehn. Er geht zu ihm hin und legt ihm seine
Hand aufs Haupt.
«Was machst du so allein und
traurig?»
«Niemand achtet auf mich...»
«Was hast du denn von den anderen
gewollt?»
«Nichts... Ich habe von den
Kamelen gesprochen... Sie sind schön... Sie gefallen mir. Es muß sein wie in
einem Boot, wenn man auf ihnen sitzt... Sie fressen Johannisbrot; auch die
Männer essen es...»
«Du möchtest auf eines
hinaufsteigen und Johannisbrot essen? Komm, gehen wir zu den Kamelen.» Jesus
nimmt den Knaben, der nun getröstet ist, bei der Hand und geht mit ihm in den
Hintergrund des großen Hofes. Er geht direkt auf einen Kameltreiber zu und
grüßt ihn mit einem Lächeln. Dieser verbeugt sich und fährt fort, sich um sein
Tier zu kümmern, dem er das Zaumzeug ordnet und die Zügel anlegt.
247
«Mann, verstehst du mich?»
«Ja, Herr, seit zwanzig Jahren
kenne ich euch.»
«Dieses Kind hat einen großen
Wunsch: es möchte auf einem Kamel reiten... und einen kleinen Wunsch: es
möchte eine Johannisbrotschote essen», und Jesus lächelt noch lebhafter.
«Ist das dein Sohn?»
«Ich habe keine Kinder, ich habe
keine Frau.»
«Du, so schön und stark, hast
keine Frau gefunden?»
«Ich habe keine gesucht.»
«Hast du kein Verlangen nach
einer Frau?»
«Nein! Nie!»
Der Mann betrachtet ihn erstaunt.
Dann sagt er: «Ich habe neun Kinder in Ischilo ... Ich gehe nach Hause zurück:
ein Kind. Ich gehe wieder hin: ein Kind ... So ist es immer.»
«Liebst du deine Kinder?»
«Mein Blut! Doch harte Arbeit!
Ich hier, die Kinder dort. Fern... Für ihr Brot... Verstehst du?»
«Ich verstehe. So wirst du auch
den Jungen verstehen, der ein Kamel reiten und Johannisbrot essen möchte.»
«Ja. Komm! Hast du Angst? Nein?
Brav. Ein schönes Kind. Auch ich habe ein solches. Auch so schwarz. Hier, faß
hier an. Fest!» Er gibt ihm den eigenartigen Griff in die Hand, der vorne am
Sattel ist.
«Halte dich fest! Jetzt komme
ich. Auf, Kamel! Keine Angst, nicht wahr?» Der Mann schwingt sich auf den
hohen Sattel, macht es sich bequem und treibt das Kamel an, das sich mit einem
lauten Schrei erhoben hat. Margziam lacht vergnügt. Er ist noch glücklicher
als der Kameltreiber, der ihm eine schöne Johannisbrotschote in den Mund
gesteckt hat. Der Mann läßt das Kamel um den Hof herum erst im Schritt und
dann im Trab gehen. Schließlich, als er sieht, daß Margziam keine Furcht hat,
ruft er einem seiner Kameraden etwas zu, dieser öffnet das große Tor im
Hintergrund des Hofes, und das Kamel verschwindet mit seiner Last in der
grünen Landschaft.
Jesus kehrt ins Haus zurück und
geht in den Raum, in dem sich die Frauen aufhalten. Er lächelt, so daß Maria
ihn fragt: «Was hast du, mein Sohn, daß du so glücklich bist?»
«Ich bin glücklich darüber, daß
Margziam auf einem Kamel galoppieren darf. Kommt hinaus und seht, wie er
zurückkommt.»
Sie gehen alle in den Hof und
setzen sich auf eine niedrige Mauer beim Wasserbecken.
Die Apostel, die nicht schlafen,
kommen näher. Jene, die an den Fenstern der hohen Räume standen, kommen
ebenfalls und wecken mit ihren hohen, jugendlichen Stimmen – es sind Johannes
und die beiden Jakobus – auch Petrus und Andreas auf und schütteln Matthäus.
Nun sind
248
sie vollzählig, denn auch
Johannes von Endor kommt mit zwei Jüngern herbei.
«Aber wo ist denn Margziam?»
fragt Petrus.
«Er macht einen Spazierritt auf
einem Kamel. Keiner von euch hat sich um ihn gekümmert... Ich sah ihn traurig
und habe ihn zufriedengestellt.»
Petrus, Matthäus und Simon
erinnern sich: «Ach ja! Er hat etwas von Kamelen gesagt... und von
Johannisbrot. Aber ich war müde!» «Und ich mußte abrechnen, um dir
Rechenschaft darüber zu geben, was ich von den Gerasenern bekommen und was ich
als Almosen ausgegeben habe.»«Und ich sprach mit deinem Bruder über den
Glauben.»
«Ist schon recht! Ich habe mich
um ihn gekümmert. Jedoch möchte ich bei dieser Gelegenheit bemerken, daß es
auch Liebe ist, sich um die Spiele eines Kindes zu kümmern... Nun wollen wir
von etwas anderem sprechen.»
«Draußen vor der Stadt ist alles
in festlicher Stimmung. Von unserem Sabbat ist nichts mehr übrig als eine
allgemeine Freude. Es ist besser, hier drinnen zu bleiben. Um so mehr, als sie
uns hier finden können, wenn sie uns suchen. Sie wissen, wo wir sind. Hier ist
Alexander und begutachtet seine Kamele. Ich will ihm sagen, daß eines durch
meine Schuld fehlt.»
Jesus geht eilends zum Kaufmann
und redet mit ihm. Sie kommen zusammen zurück. Der Kaufmann sagt: «Sehr gut!
Es wird ihm Spaß machen, und ein Ritt in der Sonne wird ihm gut tun. Kalipius
ist ein guter Mensch. Als Belohnung für den Ritt bitte ich dich, mir etwas zu
erklären. Heute nacht habe ich über deine Worte nachgedacht... über jene, die
du in Ramot mit einer Frau gewechselt hast, und über das, was ich gestern
gehört habe.
Gestern schien es mir, als
bestiege ich einen der hohen Berge meiner Heimat, die ihre Gipfel wirklich in
den Wolken erheben. Du führtest uns in die Höhe, immer höher. Es kam mir vor,
als hätte ein Adler mich in die Höhe getragen auf einen unserer höchsten
Berge; den ersten, der nach der Sintflut wieder auftauchte. Ich sah vieles,
woran ich nie gedacht hatte, und alles erschien mir in einem neuen Licht...
ich verstand. Dann aber wurde ich verwirrt. Sage es mir noch einmal.»
«Was soll ich dir sagen?»
«Das weiß ich ja gerade nicht...
Es war so schön, als du sagtest, daß man sich im Himmel wiederfindet... Ich
habe verstanden, daß man sich dort anders lieben wird. Zum Beispiel: Wir
werden nicht mehr die jetzigen Ängste haben und werden alle für einen und
einer für alle sein, als ob wir eine einzige Familie wären. Sage ich es
schlecht?»
«Nein, im Gegenteil! Wir werden
auch mit den Lebenden eine Familie bilden. Die Seelen werden durch den Tod
nicht getrennt. Ich rede von den Gerechten. Sie bilden eine einzige große
Familie. Stelle dir einen großen Tempel vor, in dem Anbetende und Bittende
sind und solche, die sich abmühen. Die ersteren beten auch für die, die sich
abmühen; die anderen
249
arbeiten für die Betenden. So ist
es bei den Seelen. Wir mühen uns auf der Erde ab, und sie kommen uns mit ihren
Gebeten zu Hilfe. Aber wir müssen unsere Leiden für ihren Frieden aufopfern.
Es ist eine Kette, die nie aufhört, und es ist die Liebe, die jene, die waren,
mit denen, die sind, verbindet. Die aber sind, müssen gut sein, um sich mit
denen vereinigen zu können, die hier waren und sich nach ihnen sehnen.»
Syntyche macht eine
unwillkürliche Bewegung, beherrscht sich aber sofort. Doch Jesus hat es
bemerkt und lädt sie ein, ihre Zurückhaltung aufzugeben und sich frei zu
äußern.
«Ich habe gedacht... schon
mehrere Tage denke ich darüber nach, und, wenn ich ehrlich sein soll, es
verwirrt mich. Mir scheint, daß der Glaube an dein Paradies zur Folge hat, daß
ich meine Mutter und die Schwestern für immer verliere...» Ein Schluchzen
erstickt Syntyches Stimme; sie schweigt, um nicht zu weinen.
«Was ist das für ein Gedanke, der
dich so sehr beunruhigt?»
«Nun glaube ich an dich. Meine
Mutter kann ich mir nur als Heidin vorstellen. Sie war so gut... Oh, so gut!
Auch die Schwestern! Die kleine Ismene war das beste Geschöpf, das es auf
Erden gegeben hat. Doch sie waren Heiden... Solange ich wie sie war und an den
Hades glaubte, sagte ich: "Wir werden uns wiederfinden." Nun gibt es den Hades
nicht mehr. Er ist dein Paradies, das Himmelreich für alle, die in
Gerechtigkeit dem wahren Gott gedient haben. Oh, die armen Seelen! Es war doch
nicht ihre Schuld, wenn sie als Griechinnen geboren wurden! Keiner der
Priester Israels ist gekommen, um ihnen zu sagen: "Unser Gott ist der wahre
Gott!" Und jetzt? Ihre Tugenden! Nichts? Ihre Leiden! Vergeblich? Ewiges
Dunkel und ewige Trennung von mir? Ich sage dir, es ist eine Qual. Mir
scheint, ich habe sie verleugnet. Verzeih, Herr... Ich weine...» Sie kniet
untröstlich weinend nieder.
Alexander Misaze sagt: «Ist es
so? Auch ich dachte, selbst wenn ich ein Gerechter bin, werde ich Vater,
Mutter, Geschwister und Freunde nie wiedersehen...»
Jesus legt seine Finger auf den
braunen Kopf der Syntyche und sagt: «Schuldig ist nur, wer im Irrtum verharrt,
nachdem er die Wahrheit erkannt hat, und nicht, wer überzeugt ist, in der
Wahrheit zu sein, da keine Stimme gekommen ist, um ihm zu sagen: "Was ich euch
bringe, ist die Wahrheit. Wendet euch von euren falschen Vorstellungen ab und
dieser Wahrheit zu und ihr werdet den Himmel haben." Gott ist gerecht. Sollte
die Tugend, die sich ganz allein in der Verdorbenheit einer heidnischen Welt
herangebildet hat, nicht belohnt werden? Sei beruhigt, Tochter!»
«Aber die Erbschuld? Der ruchlose
Kult? Aber ...»
Die Israeliten würden die arme
Syntyche mit weiteren "aber" noch mehr betrüben, wenn Jesus nicht mit einer
Geste Schweigen geböte.
Er sagt: «Die Erbschuld haben
alle in Israel und außerhalb Israels. Sie
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ist kein Vorrecht der Heiden. Der
heidnische Kult wird von dem Augenblick an eine Schuld sein, da das Gesetz
Christi in der Welt bekannt ist. Tugend bleibt immer Tugend in den Augen
Gottes, und durch meine Vereinigung mit dem Vater sage ich, und ich sage es in
seinem Namen, indem ich den heiligsten Gedanken in Worten ausdrücke, daß es
viele Wege der barmherzigen Macht Gottes gibt, daß Gott darauf bedacht ist,
den Tugendhaften Freude zu schenken und daß die Schranken aufgehoben werden
zwischen Seele und Seele und Friede sein wird für alle, die Frieden verdient
haben. Nicht nur das! Ich sage euch, daß in Zukunft alle, die überzeugt sind,
in der Wahrheit zu sein und der Religion der Väter in Gerechtigkeit und
Heiligkeit folgen, nicht von Gott bestraft werden. Die Bosheit, die
Böswilligkeit, bewußt die erkannte Wahrheit abzulehnen und zu bekämpfen, und
das lasterhafte Leben werden in Wahrheit auf ewig die Seelen der Gerechten von
jenen der Sünder trennen. Erhebe deinen niedergeschlagenen Geist, Syntyche!
Diese Melancholie ist ein Ansturm des höllischen Zornes, den Satan gegen dich,
die für ihn für immer verlorene Beute, hegt. Es gibt keinen Hades! Es gibt
mein Paradies. Aber dieses bereitet nicht Schmerz, sondern Freude. Nichts von
der Wahrheit darf Anlaß zu Niedergeschlagenheit oder Zweifel sein, vielmehr
soll dir die Wahrheit die Kraft verleihen, immer tiefer und mit heiterer
Sicherheit zu glauben. Aber vertraue mir immer deine Überlegungen an. Ich will
in dir ein sicheres und festes Licht haben, wie das der Sonne.»
Syntyche, die immer noch kniet,
ergreift die Hand Jesu und küßt sie...
Das "Krrr, Krrr" des
Kameltreibers gibt zu verstehen, daß das Kamel wieder in Schritt fällt. Die
Hufe bewegen sich lautlos auf dem dichten Gras außerhalb des hinteren Tores,
das ein Diener sofort öffnet; und Margziam kehrt glücklich zurück. Er ist vom
Ritt gerötet: ein Männlein auf dem hohen Höcker, das lacht und mit den Armen
in der Luft fuchtelt, während das Kamel niederkniet. Es rutscht von dem
eigenartigen Sattel herunter und liebkost den braunen Kameltreiber. Dann eilt
es laut rufend zu Jesus:
«Wie schön! Sind auf solchen
Tieren die Weisen aus dem Morgenland gekommen, um dich anzubeten? Ich will mit
den Kameltreibern gehen, um dich überall zu predigen, denn die Welt erscheint
größer von oben, und sagen: "Kommt, kommt, ihr, die ihr die Frohe Botschaft
kennt!" Oh, weißt du? ... Auch der Mann dort braucht sie, und auch du,
Kaufmann, und alle deine Diener... Wie viele Menschen warten darauf und
sterben, ohne sie gehört zu haben... Mehr Menschen als Sandkörner in einem
Fluß sind. Alle ohne dich, Jesus! Oh, beeile dich, damit alle davon
erfahren!»Der Kleine klammert sich an seine Seite und schaut dabei nach oben.
Jesus neigt sich zu ihm nieder und küßt ihn mit dem Versprechen: «Du wirst das
Reich Gottes bis zu den äußersten Grenzen Roms verkündigt sehen. Bist du
zufrieden?»
251
«Ich, ja! Dann werde ich zu dir
kommen und dir sagen: "Siehe, dieses und dieses und dieses Land kennt dich
nun." Dann werde ich die Namen jener fernen Länder kennen. Was wirst du mir
dann sagen?»
«Ich werde dir sagen: "Komm her,
kleiner Margziam! Empfange eine Krone für jedes Land, in dem du mich
verkündigt hast, und dann komme an meine Seite wie an jenem Tag in Gerasa und
ruhe dich aus von deinen Mühen, denn du bist ein treuer Knecht gewesen und
darfst dich jetzt in meinem Reich freuen."»
333. DER AUFBRUCH VON GERASA
Die Karawane, geordnet wie zu
einer Militärparade, verläßt den großen Hof der Herberge Alexanders. An ihrem
Ende folgen Jesus und die Seinen. Die Kamele schreiten, ihre schwere Last im
rhythmischen Schritt schaukelnd, voran, und die Köpfe auf den gebogenen Hälsen
scheinen bei jedem Tritt zu fragen: «Warum? Warum?» in einer stummen, aber
typischen Bewegung, wie die der Tauben, die bei jedem ihrer Schrittchen zu
allem, was sie sehen, zu sagen scheinen: «Ja, ja.»
Die Karawane muß die Stadt
durchqueren. Sie tut es in der reinen Morgenluft. Die Kameltreiber sind alle
eingemummt, denn es ist kühl. Das Vorbeiziehen der Kamele, die "Krrr, Krrr"
der Kameltreiber und der drängende Laut eines Kamels, das der Stallruhe
nachtrauert, machen die Bewohner von Gerasa auf die Abreise Jesu aufmerksam.
Die Nachricht verbreitet sich in
Blitzesschnelle und die Gerasener eilen herbei, um ihn zu grüßen und ihm
Früchte und andere Lebensmittel zu schenken. Auch ein Mann mit einem kranken
Kind eilt herbei.
«Segne es, damit es gesund wird.
Hab Erbarmen!»
Jesus hebt die Hand und segnet
mit den Worten: «Geh beruhigt! Habe Glauben!»
Und der Mann antwortet mit einem
so vertrauensvollen Ja, daß eine Frau fragt: «Würdest du meinen Mann, der
Geschwüre an den Augen hat, heilen?»
«Wenn ihr glauben könnt, ja!»
«Dann will ich ihn holen gehen.
Warte auf mich, Herr!» und sie fliegt davon wie eine Schwalbe.
Warten? Das ist leicht gesagt!
Die Kamele ziehen weiter. Alexander ist an der Spitze des Zuges und weiß
nicht, was am Ende vor sich geht. Man muß dem Mann ein Zeichen geben.
«Lauf, Margziam! Geh und sag dem
Kaufmann, daß er die Karawane anhalten soll, bevor sie durch das Stadttor
hinausgeht», sagt Jesus.
Margziam saust wie ein Pfeil
davon, um die Nachricht zu überbringen.
252
Die Karawane bleibt stehen;
während der Kaufmann sich Jesus nähert. «Was ist vorgefallen?»
«Warte ab, du wirst sehen.»
Die Frau von Gerasa mit dem
augenkranken Mann kehrt bald zurück.
Schreckliche Geschwüre! Zwei
eiternde Höhlen inmitten des Gesichtes. Die trüben, geröteten und halb
erblindeten Augen sind kaum zu erkennen, und der unaufhörliche, abstoßende
Tränenfluß nimmt noch zu, als die dunkle Binde entfernt wird, die einen Schutz
gegen das Licht bildet.
Der Mann jammert: «Erbarmen! Ich
leide so sehr!»
«Du hast auch viel gesündigt.
Darüber beklagst du dich nicht? Nur der Verlust des armen, irdischen
Augenlichtes betrübt dich? Weißt du nichts von Gott? Macht dir die ewige
Finsternis keine Angst? Warum hast du gesündigt?»
Der Mann weint und verneigt sich,
ohne zu reden. Auch die Frau weint und jammert: «Ich habe verziehen ...»
«So will auch ich verzeihen, wenn
er mir schwört, daß er nicht mehr in seine Sünde zurückfallen wird.»
«Ja, ja! Verzeihung! Jetzt weiß
ich, was die Sünde nach sich zieht. Verzeihung! So wie die Frau mir verziehen
hat, verzeihe auch du mir. Du bist der Gütige.»
«Ich verzeihe dir. Geh zu dem
Bach dort, wasche dein Gesicht in seinem Wasser, und du wirst geheilt werden.»
«Das kalte Wasser verschlimmert
seinen Zustand, Herr», jammert die Frau.
Doch der Mann denkt an nichts
anderes als zum Bach zu gehen und schreitet wankend voran, bis der Apostel
Johannes ihn erbarmend an der Hand nimmt und ihn alleine führt, bis die Frau
die andere Hand ergreift. Der Mann steigt hinab zum eiskalten Wasser, das
zwischen den Steinen plätschert, beugt sich nieder, schöpft Wasser mit den
Händen und wäscht sich immer wieder das Gesicht. Das kalte Wasser scheint ihm
keine Schmerzen zu verursachen, sondern eher Erleichterung zu bringen.
Dann steigt er mit noch nassem
Gesicht das Ufer hinauf und kehrt zu Jesus zurück, der ihn fragt: «Nun, bist
du geheilt?»
«Nein, Herr, noch nicht! Aber du
hast es gesagt, und ich werde gesund werden.»
«Dann verharre in deiner
Hoffnung. Leb wohl!»
Die Frau bricht verzagt zusammen
und weint... Sie ist enttäuscht. Jesus gibt dem Kaufmann durch ein Zeichen zu
verstehen, daß man wieder aufbrechen könne. Der Kaufmann, auch er enttäuscht,
läßt den Befehl zum Aufbruch weitergeben.
Die Kamele setzen sich wieder in
Bewegung wie auf- und abschaukelnde Boote auf dem Meer. Sie verlassen den
Mauerbezirk und schlagen die
253
Karawanenstraße ein, die sich
breit und staubig in südwestlicher Richtung hinzieht.
Das letzte Paar der apostolischen
Gruppe, Johannes von Endor und Simon der Zelote, ist schon etwa zwanzig Meter
von der Stadtmauer entfernt, als ein Schrei die Stille durchdringt. Er scheint
die Welt zu erfüllen und wiederholt sich immer lauter werdend fröhlich und
jubelnd: «Ich sehe! Jesus, mein Gebenedeiter! Ich sehe! Ich sehe! Ich habe
geglaubt! Ich sehe! Jesus! Jesus! Mein Gebenedeiter!» Der Mann mit dem
vollkommen geheilten Gesicht und seinen nunmehr wieder schön gewordenen Augen,
zwei Edelsteine voller Licht und Leben, bahnt sich einen Weg durch die Reihen
der Apostel, fällt Jesus zu Füßen und gerät beinahe unter die Hufe des Kamels
des Kaufmanns, der es gerade noch vor dem zu Boden Geworfenen zurückreißen
kann.
Der Mann küßt das Gewand Jesu und
sagt immer wieder: «Ich habe geglaubt! Ich habe geglaubt, und ich sehe! Mein
Gebenedeiter!»
«Steh auf und sei glücklich! Und
vor allem, sei gut! Sag zu deiner Frau, daß sie einen tiefen Glauben haben
soll! Leb wohl!» Jesus befreit sich aus der Umarmung des wunderbar Geheilten
und schickt sich an, weiterzugehen.
Der Kaufmann streicht
nachdenklich seinen Bart... Schließlich fragt er: «Und wenn er nach der
enttäuschenden Waschung nicht im Glauben ausgeharrt hätte, was wäre dann
geschehen?»
«Dann wäre er geblieben, wie er
war.»
«Warum verlangst du einen so
großen Glauben, um Wunder zu wirken?»
«Weil der Glaube das
Vorhandensein von Hoffnung und Liebe bezeugt.»
«Warum hast du zuerst Reue
verlangt?»
«Weil die Reue Gott zum Freund
macht.»
«Ich, der ich keine Krankheiten
habe, was müßte ich tun, um meinen Glauben zu bezeugen?»
«Zur Wahrheit kommen.»
«Könnte ich ohne die Freundschaft
Gottes zu ihr gelangen?»
«Du könntest nicht ohne die Güte
Gottes zu ihr gelangen. Der Herr gewährt, daß jemand, der ihn noch ohne Reue
sucht, ihn findet, denn im allgemeinen kommt die Reue, wenn der Mensch bewußt,
oder wenigstens mit einer Spur von Bewußtsein dessen, was seine Seele will,
Gott erkennt. Zuerst gleicht er einem ausschließlich vom Instinkt geführten
Stumpfsinnigen. Hast du nie das Verlangen verspürt zu glauben?»
«Oft! Ich war nicht zufrieden mit
dem, was ich hatte. Ich fühlte, daß es noch etwas anderes geben muß. Etwas
Stärkeres als Geld und die Kinder, die meine Hoffnung sind... Aber dann nahm
ich mir doch nicht die Mühe, dem nachzuforschen, was ich unbewußt suchte.»
«Deine Seele suchte Gott. Die
Güte Gottes hat erlaubt, daß du Gott findest. Die Reue über deine tatenlose,
gottferne Vergangenheit wird dir die Freundschaft Gottes gewähren.»
254
«Muß ich also... um das Wunder zu
erlangen, mit der Seele die Wahrheit sehen zu können, meine Vergangenheit
bereuen?»
«Gewiß! Bereuen sollst du und
dich zu einer vollständigen Veränderung deines Lebens entschließen...»
Der Mann fährt sich wieder mit
den Fingern durch den Bart und es scheint, als ob er die Haare am Halse des
Kamels studieren und zählen wollte, so sehr starrt er darauf. Ungewollt gibt
er dem Tier die Sporen, und dieses faßt den Stoß als eine Aufforderung auf,
den Gang zu beschleunigen, und bringt den Kaufmann wieder an die Spitze der
Karawane.
Jesus hält ihn nicht zurück.
Vielmehr bleibt er stehen und läßt die Frauen und Apostel an sich
vorübergehen, bis ihn Simon der Zelote und Johannes von Endor erreicht haben.
Er schließt sich ihnen an.
«Worüber sprecht ihr?» fragt er.
«Wir sprachen von der
Trostlosigkeit derer, die an nichts glauben oder jener, die einen Glauben, den
sie hatten, verlieren. Gestern war Syntyche wirklich verängstigt, obwohl sie
zu einem vollkommenen Glauben gelangt ist», antwortet der Zelote.
«Ich sagte zu Simon, wenn es
schmerzlich ist, vom Guten zum Bösen überzugehen, so muß es auch bestürzend
sein, vom Bösen zum Guten überzugehen. Im ersten Fall wird man gequält durch
das Gewissen, das einem Vorwürfe macht. Im zweiten Fall fühlt man sich...
beklommen... wie einer, der in ein fremdes Land versetzt wird, das ihm
vollkommen unbekannt ist... Oder es ist die Bestürzung des Unbeholfenen und
Ungebildeten, der sich plötzlich an einem Königshof unter Gelehrten und
Herrschern befindet. Es ist ein Leid ... ich weiß es ... ein großer Schmerz...
Man kann nicht glauben, daß es wahr ist, daß es so bleiben könnte... daß man
dies verdienen könnte ... besonders, wenn man eine befleckte Seele hat... wie
es die meine war ...»
«Und jetzt, Johannes?» fragt
Jesus.
Das erschöpfte, traurige Gesicht
des Johannes von Endor erstrahlt in einem Lächeln, das ihn weniger hager
erscheinen läßt. Er antwortet: «Jetzt nicht mehr. Es bleibt die Dankbarkeit,
ja sie wächst sogar, die Dankbarkeit dem Herrn gegenüber, der dies gewollt
hat, es bleibt die Erinnerung an die Vergangenheit, um mich demütig zu
bewahren. Doch da ist auch die Sicherheit. Ich habe mich eingelebt, und fühle
mich nicht mehr als Fremder in dieser lieblichen Welt der Verzeihung und der
Liebe, die die deine ist. Ich bin beruhigt, heiter, glücklich.»
«Betrachtest du deine Erfahrung
als gut?»
«Ja! Wenn ich nicht darüber
betrübt wäre, daß ich gesündigt habe -denn mit dieser Sünde habe ich Gott
beleidigt – würde ich sagen, daß meine Vergangenheit etwas Gutes gewesen ist.
Sie wird mir sehr behilflich sein, bereitwillige, aber verirrte Seelen in den
ersten Augenblicken ihres neuen Glaubens zu ermutigen.»
255
«Simon, gehe und sage dem Knaben,
er soll nicht so viel springen. Er wird sonst abends völlig erschöpft sein.»
Simon schaut Jesus an, doch er
begreift den wahren Grund dieses Befehls. Verständnisvoll lächelnd entfernt er
sich und läßt die beiden allein zurück.
«Nun, da wir allein sind,
Johannes, höre diesen meinen Wunsch an. Du hast aus vielen Gründen ein großes
Urteilsvermögen und eine Gedankentiefe, die sonst keiner unter meinen
Anhängern hat, und eine vielseitigere Bildung, als es bei den Israeliten sonst
üblich ist. Daher bitte ich dich, mir zu helfen...»
«Dir zu helfen? Womit denn?»
«Es betrifft Syntyche. Du bist
ein so tüchtiger Erzieher. Margziam lernt schnell und gut bei dir, so daß ich
beabsichtige, euch einige Monate beisammen zu lassen, denn ich möchte, daß
sich Margziam ein umfangreicheres Wissen aneignet als das der kleinen Welt
Israels. Dir macht es Freude, dich um ihn zu kümmern, und mir macht es Freude,
euch zusammen zu sehen: dich, der du ihn unterrichtest, und ihn, der von dir
lernt, dich, der du bei dieser Beschäftigung jünger wirst, und ihn, der dabei
reifer wird. Aber auch um Syntyche solltest du dich kümmern wie um eine
verirrte Schwester. Du hast gesagt: "Es ist eine Verwirrung..." Hilf ihr, sich
an meine Umgebung zu gewöhnen. Tust du mir diesen Gefallen?»
«Aber es ist für mich eine Gnade,
es zu tun, mein Herr! Ich habe mich ihr nicht genähert, weil ich glaubte,
überflüssig zu sein, aber wenn du es willst! Sie liest meine Schriftrollen. Es
sind heilige und auch nur lehrreiche darunter: Bücher über Rom und Athen. Ich
sehe, daß sie darin blättert und nachdenkt, doch habe ich mich nie
eingemischt, um ihr zu helfen. Wenn du es willst ...»
«Ja, ich will es! Ich möchte euch
als Freunde sehen. Auch sie soll, wie Margziam und du, einige Zeit in Nazareth
bleiben. Das wird schön sein. Meine Mutter und du als Lehrer zweier Seelen,
die sich Gott öffnen. Meine Mutter, die engelgleiche Meisterin der
Wissenschaft Gottes, du, der erfahrene Lehrer des menschlichen Wissens, der
jetzt jedoch erklären kann, indem er sich auf übernatürliche Dinge bezieht.
Das wird schön sein und gut!»
«Ja, mein gepriesener Herr! Zu
schön für den armen Johannes... !»Der Mann lächelt beim Gedanken an diese
künftigen Tage des Friedens mit Maria im Haus Jesu...
Die Straße führt in der immer
stärker werdenden Sonnenhitze durch eine unscheinbare Landschaft, die nun nach
den kleinen Hügeln bei Gerasa ganz eben wird, eine gut gepflegte Straße, auf
der es angenehm zu reisen ist. Nach der Mittagsrast wird der Weg wieder
aufgenommen. Es ist beinahe Abend, als ich Syntyche zum ersten Mal von ganzem
Herzen lachen höre. Margziam hat ihr wer weiß was erzählt, das alle Frauen zum
256
Lachen bringt. Ich sehe, wie die
Griechin sich neigt, um den Knaben zu liebkosen und ihm die Stirne zu küssen.
Danach beginnt der Junge wieder zu springen, als ob er keine Müdigkeit
verspüre.
Alle anderen sind jedoch müde,
und der Entschluß, bei der Quelle der Kameltreiber zu übernachten, wird mit
Freude angenommen. Der Kaufmann sagt: «Hier übernachte ich immer. Die
Wegstrecke von Gerasa nach Bozrah ist für Mensch und Tier zu lange.»
«Der Kaufmann ist menschlich»,
bemerken die Apostel untereinander, da sie ihn Doras gegenüberstellen.
Die Quelle der Kameltreiber ist
nichts als eine kleine Häusergruppe um zahlreiche Brunnen herum. Eine Art
Oase, nicht in der Öde der Wüste, denn die Landschaft hier ist nicht öde,
sondern eine Oase in der unbewohnten Weite der Felder und Obstgärten, die
einander über viele Meilen abwechseln und bei Einbruch des Oktoberabends
dieselbe Traurigkeit ausstrahlen wie das Meer in der Abenddämmerung. Deshalb
ist, dieses Bild, die Häuser, die Stimmen, das Kinderweinen, der Geruch der
rauchenden Kamine und die ersten angezündeten Laternen, so schön wie ein
Nach-Hause-Kommen.
Während die Kameltreiber anhalten
und zuerst die Kamele tränken, folgen die Apostel und die Frauen Jesus, der
mit dem Kaufmann in die vorsintflutliche Herberge eintritt, in der sie
übernachten werden...
In dem verräucherten,
unwohnlichen Raum, in dem sie die Mahlzeit eingenommen haben und in dem die
Männer schlafen werden, richten die Diener schon die Ruhelager mit Heuhaufen
vom Dachboden her. Jesus und die Seinen haben sich alle um die große
Feuerstelle versammelt, welche die ganze Schmalseite des großen Raumes
einnimmt. Da der Abend Feuchtigkeit und Kälte mit sich gebracht hat, hat man
das Feuer angezündet.
«Wenn es nur nicht zu regnen
beginnt», seufzt Petrus.
Der Kaufmann beruhigt ihn: «Vor
dem schlechten Wetter kommt noch der Mondwechsel. Hier ist es immer so am
Abend. Doch morgen werden wir Sonne haben.»
«Ich mache mir wegen der Frauen
Sorgen, weißt du? Nicht meinetwegen. Ich bin ein Fischer und lebe im Wasser
und kann dir versichern, daß ich das Wasser den Bergen und dem Staub
vorziehe.»
Jesus spricht mit den Frauen und
den beiden Vettern. Auch Johannes von Endor und der Zelote hören ihm zu,
während Timoneus und Ermastheus mit Matthäus eine der Schriftrollen des
Johannes lesen, und die beiden Israeliten Ermastheus die für ihn
unverständlichen Bibelstellen erklären.
Margziam hört ihnen begeistert
zu, doch sein Gesichtlein wirkt schläfrig. Maria des Alphäus sieht es und
sagt: «Das Kind ist müde. Komm, mein Lieber, wir wollen schlafen gehen. Komm,
Elisa, komm, Salome! Alte und Kinder sind im Bett besser aufgehoben, und es
wäre gut, wenn ihr euch alle zur Ruhe legen würdet. Ihr seid müde.»
257
Aber außer den Älteren, mit
Ausnahme von Marcella und Johanna des Chuza, rührt sich niemand.
Als sie nach Empfang des Segens
gegangen sind, murmelt Matthäus: «Wer hätte diesen Frauen vor nur kurzer Zeit
gesagt, daß sie bald auf Stroh und fern der Heimat schlafen müssen!»
«Ich habe noch nie so gut
geschlafen», versichert Maria von Magdala entschieden, und Martha bestätigt
dasselbe.
Doch Petrus gibt dem Kameraden
recht: «Matthäus hat recht, und ich frage mich, wieso der Meister sie
hierhergebracht hat.»
«Weil wir Jüngerinnen sind!»
«Wenn er an einen Ort ginge... wo
es Löwen gibt? Würdet ihr dorthin gehen?»
«Ja gewiß, Simon Petrus! Was ist
Großes dabei, einige Schritte zu machen? Mit ihm zusammen!»
«Nun, es sind wahrlich viele
Schritte, besonders für Frauen, die nicht daran gewöhnt sind ...»
Doch die Frauen protestieren, so
daß Petrus die Achseln zuckt und schweigt.
Jakobus des Alphäus erhebt sein
Haupt und sieht ein so strahlendes Lächeln auf dem Antlitz Jesu, daß er ihn
fragt: «Willst du uns den wahren Grund für diese Reise mit uns, mit den Frauen
und... mit dem geringen Erfolg im Vergleich zu der großen Mühe, sagen?»
«Kannst du verlangen, jetzt schon
die Frucht des Samens zu sehen, der in den Feldern begraben liegt, durch die
wir gegangen sind?»
«Nein, ich werde sie im Frühjahr
sehen.»
«Auch ich sage dir: du wirst den
Erfolg zu gegebener Zeit sehen.»
Die Apostel entgegnen nichts. Da
erklingt die silberne Stimme Marias: «Mein Sohn, heute haben wir zusammen über
das gesprochen, was du in Ramot gesagt hast, und jede von uns hatte eine
andere Meinung und andere Gefühle. Möchtest du uns nicht deine Gedanken sagen?
Ich sagte, es wäre besser, dich gleich zu rufen. Aber du sprachst mit Johannes
von Endor.»
«In Wahrheit war ich diejenige,
welche diese Fragen ausgelöst hatte, denn ich bin eine arme Heidin und habe
nicht das leuchtende Licht eures Glaubens. Man muß mich entschuldigen.»
«Aber ich möchte deine Seele
haben, meine Schwester!» sagt Magdalena impulsiv und, wie immer
überschwenglich, umarmt sie Syntyche und drückt sie fest mit einem Arm an
sich. Herrlich in ihrer Schönheit, scheint sie allein die elende Herberge zu
erhellen und mit dem großen Reichtum ihres prunkvollen Hauses zu schmücken.
Die Griechin, so ganz verschieden und doch einmalig in ihrem Wesen, legt eine
Note der Besinnlichkeit in den Aufschrei der Liebe, der stets aus der
leidenschaftlichen Maria hervorzubrechen scheint, während die Jungfrau mit
ihrem lieblichen, zum
258
Sohn erhobenen Antlitz und den
wie zum Gebet gefalteten Händen und dem so reinen Profil, das sich von der
dunklen Wand abhebt, die ewige Anbeterin ist.
Susanna schlummert im Halbdunkel
der Ecke, während Martha, stets beschäftigt, trotz ihrer Müdigkeit und der
Mahnungen der anderen, die Helligkeit des Feuers nützt, um die Spangen am
Kleidchen Margziams zu befestigen.
Jesus sagt zu Syntyche: «Aber es
war kein schmerzlicher Gedanke. Ich habe dich lachen hören.»
«Ja, wegen des Kindes, das dieses
Problem gewandt gelöst hat, indem es sagte: "Ich will nur dann zurückkehren,
wenn Jesus auch zurückkehrt. Aber wenn du alles wissen willst, so geh dorthin
und komme nachher zurück und sage es uns, wenn du dich daran erinnerst."»
Alle lachen wieder und sagen, daß
Syntyche sich an Maria gewandt hat, weil sie die Worte des Meisters nicht gut
verstanden hatte, als er von der Erinnerung sprach, die die Seelen bewahren
und die in gewisser Weise erklärt, wie die Heiden eine entfernte Erinnerung an
die Wahrheit haben können.
«Ich sagte: "Vielleicht bestätigt
dies die Theorie der von vielen Heiden erwarteten Reinkarnation"; deine
Mutter, Meister, erklärte mir, daß du etwas anderes gesagt hättest. Möchtest
du mir nun auch dies erklären, mein Herr!»
«Höre! Du mußt nicht glauben,
daß, weil die Geister eine Erinnerung an die Wahrheit haben, damit bewiesen
ist, daß wir mehrere Leben leben. Du bist schon genügend belehrt worden, um zu
wissen, wie der Mensch erschaffen wurde, wie er gesündigt hat und wie er
bestraft wurde. Es ist dir erklärt worden, wie Gott in jeden Menschen eine
einzelne Seele legt. Diese wird von Fall zu Fall geschaffen und nie mehr
wieder für nachfolgende Inkarnationen verwendet. Diese Gewißheit müßte meine
Behauptung über die Erinnerungen der Seelen zunichte machen. Das Tier kann
sich an nichts erinnern, da es nur einmal geboren wird. Der Mensch kann sich
erinnern, obwohl er auch nur einmal geboren wird. Er kann sich erinnern, und
zwar mit seinem besten Teil: der Seele. Woher kommt die Seele? Jede
Menschenseele? Von Gott. Wer ist Gott? Der intelligenteste, mächtigste,
vollkommenste Geist. Dieses wunderbare Wesen, die Seele, die Gott nach seinem
Ebenbild geschaffen hat als unbestreitbares Zeichen seiner heiligsten
Vaterschaft, fühlt die Gaben, die dem eigen sind, der sie geschaffen hat. Sie
ist daher intelligent, geistig, frei und unsterblich wie der Vater, ihr
Schöpfer. Vollkommen entspringt sie dem göttlichen Gedanken, und für ein
Tausendstel eines Augenblickes sieht sie der Seele des ersten Menschen gleich:
eine Vollkommenheit, die die Wahrheit als Geschenk einschließt. Ein
Tausendstel eines Augenblickes. Wenn sie dann gebildet ist, wird sie durch die
Erbschuld verletzt. Um es dir besser verständlich zu
259
machen, sage ich dir, daß es so
ist, als ob Gott schwanger wäre mit der Seele, die er erschafft, und das
Geschöpf bei der Geburt durch ein unauslöschliches Zeichen verwundet würde.
Verstehst du mich?»
«Ja. Solange sie gedacht ist, ist
sie vollkommen. Ein Tausendstel eines Augenblickes. Dann wird der Gedanke
Wirklichkeit, und diese ist dem aus der Sünde entstandenen Gesetz
unterworfen.»
«Du hast gut geantwortet! Die
Seele inkarniert sich im menschlichen Körper und bringt mit sich, als geheime
Perle, im Geheimnis ihres geistigen Seins, die Erinnerung an das
Schöpfer-Wesen, also die Wahrheit. Das Kind wird geboren. Es kann gut, sehr
gut und ebenso treulos werden. Alles kann es werden, weil es frei ist in
seinem Willen. Über seine "Erinnerungen" wirft der dienende Engel sein Licht
und der Verführer seine Finsternis. Je nachdem der Mensch nach dem Licht
verlangt und damit auch nach immer größeren Tugenden, wird die Seele Herrin
seines Wesens, und es vermehrt sich in ihr das Erinnerungsvermögen, so als ob
die Tugend die Wand immer dünner werden ließe, die zwischen die Seele und Gott
besteht. Deshalb fühlen die Tugendhaften aller Länder die Wahrheit, zwar nicht
vollkommen, weil sie getrübt wird durch gegensätzliche Lehren oder tödliche
Unkenntnis, aber doch in ausreichendem Maß, um den Völkern, denen sie
angehören, Anhaltspunkte für eine sittliche Bildung geben zu können. Hast du
verstanden? Bist du überzeugt?»
«Ja! Zusammengefaßt: die Religion
der heroisch geübten Tugenden bereitet die Seele auf die wahre Religion und
die Erkenntnis Gottes vor.»
«Genau so ist es! Nun geh zur
Ruhe und sei gesegnet, und auch du, Mutter, und ihr, Schwestern und
Jüngerinnen. Der Friede Gottes sei über eurer Ruhe!»
334. AUF DEM WEG NACH BOZRAH
Der Kaufmann hat recht gehabt.
Einen schöneren Tag hätte der Oktober den Pilgern nicht schenken können. Alle
die leichten Nebel, die die Felder verhüllten, als habe die Natur in der Nacht
einen Schleier über den Schlaf der Pflanzen ausbreiten wollen, haben sich
aufgelöst, und die Landschaft zeigt sich in der majestätischen Ausdehnung
ihrer bebauten Felder, welche die Sonne erwärmt. Es scheint, als ob sich die
Nebel versammelt hätten, um die fernen Gipfel mit einem durchsichtigen Schaum
zu schmücken, um sie noch undeutlicher am heiteren Himmel erscheinen zu
lassen.
«Sind das Berge, die wir noch
besteigen müssen?» fragt Petrus besorgt.
«Nein, nein! Es sind die Berge
des Hauran. Wir bleiben in der Ebene, diesseits davon. Gegen Abend werden wir
in Bozrah der Hauranitis sein.
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Eine schöne und gute Stadt. Viel
Handel», tröstet der Kaufmann und lobt sie, er, für den die Grundlage der
Schönheit eines Ortes immer die Blüte des Handels ist.
Jesus ist ganz allein
zurückgeblieben, wie er es manchmal tut, wenn er abgeschieden sein will.
Margziam wendet sich mehrmals um, um nach ihm zu sehen. Schließlich kann er
nicht mehr widerstehen. Er verläßt Petrus und Johannes des Zebedäus, setzt
sich am Straßenrand auf einen Markstein, der ein römisches Militärmal sein
muß, und wartet. Als Jesus bei ihm angekommen ist, erhebt sich der Knabe und
geht, ohne etwas zu sagen, an seiner Seite, bleibt dann ein wenig zurück, um
ihm nicht einmal durch seinen Anblick lästig zu fallen, und beobachtet,
beobachtet ...
Er fährt fort, still zu
beobachten, bis Jesus seine Betrachtung beendet hat, sich umwendet, da er die
leichten Schritte hinter seinem Rücken wahrnimmt, und lächelt. Die Hand nach
dem Knaben ausgestreckt, sagt er: «Oh, Margziam! Was machst du hier so ganz
allein?»
«Ich habe dich beobachtet. Seit
Tagen schon beobachte ich dich. Alle haben Augen, aber nicht alle sehen das
gleiche. Ich habe gesehen, daß du dich immer wieder absonderst... Die ersten
Tage habe ich gedacht, irgend jemand hätte dich beleidigt. Dann habe ich
gesehen, daß du es immer zur gleichen Stunde tust, und daß die Mutter, die
dich immer tröstet, wenn du traurig bist, nichts zu dir sagt, wenn du diesen
Gesichtsausdruck annimmst. Im Gegenteil, wenn sie gerade spricht, dann
schweigt sie und sammelt sich tief. Ich sehe es, weißt du? Denn ich schaue
immer auf dich und auf sie, um das zu tun, was ihr tut. Ich habe die Apostel
gefragt, was du tust, denn gewiß tust du etwas. Sie haben mir gesagt: "Er
betet." Und ich habe gefragt: "Was sagt er?" Niemand hat mir antworten können,
denn sie wissen es nicht. Sie sind seit Jahren bei dir und wissen es nicht.
Heute bin ich hinter dir hergegangen, jedesmal, wenn ich gesehen habe, daß du
diesen Gesichtsausdruck angenommen hast. Ich habe dich beobachtet, als du
gebetet hast. Aber es ist nicht immer das gleiche Gesicht. Heute morgen, bei
Sonnenaufgang, schienst du ein Engel des Lichtes zu sein. Du hast die Dinge
mit Augen betrachtet, die sie heller erstrahlen ließen, als dies die Sonne
hätte tun können. Die Dinge und die Menschen. Dann hast du zum Himmel
aufgeschaut und mit dem Gesicht, das du hast, wenn du bei Tisch das Brot
opferst. Später, als wir durch das Dorf gingen, hast du dich abgesondert, und
du schienst mir ein Vater zu sein, so eifrig warst du bemüht, im Vorübergehen
den Armen des Dorfes gute Worte zu sagen. Zu einem hast du gesagt: "Ertrage es
in Geduld, denn bald will ich dir und allen deinesgleichen helfen." Es war der
Sklave des häßlichen Mannes, der seine Hunde auf uns gehetzt hat. Dann,
während das Essen vorbereitet wurde, hast du uns mit Augen voller Güte und
Liebe angeschaut. Du warst wie eine Mutter... Aber jetzt ist dein Gesicht voll
Schmerz gewesen. Was denkst du in dieser Stunde, Jesus, immer wenn du
261
so bist? ... Denn auch manchmal
abends, wenn ich nicht schlafe, sehe ich dich sehr ernst. Sage mir, wie du
betest und worum du betest?»
«Gewiß werde ich es dir sagen.
Dann wirst auch du mit mir beten können. Den Tag gibt uns Gott. Den ganzen:
den hellen wie den dunklen Tag, den Tag und die Nacht. Es ist ein Geschenk, zu
leben und das Licht zu haben. Die Art, wie man lebt, ist eine Art der
Heiligung. Nicht wahr? Daher muß man alle Augenblicke des Tages heiligen, um
sich in Heiligkeit zu bewahren und im Herzen den Allerhöchsten und alle seine
Güte gegenwärtig zu haben und zugleich den Dämon fernzuhalten. Beobachte die
Vögel. Beim ersten Strahl der Sonne singen sie. Sie preisen das Licht. Auch
wir müssen das Licht preisen, das ein Geschenk Gottes ist, und Gott preisen,
der es uns schenkt und der selbst Licht ist. Wir müssen nach ihm verlangen vom
ersten Licht des Morgens an, fast wie um ein Siegel des Lichtes, eine Note des
Lichtes auf den ganzen kommenden, eben aufbrechenden Tag zu drücken, auf daß
er lichtvoll und heilig sei, und uns mit der ganzen Schöpfung vereinigen, um
dem Schöpfer zuzujubeln. Dann, wenn die Stunden vergehen und wir wahrnehmen,
wieviel Schmerz und Unwissenheit in der Welt ist, müssen wir wieder beten,
damit der Schmerz behoben werde, die Unwissenheit schwinde und Gott erkannt,
geliebt und von allen Menschen angebetet werde, denn wenn sie Gott erkennen
würden, wären sie auch in ihrem Leid immer getröstet. In der sechsten Stunde
beten wir aus Liebe zur Familie. Wir erfreuen uns dieses Geschenkes, vereint
zu sein mit denen, die uns lieben, denn auch das ist eine Gnade Gottes, und
wir beten, daß die Nahrung sich nicht von Nutzen in Sünde wandle. Bei
Sonnenuntergang beten wir und denken daran, daß der Tod der Sonnenuntergang
ist, der uns alle erwartet. Beten wir, daß unser Sonnenuntergang, der jedes
Tages oder der des Lebens, sich immer mit der Seele im Stand der Gnade
vollende. Dann, wenn die Lichter angezündet werden, beten wir, um für den
vollendeten Tag zu danken und um Schutz und Verzeihung zu erbitten, damit wir
uns zur Ruhe legen können ohne Furcht vor einem unvorhergesehenen Gericht oder
vor dämonischen Angriffen. Wir beten schließlich auch in der Nacht – aber das
gilt nur für die, die keine Kinder mehr sind – um für die Sünden, die in der
Nacht begangen werden, zu sühnen, um Satan von den Schwachen fernzuhalten,
damit die Schuldigen besinnlich werden und bereuen und damit ihre guten
Vorsätze beim ersten Sonnenstrahl Wirklichkeit werden. Siehst du, wie und
warum ein Gerechter während des ganzen Tages betet.»
«Aber du hast mir nicht gesagt,
warum du dich zur neunten Stunde so ernst und gemessen absonderst ...»
«Weil... ich sage: "Durch das
Opfer dieser Stunde möge dein Reich in die Welt kommen, und alle, die an dein
Wort glauben, seien erlöst." Sage auch du so!»
«Welches Opfer meinst du? Den
Weihrauch? Du hast gesagt, daß man
262
diesen morgens und abends opfert.
Die Opfertiere werden jeden Tag zur gleichen Stunde auf dem Altar des Tempels
dargebracht. Die Opfer aufgrund von Gelübden und zur Sühne werden zu jeder
Stunde dargebracht. Die neunte Stunde ist nicht mit einem besonderen Ritus
verbunden.»
Jesus bleibt stehen und nimmt den
Knaben an beiden Händen, hält ihn vor sich hin und sagt mit erhobenem Antlitz,
als ob er einen Psalm sprechen würde: «Und zwischen der sechsten und der
neunten Stunde wird der, der gekommen ist als Retter und Erlöser, der, von dem
die Propheten sprechen, sein Opfer vollenden, nachdem er das bittere Brot des
Verrates gegessen und das süße Brot des Lebens gegeben hat; nachdem er sich
selbst wie eine Weintraube in der Kelter ausgepreßt und mit sich selbst die
Menschen und Pflanzen getränkt hat; nachdem er sich purpurn wie ein König mit
seinem Blut bekleidet hat, sich umkränzt und das Zepter ergriffen und seinen
Thron zum erhöhten Ort getragen hat, damit Sion, Israel und die Welt ihn sehe.
Erhöht im Purpurgewand seiner unendlichen Wunden, in der Finsternis, um das
Licht zu bringen, im Tod, um das Leben zu geben, wird er um die neunte Stunde
sterben; und dann wird die Welt erlöst sein.»
Margziam blickt ihn erschrocken
an. Er ist bleich geworden, seine Lippen zucken, und in seinen bestürzten
Augen sind Tränen zu sehen. Mit unsicherer Stimme fragt er: «Aber der Erlöser
bist doch du? Dann wirst du also zu dieser Stunde sterben?» Die Tränen
beginnen über die Wangen herabzurollen, und der kleine Mund trinkt sie,
während er halbgeöffnet einen Widerruf erwartet.
Doch Jesus sagt: «Ich werde es
sein, kleiner Jünger. Auch für dich.» Doch, da das Kind in krampfhaftes
Schluchzen ausbricht, zieht er es an sich und sagt: «Schmerzt es dich so sehr,
daß ich sterben muß?»
«Oh, meine einzige Freude! Ich
will es nicht! Ich... Laß mich an deiner Stelle sterben...»
«Du mußt mich in der ganzen Welt
verkünden. So ist es bestimmt. Aber höre! Ich werde glücklich sterben, weil
ich weiß, daß du mich liebst, und dann werde ich auferstehen. Erinnerst du
dich an Jonas? Er kam schöner, ausgeruhter und stärker aus dem Bauch des
Walfisches hervor. Auch bei mir wird es so sein, und ich werde sofort zu dir
kommen und sagen: "Kleiner Margziam, deine Tränen haben meinen Durst gestillt.
Deine Liebe hat mir im Grab Gesellschaft geleistet. Nun komme ich, um dir zu
sagen: 'Sei mein Priester"', und ich werde dich küssen, während noch der Duft
des Paradieses an mir haftet.»
«Aber ich, wo werde ich sein?
Nicht bei Petrus? Nicht bei der Mutter?»
«Ich werde dich vor der
höllischen Sturzflut dieser Tage bewahren. Die Schwächsten und die
Unschuldigsten werde ich retten. Einen ausgenommen ... Margziam, kleiner
Apostel, willst du mir helfen und mit mir für diese Stunde beten?»
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«O ja, Herr! Und die anderen?»
«Das ist ein Geheimnis zwischen
dir und mir. Ein großes Geheimnis. Denn Gott liebt es, sich den Kleinen zu
offenbaren. Weine nicht mehr! Freue dich, indem du daran denkst, daß ich
nachher nie mehr leiden und mich nur noch an alle Liebe der Menschen erinnern
werde. Komm, komm! Schau, wie weit entfernt die anderen sind. Wir müssen uns
beeilen, um sie einzuholen», und er stellt ihn auf den Boden und beginnt, ihn
an der Hand haltend, eiligst zu gehen, bis sie die Gruppe erreicht haben.
«Meister, was hast du getan?»
«Ich habe Margziam die Stunden
des Tages erklärt.»
«Und der Knabe hat geweint? Er
wird wohl böse gewesen sein, und du entschuldigst ihn aus Güte», sagt Petrus.
«Nein, Petrus! Er hat mich beim
Beten beobachtet. Ihr habt es nicht getan. Er hat mich nach dem Grund meines
Betens gefragt. Ich habe ihm alles erklärt. Das Kind war gerührt durch meine
Worte. Nun laßt es in Ruhe. Geh zu meiner Mutter, Margziam, und ihr, hört mir
alle zu. Die Lehre wird auch euch nicht schaden.»
Jesus erklärt aufs neue die
Notwendigkeit des Gebetes in den wichtigsten Stunden des Tages, wobei er die
Erklärung der neunten Stunde unterläßt und mit den Worten schließt: «Die
Vereinigung mit Gott besteht darin, ihn in jedem Augenblick gegenwärtig zu
haben, um ihn zu loben oder ihn anzuflehen. Tut dies, und ihr werdet im
geistigen Leben Fortschritte machen.»
Bozrah ist schon nahe. Die sich
über die weite Ebene ausbreitende Ortschaft mit ihren Mauern und Türmen
scheint groß und schön zu sein. Der Abend sinkt hernieder und wirft über die
Farben der Häuser und der Landschaft einen grauvioletten Schleier voller
Sehnsucht, unter dem die Umrisse verfließen, während das Blöken der Schafe und
das Grunzen der Schweine, die vor den Mauern in den Hürden eingeschlossen
sind, die Stille der Landschaft unterbrechen. Eine Stille, die sofort endet,
als die Karawane durch das Tor gezogen ist und sich nun in dem Gewirr von
Straßen befindet, das jeden enttäuscht, der die Stadt von außen für schön
gehalten hat. Stimmen, Gerüche und... Gestank erfüllen die gewundenen Gäßlein
und begleiten die Pilger bis zu einem Platz, sicher ein Marktplatz, auf dem
sich eine Herberge befindet.
Die Ankunft in Bozrah ist
erfolgt.
264
335. IN BOZRAH
Bozrah zeigt sich am Morgen in
Nebel gehüllt, bedingt durch die Jahreszeit und auch durch die Enge seiner
Gassen. Es ist glanzlos und sehr schmutzig. Die Apostel, die von ihren
Einkäufen auf dem Marktplatz zurückkehren, sprechen untereinander darüber.
Denn die Beherbergung zu jener Zeit und an manchen Orten ist derart
vorsintflutlich, daß jeder selbst an seine Verproviantierung denken muß; das
heißt, daß die Wirte auch nicht das geringste dazu beitragen wollen. Sie
beschränken sich darauf, das zu kochen, was die Gäste selbst herbeibringen.
Hoffen wir, daß sie nichts davon für sich behalten. Höchstens gehen sie für
den Gast Proviant einkaufen oder verkaufen ihm diesen aus ihren Vorräten, und
im Bedarfsfall schlachten sie auch selbst die armen Schäflein, die dazu
bestimmt sind, gebraten zu werden.
Petrus fühlt sich vom Wirt
hintergangen und streitet noch immer mit dem Mann, der ein Gaunergesicht hat,
den Apostel hochfahrend behandelt und ihn "Galiläer" schimpft, so daß dieser,
auf ein Schweinchen deutend, das gerade auf Kosten der Gäste geschlachtet
worden ist, entgegnet: «Ich bin Galiläer, und du ein Schwein, ein Heide bist
du! In deiner stinkenden Herberge würde ich nicht eine Stunde bleiben, wenn
ich mein eigener Herr wäre. Dieb und... (und hier fügt er noch ein anderes
Wort hinzu, das ich lieber nicht niederschreibe).»
Ich schließe daraus, daß zwischen
den Leuten in Bozrah und den Galiläern eine jener vielen regionalen oder
religiösen Unstimmigkeiten besteht, deren es in Israel oder besser in
Palästina viele gab.
Der Wirt schreit lauter: «Wenn du
nicht mit dem Nazarener wärst und ich nicht besser wäre als eure schmutzigen
Pharisäer, die ihn grundlos hassen, würde ich dir dein Maul mit dem Blut des
Schweines waschen, damit du von hier verschwinden müßtest, um zur Reinigung zu
laufen. Doch ich achte ihn, dessen Macht gewiß ist, und ich sage dir, daß ihr
trotz all eurer Geschichten nur Sünder seid. Wir sind besser als ihr. Wir
legen keine Hinterhalte, wir verraten nicht, ihr ungerechten Verräter und
Schurken, die ihr nicht einmal die wenigen Heiligen achtet, die unter euch
sind.»
«Wir sind die Verräter? Wir? Ach!
Das ist die Höhe, aber jetzt...»
Petrus ist außer sich und will
sich auf ihn stürzen, während sein Bruder und Jakobus ihn zurückhalten und
Simon der Zelote sich mit Matthäus zwischen beide stellt.
Aber mehr als ihr
Dazwischentreten vermag die Stimme Jesu, der an einer Tür erscheint und
befiehlt: «Genug jetzt, Simon, schweige! Und, Mann, schweige ebenfalls!»
«Herr, dieser Wirt hat sich
aufgedrängt und mich beleidigt.»
«Nazarener, ich wurde zuerst
beleidigt.»
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Ich, er, er und ich, jeder der
beiden Schuldigen versucht die Schuld auf den anderen zu schieben. Jesus tritt
ernst und ruhig vor.
«Ihr habt beide unrecht und du,
Simon, mehr als er! Denn du kennst die Lehre der Liebe, der Vergebung, der
Sanftmut, der Geduld und der Brüderlichkeit. Um nicht als Galiläer
geringgeschätzt zu werden, muß man sich als Heiliger achtenswert machen, und
du, Mann, wenn du glaubst, besser als die anderen zu sein, dann lobe Gott und
werde noch besser. Vor allem beschmutze deine Seele nicht mit verlogenen
Anklagen. Meine Jünger verraten nicht und drängen sich nicht auf.»
«Bist du dessen sicher,
Nazarener? Warum sind denn die vier gekommen, um mich zu fragen, ob du hier
wärest, wer mit dir sei und vieles andere mehr?»
«Wer? Was? Wer sind sie? Wo sind
sie?» Die Apostel eilen herbei und vergessen, daß sie sich einem nähern, der
mit dem Blut eines Schweines befleckt ist, von dem sie sich zuvor entsetzt
fernhielten.
«Kehrt zu euren Aufgaben zurück!
Du, Misaze, bleibe!»
Die Apostel gehen in den Raum,
aus dem Jesus gekommen ist, und im Hof stehen sich nur Jesus und der Wirt
gegenüber. Einige Schritte von Jesus entfernt beobachtet der Kaufmann
verblüfft die Szene.
«Antworte, Mann, und sei
aufrichtig! Verzeihe, wenn das Blut die Zunge eines meiner Jünger vergiftet
hat. Wer sind jene vier und was haben sie gefragt?»
«Wer sie sind, weiß ich nicht
genau. Aber gewiß Schriftgelehrte und Pharisäer von der anderen Seite. Wer sie
hierher gebracht hat, weiß ich nicht. Ich habe sie nie gesehen. Aber sie
wissen gut über dich Bescheid. Sie wissen, woher du kommst, wohin du gehst,
mit wem du zusammen bist... Doch sie wollten dies von mir bestätigt haben.
Nein! Man kann mich anklagen, ein Schurke zu sein, aber ich kenne mein
Handwerk. Ich kenne niemanden, sehe nichts und weiß nichts, das gilt
selbstverständlich für die anderen, denn für mich weiß ich alles. Aber warum
soll ich den anderen sagen, was ich weiß, und besonders diesen Scheinheiligen?
Schurke, ich? Ja! Im Bedarfsfall unterstütze ich auch die Diebe. Du weißt es
ja... Aber ich könnte nicht entfernt daran denken, dir die Freiheit, die Ehre
und das Leben zu rauben. Sie aber – ich will nicht mehr Fara des Ptolemäus
sein, wenn das nicht wahr ist – sie stellen dir nach, um dir Böses anzutun.
Und wer schickt sie uns? Vielleicht einer von Peräa oder von der Dekapolis?
Vielleicht einer von Trachonitis oder Gaulanitis oder Hauranitis? Nein!
Entweder kennen wir dich nicht, oder wenn wir dich kennen, dann achten wir
dich als einen Gerechten, wenn wir nicht an dich als einen Heiligen glauben.
Wer hat sie also gesandt? Einer von deinen Freunden vielleicht, denn sie
wissen zuviel...»
«Meine Karawane zu kennen, ist
nicht schwer...» sagt Misaze.
«Nein, Kaufmann! Ich spreche
nicht von dir, sondern von den anderen,
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die mit Jesus sind. Ich weiß
nichts und will nichts wissen. Ich sehe nichts und will nichts sehen. Doch ich
sage dir: wenn du weißt, daß du schuldig bist, dann sorge vor; wenn du weißt,
daß du verraten wirst, dann nimm dich in acht.»
«Ich bin weder schuldig, Mann,
noch bin ich verraten worden. Fest steht aber, daß Israel mich nicht versteht.
Doch du, woher weißt du von mir?»
«Durch einen Knaben, einen
Taugenichts, der in ganz Bozrah und Arbela von sich reden machte. Hier, weil
er kam, um seine Sünden zu begehen, dort, weil er seine Familie entehrte.
Danach hat er sich bekehrt. Er ist ehrbarer als ein Gerechter geworden, und
jetzt ist er als Jünger unter deinen Jüngern und wartet auf dich in Arbela, um
dir mit Vater und Mutter zu huldigen. Er erzählt allen, daß du durch das Gebet
seiner Mutter sein Herz gewandelt hast. Philippus des Jakob heißt er, und wenn
diese Gegend je heilig werden sollte, so ist es sein Verdienst. Wenn in Bozrah
jemand ist, der an dich glaubt, so ist es seinetwegen.»
«Wo befinden sich nun die
Schriftgelehrten, die gekommen sind?»
«Ich weiß es nicht. Sie sind
weggegangen, weil ich gesagt habe, daß hier kein Platz für sie sei. Ich hatte
genügend Platz. Aber ich wollte keine Schlangen in der Nähe der Taube
beherbergen. Sie sind bestimmt noch in der Gegend. Sei vorsichtig!»
«Ich danke dir, Mann. Wie heißt
du?»
«Fara. Ich habe meine Pflicht
getan, erinnere dich meiner.»
«Ja, und du, erinnere dich an
Gott, und verzeih meinem Simon, denn große Liebe zu mir macht ihn manchmal
blind.»
«Macht nichts, auch ich habe ihn
beleidigt... Aber es tut weh, beschimpft zu werden. Du beleidigst nicht...»
Jesus seufzt... Dann sagt er:
«Willst du dem Nazarener helfen?»
«Wenn ich kann...»
«Ich würde gern in diesem Hof
sprechen ...»
«Ich werde dich reden lassen.
Wann?»
«Zwischen der sechsten und der
neunten Stunde.»
«Geh ruhig deines Weges. Bozrah
wird erfahren, daß du sprechen wirst, dafür sorge ich.»
«Gott möge es dir vergelten», und
Jesus schenkt ihm ein Lächeln, das schon ein Lohn ist. Dann kehrt er in den
Raum zurück, in dem er sich vor dem Zwischenfall aufgehalten hatte.
Alexander Misaze sagt: «Meister,
lächle auch mir so zu... Auch ich will gehen und den Bürgern sagen, daß sie
kommen sollen, den anzuhören, der die Güte selbst ist. Ich kenne viele. Leb
wohl!»
«Auch dir möge es Gott
vergelten», sagt Jesus und lächelt ihm zu. Dann betritt er den Raum. Die
Frauen sind um Maria geschart, deren Antlitz traurig ist und die sich sofort
erhebt, um dem Sohn entgegenzugehen. Sie
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sagt nichts, aber alles an ihr
ist eine Frage. Jesus lächelt ihr zu und antwortet ihr, indem er sich allen
zuwendet: «Sorgt dafür, daß ihr um die sechste Stunde frei seid. Ich werde
hier zu vielen Menschen reden. Nun geht alle, mit Ausnahme von Simon Petrus,
Johannes und Ermastheus; kündigt mich an und verteilt viele Almosen.»
Die Apostel gehen fort.
Petrus nähert sich langsam Jesus,
der bei den Frauen steht, und fragt: «Warum nicht auch ich?»
«Wenn man zu impulsiv ist, bleibt
man zu Hause. Simon, Simon! Wann wirst du endlich deine Liebe dem Nächsten
schenken können! Jetzt ist sie eine Flamme, die nur für mich brennt; sie ist
eine Klinge, gerade und hart, aber nur für mich. Sei sanftmütig, Simon des
Jonas!»
«Du hast recht, Herr! Deine
Mutter hat mich schon zurechtgewiesen, wie nur sie es kann, ohne mir weh zu
tun. Aber ihre Worte sind tief in mein Herz gedrungen. Daher... tadle auch du
mich, aber schau mich nicht mehr so traurig an.»
«Sei gut, sei gut... Syntyche,
ich möchte mit dir allein sprechen. Komm auf die Terrasse. Komm auch du,
Mutter...»
Auf der rustikalen Terrasse, die
einen Flügel des Gebäudes einnimmt, geht Jesus in der warmen Sonne zwischen
Maria und der Griechin langsam auf und ab und sagt: «Morgen werden wir uns für
einige Zeit trennen. Von Arbela aus geht ihr Frauen, zusammen mit Johannes von
Endor, in Richtung auf das Meer von Galiläa, und dann weiter bis nach
Nazareth. Aber um euch nicht mit einem fast hilflosen Mann allein
gehenzulassen, werden euch auch meine Brüder und Simon Petrus begleiten. Ich
weiß schon jetzt, daß es etwas Unwillen geben wird wegen der Trennung. Aber
Gehorsam ist die Tugend des Gerechten. Durch die Ländereien, die Chuza im
Namen des Herodes verwaltet, kann Johanna eine Begleitung für den Rest des
Weges bekommen. Dann könnt ihr die Söhne des Alphäus und Simon Petrus
zurückschicken. Aber der eigentliche Grund, weshalb ich dich hier
heraufgebeten habe, ist dieser: Ich wollte dir sagen, Syntyche, daß ich für
dich einen Aufenthalt im Haus meiner Mutter beschlossen habe. Sie weiß es
schon. Mit dir werden auch Johannes von Endor und Margziam bei ihr sein.
Bleibt frohen Mutes und bildet euch immer mehr in der Weisheit. Ich möchte,
daß du dich viel um den armen Johannes kümmerst. Meiner Mutter sage ich das
nicht, denn sie bedarf keiner Ratschläge. Du wirst Johannes verstehen und
bemitleiden, und er kann dir viel Gutes tun, denn er ist ein erfahrener
Lehrer. Dann werde ich kommen. Bald! Wir werden uns oft sehen, und ich hoffe,
dich immer weiser in der Wahrheit zu finden. Ich segne dich ganz besonders,
Syntyche. Dies ist mein Abschiedsgruß für dich. In Nazareth wirst du Liebe und
Haß antreffen, wie überall. Aber in meinem Haus wirst du Frieden finden.
Immer.»
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«Nazareth wird nichts wissen und
ich werde nichts beachten. Ich werde mich von der Wahrheit nähren, und die
Welt wird mir nichts gelten, Herr.»
«Laß es dir wohl sein, gehe nur,
Syntyche, und schweige vorerst darüber. Mutter, du weißt... Ich vertraue dir
diese meine teuersten Perlen an. Während wir unter uns im Frieden sind,
Mutter, laß deinen Jesus sich an deinen Liebeserweisen stärken.»
«Wieviel Haß, mein Sohn!»
«Wieviel Liebe!» «Wieviel Bitterkeit, mein lieber Jesus!» «Wieviel Süßigkeit!»
«Wieviel Unverständnis, mein Geschöpf.» «Wieviel Verständnis, Mutter!»«Oh,
mein Schatz, mein teurer Sohn!» «Mutter, Freude Gottes und meine Freude!
Mutter!»
Sie küssen sich und bleiben
nebeneinander auf der Steinbank am Mäuerchen der Terrasse sitzen. Jesus hat
die Mutter beschützend und liebevoll umarmt, und sie hat das Haupt an seine
Schulter gelegt, ihre Hände in der seinen. Sie sind glücklich... Die Welt ist
fern... begraben von Wogen der Liebe und Treue...
336. DIE PREDIGT UND DIE WUNDER
IN BOZRAH
Die Welt ist auch so nahe mit
ihren Wellen des Hasses, des Verrates, des Schmerzes, der Nöte, der Neugier.
Wie die Wellen des Meeres im Hafen auslaufen, so gelangt das Volk in den
Innenhof der Herberge von Bozrah, den der Wirt, dessen Herz besser ist, als
sein Gesicht es vermuten ä t, von Schmutz und Abfällen gereinigt hat. Viel
Volk aus dem Ort und aus der Umgebung strömt herbei. Es sind Menschen
darunter, die, nach ihrer Sprache zu schließen, von weither gekommen sind, von
den Ufern des Sees oder von jenseits des Sees. Ortsnamen und Bruchstücke von
schmerzlichen Begebenheiten entnehme ich den Gesprächen, die in Erwartung Jesu
geführt werden: Gadara, Hippos, Gergesa, Gamala, Apheca, Naim, Endor, Jezrael,
Magdala und Chorazim gehen von Mund zu Mund, und mit ihnen die Erzählungen
über die Gründe dieser weiten Reisen.
«Als ich erfuhr, daß er sich
jenseits des Jordan befindet, war ich entmutigt. Aber während ich dabei war,
nach Jezrael zurückzukehren, sind Jünger gekommen; und sie haben uns, die wir
in Kapharnaum warteten, gesagt: "Zu dieser Stunde ist er sicher jenseits von
Gerasa. Verliert keine Zeit und geht nach Bozrah oder nach Arbela"; so bin ich
mit ihnen gekommen...»
269
«Ich hingegen komme aus Gadara.
Ich habe Pharisäer vorbeigehen sehen, die fragten, ob Jesus von Nazareth in
der Gegend sei. Ich habe eine kranke Frau und habe mich ihnen angeschlossen.
Gestern in Arbela habe ich erfahren, daß er zuerst nach Bozrah kommen würde,
und bin hierher geeilt.»
«Ich komme von Gamala dieses
Kindes wegen. Eine rasende Kuh hat es mit dem Huf getroffen. Seht...», und er
zeigt seinen Sohn, ganz verkrampft und unfähig, auch nur die Arme frei zu
bewegen.
«Ich habe den meinigen gar nicht
tragen können. Ich komme von Mageddo. Was sagt ihr? Wird er ihn mir auch von
hier aus heilen?» seufzt eine Frau mit von Tränen geröteten Augen.
«Aber der Kranke sollte hier
sein!»
«Nein, es genügt, Glauben zu
haben!»
«Nein! Wenn er seine Hände nicht
auflegt, wird man nicht geheilt. Auch seine Jünger machen es so.»
«Du hast einen langen Weg umsonst
gemacht, Frau!»
Die Frau weint und sagt: «Oh, ich
Unglückliche! Ich habe ihn fast sterbend zurückgelassen in der Hoffnung... Nun
wird er ihn nicht heilen, und ich werde ihn in der Sterbestunde nicht trösten
können ...»
Eine andere Frau tröstet sie:
«Glaube das nicht, Frau. Ich komme, um ihm zu danken, denn für mich hat er ein
großes Wunder gewirkt, ohne den Berg zu verlassen, auf dem er sprach.»
«An welcher Krankheit litt dein
Sohn?»
«Es war nicht der Sohn. Es war
mein Mann, der wahnsinnig geworden war...» und die beiden fahren fort, leise
miteinander zu reden.
«Es ist wahr. Auch der Sohn der
Mutter in Arbela wurde befreit, ohne daß der Meister ihn gesehen hatte», sagt
einer aus Arbela, und fährt fort mit seinen Nachbarn zu reden...
«Macht Platz, habt Erbarmen!
Platz!» schreien die Träger einer ganz zugedeckten Bahre.
Die Menge bahnt einen Weg, und
die Bahre mit ihrer traurigen Last wird nach hinten getragen, wo man sie bei
einem Strohhaufen niederlegt. Liegt wohl ein Mann oder eine Frau auf der
Bahre? Wer weiß?
Es kommen zwei Pharisäer herein,
aufgeblasen, gut aussehend und hochmütiger denn je. Sie bestürmen den armen
Wirt wie zwei Irre und schreien ihn an: «Verfluchter Lügner! Warum hast du
gesagt, daß er nicht da sei? Bist du sein Helfershelfer? Verhöhnst du uns so,
die Heiligen Israels, um wem den Vorzug zu geben ... ? Was weißt du schon, wer
er ist? Was bedeutet er dir?»
«Wer er ist? Er ist das, was ihr
nicht seid. Aber ich habe nicht gelogen. Er traf wenige Stunden nach eurer
Ankunft hier ein, und er hat sich nicht verborgen, und auch ich verberge ihn
nicht. Aber da ich hier der Herr bin, sage ich euch: "Hinaus aus meinem Haus!"
Man beleidigt hier den Nazarener
270
nicht, habt ihr verstanden? Und
wenn ihr die Worte nicht verstehen wollt, kann ich auch handgreiflich werden,
ihr Schakale!»
Der kräftige Wirt scheint
wirklich zur Tat übergehen zu wollen, so daß die beiden Pharisäer den Ton
ändern und sich wie von einer Peitsche bedrohte Hunde benehmen.
«Aber wir suchen ihn, um ihm Ehre
zu erweisen! Was glaubst du denn? Wir wurden nur wütend, weil wir dachten, ihn
durch deine Schuld nicht sehen zu können. Wir wissen, wer er ist: der heilige
und gesegnete Messias, zu dem den Blick zu erheben wir nicht würdig sind. Wir
sind Staub, und er ist die Herrlichkeit Israels. Führe uns zu ihm. Unsere
Seele brennt danach, sein Wort zu hören.»
Der Wirt versteht es wunderbar,
die Pharisäer nachzumachen, und sagt: «Oh, schau! Wie konnte ich nur annehmen,
daß es nicht so sei, ich, der ich doch den Ruf der Pharisäer bezüglich
Gerechtigkeit vom Hörensagen kenne? Gewiß, ihr seid gekommen, ihm zu huldigen!
Ihr brennt vor Sehnsucht, dies zu tun. Ich will hingehen und es ihm berichten.
Ich gehe... Nein, zum Teufel! Du kommst nicht mit, und auch du nicht, sonst
schleudere ich euch zu Boden, ihr alten giftigen Mumien. Ihr bleibt hier! Du
hier, wo ich dich hinstelle, und du hier! Ich bedaure nur, daß ich euch nicht
bis zum Hals in die Erde schlagen kann, um mich eurer als Pfahl zu bedienen
und die Schweine daran festzubinden, wenn ich sie schlachte.»Er setzt seine
Worte auch gleich in die Tat um, indem er zuerst den einen der
eingeschüchterten Pharisäer an den Schultern packt, ihn in die Höhe hebt und
dann so heftig zu Boden stellt, daß er bis zu den Knöcheln in der Erde stecken
würde, wenn der Boden nicht so hart wäre. Aber der Boden ist hart, und der
Pharisäer bleibt nach der gewaltigen Erschütterung so erstarrt stehen, als
wäre er eine Puppe. Dann nimmt der Wirt den anderen, obwohl dieser ziemlich
beleibt ist, hebt ihn in die Höhe und stellt ihn mit der gleichen Wut nieder,
und da dieser reagiert und sich losreißt, läßt er ihn nicht aufrecht stehen,
sondern stößt ihn nieder, daß er sitzen bleibt: ein Paket Fleisch und Stoff...
Dann geht er weg und sagt ein häßliches Wort, das sich aber im Gejammer der
beiden und im Gelächter der anderen verliert. Er geht durch einen Flur und
über einen kleinen Hof, nimmt eine Leiter, steigt auf einen Balkon und gelangt
von dort in einen großen Raum, wo Jesus mit den Seinen und dem Kaufmann das
Mahl beendet.
«Zwei von den vier Pharisäern
sind schon angekommen. Richte dich danach. Vorläufig habe ich mit ihnen
abgerechnet. Sie wollten hinter mir herkommen, aber ich habe nicht gewollt.
Sie sind jetzt unten im Hof inmitten vieler, vieler Kranker und sonstiger
Leute.»
«Ich komme sofort. Danke, Fara!
Geh nur.»
Alle stehen auf. Doch Jesus
gebietet den Jüngern und auch den Frauen, außer seiner Mutter, Maria Kleophä,
Susanna und Salome, zu bleiben, wo sie sind. Da er den Schmerz sieht, der sich
auf den Gesichtern der
271
Ausgeschlossenen abzeichnet, sagt
er: «Geht auf die Terrasse. Dort hört ihr mich auch.»
Er geht mit den Aposteln und den
vier Frauen den gleichen Weg, den der Wirt gekommen ist, hinaus und betritt
den großen Hof. Die Leute recken die Hälse, um zu sehen, und die Schlauen
steigen auf Strohhaufen, auf abgestellte Wagen und auf den Rand der
Wasserbecken...
Die beiden Pharisäer kommen ihm
mit Verbeugungen entgegen. Jesus grüßt sie mit seinem üblichen Gruß, als wären
sie treue Freunde. Er bleibt jedoch nicht stehen, um ihre heuchlerischen
Fragen zu beantworten: «So wenige seid ihr nur, und ohne Jünger? Haben sie
dich also verlassen?»
Jesus antwortet im Vorbeigehen
ernst: «Niemand hat mich verlassen. Ihr kommt von Arbela, wo ihr dem begegnet
seid, der mir vorausgeht, und in Judäa seid ihr Judas des Simon, Thomas,
Nathanael und Philippus begegnet.»
Der dicke Pharisäer wagt es nicht
mehr, ihm zu folgen, und bleibt plötzlich, rot wie eine glühende Kohle,
stehen. Der andere, etwas frecher, fährt hartnäckig fort: «Es ist wahr! Aber
da wir wissen, daß du deine getreuen Jünger und die Frauen bei dir hast, waren
wir erstaunt, dich mit so wenigen anzutreffen. Wir wollten deine neuen
Errungenschaften sehen, um dich dazu zu beglückwünschen», und lacht höhnisch.
«Meine neuen Errungenschaften?
Hier sind sie!» Jesus macht eine Geste und deutet auf die Menge, die
hauptsächlich aus der Gegend von Bozrah stammt. Dann beginnt er zu reden, ohne
den Pharisäern Zeit zu einer Antwort zu lassen.
«Es haben mich jene aufgesucht,
die mich früher nicht suchten. "Hier bin ich! Hier bin ich!" sagte ich zu
einem Volk, das meinen Namen nicht angerufen hat. Ehre sei dem Herrn, der die
Wahrheit spricht durch den Mund der Propheten! Wahrlich, wenn ich diese Menge
betrachte, die mich umringt, lobe ich den Herrn, denn ich sehe die Versprechen
erfüllt, die der Ewige mir gemacht hat, als er mich in die Welt sandte. Die
Versprechen, die ich selbst mit dem Vater und dem Geist in den Gedanken, auf
den Lippen und in den Herzen der Propheten entzündet habe, jene Versprechen,
die ich schon kannte, bevor ich Fleisch war, und die mich ermutigt haben,
Fleisch anzunehmen. Sie stärken mich. Ja, sie trösten mich über allen Haß,
Groll, Zweifel und über alle Lügen hinweg. Es haben mich die aufgesucht, die
früher nicht nach mir fragten, und es haben mich die gefunden, die mich früher
nicht suchten. Warum das, da doch jene, denen ich die Hand entgegengestreckt
und gesagt habe: "Hier bin ich", mich zurückgewiesen haben? und doch kannten
sie mich, während diese mich nicht kannten. Ja, also?
Hier ist der Schlüssel zum
Geheimnis. Nichtwissen ist keine Schuld, aber Verleugnung ist Schuld. Zu viele
unter denen, die von mir wissen und denen ich die Hand entgegengestreckt habe,
haben mich verleugnet, als
272
ob ich ein Bastard oder ein Dieb
oder ein verderbenbringender Teufel wäre, denn durch ihren Stolz haben sie den
Glauben ausgelöscht und sich verirrt auf den schlechten, krummen, sündhaften
Wegen und haben den Weg verlassen, den ihnen meine Stimme weist. Die Sünde ist
auf den Tellern, in den Betten, in den Herzen und in den Köpfen dieses Volkes,
das mich zurückstößt und das überall seine eigene Unreinheit widergespiegelt
sieht, selbst in mir, und sein Haß vertieft sich noch mehr, so daß es zu mir
sagt: "Entferne dich, du Unreiner."
Was wird dann der sagen, der in
seinem schönen, rot gefärbten Gewand kommt und in der Größe seiner Kraft
einherschreitet? Wird er erfüllen, was Isaias sagt, und nicht schweigen,
sondern in ihren Schoß ergießen, was sie verdienen? Nein! Zuerst muß er seine
Kelter treten, ganz allein, von allen verlassen, um den Wein der Erlösung zu
bereiten, den Wein, der die Gerechten berauscht, um aus ihnen Selige zu
machen, den Wein, der die Schuldigen berauscht, um ihre gotteslästerliche
Macht zu zerstören. Ja, mein Wein, der jetzt Stunde für Stunde an der Sonne
der Ewigen Liebe heranreift, wird Verderbnis und Rettung für viele sein, wie
es in einer Prophezeiung gesagt ist, die noch nicht geschrieben wurde, aber
hinterlegt ist im Felsen ohne Spalt, aus dem der Weinstock, der den Wein des
ewigen Lebens gibt, entsprungen ist.
Versteht ihr mich? Nein! Ihr
versteht mich nicht, o ihr Gelehrten Israels, aber es ist nicht wichtig, daß
ihr mich versteht. Auf euch steigt die Finsternis herab, von der Isaias
spricht: "Sie haben Augen und sehen nicht. Sie haben Ohren und hören nicht."
Ihr schirmt mit euerem Neid das Licht ab, auf daß man sagen kann: Das Licht
ist von der Finsternis zurückgewiesen worden, und die Welt hat es nicht
erkennen wollen.
Ihr aber, frohlockt! Ihr, die ihr
in Finsternis weilend, an das Licht zu glauben verstanden habt, das euch
angekündigt wurde, ihr, die ihr euch nach ihm gesehnt habt, die ihr es gesucht
und gefunden habt. Frohlocke, o Volk der Gläubigen, das du über Berge, Flüsse,
Täler und Seen zum Heil gekommen bist, ohne die Mühe des weiten Weges zu
scheuen. So wirst du auch den anderen, den geistigen Weg gehen, der dich, o
Volk von Bozrah, aus dem Dunkel der Unwissenheit zum Licht der Weisheit führen
wird.
Frohlocke, du Volk der
Hauraniter! Frohlocke in der Freude der Erkenntnis! Wahrlich, auch von dir und
deinen Nachbarvölkern ist gesagt, was der Prophet singt, daß sich eure Kamele
und Dromedare auf den Wegen von Nephthali und Zabulon in Massen drängen
werden, um den wahren Gott anzubeten und um seine Knechte zu sein, im heiligen
und süßen Gesetz, das nichts weiter auferlegt, um göttliche Vaterschaft und
ewige Seligkeit zu schenken, als die zehn Gebote des Herrn: den wahren Gott
mit seinem ganzen Wesen lieben und den Nächsten wie sich selbst; den Sabbat
achten, ohne ihn zu entweihen; die Eltern ehren; nicht töten; nicht stehlen;
keinen Ehebruch begehen; kein falsches Zeugnis ablegen;
273
nicht nach des Nächsten Frau oder
Hab und Gut verlangen. Oh, selig ihr, wenn ihr, von weitem kommend, jene
übertreffen werdet, die im Haus des Herrn waren und es verlassen haben,
angespornt von den zehn Geboten Satans: des Hasses gegen Gott, der Eigenliebe,
der Verachtung des Gottesdienstes, der Härte gegen die Eltern, der Mordgier,
der Seelenverderbnis, der Unzucht mit Satan, des falschen Zeugnisses, des
Neides auf die Person und die Sendung des Wortes, und der schrecklichen Sünde,
die in der Tiefe der Herzen, allzu vieler Herzen, gärt und heranreift.
Jubelt, ihr Dürstenden! Jubelt,
ihr Hungernden! Jubelt, ihr Betrübten! Wart ihr verstoßen? Geächtet?
Verachtet? Wart ihr fremd? Kommt und frohlocket! Jetzt seid ihr es nicht mehr.
Ich gebe euch Haus, Güter, Vaterschaft und Vaterland. Den Himmel gebe ich
euch. Folgt mir nach, der ich Retter und Erlöser bin! Folgt mir nach, der ich
das Leben bin. Folgt mir nach, der ich der bin, dem der Vater keine Gnade
verweigert! Frohlocket in meiner Liebe! Frohlocket! Damit ihr seht, daß ich
euch liebe, euch, die ihr mich mit euren Schmerzen gesucht habt, euch, die ihr
an mich geglaubt habt, noch bevor ihr mich gekannt habt; und damit dieser Tag
zu einem wahren Freudentag werde, bete ich so: "Vater! Heiliger Vater! Ober
alle Wunden, Krankheiten, Ängste, Qualen, Gewissensbisse, über den
entstehenden, den noch wankenden und den sich festigenden Glauben komme Heil,
Gnade und Friede! Friede in meinem Namen! Gnade in deinem Namen! Heil ob
unserer gegenseitigen Liebe! Segne sie, o Heiligster Vater! Sammle und
vereinige sie zu einer einzigen Herde, sie, die deine und meine verlorenen
Söhne sind. Gib, daß wo ich sein werde, auch sie seien, eins mit dir, Heiliger
Vater, mit dir, mit mir und mit dem göttlichen Geist."»
Die wie eine Silbertrompete
schallende Stimme Jesu erschüttert die Menge... Mit in Kreuzesform
ausgebreiteten Armen, die Handflächen nach oben gerichtet und die Augen zum
Himmel erhoben, bleibt Jesus einige Minuten schweigend stehen. Dann wendet er
seine saphirblauen Augen vom Himmel auf den weiten Hof voller Menschen, die
bewegt seufzen oder voller Hoffnung zittern. Er faltet die Hände und streckt
sie nach vorne, und mit einem Lächeln, das ihn verklärt, hebt er zum letzten
Ruf an: «Frohlocket, ihr, die ihr glaubt und hofft! Volk der Leidenden,
auferstehe und liebe den Herrn, deinen Gott!»
Gleichzeitig sind alle Kranken
vollständig geheilt. Ein allgemeines Freudengeschrei und ein Brausen von
Stimmen jubelt dem Erlöser zu. Aus dem Hintergrund des Hofes, das Leintuch,
mit dem sie bedeckt war, hinter sich herziehend, drängt sich eine Frau durch
die Menge und fällt Jesus zu Füßen. Das Volk stößt nun einen Schrei des
Entsetzens aus: «Maria, die aussätzige Frau Joachims ...» und sie entfliehen
in alle Richtungen.
«Fürchtet euch nicht! Sie ist
geheilt und auch die Berührung mit ihr
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kann euch nicht mehr schaden»,
versichert Jesus. Dann wendet er sich zu der vor ihm Liegenden: «Erhebe dich,
Frau! Deine große Hoffnung ist belohnt worden, man verzeiht dir die
Unvorsichtigkeit deinen Brüdern gegenüber. Kehre nach den heilsamen
Reinigungen nach Hause zurück.»
Die junge und noch schöne Frau
weint, während sie sich erhebt. Jesus zeigt sie dem Volk, das nun wieder
näherkommt, das Wunder bestaunt und seine Bewunderung durch Ausrufe kundgibt.
«Ihr Mann, der sie über alles
liebte, hatte ihr einen Unterschlupf an der Grenze seines Besitzes erbaut und
ging jeden Abend zu diesem abgelegenen Ort und brachte ihr weinend Nahrung...»
«Sie erkrankte ihrer
Barmherzigkeit wegen, da sie einen Bettler pflegte, der seinen Aussatz
verschwiegen hatte.»
«Aber wie ist die gute Maria denn
hierhergekommen?»
«Auf der Bahre dort. Warum haben
wir übersehen, daß zwei Diener Joachims sie getragen haben?»
«Sie sind auf die Gefahr hin
gekommen, dafür gesteinigt zu werden.»
«Ihre Herrin! Sie lieben sie mehr
als sich selbst...»
Jesus gibt ein Zeichen, und alle
schweigen. «Ihr seht, wie Liebe und Güte Wunder und Freude erzeugen. Lernt
also, gut zu sein. Geh nun, Frau! Niemand wird dir Böses tun. Der Friede sei
mit dir und mit deinem Haus.» Die Frau verläßt den Hof, gefolgt von den
Dienern, die die Bahre im Hof verbrannt haben, und von vielen anderen
Menschen.
Jesus entläßt die Menge, nachdem
er einige angehört hat, und zieht sich mit den Seinen ins Haus zurück.
«Welche Worte, Meister!»
«Wie warst du verklärt!»
«Welche Stimme!»
«Und welche Wunder!»
«Hast du gesehen, wie die
Pharisäer geflohen sind?»
«Sie sind schon nach den ersten
Worten wie zwei grüne Eidechsen davongeschlichen. Jene von Bozrah und den
umliegenden Ortschaften werden ein strahlendes Andenken an dich bewahren...»
«Mutter, und was sagst du?»
«Ich segne dich, mein Sohn! Für
mich und für alle.»
«Dein Segen wird mich begleiten,
bis wir uns wiederfinden.»
«Warum sagst du das, Herr? Werden
uns die Frauen verlassen?»
«Ja, Simon! Alexander wird in der
ersten Morgendämmerung nach Aera abreisen. Wir werden ihn bis zur Straße nach
Arbela begleiten und uns dann von ihm trennen. Es wird schmerzlich sein,
glaube es mir, Alexander Misaze, der du ein so höflicher Führer des Pilgers
gewesen bist. Ich werde deiner stets gedenken, Alexander!»
Der Alte ist gerührt. Er steht
mit über der Brust gekreuzten Armen ein wenig gebeugt, in orientalischer
Grußhaltung, vor Jesus. Aber auf diese
275
Worte erwidert er: «Vor allem
gedenke meiner, wenn du in deinem Reich sein wirst.»
«Verlangst du danach, Misaze?»
«Ja, mein Herr!»
«Auch ich möchte etwas von dir.»
«Was, Herr? Wenn ich kann, werde
ich es dir geben! Selbst wenn es das Kostbarste wäre, was ich besitze.»
«Es ist das Wertvollste. Deine
Seele will ich. Komm zu mir. Ich habe dir schon zu Beginn der Reise gesagt,
daß ich hoffe, dir am Schluß ein Geschenk machen zu können. Das Geschenk ist
der Glaube! Glaubst du an mich, Misaze?»
«Ich glaube, Herr.»
«Dann heilige deine Seele, auf
daß der Glaube für dich nicht ein nutzloses Geschenk sei oder dir sogar zum
Schaden gereiche.»
«Meine Seele ist alt. Aber ich
will mich bemühen, sie zu erneuern. Herr, ich bin ein alter Sünder, aber
sprich mich los und segne mich, damit ich von jetzt an ein neues Leben
beginne. Ich werde deinen Segen mitnehmen als das beste Geleit auf meinem Weg
zu deinem Reich... Werden wir uns nie wiedersehen, Herr?»
«Nie mehr auf dieser Erde. Aber
du wirst von mir hören und noch tiefer glauben, denn ich werde dich nicht ohne
die Frohe Botschaft lassen. Leb wohl, Misaze! Morgen werden wir wenig Zeit
haben, uns zu verabschieden. Wir wollen es jetzt tun, bevor wir zum letztenmal
miteinander speisen.»
Er umarmt und küßt ihn. Auch die
Apostel und die Jünger tun es. Die Frauen verabschieden sich mit einem
einzigen gemeinsamen Gruß. Aber Misaze kniet fast vor Maria nieder und sagt:
«Dein Licht des reinen Morgensternes möge in meinen Gedanken bis zum Tod
leuchten!»
«Bis zum ewigen Leben, Alexander!
Liebe meinen Sohn, so wirst du mich lieben, und ich werde dich lieben!»
Simon Petrus fragt: «Gehen wir
denn von Arbela nach Aera? Ich habe Angst, daß uns schlechtes Wetter
überraschen wird. Es ist sehr neblig... Schon seit drei Tagen haben wir im
Morgengrauen und bei Sonnenuntergang Nebel...»
«Hast du nicht gemerkt, daß wir
weit hinabgestiegen sind? Aber es ist so. Von morgen an werdet ihr auf die
Berge der Dekapolis steigen und keinem Nebel mehr begegnen», erklärt Misaze.
«Hinabgestiegen? Wann denn? Der
Weg war doch eben...»
«Ja, so schien es. Aber es war
ein stetiger Abstieg. Ein allmählicher, so daß man es nicht bemerkte. Und über
viele Meilen ...»
«Wann werden wir in Arbela
ankommen?»
«Du, Jakobus und Judas... in
knapp einer Stunde», sagt Jesus bestimmt.
276
«Ich... Jakobus und Judas in
knapp einer Stunde? Wohin gehe ich denn, wenn ich nicht bei euch allen
bleibe?»
«Bis zu den Ländereien, deren
Verwalter Chuza ist. Du wirst meine Mutter und die Frauen mit den anderen
beiden dorthin begleiten. Dann werden sie mit den Dienern Johannas
weitergehen, und ihr werdet zurückkehren und mich in Aera wieder einholen.»
«Oh, Herr! Du zürnst mir und
bestrafst mich... Welch einen Schmerz du mir doch bereitest, o Herr!»
«Simon, man fühlt sich bestraft,
wenn man sich schuldig fühlt. Dieses Schuldbewußtsein muß schmerzen, nicht die
Strafe an sich. Doch ich glaube nicht, daß es eine Strafe ist, meine Mutter
und die Jüngerinnen auf dem Rückweg zu begleiten.»
«Aber wäre es nicht besser, wenn
auch du mit uns kommen würdest?»
«Ich habe versprochen, dorthin zu
gehen, und ich gehe.»
«Dann werde auch ich mitkommen.»
«Du gehorchst, wie dies auch
meine Brüder widerspruchslos tun.»
«Und wenn du den Pharisäern
begegnest?»
«Dann wärest du gewiß nicht der
Geeignetste, um sie zu bekehren. Aber gerade, weil ich sie dort treffe, will
ich, daß du, Jakobus und Judas uns noch vor Arbela mit den Frauen, Johannes
von Endor und Margziam verläßt.»
«Ach so... Ich verstehe! Also
gut.»
Jesus wendet sich den Frauen zu,
segnet eine nach der anderen und gibt jeder die passenden Ratschläge.
Magdalena fragt, während sie die
Füße ihres Erlösers küßt: «Werde ich dich noch vor der Rückkehr nach Bethanien
wiedersehen?»
«Ohne Zweifel, Maria! Im Etanim
werde ich am See sein.»
337. DER ABSCHIED VON DEN
JÜNGERINNEN
Die Aufmerksamkeit Misazes
offenbart sich am nächsten Morgen während der ersten Kilometer des Weges: er
hat die Lasten auf den Kamelen so anordnen lassen, daß sie eine bequeme Liege
für unerfahrene Reiter abgeben. Es ist lustig zu sehen, wie zwischen Bündeln
und Kisten braune oder blonde Köpfe von Männern mit bis zu den Ohren
reichenden Haaren und die zu Haarknäueln gebundenen Zöpfe unter den Schleiern
der Frauen hervorschauen. Immer wieder weht ein Luftzug, den die schnelle
Gangart der Kamele verursacht, die Schleier nach hinten, und die goldfarbenen
Haare Maria Magdalenas oder die zartblonden der seligsten Jungfrau glänzen in
der Sonne, während die dunklen oder fast schwarzen Köpfe Johannas, Syntyches,
Marthas, Marcellas, Susannas und Saras Reflexe
277
von Indigo oder dunkler Bronze
annehmen. Die grauen Häupter Elisas, Salomes und Maria Kleophäs scheinen unter
der hellen, wärmenden Sonne mit Silber bestäubt zu sein.
Die Männer reiten auf dem neuen
Transportmittel wacker voran, und Margziam lacht glücklich. Wenn man sich
umwendet und Bozrah mit seinen Türmen, den hohen Häusern und seinem
Straßengewirr in der Tiefe erblickt, wird man gewahr, daß der Kaufmann recht
hatte. Leichte Hügel zeigen sich in nordwestlicher Richtung, und an ihrem Fuße
verläuft der Weg nach Aera. Dort hält die Karawane an, um die Pilger absteigen
zu lassen und sich von ihnen zu trennen.
Die Kamele knien mit lautem
Geknurre nieder, das mehr als eine Frau aufschreien läßt. Ich sehe nun, daß
die Frauen zur Sicherheit mit Gurten an den Sätteln festgebunden waren. Sie
steigen etwas benommen von dem Geschaukel, aber ausgeruht herunter.
Auch Misaze, der Margziam bei
sich auf dem Sattel hatte, steigt ab, und während die Kameltreiber die Lasten
in gewohnter Weise verteilen, nähert er sich Jesus zu einem letzten
Abschiedsgruß.
«Ich danke dir, Misaze! Du hast
uns viel Mühe und Zeit erspart.»
«Ja. Mehr als zwanzig Meilen
haben wir in kurzer Zeit zurückgelegt. Die Kamele haben lange Beine, wenn ihr
Gang auch nicht sehr angenehm ist. Ich hoffe, daß die Frauen dabei nicht zu
sehr gelitten haben.»
Die Frauen versichern alle, daß
sie wohl ausgeruht sind und keine Schmerzen haben.
«Nun seid ihr sechs Meilen von
Arbela entfernt. Der Himmel möge euch begleiten und euch einen angenehmen Weg
schenken. Auf Wiedersehen, mein Herr! Erinnere dich meiner.» Misaze küßt die
Füße Jesu und besteigt dann wieder sein Kamel. Sein "Krrr, Krrr" läßt die
Kamele aufstehen, und die Karawane eilt im Galopp in Staubwolken auf der
ebenen Straße davon.
«Ein guter Mensch! Wir haben
blaue Flecken bekommen, doch unsere Füße haben sich ausgeruht. Welche Stöße!
Schlimmer als ein stürmischer Nordwind auf dem See! Ihr lacht? Ich hatte keine
Kissen wie die Frauen. Es lebe mein Boot! Es ist immer noch das sauberste und
sicherste Transportmittel. Nun wollen wir unsere Säcke auf den Rücken nehmen
und losmarschieren.»
Es entsteht ein wahrer
Wettstreit. Jeder will sich die größte Last aufladen. Aber die, die bei Jesus
bleiben, gewinnen, also Matthäus, der Zelote, Jakobus, Johannes, Ermastheus
und Timoneus, die alles an sich nehmen, um die drei zu schonen, die mit den
Frauen gehen, oder besser die vier, denn auch Johannes von Endor ist unter
ihnen. Doch seine Hilfe ist infolge seiner schwachen Gesundheit nur gering.
Einige Kilometer sind rasch
zurückgelegt. Nachdem sie die Höhe des sanften Hügels erreicht haben, der nach
Westen einen Windfang bildet,
278
tut sich vor ihnen eine
fruchtbare Ebene auf, umgeben von einem Hügelkranz, in dessen Mitte sich ein
langgezogener, alleinstehender Hügel befindet. In der Ebene liegt eine Stadt:
Arbela.
Sie gehen hinab und sind bald
unten angelangt. Nachdem sie noch eine kurze Strecke zurückgelegt haben,
bleibt Jesus stehen und sagt: «Jetzt ist die Stunde des Abschieds gekommen.
Wir wollen zusammen essen und uns dann trennen. Das ist der Scheideweg nach
Gadara. Ihr müßt diesen Weg einschlagen. Es ist der kürzeste, und so werdet
ihr, noch bevor der Abend hereinbricht, in dem Gebiet sein, das Chuza
verwaltet.»
Die Begeisterung ist nicht sehr
groß... Doch sie gehorchen. Während sie essen, sagt Margziam: «Nun ist es auch
Zeit, daß ich dir diese Börse gebe. Ich habe sie vom Kaufmann bekommen, als
ich bei ihm im Sattel saß. Er hat mir gesagt: "Gib sie Jesus, bevor du dich
von ihm trennst, und sage ihm, daß er mich lieben soll, wie er dich liebt." Da
ist sie. Sie hat mich unter dem Gewand gedrückt. Sie scheint voller Steine zu
sein.»
«Laß sehen, laß sehen! Geld wiegt
schwer.»
Alle sind neugierig. Jesus löst
die Lederriemen, die die Tasche aus Gazellenleder, wie mir scheint,
zusammenhalten, und schüttet den Inhalt auf seinen Schoß. Geldstücke rollen
heraus. Aber das ist das Wenigste. Viele Säckchen aus feinstem Byssus kommen
zum Vorschein: kleine, mit Faden zugebundene Säckchen. Leuchtende Farben
schimmern durch das feine Linnen, und die Sonne scheint ein Feuerchen in
diesen Bündeln zu entzünden, als wären es glühende Kohlen unter einem Schleier
von Asche.
«Was ist das? Was ist das? Mach
auf, Meister!»
Alle sind über Jesus gebeugt, der
sehr ruhig den Knoten des ersten Bündelchens löst: noch ungeschliffene Topase
verschiedener Größe glänzen in der Sonne. Ein anderes Bündelchen ist mit
Rubinen gefüllt: Tropfen geronnenen Blutes. Ein anderes enthält kostbare
Strahlen grüner Smaragdsplitter, ein anderes himmelblaue Splitter reinster
Saphire; ein anderes zarte Amethyste, eine anderes indigoviolette Berylle; ein
weiteres schwarzglänzende Onyxe... und so weiter: zwölf Bündelchen. Im
letzten, dem schwersten, das von Gold und Chrysolithen glitzert, ein kleiner
Pergamentstreifen: «Für den Herrscherstab des wahren Hohepriesters und
Königs.»
Der Schoß Jesu ist ein kleiner
Rasen, auf dem leuchtende Blütenblätter verstreut sind... Die Apostel tauchen
die Hände in dieses Licht, das zu vielfarbiger Materie geworden ist. Sie sind
sprachlos... Petrus flüstert: «Wenn Judas von Kerioth hier wäre ... ?»
«Schweig! Es ist besser, daß er
nicht da ist», sagt Thaddäus entschieden.
Jesus bittet um ein Stück Stoff,
um mit den Edelsteinen ein einziges Bündel zu machen, und während noch
Bemerkungen fallen, denkt er nach.
Die Apostel sagen: «Dieser Mann
muß sehr reich sein!» Und Petrus
279
bringt alle zum Lachen, als er
bemerkt: «Wir sind auf einem Thron Von Edelsteinen geritten. Ich glaubte
nicht, auf einem solchen Glanz zu sitzen. Wenn er nur etwas weicher gewesen
wäre! Was wirst du damit tun?»
«Ich verkaufe sie für die Armen.»
Er erhebt die Augen und schaut mit einem Lächeln zu den Frauen hin.
«Und wo findest du hier einen
Juwelier, der dir diese Sachen abkauft?»
«Wo? Hier. Johanna, Martha und
Maria, wollt ihr meinen Schatz kaufen?»
Die drei Frauen sagen ohne zu
überlegen wie aus einem Mund: «Ja!»Doch Martha fügt hinzu: «Wir haben nur
wenig Geld bei uns.»
«Ihr werdet es mir bei Neumond in
Magdala geben.»
«Wieviel willst du haben, Herr?»
«Für mich nichts. Für meine Armen
viel.»
«Gib her! Du wirst viel
bekommen», sagt Magdalena, nimmt die Börse und versteckt sie am Busen.
Jesus behält nur die Münzen
zurück. Er steht auf und küßt die Mutter, die Tante, die Vettern, Petrus,
Johannes von Endor und Margziam. Er segnet die Frauen und entläßt sie. Diese
brechen auf und wenden sich immer wieder um, bis sie hinter einer Wegbiegung
verschwinden.
Jesus geht mit den übrigen nach
Arbela. Die Gruppe besteht nur noch aus acht Personen. Sie gehen eilends und
schweigsam auf die immer näherrückende Stadt zu.
338. IN ARBELA
Schon als sie die erste
Bewohnerin nach Philippus des Jakob fragen, stellen sie fest, wieviel der
jugendliche Jünger gearbeitet hat. Die Befragte, eine kleine, runzlige
Greisin, die mit Mühe einen gefüllten Wasserkrug trägt, richtet ihre durch das
Alter eingefallenen Äuglein auf das schöne Antlitz des Johannes. Er hat sie
mit einem so freundlichen: «Der Friede sei mit dir!» begrüßt, daß die Alte
sogleich fragt: «Bist du der Messias ?»
«Nein! Aber einer seiner Apostel.
Der ist es, der da kommt.»
Die Alte stellt ihren Krug auf
den Boden und geht mühsam in die angedeutete Richtung, um alsdann vor Jesus
niederzuknien.
Johannes, der mit Simon vor dem
Krug stehengeblieben ist, der beinahe umgefallen wäre und dabei fast die
Hälfte seines Inhaltes verloren hat, lächelt dem Kameraden zu und sagt: «Es
wäre gut, wenn wir den Krug nähmen und der Alten nachgehen würden.» Und er tut
es, während sein Begleiter hinzufügt: «Ja, eine Gelegenheit, den großen Durst
aller zu löschen. Wir alle sind durstig!»
Die Greisin weiß nicht recht, was
sie sagen soll, als sie sie eingeholt
280
haben, und immer wiederholt sie:
«Schöner Sohn der heiligsten Mutter!» Auf den Knien trinkt sie mit den Augen
die herrliche Gestalt Jesu, der lächelnd seinerseits wiederholt: «Steh auf,
Mutter! Steh doch auf!» Johannes wendet sich der Greisin zu und sagt: «Wir
haben dir deinen Krug genommen. Er ist fast umgefallen, und es ist nur noch
wenig Wasser darin. Aber wenn du erlaubst, werden wir das Wasser trinken und
dir den Krug aufs neue füllen.»
«Ja, Kinder, ja! Es tut mir leid,
daß ich nur Wasser für euch habe. Milch, wie ich sie in meiner Brust hatte,
als ich meinen Judas nährte, möchte ich haben, um euch die süßeste Gabe, die
es auf der Welt gibt, zu geben: Muttermilch! Wein möchte ich haben, den
auserlesensten, um euch zu laben. Aber Marianna des Elisäus ist alt und
arm...»
«Dein Wasser ist für mich Wein
und Milch, Mutter, denn es ist mit Liebe gegeben», antwortet Jesus und trinkt
als erster aus dem Krug, den Johannes ihm reicht. Dann trinken die anderen.
Die Alte, die sich endlich
erhoben hat, schaut auf sie, als ob sie das Paradies betrachte, und da sie
sieht, daß man, nachdem alle getrunken haben, den Rest des Wassers ausgießen
will, um zum Brunnen zu gehen, der am Straßenende plätschert, stürzt sie sich
auf den Krug, verteidigt ihn und sagt: «Nein, nein! Heiliger als geweihtes
Wasser ist dieses, von dem Er getrunken hat. Ich werde es sorgfältig
aufbewahren, um mich nach meinem Tod damit reinigen zu lassen.» Sie ergreift
ihren Krug mit den Worten: «Den nehme ich mit nach Hause. Ich habe noch andere
Krüge, die ich füllen kann. Aber zuerst komme du, Heiliger, damit ich dir das
Haus des Philippus zeige.» Und sie trippelt rasch, wenn auch gebückt, davon,
mit einem Lächeln auf dem runzligen Gesicht und Freude in den Äuglein. Sie
geht mit einem Zipfel des Mantels Jesu zwischen den Fingern, als fürchte sie,
er könne entfliehen, und verteidigt ihren Krug gegen das Drängen der Apostel,
die ihr diese Last abnehmen möchten. Sie trippelt selig dahin und schaut dabei
mit dem Blick eines Eroberers, der glücklich über seinen Sieg ist, auf die
verlassene Straße und die verschlossenen Häuser von Arbela.
Endlich, als sie aus einer
Seitenstraße in eine Hauptstraße gelangen, auf der viele Menschen sind, die
sich nach Hause begeben, ruft sie: «Ich habe den Messias des Philippus bei
mir. Geht und sagt überall Bescheid, zuerst im Haus des Jakob, damit sich alle
vorbereiten, den Heiligen zu ehren.» Sie schreit so sehr, daß sie außer Atem
kommt, doch sie weiß sich Gehör zu verschaffen. Arme, einfache, einsame,
unbekannte Greisin, es ist ihre Stunde des Befehlens. Nun sieht sie eine ganze
Stadt in Bewegung auf ihren Aufruf hin.
Jesus, viel größer als sie,
lächelt ihr zu, wenn sie ihn hin und wieder anblickt, legt ihr eine Hand aufs
Haupt und streichelt sie wie ein Sohn, was die alte Frau überglücklich macht.
81
Das Haus des Jakob liegt in einer
Straße im Zentrum. Es ist offen und hell erleuchtet, und man sieht vom Tor aus
eine lange Halle, in der sich Leute mit Lichtern bewegen, die festlich
herauseilen, als sie Jesus auf der Straße entdecken: der jugendliche Jünger
Philippus, dann die Mutter und der Vater, die Verwandten, die Diener und die
Freunde.
Jesus bleibt stehen und
beantwortet majestätisch den tiefen Gruß Jakobs, dann verneigt er sich vor der
Mutter des Philippus, die ihm kniend huldigt, und läßt sie aufstehen, während
er sie segnet und zu ihr sagt: «Sei immer glücklich über deinen Glauben!»
Darauf grüßt er den Jünger und
einen anderen, der bei ihm ist.
Die alte Marianna läßt trotz
alledem den Zipfel des Mantels nicht los und verläßt ihren Platz an der Seite
Jesu nicht, bevor sie nicht die Vorhalle betreten haben. Dann seufzt sie:
«Einen Segen, damit auch ich glücklich bin! Nun bist du hier... Ich werde in
mein armes Haus zurückkehren, und die Freude ist zu Ende!» Wieviel Bedauern
liegt in der alten Stimme!
Jakob, dem die Frau einige Worte
zugeflüstert hat, sagt: «Nein, Marianna des Elisäus. Bleibe auch du in meinem
Haus, als ob du eine Jüngerin wärest. Bleibe bei uns, solange der Meister da
ist, und sei mit uns glücklich.»
«Gott möge dich segnen, Mann! Du
hast verstanden, was Nächstenliebe ist.»
«Meister, sie hat dich in mein
Haus geführt. Du hast mir Gnade und Liebe erwiesen. Ich will dies nur
vergelten, wenn auch in geringerem Maß im Vergleich zu dem, was ich von dir
und von ihr empfangen habe. Komm herein, kommt herein, mein Haus möge euch
gastlich sein.»
Die Leute auf der Straße sehen
sie eintreten und schreien: «Und wir? Wir wollen seine Worte hören.»
Jesus wendet sich um: «Es ist
Nacht. Ihr seid müde. Bereitet eure Seele durch eine heilige Ruhe vor, und
morgen werdet ihr die Stimme Gottes hören. Mein Friede und mein Segen seien
mit euch.» Das Tor schließt sich und verbirgt das Glück dieses Hauses.
Jakobus des Zebedäus macht den
Herrn auf etwas aufmerksam, während sie sich von der Reise reinigen:
«Vielleicht wäre es besser, sofort zu sprechen und bei Sonnenaufgang
abzureisen. Die Pharisäer sind in der Stadt. Philippus hat es mir gesagt. Sie
werden dich belästigen.»
«Die, die sie belästigen könnten,
sind weit entfernt. Die Unannehmlichkeiten, die sie mir bereiten können, sind
belanglos. Die Liebe hebt sie auf.»
Am folgenden Morgen. Die
Angehörigen des Philippus und die Apostel kommen feierlich aus dem Haus, die
Alte hinterher. Die Begegnung mit den Leuten von Arbela, die geduldig warten,
findet statt. Dann begeben sich alle zum Hauptplatz, wo Jesus zu sprechen
beginnt.
282
«im achten Kapitel des zweiten
Buches Esdras lesen wir: "Als der siebte Monat gekommen war..." (Jesus sagt
mir: "Füge nichts weiter hinzu. Ich wiederhole den Text des Buches.")
Wann sagt man, daß ein Volk
heimkehrt? Wenn es zu den Ländereien seiner Väter zurückkehrt. Ich komme, um
euch in die Ländereien eures Vaters, in das Reich des Vaters zurückzuführen.
Ich kann es, denn dazu bin ich gesandt worden. Ich komme, euch in das Reich
Gottes zu führen, und darum ist es recht, euch mit den durch Zorobabel nach
Jerusalern, der Stadt des Herrn, Zurückgeführten zu vergleichen, und es ist
recht, mit euch zu verfahren wie Esdras, der Schreiber, es mit dem Volk tat,
als es von neuem in den heiligen Mauern versammelt war. Denn eine Stadt
wiederaufzubauen und sie dem Herrn zu weihen, aber die Seelen nicht
wiederaufzubauen, die ebenso vielen kleinen Städten Gottes gleichen, ist eine
Torheit ohnegleichen.
Wie aber kann man diese kleinen
geistigen Städte wiederaufbauen, die aus so vielen Gründen verfallen sind?
Welche Materialien soll man verwenden, um sie fest, schön und dauerhaft zu
gestalten?
Den Grundstoff bilden die Gebote
des Herrn, die Zehn Gebote, und ihr kennt sie, weil Philippus, euer Sohn und
mein Jünger, sie euch in Erinnerung gerufen hat. Die beiden heiligsten unter
den heiligen Geboten sind: "Liebe Gott mit deinem ganzen Sein. Liebe den
Nächsten wie dich selbst." Sie sind eine Zusammenfassung des Gesetzes, und sie
verkündige ich, denn mit ihnen wird das Reich Gottes sicher erobert. In der
Liebe findet man die Kraft, sich heilig zu bewahren oder heilig zu werden, die
Kraft der Verzeihung, die Kraft des Heldenmutes in den Tugenden. Alles findet
man in der Liebe.
Nicht die Furcht ist es, die
rettet. Die Furcht vor dem Gericht Gottes, die Angst vor den Strafen der
Menschen, die Furcht vor Krankheiten. Die Furcht ist nie aufbauend. Sie
zerbröckelt, zersetzt, verwüstet und zerstört. Die Furcht führt zur
Verzweiflung und zur Arglist, um das Böse zu verdecken. Sie führt dazu, daß
man etwas befürchtet, obwohl die Befürchtung überflüssig ist, da man das Böse
schon in sich hat. Wer denkt, solange er gesund ist daran, klug zu handeln und
den Körper zu schonen? Niemand. Aber sobald uns das erste Fieber schüttelt
oder ein Fleck auf der Haut erscheint, der unreine Krankheiten vermuten läßt,
kommt die Furcht, um die Qual der Krankheit noch zu steigern, um noch weitere
zersetzende Kräfte im Körper, den die Krankheit schon verzehrt, zu bilden.
Die Liebe hingegen ist
konstruktiv. Sie baut auf, befestigt, hält zusammen, bewahrt. Die Liebe bringt
Hoffnung auf Gott. Die Liebe verscheucht die Übeltaten. Die Liebe führt den
Menschen zur Klugheit seinem eigenen Körper gegenüber; denn der Mensch ist
nicht der Mittelpunkt des Universums, wie die Egoisten glauben und
entsprechend handeln, da sie nur einen Teil ihrer selbst lieben: den
unedleren, zum Nachteil
283
des Unsterblichen und Heiligen;
aber der Mensch soll seinen Körper gesund erhalten, bis es Gott anders
gefällt, damit er sich selbst, seinen Verwandten, seiner eigenen Stadt und der
ganzen Nation nützlich erweise. Es ist unvermeidlich, daß Krankheiten
entstehen. Es ist auch nicht gesagt, daß jede Krankheit ein Beweis für Laster
oder Strafe sei.
Es gibt heilige Krankheiten, die
der Herr seinen Gerechten schickt, weil in der selbstsüchtigen Welt, die nur
das Vergnügen kennt, Heilige sein müssen, die, wie die Geiseln im Krieg, zur
Rettung anderer bestimmt sind. Diese müssen mit ihrer Person bezahlen, damit
durch ihre Leiden die Schuld gesühnt werde, die die Welt täglich auf sich lädt
und die die Menschheit schließlich zusammenbrechen lassen und unter ihrem
Fluch begraben würde. Erinnert ihr euch des alten Moses, der betete, während
Josue im Namen des Herrn kämpfte? Ihr müßt bedenken, daß der, der heiligmäßig
leidet, dem grausamsten Krieger, der auf der Welt in der Gestalt von Menschen
und Völkern verborgen ist, Satan, dem Seelenmörder, dem Ursprung alles Bösen,
die größte Schlacht liefert. Doch wie verschieden sind die heiligen
Krankheiten, die Gott schickt, von jenen, die das Laster einer sündhaften,
sinnlichen Liebe mit sich bringt! Die ersten sind Beweise der wohlmeinenden
Liebe Gottes, die zweiten Beweise der satanischen Verderbnis.
Man muß lieben, um heilig zu
sein, denn die Liebe schafft, bewahrt und heiligt.
Auch ich sage euch mit der
Verkündung dieser Wahrheit, wie Nehemias und Esdras: "Dieser Tag ist dem
Herrn, unserem Gott, geweiht. Seid nicht traurig und weint nicht."
Denn jede Trauer schwindet, wenn
man den Tag des Herrn feiert. Der Tod verliert seine Bitterkeit, denn der
Verlust eines Kindes, eines Gatten, eines Vaters, einer Mutter oder eines
Bruders führt nur zu einer vorübergehenden und begrenzten Trennung. Einer
vorübergehenden, denn durch unseren Tod hat sie ein Ende, und begrenzt ist
sie, weil die Trennung sich auf den Körper und auf die Sinne beschränkt. Die
Seele verliert nichts durch den Tod des dahingeschiedenen Verwandten, denn die
Seele des Verstorbenen besitzt uns sogar mehr und kann besser über uns wachen,
als ihr das früher möglich war, als sie vom Gefängnis des Körpers aus liebte.
Ich sage euch wie Nehemias und
Esdras: "Gehet hin und eßt fettes Fleisch und trinket süßen Wein und gebt
jenen, die nichts haben, zu essen, denn der dem Herrn heilige Tag ist
gekommen, und niemand soll an diesem Tag Not leiden. Seid nicht betrübt, denn
die Freude des Herrn, der unter euch ist, ist die Kraft dessen, der die Gnade
des Allerhöchsten, des Herrn, in den eigenen Mauern und im eigenen Herzen
empfängt.»
Ihr könnt keine Zelte mehr
errichten, denn ihre Zeit ist vorüber. Doch errichtet sie geistigerweise in
euren Herzen. Besteigt den Berg, das heißt:
284
strebt nach Vollkommenheit.
Pflückt Zweige vom Ölbaum, von der Myrte, der Palme, der Eiche, vom Ysop und
von jeder schönen Pflanze. Zweige der Tugenden des Friedens, der Reinheit, des
Heroismus, der Abtötung, der Stärke, der Hoffnung, der Gerechtigkeit, aller
Tugenden. Schmückt eure Seele und feiert das Fest des Herrn. Seine Zelte
erwarten euch, und sie sind schön, heilig, ewig und allen geöffnet, die im
Herrn leben. Und zusammen mit mir nehmet euch heute vor, Buße zu tun wegen der
Vergangenheit und ein neues Leben zu beginnen.
Habt keine Furcht vor dem Herrn,
Er ruft euch, weil er euch liebt. Fürchtet euch nicht. Ihr seid seine Söhne
wie ein jeder aus Israel. Auch für euch hat er die Welt und den Himmel
erschaffen, Abraham und Moses erweckt, das Meer geteilt und die Wolke als
Wegweiserin gegeben, ist er vom Himmel herabgekommen, um das Gesetz zu geben,
hat die Wolken geöffnet, damit es Manna regne und hat Wasser aus dem Felsen
entspringen lassen. Jetzt, oh! Jetzt schickt er euch das lebendige Brot des
Himmels für euren Hunger, den wahren Weinstock und die Quelle des ewigen
Lebens für euren Durst, und durch meinen Mund sagt er zu euch: "Betretet das
Land, über das ich die Hand ausgestreckt habe, um es euch zu geben." Mein
geistiges Reich, das Reich des Himmels.»
Die Menge redet begeistert
untereinander... Dann kommen die Kranken. Viele Kranke! Jesus läßt sie in zwei
Reihen aufstellen, und während das geschieht, fragt er Philippus von Arbela:
«Warum hast du sie nicht geheilt?»
«Damit sie erhalten, was ich
erhalten habe: die Heilung durch deine Hand.»
Jesus begibt sich segnend vom
einen zum anderen, und die gewohnten Wunder wiederholen sich: Blinde sehen,
Lahme gehen, Stumme reden, Gebeugte richten sich auf, das Fieber fällt und die
Schwäche vergeht.
Die Heilungen sind beendet. Nach
dem letzten Kranken kommen die beiden Pharisäer, die nach Bozrah gegangen
waren, und zwei weitere.
«Der Friede sei mit dir, Meister,
und zu uns sagst du nichts?»
«Ich habe für alle gesprochen.»
«Aber wir haben diese Worte nicht
nötig. Wir sind die Heiligen Israels.»
«Euch, die ihr Lehrer seid, sage
ich: legt für euch das Kapitel aus, das folgt, das neunte des zweiten Buches
Esdras, und denkt daran, wie oft Gott euch Barmherzigkeit erwiesen hat;
schlagt an eure Brust und sprecht, als ob es ein Gebet wäre, den Abschluß des
Kapitels.»
«Gut gesagt, gut gesagt, Meister;
und werden das auch deine Jünger tun ?»
«Ja. Das verlange ich
zuallererst.»
«Alle? Auch die Mörder, die in
deinen Reihen sind?»
« Reizt euch der Geruch des
Blutes?»
«Es ist eine Stimme, die zum
Himmel schreit.»
285
«Gebt acht, daß ihr es nicht
macht wie die, die es vergießen.»
«Wir sind keine Mörder!»
Jesus blickt sie mit
durchbohrenden Augen an. Sie wagen zunächst kein Wort zu sagen, sondern
schließen sich der Gruppe an, die zum Haus des Philippus zurückkehrt, der sich
verpflichtet fühlt, sie einzuladen, am Festmahl teilzunehmen.
«Gerne, sehr gerne! So werden wir
länger in der Nähe des Meisters sein», sagen sie und verbeugen sich tief.
Doch als sie im Haus sind,
benehmen sie sich wie Spione... Sie schauen umher, sie spähen, stellen
hinterhältige Fragen an die Diener und sogar an die kleine Alte, die von Jesus
angezogen zu sein scheint wie das Eisen vom Magnet. Doch sie antwortet flink:
«Ich habe gestern nur diese gesehen. Ihr träumt! Ich habe sie hierher
begleitet, und kein anderer Johannes war dabei als jener blonde Jüngling, der
so gut wie ein Engel ist.»
Sie blitzen das Großmütterchen
unter Verwünschungen an und wenden sich anderswohin. Doch ein Diener, der
neben dem Hausherrn sitzt und mit ihm spricht, neigt sich über Jesus und
fragt: «Wo ist Johannes von Endor? Dieser Herr sucht ihn.»
Der Pharisäer blickt den Diener
an und schimpft ihn einen Dummkopf. Aber Jesus kennt nun ihre Absichten und
sucht so gut als möglich auszuweichen.
Der Pharisäer sagt: «Es war nur,
um dich zu beglückwünschen, Meister, und dich durch den Bekehrten zu ehren.»
«Johannes ist für immer fern und
wird es immer mehr sein.»
«Ist er wieder in die Sünde
zurückgefallen?»
«Nein, er ist daran, zum Himmel
aufzusteigen. Macht es ihm nach, und ihr werdet ihn im anderen Leben
wiederfinden.»
Die Vier wissen nicht mehr, was
sie sagen sollen, und vorsichtig wechseln sie das Thema. Die Diener verkünden,
daß die Tische gedeckt sind, und alle begeben sich in den Speiseraum.
339. AUF DEM WEG NACH AERA
Auch Arbela ist nun fern. In der
Gruppe um Jesus sind jetzt Philippus von Arbela und der andere Jünger, den ich
Markus nennen höre.
Die Straße ist schlammig, als
hätte es stark geregnet. Der Himmel ist grau. Ein kleiner Fluß, der diesen
Namen verdient, fließt über die Straße nach Aera. Er ist angeschwollen wegen
des Regens, der sich auf die Gegend ergossen hat, und nicht blau, sondern eher
gelbrötlich, als ob das Wasser über eisenhaltiges Erdreich geflossen wäre.
«Jetzt hat das schlechte Wetter
begonnen. Du hast gut daran getan, die
286
Frauen wegzuschicken», bemerkt
Jakobus. Simon der Zelote, der auch in seiner Ergebenheit dem Meister
gegenüber immer friedsam ist, ruft aus: « Alles, was der Meister tut, ist gut
getan. Er ist nicht eigensinnig wie wir. Er sieht alles und sieht voraus, was
das Beste für uns ist.»
Johannes, glücklich, an seiner
Seite zu sein, schaut mit seinem strahlenden Gesicht zu ihm auf und sagt: «Du
bist der beste und teuerste Meister, den die Erde je gehabt hat und haben
wird, und auch der allerheiligste.»
«Diese Pharisäer... Welch eine
Enttäuschung! Auch das schlechte Wetter hat dazu beigetragen, sie zu
überzeugen, daß Johannes von Endor nicht bei uns war. Aber weshalb haben sie
es so sehr auf ihn abgesehen?» fragt Ermastheus, der sich des Schicksals des
Johannes von Endor besonders annimmt.
Jesus antwortet: «Der Haß ist
nicht gegen ihn gerichtet. Er ist nur ein Mittel, das sie gegen mich
gebrauchen wollen.»
Philippus von Arbela sagt:
«Freilich, der Regen hat sie endgültig davon überzeugt, daß es unnütz war, auf
ihn zu warten oder ihn bei uns zu vermuten. Es lebe der Regen! Er hat auch
dazu beigetragen, dich fünf Tage in meinem Haus zurückzuhalten.»
«Wer weiß, wie besorgt sie in
Aera sind! Es ist schon bedauerlich, daß uns mein Bruder nicht
entgegengekommen ist», sagt Andreas.
«Entgegengekommen? Er wird uns
nachkommen», bemerkt Matthäus.
«Nein, er hat den Weg längs des
Sees genommen. Denn von Gadara ist er zum See gegangen, und von dort hat er in
einem Boot Bethsaida erreicht, um seine Frau zu sehen und ihr zu sagen, daß
das Kind in Nazareth ist und daß er bald zurückkehren wird. Von Bethsaida nach
Meron wird er erst den Weg von Damaskus und dann den nach Aera nehmen. Er ist
bestimmt in Aera.»
Eine Weile herrscht Schweigen.
Dann sagt Johannes lächelnd: «Aber diese Greisin, Herr!»
«Ich dachte schon, du wolltest
ihr wie dem Saul in Kerioth die Freude machen, an deiner Brust zu sterben»,
bemerkt Simon der Zelote.
«Ich werde ihr eine noch größere
Freude machen: ich werde sie in dem Augenblick zu mir rufen, in dem der
"Gesalbte" die Pforten des Himmels öffnen wird. Es wird nicht lange auf mich
warten müssen, das Mütterchen. Jetzt lebt sie mit ihrer Erinnerung, und mit
Hilfe deines Vaters, Philippus, wird ihr Leben weniger traurig sein. Ich segne
dich und deine Angehörigen nochmals.»
Die Freude des Johannes ist nun
von einem Trauerflor überschattet, der dunkler ist als die Wolken, mit denen
sich der Himmel überzogen hat. Jesus sieht es und sagt: «Bist du nicht
glücklich darüber, daß die Alte bald ins Paradies kommt?»
«Ja... Aber ich bin unglücklich,
weil ich daran denke, daß du uns verlassen wirst... Warum mußt du sterben,
Herr?»
287
«Wer von der Frau geboren wurde,
muß sterben.»
«Wirst du sie allein haben, o
Herr?»
«O nein! Und wie festlich wird
erst das Hinscheiden derer sein, die ich als Gott erlöst und als Mensch
geliebt habe...»
Zwei weitere, nahe
beieinanderliegende kleine Flüsse werden überquert. Es beginnt zu regnen in
der Ebene, die sich nun vor den Pilgern ausdehnt, nachdem sie die Hügel an der
Kreuzung mit einer Straße, die in einem Tal weiter nach Norden führt, hinter
sich gelassen haben.
Im Norden, beziehungsweise in
nordwestlicher Richtung, zeichnet sich eine hohe, mächtige Gebirgskette ab,
über der sich Wolken zusammenballen, Wolken, die beinahe wie Felsen aussehen
über den wirklichen, felsigen Höhen, die an den Hängen mit Bäumen und auf den
Gipfeln mit Schnee bedeckt sind.
Aber es ist eine sehr weit
entfernte Kette.
«Hier Regen, dort oben Schnee.
Das ist die Bergkette des Hermon. Sie hat ihre Gipfel mit einer ausgedehnten
weißen Decke überzogen. Wenn wir in Aera Sonnenschein haben, werdet ihr sehen,
wie schön es ist, wenn die Sonne den höchsten Gipfel rosa färbt», sagt
Timoneus, den die Liebe zur Heimat drängt, die Schönheit der Gegend zu loben.
«Doch nun regnet es. Ist Aera
noch weit?» fragt Matthäus.
«Sehr weit. Bis zum Abend werden
wir es noch nicht erreicht haben.»
«Gott bewahre uns vor allem
Übel», endet Matthäus, wenig begeistert, bei diesem schlechten Wetter wandern
zu müssen.
Alle sind in Mäntel vermummt und
tragen die Reisesäcke darunter, um sie und so auch die Kleider vor
Feuchtigkeit zu schützen und um sich nach der Ankunft sofort umziehen zu
können, zumal sie bereits von Wasser triefen und die Säume der Gewänder mit
Schlamm beschwert sind.
Jesus geht voraus, in seine
Gedanken versunken. Die anderen essen ihr Brot, und Johannes sagt scherzend:
«Jetzt brauchen wir keinen Brunnen zu suchen, um unseren Durst zu stillen. Wir
brauchen nur den Kopf nach hinten zu legen und den Mund zu öffnen und erhalten
das Wasser von den Engeln.»
Ermastheus, der auch noch jung
ist und mit Philippus von Arbela und Johannes das beneidenswerte Los teilt,
alles fröhlich hinzunehmen, sagt: «Simon des Jonas hat sich über die Kamele
beklagt! Aber ich würde lieber auf so einem vom Erdbeben geschüttelten Turm
sitzen, als in diesem Schlamm. Was meinst du?»
Johannes sagt: «Ich möchte sagen,
daß ich mit allem zufrieden bin, wenn nur Jesus dabei ist...»
Die drei Jünglinge beginnen,
eifrig miteinander zu reden.
Die vier Älteren beschleunigen
ihre Schritte und holen Jesus ein. Das übriggebliebene Paar, Timoneus und
Markus, folgt, ins Gespräch vertieft, am Ende.
288
«Meister, in Area werden wir
Judas des Simon antreffen...» sagt Andreas.
«Gewiß, und mit ihm Thomas,
Nathanael und Philippus.»
«Meister... Ich traure diesen
Tagen des Friedens nach», seufzt Jakobus.
«Das darfst du nicht sagen,
Jakobus.»
«Ich weiß es... Aber ich kann
nicht anders...» seufzt er wieder.
«Auch Simon Petrus wird mit
meinen Brüdern dort sein, bist du nicht glücklich darüber?»
«Sehr, Meister. Aber warum ist
Judas des Simon so verschieden von uns?»
«Warum wechseln sich Regen und
Sonne, Wärme und Kälte, Licht und Finsternis ab?»
«Weil man nicht immer ein und
dasselbe haben kann, denn das Leben auf Erden würde zugrunde gehen.»
«Gut gesagt, Jakobus.»
«Ja, aber das hat ja nichts mit
Judas zu tun.»
«Antworte mir: Warum sind die
Sterne nicht alle wie die Sonne, groß, warm, schön und mächtig?»
«Nun, weil die Erde unter so viel
Feuer verbrennen würde.»
«Warum sind die Pflanzen nicht
alle wie jene Nußbäume?»
«Weil dann die Tiere nichts zu
fressen hätten.»
«Und warum sind sie nicht alle
Gräser?»
«Weil wir sonst kein Holz hätten
für den Ofen, die Häuser, die Werkzeuge, die Wagen, die Schiffe, die Möbel...»
«Warum sind nicht alle Vögel
Adler, und nicht alle Tiere Elefanten oder Kamele?»
«Weil es uns dann schlecht
erginge! «
«So scheinen dir diese
Verschiedenheiten also gut zu sein?»
«Ohne Zweifel.»
«Glaubst du also... Warum hat
Gott sie deiner Meinung nach erschaffen?»
«Um uns jede mögliche Hilfe zu
geben.»
«Also zu einem guten Zweck. Bist
du dir dessen sicher?»
«So sicher, wie ich weiß, daß ich
in diesem Augenblick lebe.»
«Wenn du es für richtig hältst,
daß es Unterschiede in der Welt der Tiere und der Pflanzen und unter den
Gestirnen gibt, weshalb verlangst du, daß alle Menschen gleich seien? Jeder
hat seine Art und seine Aufgabe. Scheint dir die unendliche Mannigfaltigkeit
in der Natur ein Zeichen der Macht oder der Ohnmacht des Schöpfers zu sein?»
«Der Macht. Das eine dient dazu,
das andere hervorzuheben.»
«Sehr gut. Auch Judas dient dazu,
und du dienst in diesem Sinn den Kameraden, und sie dienen dir. Wir haben
zweiunddreißig Zähne im Mund und sie unterscheiden sich sehr voneinander. Wenn
du beim Essen
289
bist, dann achte auf die Aufgabe
jedes einzelnen. Nicht nur die jeder der drei Arten, sondern auch die der
Arten untereinander. Du wirst sehen, daß die, die wenig nützlich zu sein und
wenig zu tun scheinen, gerade diejenigen sind, die die erste Arbeit leisten,
das Brot zerschneiden und es den anderen zuschieben, die es zerkleinern, um es
dann wieder anderen zu überlassen, die es zu Brei zermalmen. Ist es nicht so?
Scheint es dir, daß Judas nichts tut, oder alles schlecht tut? Ich erinnere
dich, daß er im südlichen Judäa gepredigt hat, und zwar gut, und daß er, wie
du selbst gesagt hast, mit den Pharisäern umzugehen versteht.»
«Das ist wahr.»
Matthäus bemerkt: «Er ist auch
fähig, Geld für die Armen zu beschaffen. Er fordert und kann betteln, wie ich
es nicht könnte... Vielleicht, weil mich das Geld nun anekelt.»
Simon der Zelote senkt den Kopf
und wird beinahe rot wie ein Krebs. Andreas, der es sieht, fragt ihn: «Ist dir
nicht wohl?»
«Nein, nein... die Anstrengung...
Ich weiß nicht.»
Jesus schaut ihn fest an, sagt
jedoch nichts, und jener wird immer röter.
Timoneus kommt nach vorne:
«Meister, schau, da sieht man schon das Dorf, das vor Aera liegt. Wir können
dort anhalten oder Esel mieten.»
«Es hört schon auf zu regnen. Es
ist besser, wenn wir weitergehen.»
«Wie du willst. Aber dann werde
ich, wenn du erlaubst, vorausgehen.»
«Geh nur!»
Timoneus läuft mit Markus davon,
und Jesus bemerkt lächelnd: «Sie möchten uns einen feierlichen Einzug
bereiten.»
Sie gehen nun wieder in einer
Gruppe. Jesus läßt zu, daß sie sich beim Reden über die Unterschiede der
Gegenden erhitzen, dann bleibt er zurück und behält den Zeloten bei sich. Als
sie allein sind, fragt er: «Warum bist du so rot geworden, Simon?»
Dieser ist wieder von Glut
übergossen und antwortet nicht. Jesus wiederholt die Frage, und jener wird
noch röter und schweigsamer. Jesus fragt wiederum.
«Herr, aber du weißt es doch!
Warum soll ich es dann sagen?» ruft Simon schmerzerfüllt aus, als würde er
gemartert.
«Bist du dessen sicher?»
«Er hat es nicht geleugnet,
sondern gesagt: "Ich tue dies zur Vorsorge. Ich bin vernünftig. Der Meister
denkt nie an den morgigen Tag." Wenn man so will, hat er recht. Aber... es ist
immer... es ist immer... Meister, sage du das rechte Wort.»
«Es ist ein Zeichen dafür, daß
Judas nur "Mensch" ist. Er vermag es nicht, sich zu erheben und geistig zu
werden. Doch mehr oder weniger seid ihr alle so. Ihr habt Angst vor törichten
Dingen. Ihr quält euch mit unnützer Vorsorge, weil ihr nicht glauben könnt,
daß die Vorsehung mächtig und allgegenwärtig ist. Das bleibt zwischen uns,
verstanden?»
290
«Ja, Meister.»
Ein kurzes Schweigen, dann sagt
Jesus: «Bald werden wir zum See zurückkehren... Es wird schön sein, sich etwas
zu sammeln nach so vielem Wandern. Wir beide werden uns für einige Zeit nach
Nazareth begeben, um dort das Lichterfest zu feiern. Du bist allein, die
anderen haben eine Familie, und du wirst bei mir sein.»
«Herr, auch Judas, Thomas und
Matthäus sind allein.»
«Denk nicht darüber nach. Jeder
wird das Fest in seiner Familie feiern. Matthäus hat die Schwester. Du bist
allein. Sofern du nicht zu Lazarus gehen willst ...»
«Nein, Herr», bricht Simon
hervor. «Nein. Ich liebe Lazarus, aber bei dir zu sein, ist das Paradies.
Danke, Herr», und er küßt ihm die Hand.
Das Dörflein liegt schon hinter
ihnen; da erscheinen unter einem neuen Regenguß auf der überschwemmten Straße
Timoneus und Markus, die beide rufen: «Bleibt stehen! Simon Petrus ist da mit
Eseln. Ich bin ihm begegnet. Schon seit drei Tagen ist er im Regen mit den
Tieren hierher unterwegs.»
Sie bleiben unter einem dichten
Dornbusch, der sie etwas gegen den Platzregen schützt, stehen, und wirklich,
da kommt auch schon Petrus an der Spitze einer Reihe von Eselchen auf einem
Esel dahergeritten. Unter der Decke, die er sich über Kopf und Schultern
gelegt hat, sieht er aus wie ein Mönch.
«Gott segne dich, Meister! Ich
habe doch gesagt, daß er naß sein würde, wie wenn er in den See gefallen wäre!
Los, schnell, aufsteigen, denn Aera steht seit drei Tagen in Flammen, so sehr
schüren sie die Kamine, um dich zu trocknen. Schnell! Schnell! ... Was für ein
Zustand! Schaut nur her! Waret ihr denn nicht imstande, ihn zurückzuhalten?
Ja, wenn ich nicht dabei bin! Ich sage es immer! Schaut her! Sein Haar hängt
ihm über die Schultern herab wie einem Ertrunkenen. Du mußt ganz erfroren sein
unter diesen Regengüssen! Welche Torheit! Und ihr? Und ihr? O ihr
Unglücklichen! Du als erster, dummer Bruder, und dann die anderen. Hübsch seid
ihr! Ihr gleicht Säcken, die in einen Graben gefallen sind. Auf, schnell! Ha,
ich wage es nicht mehr, ihn euch anzuvertrauen. Ich sterbe vor Entsetzen ...»
«Vielleicht vor Schwätzen,
Simon», sagt Jesus ruhig, während sein Esel an der Seite des Esels des Petrus
an der Spitze der Karawane trippelt. Jesus wiederholt: «Und vor Schwätzen. Vor
lauter unnützem Reden hast du mir nicht gesagt, ob die anderen angekommen
sind... ob die Frauen abgereist sind... ob es deiner Frau gut geht. Nichts
hast du mir erzählt.»
«Ich werde dir alles sagen. Aber
warum bist du bei diesem Regen abgereist ?»
«Und warum bist du gekommen?»
«Weil ich es eilig hatte, dich zu
sehen, Meister!»
291
«Weil es mich drängte, wieder mit
dir zusammen zu sein, mein Simon.»«Oh, mein liebster Meister! Wie gern habe
ich dich! Frau, Kind, Haus? Nichts, nichts... All das ist nicht schön, wenn du
nicht dabei bist. Glaubst du mir, daß ich dich sehr liebe?»
«Ich glaube es. Ich weiß, wer du
bist, Simon.»
«Wer?»
«Ein großes Kind voller kleiner
Fehler, und unter diesen sind viele schöne Gaben versteckt. Doch eine ist
nicht darunter begraben, und das ist deine Redlichkeit in allem. Also, wer ist
in Aera?»
«Judas, dein Bruder, mit Jakobus,
und Judas von Kerioth mit den anderen. Es scheint, daß Judas viel Gutes getan
hat. Alle loben ihn ...»
«Hat er dir Fragen gestellt?»
«Oh, viele! Ich habe nicht darauf
geantwortet und habe nur gesagt, daß ich nichts weiß. Was weiß ich denn schon,
außer daß ich die Frauen bis in die Nähe von Gadara gebracht habe. Weißt du...
ich habe ihm nichts über Johannes von Endor gesagt, denn er glaubt, daß er bei
dir ist. Du solltest dies den anderen sagen.»
«Nein. Auch sie wissen
ebensowenig wie du, wo Johannes ist. Es wäre zwecklos, mehr zu sagen. Aber
diese Esel! ... Für drei Tage! ... Wie viele Unkosten! Und die Armen?»
«Die Armen... Judas hat viel Geld
und sorgt für sie. Diese Esel kosten mich keinen Pfennig. Die Leute von Aera
hätten mir tausend umsonst gegeben. Ich mußte meine Stimme erheben, um zu
verhindern, daß sie dir mit einem Heer von Eseln entgegenziehen. Timoneus hat
recht. Hier glauben alle an dich. Sie sind besser als wir», und er seufzt.
«Simon, Simon! Jenseits des
Jordan wurden wir geehrt: Ein Sträfling, Heidinnen, Sünderinnen und Frauen
gaben euch Lehren der Vollkommenheit. Vergiß es nicht, Simon des Jonas. Denk
immer daran.»
«Ich will es versuchen, Herr. Da
kommen die ersten von Aera. Schau nur, wie viele Leute! Da kommt die Mutter
des Timoneus. Dort in der Menge sind deine Brüder. Da sind die Jünger, die du
vorausgesandt hast, und gleich dahinter die, die mit Judas Iskariot gekommen
sind. Dort kommt der reichste Mann von Aera mit seinen Dienern. Er wollte dich
in sein Haus einladen. Doch die Mutter des Timoneus hat ihre Rechte geltend
gemacht und du wirst bei ihr Gastfreundschaft finden. Schau, schau! Sie sind
verärgert, weil der Regen die Fackeln auslöscht. Es sind viele Kranke hier,
weißt du? Sie sind in der Stadt geblieben, bei den Toren, um dich gleich zu
sehen. Einer, der ein Holzlager besitzt, hat sie unter seine Dächer
aufgenommen. Seit drei Tagen sind sie dort, die armen Leute; seit unserer
Ankunft sind sie enttäuscht, weil du nicht bei uns warst.»
Das Geschrei der Menge hindert
Petrus am Weiterreden, und er schweigt und steht an der Seite Jesu wie eine
Schildwache.
292
Die Menge, die sie nun erreicht
hat, teilt sich, und Jesus reitet auf seinem Esel hindurch und segnet im
Vorübergehen. Sie gehen in die Stadt hinein.
«Sofort zu den Kranken», sagt
Jesus ungeachtet der Proteste derer, die ihn unter ihr Dach aufnehmen und ihm
Speise und Wärme geben möchten aus Furcht, daß er zu viel leide. «Diese hier
leiden mehr als ich», antwortet er.
Sie biegen rechts ein. Da ist
auch schon der einfache Zaun des Holzlagers.
Das Tor ist weit aufgerissen, und
ein Jammer tönt ihm entgegen: «Jesus, Sohn Davids, habe Erbarmen mit uns!»
Ein flehender, ununterbrochener
Chor, wie eine Litanei. Stimmen von Kindern, Frauen, Männern und Greisen.
Traurig wie das Blöken leidender Lämmer; verzweifelt wie das Jammern
sterbender Mütter; demütig wie das Klagen dessen, der nur noch eine Hoffnung
hat, zitternd wie die Stimme eines Menschen, der nichts mehr als weinen
kann...
Jesus reitet in die Umzäunung. Er
richtet sich auf seinem Steigbügel auf, so gut er kann, hebt die Rechte in die
Höhe und sagt mit lauter Stimme: «Allen, die an mich glauben, Heil und Segen!»
Er läßt sich in den Sattel
zurückfallen und will auf die Straße zurückkehren. Aber die Menge hält ihn
auf, und die Geheilten umringen ihn. Im Licht der Fackeln, die im Schutz der
Hallen brennen und die Dämmerung erhellen, sieht man die Menge, die in einem
Freudentaumel dem Herrn entgegenjubelt. Der Herr verschwindet fast in einem
Blütenfeld von geheilten Kindern, die von ihren Müttern in seine Arme, auf
seinen Schoß und selbst auf den Hals des Esels gesetzt und festgehalten
werden, damit sie nicht hinunterfallen. Jesus hat die Arme voll von Kindern,
als wären es Blumen. Er lächelt selig und küßt sie, da er sie nicht segnen
kann, weil seine Arme die Kinder halten. Endlich werden ihm die Kinder
abgenommen. Nun sind es die geheilten Alten, die ihm das Gewand küssen, und
dann die Männer und Frauen...
Es ist Nacht geworden, als er
endlich in das Haus des Timoneus eintreten und sich am Feuer in trockenen
Kleidern erholen kann.
340. JESUS PREDIGT IN AERA
Jesus spricht auf dem Hauptplatz
von Aera: «... doch ich will nicht -wie ich es an anderen Orten getan habe –
zu euch über die ersten und unentbehrlichen Dinge sprechen, die man wissen und
tun muß, um sich zu retten. Ihr kennt sie schon, und sogar sehr gut, durch die
Tätigkeit des Timoneus, des weisen Synagogenvorstehers und Lehrers des
althergebrachten Gesetzes. Aber ich will euch auf eine Gefahr aufmerksam
293
machen, die ihr in dem
Geisteszustand, in dem ihr euch befindet, nicht sehen könnt: die Gefahr, euch
durch Druck und Einschüchterungen vom rechten Weg und vom Glauben, den ihr nun
an mich habt, abbringen zu lassen. Timoneus wird für einige Zeit hier bleiben
und euch zusammen mit anderen die Worte der Schrift im neuen Licht meiner
Wahrheit, die er umschlungen hat, erklären. Aber bevor ich euch verlasse,
nachdem ich eure Herzen erforscht und sie aufrichtig in ihrer Liebe,
bereitwillig und demütig befunden habe, will ich euch eine Stelle des vierten
Buches der Könige auslegen.
Als der König von Juda, Ezechias,
von Sennacherib angegriffen wurde, kamen die drei Großen des feindlichen
Königs zu ihm, um ihm Schrecken einzujagen. Sie wollten ihn einschüchtern
durch Hinweise auf die aufgelösten Bündnisse und die Streitmacht, die ihn
schon umgab. Und auf die Worte der mächtigen Abgesandten antworteten Eliachim,
Sebna und Joae: "Sprich so, daß das Volk dich nicht verstehen kann", um zu
verhindern, daß das erschreckte Volk nach Frieden verlange. Aber die
Abgesandten des Sennacherib wollten gerade dies und sagten mit lauter Stimme
in perfektem Hebräisch: "Laßt euch nicht von Ezechias verführen... Verhaltet
euch uns gegenüber so, wie es für euch am vorteilhaftesten ist, und ergebt
euch. Ein jeder wird von seinem Weinberg und von seinen Feigen essen und das
Wasser aus seinen Zisternen trinken können, bis wir kommen und euch in ein
Land führen werden, das dem euren gleicht, in ein Land, fruchtbar und reich an
Wein, in ein Land, in dem es Brot und Trauben im Überfluß gibt, in ein Land
mit Oliven, Öl und Honig. Und ihr werdet leben und nicht sterben..." Weiter
heißt es: "Das Volk antwortete nicht, denn es hatte vom König den Befehl
erhalten, nicht zu antworten."
Seht, auch ich habe Mitleid mit
euren Seelen, die von Mächten bedrängt werden, die noch schlimmer sind als
jene des Sennacherib, der die Leiber verletzen, aber nicht den Seelen schaden
konnte, während eure Seelen von einem feindlichen Heer angegriffen werden, das
vom wütendsten und grausamsten aller Herrscher angeführt wird. Ich habe seinen
Abgesandten, die mir und euch schreckliche Strafen androhten, um mich in euch
zu beleidigen, geboten: "Sprechet mit mir allein und laßt jene, die gerade
jetzt dem Licht geboren werden, in Frieden. Droht mir, quält mich, klagt mich
an, tötet mich, aber stürzt euch nicht auf diese Kinder des Lichtes. Sie sind
noch schwach. Eines Tages werden sie stark sein, doch jetzt sind sie noch
schwach. Greift sie nicht an! Wütet nicht gegen die Freiheit der Geister, sich
selbst einen Weg zu wählen. Wütet nicht gegen das Recht Gottes, die zu sich zu
rufen, die ihn mit Einfalt und Liebe suchen."
Kann jemand, der haßt, die Bitten
dessen erhören, den er haßt? Kann jemand, der von Haß erfüllt ist, die Liebe
kennen? Nein, er kann es nicht. Daher werden sie mit noch größerer Härte und
immer stärkerer Eindringlichkeit sagen: "Laßt euch nicht von Christus
verführen. Kommt mit uns,
294
und es wird euch an nichts
fehlen", und weiter werden sie euch sagen: "Wehe euch, wenn ihr ihm folgt. Ihr
werdet verfolgt werden." Sie werden euch selbst mit scheinbar guten Absichten
drängen: "Rettet eure Seelen! Er ist ein Satan." Viele Dinge werden sie von
mir sagen, um euch zu überreden, das Licht zu verlassen.
Ich sage euch: "Antwortet den
Verführern mit eurem Schweigen." Wenn dann die Kraft des Herrn, des Christus,
des Gesalbten, des Messias und Erlösers in den Herzen der Gläubigen wohnt,
werdet ihr reden können; denn nicht ihr, sondern der Geist des Herrn wird
durch euch reden, und eure Seelen werden reif geworden sein in der Gnade und
stark und unbesiegbar im Glauben.
Seid beharrlich! Ich verlange
nichts anderes als dies. Denkt daran, daß Gott nicht den Verschwörungen seines
Feindes zustimmen kann. Eure Kranken und die, die Frieden und Stärkung
erhalten haben für ihren Geist, mögen euch immer durch ihre bloße Gegenwart
erinnern, wer der ist, der zu euch gekommen ist, um euch zu sagen: "Beharrt in
meiner Liebe und in meiner Lehre, und ihr werdet das Himmelreich erlangen."
Meine Werke sprechen noch mehr als meine Worte, und wenn die vollkommene
Seligkeit auch darin besteht, glauben zu können, ohne Beweise zu brauchen, so
habe ich euch doch die Wunder Gottes sehen lassen, damit ihr im Glauben
bestärkt werdet. Antwortet eurem Verstand, der von den Feinden des Lichtes
versucht wird, mit den Worten eures Geistes: "Ich glaube, denn ich habe Gott
in seinen Werken gesehen." Antwortet dem Feind mit einem wirkungsvollen
Schweigen.
Und mit diesen beiden Antworten
schreitet im Licht voran. Der Friede sei immer mit euch!»
Jesus verabschiedet sich von der
Menge und verläßt den Platz.
«Warum hast du so wenig
gesprochen, Herr? Timoneus könnte enttäuscht sein», sagt Nathanael.
«Er wird es nicht sein, denn er
ist ein Gerechter und weiß, daß es ein Beweis noch größerer Liebe ist, wenn
man jemand auf eine Gefahr aufmerksam macht. Diese Gefahr ist vorhanden.»
«Immer diese Pharisäer, wie?»
fragt Matthäus.
«Sie und andere.»
«Bist du betrübt, Herr?» fragt
Johannes besorgt.
«Nein, nicht mehr als
gewöhnlich...»
«Und doch warst du in den letzten
Tagen heiterer...»
«Er wird traurig sein, weil er
die Jünger nicht mehr um sich hat. Aber warum hast du sie denn entlassen?
Willst du deine Reise fortsetzen?» fragt Iskariot.
«Nein! Dies ist der letzte Ort,
von hier aus geht es nach Hause. Aber die Frauen konnten nicht mehr
weitergehen bei diesem Wetter. Sie haben viel geleistet, mehr dürfen sie nicht
tun.»
295
«Und Johannes?»
«Johannes ist krank und befindet
sich in einem gastlichen Haus, so wie du es gewesen bist.»
Dann verabschiedet sich Jesus von
Timoneus und den anderen Jüngern, die in der Gegend bleiben, und denen er
gewiß bereits Anweisungen für die Zukunft gegeben hat, denn er erteilt keine
weiteren Ratschläge mehr.
Sie sind an der Haustüre des
Timoneus angelangt, denn Jesus will noch einmal die Hausherrin segnen. Die
Menge beobachtet ihn ehrfurchtsvoll und folgt ihm, als er den Weg wieder
aufnimmt durch den Vorort, die Gemüsegärten, bis zu den offenen Feldern. Die
mit der größten Ausdauer folgen ihm noch eine Weile in einer immer kleiner
werdenden Gruppe, bis nur noch neun, dann fünf, dann drei und schließlich
einer übrig ist. Auch dieser eine wendet sich um und kehrt nach Aera zurück,
während Jesus die Richtung nach Westen einschlägt, allein mit seinen zwölf
Aposteln, denn auch Ermastheus ist bei Timoneus zurückgeblieben.
Jesus spricht:
«Die Reise, die zweite große
apostolische Reise, ist beendet. Nun kehren sie in die bekannten Gebiete von
Galiläa zurück.
Arme Maria, du bist erschöpfter
als Johannes von Endor. Ich gestatte dir, die Ortsbeschreibungen zu
unterlassen. Wir haben den neugierigen Forschern schon so viel Material
gegeben. Und sie werden doch immer "neugierige Forscher" bleiben. Nun genug!
Die Kraft schwindet. Bewahre sie für das Wort. Mit demselben Gefühl, mit dem
ich die Nutzlosigkeit so vieler meiner Bemühungen erkenne, erkenne ich auch
die Nutzlosigkeit so vieler deiner Bemühungen. Daher sage ich dir: "Bewahre
deine Kräfte für das Wort."
Du bist das "Sprachrohr". Oh,
auch für dich wiederholt sich das Wort: "Wir haben gespielt, und ihr habt
nicht gesungen; wir haben geklagt, und ihr habt nicht geweint." Du hast meine
Worte wiederholt, und die schwierigen Gelehrten haben die Nase gerümpft. Du
hast meinen Worten deine Beschreibungen hinzugefügt, und jetzt haben sie
wieder etwas auszusetzen. Und du bist am Ende! Ich werde dir sagen, wann du
die Reise beschreiben sollst. Seit fast einem Jahr bediene ich mich nun schon
deiner. Aber willst du, bevor das Jahr zu Ende geht, wieder an meinem Herzen
ruhen? Komm also, kleine Märtyrerin!»
341. MARIA UND MATTHIAS
Ich sehe wieder den See von Meron
an einem trüben Regentag... Schlamm und Wolken, Stille und Dunkelheit. Der
Horizont verschwindet im Nebel. Die Bergketten des Hermon sind von einer
tiefliegenden Wolkendecke verhangen. Aber von der kleinen Hochebene sieht man
gut den Wasserspiegel des kleinen, grauen und durch den Schlamm von tausend
angeschwollenen Bächen gelb gefärbten Sees, der vom oberen Jordan genährt wird
und sich dann in den größeren See von Genesareth entleert.
Der Abend sinkt hernieder, immer
trauriger und regnerischer, während
296
Jesus sich auf den Weg begibt,
der den Jordan dem Meronsee zu überquert, um dann einen kleineren Weg
einzuschlagen, der zu einem Haus führt...
Eine weitere liebliche Vision von
Jesus und zwei Kindern.
Ich sage so, denn ich sehe, daß
Jesus, der auf einem kleinen Weg zwischen den Feldern einhergeht, die erst
kürzlich eingesät worden sein müssen, weil das Erdreich noch weich und dunkel
ist, stehenbleibt und zwei kleine Kinder liebkost: einen Knaben, der höchstens
vier Jahre alt sein kann, und ein Mädchen, das um die acht oder neun Jahre alt
sein mag. Es müssen sehr arme Kinder sein, denn sie tragen verwaschene,
zerrissene Kleidchen und haben ein trauriges, abgehärmtes Aussehen.
Jesus fragt nichts. Er schaut sie
nur fest an, während er sie liebkost. Dann geht er rasch auf ein Haus zu, das
sich am Ende des Weges befindet. Ein Bauernhaus in gutem Zustand, mit einer
Außentreppe, die zur Terrasse führt, auf der sich eine Weinlaube ausbreitet,
die jetzt ohne Trauben und entlaubt ist. Nur vereinzelte gelbe Blätter hängen
noch an den Pflanzen und wiegen sich im feuchten Wind eines traurigen
Herbsttages. Auf der Brüstung des Hauses gurren einige Tauben und warten auf
den Regen, den der graue, bewölkte Himmel ankündigt.
Durch das Geräusch der Schritte
herbeigerufen, kommt eine Frau an die Türe des kleinen Raumes, und als sie
Jesus erkennt, begrüßt sie ihn voller Freude und eilt davon, um im Haus
Bescheid zu geben.
Darauf erscheint ein alter,
dicker Mann an der Türe und eilt Jesus entgegen. «Welch große Ehre, Meister,
dich zu sehen!» grüßt er.
Jesus sagt seinen Gruß: «Der
Friede sei mit dir», und fügt hinzu: «Der Abend bricht herein; es wird bald
regnen. Ich bitte dich um Unterkunft und Brot für mich und meine Jünger.»
«Komm herein, Meister! Mein Haus
ist dein Haus. Die Magd ist soeben beim Brotbacken. Es freut mich, es dir mit
dem Käse meiner Schafe und den Früchten meiner Felder anbieten zu können. Komm
herein, komm herein, denn der Wind ist feucht und kalt...» Zuvorkommend hält
er die Türe auf und verneigt sich, als Jesus eintritt. Doch dann ändert er
plötzlich den Ton, um sich jemandem zuzuwenden, den er sieht und zornig
anschreit: «Bist du immer noch da? Geh fort! Ich habe nichts für dich. Geh
fort! Hast du verstanden? Hier ist kein Platz für Vagabunden ...»; dann
murmelt er zwischen den Zähnen: «... und vielleicht auch Diebe wie dich.»
Ein weinerliches Stimmlein
antwortet: «Erbarmen, Herr, nur etwas Brot für mein Brüderchen. Wir haben
Hunger...»
Jesus, der in die geräumige Küche
eingetreten ist, die durch das große Feuer, das gleichzeitig als Beleuchtung
dient, freundlich wirkt, steht an der Schwelle. Sein Antlitz hat sich
verändert. Streng und traurig fragt er nicht den Wirt, sondern allgemein, und
es scheint, als würde er die schweigende Tenne, den entlaubten Feigenbaum, den
dunklen Brunnen fragen: «Wer hat hier Hunger?»
297
«Ich, Herr. Ich und mein Bruder.
Ein Brot nur, und dann werden wir gehen.»
Jesus ist bereits draußen an der
wegen der angebrochenen Abenddämmerung und des bevorstehenden Regens immer
dunstiger werdenden Luft. «Komm her», sagt er.
«Ich habe Angst, Herr!»
«Komm, sage ich dir. Habe keine
Angst vor mir.»
Das arme Mädchen kommt um die
Hausecke. Das Brüderchen hält sich an ihrer armseligen Tunika fest, und
verängstigt nähern sie sich. Ein scheuer Blick auf Jesus, ein angstvoller
Blick auf den Hausherrn, der sie mit drohenden Augen mustert und sagt: «Das
sind Vagabunden, Meister, und Diebe. Gerade vorhin habe ich sie erwischt, als
sie bei der Ölmühle scharrten. Gewiß wollten sie eindringen und stehlen. Wer
weiß, woher sie kommen, denn sie sind nicht von hier.»
Jesus widerspricht ihm nicht. Er
schaut das Mädchen mit dem eingefallenen Gesichtlein und den ungekämmten
Zöpfen – zwei Schwänzlein über den Ohren, die unten mit einem Stoffetzen
zusammengebunden sind – fest an. Das Antlitz Jesu ist jedoch nicht streng,
solange er das elende Geschöpf betrachtet. Er ist traurig, lächelt aber, um
das Kind zu ermutigen. «Ist es wahr, daß du stehlen wolltest? Sag die
Wahrheit!»
«Nein, Herr. Ich habe um etwas
Brot gebettelt, weil ich Hunger habe. Man hat es mir verweigert, und da habe
ich eine ölige Kruste dort bei der Ölmühle auf der Erde gesehen und bin
hingegangen, um sie aufzuheben. Ich habe Hunger, Herr! Gestern hat man mir nur
ein Stück Brot gegeben, das ich für Matthias aufbewahrt habe... Warum hat man
uns nicht mit der Mutter ins Grab gelegt?» Das Mädchen weint untröstlich, und
der Knabe macht es ihm nach.
«Weine nicht!» Jesus tröstet es
liebkosend und zieht es an sich. «Antworte, woher bist du?»
«Ich bin aus der Ebene von
Esdrelon.»
«Und du bist bis hierher
gekommen?»
«Ja, Herr!»
«Ist es schon lange her, daß
deine Mutter gestorben ist? Hast du keinen Vater?»
«Der Vater ist zur Erntezeit
durch die Sonne umgekommen, und die Mutter ist im vergangenen Monat
gestorben... Sie und auch das Kind, das sie geboren hatte ...» Sie weint immer
stärker.
«Hast du denn keine Verwandten?»
«Wir kommen von sehr weit her.
Wir waren nicht arm... Dann hat der Vater dienen müssen. Jetzt ist er tot und
die Mutter mit ihm.»
«Unter welchem Herrn haben sie
gedient?»
«Beim Pharisäer Ismael.»
«Dem Pharisäer Ismael! ... (Die
Art, wie Jesus diesen Namen
298
wiederholt, läßt sich nicht
wiedergeben.) Seid ihr dort freiwillig weggelaufen oder hat er euch
fortgeschickt?»
«Er hat uns fortgejagt, Herr. Er
hat gesagt: "Auf die Straße mit euch, hungrige Hunde!»
«Und du, Jakob, warum hast du
diesen Kindern kein Brot gegeben? Ein Stück Brot, ein wenig Milch, eine
Handvoll Heu als Lager für ihre müden Glieder?»
«Aber Meister... ich habe kaum
genügend Brot für mich... und fast keine Milch... und sie noch ins Haus
nehmen... sie sind wie herrenlose Tiere, wenn man ihnen ein freundliches
Gesicht zeigt, dann gehen sie nicht mehr fort...»
«Du hast keinen Platz und keine
Nahrung für diese beiden Unglücklichen? Kannst du das ehrlich behaupten,
Jakob? Die reiche Ernte, der viele Wein, das viele Öl und das viele Obst, die
deinen Gutshof dieses Jahr so berühmt gemacht haben, wie bist du dazu
gekommen? Erinnerst du dich noch daran? Im vergangenen Jahr hätte dir der
Hagel beinahe die gesamte Ernte zerstört, und du hast dich um dein Leben
gesorgt... Ich bin gekommen und habe dich um dein Brot gebeten... Du hattest
mich eines Tages reden gehört und warst mir treu geblieben... und in deiner
Not hast du mir dein Herz und dein Haus geöffnet und Brot und Unterkunft
gegeben. Was habe ich dir dann beim Weggehen am anderen Morgen gesagt? "Jakob,
du hast die Wahrheit verstanden. Sei stets barmherzig, und du wirst
Barmherzigkeit erfahren. Dank des Brotes, das du dem Menschensohn gegeben
hast, werden dir diese Felder Getreide in Hülle und Fülle bringen, die
Obstbäume werden beladen sein, als würden sie die unzähligen Körner des Sandes
am Meer tragen, und die Äste deiner Apfelbäume werden sich unter der Last
ihrer Früchte bis zum Boden neigen." Meine Worte haben sich erfüllt, du bist
in diesem Jahr der Reichste in der Gegend und verweigerst zwei Kindern etwas
Brot... !»
«Aber du warst der Rabbi ...»
«Gerade deshalb hätte ich aus
Steinen Brot machen können, diese aber nicht. Nun sage ich dir: Du wirst ein
neues Wunder erleben, und es wird dir Leid widerfahren, großes Leid... Dann
schlage an deine Brust und sage: "Ich habe es verdient."»
Jesus wendet sich den Kindern zu:
«Weint nicht. Geht zu jenem Baum und pflückt.»
«Aber er ist kahl, Herr»,
entgegnet das Mädchen.
«Geh!»
Das Mädchen geht und kommt mit
dem Röcklein voll schöner, roter Äpfel zurück.
«Eßt und kommt mit mir», und zu
den Aposteln sagt Jesus: «Wir wollen gehen und diese beiden Kinder zu Johanna
des Chuza bringen. Sie ist
299
dankbar für die erhaltenen
Wohltaten und barmherzig aus Liebe zu dem, der ihr Barmherzigkeit erwiesen
hat. Laßt uns gehen.»
Der bestürzte und beschämte Mann
versucht, Vergebung zu erlangen. «Es ist Nacht, Meister. Es wird zu regnen
beginnen, während du unterwegs bist. Komm in mein Haus zurück. Da kommt schon
die Magd mit dem Brot ... Ich werde dir auch für diese davon geben.»
«Das ist nicht nötig, du würdest
es ja doch nicht aus Liebe geben, sondern nur aus Furcht vor der angekündigten
Strafe.»
«Dann war es nicht das Wunder,
von dem du gesprochen hast?» Er deutet auf die von dem zuvor kahlen Baum
gepflückten Äpfel, die die beiden Hungrigen nun gierig essen.
«Nein», sagt Jesus sehr streng.
«Oh, Herr, Herr! Habe Erbarmen
mit mir! Ich habe verstanden! Du willst mich mit einer schlechten
Getreideernte bestrafen! Erbarmen, Herr!»
«Nicht alle, die mich "Herr"
nennen, werden mich besitzen, denn nicht durch Worte, sondern durch Taten
beweist man Liebe und Ehrfurcht. Du wirst das Erbarmen erfahren, das du
gezeigt hast.»
«Ich liebe dich, Herr.»
«Das ist nicht wahr. Mich liebt
der, wer liebt, wie ich es gelehrt habe. Du liebst nur dich selbst. Wenn du
mich lieben wirst, wie ich es gelehrt habe, wird der Herr zurückkehren. Jetzt
gehe ich. Meine Sendung besteht aus: Gutes tun, die Betrübten trösten und die
Tränen der Waisen trocknen. Wie eine Glucke ihre Flügel über die wehrlosen
Küklein breitet, so breite ich meine Macht über jene aus, die leiden und
gequält werden. Kommt, Kinder, bald werdet ihr Heim und Brot haben. Leb wohl,
Jakob!»
Unzufrieden, fortgehen zu müssen,
bittet er Andreas, das müde Mädchen auf die Arme zu nehmen, der es in seinen
Mantel wickelt. Jesus nimmt den Knaben, und so gehen sie auf dem nunmehr
vollkommen dunklen Sträßchen mit ihrer Bürde der Barmherzigkeit, die jetzt
nicht mehr weint.
Petrus sagt: «Meister! Es war ein
großes Glück für die Kleinen, daß du dazugekommen bist. Aber für Jakob! ...
Was wirst du tun, Meister?»
«Gerechtigkeit walten lassen. Er
wird den Hunger nicht kennenlernen, denn er hat in seinen Scheunen noch
genügend Vorrat, aber er wird sich einschränken müssen, denn sein
ausgestreuter Same wird keine Ähre bringen und die Oliven- und Apfelbäume
werden nur Blätter tragen. Diese Unschuldigen haben nicht von mir, sondern von
meinem Vater Brot und Dach erhalten, denn mein Vater ist auch der Vater der
Waisen, er, der den Vöglein im Wald Nest und Nahrung gibt. Diese können sagen,
und mit ihnen alle Armen, die seine "unschuldigen und liebenden Kinder"
bleiben, daß Gott in ihre kleine Hand die Nahrung gelegt hat und daß er sie
mit väterlicher Führung in ein gastfreundliches Haus geleitet hat.»
Die Vision endet so, und ein
großer Friede bleibt in mir zurück.
300
342. «NUTZLOS IST DER EMPFANG DER
SAKRAMENTE, WENN DIE LIEBE FEHLT»
Jesus sagt:
«Für alle gilt die Lehre: Ich
weiß, "Herr" mit Gerechtigkeit zu sein. Man hintergeht mich nicht und
schmeichelt mir nicht mit lügenhaften Ehrenbezeigungen.
Wer dem Bruder sein Herz
verschließt, verschließt es auch Gott, und Gott verschließt ihm das seine.
Dies ist das erste der Gebote, o
Menschen: Liebe und immer wieder Liebe. Wer nicht liebt, lügt in seinem
Bekenntnis, Christ zu sein. Nutzlos ist der Empfang der Sakramente und die
Teilnahme an den Riten, unnütz das Gebet, wenn die Liebe fehlt. Sie werden zu
Formeln und Sakrilegien. Wie könnt ihr zum ewigen Brot kommen und euch daran
sättigen, wenn ihr einem Hungrigen ein Brot verweigert habt? Ist euer Brot
kostbarer als das meine? Ist es heiliger?
O ihr Heuchler! Ich lege meiner
Hingabe an euer Elend kein Maß an, und ihr, die ihr elend seid, habt kein
Erbarmen mit dem Elend, welches in den Augen Gottes nicht so verabscheuenswert
ist wie das eurige; denn jenes ist Unglück, während das eurige Sünde ist.
Allzu oft sagt ihr zu mir: "Herr, Herr" ' um mich für eure Interessen
wohlwollend zu stimmen, aber ihr sagt es nicht aus Nächstenliebe, denn ihr tut
nichts im Namen des Herrn für den Nächsten.
Schaut: was hat euch eure
verlogene Religion und wahre Unbarmherzigkeit in euerem Gemeinschaftsleben und
im Leben jedes einzelnen gebracht? Die Abkehr von Gott. Gott wird
zurückkehren, wenn ihr zu lieben versteht, wie ich es gelehrt habe.
Doch zu euch, kleine Herde jener,
die ihr eurer Güte wegen leidet, sage ich: "Ihr werdet nie Waisen sein. Ihr
werdet nie verlassen sein. Eher würde Gott aufhören, Gott zu sein, als es an
Vorsehung seinen Kindern gegenüber fehlen zu lassen. Streckt die Hand aus: der
Vater gibt euch alles als "Vater", also mit Liebe, die nicht demütigt.
Trocknet eure Tränen. Ich nehme euch auf und trage euch, denn ich habe
Erbarmen mit eurem Schmachten.
Das geliebteste unter den
Geschöpfen ist der Mensch! Glaubt ihr vielleicht, daß der Vater
erbarmungsvoller mit dem Vogel ist als mit dem treuen Menschen? Er, der auch
mit den Sündern langmütig ist und ihnen Zeit und Möglichkeit gewährt, zu ihm
zu kommen? Oh, wenn die Welt begreifen würde, was Gott ist!»
Jesus sagt:
«Wenn ich dir unbekannte Szenen
meines öffentlichen Lebens enthülle, dann höre ich schon den Chor der
kritischen Gelehrten sagen: "Aber dieses Geschehnis wird in den Evangelien
nicht erwähnt. Wie kann sie behaupten: 'Ich habe dies gesehen?"' Diesen
antworte ich mit den Worten des Evangeliums.
301
"Und Jesus ging in alle Städte
und Dörfer und lehrte in den Synagogen, predigte das Evangelium des Reiches
und heilte alle Leiden und Krankheiten", sagt Matthäus.
Und weiter: "Geht und berichtet
Johannes, was ihr seht und hört: Die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die
Aussätzigen werden rein, die Tauben hören, die Toten stehen auf, und den Armen
wird die Frohe Botschaft verkündet."
Und weiter: "Wehe dir, Chorazim!
Wehe dir, Bethsaida! Wenn in Tyrus und Sidon die Wunder geschehen wären, die
in eurer Mitte geschehen sind, dann hätten sie längst in Sack und Asche Buße
getan... Und du, Kapharnaum, wirst du vielleicht bis zum Himmel erhoben
werden? Du wirst bis zur Hölle hinabsteigen; denn wenn in Sodom die Wunder
geschehen wären, die in dir geschahen, so würde es heute noch bestehen."
Und Markus: "... und es folgten
ihm viele aus Galiläa, Judäa, Jerusalern, Idumäa und von jenseits des Jordan.
Auch aus der Gegend von Tyrus und Sidon kam viel Volk zu ihm, das von seinen
Taten gehört hatte..."
Und Lukas: "Jesus ging in die
Städte und Dörfer und predigte und verkündete die Frohe Botschaft und das
Reich Gottes, und mit ihm waren die Zwölf und einige Frauen, die von bösen
Geistern und Krankheiten befreit worden waren!"
Und mein Johannes: "Danach ging
Jesus auf die andere Seite des galiläischen Meeres, und viel Volk folgte ihm,
denn es sah die Wunder, die er an den Kranken gewirkt hatte."
Und da Johannes bei allen Wundern
zugegen war, die ich in diesen drei Jahren gewirkt habe – welcher Art sie auch
immer waren – gibt der Lieblingsjünger folgendes unbegrenztes Zeugnis: "Das
ist der Jünger, der diese Dinge gesehen und sie aufgeschrieben hat, und wir
wissen, daß sein Zeugnis wahr ist. Es gibt aber noch vieles andere, was Jesus
getan hat. Wollte man jedoch alles im einzelnen niederschreiben, so würde –
glaube ich – die ganze Welt nicht genügen, um die Bücher, die geschrieben
werden müßten, aufzunehmen."
Was sagen die schwierigen
Gelehrten nun?
Wenn meine Güte, um eine mich
Liebende zu trösten, die für euch mein Kreuz trägt – sie hat es mir von den
Schultern genommen, weil sie mich so sehr liebt, daß sie lieber sterben
möchte, als mich betrübt zu sehen – wenn meine Güte, um euch aus der tödlichen
Lethargie zu wecken, euch Episoden meines Wirkens enthüllt, wollt ihr dann
diese Güte tadeln? Wahrlich, ihr verdient es nicht, dieses Geschenk und diese
Mühe eures Erlösers, der euch aus dem Sumpf ziehen möchte, in dem ihr
erstickt. Da ich euch aber das Geschenk mache, nehmt es an und erhebt euch. Es
sind neue Noten im Chor, die meine Evangelien singen. Wenn sie wenigstens dazu
dienten, eure Aufmerksamkeit zu wecken, denn ihr kennt die Episoden der
Evangelien sehr schlecht und lest sie voller Unachtsamkeit.
Oder denkt ihr, daß ich in drei
Jahren nur die wenigen berichteten Wunder gewirkt habe? Glaubt ihr vielleicht,
daß nur die wenigen genannten Frauen geheilt worden sind? Wenn der Schatten
des Petrus schon genügte, um zu heilen, was wird dann erst mein Schatten
gewirkt haben? Und mein Atem? Und mein Blick? Denkt an die blutflüssige Frau:
"Wenn es mir gelingt, den Saum seines Gewandes zu berühren, dann bin ich
geheilt."
Und es war so. Unaufhörlich ging
die Kraft des Wunders von mir aus. Ich war gekommen, um zu Gott zu führen und
die Schleusen der Liebe zu öffnen, die seit dem Tag des Sündenfalles
verschlossen waren. Jahrhunderte zurückgehaltener Liebe ergossen sich wie
Flüsse über die kleine Welt von Palästina. Die ganze Liebe Gottes für den
Menschen, die sich endlich entfalten konnte, wie sie es erschnte, um die
Menschen zuerst mit der Liebe und dann mit dem Blut zu erlösen.
Ihr werdet mir vielleicht sagen:
"Aber warum denn diese, die ein so elendes Wesen ist?" Ich werde euch
antworten, wenn sie, die ihr so verachtet und die ich so liebe, weniger
erschöpft ist. Ihr würdet das Schweigen verdienen, das ich für Herodes hatte.
Doch es ist mein Versuch, euch zu erlösen, euch, die ihr wegen des Stolzes am
schwierigsten zu überzeugen seid.»
302
21. August 1944:
Jesus sagt:
«Ich will euch antworten mit den
Worten des Apostels Paulus: "Die Glieder, die am schwächsten scheinen, sind
die notwendigsten; jene, die wir für die niedrigsten halten, schmücken wir in
besonderer Weise; was an uns unanständig ist, das behandeln wir mit aller
Rücksicht, während die anständigen Teile keiner Rücksicht bedürfen. Nun hat
Gott die Dinge umgekehrt und die Glieder, die bisher keine Achtung genossen,
für achtenswert erklärt."
Glaubt ihr, diese "kleine Stimme"
bilde sich ein, etwas Großes zu sein? Wenn ihr sie fragtet, würde sie euch
antworten: "Ich bin das schwächste und geringste Glied am Leib Christi." Dies
würde sie euch in wahrer Aufrichtigkeit sagen. Doch ihr würdet ihr nicht
glauben, denn jeder mißt mit seinem Maßstab. Und ihr, die ihr weder demütig
noch aufrichtig seid, sagt: "Ich bin böse", damit ihr hören könnt: "Aber nein,
du bist gut"; ihr, die ihr dies im Obermaß von euch selbst denkt; und wenn
einer aus Nächstenliebe so ehrlich ist, daß er schweigt, weil er euch als
weniger gut oder schlecht erkannt hat, und euch nicht lobt, dann geratet ihr
in Zorn gegen ihn und haßt ihn, weil er euch nicht lobt; aber ihr wollt nicht
glauben, daß sie ehrlich ist. Doch ich, der ich ihre Gedanken lese und ins
Innere ihres Herzens sehe, ich weiß, was sie über sich selbst denkt. Wie oft
erklingen in den Gesprächen zwischen dieser Seele und ihrem Gott überzeugende
Worte. Sie sagt: "Aber wie konntest du mich wählen, Herr, da ich nichts wert
bin, oft gefehlt habe und immer wieder fehle?" Und beinahe zweifelt sie an
mir, denn es scheint ihr unmöglich, daß ich sie für diese Aufgabe erwählt
habe.
Schwach, äußerst schwach glaubt
sie sich. Und wenn sie sich mit der Vollkommenheit vergleicht, ist sie
schwächer als ein Haar eines Neugeborenen. Minderwertig glaubt sie sich. Und
wenn wir sie mit ihrem Gott vergleichen, dann ist sie noch weniger als ein im
Schlamm geborener Wurm. Doch sie hat eine einzige Kraft: die totale Liebe. In
ihrem Geben und Sich-Hingeben denkt sie nie an sich oder an den Nutzen, der
ihr von anderen kommen könnte. Sie denkt nur daran, mir allein zu gefallen,
mir allein zu dienen, und sie macht sich dadurch sogar in der Welt unbeliebt.
Sie hat es soweit gebracht, daß sie sich selbst als Fleisch haßt. Mit jenem
heiligen Haß, den ich gelehrt habe, als ich sagte: "Wer sein (irdisches) Leben
reiten will, wird es verlieren (das ewige), und wer es aus Liebe zu mir
verliert, wird es finden." Heiliger Haß dessen, der das Wort verstanden hat!
Wegen dieser Liebe, die über ihre
Schwäche siegt, habe ich sie erwählt. Eines Tages habe ich ein Kind geholt und
es in die Mitte meiner Apostel gestellt, um ihnen ein Beispiel zu geben. Denn
das Kind liebt mit allen seinen Kräften und hat keinen Gedanken des Stolzes.
Im kleinen Kind aber bringt der Same Satans als erste Ähre den Stolz hervor,
und dieser blüht, wenn der Same kaum den Halm aus dem Mutterschoß erhoben hat;
dann setzt er die zweite Ähre der Sinnlichkeit und die dritte der Macht- und
der Geldgier an. Doch die erste Ähre ist immer der Stolz, und er keimt auf den
Lippen, die eben erst die Süße der Muttermilch vergessen haben.
Wie Kinder will ich meine Jünger,
um ihnen die Worte des Lebens zu geben. Wie schön war es doch zu sehen, als
sie, die Händchen voller Blumen, zu mir kamen, um mir zu sagen: "Nimm", um
dann lächelnd davonzulaufen und mit neuen Blümchen zurückzukehren, wie in
einem Spiel der Liebe, vertrauensvoll, aufrichtig und liebevoll... Ich will
Kinder in der Welt, um die Welt zu heiligen. Und da die Unschuld, die
vorübergeht und unter euch wohnt, nicht vermag, euch zu bessern: sie müßte es,
denn die Unschuld ist ein Wesen des Himmels, ein Wesen, das Reinheit und
Friede ausströmt und ohne Worte von Gott spricht, der es geschaffen hat; das,
ohne zu reden, Ehrfurcht gebietet für das, was Gott gehört; das um Erbarmen
und Liebe fleht für sein Kindsein; das nicht verdorben werden darf wegen
seiner Schwäche, die geliebt werden muß; Blume eures Nächsten, wie der Kranke
und Leidende eine Blume ist, weiß die erste, rot und violett die beiden
anderen; Blumen, die ihr bevorzugen sollt unter den Nächsten, die geliebt
werden müssen. Da die Unschuld des Kindesalters
303
nicht genügt, erschaffe ich die
geistigen Kinder, die von einer Wissenschaft durchdrungen sind, die ihr nicht
habt, die zugleich demütig, einfach, vertrauensvoll und aufrichtig sind,
Kinder, die lächelnd ihre ersten Schrittchen machen und wissen, daß sie ohne
Mutter fallen würden, und sie deshalb nie loslassen.
Auch sie, auch sie läßt mich
nicht los. Und gerade deshalb wird ihr und ihnen, die euch so schwach und
wertlos erscheinen, das gegeben, was euch nicht gegeben wird.
Im mystischen Leib sind es gerade
diese von der Welt der Hochmütigen verachteten Glieder, die am meisten wirken.
Ein Finger ist kein Gehirn. Aber was würdet ihr ohne Finger tun? Ihr könntet
die einfachsten und demütigsten Werke des Lebens nicht vollbringen; ihr wäret
wie ein Neugeborenes in Windeln, das nicht einmal die Brust nehmen und daraus
trinken kann, wenn die Mutter es nicht mit den Lippen an sie legt. Ihr wäret,
wenn auch noch so gelehrt und intelligent, unfähig, den Gedanken eures Gehirns
auf dem Papier zu verewigen.
So auch sie. Sie ist ein
Finger... Aber diesem kleinen Teil habe ich die Aufgabe gegeben, euch zum
Licht zu führen und euch das Licht zu zeigen. Das Licht, das euch wieder
entzünden will, ihr Lampen, die ihr unter dem Rauch des Rationalismus rußig
geworden oder durch das Geld, die Sinnlichkeit und die Lieblosigkeit
ausgelöscht worden seid. Nieder, auf die Knie! Nicht vor der "kleinen Stimme",
sondern vor dem Wort, das spricht! Die "kleine Stimme" wiederholt nur seine
Worte. Sie ist das Werkzeug ihres Gottes. Betet den Herrn an, der spricht. Den
Herrn! Die "kleine Stimme" ist namenlos! Ich will sie vor der Welt verbergen.
Später wird sie bekannt sein. Jetzt ist sie nur "Stimme". Sie überträgt meine
Stimme. Ihre Ehre ist ihr Martyrium, denn jede Auserwählung Gottes bedeutet
Kreuzigung des Seins.
Ich verlange nicht einmal, daß
ihr sie liebt. Ihr genüge ich, und sie verlangt nichts anderes. Aber ich will,
daß ihr sie in Frieden laßt und ihr die Achtung bezeugt, die ihr einem
Werkzeug Gottes schuldig seid.»
343. «ES GIBT KEIN ELEND, DAS
JESUS NICHT
IN REICHTUM VERWANDELN KÖNNTE»
Maria sagt:
«Maria, jetzt spricht die Mutter.
Mein Jesus hat von der geistigen Kindheit gesprochen, die notwendig ist, um
das Reich zu gewinnen. Gestern hat er dir eine Seite seines Lebens als Meister
gezeigt. Du hast Kinder gesehen, arme Kinder. Wäre da weiter nichts zu sagen?
Doch, und ich sage es dir. Dir, der ich Jesus immer teurer machen möchte. Es
ist eine Feinheit in dem Bild, das für den Geist vieler zu deinem Geist
gesprochen hat. Aber es sind gerade die Feinheiten, die ein Bild schön machen
und die Fähigkeit des Malers und das Verständnis des Betrachters enthüllen.
Ich möchte dich auf die Demut
meines Jesu aufmerksam machen.
Das arme Mädchen behandelt in
seiner unwissenden Einfalt den hartherzigen Sünder nicht anders als meinen
Sohn. Es weiß nichts vom Rabbi und vom Messias. Es ist nur eine kleine Wilde,
die auf den Feldern und in einem Haus gelebt hat, wo man den Meister verachtet
hat, denn der Pharisäer Ismael verachtete meinen Jesus, und es hat nie von
Jesus gehört oder ihn gesehen.
304
Vater und Mutter, zerbrochen an
der schweren Arbeit, die der grausame Herr aus Gewinnsucht auferlegte, hatten
weder Zeit noch Möglichkeit, ihr Haupt von der Scholle, die sie fruchtbar
machten, zu erheben. Vielleicht haben sie, während sie Gras und Korn mähten,
Früchte und Weintrauben pflückten oder die Oliven in der harten Mühle
zerquetschten, ein Hosannarufen gehört und dann für einen Augenblick das müde
Haupt erhoben. Aber Angst und Müdigkeit ließen sie bald wieder die Häupter
unter ihrem Joch senken. Sie sind gestorben mit dem Gedanken, daß die Welt nur
Haß und Schmerz bedeutet, während doch die Welt lieb und gut geworden ist,
seit die heiligsten Füße meines Jesu sie betreten haben. Arme Knechte eines
erbarmungslosen Herrn! Sie sind gestorben, ohne auch nur ein einziges Mal dem
Blick und dem Lächeln meines Jesus begegnet zu sein, ohne sein Wort gehört zu
haben, das dem Geist einen Reichtum verleiht, durch den sich die Notleidenden
reich, die Hungrigen gesättigt, die Kranken geheilt und die Trauernden
getröstet fühlen.
Jesus sagt nicht: "Ich, der ich
der Herr bin, sage dir: Tue dies!" Er bewahrt seine Anonymität.
Doch die Kleine, so unwissend,
daß sie nicht einmal angesichts des Wunders aufmerksam wird, durch das ein
Zweig des kahlen Apfelbaumes Äpfel trägt, um ihren Hunger zu stillen, fährt
fort, ihn "Herr" zu nennen, wie sie Ismael "Herr" und Jakob "grausam" nannte.
Sie fühlt sich zu dem guten Herrn hingezogen, weil Güte immer anzieht, nichts
weiter. Sie folgt ihm vertrauensvoll. Sie liebt ihn sofort, instinktiv, das
arme kleine Wesen, das in der Welt und in der von der Welt gewollten
Unwissenheit verloren ist; in der "großen Welt der Mächtigen und der
Genießer", die die Niedrigen in der Finsternis lassen will, um sie leichter
quälen und ausnützen zu können. Sie wird noch erfahren, wer jener "Herr" war,
der arm gewesen ist wie sie, ohne Haus und Nahrung, ohne Mutter, denn er hatte
alles verlassen aus Liebe zu den Menschen, auch zu dem Menschlein, das sie
war; der Herr, der ihr wunderbare Früchte geschenkt und ihr die Bitterkeit
menschlicher Bosheit, die den Haß der Elenden gegen die Mächtigen bewirkt, von
den Lippen und aus dem Herzen genommen hat, mit einer Frucht des Vaters, nicht
mit einem Brocken Brot, der zu spät gereicht wurde und für das Kind nur den
Geschmack der Härte und der Tränen gehabt hätte.
Wahrlich, jene Äpfel erinnerten
an den Apfel des irdischen Paradieses. Als Frucht des Baumes des Guten und des
Bösen hätten sie Erlösung von allem Elend bedeutet, vor allem Befreiung aus
der Unkenntnis Gottes für diese beiden Waisenkinder und sichere Strafe für
jene, die das Wort schon kannten, aber so gehandelt hatten, als ob sie es
nicht kennen würden.
Das Mädchen wird später von der
Guten, die sie im Namen Jesu aufgenommen hat, erfahren, wer Jesus war. Für sie
war er der mehrfache Retter.
305
Vor Hunger, vor Unwetter, vor den
Gefahren der Welt und vor den Folgen der Erbschuld hat er sie gerettet.
Für sie stand Jesus immer im
Licht jenes Tages. Er ist für immer erschienen als der gute Herr, erfüllt von
einer märchenhaften Güte, der für sie Liebkosungen und Geschenke hatte, der
sie vergessen ließ, daß sie ohne Vater, ohne Mutter, ohne Dach und Kleider
war; denn er war gut zu ihr wie ein Vater und liebevoll wie eine Mutter; er
gab ihr in ihrer Müdigkeit ein Nestlein und bedeckte ihre Nacktheit mit seiner
Brust und seinem Mantel und mit dem der anderen Guten, die bei ihm waren.
Es war ein väterliches, mildes
Licht, das nicht einmal von der Flut der Tränen ausgelöscht wurde, als sie
erfuhr, daß er an einem Kreuz gestorben war; nicht einmal, als sie, die kleine
Gläubige der ersten Kirche, sah, was aus dem Antlitz ihres "Herrn" unter den
Schlägen und Dornen geworden war, und wie er nunmehr im Himmel zur Rechten des
Vaters saß. Ein Licht, das ihr zulächelte in ihrer letzten Stunde auf Erden
und sie frei von Ängsten ihrem Erlöser zuführte. Ein Licht, das ihr nun immer
zulächelt, so unaussprechlich mild im Glanz des Paradieses.
Jesus schaut auch dich so an.
Schau ihn immer an, wie das einstige gleichnamige Mädchen, und sei glücklich
über seine Liebe. Sei schlicht, demütig und treu wie die arme und kleine
Maria, die du kennengelernt hast. Schau, wohin sie gelangt ist, obwohl sie
eine kleine, unwissende Israelitin war: zum Herzen Gottes. Die Liebe hat sich
ihr wie dir geoffenbart, und sie wurde eine Gelehrte der wahren Weisheit.
Hab Vertrauen, sei im Frieden. Es
gibt kein Elend, das mein Sohn nicht in Reichtum umwandeln könnte, und es gibt
keine Einsamkeit, die er nicht ausfüllen könnte, wie es auch keine Fehler
gibt, die er nicht auslöschen könnte. Es gibt keine Vergangenheit mehr, wenn
die Liebe sie auslöscht. Nicht einmal eine schreckliche Vergangenheit. Willst
du dich fürchten, wenn nicht einmal der Räuber Dismas Furcht hatte? Liebe,
liebe und fürchte nichts!
Die Mama verläßt dich mit ihrem
Segen.»
344. «ICH WILL, DASS DIE WAISEN
EINE MUTTER HABEN»
Der See von Tiberias sieht aus
wie eine Schieferplatte von der Farbe matten Quecksilbers, so schwer und
unbeweglich, daß es ihm nicht gelingt, Schaum zu bilden. Er bleibt still und
ruhig, nachdem er angedeutet hat, sich bewegen zu wollen, und paßt sich den
übrigen glanzlosen Gewässern unter einem glanzlosen Himmel an.
Am schmalen Strand von Bethsaida
machen sich Petrus und Andreas bei ihrem Boot zu schaffen, während Jakobus und
Johannes das ihrige für die Abreise vorbereiten.
Geruch von Kräutern und nassen
Erdschollen, leichte Nebel auf den ausgedehnten Wiesen in Richtung Chorazim.
Schwermutstimmung des Novembers liegt über allen Dingen.
306
Jesus verläßt das Haus des
Petrus, die Kinder Matthias und Maria an der Hand, die Porphyria mit
mütterlicher Sorgfalt gekleidet hat.
Das Kleidchen Marias ist nun
durch ein Gewand Margziams ersetzt worden. Matthias hingegen ist zu klein, um
in den Genuß einer ähnlichen Wohltat zu kommen. Er zittert noch in seinem
verwaschenen Baumwollkittelchen, so daß Porphyria mitleidig ins Haus geht und
mit einem Stück Decke zurückkehrt, in das sie das Kind einwickelt, als ob es
ein Mantel wäre. Jesus dankt ihr, während sie beim Abschied niederkniet und
sich dann nach einem letzten Kuß für die beiden Waisenkinder zurückzieht.
«Nur um Kinder zu haben, hätte
sie auch diese genommen», bemerkt Petrus, der die Szene beobachtet hat und
sich niederbeugt, um den beiden Kindern ein Honigbrot zu geben, das er unter
einem Bootssitz aufbewahrt hatte. Andreas lacht darüber und sagt: «Kriegst du
nichts? Du hast sogar deiner Frau den Honig gestohlen, um den beiden eine
kleine Freude zu machen.»
«Gestohlen! Gestohlen! Das ist
mein Honig!»
«Ja, aber meine Schwägerin
behütet ihn, denn er gehört Margziam, und obwohl du das weißt, hast du dich
heute nacht wie ein Dieb barfuß in die Küche geschlichen, um davon zu holen
und das Brot herzurichten. Ich habe dich gesehen, Bruder, und gelacht, weil du
dich wie ein Kind, das sich vor Mutters Ohrfeigen fürchtet, umgesehen hast.»
«Du böser Spion!» lacht Petrus
und umarmt seinen Bruder, der ihn küßt und sagt: «Mein lieber Bruder!»
Jesus zwischen den beiden
Kindern, die ihr Brot verschlingen, beobachtet sie lächelnd.
Von Bethsaida kommen die anderen
acht Apostel, die wahrscheinlich Gäste des Philippus und Bartholomäus waren.
«Schnell!» schreit Petrus und
packt mit einem Griff beide Kinder, um sie ins Boot zu setzen, ohne daß die
nackten Füßchen naß werden. «Ihr habt keine Angst, nicht wahr?» fragt er,
während er mit seinen kurzen, kräftigen, bis über die Knie nackten Beinen, im
Wasser watet.
«Nein, Herr», sagt das Mädchen,
klammert sich jedoch krampfhaft am Hals des Petrus fest und schließt die
Augen, als dieser es ins Boot setzt, das unter dem Gewicht Jesu, der es
besteigt, schwankt. Der kleine Junge, der mutiger oder verwunderter ist, sagt
nichts. Jesus setzt sich, zieht die beiden Kleinen an sich und bedeckt sie mit
seinem Mantel, der wie ein zum Schutz der Küklein ausgebreiteter Flügel
aussieht.
Sechs in dem einen Boot, sechs im
anderen, so sind nun alle hinein. Petrus entfernt den Landesteg, stößt das
Boot mit seiner kräftigen Hand weiter ins Wasser und schwingt sich mit einem
letzten Sprung an Bord, während Jakobus es mit seinem Boot ebenso macht. Der
Sprung des Petrus hat die Barke in starkes Schaukeln gebracht, so daß die
Kleine jammert: «Mutter!» und ihr Gesicht im Schoß Jesu verbirgt und seine
307
Knie umklammert. Nun gleitet das
Boot sanft dahin, obgleich Petrus, Andreas und der Schiffsjunge, denen
Philippus als vierter Mann zu Hilfe kommt, mühsam rudern müssen. Das Segel
hängt schlaff in der schweren, feuchten Windstille und hilft nichts, es muß
gerudert werden.
«Eine schöne Ruderpartie!» ruft
Petrus denen im Zwillingsboot zu, wo Iskariot den vierten Mann ersetzt und
ausgezeichnet rudert, was Petrus lobt.
«Streng dich an, Simon!»
entgegnet Jakobus. «Streng dich an, sonst werden wir dich überholen. Judas ist
stark wie ein Galeerensträfling. Bravo, Judas!»
«Ja, wir werden dich zum
Gruppenführer der Rudermannschaft ernennen», bestätigt Petrus, der für zwei
rudert, und lachend fügt er an: «Aber es wird euch nicht gelingen, Simon des
Jonas den ersten Platz streitig zu machen, denn mit zwanzig Jahren war ich
schon der erste Ruderer bei den Wettkämpfen zwischen den verschiedenen
Dörfern», und fröhlich gibt er seiner Gruppe den Takt an: «Oh... hissa! Oh...
hissa!» Die Stimmen schallen durch das Schweigen des zur Morgenstunde
verlassenen Sees.
Die Kinder schöpfen neuen Mut,
und unter dem Mantel erheben sie die mageren Gesichtlein, das eine rechts, das
andere links vom Meister, der sie umfangen hält, und lächeln kaum merklich.
Sie interessieren sich für die Arbeit der Ruderer und tauschen ihre Meinungen
aus.
«Das ist ja wie das Fahren auf
einem Wagen ohne Räder», sagt der Knabe.
«Nein, auf einem über die Wolken
gleitenden Wagen. Schau! Es ist, als würden wir über den Himmel getragen.
Schau, schau, jetzt steigen wir auf eine Wolke!» sagt Maria, als sie sieht,
wie das Boot seinen Bug an einer Stelle ins Wasser taucht, wo sich eine große
Wolke widerspiegelt, und lacht zaghaft. Die Sonne durchdringt die Nebel, und
trotz der nur blassen Novembersonne werden die Wolken golden und spiegeln sich
schillernd im See.
«Oh, wie schön! Jetzt fahren wir
auf Feuer. Oh, schön, schön!» und der Kleine klatscht in die Hände.
Das Mädchen jedoch schweigt und
bricht plötzlich in Tränen aus. Alle wollen wissen, warum es weint.
Schluchzend erklärt es: «Die Mutter erzählte uns immer ein Gedicht, einen
Psalm, ich weiß nicht, um uns zum Guten zu ermuntern, damit wir auch bei so
viel Leid noch beten konnten... und dieses Gedicht handelte von einem
Paradies, das wie ein See von Licht, von mildem Feuer sein wird, wo es nur
Gott und Freude gibt, und wo alle hingehen werden, die gut sind... nachdem der
Erlöser gekommen ist... Dieser goldene See hat mich daran erinnert... an meine
Mutter!»
Auch Matthias weint, und alle
bemitleiden die beiden.
Doch über das Murmeln der
verschiedenen Stimmen und die Klage der Kinder erhebt sich die sanfte Stimme
Jesu: «Weint nicht, eure Mutter hat
308
euch zu mir geführt, und sie ist
hier unter uns, während ich euch zu einer Mutter ohne Kinder führe. Sie wird
so glücklich sein, zwei gute Kinder anstelle des eigenen zu haben, das nun
dort ist, wo eure Mutter ist. Denn auch sie hat geweint, wißt ihr? Ihr ist das
Kindlein gestorben, wie euch die Mutter...»
«Oh, dann gehen wir zu ihr, und
ihr Kind kann zu unserer Mutter gehen!» sagt Maria.
«Genau so wird es sein, und ihr
werdet alle glücklich sein.»
«Wie ist denn diese Frau? Was tut
sie? Ist sie eine Bäuerin? Hat sie einen guten Herrn?» interessieren sich die
Kinder.
«Sie ist keine Bäuerin, aber sie
hat einen Garten voller Rosen und ist gut wie ein Engel. Sie hat einen guten
Mann, und auch er wird euch gern haben.»
«Meinst du, Meister?» fragt
Matthäus ein wenig ungläubig.
«Ich bin sicher. Ihr werdet euch
davon überzeugen können. Vor kurzem wollte Chuza den Margziam haben, um aus
ihm einen Ritter zu machen.»
«Alles, nur das nicht!» schreit
Petrus.
«Margziam wird ein Ritter Christi
werden, nur das, Simon, sei beruhigt!»
Der See wird wieder grau. Ein
leichter Wind weht, der die Oberfläche des Wassers kräuselt. Das Segel spannt
sich und das Boot gleitet zitternd dahin. Aber die Kinder sind so in Träumen
von der neuen Mutter versunken, daß sie keine Angst verspüren.
Nun kommen sie an Magdala vorbei
mit seinen weißen Häusern im Grünen, dann lassen sie das Gebiet zwischen
Magdala und Tiberias hinter sich und sehen die ersten Häuser von Tiberias.
«Wohin, Meister?»
«Zur kleinen Landestelle Chuzas.»
Petrus wendet und gibt dem
Schiffsjungen Anweisungen. Das Segel fällt herab, während das Boot in den
kleinen Hafen einfährt und, gefolgt vom anderen Boot, an der Mole anlegt. Nun
stehen die beiden Barken nebeneinander still wie zwei müde Entlein. Alle
steigen aus, und Johannes eilt voraus, um den Gärtnern etwas zuzurufen.
Die Kleinen klammern sich
furchtsam an Jesus, und Maria fragt mit einem Seufzer, indem sie am Gewand
Jesu zupft: «Aber wird sie auch wirklich gut sein?»
Johannes kommt zurück. «Meister,
ein Diener öffnet soeben das Tor. Johanna ist schon aufgestanden.»
«Gut. Wartet alle hier. Ich werde
vorausgehen.»
Jesus geht allein voraus. Die
anderen schauen ihm nach und machen mehr oder weniger positive Bemerkungen
über den Versuch, den Jesus unternimmt. Es fehlt weder an Zweifeln noch an
Kritik. Doch von dem
309
Ort aus, an dem sie sich
befinden, sehen sie nur, wie Chuza herbeieilt und sich auf der Schwelle des
Tores bis zum Boden verbeugt, um sich dann zur Linken Jesu in den Garten zu
begeben. Weiter sehen sie nichts.
Aber ich sehe Jesus, der langsam
an der Seite Chuzas geht, welcher seine ganze Freude zeigt, Jesus zu Gast zu
haben: «Meine Johanna wird wie ich sehr glücklich sein. Es geht ihr immer
besser. Sie hat mir von der Reise erzählt. Welche Triumphe, mein Herr!»
«Hast du es nicht bedauert?»
«Johanna ist glücklich, und ich
bin glücklich, sie so zu sehen. Schon seit Monaten hätte ich sie vielleicht
nicht mehr gehabt, Herr!»
«Du hättest... und ich habe sie
dir wiedergegeben. Sei Gott dankbar dafür!»
Chuza schaut ihn verlegen an...
dann flüstert er: «Soll das ein Vorwurf sein, Herr?»
«Nein, ein Rat! Sei gut, Chuza!»
«Meister, ich bin ein Diener des
Herodes ...»
«Ich weiß es. Aber deine Seele
ist nur Dienerin Gottes, wenn du es willst.»
«Das ist wahr, Herr. Ich werde
mich bessern. Manchmal packt mich Menschenfurcht...»
«Hättest du sie auch im
vergangenen Jahr gekannt, als du Johanna retten wolltest?»
«O nein! Auf Kosten jeglicher
Ehrenstellen hätte ich mich an den gewandt, von dem ich glaubte, daß er sie
retten könne.»
«Tue dasselbe für deine Seele,
denn sie ist noch kostbarer als Johanna. Siehe, da kommt sie.»
Sie gehen ihr rasch entgegen, und
sie eilt in der Allee auf sie zu.
«Mein Meister! Ich habe nicht
erwartet, dich so bald wiederzusehen. Welche Güte führt dich zu deiner
Dienerin?»
«Eine Not, Johanna!»
«Eine Not? Welche? Sprich, wenn
wir dir helfen können, wollen wir es tun», sagen die Eheleute gleichzeitig.
«Ich habe gestern abend auf einem
verlassenen Weg zwei arme Kinder gefunden... ein kleines Mädchen und einen
kleinen Knaben... barfuß, mit zerfetzten Kleidern, hungrig und allein... und
ich habe gesehen, wie sie von einem Mann vertrieben wurden, wie Hunde von
einem herzlosen Menschen. Sie waren am Verhungern... Dem Mann habe ich im
vergangenen Jahr eine reiche Ernte geschenkt, er aber hat den beiden Waisen
ein Stücklein Brot verweigert. Es sind Waisenkinder, allein auf den Wegen der
grausamen Welt. Jener Mann wird seine Strafe erhalten, und ihr, wollt ihr
meinen Segen haben? Ich strecke meine Hand aus und bettle um Liebe für die
Waisen ohne Haus, ohne Kleider, ohne Nahrung, ohne Liebe. Wollt ihr mir
helfen?»
310
«Aber Meister! Du fragst uns?
Sage, was du willst, wieviel du willst, sage alles ...» sagt Chuza schnell.
Johanna sagt nichts, sie preßt
ihre Hände an die Brust, und eine Träne an den langen Wimpern, ein
sehnsüchtiges Lächeln auf den roten Lippen, sagen mehr, als wenn sie sprechen
würde. Jesus schaut sie an und lächelt: «Ich wünschte, daß diese Kinder eine
Mutter, einen Vater und ein Heim hätten, und daß die Mutter den Namen Johanna
hätte ...»
Er hat noch nicht ausgesprochen,
als schon der Aufschrei Johannas ertönt, wie der eines aus dem Gefängnis
Entlassenen, während sie sich niederwirft, um die Füße ihres Herrn zu küssen.
«Chuza, was meinst du? Nimmst du
in meinem Namen diese meine geliebten, teuren Kleinen auf, die meinem Herzen
mehr bedeuten als Edelsteine?»
«Meister, wo sind sie? Führe mich
zu ihnen, und ich schwöre dir bei meiner Ehre, daß ich sie von dem Augenblick
an, da ich meine Hand auf ihr unschuldiges Haupt lege, wie ein leiblicher
Vater in deinem Namen lieben werde.»
«So kommt! Ich wußte, daß ich
nicht umsonst kommen würde. Kommt! Sie sind ungebildet und eingeschüchtert,
jedoch gut. Vertraut mir, der ich die Herzen und die Zukunft kenne. Sie werden
eurer Vereinigung Frieden und Einigkeit geben, nicht gleich, aber später. In
der Liebe zu ihnen werdet ihr euch wiederfinden. Ihre unschuldigen Umarmungen
werden der beste Zement sein für eure Ehe. Der Himmel wird ob dieser eurer
Nächstenliebe mit seiner Güte und Barmherzigkeit über euch sein. Sie stehen
vor dem Tor, wir kommen von Bethsaida...»
Johanna hört nicht mehr weiter
zu. Sie eilt voraus, ergriffen von der Sehnsucht, Kinder zu liebkosen.
Sie tut es, indem sie
niederkniet, die beiden Waisenkinder an ihre Brust drückt und ihre mageren
Wangen küßt, während die beiden die schöne Frau in den mit Schmuck verzierten
Kleidern staunend betrachten. Sie schauen Chuza an, der sie liebkost und dann
Matthias in die Arme nimmt, und betrachten den herrlichen Garten und die
Diener, die herbeieilen...
Sie sehen das Haus, das Jesus und
den Aposteln seine Gemächer voller Reichtümer öffnet und schauen Esther an,
die sie mit Küssen bedeckt.
Eine Traumwelt hat sich vor den
kleinen Verlorenen aufgetan... Jesus beobachtet sie und lächelt...
311
345. ZU NAIM IM HAUS DES
AUFERWECKTEN DANIEL
Die Stadt Naim feiert ein großes
Fest. Sie hat Jesus zu Gast. Zum ersten Mal nach der Auferweckung des
Jünglings Daniel.
Von einer großen Menschenmenge
umgeben, geht Jesus segnend durch die Stadt. Zu den Bewohnern von Naim haben
sich auch Bewohner anderer Ortschaften gesellt, besonders aus Kapharnaum, wo
sie ihn gesucht haben und von wo sie nach Kana und von dort nach Naim
geschickt worden sind. Ich habe den Eindruck, daß Jesus, der nun schon viele
Jünger hat, etwas wie ein Informationsnetz gebildet hat, damit Pilger, die ihn
suchen, ihn finden können, obwohl er täglich einige Meilen zurücklegt, sofern
es die Jahreszeit und die kurzen Tage erlauben. Unter denen, die gekommen
sind, ihn zu suchen, fehlt es auch nicht an Schriftgelehrten und Pharisäern,
die nach außen hin ergeben scheinen...
Jesus ist Gast im Haus des
auferweckten Jünglings, wo auch die Vornehmen des Ortes zusammengekommen sind.
Als die Mutter Daniels die Schriftgelehrten und Pharisäer erblickt – sieben an
der Zahl, wie die sieben Hauptsünden – lädt sie sie demutsvoll ein und
entschuldigt sich, ihnen kein würdigeres Haus anbieten zu können.
«Der Meister ist da. Der Meister
ist da, Frau! Das macht sogar eine Höhle wertvoll. Doch dein Haus ist weit
mehr als ein Höhle, und wir betreten es mit den Worten: "Der Friede sei mit
dir und mit deinem Haus!"»
Tatsächlich hat die Frau, obwohl
sie nicht reich ist, ihr Möglichstes getan, um Jesus mit Ehren zu empfangen.
Gewiß sind in gemeinsamer Anstrengung alle Reichtümer von Naim aufgeboten
worden, um Haus und Tafel zu schmücken. Die jeweiligen Eigentümer beäugen aus
allen möglichen Ecken die Gesellschaft, die sich durch den Korridor am Eingang
zu den beiden zur Straße hin gelegenen Räumen begibt, in denen die Herrin des
Hauses die Tische gedeckt hat. Vielleicht haben die Leute, die Decken,
Geschirr und Sitze geliehen und sich zum Dienst an den Kochstellen
bereiterklärt haben, nur eines verlangt: den Meister aus der Nähe sehen und
dort atmen zu dürfen, wo er atmet. Nun zeigen sie sich da und dort, rot, mit
Mehl und Asche bestäubt oder mit tropfenden Händen, entsprechend ihren
Obliegenheiten in der Küche. Sie spähen, erhaschen sich ihren Anteil an
göttlichen Blicken und Worten, trinken den süßen Segen und die sanfte Gestalt
mit ihren Augen und Ohren und kehren noch röter zu ihren Feuerstellen,
Schüsseln und Wasserbecken zurück: glücklich!
Ganz außer sich vor Freude ist
jene, die zusammen mit der Hausmutter den angesehenen Gästen die Wasserbecken
reicht. Ein junges Mädchen mit braunen Haaren, dunklen Augen und rosigen
Wangen, die noch roter werden, als die Hausfrau Jesus darauf aufmerksam macht,
daß sie die Braut ihres Sohnes ist und daß die Hochzeit bald stattfinden wird.
«Wir
312
haben auf deine Ankunft gewartet,
damit das ganze Haus von dir gesegnet werde. Segne auch sie, auf daß sie eine
gute Ehefrau in diesem Haus sei.»
Jesus betrachtet sie, und da die
Braut sich vor ihm verneigt, legt er ihr die Hände auf und sagt: «Mögen in dir
die Tugenden Saras, Rebekkas und Rachels wiederaufblühen und mögen aus dir
wahre Söhne Gottes hervorgehen, zu seiner Ehre und zur Freude dieses Hauses!»
Nun haben Jesus und die Vornehmen
sich gereinigt und gehen mit dem jungen Hausherrn in den Speisesaal, während
die Apostel mit anderen, weniger einflußreichen Männern von Naim das
gegenüberliegende Zimmer betreten, und das Mahl wird eingenommen.
Ich entnehme den Gesprächen, daß
Jesus vor Beginn der Vision in Naim gepredigt und geheilt hat. Doch die
Pharisäer und Schriftgelehrten kümmern sich wenig darum, bestürmen aber die
Leute von Naim mit Fragen, um Einzelheiten über die Krankheit Daniels zu
erfahren; sie wollen wissen, wie viele Stunden zwischen dem Tod und der
Auferstehung verstrichen sind, ob er schon ganz einbalsamiert war usw., usw.
Jesus entzieht sich all diesen Fragen und spricht mit dem Auferstandenen, der
sich nun wohl fühlt und mit einem beneidenswerten Appetit ißt.
Aber ein Pharisäer ruft Jesus, um
ihn zu fragen, ob er von der Krankheit Daniels wusste.
«Ich kam zufällig von Endor, weil
ich Judas von Kerioth zufriedenstellen wollte, wie ich Johannes des Zebedäus
zufriedengestellt hatte. Ich wußte nicht, daß wir nach Naim kommen würden, als
ich den Weg der österlichen Pilgerreise aufgenommen hatte», antwortet Jesus.
«So! Dann bist du also nicht
eigens nach Endor gegangen?» fragt ein Schriftgelehrter erstaunt.
«Nein, ich hatte nicht die
geringste Absicht, dorthin zu gehen.»
«Warum bist du dann doch
hingegangen?»
«Ich habe es schon gesagt: Weil
Judas des Simon hingehen wollte.»
«Wozu diese Laune?»
« Er wollte die Höhle der
Zauberin sehen.»
«Vielleicht hattest du darüber
gesprochen...»
«Nie! Ich hatte keinen Grund
dazu.»
«Ich meine... vielleicht hast du
mit jener Episode andere Zaubereien erklärt, um deine Jünger einzuweihen...»
«In was? Um zur Heiligkeit
anzuleiten, braucht es keine Pilgerfahrten. Eine Zelle oder eine Wüste, eine
Bergspitze oder ein einsames Haus dienen diesem Zweck ebensogut. Es genügt,
daß der Lehrmeister streng und heilig ist und der Schüler den Willen hat, sich
zu heiligen. Ich lehre dies und nichts anderes!»
«Aber die Wunder, die jetzt auch
deine Jünger wirken, was sind sie anderes als Zauberei und...»
«Der Wille Gottes, dies allein!
Je heiliger sie werden, desto mehr Wunder
313
werden sie wirken. Mit Gebet,
Opfer und ihrem Gehorsam Gott gegenüber. Mit nichts anderem!»
«Bist du dessen sicher?» fragt
ein Schriftgelehrter, der sein Kinn in die Hand stützt und von unten zu Jesus
hinaufschaut. Sein Ton ist spöttisch und auch mitleidig.
«Ich habe ihnen diese Waffen und
diese Lehren gegeben. Sollte dann unter ihnen einer sein – und es gibt ihrer
viele – der sich aus Hochmut oder aus anderen Gründen mit unwürdigen
Handlungen abgibt, so war nicht ich es, der ihm das geraten hat. Ich kann
beten, um zu versuchen, den Schuldigen zu bessern. Ich kann mir harte
Bußübungen auferlegen, um von Gott eine besondere Erleuchtung für ihn zu
erlangen, auf daß er seinen Irrtum einsehe. Ich kann mich zu seinen Füßen
niederwerfen, um ihn mit meiner ganzen Liebe als Bruder, Meister und Freund
anzuflehen, von der Sünde abzulassen; das würde ich nicht als Erniedrigung
betrachten, denn der Wert einer Seele ist so groß, daß es sich lohnt, jede
Verdemütigung auf sich zu nehmen, um diese Seele zu retten. Doch mehr kann ich
nicht tun. Wenn er trotzdem in seiner Sünde verharrt, so werden dem verratenen
und unverstandenen Meister und Freund Tränen und Blut aus den Augen und dem
Herzen fließen.»
Welche Güte und welche Trauer
sind in der Stimme und im ganzen Aussehen Jesu zu erkennen!
Schriftgelehrte und Pharisäer
schauen sich gegenseitig an. Es ist ein Spiel mit Blicken. Doch sie sagen
nichts weiter. Sie wenden sich nun an den jungen Daniel und fragen ihn, ob er
wisse, was der Tod sei. Sie wollen wissen, was er gefühlt hat, als er ins
Leben zurückgekehrt ist, und was er in der Zeit zwischen Tod und Leben gesehen
hat.
«Ich weiß, daß ich sterbenskrank
war und den Todeskampf durchgemacht habe. Oh, es war schrecklich! Erinnert
mich nicht mehr daran! ... und doch wird der Tag kommen, da ich ihn wiederum
durchstehen muß! Oh, Meister! ...» Er schaut ihn erschrocken an und wird
bleich bei dem Gedanken, daß er noch einmal wird sterben müssen.
Jesus tröstet ihn sanft und sagt:
«Der Tod ist an sich schon eine Sühne. Du wirst, wenn du ein zweites Mal
stirbst, vollständig rein von jedem Makel sein und dich sofort des Himmels
erfreuen. Aber dieser Gedanke soll dir helfen, als Heiliger zu leben, und es
dürfen bei dir nur unfreiwillige und leichte Sünden vorkommen.»
Die Pharisäer gehen wieder zum
Angriff über: «Aber was hast du empfunden, als du ins Leben zurückgekehrt
bist?»
«Nichts. Ich fühlte mich lebendig
und gesund, so als ob ich aus einem langen, schweren Schlafe erwacht sei.»
«Aber hast du dich daran
erinnert, daß du tot gewesen bist?»
«Ich habe mich erinnert, daß ich
schwer krank gewesen und im Todeskampf gelegen bin, das ist alles.»
314
«Erinnerst du dich an die andere
Welt?»
«Nein! Da ist ein schwarzes Loch,
eine Lücke in meinem Leben... Nichts...»
«Dann gibt es deiner Meinung nach
also keinen Limbus, kein Fegefeuer, keine Hölle?»
«Wer sagt, daß es sie nicht gibt?
Gewiß gibt es sie, doch erinnere ich mich nicht daran.»
«Aber bist du sicher, daß du tot
gewesen bist?»
Da fahren die von Naim in die
Höhe: «Ob er tot gewesen ist? Was wollt ihr denn noch? Als wir ihn auf die
Bahre legten, fing er schon an zu riechen. Mit all dem Balsam und den Binden
wäre auch ein Riese gestorben.»
«Aber du erinnerst dich nicht
daran, tot gewesen zu sein?»
«Ich habe euch schon gesagt,
nein!» Der Jüngling wird ungeduldig und fügt hinzu: «Was wollt ihr denn mit
diesen langen Befragungen erreichen? Glaubt ihr vielleicht, daß das ganze Dorf
mich für tot hielt, einschließlich meiner Mutter, einschließlich meiner Braut,
die vor Schmerz sterbenskrank geworden war, einschließlich meiner selbst, der
ich gebunden und einbalsamiert war, während es sich in Wirklichkeit nur um
Schein handelte? Was glaubt ihr denn, daß in Naim nur Kinder oder zum Scherzen
aufgelegte Betrunkene sind? Meine Mutter hat in wenigen Stunden weißes Haar
bekommen. Meine Braut mußte gepflegt werden, denn Schmerz und Freude hatten
sie beinahe wahnsinnig gemacht. Ihr habt noch Zweifel? Wozu sollten wir das
alles aufgeführt haben?»
«Wozu? Das ist wahr! Wozu sollten
wir es getan haben?» fragen die Leute von Naim.
Jesus sagt nichts. Er spielt wie
geistesabwesend mit der Tischdecke. Die Pharisäer wissen nicht, was sie sagen
sollen... Aber Jesus öffnet unvermutet den Mund, als die Unterhaltung ins
Stocken gerät, und sagt «Der Grund ist dieser (und er deutet auf die
Schriftgelehrten und Pharisäer): Sie wollen feststellen, daß deine
Auferweckung nichts anderes gewesen ist als ein abgekartetes Spiel, um mein
Ansehen bei den Menschen zu vergrößern. Ich, der Erfinder, und ihr, die
Komplizen, um Gott und die Menschen zu betrügen. Nein, ich überlasse diese
Betrügereien den Unwürdigen. Ich brauche weder Hexereien noch Kniffe, weder
Spielereien noch Komplotte, um das zu sein, was ich bin. Warum wollt ihr Gott
die Macht absprechen, einem Körper die Seele zurückzugeben? Wenn er sie gibt,
wenn sich das Fleisch bildet, und er die Seelen von Fall zu Fall erschafft,
kann er sie dann nicht auch zurückgeben, auf daß durch diese Seele, die durch
das Gebet ihres Messias zum Fleisch zurückkehrte, viele Menschen angespornt
werden, die Wahrheit zu suchen? Könnt ihr Gott die Macht zum Wunder
absprechen? Warum wollt ihr ihm das verbieten?»
«Bist du Gott?»
315
«Ich bin, der ich bin. Meine
Wunder und meine Lehre bezeugen, wer ich bin!»
«Aber warum erinnert sich dieser
nicht, während die beschworenen Geister wissen, was das Jenseits ist?»
«Weil diese Seele, die schon
durch die Buße eines ersten Todes geheiligt ist, die Wahrheit spricht, während
das, was auf die Lippen der Totenbeschwörer kommt, nicht Wahrheit ist.»
«Aber Samuel ...»
«Samuel kam auf Befehl Gottes,
nicht auf Befehl der Hexe, um dem treulosen Gesetzesbrecher die Rache des
Herrn zu verkünden, der seiner nicht spotten läßt.»
«Warum tun es also deine Jünger?»
Die hämische Stimme eines Pharisäers, der an seiner empfindlichsten Stelle
getroffen ist, weckt die Aufmerksamkeit der Apostel, die sich im
gegenüberliegenden Raum befinden – die beiden Räume sind nur durch einen etwas
mehr als einen Meter breiten Korridor voneinander getrennt, ohne Türen oder
schwere Vorhänge – und sie gehen geräuschlos in den Korridor und hören zu.
«Inwiefern tun sie das? Erkläre
es mir, und wenn deine Anklage der Wahrheit entsprechen sollte, dann werde ich
sie auffordern, nicht mehr gegen das Gesetz zu verstoßen.»
«Inwiefern sie das tun? Das weiß
ich, und mit mir viele andere. Aber du, der du die Toten erweckst und
behauptest, mehr als ein Prophet zu sein, entdecke es selbst. Wir werden es
dir nicht sagen. Du hast übrigens Augen, um noch viele andere Dinge zu sehen,
die von deinen Jüngern getan werden, wenn es nicht erlaubt ist, und nicht
getan werden, wenn sie getan werden sollten, und du kümmerst dich nicht
darum.»
«Wollt ihr mir einige nennen?»
«Warum halten sich deine Jünger
nicht an die Bräuche ihrer Ahnen? Wir haben sie heute beobachtet. Gerade
heute! Noch vor einer Stunde! Sie sind in ihren Speisesaal eingetreten und
haben sich vorher nicht die Hände gewaschen!» Wenn die Pharisäer gesagt
hätten: «Sie haben vorhin einige Bürger erdrosselt», hätten sie keinen
entsetzteren Ton anschlagen können.
«Ihr habt sie beobachtet, ja. Es
gibt viele Dinge zu sehen, schöne und gute Dinge, und wir wollen den Herrn
preisen, daß er uns das Leben geschenkt hat, damit wir sie sehen können, und
daß er sie erschaffen und erlaubt hat. Ihr aber betrachtet diese Dinge nicht,
und mit euch viele andere. Ihr verliert vielmehr eure Zeit und euren Frieden
damit, nach schlechten Dingen zu streben.
Ihr gleicht Schakalen, mehr noch:
Hyänen, die den Spuren der Verwesung folgen und die Wellen der Wohlgerüche
verachten, die der Wind von den duftenden Gärten herweht. Die Hyänen lieben
weder Lilien noch Rosen, Jasmin, Kampfer, Zimt oder Nelken. Für sie haben
diese abstoßende
316
Gerüche. Doch der Gestank eines
verwesenden Körpers im Grunde einer Schlucht, am Rand einer Straße unter dem
Dornengestrüpp, wohin der Mörder ihn geworfen hat, oder an einem verlassenen
Strand, wohin ihn die Sturmflut geschwemmt hat: der Gestank dieses
aufgeblähten, violetten, aufgeplatzten, schrecklichen Wesens ist für die
Hyänen Wohlgeruch. Sie wittern im Abendwind, der alle Gerüche mit sich trägt,
welche die Sonne im Lauf des Tages hat aufsteigen lassen, diesen unbestimmten,
einladenden Geruch, und nachdem sie ihn entdeckt und die Richtung festgestellt
haben, aus der er kommt, eilen sie mit erhobener Schnauze davon. Mit
zitternden Lefzen und entblößten Zähnen, die ihrer Fratze den Ausdruck eines
hysterischen Grinsens geben, laufen sie auf den Ort der Verwesung zu. Ob es
nun der Kadaver eines Menschen, eines Tieres oder einer von einem Bauern
erschlagenen Natter ist, ob es ein von der Hausfrau getöteter Marder oder
einfach eine Maus ist, es schmeckt, es schmeckt, es schmeckt! In diesen
abstoßenden Gestank versenkt die Hyäne ihre Zähne und schmaust und leckt sich
die Lippen...
Menschen, die sich Tag für Tag
heiligen? Das ist uninteressant! Aber wenn ein einziger etwas Böses tut oder
mehrere nicht ein göttliches Gesetz verletzen, sondern nur menschliche
Handlungen unterlassen – nennt sie Bräuche, Gebote oder wie ihr wollt, es
handelt sich immer um menschliche Dinge – dann geht man hin und bemerkt es.
Man geht auch hinter einem Verdacht her... um sich zu ergötzen, wenn der
Verdacht sich bestätigt.
Nun antwortet, antwortet, ihr,
die ihr gekommen seid, aber nicht aus Liebe, nicht aus Glauben, nicht aus
Redlichkeit, sondern mit böswilliger Absicht, antwortet: warum verletzt ihr
das Gebot Gottes wegen einem von euren Bräuchen? Wollt ihr mir vielleicht
sagen, daß ein Brauch mehr ist als ein Gebot Gottes? Und doch hat Gott gesagt:
"Ehre den Vater und die Mutter, und wer Vater oder Mutter verflucht, lädt die
Schuld eines Mörders auf sich." Ihr hingegen sagt: "Wer immer zu seinem Vater
oder zu seiner Mutter sagt: 'Was ihr von mir fordert, ist Korban (heilige
Sache)', der braucht seine Habe nicht mehr für Vater und Mutter zu verwenden."
Somit habt ihr durch euren Brauch das Gebot Gottes aufgehoben.
Ihr Heuchler! Richtig hat der
Prophet Isaias von euch gesagt: "Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, doch
sein Herz ist fern von mir; daher ehrt es mich vergeblich, weil es menschliche
Lehren und Gebote lehrt."
Während ihr die Gebote Gottes
vernachlässigt, haltet ihr euch an menschliche Bräuche, an Waschungen der
Krüge und Kelche, der Teller und Hände und an ähnliche Dinge. Während ihr
Undankbarkeit und Geiz eines Sohnes rechtfertigt, indem ihr ihm unter dem
Vorwand einer Opfergabe die Möglichkeit gebt, denen, die ihn gezeugt haben und
nun einer Hilfe bedürfen, das Brot zu verweigern, regt ihr euch auf, wenn
einer sich nicht die Hände wäscht. Ihr verdreht und verletzt das Wort Gottes,
um
317
Worten zu gehorchen, die ihr
selbst geprägt habt und die von euch zum Gebot erhoben worden sind. Ihr
erklärt euch damit für gerechter. als Gott. Ihr maßt euch das Recht an,
Gesetze zu erlassen, während Gott allein der Gesetzgeber seines Volkes ist.
Ihr...» und er würde fortfahren, doch die feindliche Gruppe verläßt das Haus
unter einem Hagel von Vorwürfen; sie stößt mit den Aposteln und den
Hausbewohnern, den Gästen und den Helferinnen der Hausfrau zusammen, die sich,
angezogen vom hellen Klang der Stimme Jesu, im Korridor versammelt haben.
Jesus, der aufgestanden war,
setzt sich wieder, fordert alle auf einzutreten und sagt: «Hört alle und
vernehmt diese Wahrheit. Es gibt nichts außerhalb des Menschen, was ihn, wenn
es in ihn eindringt, verunreinigen könnte. Was vom Menschen ausgeht ist es,
was verunreinigt. Wer Ohren hat zu hören, der höre, nütze seinen Verstand, um
zu begreifen, und seinen Willen, um zu verwirklichen. Nun laßt uns gehen. Ihr
von Naim, verharrt im Guten, und mein Friede sei immer bei euch!»
Er erhebt sich, grüßt im
besonderen die Besitzer des Hauses und geht durch den Korridor hinaus, wo er
den befreundeten Frauen begegnet , die ihn von einer Ecke her bewundernd
ansehen. Er begibt sich zu ihnen und sagt: «Der Friede sei auch mit euch! Der
Himmel vergelte euch, daß ihr mir mit einer Liebe entgegengekommen seid, die
mich den mütterlichen Tisch nicht vermissen ließ. Ich habe eure mütterliche
Liebe in jedem Bissen Brot, im Braten, in der Süße des Honigs und im kühlen,
duftenden Wein gefühlt. Bleibet mir immer wohlgesinnt, ihr guten Frauen von
Naim. Doch ein anderes Mal macht euch nicht so viel Mühe meinetwegen. Es
genügen Brot und eine Handvoll Oliven, gewürzt mit eurem mütterlichen Lächeln
und eurem ehrlichen und guten Blick. Seid glücklich in euren Häusern, denn die
Dankbarkeit des Verfolgten ist über euch, und er geht von dannen, getröstet
durch eure Liebe.»
Die Frauen, glücklich, wenn auch
weinend, knien alle nieder, und Jesus segnet im Vorübergehen eine nach der
anderen, indem er ihre weißen oder schwarzen Haare mit der Hand berührt. Dann
geht er hinaus und setzt seinen Weg fort...
Die ersten Schatten des Abends
brechen herein und verbergen die Blässe Jesu, der über zu viele Dinge
verbittert ist.
13. Oktober 1945:
Gestern abend, als ich versuchte,
zu ruhen und zu schlafen und alle bereits schliefen, erschien mir Jesus, wie
er mir immer erscheint, in einem weißen Wollgewand, Er hatte in der Rechten
einen hohen, ziemlich schmalen Metallkelch. Er stellte sich an die rechte
Seite des Bettes und lächelte, aber traurig. Doch sein Lächeln ermutigte mich,
denn ich erkannte, daß er nicht meinetwegen traurig war, sondern daß er zu mir
kam, um Erleichterung zu finden. Er legte seine linke Hand auf meine linke
Schulter und zog mich näher an sich, während er mit der Rechten den Kelch an
meine Lippen setzte und sagte: «Trinke!» Der Kelch war mit einer Flüssigkeit
gefüllt, die klares Wasser zu sein schien. Ich sah es im Augenblick, da Jesus
ihn mir reichte und mich zu trinken zwang. Ich trank.
318
Welche Bitterkeit! Oh, es war
nicht der betäubende Kelch des Gründonnerstags, gefüllt mit dem lebendigen
Blut meines Herrn! Dem süßen sättigenden Blut, von dem ich niemals meine
Lippen lösen möchte...
Das Wasser war so bitter, wie
kein Medikament es sein könnte. Es brannte in der Kehle, im Magen, schüttelte
mich vor Abscheu, ließ Tränen in meine Augen steigen und brannte weiter wie
eine ätzende Säure. Jesus ließ mich nur einen Schluck trinken... dann stellte
er den Kelch beiseite und erklärte: «Dies ist der Kelch, den ich im Ölgarten
getrunken habe. Aber ich habe ihn ganz ausgetrunken, bis zum letzten Tropfen,
und dieser ist noch bitterer. Das ist der Kelch, den die Sünden der Menschen
täglich füllen und zum Himmel reichen, damit ich ihn trinke. Aber ich kann nur
noch unendliche Liebe trinken, und daher biete ich ihn den großmütigen, den
auserwählten Seelen an. Danke für diesen Schluck! Nun will ich zu anderen
treuen Seelen gehen. Ich segne dich durch den Vater, mich und die ewige
Liebe.»
Dann ging er weg und ließ mich
zurück, Mund und Magen vom Gift verbrannt, die Seele aber voll des Friedens.
346. IM SCHAFSTALL VON ENDOR
Jesus geht nur bis nach Endor
zurück. Er macht beim ersten Haus der Ortschaft halt, das mehr einem
Schafstall als einem Wohnhaus gleicht. Aber gerade deshalb kann es mit seinen
niedrigen, geschlossenen Ställen voller Heu die dreizehn Pilger aufnehmen.
Sein Besitzer, ein derber, aber guter Mann, beeilt sich, eine Laterne und
einen Eimer schäumender Milch herbeizutragen und einige Stücke sehr dunklen
Brotes. Dann zieht er sich zurück, nachdem Jesus, der allein mit seinen
Zwölfen zurückbleibt, ihn gesegnet hat.
Jesus opfert und verteilt das
Brot, und in Ermangelung von Schüsseln oder Bechern taucht jeder sein Stück
Brot in den Eimer und trinkt, wenn er durstig ist, direkt daraus. Jesus trinkt
nur wenig Milch. Er ist ernst, schweigsam ... so sehr, daß alle, nachdem sie
ihren Hunger gestillt haben, der den Aposteln nie fehlt, seines Schweigens
gewahr werden.
Andreas fragt als erster: «Was
hast du, Meister? Du scheinst mir traurig und müde zu sein...»
«Ich leugne es nicht.»
«Warum? Wegen der Pharisäer dort?
Aber du müßtest dich doch daran gewöhnt haben ... Sogar ich habe mich beinahe
daran gewöhnt... Du weißt, wie ich sie die erste Zeit behandelt habe. Sie
singen immer das gleiche Lied! ... Diese Schlangen können nur zischen; es wird
ihnen nie gelingen, den Gesang der Nachtigall nachzuahmen. Man achtet
schließlich nicht mehr darauf», sagt Petrus, teils aus Überzeugung, teils um
Jesus zu ermuntern.
«Auf diese Weise verliert man
seine Beherrschung und fällt schließlich in ihre Fallen. Ich bitte euch,
gewöhnt euch nie an die Stimmen des Bösen, so als wären sie ungefährlich.»
319
«Nun gut. Aber wenn das der
einzige Grund ist, weshalb du traurig bist, so tust du schlecht daran, denn du
siehst doch, wie die Welt dich liebt», sagt Matthäus.
«Aber bist du nur aus diesem
Grund so traurig? Sag es mir, guter Meister. Oder haben sie dir Lügen,
Verleumdungen, Verdächtigungen oder was weiß ich was über uns, die wir dich
lieben, erzählt?» fragt Iskariot besorgt und schmeichelnd Jesus, der an seiner
Seite im Heu sitzt und den er mit einem Arm umfängt.
Jesus wendet sich Judas zu. Im
zitternden Schein der Laterne ist in seinen Augen ein phosphoreszierender
Blitz zu bemerken. Die Laterne steht in der Mitte der Apostel, die auf dem Heu
sitzen, das rundherum zu niedrigen Sitzgelegenheiten aufgehäuft worden ist.
Jesus blickt Judas Iskariot scharf an und fragt ihn: «Du hältst mich wohl für
so töricht, daß ich die Verdächtigungen eines jeden beliebigen Menschen für
wahr halte und mich dadurch verwirren lasse. Es sind die Wirklichkeiten, Judas
des Simon, die mich betrüben», und sein Blick bohrt sich für einen Augenblick
wie eine Sonde in die braunen Pupillen des Judas.
«Welche Wirklichkeiten stören
dich denn?» drängt Iskariot weiter.
«Die, die ich in der Tiefe der
Herzen sehe und auf den entthronten Stirnen lese.» Jesus betont diese Wort
sehr.
Alle sind in Aufregung:
«Entthront? Warum? Was willst du damit sagen?»
«Ein König wird entthront, wenn
er nicht mehr würdig ist, auf dem Thron zu sitzen, und als erstes wird ihm die
Krone von der Stirn gerissen, der vornehmsten Stelle des Menschen, des
einzigen Lebewesens, das seine Stirne zum Himmel erhoben trägt, indem es in
seinem animalischen Dasein zwar Materie, in seinem übernatürlichen aber Seele
ist. Es ist nicht notwendig, ein König zu sein, der auf einem irdischen Thron
sitzt, um entthront zu werden. Jeder Mensch ist durch seine Seele König, und
sein Thron ist im Himmel. Aber wenn ein Mensch seine Seele verkauft und ein
wildes Tier oder ein Teufel wird, dann entthront er sich. Die Welt ist voll
von entthronten Stirnen, die nicht mehr zum Himmel erhoben sind, sondern sich
zum Abgrund hinabneigen, niedergedrückt durch das Wort, das Satan auf sie
gemeißelt hat. Wollt ihr es wissen? Es ist das Wort, das ich auf den Stirnen
lese. Dort steht geschrieben: "Verkauft!" und damit ihr keinen Zweifel darüber
habt, wer der Käufer ist, sage ich es euch: Es ist Satan, er selbst oder einer
seiner Diener, die auf der Welt sind.»
«Ich habe verstanden! Die
Pharisäer zum Beispiel sind Diener eines größeren Dieners, der ein Diener
Satans ist», sagt Petrus überzeugt. Jesus erwidert nichts darauf.
«Jedoch ... Weißt du, Meister,
daß die Pharisäer, nachdem sie deine Worte vernommen haben, verärgert
fortgegangen sind? Als sie mir beim
320
Hinausgehen begegnet sind, habe
ich sie gehört ... Du bist sehr streng gewesen», bemerkt Bartholomäus.
Jesus entgegnet: «Aber ich habe
die volle Wahrheit gesagt. Es ist nicht meine Schuld, sondern ihre, wenn man
gewisse Dinge sagen muß. Es ist auch Liebe meinerseits, wenn ich sie ihnen
sage. Jede Pflanze, die nicht von meinem himmlischen Vater gepflanzt worden
ist, muß ausgerissen werden. Die dornigen Schmarotzerpflanzen, die den Samen
der heiligen Wahrheit ersticken, sind nicht von ihm gepflanzt. Es ist Liebe,
menschliche Bräuche und Vorschriften auszumerzen, wenn sie den Dekalog
ersticken, ihn verdrehen und unwirksam machen und es unmöglich machen, ihn zu
befolgen. Es ist Liebe zu den ehrlichen Seelen, dies zu tun. Was aber die
angeht, die sich eigensinnig jedem Rat und jeder Tat der Liebe verschließen,
laßt sie laufen und ihnen jene nachfolgen, die ihnen in Geist und Charakter
ähnlich sind. Sie sind Blinde, die andere Blinde führen, und wenn ein Blinder
einen Blinden führt, kann nichts anderes geschehen, als daß sie beide in die
Grube fallen. Laßt sie sich nähren von den Unreinheiten, denen sie den Namen
"Reinheit" geben. Sie können nicht noch mehr befleckt werden, denn sie tun
nichts weiter, als sich dem Mutterboden anzupassen, dem sie entstammen.»
«Was du jetzt sagst, ist die
Fortsetzung dessen, was du im Haus Daniels gesagt hast, nicht wahr? Nicht was
von außen eindringt, verunreinigt den Menschen, sondern was aus ihm
herauskommt», sagt Simon der Zelote nachdenklich.
«Ja», antwortet Jesus kurz.
Nachdem er eine Zeitlang
geschwiegen hat, weil der Ernst Jesu auch den überschwenglichsten Charakter
dämpft, fragt Petrus: «Meister, ich, und nicht nur ich allein, habe das
Gleichnis nicht recht verstanden. Erkläre es uns ein wenig. Wie kommt es, daß
der Mensch nicht durch das, was in ihn eindringt, sondern durch das, was aus
ihm herauskommt, verunreinigt wird? Wenn ich einen sauberen Krug nehme und
schmutziges Wasser hineingieße, dann beschmutze ich ihn. Aber wenn ich aus
einem vollen Krug reines Wasser auf den Boden schütte, dann beschmutze ich
nicht den Krug, denn aus ihm kommt reines Wasser. Wie soll man das also
verstehen?»
Jesus erwidert: «Wir sind keine
Krüge, Simon! Freunde, wir sind keine Krüge. Es ist nicht alles rein im
Menschen. Aber habt jetzt auch ihr den Verstand verloren? Denkt über den Grund
nach, weswegen die Pharisäer euch angeklagt haben. Sie haben gesagt, daß ihr
euch verunreinigt habt, weil ihr mit schmutzigen, schwitzenden, also unreinen
Händen Speise zum Mund geführt habt. Aber wohin ist die Speise gegangen? Vom
Mund in den Magen, von diesem in den Bauch, vom Bauch zur Kloake. Kann sie
also den ganzen Körper und alles, was zu ihm gehört, verunreinigen, wenn sie
nur durch den Kanal fließt, der dazu bestimmt ist, das Fleisch zu
321
nähren, dieses allein, und dann,
wie es richtig ist, in einer Grube endet? Es ist nicht dies, was den Menschen
verunreinigt!
Was den Menschen verunreinigt,
gehört einzig und allein ihm; es wird nur von seinem Ich gezeugt und geboren.
Mit anderen Worten: was er im Herzen hat und was vom Herzen auf die Lippen und
in den Kopf steigt, verdirbt das Denken und das Wort und verunreinigt den
ganzen Menschen. Aus dem Herzen kommen die bösen Gedanken, Morde und
Ehebrüche, Unzucht, Diebstähle, Lügen und Gotteslästerungen. Aus dem Herzen
kommen Geiz, Wollust, Hochmut, Neid, Haß, Gier und sündhafter Müßiggang. Aus
dem Herzen kommt die treibende Kraft für alle Handlungen, und wenn das Herz
böse ist, dann werden auch die Handlungen böse sein wie das Herz. Alle
Handlungen: von der Götzendienerei bis zur üblen Nachrede... Alle diese
schlechten Dinge, die aus dem Innern des Menschen herauskommen, verunreinigen
ihn, nicht das Essen mit ungewaschenen Händen. Die Wissenschaft Gottes ist
nicht Schmutz, nicht Schlamm, den jeder mit Füßen tritt. Sie ist vielmehr
etwas Erhabenes, das in den Gefilden der Sterne wohnt und von dort mit
Lichtstrahlen herabkommt, um die Gerechten zu belehren. Daher solltet
wenigstens ihr sie nicht vom Himmel herabzerren, um sie im Schlamm zu
entwürdigen... Geht nun zur Ruhe. Ich will ins Freie gehen und beten.»
347. VON ENDOR NACH MAGDALA
Regen, Regen, Regen. Die Apostel
sind nicht sehr begeistert über dieses ständige Wandern im Regen und schlagen
Jesus vor, sich ins naheliegende Nazareth zurückzuziehen. Petrus sagt: «Dann
könnte man mit dem Knaben abreisen ...»
Das «Nein» Jesu ist so
nachdrücklich, daß keiner ein weiteres Wort zu sagen wagt. Jesus geht allein
voraus... die anderen folgen ihm in zwei Gruppen und machen lange Gesichter.
Dann kann Petrus sich nicht mehr
zurückhalten und geht zu Jesus.
«Meister, störe ich dich?» fragt
er ein wenig beschämt.
«Du bist mir immer lieb, Simon.
Komm!»
Petrus beruhigt sich. Er trottet
neben Jesus einher, der mit seinen langen Schritten rasch vorankommt. Nach
einer Weile sagt er: «Meister, es wäre schön, zum Fest den Knaben bei uns zu
haben ...»
Jesus antwortet nicht.
«Meister, warum machst du mir
nicht diese Freude?»
«Simon, du läufst Gefahr, daß ich
dir das Kind wegnehme.»
«Nein! Herr! Warum?» Petrus ist
erschrocken und traurig über diese Drohung.
322
«Weil ich nicht will, daß du an
irgend etwas gebunden bist. Ich habe es dir damals gesagt, als ich dir
Margziam zugestanden habe. Du bist jedoch nahe daran, in dieser Zuneigung zu
versanden.»
«Es ist keine Sünde zu lieben,
und Margziam zu lieben, du liebst ihn doch auch ...»
«Aber diese Liebe hindert mich
nicht daran, mich ganz meiner Sendung hinzugeben. Erinnerst du dich nicht mehr
meiner Worte über die menschlichen Zuneigungen, meiner so klaren Ratschläge,
die bereits Befehle sind für jene, die Hand an den Pflug legen wollen? Bist du
es müde, Simon Petrus, in heroischer Weise mein Jünger zu sein?»
Die Stimme des Petrus ist heiser
vom Weinen, als er antwortet: «Nein, Herr! Ich erinnere mich an alles und bin
nicht müde. Doch ich habe den Eindruck, daß das Gegenteil der Fall ist... daß
du meiner überdrüssig geworden bist, des armen Simon, der alles verlassen hat,
um dir nachzufolgen...»
«Der alles in meiner Nachfolge
gefunden hat, willst du wohl sagen?»
«Nein... Ja... Meister... Ich bin
ein armer Mensch...»
«Ich weiß es, und gerade deswegen
arbeite ich an dir, um aus dem armen Menschen einen Mann und aus diesem einen
Heiligen, meinen Apostel, meinen Fels, zu machen. Ich bin hart, um dich hart
zu machen. Ich will dich nicht so weich, wie dieser Schlamm ist. Ich will, daß
du ein behauener, vollkommener Block wirst: der Grundstein. Verstehst du
nicht, daß dies Liebe ist? Erinnerst du dich nicht an den Weisen? Er sagt, daß
wer liebt, streng ist. Aber verstehe mich! Verstehe du mich wenigstens! Siehst
du nicht, daß ich überwältigt und betrübt bin von soviel Verständnislosigkeit,
soviel Heuchelei, soviel Lieblosigkeit und von noch zahlreicheren
Enttäuschungen?»
«Ist es... ist es so, Meister? O
göttliche Barmherzigkeit, ich habe es nicht bemerkt! Ich Unmensch! ... Aber
seit wann denn und wer ist daran schuld? Sage es mir...»
«Es nützt nichts, du könntest
doch nichts tun. Selbst ich kann nichts dagegen tun...»
«Könnte ich wirklich nichts tun,
um dich zu erleichtern?»
«Ich habe es dir schon gesagt: du
sollst verstehen, daß meine Strenge Liebe ist. Du sollst in all meinen
Handlungen dirgegenüber Liebe sehen.»
«Ja, ja! Ich sage nichts mehr.
Mein lieber Meister! Ich sage nichts mehr, und du, verzeih mir, dem großen
Esel, der ich bin. Gib mir einen Beweis, daß du mir wirklich verzeihst...»
«Einen Beweis! Wahrhaftig müßte
dir mein Ja genügen. Doch ich gebe dir einen Beweis. Höre: Ich kann nicht nach
Nazareth gehen, weil in Nazareth außer Margziam auch Johannes von Endor und
Syntyche sind, und dies darf nicht bekanntwerden.»
«Nicht einmal uns? Warum? ... Ach
so! ... Meister?! Du fürchtest einen von uns?»
323
«Die Klugheit lehrt, daß wenn
etwas geheimgehalten werden soll, es schon zu viel ist, wenn zwei darum
wissen. Man kann schon mit einem einzigen unüberlegten Wort Schaden anrichten,
und ihr denkt nicht alle und nicht immer nach.»
«Das ist wahr... auch ich tue es
nicht immer. Aber wenn ich will, kann ich schweigen, und nun werde ich
schweigen. Oh, und ob ich schweigen werde! Ich will nicht mehr Simon des Jonas
heissen, wenn ich nicht schweigen werde. Ich danke dir für deine Achtung,
Meister! Dies ist ein großer Beweis deiner Liebe... So werden wir nun nach
Tarichäa gehen?»
«Ja, und dann mit dem Boot nach
Magdala. Ich muß das Geld für die Edelsteine abholen...»
«Siehst du, daß ich schweigen
kann? Weißt du, ich habe Judas nie etwas anvertraut.»
Jesus antwortet nicht auf diesen
Einwand, sondern fährt fort: «Wenn ich das Geld erhalten habe, werde ich euch
alle freigeben bis zum Tag nach dem Lichterfest. Wenn ich einen von euch bei
mir haben möchte, werde ich ihn nach Nazareth rufen. Die aus Judäa, mit
Ausnahme des Zeloten, sollen die Schwestern des Lazarus, ihre Dienerinnen und
Elisa von Bethsur zum Haus von Bethanien begleiten. Dann können sie zum
Lichterfest nach Hause gehen. Mir genügt, wenn sie am Ende des Schebat zurück
sind, wenn wir wieder zu pilgern beginnen. Das weißt nur du, nicht wahr, Simon
Petrus?»
«Nur ich weiß es. Aber... du
wirst es doch wohl auch den anderen sagen müssen...»
«Ich werde es zur rechten Zeit
sagen. Nun geh zu den Gefährten und sei meiner Liebe versichert.»
Petrus gehorcht zufrieden, und
Jesus vertieft sich wieder in seine Gedanken.
Die Wellen schlagen ans Ufer von
Magdala, als die beiden Barken an einem späten Novembernachmittag dort
anlegen. Die Wellen sind nicht hoch. Doch sind sie für den, der das Boot
verläßt, lästig, weil sie die Kleider naßmachen. Aber die Aussicht auf eine
baldige Unterkunft im Haus Marias von Magdala läßt das unerwünschte Bad ohne
Murren ertragen.
«Zieht die Boote an Land und
kommt uns nach», sagt Jesus zu den Schiffsjungen. Er macht sich sofort dem
Ufer entlang auf den Weg, denn sie haben sich eine Landestelle außerhalb der
Stadt ausgesucht, dort, wo auch andere Fischerboote von Magdala angelegt
haben.
«Judas des Simon und Thomas,
kommt mit mir!» ruft Jesus.
Die beiden eilen herbei.
«Ich habe beschlossen, euch einen
Vertrauensauftrag zu geben und euch damit eine Freude zu machen. Der Auftrag
ist dieser: ihr sollt die Schwestern des Lazarus nach Bethanien begleiten, und
mit ihnen Elisa.
324
Ich schätze euch genügend, um
euch die Jüngerinnen anzuvertrauen. Ihr sollt auch Lazarus einen Brief von mir
überbringen. Wenn ihr diesen Auftrag erfüllt habt, geht ihr zum Lichterfest zu
euren Angehörigen nach Hause... Unterbrich mich nicht, Judas! Dieses Jahr
werden wir alle das Lichterfest zu Hause feiern. Es ist ein zu regnerischer
Winter zum Reisen. Ihr seht, daß auch die Kranken seltener kommen. Wir werden
dies ausnützen, um uns auszuruhen und unsere Familien zufriedenzustellen. Ich
erwarte euch Ende des Schebat in Kapharnaum.»
«Wirst du in Kapharnaum bleiben?»
fragt Thomas.
«Ich bin noch nicht sicher, wo
ich bleiben werde. Hier oder dort, das ist für mich gleich. Es genügt, daß
meine Mutter bei mir ist.»
«Ich hätte das Lichterfest gerne
mit dir gefeiert», sagt Iskariot.
«Ich glaube es dir. Aber wenn du
mich liebst, dann gehorchst du. Um so mehr, als euer Gehorsam euch Gelegenheit
gibt, den zurückgekehrten Jüngern zu helfen, sich überallhin zu verteilen.
Dabei müßt ihr mir helfen. In den Familien sind es die älteren Söhne, die den
Eltern bei der Erziehung der jüngeren Brüder beistehen. Ihr seid die älteren
Brüder der Jünger und solltet euch darüber freuen, daß ich mich auf euch
verlasse. Das beweist, daß ich mit der Erfüllung eures Auftrags von neulich
zufrieden war.»
Thomas sagt einfach: «Du bist zu
gütig, Meister, doch was mich betrifft, will ich mich diesmal noch mehr
bemühen. Es tut mir nur leid, daß ich dich verlassen muß... Doch es wird
schnell vorübergehen... und mein alter Vater wird froh sein, mich während des
Festes bei sich zu haben... und auch die Schwestern... besonders meine
Zwillingsschwester... Sie wird ein Kind geboren haben, oder wird es bald
gebären... Der erste Neffe... Wenn es ein Junge ist und er geboren wird,
solange ich dort bin, welchen Namen soll ich ihm dann geben?»
«Joseph.»
«Und wenn es ein Mädchen ist?»
«Maria. Es gibt keinen
lieblicheren Namen.»
Doch Judas, stolz über den
Auftrag, fängt schon an großzutun und macht Pläne über Pläne... Er hat
vollkommen vergessen, daß er sich von Jesus entfernen wird, obwohl er sich
noch kurze Zeit zuvor, am Laubhüttenfest, wenn ich mich recht erinnere, wie
ein ungezähmtes Füllen sträubte und sich nicht einmal für kurze Zeit von Jesus
trennen wollte. Er denkt nicht mehr an den Verdacht, daß Jesus ihn vielleicht
für einige Zeit von sich fernhalten möchte. Alles vergißt er... und ist
glücklich, als einer betrachtet zu werden, dem man heikle Aufträge anvertrauen
kann. Er verspricht: «Ich werde dir viel Geld für die Armen bringen», und
dabei zieht er die Börse heraus und sagt: «Sieh, nimm das! Es ist alles, was
wir haben. Mehr habe ich nicht. Gib du mir das Zehrgeld für unsere Reise von
Bethanien nach Hause.»
325
«Aber wir werden doch nicht heute
abend aufbrechen», bemerkt Thomas.
«Das macht nichts. Im Haus Marias
brauchen wir kein Geld mehr und deshalb... Ich bin froh, nichts mehr damit zu
tun zu haben... Wenn ich zurückkomme, bringe ich deiner Mutter Blumensamen
mit. Ich lasse ihn mir von meiner Mutter geben. Ich will auch für Margziam ein
Geschenk mitbringen...» Er ist ganz aufgeregt.
Jesus schaut ihn an...
Sie sind beim Haus der Maria von
Magdala angelangt, machen sich bemerkbar und treten alle ein. Die Frauen eilen
dem Meister, der gekommen ist, sich in ihrem Heim auszuruhen, freudig
entgegen...
Nach dem Abendessen, als die
müden Apostel sich bereits zurückgezogen haben, unterrichtet Jesus die um ihn
herum sitzenden Jüngerinnen von seinem Wunsch, daß sie so bald als möglich
abreisen mögen. Im Gegensatz zu den Aposteln protestiert keine einzige von
ihnen. Sie neigen ihr Haupt zum Zeichen der Zustimmung und gehen hinaus, um
ihre Sachen zu packen. Doch Jesus ruft Magdalena zurück, als sie die Schwelle
erreicht hat.
«Nun, Maria? Warum hast du mir
bei der Ankunft zugeflüstert: "Ich muß allein mit dir sprechen?"»
«Meister, ich habe die Edelsteine
verkauft. In Tiberias. Marcella hat sie mit Hilfe Isaaks verkauft. Ich habe
die Summe in meinem Zimmer. Ich wollte, daß Judas nichts davon sieht ...» und
sie errötet lebhaft.
Jesus schaut sie fest an, sagt
aber kein Wort.
Magdalena geht und kommt mit
einer schweren Tasche zurück, die sie Jesus übergibt. «Hier», sagt sie. «Man
hat gut dafür bezahlt.»
«Danke, Maria.»
«Ich danke dir, Meister, daß du
mich um diesen Gefallen gebeten hast. Hast du weitere Aufträge für mich?»
«Nein, Maria, und du, hast du mir
sonst noch etwas zu sagen?»
«Nein, Herr. Segne mich, mein
Meister!»
«Ja, ich segne dich... Maria...
freut es dich, zu Lazarus zurückzukehren? Wenn ich nicht mehr in Palästina
wäre, würdest du dann gerne nach Hause zurückkehren?»
«Ja, Herr, aber...»
«Sprich zu Ende, Maria. Fürchte
dich nie, mir deine Gedanken zu eröffnen.»
«Aber ich wäre noch lieber
zurückgekehrt, wenn uns anstelle von Judas von Kerioth Simon der Zelote, der
gute Freund unserer Familie, begleitet hätte.»
«Ich brauche ihn für eine
wichtige Sendung.»
«Aber deine Brüder, oder Johannes
mit dem Herzen einer Taube. Alle, außer ihm... Herr, schaue mich nicht so
streng an... Wer die Unzucht
326
kennengelernt hat, fühlt ihre
Nähe... Ich fürchte sie nicht. Ich weiß auch Dinge fernzuhalten, die schlimmer
sind als Judas, nämlich meine Angst, daß mir nicht verziehen worden ist; mein
Ich; Satan, der sicher um mich herumschleicht, und die Welt... Aber wenn Maria
des Theophilus sich vor niemandem fürchtet, so hat Maria des Jesu Abscheu vor
dem Laster, dem sie ergeben war, und das... Herr... Der Mensch, der sich nur
für das Sinnliche entzündet, ekelt mich an...»
«Du wirst auf der Reise nicht
allein sein, Maria, und wenn du dabei bist, bin ich sicher, daß er nicht
zurückkehren wird... Denk daran, daß ich Syntyche und Johannes nach Antiochia
bringen lassen muß und daß man es einen Unbesonnen nicht wissen lassen darf
...»
«Das ist wahr. Dann werde ich
also gehen... Meister, wann werden wir uns wiedersehen?»
«Ich weiß es nicht, Maria,
vielleicht erst wieder am Passahfest. Geh nun in Frieden. Ich segne dich heute
abend und jeden Abend, und mit dir deine Schwester und den guten Lazarus.»
Maria verneigt sich, um die Füße
Jesu zu küssen, und geht dann hinaus und läßt Jesus allein im stillen Zimmer
zurück.
348. JESUS AM LICHTERFEST IN
NAZARETH
Es ist ein dunkler, kalter und
windiger Dezemberabend. Abgesehen vom Rauschen der Blätter, die noch von den
Bäumen fallen, und dem Wehen des Windes ist es in den Straßen von Nazareth
still und dunkel wie in einer toten Stadt. Aus den verriegelten Häusern dringt
weder ein Lichtstrahl noch ein Geräusch. Wirklich ein Hundewetter...
Doch durch die verlassenen
Straßen von Nazareth eilt das Lamm Gottes seinem Haus zu. Der hohe, dunkle
Schatten verliert sich fast in der Finsternis der sternenlosen Nacht, und sein
Schritt ruft kaum ein Rascheln hervor, wenn er auf einen Haufen trockener
Blätter tritt, die der Wind, nachdem er sie durch die Luft gewirbelt hat, auf
den Boden weht, bereit, sie wieder aufzunehmen und anderswohin zu tragen.
Er kommt zum Haus Marias des
Kleophas und bleibt einen Augenblick stehen, unschlüssig, ob er in den Garten
eintreten und an die Küchentüre klopfen oder weitergehen soll... doch dann
geht er weiter. Er ist bereits in der kleinen Gasse, in der sich sein Haus
befindet. Man erkennt schon den kleinen Hügel, an den sich das Haus lehnt, das
Wogen der dunklen Ölbäume gegen den dunklen Himmel. Jesus beschleunigt seine
Schritte. Er erreicht die Türe und lauscht aufmerksam. Es ist so leicht, zu
hören, was in diesem kleinen Haus vor sich geht! Es genügt, sich an den
Türpfosten zu lehnen, und nur die wenigen Zentimeter des Holzes der Türe sind
zwischen
327
dem, der lauscht, und dem, der
spricht... und doch vernimmt er keine Stimme.
«Es ist schon spät», seufzt er.
«Ich werde bis zum Morgengrauen warten, um anzuklopfen.»
Doch als er sich entfernen will,
erreicht ihn das rhythmische Geräusch des Webstuhls. Er lächelt und sagt sich:
«Sie ist noch auf. Sie webt. Gewiß ist sie es ... dies ist der Rhythmus der
Mama... !»
Ich kann sein Antlitz nicht
sehen, aber ich bin sicher, daß er lächelt, denn ein Lächeln ist in seiner
Stimme, die zuvor traurig war.
Er klopft an. Das Klappern des
Webstuhls setzt einen Augenblick aus, dann hört man das Geräusch eines
zurückgeschobenen Stuhles und schließlich die silberne Stimme, die fragt: «Wer
klopft?»
«Ich, Mama!»
«Mein Sohn!» Ein sanfter,
gedämpfter Freudenschrei. Man hört das Zittern der Hände am Riegel und das
Zurückschieben desselben, der Hauseingang öffnet sich und wirft einen goldenen
Schein in das Dunkel der Nacht. Maria fällt in die Arme Jesu, dort auf der
Schwelle, als könne sie es nicht mehr erwarten, sich an sein Herz zu werfen.
«Sohn! Sohn! Mein Sohn!» Küsse
und die süßen Worte: «Mama!» «Sohn!»... Dann treten beide ins Haus ein, und
die Türe schließt sich sachte.
Maria erklärt mit flüsternder
Stimme: «Sie schlafen alle. Ich habe gewacht ... Seit Jakobus und Judas
zurückgekehrt sind und gesagt haben, daß du nachkommen würdest, habe ich immer
bis spät in die Nacht hinein auf dich gewartet. Ist dir kalt, Jesus? Ja! Du
bist eiskalt. Komm! Ich habe das Feuer brennen lassen und werde ein
Reisigbündel auflegen, damit du dich erwärmen kannst.» Dann führt sie ihn an
der Hand, als ob er immer noch ihr kleiner Jesus wäre...
Die Flamme leuchtet fröhlich und
das neubelebte Feuer knistert. Maria schaut Jesus an, der die Hände der Flamme
entgegenstreckt, um sich zu erwärmen. «Wie bleich du bist! Du warst nicht so,
als du fortgegangen bist... Du wirst immer hagerer und blutleerer, mein Kind.
Einst warst du wie Milch und Rosen. Nun siehst du aus wie altes Elfenbein. Was
hast du wieder mitgemacht, mein Sohn? Immer noch die Pharisäer?»
«Ja... und auch noch anderes.
Aber nun bin ich glücklich, hier mit dir, und es wird mir gleich besser gehen.
Dieses Jahr werden wir das Lichterfest hier feiern, Mutter! Ich erreiche das
vollkommene Alter hier bei dir. Bist du glücklich?»
«Ja. Aber das vollkommene Alter
für dich, mein Herz, ist noch fern... Du bist jung, und für mich bist du immer
noch mein Kind. Sieh, die Milch ist warm, willst du sie hier trinken oder
dort?»
«Dort, Mutter! Jetzt friere ich
nicht mehr. Ich werde sie trinken, während du den Webstuhl zudeckst.»
328
Sie kehren in das Zimmerchen
zurück, und Jesus setzt sich auf die Truhe beim Tisch und trinkt seine Milch.
Maria betrachtet ihn lächelnd. Sie lächelt noch mehr, als sie die Tasche Jesu
nimmt und sie auf ein Regal legt. Sie lächelt so sehr, daß Jesus fragt: «Woran
denkst du?»
«Ich denke, daß du gerade am
Jahrestag unserer Abreise nach Bethlehem angekommen bist ... Auch damals gab
es Taschen und geöffnete Koffer voller Kleider und besonders voll kleiner
Windeln ... für ein Kind, das, wie ich zu Joseph sagte, vielleicht in
Bethlehem zur Welt kommen würde; zu mir selbst jedoch sagte ich, daß es zu
Bethlehem in Judäa zur Welt kommen muß. Ich hütete dies in meinem Herzen, denn
Joseph hatte Angst davor ... Er wußte noch nicht, daß die Geburt des Sohnes
Gottes weder für ihn selbst noch für seine Mutter dem üblichen Elend der Wehen
und der Geburt unterworfen sein würde. Er wußte nicht... und er fürchtete sich
davor, fern von Nazareth zu sein mit mir unter diesen Umständen. Ich wußte
genau, daß ich dort gebären würde... du jubeltest zu sehr in mir in der
Freude, dich dem Augenblick deiner Geburt und der Geburt der Erlösung zu
nähern, als daß ich mich hätte täuschen können. Die Engel umgaben die Frau,
die dich, meinen Gott, trug... Es war nicht mehr der erhabene Erzengel, nicht
der liebliche Engel, der mein Beschützer ist, wie in den ersten Monaten. Es
waren Chöre und abermals Chöre von Engeln, die schnell wie Blitze vom Himmel
Gottes herabstiegen zu meinem kleinen Himmel, zu meinem Schoß, in dem du
warst, und ich hörte sie singen und ihre Lichtworte austauschen ... Worte
voller Sehnsucht, dich, den menschgewordenen Gott, zu sehen ... ich hörte sie,
während sie in ihrer Liebe aus dem Paradies flohen, um zu kommen und dich, die
Liebe des Vaters, anzubeten, die in meinem Schoß verborgen war. Ich versuchte
ihre Worte zu erlernen... ihre Lieder... ihren Eifer... Aber ein menschliches
Geschöpf kann nicht die Dinge des Himmels sagen und besitzen...»
Jesus sitzt am Tisch und hört ihr
zu. Maria steht daneben, selig träumend wie er... eine Hand auf dem dunklen
Holz, die andere ans Herz gedrückt... Jesus bedeckt die kleine, weiße, zarte
Hand mit der seinen, die lang und dunkler ist. Er hält das heilige Händchen in
seiner Hand... Während sie schweigt, als bedaure sie es, die Worte, Gesänge
und den Eifer der Engel nicht erlernen zu können, sagt er: «Alle Worte der
Engel, all ihre Gesänge und all ihr Eifer hätten mich auf Erden nicht
glücklich gemacht, wenn ich nicht die deinen gehabt hätte, Mutter! Du hast mir
gesagt und gegeben, was sie mir nicht geben konnten. Nicht du hast von ihnen,
sondern sie haben von dir gelernt... Komm an meine Seite, Mutter, und erzähle
weiter... nicht von damals... sondern von jetzt. Was hast du gemacht?»
«Ich habe gearbeitet...»
«Ich weiß es. Aber was war es?
Ich wette, du hast dich meinetwegen abgemüht. Laß sehen...»
329
Maria wird noch röter als der
Stoff auf dem Webstuhl und den Jesus betrachtet, indem er aufsteht.
«Purpur? Wer hat ihn dir
gegeben?»
«Judas von Kerioth. Er ließ ihn
sich von den Fischern in Sidon geben, nehme ich an. Er will, daß ich dir ein
Königsgewand mache... Das Gewand werde ich dir machen, ja. Aber du bedarfst
keines Purpurs, um König zu sein.»
«Judas ist starrköpfiger als ein
Maulesel», ist die einzige Bemerkung zu dem geschenkten Purpur... Dann wendet
sich Jesus der Mutter zu: «Reicht das, was er dir gegeben hat, für ein ganzes
Gewand ?»
«O nein, Sohn! Es wird wohl eine
Falbel für das Kleid und den Mantel geben. Mehr nicht.»
«Gut. Jetzt verstehe ich, warum
du ihn als schmalen Streifen webst. Gut... Mama, mir gefällt dieser Gedanke.
Du wirst diese Streifen für mich aufheben, und eines Tages werde ich dich
darum bitten, sie für ein schönes Gewand zu verwenden. Doch das hat noch Zeit.
Ermüde dich nicht.»
«Ich arbeite, wenn ich in
Nazareth bin...»
«Das ist wahr... und was haben
die anderen während dieser Zeit getan ?»
«Sie haben sich weitergebildet.»
«Das heißt: du hast sie
unterrichtet. Was hältst du von ihnen?»
«Oh, die drei sind gut. Außer dir
habe ich nie sanftere und aufmerksamere Schüler gehabt. Ich habe versucht,
Johannes ein wenig zu stärken. Er ist sehr krank und wird nicht mehr lange
leben...»
«Ich weiß es, aber für ihn wird
es gut sein. Außerdem wünscht er es selbst. Er hat ganz von sich aus den Wert
des Leidens und des Sterbens erkannt. Und Syntyche?»
«Es tut weh, sie fortzuschicken.
Sie wiegt hundert Jünger auf an Heiligkeit und an Fähigkeit, das
Übernatürliche zu begreifen.»
«Ich verstehe. Aber ich muß es
tun.»
«Was du tust, ist immer
wohlgetan, mein Sohn!»
«Was macht der Knabe?»
«Auch er lernt. Aber er ist sehr
traurig in diesen Tagen... Er erinnert sich an das Unglück im vorigen Jahr...
Oh, es gab keine große Fröhlichkeit hier! ... Johannes und Syntyche seufzen
bei dem Gedanken an die Abreise von hier, und das Kind weint, wenn es an seine
tote Mutter denkt...»
«Und du?»
«Ich... Du weißt es, Sohn! Wenn
du fern von mir bist, gibt es keine Sonne für mich, und es gäbe sie nicht
einmal, wenn die Welt dich lieben würde, doch dann wäre der Himmel wenigstens
heiter... So hingegen ...»
«So gibt es Tränen, arme Mutter!
... Haben sie dir nicht Fragen gestellt über Johannes und Syntyche?»
«Wer sollte Fragen stellen? Maria
des Alphäus weiß es und schweigt.
330
Alphäus der Sara hat Johannes
schon gesehen und ist nicht neugierig. Er nennt ihn "den Jünger".»
«Aber die anderen?»
«Außer Maria und Alphäus kommt
niemand zu mir. Einige Frauen für eine Arbeit oder einen Ratschlag. Aber die
Männer von Nazareth treten nicht mehr über meine Schwelle.»
«Nicht einmal Joseph und Simon?»
«Nein... Simon schickt mir Öl,
Mehl, Oliven, Holz und Eier, als wolle er dadurch Verzeihung für sein
Unverständnis erlangen und als sollten die Geschenke für ihn sprechen. Aber er
übergibt sie Maria, seiner Mutter, er selbst kommt nicht hierher. Doch wer
auch immer kommen würde, er könnte nur mich sehen, denn Syntyche und Johannes
ziehen sich zurück, wenn jemand klopft...»
«Ein sehr trauriges Leben.»
«Ja, und das Kind leidet ein
wenig darunter, deshalb nimmt es Maria des Alphäus mit, wenn sie für mich
Einkäufe macht. Aber nun werden wir nicht mehr traurig sein, mein Jesus, denn
nun bist du da!»
«Ich bin da... Jetzt wollen wir
schlafen gehen. Segne mich, Mutter, wie damals, als ich noch klein war.»
«Segne mich, Sohn! Ich bin deine
Jüngerin.»
Sie küssen sich... Dann zünden
sie noch ein Lämpchen an und gehen hinaus, um sich zur Ruhe zu begeben.
349. JESUS MIT JOHANNES VON ENDOR
UND SYNTYCHE IN NAZARETH
«Meister! Meister! Meister!» Die
drei Ausrufe des Johannes von Endor, der aus seiner Kammer kommt, um zum
Brunnen zu gehen und sich dort zu waschen, und plötzlich Jesus vor sich sieht,
der gerade vom Brunnen kommt, wecken Margziam auf. Er eilt aus dem Zimmer
Marias, nur mit der kurzen, ärmellosen Tunika bekleidet, barfuß, ganz Augen
und Mund, um zu sehen und zu rufen: «Jesus ist da!» und rennt und wirft sich
in seine Arme. Sie wecken auch Syntyche auf, die in der ehemaligen Werkstatt
Josephs schläft und schon bald angekleidet ist, doch mit herabhängenden
dunklen Zöpfen herauskommt.
Jesus, das Kind im Arm, grüßt
Johannes und Syntyche, und fordert sie auf, ins Haus zurückzukehren, denn es
bläst ein starker Nordwind. Er tritt als erster ein und trägt den halbnackten
Margziam, der trotz seiner Begeisterung mit den Zähnen klappert, zum schon
angezündeten Feuer, wo Maria sich beeilt, Milch warmzumachen und die Kleider
des Knaben zu wärmen, damit er nicht erkranke.
331
Die beiden anderen sagen nichts,
doch sie sind die verzückte Freude in Person. Jesus setzt sich nieder und
nimmt das Kind auf den Schoß, während die Jungfrau ihm rasch die angewärmten
Kleider überzieht. Er schaut auf, lächelt ihnen zu und sagt: «Ich hatte euch
versprochen, daß ich kommen würde, und heute oder morgen kommt auch Simon der
Zelote. Er ist in meinem Auftrag noch anderswo hingegangen. Doch bald wird er
kommen, und wir werden viele Tage beisammen sein.»
Margziam ist nun angekleidet, und
seine vor Kälte blau gewordenen Wangen bekommen wieder Farbe. Jesus läßt ihn
von seinen Knien hinuntergleiten und steht auf, um in den anderen Raum zu
gehen. Die übrigen folgen ihm. Zuletzt kommt Maria mit dem Knaben an der Hand.
Sie rügt ihn sanft und sagt: «Was soll ich nur mit dir anfangen? Du bist
ungehorsam gewesen. Ich hatte dir doch gesagt: "Bleib im Bett, bis ich
wiederkomme", und du bist vorher aufgestanden...»
«Ich bin aufgewacht, als Johannes
gerufen hat...» entschuldigt sich Margziam.
«Genau dann hättest du gehorchen
sollen. Im Bett zu bleiben, solange man schläft, ist weder Gehorsam noch
Verdienst. Du hättest es tun sollen, als es dich etwas kostete und eine
Willensanstrengung von dir verlangte. Ich hätte dich zu Jesus gebracht. Du
hättest ihn ganz für dich gehabt und wärst nicht Gefahr gelaufen, krank zu
werden.»
«Ich wußte nicht, daß es so kalt
geworden ist.»
«Aber ich habe es gewußt. Es
schmerzt mich, wenn du ungehorsam bist.»
«Nein, Mutter. Es schmerzt mich
viel mehr, dich so zu sehen... Wenn es nicht wegen Jesus gewesen wäre, dann
wäre ich nicht aufgestanden, selbst wenn du mich im Bett vergessen hättest und
ich ohne Essen geblieben wäre. Meine schöne Mutter, meine Mutter! ... Gib mir
einen Kuß, meine liebe Mutter. Du weißt, ich bin ein armes Kind... !»
Maria nimmt Margziam in die Arme
und küßt ihn. Sie verhindert so, daß Tränen über das Gesichtlein
herunterrollen, das nun wieder lächelt und verspricht: «Ich will nie mehr
ungehorsam sein, nie, nie mehr!»
Jesus spricht unterdessen mit
beiden Jüngern. Er erkundigt sich über ihre Fortschritte beim Lernen, und als
sie ihm antworten, daß sich in ihnen alles durch das Wort Marias erhellt, sagt
er: «Ich weiß es. Die übernatürlich leuchtende Weisheit Gottes wird auch in
den härtesten Herzen verstandenes Licht, wenn Maria sie ausspricht. Doch ihr
seid nicht hart im Herzen, und daher zieht ihr aus ihren Belehrungen den
größtmöglichen Nutzen.»
«Nun bist du hier, Sohn, und die
Lehrerin wird wieder zur Schülerin.»
«O nein! Du fährst fort, Lehrerin
zu sein. Ich will dir zuhören wie diese hier. Ich will in diesen Tagen nur
"der Sohn" sein, sonst nichts. Du wirst die Mutter und Lehrerin der Christen
sein. Du bist es von jetzt an: Ich,
332
dein Erstgeborener und erster
Schüler, sie, und mit ihnen Simon, wenn er kommt, und die anderen... Siehst
du, Mutter, die Welt ist hier. Die Welt von morgen in dem kleinen, reinen
Israeliten, der nicht einmal gewahr wird, daß er "Christ" wird. Die Welt, die
alte Welt Israels im Zeloten; die Menschheit in Johannes; die Heiden in
Syntyche. Alle werden sie zu dir kommen, heilige Ernährerin, die du der Welt
und den Jahrhunderten die Milch der Weisheit und des Lebens geben wirst. Wie
viele Münder haben verlangt, an deiner Brust zu saugen, und wie viele werden
es in Zukunft tun! Dich haben Patriarchen und Propheten ersehnt, denn aus
deinem fruchtbaren Schoß sollte die Nahrung der Menschen kommen. Dich werden
die "Meinen" suchen – wie viele Margziams – um Verzeihung, Unterweisung,
Schutz und Liebe zu erbitten, und selig jene, die es tun werden! Denn es wird
nicht möglich sein, in Christus auszuharren, wenn deine Hilfe nicht die Gnade
stärkt, o Mutter voll der Gnade!»
Maria gleicht einer Rose in ihrem
dunklen Gewand, so sehr entflammt sich ihr Antlitz beim Lob des Sohnes. Eine
herrliche Rose in einem einfachen Gewand aus grober, dunkelbrauner Wolle...
Man klopft an die Tür, und eine
Gruppe tritt ein: Maria des Alphäus, Jakobus und Judas, die beiden letzteren
beladen mit Wasserkannen und Reisigbündeln. Die Freude, sich wiederzusehen,
ist gegenseitig und steigert sich, als sie erfahren, daß bald auch noch Simon
der Zelote kommen wird. Die Zuneigung der Söhne des Alphäus ist
offensichtlich, auch ohne den Satz, den Judas als Antwort auf die Worte seiner
Mutter sagt, die diese Freude bemerkt: «Mutter, gerade hier in diesem Haus und
an einem für uns sehr traurigen Abend hat er uns väterliche Zuneigung
geschenkt und bewahrt sie immer noch. Wir können dies nicht vergessen. Für uns
ist er der Vater. Wir sind für ihn die Söhne. Welche Söhne sollten nicht
jubeln, wenn sie einen so guten Vater wiedersehen?»
Maria des Alphäus denkt nach und
seufzt... Dann, auch im Leid sehr fürsorglich, fragt sie: «Wo werdet ihr ihn
schlafen lassen? Ihr habt keinen Platz. Schickt ihn zu mir!»
«Nein, Maria. Er wird unter
meinem Dach bleiben. Das läßt sich leicht machen. Syntyche wird bei meiner
Mutter schlafen, Margziam bei mir, Simon in der Werkstatt. Es wäre gut, gleich
alles vorzubereiten. Laßt uns gehen.»
Die Männer gehen mit Syntyche in
den Garten hinaus, während die beiden Marien in der Küche ihrer Arbeit
nachgehen.
333
350. JESUS UNTERWEIST MARGZIAM
Jesus verläßt mit dem Kind an der
Hand des Haus. Sie gehen nicht nach Nazareth hinein, sondern verlassen es
vielmehr auf dem gleichen Weg, den Jesus einschlug, als er sein öffentliches
Leben begann. Bei den ersten Olivenbäumen angekommen, begeben sie sich von der
Hauptstraße auf einen Pfad zwischen Bäumen und genießen den schwachen
Sonnenschein, der den stürmischen Tagen folgt.
Jesus spornt den Knaben an, zu
laufen und zu springen. Doch Margziam entgegnet: «Ich möchte lieber bei dir
bleiben. Ich bin jetzt schon groß und ein Jünger.»
Jesus lächelt über dieses...
selbstbewußte Bekenntnis seines Alters und seiner Würde. In Wirklichkeit ist
der "Erwachsene" ' der an Jesu Seite geht, noch recht klein. Niemand würde ihm
mehr als zehn Jahre geben. Doch niemand kann leugnen, daß er ein Jünger ist,
am wenigsten Jesus, der sich damit begnügt zu sagen: «Aber es wird dich
langweilen, still sein zu müssen, während ich mein Gebet verrichte. Ich habe
dich mitgenommen, damit du dich vergnügst.»
«Ich könnte mich in diesen Tagen
nicht vergnügen... Doch in deiner Nähe zu sein, macht mir so viel Freude...
Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt in letzter Zeit, weil... weil...» Das
Kind preßt die zitternden Lippen zusammen und sagt nichts mehr.
Jesus legt ihm seine Hand auf den
Kopf und sagt: «Wer an mein Wort glaubt, darf nicht traurig sein wie jene, die
nicht glauben. Ich sage immer die Wahrheit, selbst wenn ich versichere, daß es
keine Trennung gibt zwischen den Seelen der Gerechten, die schon in Abrahams
Schoß sind, und denen der Gerechten, die noch auf Erden sind. Ich bin die
Auferstehung und das Leben, Margziam, und dieses verleihe ich auch, bevor ich
meinen Auftrag erfüllt habe. Du hast mir immer gesagt, daß deine Eltern sich
nach dem Kommen des Messias gesehnt und Gott darum gebeten haben, lange genug
leben zu dürfen, um ihn sehen zu können. Sie glaubten also an mich. Sie sind
in diesem Glauben entschlafen und daher in diesem Glauben schon gerettet,
durch ihn auferstanden, und leben. Denn das ist der Glaube, der Leben gibt,
indem er Durst nach Gerechtigkeit gibt. Bedenke, wie oft sie den Versuchungen
widerstanden haben, um würdig zu sein, dem Erlöser begegnen zu können ...»
«Aber sie sind gestorben, ohne
dich gesehen zu haben, Herr... und auf solche Weise gestorben... Ich habe sie
gesehen, weißt du, als sie alle die Toten der Ortschaft ausgegraben haben...
Meine Mutter, meinen Vater... meine Geschwisterchen... Was nützt es, wenn sie,
um mich zu trösten, sagten: "Die Deinen sind nicht so. Sie haben nicht leiden
müssen?" Oh, sie haben nicht gelitten?! Waren die Felsblöcke, die auf sie
gefallen sind, vielleicht Federn? Waren die Erde und das Wasser, in denen sie
erstickt
334
sind, vielleicht Luft? Hat ihr
Verstand nicht gelitten, als sie sich sterben fühlten und an mich dachten?»
Das Kind ist ganz vom Schmerz überwältigt. Es steht Jesus gegenüber und
spricht lebhaft, fast aggressiv, und mit den Händen...
Aber Jesus versteht diesen
Schmerz, dieses Bedürfnis, sich auszusprechen, und läßt ihn reden. Jesus
gehört nicht zu denen, die zu einem von wahrem Schmerz Gequälten sagen:
«Schweig, du gibst mir Ärgernis.»
Das Kind fährt fort: «Und dann?
Was ist nachher gekommen? Du weißt, was nachher geschehen ist! Wenn du nicht
gekommen wärst, wäre ich wie ein wildes Tier geworden und wie eine Schlange im
Wald gestorben. Ich wäre nicht mehr zur Mutter, zum Vater, zu den Brüderchen
gekommen, denn ich haßte Doras und... ich konnte Gott nicht mehr lieben wie
zuvor, als meine Mutter noch lebte und mich liebte und mich lehrte, den
Nächsten zu lieben. Ich haßte beinahe die Vöglein, die sich den Kropf füllten,
die warme Federn hatten und sich ein Nest bauten, ich, der ich Hunger litt,
ein zerrissenes Gewand trug und kein Zuhause mehr hatte... Ich verjagte sie,
ich, der ich die Vögel liebe, weil ich zornig wurde, wenn ich mich mit ihnen
verglich. Dann weinte ich, weil ich fühlte, daß ich böse war und die Hölle
verdiente...»
«Ah! Du hast also bereut, daß du
böse gewesen bist?»
«Ja, Herr! Aber wie hätte ich gut
sein können? Der alte Vater war es. Doch er sagte: "Bald wird alles zu Ende
sein. Ich bin alt..." Aber ich war nicht alt. Wie viele Jahre lagen noch vor
mir, bevor ich als Mensch und nicht als räudiger Hund hätte arbeiten und essen
können? Ich wäre ein Dieb geworden, wenn du nicht gekommen wärst.»
«Das wärst du nicht geworden,
denn deine Mutter hat für dich gebetet. Siehst du, ich bin gekommen und habe
dich mitgenommen. Das ist der Beweis dafür, daß Gott dich liebt und deine
Mutter über dich wacht.»
Das Kind schweigt nachdenklich.
Es scheint auf dem Erdboden Licht zu suchen, so sehr schaut es hinab, während
es an der Seite Jesu über die Wiese geht, die etwas unter dem Nordwind der
letzten Tage gelitten hat. Dann hebt es den Kopf und fragt: «Aber wäre es
nicht noch ein schönerer Beweis gewesen, wenn er meine Mutter nicht hätte
sterben lassen?»
Jesus lächelt über die
menschliche Logik des jungen Verstandes. Doch er erklärt ernst und genau:
«Schau, Margziam. Ich will dir die Dinge durch ein Gleichnis verständlich
machen. Du hast gesagt, daß du die Vöglein liebst, nicht wahr? Nun höre zu!
Sind die Vöglein erschaffen worden, um zu fliegen oder um im Käfig zu sein?»
«Um zu fliegen.»
«Gut. Was tun die Mütter der
Vöglein, um sie zu ernähren, solange sie noch klein sind?»
«Sie stecken ihnen das Futter in
den Schnabel.»
«Ja, und was für Futter?»
335
«Samen, Mücken, Raupen,
Brotkrumen oder Obstreste, die sie beim Hin- und Herfliegen finden.»
«Sehr gut. Nun höre gut zu. Wenn
du in diesem Frühjahr ein Nest am Boden finden würdest, mit Jungen darin und
mit der Mutter darüber, was würdest du dann tun?»
«Ich würde es nehmen.»
«Alles? Sowie es ist? Die Mutter
inbegriffen?»
«Alles. Denn es ist sehr schlimm,
wenn man klein ist und keine Mutter hat.»
«Im Deuteronomium steht
geschrieben, daß man nur die Kleinen nehmen und die Mutter freilassen soll,
denn sie ist in heiliger Weise zur Vermehrung bestimmt.»
«Aber wenn sie eine gute Mutter
ist, fliegt sie nicht fort. Sie eilt dorthin, wo ihre Kleinen sind. Meine
Mutter hätte es so gemacht. Auch hätte sie mich dir nicht für immer
überlassen, denn ich bin noch ein Kind. Mit mir hätte sie nicht kommen können,
denn die Geschwisterchen waren noch kleiner als ich. Also hätte sie mich nicht
fortgehen lassen.»
«In Ordnung. Aber höre! Glaubst
du, daß es besser wäre, die Mutter zusammen mit den Vöglein in einem offenen
Käfig zu halten, damit sie die geeignete Nahrung holen kann, oder sie alle
gefangen zu halten?»
«Nun... ich würde sie lieber
kommen und gehen lassen, solange die Vöglein noch nicht flügge sind... und
würde sie am liebsten freilassen, sobald die Kleinen flügge sind, denn der
Vogel ist zum Flug geboren... Eigentlich, um ganz gut zu sein, müßte ich auch
die flügge gewordenen Vöglein fliegen lassen und ihnen die Freiheit
schenken... Das wäre die wahre Liebe, die ich für sie haben könnte, und auch
die gerechteste... Ja, auch die gerechteste, denn ich würde nichts anderes tun
als dazu beitragen, daß sich die von Gott gewollte Bestimmung der Vögel
erfülle...»
«Du bist wirklich tüchtig,
Margziam! Du hast wie ein Weiser gesprochen. Du wirst ein großer Jünger deines
Herrn werden, und wer dich hören wird, wird dir glauben, weil du wie ein
Weiser sprechen wirst.»
«Wirklich, Jesus?» Das
Gesichtlein, das zuerst unruhig und traurig, dann dunkel und verschlossen war
durch die Anstrengung zu entscheiden, was besser wäre, entspannt sich nun und
leuchtet auf in der Freude über das Lob.
«Wirklich! Nun schau. Du urteilst
schon so, nur weil du ein gutes Kind bist. Überlege, wie erst Gott, der die
Vollkommenheit in allem ist, urteilen wird, was die Seelen und ihr wahres Wohl
betrifft. Die Seelen sind wie viele Vöglein, die das Fleisch in seinem Käfig
gefangen hält. Die Erde ist der Ort, an den sie in ihrem Käfig gebracht
werden. Aber sie sehnen sich nach der Freiheit des Himmels, nach der Sonne,
die Gott ist, nach gerechter Nahrung, welche die Betrachtung Gottes ist. Keine
menschliche Liebe, auch nicht die heiligste Liebe der Mutter für die Kinder
oder der Kinder
336
für die Mutter, ist so stark, daß
sie diese Sehnsucht der Seelen, zu ihrem Ursprung, zu Gott, zurückzukehren, zu
unterdrücken vermöchte. So wie Gott wegen seiner vollkommenen Liebe zu uns
keinen Grund – und sei er auch noch so machtvoll – finden würde, der sein
Verlangen, sich mit den Seelen zu vereinigen, unterdrücken könnte. Was
geschieht also? Manchmal liebt er sie so sehr, daß er zu ihnen sagt: "Kommt,
ich befreie euch", und er sagt es auch, wenn noch Kinder um die Mutter
geschart sind. Er sieht alles. Er weiß alles. Er macht alles gut, was er tut.
Wenn er eine Seele befreit – es könnte dies dem menschlichen Verstand nicht so
scheinen, aber es ist so – wenn er eine Seele befreit, dann tut er es immer
zum größeren Wohl der Seele selbst und ihrer Angehörigen. Wie ich dir schon
früher gesagt habe, verbindet er dann mit dem Dienst des Schutzengels den
Dienst der Seele, die er zu sich gerufen hat und die nun mit einer reinen
Liebe, die frei von jeder menschlichen Schwerfälligkeit ist, auch ihre
Verwandten liebt, da sie sie in Gott liebt. Wenn er eine Seele befreit,
verpflichtet er sich auch, sich um die Überlebenden zu kümmern. Hat er das bei
dir nicht auch getan? Hat er nicht aus dir, dem kleinen Sohn Israels, meinen
Jünger, meinen zukünftigen Priester gemacht?»
«Ja, Herr!»
«Nun denke einmal nach. Deine
Mutter wird von mir befreit werden und deiner Fürbitten nicht bedürfen. Aber
wenn sie nach der Erlösung gestorben wäre und der Fürbitten bedurft hätte,
dann hättest du als Priester für sie bitten können. Bedenke nun: wenn du als
der kleine Bauer Jabe bei deiner Mutter geblieben wärest, dann hättest du
nichts weiter tun können als einem Priester des Tempels Geld geben, damit er
ein Opfer für sie darbringe, ein Lämmlein, Tauben oder andere Güter der Erde.
Statt dessen wirst du, Margziam, der Priester Christi, selbst für sie das
wahre Opfer der vollkommenen Opfergabe darbringen, in dessen Namen allen
Verzeihung gewährt wird.»
«Werde ich es nicht mehr tun
können?»
«Nicht für Vater, Mutter und
Geschwister. Aber für deine Freunde und deine Jünger. Ist das nicht alles sehr
schön?»
«Ja, Herr!»
«Dann wollen wir also freudig
nach Hause zurückkehren.»
«Ja... aber jetzt habe ich dich
nicht beten lassen! ... Das tut mir leid ...»
«Wir haben unser Gebet
verrichtet! ... Wir haben die Wahrheit betrachtet und Gott in seiner Güte
bewundert ... All dies ist Gebet, und du hast es wie ein Erwachsener
verrichtet. Auf! Wir wollen einen schönen Psalm des Dankes singen für die
Freude, die in uns ist.»
Dann stimmt er an: «"Meinem
Herzen entströmt ein herrlicher Gesang..."» Margziam vereinigt seine silberne
Stimme mit dem Bronze- und Goldton der Stimme Jesu.
337
351. SIMON DER ZELOTE IN NAZARETH
Im Dezember bricht der Abend
rasch herein, die Lampen werden angezündet, und die Familie versammelt sich in
einem Raum. So geschieht es auch im kleinen Haus zu Nazareth, und während die
beiden Frauen arbeiten, die eine am Webstuhl und die andere mit der Nadel,
reden Jesus und Johannes von Endor am Tisch leise miteinander; Margziam
glättet am Boden zwei kleine Kästen.
Das Kind gibt sich dabei alle
Mühe, bis Jesus sich erhebt und sich über das Holz beugt, mit dem Finger
darüber streicht und sagt: «Nun ist es genug. Es ist schön glatt, und morgen
können wir es lackieren. Jetzt versorge alles an seinen Platz, denn wir werden
erst morgen wieder daran arbeiten.» Während Margziam mit seinen Werkzeugen
hinausgeht – ein harter Spatel, auf den die rauhe Fischhaut genagelt ist, die
unser heutiges Glaspapier vertritt, und eine Art Messer, sicher nicht aus
Stahl, das dem gleichen Zweck dient – nimmt Jesus mit seinen starken Armen
einen der Kästen und bringt ihn in die Werkstatt, in der gewiß gearbeitet
worden ist, denn Sägemehl und Späne liegen bei einer der Hobelbänke, die man
in die Mitte des Raumes geschoben hat. Margziam hat die Werkzeuge an ihren
Aufbewahrungsort gebracht und sammelt jetzt die Späne, um sie ins Feuer zu
werfen, wie er sagt. Er möchte auch noch das Sägemehl zusammenkehren, doch
Johannes von Endor kommt ihm zuvor.
Alles ist nun in Ordnung, als
Jesus mit dem zweiten Kasten wiederkommt, den er neben den ersten stellt. Alle
drei sind dabei, den Raum zu verlassen, als sie an der Haustüre klopfen hören
und gleich darauf die tiefe Stimme des Zeloten ertönt: «Ich grüße dich, Mutter
meines Herrn, und segne die Güte, die mir erlaubt, unter diesem Dach zu
wohnen.»
«Simon ist angekommen. Nun werden
wir die Gründe seiner Verspätung erfahren. Laßt uns gehen...» sagt Jesus.
Als sie in das Zimmerchen
eintreten, in dem sich der Apostel mit den Frauen befindet, stellt dieser
gerade einen schweren Sack ab, den er auf den Schultern hatte.
«Der Friede sei mit dir, Simon
...»
«Oh, gesegneter Meister! Ich habe
mich verspätet, nicht wahr? Aber ich habe alles erledigt und es gut erledigt
...»
Sie küssen sich. Dann erklärt
Simon: «Ich war bei der Witwe des Tischlers. Deine Fürsorge war sehr
angebracht. Die Greisin ist sehr krank, und die Auslagen haben sich dadurch
vermehrt. Der kleine Zimmermann stellt Gegenstände her, die klein sind wie er,
und denkt immer an dich. Alle preisen dich. Dann bin ich zu Nara, Samira und
Sira gegangen. Der Bruder ist härter denn je. Doch sie sind zufrieden, weil
sie wirklich heilig sind, und essen ihr armes Brot mit Tränen der Verzeihung
gewürzt. Sie danken dir für die ihnen geschickte Unterstützung und bitten
dich, dafür
338
zu beten, daß der hartherzige
Bruder sich bekehren möge. Auch die alte Rachel dankt dir für das Almosen.
Zuletzt bin ich zum Einkaufen in Tiberias gewesen. Ich hoffe, alles recht
gemacht zu haben. Die Frauen werden sehen... Aber in Tiberias bin ich von
einigen Leuten aufgehalten worden, die mich für deinen Eilboten hielten. Sie
haben mich drei Tage lang mit Beschlag belegt. Oh, es war ein vergoldetes
Gefängnis! Aber immerhin ein Gefängnis... Sie wollten so viel wissen... Ich
habe die Wahrheit gesagt: daß du alle entlassen hättest, da du dich wegen des
schlechten Winterwetters selbst zurückziehen wolltest... Als sie von der
Wahrheit meiner Worte überzeugt waren, nachdem sie auch bei Simon des Jonas
und bei Philippus gewesen waren, ohne dich dort zu finden oder etwas von dir
zu erfahren, haben sie mich endlich gehen lassen. Deshalb habe ich mich
verspätet.»
«Das macht nichts. Wir haben noch
Zeit, beisammen zu sein. Ich danke dir für alles... Mutter, schau mit Syntyche
nach, was in den Paketen ist, und sage mir, ob es genügt für das, von dem du
weißt...» und während die Frauen das Bündel aufmachen, setzt sich Jesus
nieder, um mit Simon zu reden.
«Was hast du getan, Meister?»
«Ich habe zwei Kästen
angefertigt, um nicht müßig zu sein und weil sie nützlich sein werden. Ich bin
spazierengegangen und habe mich meines Heimes erfreut...»
Simon schaut ihn ganz fest an...
sagt jedoch nichts.
Die Ausrufe Margziams, der aus
dem Bündel Stoffe, Wolle, Sandalen, Schleier und Gürtel herauskommen sieht,
lenken die Blicke Jesu und seiner Gefährten in diese Richtung.
Maria sagt: «Es ist alles gut so,
sehr gut. Wir werden uns sofort an die Arbeit machen, und bald wird alles
genäht sein.»
Das Kind fragt: «Willst du
heiraten, Jesus?»
Alle lachen, und Jesus fragt:
«Was läßt diesen Verdacht bei dir aufkommen?»
«Diese Dinge für Männer und
Frauen, und die beiden Kästen, die du gemacht hast. Sie sind für deine
Aussteuer und für die der Braut. Wirst du sie mir vorstellen?»
«Willst du wirklich meine Braut
kennenlernen?»
«O ja! Wie schön und wie gut wird
sie sein. Wie heißt sie? ...»
«Das ist noch ein Geheimnis. Denn
sie hat zwei Namen, so wie du zuerst Jabe geheißen hast und nun Margziam
heißt.»
«Darf ich sie nicht wissen?»
«Jetzt noch nicht. Aber eines
Tages wirst du sie wissen.»
«Wirst du mich zur Hochzeit
einladen?»
«Es wird kein Kinderfest sein.
Aber ich werde dich zum Hochzeitsfest einladen. Du wirst einer der Geladenen
und einer der Zeugen sein. Bist du zufrieden?»
339
«Aber wie lange wird es noch
dauern? Einen Monat?»
«Oh, viel länger!»
«Warum hast du dann so eilig
gearbeitet, daß du Schwielen an den Händen bekommen hast?»
«Ich habe sie bekommen, weil ich
lange nicht mehr mit den Händen gearbeitet habe. Siehst du, Kind, daß
Müßiggang schadet? Immer! Wenn man sich dann wieder an die Arbeit macht,
leidet man doppelt so viel, weil man zu empfindlich geworden ist. Überlege!
Wenn der Müßiggang schon den Händen schadet, wie wird er dann erst der Seele
schaden? Siehst du? Heute abend habe ich dir sagen müssen: "Hilf mir", denn
ich hatte solche Schmerzen, daß ich die Raspel nicht mehr halten konnte,
während ich vor zwei Jahren sogar vierzehn Stunden am Tag arbeiten konnte,
ohne Schmerz zu empfinden. Das gleiche geschieht dem, der im Eifer und im
Willen nachläßt. Er wird weich und schwächlich. Er wird rascher müde, und mit
Leichtigkeit dringen Giftstoffe geistiger Krankheiten in ihn ein. Andererseits
vollbringt er nun mit doppelter Mühe die guten Werke, die ihn früher nichts
kosteten, da er immer in Übung war. Oh, es lohnt sich nie, müßig zu sein und
zu sagen: "Nach dieser Zeitspanne werde ich mich wieder frischer an die Arbeit
machen!" Es wird uns nicht gelingen, oder nur mit großer Mühe.»
«Aber du bist nicht müßig
gewesen!»
«Nein. Ich habe eine andere
Arbeit getan. Aber sieh, wie der Müßiggang meiner Hände ihnen geschadet hat.»
Jesus zeigt die geröteten Handflächen, die da und dort Blasen aufweisen.
Margziam küßt sie mit den Worten:
«Meine Mutter machte es so, wenn mir irgend etwas weh tat, weil die Liebe
heilt.»
«Ja, die Liebe heilt viele
Dinge... Nun gut... Komm, Simon! Du wirst in der Zimmermannswerkstatt
schlafen. Komm, damit ich dir zeige, wohin du deine Kleider legen kannst und
...»
Sie gehen zusammen hinaus, und
das ist das Ende.
352. EIN ABEND IM HAUS VON
NAZARETH
Der Webstuhl steht still, denn
Maria und Syntyche nähen eifrig an den vom Zeloten gebrachten Stoffen. Die
Teile der bereits zugeschnittenen Kleider liegen ordentlich gefaltet und nach
Farben geordnet in Haufen auf dem Tisch, und von Zeit zu Zeit holen die Frauen
ein Stück hervor und heften es auf dem Tisch mit einem anderen Stück zusammen.
Die Männer sind in die Ecke des unbenützten Webstuhls zurückgedrängt worden.
Sie sind in der Nähe der Frauen, jedoch nicht an ihrer Arbeit interessiert.
Auch die beiden Apostel Judas und Jakobus des Alphäus sind anwesend,
340
die ihrerseits die weiblichen
Arbeiten verfolgen, ohne Fragen zu stellen, doch nicht ganz ohne Neugierde,
wie mir scheint.
Die beiden Vettern berichten von
den Brüdern, besonders von Simon, der sie bis zur Türe des Hauses Jesu
begleitet hat und dann zurückgegangen ist. «Er hat ein krankes Kind», sagt
Jakobus, um den Bruder zu entschuldigen. Judas ist strenger und sagt: «Gerade
deswegen hätte er kommen sollen. Aber es scheint, daß auch er blöde geworden
ist wie alle in Nazareth, mit Ausnahme des Alphäus und der beiden Apostel, die
jetzt gerade wer weiß wo sind. Es ist offensichtlich, daß Nazareth nichts
Gutes hat, und das, was es hatte, ausgespien hat, als wäre es für diese unsere
Stadt ein lästiger Geschmack ...»
«Sprich nicht so», bittet Jesus.
«Laß dir dein Herz nicht vergiften... Es ist nicht ihre Schuld...»
«Wessen Schuld sonst?»
«Vieler Umstände... Forsche nicht
nach. Nicht ganz Nazareth ist mir feindlich gesinnt. Die Kinder...»
«Weil sie noch Kinder sind.»
«Die Frauen...»
«Weil sie Frauen sind. Aber weder
die Kinder noch die Frauen werden dein Reich festigen.»
«Warum, Judas? Du bist im Irrtum.
Die Kinder von heute werden die Jünger von morgen sein, diejenigen, welche das
Reich auf der ganzen Welt verbreiten werden, und die Frauen... Warum sollten
sie es nicht tun können?»
«Du kannst doch aus den Frauen
keine Apostel machen. Sie werden höchstens Jüngerinnen sein können, wie du
gesagt hast, Helferinnen der Jünger.»
«Du wirst in Zukunft über so
manche Dinge anders denken, Bruder. Aber ich will nicht einmal versuchen, dich
vom Gegenteil zu überzeugen, denn ich würde auf eine Denkweise stossen, die
seit Jahrhunderten auf irrigen Vorstellungen und Vorurteilen über die Frauen
beruht. Ich bitte dich nur, einmal die Unterschiede zu beobachten, die du
zwischen den Jüngerinnen und den Jüngern siehst, und vorurteilsfrei zu
betrachten, wie sie meine Lehren befolgen. Du wirst sehen, daß die Jüngerinnen
– angefangen bei deiner Mutter, die, wenn du willst, die erste Jüngerin der
Zeit und dem Heldenmut nach gewesen ist und es auch heute noch ist und einer
ganzen Ortschaft die Stirn bietet, obgleich sie verspottet wird, weil sie mir
treu bleibt und auch der Stimme des Blutes widersteht – besser sind als ihr.»
«Ich gebe es zu, es ist wahr.
Aber in Nazareth, wo sind da die Jüngerinnen? Die Töchter des Alphäus, die
Mütter Ismaels und Asers und ihre Schwestern. Das ist alles. Zu wenig. Ich
möchte nicht mehr nach Nazareth kommen, um all dies nicht mehr mitansehen zu
müssen.»
341
«Arme Mutter! Du würdest ihr
einen großen Schmerz zufügen», sagt Maria, die sich ins Gespräch einschaltet.
«Das ist wahr», sagt Jakobus.
«Sie hofft sehr auf die Versöhnung der Brüder mit Jesus und mit uns. Ich
glaube, dies ist ihr einziger Wunsch. Aber wir werden dies gewiß nicht mit
unserem Fernbleiben erreichen können. Bisher bin ich deinem Rat gefolgt und
habe mich abgesondert. Aber von morgen an will ich hinausgehen und mich dem
einen oder anderen nähern... Denn, wenn wir auch den Heiden die Botschaft
verkünden sollen, dann sollten wir erst einmal an unsere eigene Stadt denken.
Ich weigere mich zu glauben, daß hier alle böse und nicht zu bekehren sind.»
Judas Thaddäus entgegnet nichts.
Aber er ist sichtlich unruhig.
Simon der Zelote, der die ganze
Zeit hindurch geschwiegen hat, mischt sich nun ein: «Ich möchte keinen
Verdacht erregen, aber erlaubt mir, euch eine Frage zu stellen, um euch zu
ermutigen, und zwar: seid ihr sicher, daß an der Zurückhaltung von Nazareth
nicht auch äußere Einflüsse schuld sind, die hier einen fruchtbaren Boden
gefunden haben? Die Kenntnis des vollkommenen Lebens Jesu, eines Bürgers von
Nazareth, sollte es den Nazarenern doch erleichtern, ihn als den verheißenen
Messias anzuerkennen. Ich mehr als ihr, und mit mir viele Nazarener meines
Alters, haben wenigstens vom Hörensagen die angeblichen Messiasse
kennengelernt. Ich versichere euch, daß deren privates Leben die hartnäckigste
Versicherung, der Messias zu sein, Lügen strafte. Rom hat sie als Rebellen
scharf verfolgt. Aber auch wenn wir die Politik beiseite lassen wollen, gab es
genügend andere Gründe, weshalb jene falschen Messiasse ihre Strafe
verdienten. Wir haben sie angespornt und unterstützt, denn sie dienten uns
dazu, unseren Geist der Auflehnung gegen Rom zu befriedigen. Wir haben ihnen
Beifall gezollt, töricht wie wir sind, und geglaubt, in ihnen den verheißenen
"König" zu finden, bis der Meister die Wahrheit zu Tage gebracht hat, und
trotzdem glauben wir immer noch nicht so, wie wir sollten. Sie vertrösteten
unseren niedergeschlagenen Geist mit Hoffnungen auf die nationale
Unabhängigkeit und die Wiedererrichtung des Reiches Israel. Oh, welch ein
Elend! Welch ein unbeständiges und verderbtes Reich wäre das gewesen! Nein,
diese falschen Messiasse Könige Israels und Gründer des verheißenen Reiches zu
nennen bedeutete, die messianische Idee zu entwürdigen. Im Meister vereinigt
sich die Tiefe der Lehre mit der Heiligkeit des Lebens, und Nazareth kennt ihn
besser als jede andere Stadt. Ich denke nicht daran, die Nazarener anzuklagen,
weil sie nicht an die Übernatürlichkeit seiner Herkunft glauben. Sie haben sie
nicht erkannt. Aber das Leben! Sein Leben! ... Könnten da so viel Groll und
Haß, so viel hartnäckiger Widerstand – aber was sage ich – so viel wachsender
Widerstand nicht auf feindliche Machenschaften zurückzuführen sein? Wir kennen
die Feinde Jesu. Wir wissen, was sie wert sind. Glaubt ihr, daß sie nur hier
abwesend und tatenlos sind, wenn sie uns
342
doch überall vorausgehen, uns
begleiten oder nachfolgen, um das Werk Christi zu zerstören? Klagt die Stadt
Nazareth nicht als die einzig schuldige an, sondern weint darüber, daß sie von
den Feinden Jesu irregeführt wurde.»
«Das hast du sehr gut gesagt,
Simon. Weint über Nazareth ...» sagt Jesus und ist traurig.
Johannes von Endor bemerkt: «Du
hast auch ganz richtig gesagt, daß das positive Element sich in Mißgunst
verwandelt, weil der Mensch selten Gerechtigkeit im Denken übt. Hier besteht
das erste Hindernis in der bescheidenen Geburt, der einfachen Kindheit, den
schlichten Jünglingsjahren unseres Jesu. Der Mensch vergißt, daß die Werte
sich unter einem bescheidenen Äußeren verbergen, während die Nichtigkeiten
sich unter großem Aufwand verstecken, um sich der Menge zu bemächtigen.»
«Das mag sein... Aber das ändert
nichts an meinem Urteil über die Mitbürger. Alles, was ihnen gesagt worden
ist, hätten sie nach den wirklichen Werken des Meisters beurteilen sollen.»
Es folgt ein langes Schweigen,
das nur durch ein Geräusch unterbrochen wird, wenn Maria die Stoffe in
Streifen reißt, um daraus Besätze zu machen. Syntyche hat kein Wort gesagt,
obgleich sie höchst aufmerksam zugehört hat. Sie bewahrt immer ihre
bescheidene Zurückhaltung und ist nur Maria und dem Knaben gegenüber
entspannter. Aber nun ist das Kind auf einem Bänkchen zu ihren Füßen
eingeschlafen, den Kopf auf dem abgewinkelten Arm an ihre Knie gelehnt. Daher
rührt sie sich nicht und wartet darauf, daß Maria ihr die Streifen reicht.
«Welch ein unschuldiger Schlaf...
Er lächelt...» bemerkt Maria, sich über das schlafende Gesichtlein neigend.
«Wer weiß, wovon er träumt», sagt
Simon lächelnd.
«Es ist ein sehr intelligentes
Kind. Es lernt rasch und will genaue Erklärungen haben. Es stellt
scharfsinnige Fragen und verlangt klare Antworten. Über alles! Ich muß
bekennen, daß ich beim Antworten manchmal in Verlegenheit gerate. Es sind
Fragen, die seinem Alter nicht entsprechen und manchmal auch meine Fähigkeiten
übersteigen, eine Erklärung zu finden», sagt Johannes.
«Ja. Wie an jenem Tag...
Erinnerst du dich, Johannes? Du hattest damals zwei sehr schwierige Schüler,
und sehr unwissende», sagt Syntyche mit einem leichten Lächeln und richtet
ihren tiefen Blick scharf auf den Jünger.
Johannes lächelt seinerseits und
sagt: «Ja, und ihr hattet einen sehr unfähigen Lehrer, der die wahre
Lehrmeisterin zu Hilfe rufen mußte... denn in den vielen Büchern, die er
gelesen hatte, hatte dieser törichte Lehrer keine Antwort gefunden, die er dem
Kind hätte geben können. Ein Zeichen dafür, daß ich immer noch ein unwissender
Lehrer bin.»
«Die menschliche Wissenschaft ist
noch Unwissenheit, Johannes. Nicht
343
der Erzieher, sondern das, was
sie ihm gegeben hatte, um es zu sein, war ungenügend. Die arme menschliche
Wissenschaft! Oh, wie verstümmelt erscheint sie mir! Sie erinnert mich an eine
Gottheit, die in Griechenland verehrt wurde. Es bedurfte wirklich der
heidnischen Erdgebundenheit, um glauben zu können, daß die Siegesgöttin, weil
sie ohne Flügel war, für immer Besitz der Griechen sei. Nicht nur die Flügel
ihr genommen, sondern auch die Freiheit... Es wäre besser gewesen, sie hätte
Flügel gehabt in unserem Glauben. Wir hätten sie für fähig gehalten,
fortzufliegen, um himmlische Blitze zu erhaschen und sie auf die Feinde zu
schleudern. Aber so wie sie war, gab sie keine Hoffnung, sondern nur
Mutlosigkeit und Traurigkeit. Ich konnte sie nicht ansehen, ohne sie zu
bedauern ... Sie schien mir leidend, betrübt über ihre Verstümmelung. Ein
Symbol des Schmerzes und nicht der Freude... Das war es. Aber wie mit der
Siegesgöttin macht es der Mensch auch mit der Wissenschaft. Er stutzt ihr die
Flügel, die ihr den Weg zum übernatürlichen Wissen eröffnen könnten, welches
der Schlüssel zu vielen Geheimnissen ist. Er hat geglaubt, und glaubt immer
noch, sie dadurch gefangen zu halten, daß er ihr die Flügel stutzt... Er hat
sie verstümmelt... Die geflügelte Wissenschaft wäre Weisheit. So, wie sie
jetzt ist, ist sie nur ein sehr beschränktes Erkennen.»
«Meine Mutter hat euch an jenem
Tag geantwortet?»
«Mit vollkommener Klarheit und
keuschen Worten, so daß es ein Kind und zwei Erwachsene verschiedenen
Geschlechtes hören konnten, ohne erröten zu müssen.»
«Um was handelte es sich?»
«Um die Erbsünde, Meister. Ich
habe die Erklärung deiner Mutter aufgeschrieben, um sie nicht zu vergessen»,
sagt wiederum Syntyche, und auch Johannes von Endor sagt: «Auch ich. Ich
glaube, viele werden uns danach fragen, wenn wir eines Tages unter die Heiden
gehen. Ich glaube zwar nicht, daß ich jemals zu ihnen gehen werde, weil...»
«Warum, Johannes?»
«Weil ich nicht mehr lange leben
werde.»
«Aber würdest du gerne zu ihnen
gehen?»
«Lieber als viele andere in
Israel, denn ich habe keine Vorurteile. Auch ... ja, auch deswegen: Ich habe
den Heiden von Citium und Anatolien ein schlechtes Beispiel gegeben! Ich hätte
dort gerne noch etwas wiedergutgemacht. Das Gute, das zu tun wäre ist, dein
Wort und dich dort bekanntzumachen... Aber das wäre eine zu große Ehre für
mich gewesen... Ich habe sie nicht verdient.»
Jesus schaut ihn lächelnd an,
sagt aber nichts darauf. Er fragt: «Sonst habt ihr nichts zu fragen?»
«Ich hätte eine Frage. Sie fiel
mir gestern abend ein, als du mit dem Kind über den Müßiggang sprachst. Ich
habe versucht, eine Antwort zu finden, aber es ist mir nicht gelungen. Ich
wartete auf den Sabbat, um dir
344
die Frage zu stellen, wenn die
Hände untätig sind und du unsere Seelen in deinen Händen zu Gott emporhebst»,
sagt Syntyche.
«Stelle mir diese Frage jetzt,
während wir die Nachtruhe erwarten.»
«Sieh, Meister. Du hast gesagt,
wenn einer lau wird bei der geistigen Arbeit, dann wird er schwach und
anfällig für die Krankheiten des Geistes. Ist es nicht so?»
«Ja, Frau!»
«Nun scheint mir das im Gegensatz
zu stehen zu dem, was ihr, du und deine Mutter, über die Erbsünde, ihre
Auswirkungen auf uns und die Befreiung von ihr durch dich, gesagt habt. Ihr
habt mich gelehrt, daß durch die Erlösung die Erbsünde nichtig wird. Ich
glaube nicht zu irren, wenn ich sage, daß dies nur für jene zutreffen wird,
die an dich glauben.»
«Das ist wahr.»
«Ich sehe also ab von den anderen
und nehme einen dieser Erlösten. Ich betrachte ihn in den Wirkungen der
Erlösung. Seine Seele ist von der Erbschuld frei. Er kehrt also in den Stand
der Gnade zurück, wie die Stammeltern sie besessen haben. Gibt ihm das nicht
eine unüberwindliche Widerstandskraft gegen alle Willensschwächen? Du wirst
sagen: "Der Mensch begeht auch persönliche Sünden." Richtig. Aber ich denke,
daß auch sie hinfällig werden durch die Erlösung. Ich frage dich nicht, wie.
Aber ich nehme an, daß du zum Zeichen dafür, daß sie wirklich stattgefunden
hat, Mittel, Symbole hinterlassen wirst. Ich weiß nicht, wie sie vor sich
gehen wird, obgleich alles, was sich im heiligen Buch auf dich bezieht,
erzittern läßt, und ich hoffe nur, daß es sich um symbolische Leiden handelt,
die sich auf das Seelische beschränken, obgleich der seelische Schmerz keine
Illusion ist, sondern vielleicht ein noch bittereres Weh als der körperliche.
Alle Religionen haben solche Mittel und Symbole, und sie werden manchmal
Mysterien genannt. Die gegenwärtig in Israel gebräuchliche Taufe ist ein
solches, nicht wahr?»
«Ja, das ist es! Es wird unter
anderem Namen auch in meiner Religion Zeichen dieser meiner Erlösung geben,
die den Seelen aufgedrückt werden, um sie zu reinigen, zu stärken, zu
erleuchten, zu stützen, zu ernähren und sie loszusprechen.»
«Also? Wenn sie auch von den
persönlichen Sünden losgesprochen worden sind, werden sie immer in der Gnade
sein... Wie können sie dann schwach und empfänglich sein für geistige
Krankheiten?»
«Ich will dir einen Vergleich
nennen. Nehmen wir ein neugeborenes Kind von ganz gesunden Eltern. Es ist
ebenfalls gesund und stark. Kein einziger physischer ererbter Makel ist an
ihm. Sein Wesen ist vollkommen, was Skelett und Organe betrifft, und es hat
gesundes Blut. Daher hat es alle erforderlichen Eigenschaften, um stark und
gesund heranzuwachsen, denn seine Mutter hat reichlich kräftige Milch. Aber im
ersten Augenblick seines Lebens zieht es sich eine sehr schwere Krankheit zu,
deren
345
Ursache niemand kennt. Wirklich
eine tödliche Krankheit. Es wird nur noch durch das Erbarmen Gottes gerettet,
der den kleinen Körper am Leben erhält. Nun gut. Glaubst du, daß dieses Kind
nachher so kräftig sein wird, wie wenn es diese Krankheit nie gehabt hätte?
Nein, es wird stets eine Schwäche haben, und selbst wenn sie nicht offenkundig
ist, wird sie doch vorhanden sein und es für Krankheiten empfänglicher machen.
Einige Organe werden nie mehr so unversehrt sein wie vorher, und auch das Blut
wird weniger kräftig sein als zuvor. Alles Gründe, die das Kind für
Krankheiten empfänglicher machen. Jedesmal, wenn eine von ihnen auftritt, wird
das Kind danach anfälliger für einen Rückfall sein.
Das gleiche gilt auf geistigem
Gebiet. Die Erbsünde wird bei den Gläubigen durch mich getilgt. Aber der Geist
wird einen Hang zur Sünde behalten, den er ohne die Erbsünde nicht gehabt
hätte. Daher sind Wachsamkeit und ständige Pflege des Seelenlebens am Platz,
so wie auch die Mutter sich um das Kind sorgt, das schwach geblieben ist nach
einer Krankheit in seiner Kindheit.
Daher darf man nicht müßig sein,
sondern muß immer emsig sein, um in der Tugend zu erstarken. Wenn jemand der
Trägheit oder Lauheit verfällt, kann er viel leichter von Satan verführt
werden, und jede schwere Sünde, die mit einem schweren Rückfall vergleichbar
ist, wird ihn für weitere Fehltritte empfänglicher machen und zum
letztendlichen Tod des Geistes beitragen. Wenn jedoch die Gnade, die durch
meine Erlösung zurückgegeben wird, durch einen aktiven und unermüdlichen
Willen unterstützt wird, wird sie erhalten bleiben. Nicht nur das, die Gnade
wird sogar zunehmen, da sie sich mit den von den Menschen erworbenen Tugenden
verbindet. Heiligkeit und Gnade! Welch sichere Flügel, um zu Gott zu fliegen!
Hast du verstanden?»
«Ja, mein Herr! Du, oder vielmehr
die allerheiligste Dreifaltigkeit, ihr gebt dem Menschen das grundlegende
Mittel. Der Mensch darf es nicht zerstören durch Mangel an Aufmerksamkeit und
Mitwirkung. Ich habe verstanden. Jede schwere Sünde ist Zerstörung der Gnade
und der Gesundheit des Geistes. Die Zeichen, die du uns hinterlassen wirst,
werden uns die Gesundheit wiedergeben, das ist wahr; doch der hartnäckige
Sünder, der nicht gegen die Sünde ankämpft, wird immer schwächer werden, auch
wenn ihm jedesmal verziehen wird. Man muß daher wachsam sein, um nicht
zugrundezugehen. Danke, Herr... Margziam wacht auf. Es ist spät...»
«Ja. Laßt uns nun alle zusammen
beten und dann zur Ruhe gehen!»
Jesus erhebt sich, und alle tun
es ihm nach, auch der noch halbschlafende Knabe. Das Vaterunser ertönt laut
und harmonisch in dem kleinen Raum.
346
353. JESUS MIT SALOME, DER FRAU
DES VETTERS SIMON
Jesus geht mit Simon dem Zeloten
und Margziam durch Nazareth in Richtung der Felder zwischen Kana und Nazareth.
Er durchquert diese seine ungläubige und ihm feindlich gesinnte Stadt, indem
er absichtlich durch die Straßen der Innenstadt und über den Marktplatz geht,
der in dieser Morgenstunde schon voller Menschen ist. Viele wenden sich nach
ihm um, und vereinzelte Bewohner grüßen ihn. Die Frauen, besonders die
älteren, lächeln ihm zu, aber abgesehen von einigen Kindern kommt niemand zu
ihm. Ein Flüstern folgt ihm, wenn er vorbeigegangen ist. Jesus sieht sicher
alles, aber er tut so, als ob er nichts sehen würde. Er spricht entweder mit
Simon oder mit dem Kind, das zwischen den beiden Männern geht, und setzt
seinen Weg fort.
Sie sind nun bei den letzten
Häusern angelangt. An der Türe eines derselben steht eine Frau von etwa
vierzig Jahren. Sie scheint auf jemanden zu warten. Als sie Jesus sieht, macht
sie eine Bewegung, dann bleibt sie stehen und neigt errötend ihr Haupt.
«Es ist eine Verwandte von mir.
Es ist die Frau Simons des Alphäus», sagt Jesus zu dem Apostel.
Die Frau scheint sich in einem
Gefühlskonflikt zu befinden. Sie wechselt die Farbe, hebt und senkt die Augen,
ihr ganzes Gesicht drückt den Willen aus, zu sprechen, aber irgend etwas hält
sie zurück.
«Der Friede sei mit dir, Salome»,
grüßt Jesus, der sie nun erreicht hat.
Die Frau schaut ihn an. Sie ist
erstaunt über die Herzlichkeit, die in der Stimme des Verwandten liegt, und
antwortet, noch stärker errötend: «Der Friede sei ...»
Ein Tränenausbruch hindert sie
daran, den Satz zu beenden. Sie bedeckt ihr Antlitz mit dem Arm und, an den
Türpfosten des Hauses gelehnt, weint sie bitterlich.
«Warum weinst du so, Salome? Kann
ich nichts tun, um dich zu trösten? Komm in die Ecke hier und sage mir, was du
hast...» Er nimmt sie beim Ellbogen und führt sie in ein Gäßlein zwischen
ihrem Haus und dem Garten eines Nachbarhauses. Simon bleibt mit dem ganz
erstaunten Margziam am Eingang des Gäßleins stehen.
«Was hast du, Salome? Du weißt,
daß ich dir immer wohlgesinnt gewesen bin. Ich habe es immer gut mit euch
allen gemeint und bin euch immer noch wohlgesinnt. Du mußt daran glauben und
Vertrauen haben...»
Salome unterbricht ihr Weinen,
als wolle sie die Worte hören, um sie in ihrer wahren Bedeutung zu verstehen;
dann weint sie wieder stärker und stottert: «Du ja... Wir... Ich jedoch
nicht... und Simon auch nicht... Doch er ist törichter als ich... ich habe ihm
gesagt: "Rufe Jesus"... Doch ein ganzes Dorf ist gegen uns... gegen dich...
gegen mich... und mein Kind ...»Beim Berühren des tragischen Punktes wird das
Weinen ebenfalls tragisch.
347
Die Frau krümmt sich und jammert
und schlägt sich mit den Fäusten ins Gesicht, als wäre sie in einem
schmerzvollen Delirium.
Jesus ergreift ihre Hände und
sagt: «Nicht so! Ich bin hier, um dich zu trösten. Rede, und ich werde alles
tun ...»
Die Frau betrachtet ihn mit vor
Staunen und Schmerz aufgerissenen Augen, doch die Hoffnung spornt sie an zu
reden und ordentlich zu berichten: «Wirst du mit mir Erbarmen haben, auch wenn
Simon schuldig ist? Wirklich? ... O Jesus, der du alle rettest! Mein Kind
Alphäus, das jüngste, ist krank... Es liegt im Sterben... Du hast Alphäus
geliebt. Du hast ihm aus Holz Spielsachen geschnitzt... ihn hochgehoben, damit
er Weintrauben und Feigen von deinen Bäumen pflücken konnte... und bevor du
weggingst ... um... in die Welt hinauszugehen, hast du ihn schon so viele gute
Dinge gelehrt... Er ist wie tot... Er wird keine Trauben und Feigen mehr
essen, er wird nichts mehr lernen...» und sie weint bitterlich.
«Salome, sei brav. Sage mir, was
hat er?»
«Sein Bauch ist sehr krank. Er
hat geschrien, hat unter Krämpfen gelitten und ist tagelang im Delirium
gelegen. Nun spricht er nicht mehr. Er ist wie einer, der am Kopf getroffen
worden ist. Er jammert, aber er antwortet nicht. Er weiß nicht einmal, daß er
seufzt. Er ist ganz graublau. Er wird schon kalt. Schon viele Tage flehe ich
Simon an, zu dir zu gehen. Aber... Oh, ich habe ihn immer geliebt, aber jetzt
hasse ich ihn, weil er töricht ist und mir wegen einer törichten Idee den
Jungen sterben läßt. Aber wenn mein Kind stirbt, dann verlasse ich ihn und
kehre mit den anderen Kindern in mein Vaterhaus zurück. Er ist unfähig, im
rechten Augenblick Vater zu sein. Ich will meine Kinder verteidigen. Ich gehe
fort! Ja! Mag die Welt sagen, was sie will. Ich gehe.»
«Sage das nicht. Gib sofort diese
Rachegedanken auf.»
«Mit Recht lehne ich mich auf.
Siehst du? Ich habe auf dich gewartet, weil niemand zu dir gesagt hat: "Komm."
Nun sage ich es dir. Aber ich habe es tun müssen, als handelte es sich um eine
schlechte Tat. Ich kann dir nicht sagen: "Tritt ein", denn im Haus sind die
des Joseph ...»
«Das ist auch nicht nötig.
Versprichst du mir, Simon zu verzeihen? Ihm immer eine gute Frau zu sein? Wenn
du mir dies versprichst, dann sage ich dir: "Geh in dein Haus, und dein Sohn
wird dich geheilt anlächeln." Kannst du das glauben?»
«Ich glaube an dich. Auch gegen
die ganze Welt glaube ich.»
«Kannst du ebenso verzeihen wie
glauben?»
«... Aber wirst du ihn mir
wirklich heilen'?»
«Nicht nur dies. Ich verspreche
dir, daß Simon nicht mehr an mir zweifeln wird, und daß der kleine Alphäus,
und mit ihm deine anderen Kinder, du und auch dein Gatte, wieder in mein Haus
kommen wird. Maria spricht so viel von dir...»
«Oh, Maria! Maria! Sie war dabei,
als Alphäus geboren wurde... Ja,
348
Jesus, ich werde verzeihen. Ich
werde ihm nichts sagen... Nein, im Gegenteil, ich werde ihm sagen: "Siehst du,
wie Jesus auf dein Verhalten antwortet: indem er dir den Sohn zurückgibt!" Das
darf ich doch sagen?»
«Das darfst du sagen ... Geh,
Salome. Geh und weine nicht mehr. Leb wohl! Der Friede sei mit dir, gute
Salome. Geh, geh!» Er führt sie zur Türe zurück und schaut ihr nach und
lächelt, als er sieht, mit welcher Eile sie durch den Gang läuft, ohne die
Türe zu schließen, und macht sie dann selbst langsam zu. Er wendet sich den
beiden Begleitern zu und sagt: «Nun wollen wir unser Ziel erreichen...»
«Glaubst du, daß Simon sich
bekehren wird?» fragt der Zelote.
«Er ist kein Ungläubiger. Er ist
nur einer, der sich von einem Stärkeren als er beherrschen läßt.»
«Oh, dann! Stärker als das
Wunder!»
«Du siehst, daß du dir selbst die
Antwort gibst... Ich freue mich, das Kind gerettet zu haben. Ich habe es
gesehen, als es wenige Stunden alt war, und es hat mich immer so gern
gehabt...»
«Wie ich? Wird es ein Jünger
werden?» fragt Margziam, nicht ganz uninteressiert und ein wenig ungläubig,
daß jemand Jesus so lieben kann, wie er ihn liebt.
«Du liebst mich als Kind und als
Jünger. Alphäus hat mich nur als Kind geliebt. Doch später wird er mich auch
als Jünger lieben. Vorerst ist er nur ein Kind. Er ist kaum acht Jahre alt. Du
wirst ihn sehen.»
«Also gibt es nur einen, der
zugleich Kind und Jünger ist?»
«Dich allein bis jetzt. Du bist
das Haupt der Kinder-Jünger. Wenn du wirklich zu einem Mann geworden bist,
dann erinnere dich daran, daß du kein schlechterer Jünger gewesen bist als die
Männer; öffne daher allen Kindern die Arme, die auf der Suche nach mir sind
und sagen: "Ich will Jünger Christi sein." Wirst du das tun?»
«Ich werde es tun», verspricht
Margziam ernst.
Die offenen, von der Sonne
beschienenen Felder umgeben sie nun, und sie entfernen sich im Sonnenschein...
354. VETTER SIMON KEHRT ZU JESUS
ZURÜCK
Ein ärmliches Haus nimmt sie auf,
in dem sich ein Großmütterchen befindet, das von einer ansehnlichen Schar
Kinder im Alter von ungefähr zwei bis zehn Jahren umgeben ist. Das Haus steht
inmitten von etwas ungepflegten Feldern, von denen viele sogar zu
wildwachsenden Wiesen geworden sind, in denen noch einige überlebende
Obstbäume stehen.
«Der Friede sei mit dir, Johanna!
Geht es dir heute besser? Sind sie gekommen, um dir zu helfen?»
349
«Ja, Meister und Jesus, und sie
haben mir versprochen, daß sie wiederkommen werden, um zu säen. Es wird etwas
spät dafür sein, aber sie sagen mir, daß der Same noch keimen wird.»
«Gewiß wird er keimen. Was ein
Wunder des Samens und der Erde wäre, wird ein Wunder Gottes werden und daher
ein vollkommenes Wunder. Deine Felder werden die schönsten dieser Gegend sein,
und diese Vögelchen, die dich umgeben, werden Körner im Überfluß für ihre
Schnäbelchen haben. Weine nicht mehr. Im kommenden Jahr wird es schon besser
gehen. Aber ich werde dir noch zusätzlich helfen, besser gesagt, eine wird dir
helfen, die denselben Namen trägt wie du und die nie müde ist, Gutes zu tun.
Schau, dies ist für dich, damit kannst du bis zur Ernte auskommen.»
Die Alte nimmt die Börse samt der
Hand Jesu und küßt weinend diese Hand. Dann fragt sie: «Sag mir, wer ist das
gute Geschöpf, damit ich dem Herrn ihren Namen nennen kann.»
«Eine meiner Jüngerinnen und eine
deiner Schwestern. Ihr Name ist mir und dem Vater im Himmel bekannt.»
«Oh! Du bist es... !»
«Ich bin arm, Johanna. Ich gebe,
was man mir gibt. Selbst kann ich nur Wunder geben. Es tut mir leid, daß ich
nicht früher von deinem Unglück erfahren habe. Ich bin gleich gekommen, als
Susanna es mir gesagt hat, aber leider zu spät. Doch so wird das Werk Gottes
um so heller leuchten.»
«Zu spät! Ja, zu spät! So rasch
hat sie der Tod dahingerafft! Und er hat die Junge geholt, nicht mich, die ich
unnütz bin. Nicht diese hier, die hilflos sind. Sondern die, die arbeiten
konnte. Verfluchter Mond des Elul, der mit so schlechten Einflüssen behaftet
ist!»
«Verfluche nicht den Planeten, er
hat nichts damit zu tun... Sind die Kinder brav? Kommt her! Seht ihr? Auch
dies hier ist ein Kind ohne Vater und Mutter, und es kann nicht einmal bei
seinem Großvater leben. Doch Gott verläßt es trotzdem nicht und wird es nicht
verlassen, solange es brav bleibt. Nicht wahr, Margziam?»
Margziam stimmt zu und spricht
mit den Kindern, die sich um ihn geschart haben. Sie sind jünger als er, doch
einige von ihnen sind ein gutes Stück größer als er. Er sagt: «Wahrlich, Gott
verläßt niemanden. Ich kann es bestätigen. Für mich hat der Großvater gebetet
und sicher auch die Mutter und der Vater im anderen Leben, und Gott hat diese
Gebete erhört, denn er ist sehr gut und erhört die Gebete der Gerechten immer,
ob sie nun tot oder lebendig sind. Für euch haben ganz bestimmt eure
Verstorbenen und diese liebe Großmutter gebetet. Habt ihr sie lieb?»
«Ja, ja...» Das Gezwitscher der
verwaisten Brut erhebt sich begeistert.
Jesus schweigt, um sich das
Gespräch seines kleinen Jüngers mit den Waisenkindern anzuhören.
«Das ist recht. Man sagt, man
darf die Alten nicht zum Weinen bringen.
350
Man darf niemanden zum Weinen
bringen, denn wer einem anderen Schmerz bereitet, beleidigt Gott. Die Alten
erst! Der Meister behandelt alle gut, aber die Alten liebt er wie die Kinder,
denn Kinder sind unschuldig, und die Alten leiden. Sie haben schon viel
geweint! Man muß sie doppelt, dreifach, zehnfach lieben, für alle jene, die
sie nicht mehr lieben. Jesus sagt immer: Wer die Alten nicht ehrt, ist doppelt
böse, so wie einer, der ein Kind mißhandelt, denn Kinder und Greise können
sich nicht wehren. Ihr müßt daher gut sein zu der alten Mutter.»
«Ich helfe ihr manchmal nicht
...» sagt eines der größeren Kinder.
«Warum? Du ißt doch auch das
Brot, das sie dir mit ihrer Mühe bereitet. Spürst du nicht den Geschmack der
Tränen, wenn du sie betrübst? Du, Frau (die "Frau" ist höchstens zehn Jahre
alt und ein zartes, bleiches Geschöpf), hilfst du ihr?»
Die Brüderchen sagen alle
zusammen: «Oh, Rachel ist gut! Sie bleibt lange wach, um das bisschen Wolle
und den Flachs zu spinnen, den wir haben, und sie hat Fieber bekommen vom
Arbeiten auf dem Feld. Sie hatte es für den Samen vorbereitet, als der Vater
im Sterben lag.»
«Gott wird es dir vergelten»,
sagt Margziam ernst.
«Er hat mich schon belohnt, indem
er die Großmutter von ihrer Pein befreit hat.»
Jesus mischt sich ein: «Verlangst
du sonst nichts?»
«Nein, Herr!»
«Aber bist du denn geheilt?»
«Nein, Herr, aber das macht
nichts. Jetzt ist der Großmutter geholfen, auch wenn ich sterbe. Vorher hätte
es mir leid getan, denn ich konnte ihr helfen.»
«Aber der Tod ist schlimm,
Mädchen ...»
«Gott wird mir auch im Tod
helfen, so wie er mir im Leben geholfen hat, und ich werde zu meiner Mutter
gehen... Oh, weine nicht, Großmutter! Ich habe auch dich sehr gern. Ich werde
es nicht mehr sagen, wenn du deshalb weinen mußt. Im Gegenteil, wenn du
willst, werde ich den Herrn bitten, mich zu heilen... Weine nicht, mein
Mütterchen», und das Kind umarmt die trostlose alte Frau.
«Mach sie gesund, Herr! Du hast
meinen Großvater meinetwegen glücklich gemacht. Mach jetzt auch diese alte
Frau glücklich!»
«Die Gnaden werden durch Opfer
erworben. Welches Opfer wirst du bringen, um sie zu erlangen?» fragt Jesus
ernst.
Margziam denkt nach... Er sucht
nach etwas, auf das er nur schwer verzichten kann... Dann lächelt er: «Ich
esse keinen Honig mehr, einen ganzen Mond lang.»
«Das ist wenig! Der Mond des
Kislew ist schon weit fortgeschritten...»
«Ich sage Mond und meine damit
die vier Phasen. Bedenke... daß in diesen Tagen das Lichterfest ist und daß es
viele Honigküchlein geben wird ...»
351
«Das stimmt! Also, dann wird
Rachel durch dein Verdienst gesund werden. Nun wollen wir gehen. Gott
befohlen, Johanna! Bevor ich abreise, werde ich noch einmal vorbeischauen.
Gott befohlen, Rachel, und du, Tobiolus, sei immer brav! Gott befohlen, ihr
Kinder. Mein Segen bleibe über euch und mein Friede in euch!»
Sie gehen hinaus, begleitet von
den Segenswünschen der alten Frau und der Kinder.
Margziam, im Bewußtsein «Apostel
und Opfer» zu sein, fängt an zu springen und hüpft wie ein Böcklein voraus.
Simon beobachtet ihn lächelnd:
«Seine erste Predigt und sein erstes Opfer. Er verspricht gut zu werden,
meinst du nicht, Meister?»
«Ja. Aber er hat schon mehrere
Male gepredigt. Auch dem Judas des Simon...»
«... zu dem der Herr anscheinend
durch Kinder spricht... Vielleicht, um Racheakte von seiner Seite zu
verhindern...»
«Racheakte, nein... Ich glaube
nicht, daß er dazu fähig wäre, aber lebhafte Reaktionen, das schon. Wer Tadel
verdient, liebt die Wahrheit nicht... und doch muß sie gesagt werden...» Jesus
seufzt.
Simon beobachtet ihn und fragt:
«Meister, sage mir die Wahrheit. Du hast ihn fortgeschickt und hast den
Entschluß gefasst, alle zum Lichterfest nach Hause zu schicken, um zu
verhindern, daß Judas sich in diesem Augenblick in Galiläa aufhält. Ich will
nicht wissen, wozu es gut ist, daß der Mann aus Kerioth nicht unter uns ist.
Es genügt mir zu wissen, ob ich recht habe. Wir denken alle dasselbe, weißt
du? Selbst Thomas hat mir gesagt: "Ich gehe ohne Widerspruch, denn ich
verstehe, daß ein ernsthafter Grund dafür vorliegt." Er hat hinzugefügt: "Der
Meister handelt recht. Zuviele Nahum, Sadok, Jochanan und Eleazar sind mit
Judas befreundet..." Thomas ist nicht dumm! ... Er ist auch nicht schlecht,
obschon er sehr menschlich ist. Seine Zuneigung zu dir ist ganz aufrichtig.»
«Ich weiß es. Es stimmt, was ihr
gedacht habt, und bald werdet ihr den Grund erfahren...»
«Wir werden dich nicht danach
fragen.»
«Aber ich werde euch um Hilfe
bitten und es euch sagen müssen.»
Margziam kommt eilends zurück:
«Meister, dort, wo der Feldweg in die Straße einmündet, ist dein Vetter Simon.
Er ist ganz in Schweiß gebadet als ob er sehr schnell gelaufen wäre. Er hat
mich gefragt: "Wo ist Jesus?" Ich habe ihm geantwortet: "Dort kommt er hinter
mir mit Simon dem Zeloten." Er hat zu mir gesagt: "Wird er hier vorbeikommen?"
"Gewiß" habe ich erwidert. "Hier muß man vorbei, um nach Hause zurückzukehren;
es sei denn, man macht es wie die Vöglein, die aus allen Richtungen zum Nest
zurückfliegen können. Brauchst du ihn?" habe ich ihn auch gefragt. Dein Bruder
ist unschlüssig geblieben, und doch braucht er dich, ich bin sicher.»
352
«Meister, er hat schon seine Frau
gesehen... Wir wollen es so machen. Ich und Margziam lassen dich allein. Wir
werden hinten herum nach Nazareth gehen. Wir haben ja keine Eile,
heimzukommen... und du gehst auf dem geraden Weg.»
«Ja! Danke, Simon! Lebt wohl, ihr
beiden!»
Sie trennen sich, und Jesus geht
mit rascheren Schritten auf die Hauptstraße zu. Da ist auch schon Simon, der
keuchend an einem Baumstamm lehnt und sich den Schweiß trocknet. Als er Jesus
sieht, hebt er die Arme in die Höhe... läßt sie wieder sinken und neigt
betrübt den Kopf.
Jesus erreicht ihn, legt ihm die
Hand auf die Schulter und fragt: «Was willst du von mir, Simon? Willst du mich
glücklich machen mit einem Wort der Liebe, das ich schon seit vielen Tagen
erwarte?»
Simon senkt den Kopf noch tiefer
und schweigt...
«So rede doch! Bin ich vielleicht
ein Fremder für dich? Nein, denn du bist immer noch mein guter Bruder Simon
und ich dein kleiner Jesus, den du mit Mühe, aber mit viel Liebe auf den Armen
trugst, als wir nach Nazareth zurückkehrten.»
Der Mann bedeckt sein Gesicht mit
den Händen, sinkt auf die Knie und jammert: «Oh, mein Jesus! Ich bin der
Schuldige, aber ich bin genug gestraft worden...»
«Auf, erhebe dich! Wir sind
Verwandte. Auf! Was willst du von mir?»
«Mein Kind! Es...» Das Weinen
erstickt seine Stimme.
«Dein Kind? Nun?»
«Es liegt im Sterben, und mit ihm
stirbt auch die Liebe Salomes... und mir bleiben nur zwei Vorwürfe: das Kind
und die Frau verloren zu haben. Heute nacht habe ich schon gedacht, es sei
gestorben, und sie schien mir wie eine Hyäne. Sie schrie mir ins Gesicht:
"Mörder deines Kindes!" Ich habe gebetet, daß es nicht wahr sein möge, und mir
selbst geschworen, zu dir zu gehen, wenn sich das Kind erholen würde; ich
wollte kommen, auch auf die Gefahr hin, weggejagt zu werden, was ich ja
verdient hätte, um dich wissen zu lassen, daß du allein mein Unglück
verhindern kannst. Beim Morgengrauen hatte sich das Kind ein wenig erholt...
Ich bin aus meinem Haus geflohen und zu deinem gelaufen, um die Stadt herum,
um keinen Hindernissen zu begegnen... Ich habe angeklopft. Maria hat mir
verwundert geöffnet. Sie hätte mich schlecht behandeln können, aber sie hat
nur gesagt: "Was hast du, armer Simon?" und hat mich gestreichelt, als wäre
ich noch ein Kind... Das hat mich zu Tränen gerührt, und Hochmut und
Unsicherheit waren entschwunden. Es ist nicht möglich, daß das, was Judas,
dein Apostel, nicht mein Bruder, gesagt hat, der Wahrheit entspricht. Das habe
ich Maria nicht erzählt, sondern ich sage es mir und schlage mir von jenem
Augenblick an an die Brust und sage mir selbst alle Schimpfworte. Zu ihr habe
ich gesagt: "Ist Jesus da? Es ist wegen Alphäus. Er stirbt..." Maria hat mir
gesagt: "Lauf schnell. Er ist mit dem
353
Kind und einem Apostel in
Richtung Kana gegangen. Du wirst ihn auf der Straße nach Kana finden. Aber
beeile dich. Er ist beim Morgengrauen fortgegangen und wird auf dem Rückweg
sein. Ich will beten, daß du ihn antriffst." Kein einziges Wort des Tadels für
mich, den ich so sehr verdiene!»
«Auch ich tadle dich nicht,
sondern ich öffne dir die Arme, um... !»
«Ach! Um mir zu sagen, daß
Alphäus gestorben ist... !»
«Nein, um dir zu sagen, daß ich
dich liebe.»
«Dann komm also! Schnell!
Schnell... !»
«Nein, das ist nicht nötig.»
«Du kommst nicht? Ach, du kannst
nicht verzeihen? Oder ist Alphäus schon tot? Aber auch wenn er es wäre, Jesus,
Jesus, Jesus! Du, der du die Toten erweckst, gib mir mein Kind wieder! Oh,
guter Jesus! ... Oh, heiliger Jesus! ... Oh, Jesus, den ich verlassen habe!
... Oh, Jesus, Jesus, Jesus...» Das Weinen des Mannes erfüllt den einsamen
Weg, der, erneut auf den Knien, krampfhaft das Gewand Jesu festhält und ihm
die Füße küßt, gequält von seinem Schmerz, von der Reue und der väterlichen
Liebe...
«Bist du nicht zu Hause gewesen,
bevor du hierher gekommen bist?»
«Nein. Ich bin wie ein
Irrsinniger hierher gerannt... Warum? Gibt es ein neues Leid? Ist Salome schon
weggelaufen? Ist sie wahnsinnig geworden? Sie schien es schon heute nacht zu
sein...»
«Salome hat mit mir gesprochen.
Sie hat geweint, sie hat geglaubt. Geh nach Hause, Simon. Dein Sohn ist
geheilt!»
«Du! ... Du! ... Du hast es getan
für mich, der ich dich beleidigt habe, weil ich jener Schlange geglaubt habe?
Oh, Herr! Ich bin es nicht wert! Verzeih! Verzeih! Verzeih! Sag mir, was ich
tun soll, um alles wieder gutzumachen, um dir zu sagen, daß ich dich liebe, um
dich davon zu überzeugen, daß ich gelitten habe, als ich den Widerspenstigen
spielte, um dir zu sagen, daß ich, seit du hier bist, auch schon bevor Alphäus
so krank geworden ist, mich danach gesehnt hatte, mit dir zu sprechen! ...
Aber... Aber...»
«Laß es gut sein. Nun ist alles
vorbei. Ich denke nicht mehr daran. Tue du ebenso, und vergiß auch die Worte
des Judas von Kerioth. Er ist ein junger Bursche. Von dir will ich nur eines:
daß du weder jetzt noch in Zukunft jene Worte meinen Jüngern, meinen Aposteln
und besonders meiner Mutter gegenüber wiederholst! Nur das! Jetzt geh nach
Hause, Simon. Geh! Der Friede sei mit dir... Zögere nicht, an der Freude
teilzunehmen, die dein Haus erfüllt. Geh!» Er küßt ihn und schiebt ihn sanft
in Richtung Nazareth.
«Kommst du nicht mit mir?»
«Ich erwarte dich in meinem Haus
mit Salome und Alphäus. Gehe nun und vergiß nicht, daß es um deiner Frau
willen geschehen ist, die verstanden hat, nur an die Wahrheit zu glauben.
Ihretwegen...»
354
«Willst du damit sagen, daß für
mich...'»
«Nein. Ich will damit sagen, daß
ich die Reue in dir erkannt habe, und die Reue ist in dir wach geworden durch
den Schrei ihrer Anklage gegen dich... Wahrlich, Gott ruft durch den Mund der
Guten, mahnt und gibt guten Rat! ... Ich habe den demütigen und starken
Glauben Salomes gesehen. Geh, sage ich dir! Zögere nicht länger, ihr "Danke"
zu sagen.»
Er muß ihn fast energisch
wegstoßen, um ihn zum Fortgehen zu bewegen. Als Simon endlich geht, segnet er
ihn... dann neigt er sein Haupt in stillem Selbstgespräch, und leise rinnen
Tränen über sein bleiches Antlitz... Ein einziges Wort verrät den Inhalt
seiner Gedanken: «Judas... !»
Er geht auf demselben Weg, den
der Zelote eingeschlagen hat, um die Stadt herum auf sein Haus zu.
355. SIMON PETRUS IN NAZARETH;
DER GROSSMUT MARGZIAMS
Es ist schon Vormittag, als
Petrus allein und unerwartet im Haus von Nazareth ankommt. Er ist wie ein
Gepäckträger mit Körben und Säcken beladen, jedoch so glücklich, daß er weder
Last noch Mühe spürt.
Maria, die ihm öffnet, widmet er
ein seliges Lächeln und einen freudigen, ehrfürchtigen Gruß und fragt: «Wo
sind der Meister und Margziam?»
«Sie sind auf der Böschung
oberhalb der Grotte, aber in Richtung des Hauses des Alphäus. Ich glaube, daß
Margziam Oliven pflückt und Jesus seine Betrachtung hält. Ich werde sie
rufen.»
«Das besorge ich.»
«Entledige dich wenigstens all
dieser Lasten.»
«Nein, nein! Es sind
Überraschungen für das Kind. Ich freue mich schon darauf, seine großen Augen
und sein neugieriges Wühlen zu sehen... Seine kleinen Freuden, mein armes
Kind.»
Er geht in den Garten unterhalb
der Böschung, verbirgt sich vollständig im Innern der Grotte und ruft mit
verstellter Stimme: «Der Friede sei mit dir, Meister», und dann mit
natürlicher Stimme: «Margziam... !»
Das Stimmchen Margziams, das die
Stille mit seinen Ausrufen erfüllte, verstummt... Eine Pause, dann fragt
Margziam mit seiner fast mädchenhaften Stimme: «Meister, war das nicht mein
Vater, der gerufen hat?»
Vielleicht war Jesus so in seine
Gedanken vertieft, daß er nichts gehört hat, und er gibt es auch ganz einfach
zu.
Petrus ruft wiederum: «Margziam!»
und lacht in seiner frohen Art.
«Oh! Er ist es wirklich! Vater!
Mein Vater! Wo bist du?»
Er beugt sich vor, um in den
Garten zu schauen. Aber er sieht nichts...
355
Auch Jesus kommt näher und blickt
umher... Er sieht Maria, die lächelnd an der Türe steht, und Johannes und
Syntyche, die das gleiche tun, beim Zimmer im Hintergrund des Gartens, wo der
Backofen steht.
Doch Margziam zögert nicht länger
und springt die Böschung bei der Grotte hinunter. Petrus ist schon bereit, ihn
aufzufangen, noch bevor er den Boden berührt.
Die Begrüßung der beiden ist
rührend. Jesus, Maria und die beiden im Hintergrund des Gartens beobachten sie
lächelnd, und alle nähern sich den beiden, die sich so lieben. Petrus befreit
sich, so gut er kann, aus der Umarmung des Knaben, um sich vor Jesus zu
verneigen und ihn aufs neue zu begrüßen. Jesus umarmt ihn zugleich mit dem
Kind, das sich nicht vom Apostel loslösen will und fragt: «Und die Mutter?»
Aber Petrus antwortet Jesus auf
seine Frage: «Warum bist du so früh gekommen?»
«Glaubst du, ich hätte es länger
aushalten können, fern von dir zu sein? Und dann... und dann... Es ist auch
wegen Porphyria, die mir keine Ruhe ließ: "Geh zu Margziam. Bring ihm dies,
bring ihm das." Es schien, als stelle sie sich vor, Margziam sei Räubern in
die Hände gefallen oder lebe in einer Wüste. Gestern nacht ist sie eigens
aufgestanden, um Brötchen zu backen, und sobald sie fertig waren, mußte ich
abreisen...»
«Ach, die Honigbrötchen... !»
ruft Margziam. Aber dann verstummt er.
«Ja. Sie sind hier drinnen mit
den im Ofen getrockneten Feigen, den Oliven und den roten Äpfeln. Sie hat dir
ein Ölbrot gemacht, und sie schickt dir die kleinen Käse von deinen Schafen.
Hier ist auch ein wasserdichtes Gewand, und dann... Ich weiß nicht mehr. Wie?
Du hast keine Eile mehr? Du weinst beinahe? Oh! Warum denn?»
«Weil es mir lieber wäre, wenn du
sie anstelle all dieser Dinge mitgebracht hättest... Ich liebe sie, weißt du?»
«Oh, mein Gott! Aber wer hätte
das gedacht?! Wenn sie das gehört hätte, wäre sie wie Butter geschmolzen...»
«Margziam hat recht. Du hättest
sie mitbringen können. Sicher sehnt sie sich danach, ihn nach so langer Zeit
wiederzusehen. Wir Frauen sind so mit unseren Kindern...» sagt Maria.
«Gut! ... Aber bald wirst du sie
sehen. Nicht wahr, Meister?»
«Ja. Nach dem Lichterfest, wenn
wir fortgehen... Aber... Ja, wenn du nach dem Lichterfest wiederkommst, wirst
du mit ihr kommen. Sie wird einige Tage hier bleiben, und dann werden wir alle
zusammen nach Bethsaida zurückkehren.»
«Oh, wie schön! Hier zu sein mit
zwei Müttern!» Das Kind ist getröstet und glücklich.
Sie gehen alle ins Haus, und
Petrus entledigt sich seiner Bündel.
«Schau: in Salz getrockneter und
frischer Fisch. Das wird gut für deine
356
Mutter sein. Hier der Weichkäse,
der dir so gut schmeckt, Meister. Hier Eier für Johannes; hoffen wir, daß sie
nicht zerbrochen sind ... Nein, um so besser. Dann die Weintrauben, die
Susanna mir in Kana gegeben hat, wo ich übernachten mußte. Ach! Dies erst!
Schau, Margziam, wie gelb er ist, die gleiche Farbe wie Marias Haar»... und er
öffnet ein Töpfchen, das mit flüssigem Honig gefüllt ist.
«Aber wozu denn so viele Sachen?
Du hast dich abgemüht, Simon», sagt Maria, die vor den Bündeln und Bündelchen,
Töpfen und Krüglein steht, die den Tisch bedecken.
«Nein. Ich habe viele Fische
gefangen und einen guten Erlös erzielt. Dies hier ist vom Fischen. Das übrige
ist hausgemacht, kostet nichts und macht viel Freude, es bringen zu können.
Bald kommt ja das Lichterfest... Es ist so Brauch, nicht wahr? Kostest du
nicht den Honig?»
«Ich kann nicht», sagt Margziam
ernst.
«Warum denn nicht? Geht es dir
nicht gut?»
«Nein. Aber ich darf ihn nicht
essen.»
«Aber warum denn?»
Das Kind wird rot, aber es
antwortet nicht. Es schaut Jesus an und schweigt. Jesus lächelt und erklärt:
«Margziam hat ein Gelübde abgelegt, um eine Gnade zu erlangen. Er darf vier
Wochen lang keinen Honig essen.»
«Ach so! Dann wird er ihn später
essen... Das Töpfchen kannst du trotzdem an dich nehmen... Aber schau! Ich
hielt dich nicht für so, so...»
«So edelmütig, Simon! Wer sich
schon als Kind an Buße gewöhnt, wird den Weg der Tugend sein ganzes Leben lang
leichter gehen können», sagt Jesus, während das Kind mit seinem Gefäßchen in
den Händen weggeht.
Petrus blickt ihm bewundernd
nach. Dann fragt er: «Ist der Zelote nicht hier?»
«Er ist bei Maria des Alphäus.
Doch er wird bald kommen. Heute abend werdet ihr beieinanderschlafen. Komm,
Simon Petrus!»
Sie gehen miteinander hinaus,
während Maria und Syntyche den mit Bündeln überfüllten Raum in Ordnung
bringen.
«Meister... ich bin gekommen, um
dich und das Kind zu sehen. Das ist wahr. Aber auch, weil ich in diesen Tagen
viel nachgedacht habe, besonders nach der Ankunft der drei giftigen Schlangen,
denen ich mehr Lügen erzählt habe, als Fische im Meer sind. Nun sind sie auf
dem Weg nach Gethsemane, weil sie glauben, dort Johannes von Endor zu finden;
dann werden sie zu Lazarus gehen, weil sie hoffen, Syntyche und dich bei ihm
anzutreffen. Sie sollen nur laufen... doch dann werden sie zurückkommen und
dich, Meister, wegen der beiden Unglücklichen belästigen.»
«Ich habe schon seit Monaten für
alles vorgesorgt. Wenn sie auf der Suche nach den beiden Verfolgten hierher
kommen, werden sie sie nicht mehr vorfinden, und nirgends in Palästina. Siehst
du diese Kisten? Sie
357
sind für sie bestimmt. Hast du
alle die gefalteten Kleider beim Webstuhl gesehen? Sie gehören ihnen. Bist du
überrascht?»
«Ja, Meister. Aber wohin schickst
du sie?»
«Nach Antiochia.»
Petrus stößt einen
bedeutungsvollen Pfiff aus und fragt dann: «Zu wem, und wie kommen sie
dorthin?»
«In ein Haus des Lazarus. Das
letzte, das Lazarus dort besitzt, wo sein Vater für Rom Verwalter war. Sie
werden auf dem Meer hinreisen...»
«Ach schau! Wenn Johannes zu Fuß
dorthin hätte gehen müssen...»
«Per Schiff. Aber ich bin froh,
mit dir reden zu können. Ich hätte Simon gesandt, um dir sagen zu lassen:
"Komm, damit du alles vorbereiten kannst." Höre! Zwei oder drei Tage nach dem
Lichterfest werden wir einer nach dem anderen von hier abreisen, damit es
nicht auffällt. Die Gruppe besteht aus mir, dir, deinem Bruder, Jakobus und
Johannes, meinen beiden Brüdern und Johannes und Syntyche. Wir werden nach
Ptolemais gehen! Von dort aus wirst du sie mit einem Boot nach Tyrus bringen,
wo ihr ein Schiff besteigt, das nach Antiochia fährt, so als ob ihr Proselyten
wäret, die nach Hause zurückkehren. Dann kommt ihr zurück, und wir werden uns
in Achsib treffen. Ich werde täglich auf den Gipfel des Berges gehen, und im
übrigen wird euch der Geist führen...»
«Wie? Du kommst nicht mit uns?»
«Das würde zu sehr auffallen. Ich
will dem Geist des Johannes Frieden verschaffen.»
«Wie soll ich das machen, ich,
der ich diesen Ort noch nie verlassen habe?»
«Du bist kein Kind mehr... Bald
wirst du noch viel weiter gehen müssen als nur bis nach Antiochia. Ich
verlasse mich auf dich! Siehst du, wie ich dich schätze...»
«Und Philippus und Bartholomäus?»
«Sie werden uns bis Jotapata
entgegenkommen und inzwischen die Frohe Botschaft verkünden. Ich werde ihnen
schreiben, und du wirst ihnen den Brief überbringen!»
«Kennen die beiden schon ihr
Schicksal?»
«Nein! Ich lasse sie das Fest in
Frieden feiern.»
«Mhm! Die Armen! Schau, wenn hier
einer verfolgt werden muß von verbrecherischen Seelen, dann...»
«Beschmutze deinen Mund nicht,
Simon!»
«Ja, Meister... Höre... Aber wie
werden wir diese Koffer hinbringen? Und Johannes? Er scheint sehr krank zu
sein.»
«Wir werden einen Esel mieten.»
«Nein, ein Wägelchen.»
«Wer wird es lenken?»
«Nun, wenn Judas des Simon rudern
gelernt hat, dann wird Simon des
358
Jonas auch kutschieren lernen
können. Es kann doch nicht so schwer sein, einen Esel am Zügel zu führen! Auf
dem Wagen bringen wir die Kisten und die beiden unter, wir gehen zu Fuß
nebenher. Ja, ja. So ist es recht, glaube mir!»
«Wer wird uns das Wägelchen
leihen? Denk daran, daß niemand von der Abreise erfahren darf.»
Petrus denkt nach... Dann
beschließt er: «Hast du Geld?»
«Ja. Ich habe noch viel von den
Edelsteinen Misazes.»
«Dann ist alles einfach. Gib mir
einen Betrag. Ich werde bei irgend jemandem Wagen und Esel kaufen... und...
ja, ja... und nachher werden wir Wagen und Esel irgend einem Unglücklichen
schenken... Wir werden sehen... Es ist gut, daß ich gekommen bin. Muß ich
wirklich mit der Frau zurückkommen?»
«Ja, tue das!»
«In Ordnung. Aber diese beiden
Armen! Es tut mir wirklich leid, daß Johannes nicht mehr bei uns sein wird.
Wir hätten ihn sowieso nur noch kurze Zeit bei uns gehabt... Aber der Arme
hätte wenigstens hier sterben können wie Jonas...»
«Sie hätten es nicht zugelassen,
denn die Welt haßt jene, die sich bekehren und Buße tun.»
«Er wird sich gedemütigt fühlen
...»
«Ich werde einen Grund finden,
der ihm die Abreise erleichtert.»
«Welchen?»
«Den gleichen, der dazu gedient
hat, Judas des Simon fortzuschicken: er soll für mich arbeiten.»
«Ach so! ... Aber Johannes ist
heilig, Judas jedoch nur hochmütig.»
«Simon, du sollst nicht murren!»
«Das ist schwerer als einen Fisch
zum Singen zu bringen! Es ist die Wahrheit, Meister, kein Murren... Aber mir
scheint, daß Simon mit deinen Brüdern gekommen ist. Gehen wir zu ihnen.»
«Gehen wir, und schweig allen
gegenüber.»
«Das sagst du mir? Ich kann die
Wahrheit nicht verschweigen, wenn ich rede, aber ich kann gänzlich schweigen,
wenn ich will, und ich will, ich habe es mir geschworen. Ich soll bis nach
Antiochia gehen, bis ans Ende der Welt! Oh, ich kann es kaum erwarten, wieder
zurückzusein! Ich werde nicht mehr schlafen, bis alles erledigt ist...»
Sie gehen hinaus, und ich sehe
nichts mehr.
359
356. «NICHTS GEHT VERLOREN IN DER
HEILIGEN HARMONIE DER UNIVERSALEN LIEBE»
Ich weiß nicht, ob es noch am
selben Tag ist, aber ich nehme es an, da Petrus am Familientisch von Nazareth
sitzt. Das Mahl ist fast beendet, und Syntyche steht auf und stellt zum
Abschluß der Abendmahlzeit Äpfel, Nüsse, Weintrauben und Mandeln auf den
Tisch. Es ist Abend geworden, und die Lampen brennen schon.
Die Unterhaltung dreht sich um
die Lampen, während Syntyche die Früchte bringt. Petrus sagt: «Dieses Jahr
werden wir eine mehr anzünden und in den kommenden Jahren immer wieder eine
mehr, für dich, mein Sohn! Denn wir wollen sie anzünden, auch wenn du nicht
hier bist. Es ist das erste Mal, daß wir sie für ein Kind anzünden...» Simon
ist etwas gerührt, als er sagt: «Gewiß... wenn auch du dabei wärest, wäre es
noch schöner ...»
«Im vergangenen Jahr war ich es,
Simon, die nach dem Sohn in der Ferne seufzte, und mit mir Maria des Alphäus
und Salome, und auch Maria des Simon in ihrem Haus von Kerioth, und die Mutter
von Thomas...»
«Oh, die Mutter des Judas! Dieses
Jahr wird sie ihren Sohn bei sich haben... doch ich glaube nicht, daß sie
glücklicher sein wird... Lassen wir das... Wir waren bei Lazarus. Wie viele
Lichter! ... Es schien ein Himmel aus Gold und Feuer zu sein. Dieses Jahr hat
Lazarus seine Schwester... Aber ich bin sicher, es wird ihnen leid tun, daß du
nicht dort bist. Wo werden wir im nächsten Jahr sein?»
«Ich werde sehr weit fort
sein...» flüstert Johannes von Endor.
Petrus wendet sich um und sieht
ihn an, denn er sitzt an seiner Seite. Er will... gerade etwas fragen,
beherrscht sich aber glücklicherweise, da ihm Jesus mit den Augen einen Wink
gibt.
Margziam fragt: «Wo wirst du
sein?»
«Durch die Barmherzigkeit Gottes
hoffe ich im Schoß Abrahams zu sein ...»
«Oh! Willst du sterben? Willst du
nicht die Frohe Botschaft verkünden? Würde es dir nicht leid tun zu sterben,
ohne es getan zu haben?»
«Das Wort des Herrn muß von
heiligen Lippen kommen. Es ist schon viel, daß er mir erlaubt hat, es hören zu
dürfen, um dadurch erlöst zu werden. Ich hätte es gerne getan, aber nun ist es
zu spät ...»
«Du wirst es trotzdem verkünden,
du hast es ja schon getan, und zwar so sehr, daß du die Aufmerksamkeit auf
dich gelenkt hast. Deshalb wirst du ebenfalls Verkündiger des Evangeliums
genannt werden, auch wenn du nicht herumwanderst, um die Frohe Botschaft zu
verbreiten; und im anderen Leben wirst du den Lohn empfangen, der den
Verkündigern meines Evangeliums vorbehalten ist.»
«Dein Versprechen läßt mich den
Tod ersehnen... Jeder Augenblick des
360
Lebens kann eine Gefahr in sich
bergen, und ich, schwach wie ich bin, könnte sie vielleicht nicht überstehen.
Wenn Gott mich aufnimmt, zufrieden mit dem, was ich vollbracht habe, dann ist
das ganz große Güte und muß gepriesen werden.»
«Wahrlich, ich sage dir, der Tod
wird für viele die höchste Güte sein; denn sie werden erkennen, bis zu welchem
Punkt der Mensch vom Teufel besessen ist, und zwar aus einer Sicht, die ihnen
Frieden schenkt und sie über diese Erkenntnis frohlocken läßt, da sie mit der
unaussprechlichen Freude der Befreiung aus der Vorhölle verbunden sein wird.»
«Wo werden wir in den nächsten
Jahren sein, Herr?» fragt Simon der Zelote aufmerksam.
«Wo es dem Ewigen gefallen wird.
Willst du schon die fernen Zeiten im voraus kennen, wenn wir des Augenblickes,
den wir durchleben, nicht sicher sind und nicht wissen, ob es uns erlaubt sein
wird, ihn zu Ende zu leben? Übrigens, welches auch immer der Ort sein mag, an
dem wir die kommenden Lichterfeste feiern, sie werden immer heilig sein, wenn
ihr daran teilnehmt, um den Willen Gottes zu erfüllen.»
«Wenn ihr daran teilnehmt, und
du?» fragt Petrus.
«Ich werde immer dort sein, wo
meine Auserwählten sind.»
Maria hat kein Wort gesagt, doch
ihre Augen haben sich nicht einen Augenblick vom Antlitz ihres Sohnes
abgewandt... Sie kommt wieder zu sich, als Margziam sagt: «Mutter, warum hast
du die Honigküchlein nicht auf den Tisch gestellt? Jesus schmecken sie, und
Johannes würden sie für seine Kehle guttun. Auch mein Vater ißt sie gerne...»
«Auch du», schließt Petrus.
«Für mich... ist es, als ob sie
nicht da wären. Ich habe versprochen...»
«Gerade deswegen, mein Lieber,
habe ich sie nicht aufgestellt...» sagt Maria und streichelt ihn, denn
Margziam sitzt zwischen ihr und Syntyche auf der einen Seite des Tisches,
während sich die vier Männer auf der anderen befinden.
«Nein, nein, du kannst sie
bringen, ja, du sollst sie bringen, und ich werde sie an alle verteilen.»
Syntyche nimmt eine Lampe, geht
hinaus und kehrt mit den Honigküchlein zurück. Margziam nimmt den Teller und
beginnt mit dem Austeilen. Das schönste, goldene und meisterhaft gebackene
Küchlein gibt er Jesus, das zweitschönste Maria, dann kommen Petrus, Simon und
Syntyche an die Reihe.
Doch um Johannes zu bedienen,
steht der Knabe auf, geht zu seinem alten und kranken Erzieher und sagt: «Für
dich, das deine und das meine, und dazu noch einen Kuß für alles, was du mich
lehrst.» Dann kehrt er an seinen Platz zurück, stellt den Teller entschlossen
auf den Tisch und verschränkt seine Arme.
«Diese Köstlichkeit bleibt mir im
Halse stecken, wenn ich dich so sehe»,
361
sagt Petrus, als er merkt, daß
Margziam es mit seinem Entschluß ernst meint, und er fügt an: «Nimm wenigstens
ein Stückchen von meinem, damit du nicht stirbst vor Verlangen. Du leidest zu
sehr... Jesus erlaubt es dir schon.»
«Aber wenn ich nicht leiden
würde, hätte ich auch kein Verdienst, mein Vater. Gerade, weil ich wußte, daß
es mich etwas kosten würde, habe ich dieses Opfer gewählt... Übrigens... Ich
bin so zufrieden, seit ich es gebracht habe, daß ich das Gefühl habe, voller
Honig zu sein. Ich spüre den Geschmack überall, und glaube ihn sogar mit der
Luft einzuatmen...»
«Weil du vor Verlangen fast
stirbst...»
«Nein, weil ich weiß, daß Gott zu
mir sagt: "Du machst es gut, mein Sohn!"»
«Der Meister hätte dich auch ohne
dieses Opfer zufriedengestellt, denn er liebt dich sehr!»
«Ja. Aber es ist nicht recht,
diese Liebe auszunützen.
Er selbst sagt, daß auch ein
Becher Wasser, der in seinem Namen gereicht wurde, im Himmel reichlich belohnt
wird. Ich denke, daß deshalb auch ein Stück Honigkuchen, das man sich selbst
versagt aus Liebe zu einem Bruder, belohnt werden wird. Habe ich unrecht,
Meister?»
«Du sprichst weise. Ich hätte dir
tatsächlich auch ohne dein Opfer gewähren können, um was du mich für die
kleine Rachel gebeten hast, denn es war etwas Gutes, das ich tun wollte, und
mein Herz war dazu bereit. Doch mit deiner Hilfe habe ich es mit noch größerer
Freude getan. Die Liebe zu unseren Brüdern beschränkt sich nicht auf
menschliche Mittel und Grenzen, sondern erhebt sich zu weit höheren Ebenen.
Wenn sie vollkommen ist, berührt sie sogar den Thron Gottes und vereinigt sich
mit seiner unendlichen Liebe und Güte. Die Gemeinschaft der Heiligen ist
gerade dieses beständige Wirken, so wie Gott selbst ständig und mit allen
möglichen Mitteln wirkt, um den Brüdern zu helfen, sei es in ihren
materiellen, sei es in ihren geistigen Bedürfnissen, oder in beiden zugleich,
wie im Falle Margziams, der die Heilung der Rachel erlangt, sie von der
Krankheit befreit und gleichzeitig das niedergedrückte Gemüt der alten Johanna
aufmuntert und in den Herzen dieser ganzen Familie ein immer größeres
Vertrauen zum Herrn erweckt.
Auch ein Löffelchen Honig, das
geopfert wird, kann dazu dienen, einem Betrübten wieder Frieden und Hoffnung
zu schenken. Ein Kuchen oder eine andere Speise, die man mit einer liebevollen
Absicht nicht verzehrt, können auf wunderbare Weise für einen fernen
Hungernden, den wir nie kennen werden, zu Brot werden. Ein zorniges Wort,
selbst wenn es gerechtfertigt ist, das man im Opfergeist zurückhält, kann ein
Verbrechen in der Ferne verhindern, so wie der Verzicht auf das Pflücken einer
Frucht, aus Liebe dargebracht, einem Dieb zur Einsicht verhelfen und einen
Raub verhindern kann.
362
Nichts geht verloren in der
heiligen Harmonie der universalen Liebe, weder das heroische Opfer eines
Kindes vor einem Teller mit Honigküchlein, noch das Schlachtopfer eines
Märtyrers. Ich sage euch, dieses Opfer eines Märtyrers hat seinen Ursprung oft
in der heroischen Selbsterziehung, die er sich von frühester Jugend an aus
Liebe zu Gott und dem Nächsten auferlegt hat.»
«Dann ist es also gut für die
Zeit, in der wir einmal verfolgt werden, wenn ich immer Opfer bringe», sagt
Margziam überzeugt.
«Verfolgt?» fragt Petrus.
«Erinnerst du dich nicht, daß er
gesagt hat: "Ihr werdet verfolgt werden um meinetwillen?" Du hast es mir
gesagt, als du das erstemal im Sommer allein nach Bethsaida gekommen bist, um
dort die Frohe Botschaft zu verkünden.»
«Dieses Kind erinnert sich an
alles», bemerkt Petrus bewundernd.
Das Abendessen ist beendet. Jesus
erhebt sich, betet für alle und segnet sie. Während die Frauen das Geschirr
wegräumen, begibt sich Jesus mit den Männern in eine Ecke des Zimmers und
schnitzt an einem Stück Holz, das sich unter den staunenden Augen Margziams in
ein Schäflein verwandelt...
357. «JOHANNES VON ENDOR, DU
WIRST NACH ANTIOCHIA GEHEN»
Es ist ein regnerischer
Wintermorgen. Jesus ist bereits aufgestanden und in seiner Werkstatt mit
kleinen Gegenständen beschäftigt. In einer Ecke steht ein ganz neuer, nicht
sehr großer, doch gut gearbeiteter Webstuhl.
Maria kommt mit einer Tasse
dampfender Milch herein. «Trinke, Jesus! Es ist schon lange her, daß du
aufgestanden bist, und es ist feucht und kalt hier ...»
«Ja, aber ich habe wenigstens
alles fertig bekommen... Diese acht Feiertage haben alle Arbeit lahmgelegt...»
Jesus setzt sich etwas schräg auf die Hobelbank und trinkt seine Milch,
während Maria den Webstuhl betrachtet und mit der Hand leicht darüberfährt.
«Segnest du ihn, Mutter?» fragt
Jesus lächelnd.
«Nein. Ich liebkose ihn, weil du
ihn gemacht hast. Den Segen hast du ihm schon gegeben, während du daran
gearbeitet hast. Es ist gut, daß du ihn angefertigt hast. Er wird Syntyche
dienen, sie ist eine erfahrene Weberin, und er wird ihr helfen, Frauen und
Mädchen zu sich zu holen. Was hast du sonst noch gemacht? Ich sehe feine
Späne, anscheinend aus Olivenholz, dort bei der Hobelbank?»
363
«Ich habe einige nützliche Dinge
für Johannes angefertigt. Siehst du? Einen Behälter für Griffel und eine
kleine Schreibtafel, und diese Lesepulte, in die er seine Bücher einschließen
kann. Ich hätte dies nicht machen können, wenn Simon des Jonas sich nicht um
den Wagen gekümmert hätte. Doch nun können wir auch das aufladen; sie werden
spüren, daß ich sie auch in diesen kleinen Dingen geliebt habe.»
«Es tut dir leid, daß du sie
fortschicken mußt, nicht wahr?»
«Es ist schmerzlich für mich und
für sie. Ich habe bis jetzt gewartet, um es ihnen zu sagen... und es ist gut,
daß Petrus und Porphyria noch nicht angekommen sind... Nun ist es an der Zeit,
daß ich spreche... Ein Schmerz, der mir schon während all dieser Tage das Herz
bedrückte und mich trotz der vielen Lichter traurig stimmte... Ein Schmerz,
den ich nun anderen zufügen muß... Ach Mutter! Ich hätte ihn gerne allein
getragen!»
«Mein guter Sohn!» Maria
streichelt seine Hand, um ihn zu trösten. Es folgt ein Schweigen... Dann
beginnt Jesus wieder zu reden: «Ist Johannes aufgestanden?»
«Ja! Ich habe ihn husten gehört.
Vielleicht ist er in der Küche und trinkt seine Milch. Armer Johannes...» Eine
Träne rinnt über die Wange Marias.
Jesus steht auf. «Ich gehe ...
Ich muß gehen, um es ihm mitzuteilen. Mit Syntyche wird es leichter sein ...
Doch für ihn... Mutter, geh zu Margziam, wecke ihn auf, und betet miteinander,
während ich mit dem Mann rede... Es kommt mir vor, als müßte ich in seinem
Inneren wühlen. Ich könnte ihn in seiner geistigen Lebenskraft töten oder
lähmen... Welch ein Schmerz, o Vater! ... Ich gehe...» und er geht
niedergeschlagen hinaus.
Er legt die wenigen Schritte
zurück, die von der Werkstatt zum Zimmer des Johannes führen, zu demselben
Raum, in dem Jonas gestorben ist, also das Zimmer Josephs. Er begegnet
Syntyche, die mit einem Reisigbündel zurückkehrt, das sie am Ofen geholt hat,
und ihn ahnungslos grüßt. Er antwortet in Gedanken versunken auf den Gruß der
Griechin und bleibt dann stehen, um ein Lilienbeet zu betrachten, das gerade
seine Blätterbüschel zur Schau stellt. Aber es ist nicht gesagt, daß er sie
sieht... Dann entschließt er sich, wendet sich um und klopft an die Türe des
Johannes, der herausschaut und dessen Gesicht sofort aufleuchtet, als er
sieht, daß Jesus zu ihm kommt.
«Kann ich ein wenig zu dir
kommen?» fragt Jesus.
«Oh, Meister! Aber immer! Ich war
gerade am Aufzeichnen, was du gestern abend über die Klugheit und den Gehorsam
gesagt hast. Es ist gut, wenn du es durchsiehst, denn mir scheint, daß ich das
über die Klugheit nicht gut behalten habe.»
Jesus ist in das schon
aufgeräumte Zimmer eingetreten, in das man für den alten Lehrer noch einen
Tisch gestellt hat.
Jesus neigt sich über das
Pergament und liest. «Sehr gut! Du hast es sehr gut wiedergegeben.»
364
«Schau hier. Es schien mir, als
hätte ich mich in diesem Satz schlecht ausgedrückt. Du sagst immer, daß man
nicht besorgt sein soll um das Morgige und um den eigenen Körper. Jetzt sagst
du, daß die Vorsorge bezüglich der Dinge des morgigen Tages eine Tugend ist,
und das schien mir ein Fehler zu sein. Mein Fehler natürlich.»
«Nein! Du hast dich nicht geirrt.
Ich habe es wirklich gesagt. Die übertriebene und furchtsame Vorsorge des
Egoisten unterscheidet sich von der klugen Vorsorge des Gerechten. Sünde ist
es, geizig zu sein im Hinblick auf den nächsten Tag, den wir vielleicht nicht
erleben werden. Aber es ist keine Sünde, sparsam zu sein, um sich in mageren
Zeiten das Brot für sich und seine Angehörigen zu sichern. Sünde ist die
egoistische Besorgnis um den eigenen Leib, wenn man verlangt, daß die ganze
Umgebung sich mit uns beschäftige, und man sich jeglicher Arbeit und jeglichem
Opfer entzieht aus Furcht, das Fleisch könne darunter leiden. Es ist jedoch
keine Sünde, sich vor unnötigen Krankheiten zu schützen, die man sich durch
Unvorsichtigkeit zuzieht und die dann eine Plage für die Familienmitglieder
und ein Verlust an nutzbringender Arbeit für uns sind. Gott hat das Leben
gegeben, es ist sein Geschenk. Wir müssen es daher in heiliger Weise
gebrauchen, ohne Unklugheit und ohne Eigenliebe. Siehst du? Manchmal rät die
Klugheit zu Taten, die dem Törichten Feigheit oder Wankelmut zu sein scheinen,
während sie nichts anderes als heilige Klugheit sind, die auf aufmerksamer
Betrachtung neuer Ereignisse, die eingetreten sind, beruht. Zum Beispiel: wenn
ich dich jetzt ausgerechnet mitten unter Leute schicken würde, die dir schaden
könnten... zu den Verwandten deiner Frau beispielsweise, oder zu den Wächtern
der Bergwerke, in denen du gearbeitet hast, würde ich dann gut oder schlecht
handeln?»
«Ich... ich will nicht urteilen.
Aber ich würde sagen, daß es besser wäre, mich anderswohin zu senden, wo nicht
Gefahr besteht, daß meine geringe Tugend auf eine zu harte Probe gestellt
wird.»
«So ist es. Du würdest mit
Weisheit und Klugheit urteilen. Aus diesem Grund werde ich dich nie nach
Bithynien oder nach Mysien schicken, wo du schon gewesen bist, und auch nicht
nach Citium, obgleich du, in deinem Geist, gerne dorthin gehen würdest. Dein
Geist könnte dort von so vielen menschlichen Härten überwältigt werden und
sich aufgeben. Die Klugheit lehrt daher, dich nicht dorthin zu senden, wo du
unnütz wärest, wenn ich dich anderswohin schicken kann, wo du mir, den Seelen
deiner Nächsten und deiner eigenen Seele nützen könntest. Nicht wahr?»
Johannes, der nichts von seinem
bevorstehenden Schicksal weiß, faßt die Anspielungen Jesu nicht als eine
mögliche Mission außerhalb von Palästina auf. Jesus erforscht sein Antlitz und
sieht, daß es ruhig bleibt. Johannes ist selig, ihm zuhören zu können, und
bereit, zu antworten: «Gewiß, Meister, ich könnte anderswo nützlicher sein.
Nachdem ich vor einigen Tagen gesagt habe: "Ich würde gern zu den Heiden
gehen, um
365
dort ein gutes Beispiel zu geben,
wo ich früher ein schlechtes gegeben habe", habe ich mich selber gescholten
und gesagt: "Zu den Heiden ja, denn ich hege nicht die Vorurteile anderer
Israeliten. Aber nicht nach Citium! Auch nicht in die trostlosen Berge, wo ich
als Sträfling und wie ein Wolf in den Bleigruben oder Marmorbrüchen gelebt
habe. Nicht einmal aus dem Verlangen nach einem absoluten Opfer heraus könnte
ich dorthin gehen. Mein Herz würde zu sehr in Aufruhr geraten über die
grausamen Erinnerungen, und wenn ich erkannt würde und man sich auch nicht auf
mich stürzen würde, so würden sie doch sagen: 'Schweig, du Mörder. Wir können
dich nicht anhören', und deshalb wäre es nutzlos, dorthin zu gehen." Das habe
ich mir gedacht, und es ist eine gute Überlegung.»
«Du siehst also, daß auch du die
heilige Klugheit besitzest. Auch ich besitze sie. Deshalb habe ich dich der
Mühe des Apostolates, wie es die anderen leben, enthoben und dich hierher in
die Ruhe und den Frieden gebracht.»
«O ja! Welch ein Friede! Und wenn
ich noch hundert Jahre hier leben würde, wäre es immer gleich. Es ist ein
übernatürlicher Friede, und wenn ich fortginge, würde ich ihn mitnehmen. Auch
in das andere Leben werde ich ihn mitnehmen... Erinnerungen können mein Herz
immer noch beunruhigen, und Beleidigungen können mich immer noch kränken, denn
ich bin ein Mensch, aber ich werde nie mehr fähig sein zu hassen, denn hier
hat sich der Haß für immer entwurzelt bis zu seinen äußersten Ausläufern. Ich
empfinde nicht einmal mehr Abneigung gegen die Frau, die ich als das unreinste
und verachtenswerteste Wesen der Erde betrachtete. Deine Mutter völlig
ausgenommen! Ich habe sie vom ersten Augenblick an verehrt, denn ich habe
gefühlt, daß sie ganz anders ist als alle anderen Frauen. Sie ist der Duft der
Frau, der Duft der heiligen Frau! Wer liebt den Duft der reinsten Blumen
nicht? Aber auch die anderen Frauen, die guten Jüngerinnen, haben mich mit der
Frau ausgesöhnt. Liebenswürdig, geduldig unter ihren Lasten des Leides wie
Maria des Kleophas und Elisa; großmütig, wie Maria Magdalena, und so
entschlossen im Wandel ihres Lebens; sanft und rein wie Martha und Johanna;
würdevoll, klug, geistreich und ganz Gerechtigkeit wie Syntyche. Syntyche, ich
bekenne es dir, ist die, die ich bevorzuge. Geistesverwandschaft und
Ähnlichkeit des Schicksals machen sie mir teuer. Sie Sklavin, ich
Galeerensträfling. All das erlaubt mir, auf eine so vertrauliche Weise mit ihr
umzugehen, wie ich sie mir bei den anderen nicht erlauben dürfte. Syntyche ist
Ruhe und Frieden für mich. Ich kann es dir nicht genau erklären, was ich in
ihr sehe. Ich bin alt im Vergleich zu ihr. Ich betrachte sie als eine Tochter,
eine kluge, fleißige Tochter, wie ich sie mir gewünscht hätte... Aber ich, ein
kranker Mann, den sie mit so viel Liebe pflegt, ich, ein elender, einsamer
Mann, der immer seiner Mutter nachgeweint hat und dann in allen Frauen eine
366
Mutter gesucht hat, ohne sie zu
finden; schau, ich sehe in ihr die Erfüllung meines Traumes. Ich fühle auf
mein müdes Haupt und meine Seele, die dem Tod entgegengeht, den Tau einer
mütterlichen Liebe herabfallen. Da ich in Syntyche die Seele einer Tochter und
einer Mutter fühle, sehe ich in ihr die Vollkommenheit der Frau, und
ihretwegen verzeihe ich all das Böse, das mir durch die Frau zugefügt wurde.
Wenn, was nicht möglich ist, die Unglückliche, die meine Frau gewesen ist und
die ich getötet habe, auferstehen würde, dann würde ich ihr verzeihen, denn
jetzt habe ich die Frauenseele verstanden, leichtfertig oft im Gefühlsleben,
großzügig in ihrer Hingabe.. sowohl im bösen als auch im guten.»
«Ich freue mich sehr, daß du all
dies in Syntyche gefunden hast. Sie wird dir eine gute Gefährtin für den Rest
deines Lebens sein, und ihr werdet zusammen viel Gutes tun können. Deshalb
möchte ich euch vereinigen...»
Jesus prüft Johannes aufs neue.
Doch kein Zeichen plötzlicher Spannung ist bei dem Jünger zu bemerken, der
immerhin kein oberflächlicher Mensch ist. Welche göttliche Barmherzigkeit
verhüllt ihm wohl seine Bestimmung bis zum entscheidenden Augenblick? Ich weiß
es nicht. Ich weiß nur, daß Johannes lächelnd sagt: «Wir wollen versuchen, dir
mit unserem Besten zu dienen.»
«Ja, und ich bin auch sicher, daß
ihr es tun werdet, ohne langes Hin und Her über Arbeit und Ort, die ich für
euch ausgesucht habe, auch wenn es nicht das sein sollte, was ihr gewünscht
habt...»
Johannes hat eine erste Ahnung
von dem, was ihn erwartet. Er wechselt Gesichtsausdruck und Farbe. Er wird
ernst und bleich, und sein Auge schaut nun aufmerksam und forschend in das
Antlitz Jesu, der fortfährt: «Du erinnerst dich, Johannes, daß ich dir gesagt
habe, um deine Zweifel über die Verzeihung Gottes zu beseitigen: "Um dir die
Barmherzigkeit Gottes verständlich zu machen, werde ich dich für besondere
Werke der Barmherzigkeit einsetzen, und für dich werde ich Gleichnisse der
Barmherzigkeit haben."»
«Ja. Es ist wahr! Du hast mich
überzeugt, und du hast mir erlaubt, Werke der Barmherzigkeit zu vollbringen,
und ich möchte sagen: die heikelsten, wie Almosen geben und die Unterweisung
eines Kindes, eines Philisters und einer Griechin. Das hat mir bewiesen, daß
Gott meine wahre Reue erkannt und anerkannt hat und mir deshalb unschuldige
oder zu bekehrende Seelen anvertraut hat, damit ich sie für ihn heranbilde.»
Jesus umarmt Johannes und zieht
ihn an seine Seite, wie er es gewöhnlich mit dem anderen Johannes tut. Er
erblaßt wegen des Schmerzes, den er ihm zufügen muß, als er sagt: «Auch jetzt
vertraut dir Gott eine heikle und heilige Aufgabe an. Eine Aufgabe, die
Bevorzugung bedeutet. Du allein, der du großmütig bist, der du vorurteilslos
und weise bist, der du dich für jeglichen Verzicht und jedes Bußwerk angeboten
hast, um für den Rest von Schuld zu büßen, die du Gott gegenüber noch hattest;
du
367
allein kannst es tun. Jeder
andere würde sich weigern, und er hätte das Recht dazu, weil ihm die
erforderlichen Eigenschaften fehlen. Keiner meiner Apostel besitzt alle deine
Fähigkeiten, hinzugehen und die Wege des Herrn zu bereiten... Schließlich
heißt du Johannes. Du wirst also ein Vorläufer meiner Lehre sein... und deinem
Meister die Wege bereiten... Du wirst sogar deinen Meister vertreten, der sich
nicht so weit entfernen kann. (Johannes zuckt zusammen und sucht sich vom Arm
Jesu zu befreien, um ihm ins Gesicht sehen zu können, aber es gelingt ihm
nicht, denn die Umarmung Jesu ist zwar sanft, aber fest, während sein Mund ihm
den letzten Schlag versetzt ... ) Er kann nicht so weit gehen... bis nach
Syrien... nach Antiochia...»
«Herr!» schreit Johannes, sich
gewaltsam aus der Umarmung Jesu befreiend. «Herr! Nach Antiochia? Sage mir,
daß ich falsch verstanden habe! Sage es mir, aus Barmherzigkeit... !» Er steht
da, und alles an ihm fleht: das eine Auge, das aschfahle Gesicht, die bebenden
Lippen, die zitternden, ausgestreckten Hände und das Haupt, das sich unter der
Last des Auftrages zu senken scheint.
Doch Jesus kann nicht sagen: «Du
hast nicht recht verstanden.» Er öffnet seine Arme und erhebt sich, um den
alten Lehrer wiederum an sein Herz zu drücken, und öffnet die Lippen, um ihm
zu bestätigen: «Nach Antiochia, ja! In das Haus des Lazarus. Mit Syntyche. Ihr
sollt morgen oder übermorgen abreisen.»
Die Trostlosigkeit des Johannes
ist wirklich herzzerreißend. Er befreit sich halb aus der Umarmung, schaut
Jesus an, die mageren Wangen mit Tränen bedeckt, und ruft aus: «Ach! Du willst
mich nicht mehr bei dir haben! Worin habe ich dir mißfallen, mein Herr?» Dann
macht er sich los und wirft sich über den Tisch in einem Ausbruch
herzzerreißenden Schluchzens, das nur von rauhem Husten unterbrochen wird. Er
ist unempfindlich für alle Liebkosungen Jesu und murmelt nur: «Du jagst mich
fort, du jagst mich fort, du willst mich nicht mehr sehen ...»
Jesus leidet sichtlich und
betet... Dann geht er leise hinaus und sieht an der Küchentüre Maria und
Margziam, der über diesen Tränenausbruch erschrocken ist... Auch Syntyche ist
dort, ebenfalls überrascht.
«Mutter, komm einen Augenblick
her!»
Maria kommt eilig und bleich
herbei, und sie gehen zusammen ins Zimmer. Maria beugt sich über den
Weinenden, als wäre er ein armes Kind, und sagt: «Brav, brav, mein armes Kind!
Nicht! Es schadet dir!»
Johannes erhebt sein verzerrtes
Gesicht und jammert: «Er schickt mich weg! ... Ich soll allein in der Ferne
sterben... Er hätte doch noch einige Monate warten und mich hier sterben
lassen können. Warum diese Strafe? Worin habe ich gefehlt? Habe ich dir Kummer
gemacht? Warum gibst du mir erst diesen Frieden, um dann... um dann...» Er
legt seinen Kopf auf den Tisch, weint noch heftiger und keucht...
368
Jesus legt ihm die Hand auf die
mageren, zuckenden Schultern und sagt: «Kannst du nicht glauben, daß ich dich
hierbehalten hätte, wenn es mir möglich gewesen wäre? Oh, Johannes! Auf dem
Weg des Herrn gibt es schreckliche Notwendigkeiten, und der erste, der
darunter leidet, bin ich. Ich, der ich meinen eigenen Schmerz und den der
ganzen Welt trage. Schau mich an, Johannes! Schau, ob mein Gesicht das eines
Menschen ist, der dich haßt, der deiner müde ist... Komm hierher, in meine
Arme, und fühle, wie mein Herz vor Schmerz schlägt. Verstehe mich, Johannes.
Du darfst mich nicht mißverstehen, es ist die letzte Sühne, die Gott dir
auferlegt, um dir die Pforten des Himmels zu öffnen. Höre...» Er hebt ihn auf
und hält ihn in seinen Armen. «Höre... Mutter, geh einen Augenblick hinaus...
Nun, da wir allein sind, höre mich an. Du weißt, wer ich bin. Glaubst du fest
daran, daß ich der Retter bin?»
«Aber gewiß! Gerade deshalb
wollte ich bei dir bleiben, immer, bis zum Tod...»
«Zum Tod... Schrecklich wird mein
Tod sein... !»
«Mein Tod, sage ich. Mein Tod...
!»
«Dein Tod wird friedlich sein: du
wirst den Trost meiner Gegenwart, die dir die Gewißheit der Liebe Gottes
einflößen wird, und der Liebe Syntyches haben, und zudem die Freude, den Sieg
der Frohen Botschaft in Antiochia vorbereitet zu haben. Aber mein Tod! Du
würdest mich verwundet, angespuckt, verhöhnt und einer wilden Menge
ausgeliefert sehen, an ein Kreuz genagelt wie ein Verbrecher. Könntest du dies
ertragen?»
Johannes, der bei der
Beschreibung der Passion Jesu mehrmals tief geseufzt hat: «Nein, nein!»,
schreit nun ein entschiedenes «Nein», und fügt hinzu: «Ich würde die
Menschheit erneut hassen... Doch ich werde dann schon tot sein, denn du bist
noch jung ...»
«Ich werde nur noch ein
Lichterfest erleben.»
Johannes schaut ihn entsetzt
an...
«Ich habe es dir im geheimen
gesagt, um dir einen der Gründe anzugeben, warum ich dich weit weg schicke. Du
bist nicht der einzige, dem es so ergehen wird. Alle, die ich nicht über ihre
Kräfte belastet sehen möchte, werde ich vorher wegschicken, und du nennst dies
Lieblosigkeit?»
«Nein, mein Märtyrer – Gott...
Doch ich, ich soll dich verlassen... und fern von dir sterben!»
«Bei der Wahrheit, die ich bin,
verspreche ich dir, daß ich mich bei deinem Todeskampf über dich neigen
werde.»
«Wie kannst du das, wenn ich so
weit entfernt bin? Wenn du mir sagst, daß du nicht so weit gehen kannst? Du
sagst mir das nur, um mich weniger traurig fortzuschicken...»
«Johanna des Chuza lag sterbend
am Fuße des Libanon. Sie sah mich, obwohl ich fern von ihr weilte und sie mich
noch nicht kannte, und von dort führte ich sie zurück in dieses arme
Erdenleben. Glaube mir, am Tag
369
meines Todes wird sie es
bedauern, weitergelebt zu haben! ... Aber für dich, Freude meines Herzens in
diesem zweiten Jahr des Meisters, werde ich mehr tun. Ich werde kommen, um
dich in den Frieden zu führen und dich zu den Anwesenden sagen zu lassen: "Die
Stunde des Herrn ist da. So wie es jetzt auf der Erde Frühling wird, so
erblüht uns nun der Frühling des Paradieses." Aber ich will nicht nur dann
kommen.. Ich werde immer bei dir sein, und du wirst mich immer spüren... Ich
vermag es, und ich werde es tun. Du wirst den Meister in dir haben, wie du ihn
nicht einmal jetzt hast. Denn die Liebe kann sich dem, der liebt, mitteilen,
und zwar so fühlbar, daß sie nicht nur den Geist berührt, sondern auch die
Sinne. Bist du nun beruhigt, Johannes?»
«Ja, mein Herr. Aber welch ein
Schmerz!»
«Du weigerst dich also nicht ...
?»
«Mich weigern? Niemals! Ich würde
dich ganz verlieren. Ich sage , "mein" Vater unser: Dein Wille geschehe!»
«Ich wußte, daß du mich verstehen
würdest...» Er küßt ihn auf die von unaufhörlichem Weinen benetzten Wangen.
«Läßt du mich von dem Kind
Abschied nehmen? ... Das ist ein weiterer Schmerz... Ich habe es geliebt ...»
Die Tränen fließen wieder stärker...
«Ja. Ich will den Knaben sofort
rufen... ich rufe auch Syntyche. Auch sie wird leiden... Du mußt ihr helfen,
du bist ein Mann...»
«Ja, Herr!»
Jesus geht hinaus, während
Johannes weint und die Wände und die Gegenstände in dem gastlichen Raum küßt
und streichelt.
Maria und Margziam kommen herein.
«Oh, Mutter, hast du gehört ?
Hast du es gewußt ?»
«Ich wußte es, und es schmerzt
mich... Aber auch ich habe mich von Jesus getrennt... und bin seine Mutter...»
«Das ist wahr! ... Margziam, komm
her! Weißt du, daß ich fortgehe und wir uns nie mehr sehen werden ... ?» Er
möchte stark sein. Doch er nimmt das Kind in seine Arme, setzt sich auf den
Rand des Bettes und weint, weint auf das braune Köpfchen Margziams, der es ihm
nachmacht.
Jesus kommt mit Syntyche herein.
Sie fragt: «Johannes, warum so viel Tränen?»
«Er schickt uns fort, weißt du es
nicht? Du weißt es noch nicht? Er schickt uns nach Antiochia!»
«Hat er nicht gesagt, daß dort,
wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, auch er mitten unter ihnen
ist? Auf, Johannes! Du hast dir vielleicht dein Schicksal bisher stets selbst
gewählt, und deshalb fällt es dir schwer, den Willen eines anderen, selbst
wenn er der Liebe entspringt, zu befolgen. Ich... ich bin daran gewöhnt, das
Schicksal anzunehmen, das mir von anderen auferlegt wird, und welch ein
Schicksal! ... Daher beuge ich mich gerne dieser neuen Bestimmung. Ich habe
mich nicht aufgelehnt
370
gegen die despotische Sklaverei,
solange sie sich nicht meiner Seele bemächtigen wollte. Sollte ich mich nun
auflehnen gegen das süße Sklaventum der Liebe, das nicht bedrückt, sondern
unsere Seele erhebt und uns zu seinen Dienern macht? Hast du Angst, weil du
krank bist? Aber ich werde dich nie verlassen, sei dessen versichert! Ich habe
keinen anderen Lebenszweck als Gott und den Nächsten zu lieben. Du bist der
Nächste, den Gott mir anvertraut. Denke daran, daß ich dich liebhabe.»
«Ihr müßt nicht arbeiten, um
leben zu können, denn ihr werdet im Haus des Lazarus sein. Aber ich rate euch,
die Lehrtätigkeit auszuüben, um dem Volk nahezukommen. Du als Lehrer, und du
als Frau mit weiblichen Arbeiten, das wird dem Apostolat dienen und euren
Tagen Inhalt geben.»
«So soll es geschehen, Herr»,
antwortet Syntyche entschlossen.
Johannes hält immer noch das Kind
in den Armen und weint lautlos. Margziam liebkost ihn...
«Wirst du noch an mich denken?»
«Immer, Johannes, und ich will
für dich beten... Außerdem... Warte einen Augenblick...» Margziam eilt hinaus.
Syntyche fragt: «Wie werden wir
nach Antiochia kommen?»
«Auf dem Seeweg. Hast du Angst?»
«Nein, Herr! Du schickst uns ja,
und somit wirst du uns beschützen.»
«Ihr werdet mit den beiden
Simons, meinen Brüdern, den Söhnen des Zebedäus, Andreas und Matthäus gehen.
Von hier aus nach Ptolemais mit dem Wagen, auf dem die Kisten sind und ein
Webstuhl, den ich für dich angefertigt habe, Syntyche; außerdem einige
Gegenstände, die Johannes nützlich sein werden...»
«Ich habe immer etwas vermutet,
als ich die Kisten und die Kleider sah. Ich habe meine Seele auf die Trennung
vorbereitet. Es wäre zu schön, hier zu leben... !» Ein unterdrückter Seufzer
erstickt die Stimme Syntyches. Aber sie rafft sich sofort wieder auf, um
Johannes Mut zu machen, und sagt mit entschlossener Stimme:
«Wann werden wir abreisen?»
«Sobald die Apostel angekommen
sind. Vielleicht morgen.»
«Dann erlaube mir, daß ich gehe
und die Kleider in die Kisten packe. Gib mir deine Bücher, Johannes!»
Ich vermute, daß Syntyche nach
Einsamkeit verlangt, um weinen zu können... Johannes antwortet: «Nimm sie...
Doch gib mir die Rolle mit dem blauen Band.»
Margziam kommt mit seinem
Honigtöpfchen zurück.
«Nimm, Johannes. Du wirst ihn an
meiner Stelle essen...»
«Aber nein, Kind! Warum?»
«Weil Jesus gesagt hat, daß ein
aufgeopferter Löffel Honig einem Betrübten Frieden und Hoffnung schenken kann.
Du bist traurig... Ich gebe dir den ganzen Topf, damit du getröstet bist.»
371
«Aber das ist ein zu großes
Opfer, Kind.»
«O nein! Im Gebet Jesu heißt es:
"Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel." Dieses
Töpfchen war eine Versuchung für mich... und könnte ein Übel werden, denn es
hätte mich veranlassen können, mein Gelübde zu brechen. So werde ich es nicht
mehr sehen... und es wird leichter für mich sein... Ich bin sicher, daß Gott
dir wegen diesem neuen Öpferchen helfen wird. Weine nicht mehr! Auch du nicht,
Syntyche!»
Tatsächlich weint nun auch die
Griechin, lautlos, während sie die Bücher von Johannes zusammensucht. Margziam
liebkost sie und möchte am liebsten mitweinen.
Doch Syntyche geht mit Buchrollen
beladen hinaus, und Maria folgt ihr mit dem Honigtöpfchen.
Johannes bleibt mit Jesus zurück,
der sich an seine Seite setzt und das Kind in den Armen hält. Er ist ruhig,
aber niedergeschlagen.
«Füge auch deine letzte Schrift
zu der Rolle hinzu», rät Jesus. «Ich denke, du willst sie Margziam geben...»
«Ja! Ich behalte eine Abschrift
für mich... Hier, Knabe! Dies sind die Worte des Meisters, die er gesagt hat,
als du nicht anwesend warst, und auch andere... Ich wollte fortfahren, sie für
dich abzuschreiben, denn du hast das Leben noch vor dir... und wer weiß,
wieviel du predigen wirst... Aber ich kann es nicht mehr tun... Nun bin ich
es, der ohne seine Worte leben muß.»
Er weint wieder stärker.
Margziam ist sanft und männlich
in seiner neuen Haltung: Er hängt sich an den Hals des Johannes und sagt: «Nun
werde ich für dich schreiben und es dir schicken... Nicht wahr, Meister? Das
darf ich, nicht wahr?»
«Gewiß darfst du das, und es wird
eine große Tat der Nächstenliebe sein.»
«Ich tue es, und wenn ich es
nicht tue, dann wird es Simon der Zelote tun. Er liebt mich und dich, und er
wird es tun, um uns beiden Liebe zu erweisen. Weine also nicht mehr. Dann
werde ich kommen, um dich zu besuchen... Du wirst schon nicht so weit
fortgehen...»
«Hunderte von Meilen! ... Und
bald werde ich sterben.»
Das Kind ist enttäuscht und
untröstlich. Aber es findet bald wieder in die schöne Heiterkeit des Kindes
zurück, dem alles leicht erscheint.
«So wie du dorthin gehst, so
werde auch ich mit meinem Vater dorthin gehen können. Wir werden uns
schreiben. Wenn man die heiligen Seiten liest, ist es, wie wenn man bei Gott
wäre, nicht wahr? Wenn man einen Brief liest, dann fühlt man sich dem nahe,
der ihn geschrieben hat. Auf, komm mit hinüber...»
«Ja, wir wollen hinübergehen,
Johannes. Bald werden meine Brüder mit dem Zeloten kommen. Ich habe sie rufen
lassen.»
372
«Wissen sie es?»
«Noch nicht. Ich will noch warten
und es erst sagen, wenn alle zugegen sind...»
«Gut, Herr. Wir wollen gehen ...»
Es ist ein gebeugter Greis, der
das Zimmer Josephs verläßt. Ein Greis, der jeden Halm zu grüßen scheint, jeden
Stamm, den Brunnen und die Grotte, während er sich zu der Werkstatt begibt, in
der Maria und Syntyche schweigend die Gegenstände und die Kleider in die
Kisten packen...
So schweigsam und traurig finden
Simon, Judas und Jakobus sie vor. Sie blicken um sich... stellen jedoch keine
Fragen, und es gelingt mir nicht, festzustellen, ob sie die Wahrheit ahnen.
Jesus sagt:
«Um den Lesern den Ort näher zu
bezeichnen, an dem Johannes seine letzte Buße getan hat, habe ich die heute
gebräuchlichen Namen genannt. Dies sind die antiken Namen, für jene, die sie
kennen möchten: "Bithynien und Mysien." Doch dies ist das Evangelium für die
Einfachen und Ungelehrten. Nicht für die Gelehrten, für deren Mehrheit es
meist unannehmbar und nutzlos ist, und die Einfachen und Ungelehrten verstehen
besser "Anatolien" als "Bithynien und Mysien". Nicht wahr, kleiner Johannes,
du weinst über den Schmerz von Johannes von Endor? Aber es gibt viele Johannes
von Endor auf dieser Welt! Es sind die unglücklichen Brüder, für die ich dich
letztes Jahr habe leiden lassen. Nun ruhe dich aus, kleiner Johannes! Du wirst
nicht mehr vom Meister weggeschickt werden, sondern in seiner Nähe bleiben.
Damit nimmt das zweite Jahr des
öffentlichen Lebens sein Ende: das Jahr der Barmherzigkeit... und ich kann nur
die Klage wiederholen, die ich an das Ende des ersten Jahres setzte : Aber sie
berührt mein Sprachrohr nicht, das allen Hindernissen zum Trotz weiterwirken
wird. Es sind wahrlich nicht die "Großen", sondern die "Kleinen", die den
heroischen Weg einschlagen, ihn durch ihr Opfer ebnen, auch für jene, die mit
zu vielen Dingen belastet sind. Die Kleinen, das heißt die Einfachen, die
Sanften, die reinen Herzens und einfachen Sinnes sind. Die "Kinder" ' Ich sage
euch, o Kinder, ich sage euch, o Romuald (P. Romuald H. Migliorini, aus dem
Orden der Serviten, der einige Jahre der geistliche Führer der Schreiberin
gewesen ist, an den sie sich oft in diesem Werk wandte und der 1952 starb),
und Maria und all denen, die euch ähnlich sind: "Kommt zu mir, um immer wieder
das Wort zu hören, das zu euch spricht, weil es euch liebt; das zu euch
spricht, um euch zu segnen. Mein Friede sei mit euch!"»
373
358. IN NAZARETH; VERSÖHNUNG;
VORBEREITUNGEN FÜR DIE ABREISE
Johannes, Jakobus, Matthäus und
Andreas sind schon in Nazareth angekommen und gehen in Erwartung des Petrus im
Hausgarten spazieren, indem sie mit Margziam scherzen oder miteinander reden.
Ich sehe sonst niemanden, wie wenn Jesus außer Haus und Maria mit Hausarbeiten
beschäftigt wären. Dem Rauch nach, der aus dem Backofen aufsteigt, ist zu
schließen, daß sie Brot bäckt.
Die vier Apostel sind glücklich,
im Haus des Meisters zu sein, und verleihen ihrer Freude auch Ausdruck.
Margziam sagt mindestens dreimal zu ihnen: «Lacht nicht so!» Erst beim dritten
Mal hört Matthäus diese Mahnung und fragt: «Warum, Knabe? Ist es nicht recht,
daß wir glücklich sind, hier sein zu können? Du hast diesen Ort schon
genossen, nicht wahr? Jetzt genießen wir ihn», und er gibt ihm einen
gutmütigen Klaps. Margziam schaut ihn sehr ernst an, versteht aber zu
schweigen.
Jesus kommt mit den Vettern Judas
und Jakobus zurück, welche ihre Gefährten, von denen sie viele Tage getrennt
waren, überschwenglich begrüßen.
Maria des Alphäus streckt ihren
roten, mit Mehl bestäubten Kopf aus der Backstube und lächelt ihren großen
Söhnen zu.
Als letzter kehrt der Zelote
zurück und sagt: «Ich habe alles erledigt, Meister, und Simon wird bald hier
sein.»
«Welcher Simon? Mein Bruder oder
Simon des Jonas?»
«Dein Bruder, Jakobus, er kommt
mit der ganzen Familie, um sich von dir zu verabschieden.»
Tatsächlich klopft es wenige
Minuten später an der Türe, und ein lebhaftes Geplauder kündet die Ankunft der
Familie Simons des Alphäus an, der als erster hereinkommt und einen etwa
achtjährigen Knaben an der Hand führt. Hinter ihm folgt Salome, von ihrer
Kinderschar umringt.
Maria des Alphäus kommt eilig aus
der Backstube und küßt ihre Enkel, glücklich darüber, sie hier zu sehen.
«Du gehst also wieder fort?»
fragt Simon, während seine Kinder Freundschaft mit Margziam schließen, der,
wie mir scheint, nur den geheilten Alphäus gut kennt.
«Ja, es ist Zeit», antwortet
Jesus dem Verwandten.
«Du wirst noch Regentage
erleben.»
«Das macht nichts. Mit jedem Tag
kommen wir dem Frühling näher.»
377
«Gehst du nach Kapharnaum?»
«Gewiß werde ich auch dorthin
gehen, aber nicht sofort. Jetzt werde ich durch Galiläa reisen, und dann
weiter.»
«Ich werde dich besuchen, wenn
ich dich in Kapharnaum weiß, und deine und meine Mutter zu dir begleiten.»
«Ich werde dir dafür dankbar
sein. Vernachlässige sie jetzt nicht, denn sie bleibt ganz allein zurück.
Bringe ihr die Kinder, hier werden sie gewiß nicht verdorben.»
Simon wird glutrot bei dieser
Anspielung Jesu auf seine früheren Gedanken und wegen eines vielsagenden
Blickes der Gattin, der zu verstehen geben will: «Hörst du? Das geschieht dir
ganz recht.»
Doch Simon wechselt das Thema und
fragt: «Wo ist deine Mutter?»
«Sie ist beim Brotbacken. Doch
sie wird gleich kommen...»
Die Kinder des Simon wollen
jedoch nicht mehr länger warten und suchen die Großmutter in der Backstube
auf. Ein Mädchen, nur ein wenig größer als der geheilte Alphäus, kommt gleich
wieder heraus und sagt: «Maria weint. Warum? Jesus, warum weint deine Mutter?»
«Weint sie? Die Gute! Ich gehe zu
ihr», sagt Salome besorgt.
Jesus erklärt: «Sie weint, weil
ich fortgehe... aber du wirst kommen und ihr Gesellschaft leisten, nicht wahr?
Sie wird dich sticken lehren und du wirst sie aufmuntern. Versprichst du es
mir?»
«Auch ich werde kommen, da es der
Vater mir nun erlaubt», sagt Alphäus, der einen heißen Brotfladen ißt, den man
ihm gegeben hat.
Obgleich er so heiß ist, daß man
ihn kaum in den Fingern halten kann, glaube ich, daß er geradezu kalt ist im
Vergleich zu der Schamhitze, die Simon des Alphäus bei den Worten des
Söhnleins überkommt. Obwohl es ein kühler Wintermorgen ist infolge eines
Nordwinds, der die Wolken am Himmel jagt und auf der Haut beißt, fängt Simon
an zu schwitzen, als wäre es Hochsommer...
Doch Jesus tut, als ob er es
nicht bemerke, und die Apostel täuschen großes Interesse vor für das, was die
Kinder des Simon erzählen, und so endet der Zwischenfall. Simon kann sich
wieder davon erholen und Jesus fragen, warum nicht alle Apostel anwesend sind.
«Simon des Jonas wird eintreffen,
und die anderen werden mich zur rechten Zeit einholen, das ist schon
abgemacht.»
«Alle?»
«Alle!»
«Auch Judas von Kerioth?»
«Auch er...»
«Jesus, komm einen Augenblick mit
mir», bittet Vetter Simon, und am hinteren Ende des Gartens angelangt, fragt
er: «Aber weißt du eigentlich, wer Judas des Simon ist?»
«Er ist ein Mann Israels, nicht
mehr und nicht weniger.»
378
«Oh, du willst mir doch nicht
sagen, daß er ...» ereifert sich Simon und spricht lauter.
Jesus unterbricht ihn
besänftigend und legt ihm seine Hand auf die Schulter: «Er ist das, wozu ihn
die vorherrschenden Meinungen jener gemacht haben, die zu ihm gehen. Wenn er,
zum Beispiel, hier (und er betont diese Worte) lauter gerechte und einsichtige
Menschen angetroffen hätte, dann hätte er keinen Gefallen an der Sünde
gefunden, aber er hat sie nicht angetroffen. Im Gegenteil, er hat nur
menschliche Grundsätze angetroffen, die er ganz langsam seinem sehr
menschlichen Ich anpaßte, das träumend in mir den König sieht und für mich,
den König Israels, arbeitet, so wie du träumst und für mich arbeiten möchtest,
und mit dir Joseph, dein Bruder, und mit euch beiden Levi, der
Synagogenvorsteher von Nazareth, Mattathias, Simon, Matthias, Benjamin und
Jakobus und, mit Ausnahme von drei oder vier Leuten, alle Nazarener. Nicht nur
aus Nazareth... Er hat Mühe, sich zu formen, weil ihr alle dazu beitragt, ihn
immer mehr zu verbilden. Er ist der schwächste meiner Apostel, doch
gegenwärtig nicht mehr als ein schwacher Mensch. Er hat gute Regungen,
redlichen Willen, und er liebt mich, mit einer etwas abwegigen Liebe, doch
immerhin Liebe. Ihr helft ihm nicht, diese guten Eigenschaften zu trennen von
den weniger guten, die sein Ich ausmachen, ihr laßt ihn vielmehr schlechter
werden durch euren Unglauben und eure menschliche Beschränktheit. Laß uns ins
Haus gehen, die anderen sind uns schon vorausgegangen...»
Simon folgt ihm etwas beschämt.
Sie sind schon beinahe an der Schwelle, als er Jesus zurückhält und fragt:
«Mein Bruder, bist du zornig auf mich?»
«Nein! Aber ich bemühe mich, auch
dich zu erziehen, wie ich alle anderen Jünger erziehe. Hast du nicht gesagt,
daß auch du ein solcher sein willst?»
«Ja, Jesus! Doch andere Male hast
du nicht so gesprochen, nicht einmal, als du uns getadelt hast. Du warst viel
sanfter...»
«Was hat es genützt? Einst war
ich sanft. Seit zwei Jahren bin ich es... Durch meine Geduld und Liebe seid
ihr träge geworden und habt eure Zähne und Krallen geschliffen. Die Liebe hat
euch dazu gedient, mir zu schaden. Ist es nicht so ... ?»
«So ist es wahrhaftig! Wirst du
also von nun an nicht mehr gut zu uns sein?»
«Ich werde gerecht sein. Auch so
werde ich immer noch besser sein, als ihr es verdient, ihr von Israel, die ihr
in mir nicht den verheißenen Messias erkennen wollt!»
Sie betreten den kleinen Raum,
der so voll Menschen war, daß viele in die Küche oder in die Werkstatt Josephs
gehen mußten. Hier sind nun die Apostel, mit Ausnahme der beiden Söhne des
Alphäus, die bei der
379
Mutter und ihrer Schwägerin
geblieben sind, zu denen sich jetzt Maria gesellt, die, den kleinen Alphäus an
der Hand führend, hereinkommt. Auf dem Antlitz Marias sind noch deutlich
Spuren vergossener Tränen zu sehen.
Doch während sie Simon antworten
will, der ihr versichert, daß er sie jeden Tag besuchen wird, kommt durch die
enge Gasse ein Wagen daher, der mit seinen Schellen einen so großen Lärm
macht, daß er die Aufmerksamkeit der Söhne des Alphäus erregt, und im selben
Augenblick, in dem draußen angeklopft wird, öffnet man von innen die Tür. Es
erscheint das fröhliche Gesicht des Simon Petrus, der noch auf dem Wagen sitzt
und mit dem Peitschengriff angeklopft hat... An seiner Seite, schüchtern, doch
lächelnd, sitzt Porphyria auf Kisten und Kasten wie auf einem Thron.
Margziam eilt hinaus und klettert
auf den Wagen, um seine Adoptivmutter zu grüßen. Nun gehen auch Jesus und die
anderen hinaus.
«Meister, hier bin ich. Ich habe
auch bei dieser Gelegenheit meine Gattin mitgebracht, denn als Frau kann sie
den weiten Weg nicht zu Fuß gehen. Maria, der Herr sei mit dir. Auch mit dir,
Maria des Alphäus.» Er betrachtet alle, während er von seinem Gefährt steigt
und seiner Frau beim Absteigen hilft, und grüßt alle miteinander.
Sie möchten ihm beim Abladen
helfen. Doch er widersetzt sich energisch. «Nachher, nachher», sagt er, und
begibt sich ohne Zögern zur breiten Türe der Werkstatt Josephs, reißt sie weit
auf und versucht, den Wagen, so wie er ist, hineinzuschieben. Das gelingt
natürlich nicht, aber dieses Manöver dient dazu, die Gäste abzulenken und
ihnen begreiflich zu machen, daß es zu viele sind... Tatsächlich verabschiedet
sich Simon des Alphäus mit seiner ganzen Familie...
«Nun, da wir allein sind, denken
wir an uns ...» sagt Simon des Jonas und läßt das Eselchen, das mit seinen
Glöckchen Lärm für zehn macht, umkehren. Jakobus des Zebedäus kann sich nicht
enthalten, lachend zu fragen: «Aber wo hast du denn diesen aufgetakelten Esel
gefunden?»
Doch Petrus ist damit
beschäftigt, die Kisten vom Wagen zu nehmen und sie Johannes und Andreas zu
übergeben. Die beiden sind sehr erstaunt, daß sie so leicht sind, und sie
sagen es auch...
«Geht in den Garten und benehmt
euch nicht wie aufgeschreckte Spatzen», befiehlt Petrus und steigt ab mit
einer wirklich schweren Kiste, die er in eine Ecke des Raumes stellt.
«Was machen wir nun mit dem Esel
und dem Wagen? Ja, der Esel und der Wagen! ... Das ist schwierig! ... und doch
muß alles im Haus sein...»
«Vom Garten her, Simon», sagt
Maria leise, «in der Hecke im Hintergrund ist ein Gittertor, es ist kaum
sichtbar, denn es ist von Zweigen verdeckt... aber es ist dort. Folge dem Pfad
auf der Seite des Hauses, zwischen diesem und dem angrenzenden Garten, und ich
werde kommen und
380
dir das Tor zeigen... Wer kommt
mit und entfernt das Gestrüpp, das dort wuchert?»
«Ich, ich!» Alle eilen ans Ende
des Gartens, während sich Petrus mit seinem lärmenden Gefährt entfernt und
Maria des Alphäus die Türe schließt... Mit einer Sichel machen sie nun das
derbe Tor frei und bahnen einen Durchgang für Esel und Wagen.
«Oh, gut so! Nun nehmen wir alle
diese Dinger ab, ich bin dadurch schon ganz taub geworden», und Petrus beeilt
sich, die Riemen durchzuschneiden, mit denen die Schellen am Zaumzeug
befestigt sind.
«Aber warum hast du sie denn
angebracht?» fragt Andreas.
«Damit ganz Nazareth mich kommen
hört. Das ist nun gelungen... und jetzt nehme ich alle weg, damit Nazareth
unsere Abreise nicht hört. Ebenso habe ich leere Kisten mitgebracht... Wir
werden mit vollen Kisten abreisen, und niemand – falls uns jemand sehen sollte
– wird darüber erstaunt sein, eine Frau an meiner Seite auf einer Kiste sitzen
zu sehen. Der, der jetzt nicht hier ist, rühmt sich, guten Verstand und
praktischen Sinn zu haben, aber wenn ich will, habe ich es auch...»
«Aber entschuldige, Bruder, wozu
ist dies alles notwendig?» fragt Andreas, der dem Esel vor dem einfachen
Holzschuppen beim Backofen zu trinken gegeben hat.
«Wozu? Weißt du es nicht? ...
Meister, wissen sie denn noch nichts?»
«Nein, Petrus, ich habe auf dich
gewartet, um zu reden. Kommt alle in die Werkstatt. Die Frauen sollen
hierbleiben. Du hast es gut gemacht, Simon des Jonas.»
Sie gehen zur Werkstatt, während
Porphyria mit dem Kind und den beiden Marien im Haus bleibt.
«Ich wollte euch hier haben,
damit ihr mir behilflich seid, Johannes und Syntyche weit fortzuschicken. Seit
dem Laubhüttenfest habe ich es beschlossen. Ihr werdet selbst bemerkt haben,
daß es unmöglich ist, sie bei uns zu behalten – auch hier – ohne ihren Frieden
aufs Spiel zu setzen. Wie immer hilft mir Lazarus von Bethanien auch bei
diesem Werk, und er ist schon benachrichtigt. Simon Petrus weiß es seit
einigen Tagen, und ihr wißt es nun auch. Noch heute nacht werden wir Nazareth
verlassen, selbst wenn es Regen und Wind anstelle des Neumondes geben sollte.
Wir hätten eigentlich schon abreisen sollen. Doch ich vermute, daß Simon des
Jonas Schwierigkeiten gehabt hat, ein Transportmittel zu finden...»
«Ja, und wie! Ich war schon ganz
verzweifelt, aber schließlich habe ich dann von einem widerlichen Griechen in
Tiberias eines bekommen... und es wird gut gehen... !»
«Ja, besonders für Johannes von
Endor.»
«Wo ist er denn, daß man ihn
nicht sieht?» fragt Petrus.
«In seinem Zimmer mit Syntyche.»
«Wie hat er die Nachricht
aufgenommen?» fragt Petrus wieder.
381
«Sie hat ihm großes Leid
verursacht. Auch der Frau ...»
«Auch dir, Meister. Deine Stirne
ist gezeichnet von einer Falte, die vorher nicht da war, und auch deine Augen
sind ernst und traurig», bemerkt Johannes.
«Es ist wahr. Ich leide sehr
darunter... Doch laßt uns von dem reden, was wir zu tun haben. Hört mir gut
zu, denn nachher werden wir uns trennen müssen. Wir werden heute abend
aufbrechen, in der Mitte der ersten Nachtwache. Wir werden fortgehen wie
Menschen, die flüchten müssen... weil sie schuldig sind. Wir jedoch gehen
nicht fort, um Böses zu tun, und flüchten nicht, weil wir es getan haben. Wir
gehen vielmehr fort, um zu verhindern, daß andere es jemandem zufügen, der
nicht die Kraft hätte, dies zu ertragen. Wir werden also aufbrechen... und uns
auf den Weg nach Sephoris begeben... Auf halber Strecke werden wir in einem
Haus rasten, um beim Morgengrauen weiterzufahren. Es ist ein Haus mit vielen
Bogengängen für die Tiere. Die Hirten dort sind Freunde Isaaks, ich kenne sie
und sie werden uns beherbergen, ohne etwas dafür zu verlangen. Dann müssen wir
jedoch unbedingt bis zum Abend Jiphtael erreichen und dort haltmachen. Meinst
du, daß das Tier es schaffen wird?»
«Gewiß! Der schmierige Grieche
hat mich dafür genug bezahlen lassen, aber er hat mir ein gutes und starkes
Tier gegeben.»
«Das ist gut! Am folgenden Morgen
werden wir uns nach Ptolemais begeben und uns dort trennen. Ihr, unter der
Leitung des Petrus, der euer Vorgesetzter ist und dem ihr blindlings gehorchen
müßt, werdet auf dem Seeweg Tyrus erreichen. Dort werdet ihr ein Schiff
vorfinden, das zur Abreise nach Antiochia bereit ist. Ihr werdet an Bord gehen
und dem Kapitän diesen Brief von Lazarus des Theophilus zu lesen geben. Sie
werden euch für seine Diener halten, die in seine Ländereien nach Antiochia
oder besser gesagt zu seinen Gärten in Antigonea gesandt werden. Dies werdet
ihr für alle sein. Seid wachsam, ernst, vorsichtig und verschwiegen. In
Antiochia angelangt, begebt euch sofort zu Philippus, dem Verwalter des
Lazarus, dem ihr diesen Brief aushändigen werdet...»
«Meister, er kennt mich», sagt
der Zelote.
«Sehr gut!»
«Aber wird er glauben, daß ich
ein Diener bin?»
«Bei Philippus ist es nicht
nötig. Er weiß, daß er zwei Freunde des Lazarus aufnehmen und beherbergen muß
und ihnen in allem behilflich sein soll. So steht es geschrieben. Ihr habt sie
begleitet. Weiter nichts. Er nennt euch "seine teuren Freunde aus Palästina",
und das seid ihr, verbunden durch den Glauben und das Werk, das ihr
vollbringt. Ihr werdet euch ausruhen, bis das Schiff nach Tyrus zurückkehrt,
nachdem es entladen und wieder beladen worden ist. Von Tyrus kommt ihr dann
mit der Barke nach Ptolemais und von dort werdet ihr mich in Achsib
erreichen...»
«Warum kommst du nicht mit uns,
Herr?» seufzt Johannes.
382
«Weil ich hier bleibe, um für
euch und besonders für jene Armen zu beten. Ich bleibe, um zu beten. So
beginnt mein drittes Jahr des öffentlichen Lebens.
Es nimmt seinen Anfang mit einer
traurigen Abreise, wie das erste und das zweite. Es beginnt mit viel Gebet und
Buße, wie das erste... Denn dieses Jahr wird die schmerzlichen Schwierigkeiten
des ersten mit sich bringen, und noch mehr. Damals bereitete ich mich vor, die
Welt zu bekehren, nun bereite ich mich auf ein weit größeres und gewaltigeres
Werk vor. Hört mir gut zu und wisset, daß, wenn ich im ersten Jahr der
menschliche Lehrer war, der Weise, der zur Weisheit aufruft mit vollkommener
Menschlichkeit und geistiger Vollkommenheit, im zweiten der Helfer und Freund,
der Barmherzige, der hinging und mit seinem Verzeihen, seinem Verständnis,
seinem Trost und seiner Geduld alle an sich zog, werde ich im dritten der
Gotterlöser und König, der Gerechte sein. Wundert euch daher nicht, wenn ihr
in mir neue Formen erblicken werdet, wenn ihr im Lamm den Starken aufleuchten
seht. Womit hat Israel auf meine Einladung der Liebe, auf meine geöffneten
Arme und auf meine Worte: "Komm, ich liebe und verzeihe", geantwortet? Mit
immer größerer Verstocktheit und Herzenshärte, mit Lüge, mit Arglist. So ist
es.
Ich habe alle seine Schichten
aufgerufen und meine Stirne bis in den Staub geneigt. Auf die Heiligkeit, die
sich verdemütigte, hat es gespien.
Ich habe es eingeladen, sich zu
heiligen. Es hat mir geantwortet, indem es sich dem Dämon überließ.
Ich habe meine Pflicht getan, in
allem. Meine Pflichterfüllung hat es als "Sünde" bezeichnet.
Ich habe geschwiegen. Mein
Schweigen hat es als einen Beweis für Schuldhaftigkeit betrachtet.
Ich habe gesprochen. Mein Wort
hat es "Gotteslästerung" genannt.
Nun ist es genug!
Es hat mir keine Atempause
gegönnt. Es hat mir keine Freude zugestanden, und meine Freude war es, die der
Gnade neu Geborenen im Leben des Geistes zu erziehen. Aber man hat ihnen
nachgestellt, und ich muß sie mir vom Herzen reißen, sie und mich den Schmerz
fühlen lassen, den Eltern und Kinder empfinden, wenn sie voneinander getrennt
werden, und all das, um sie vor dem böswilligen Israel zu retten.
Die Mächtigen Israels, die sich
"Heiligmacher" nennen und sich dessen rühmen, hindern mich oder möchten mich
daran hindern, meine Erlösten zu retten und mich ihrer zu erfreuen.
Seit vielen Monaten befindet sich
unter meinen Freunden und in meinem Dienst ein Zöllner namens Levi, und die
Welt kann sehen, ob Matthäus Anlaß zum Ärgernis oder zum Nacheifern gibt. Doch
die Anklage bleibt bestehen, auch für Maria des Lazarus, und für viele, viele
andere, die ich noch retten werde.
383
Nun genug!
Ich wandle auf meinem immer
bitterer werdenden und mit immer mehr Tränen benetzten Wege weiter... Ich
gehe... Nicht eine meiner Tränen wird umsonst vergossen werden. Sie schreien
auf zu meinem Vater... und später wird ein weit mächtigerer Strom aufschreien.
Ich gehe! Wer mich liebt, folge mir nach und werde stark, denn die schwere
Stunde wird kommen. Ich halte nicht ein, nichts kann mich aufhalten.
Auch sie werden nicht
einhalten... Doch wehe ihnen! Wehe ihnen! Wehe denen, für die sich die Liebe
in Gerechtigkeit wandelt! ... Das Zeichen der neuen Zeit wird von strenger
Gerechtigkeit für all jene sein, die in ihrer Sünde gegen die Worte des Herrn
und die Werke des Wortes des Herrn verharren.»
Jesus gleicht einem strafenden
Erzengel. Ich würde sagen, daß er vor der verrauchten Wand aufflammt, so sehr
funkeln seine Augen... auch seine Stimme schallt und tönt, als schlüge man
heftig Bronze und Silber.
Die acht Apostel sind vor Angst
erbleicht und ganz klein geworden. Jesus schaut sie an... voller Erbarmen und
Liebe, und spricht: «Ich sage es nicht zu euch, meine Freunde, denn diese
Drohungen gelten nicht euch. Ihr seid meine Apostel und ich habe euch
erwählt.» Seine Stimme ist sanft und tief geworden, und er schließt mit den
Worten: «Laßt uns gehen, die beiden Verfolgten sollen fühlen, daß wir sie mehr
als uns selbst lieben. Ich mache euch darauf aufmerksam, daß sie glauben,
abzureisen, um mir den Weg in Antiochia zu bereiten. Kommt.»
359. DIE ABREISE VON NAZARETH
Es ist Abend. Wieder ein Abend
des Abschieds für das kleine Haus in Nazareth und seine Bewohner. Ein weiteres
Nachtmahl, bei dem der Schmerz dem Mund die Lust an der Nahrung nimmt und die
Personen schweigsam macht.
Am Tisch sitzen Jesus, Johannes,
Syntyche, Petrus, Johannes, Simon und Matthäus. Die anderen haben sich nicht
zu ihnen setzen können, denn der Tisch in Nazareth ist sehr klein! Er genügt
gerade für eine kleine Familie von Gerechten, die höchstens den Pilger und den
Betrübten zu sich einladen können, um ihnen eher mit Liebe als mit Speisen
Erquickung zu bieten! An diesem Abend hätte vielleicht noch Margziam Platz
gefunden, denn er ist ein Kind und sehr mager.
Doch Margziam sitzt ernst und
schweigsam in einer Ecke auf einem Schemel zu Füßen Porphyrias, die die
Jungfrau auf dem Sitz des Webstuhls hat Platz nehmen lassen und die sanft und
schweigsam ißt, was man ihr vorgesetzt hat. Sie betrachtet mitleidig die
beiden, welche im
384
Begriff sind abzureisen und
geneigten Hauptes ihre Bissen zum Mund führen, um ihre von Tränen brennenden
Augen zu verbergen.
Die anderen, die beiden Söhne des
Alphäus, Andreas und Jakobus des Zebedäus, haben sich in der Küche neben einer
Art von Truhe niedergelassen. Doch sieht man sie durch die offene Türe.
Die allerseligste Mutter Jesu und
Maria des Alphäus kommen und gehen, beide mütterlich besorgt und traurig.
Während Maria, die Hochheilige, alle, denen sie sich nähert, mit ihrem Lächeln
liebkost, das heute abend besonders schmerzlich ist, verbindet Maria des
Alphäus, weniger zurückhaltend und schlichter, mit dem Lächeln Tat und Wort,
und mehrmals ermuntert sie mit einer Liebkosung oder einem Kuß, je nachdem, um
wen es sich handelt, die Gäste, sich in Anbetracht der bevorstehenden Reise
gut zu bedienen. Ich glaube, daß sie sich am liebsten aus barmherziger Liebe
für den in diesen Tagen des Wartens noch magerer gewordenen Johannes selbst
opfern würde, so sehr bemüht sie sich, ihn zu überreden, von diesem oder jenem
zu nehmen, indem sie den Wohlgeschmack der Speisen und die heilsamen
Eigenschaften hervorhebt. Trotz ihrer Überredungskünste bleiben die Speisen
auf dem Teller des Johannes fast unberührt, und Maria des Alphäus ist darüber
traurig wie eine Mutter, die sieht, daß ihr Säugling die Brust ablehnt.
«Sohn, aber so kannst du nicht
abreisen!» ruft sie aus. In ihrer mütterlichen Liebe denkt sie nicht daran,
daß Johannes von Endor ungefähr so alt ist wie sie und daher die Bezeichnung
"Sohn" nicht angebracht ist.
Sie sieht in ihm nur ein
Geschöpf, das leidet, und findet, um ihn zu trösten, nur diesen Namen...
«Reisen mit leerem Magen auf
einem wackligen Karren und nachts bei feuchter Kälte wird dir nicht guttun.
Wer weiß, was ihr auf dem mühseligen und weiten Weg zu essen bekommt! Ewige
Barmherzigkeit! Dann viele, viele Meilen auf dem Meer. Ich würde sterben vor
Angst! Die phönizische Küste ist lang, aber schlimmer noch: der Besitzer des
Schiffes wird Philister oder Phönizier oder aus einem anderen, verteufelten
Volke sein, das kein Erbarmen kennt. Iß nun, solange du noch bei einer Mutter
weilst, die dich liebt! ... Iß wenigstens ein Stück von diesem ausgezeichneten
Fisch, auch um Simon des Jonas zufriedenzustellen, der ihn in Bethsaida mit
großer Liebe zubereitet hat; er hat mir heute das Rezept gegeben, damit ich
ihn für dich und Jesus kochen kann, weil ihr besonderer Stärkung bedürft.
Schmeckt er dir nicht? ... Dann will ich ihn essen... !»Sie läuft hinaus in
die Küche und kommt mit einer vollen, dampfenden Schüssel zurück; ich weiß
nicht, was es ist... Gewiß ist es eine Art Mehlspeise oder in Milch fast
verkochte Körner. «Schau, das habe ich zubereitet, weil mir eingefallen ist,
daß du von diesem Gericht gesagt hast, es sei eine süße Erinnerung an deine
Kindheit.... Es ist wohlschmeckend und gesund! Nimm ein wenig davon!»
385
Johannes läßt sich einige
Löffelchen des Breies auf den Teller geben und versucht, ihn zu schlucken,
doch Tränen rinnen über sein Gesicht und vermischen ihr Salz mit der Speise,
während er sein Haupt tiefer und tiefer über den Teller neigt.
Die anderen sind begeistert von
diesem Gericht, das vielleicht eine Spezialität der Hebräer ist. Ihre
Gesichter erhellen sich bei seinem Anblick; Margziam aber steht auf und fühlt
das Bedürfnis, die allerseligste Jungfrau Maria zu fragen: «Darf ich davon
essen? Mein Gelübde gilt noch für fünf Tage!» Maria liebkost ihn und erwidert:
«Gewiß, mein Sohn, du darfst es!»
Das Kind zaudert, und um die
Skrupel des kleinen Jüngers zu besänftigen, wendet Maria sich an ihren Sohn:
«Jesus, Margziam fragt, ob er von dem Getreidebrei essen darf... wegen des
Honigs, der das Gericht versüßt ...»
«Gewiß, Margziam, heute abend
entbinde ich dich deines Opfers, unter der Bedingung, daß Johannes ebenfalls
die süße Gerste ißt. Schau, Johannes, wie sehr das Kind es wünscht! Verhilf
ihm dazu, von der Speise essen zu können!» Jesus sitzt neben Johannes, nimmt
seine Hand und hält sie fest, während Johannes sich zwingt, im Gehorsam seinen
Brei aufzuessen.
Maria des Alphäus ist nun
zufriedener. Sie geht sofort mit einer dampfenden Platte gebackener Birnen
wieder zum Angriff über. Sie kommt vom Garten her und sagt: «Soeben fängt es
an zu regnen. Wie schade!»
«Aber nein! Um so besser! So wird
niemand unterwegs sein. Bei einer Abreise bereiten Abschiedsszenen immer nur
Schmerzen ... Es ist besser, mit dem Wind in den Segeln davonzufahren, ohne
auf Hindernisse und Klippen zu stoßen, die Aufenthalte und langsame Fahrt
bedingen. Neugierige sind wirklich nur Hindernisse und Klippen ...» sagt
Petrus, der alles mit Segeln und Bootsfahren vergleicht.
«Danke, Maria, ich esse nichts
mehr», sagt Johannes und versucht, das Obst zurückzuweisen.
«Oh, das ist nicht möglich! Maria
hat sie doch gebacken. Willst du die von ihr zubereitete Speise ablehnen? Sieh
nur, wie gut sie sie zubereitet hat: mit Gewürzen in der Höhlung... und mit
Butter... Es sind wahre Leckerbissen! Wie Sirup! Sie selbst ist ganz rot
geworden am Herdfeuer, um sie so golden zu braten. Sie sind gut für die Kehle,
bei Husten... Sie wärmen und heilen. Maria, sag du es ihm, wie gut sie meinem
Alphäus bekommen sind, als er krank war, aber er wollte sie von dir zubereitet
haben. Nun ja! Deine Hände sind heilig und bringen Heil! ... Gesegnet die
Speisen, die du bereitest! ... Mein Alphäus war viel ruhiger, nachdem er diese
Birnen gegessen hatte... sein Atem ging leichter... Mein armer Mann... !»
Maria ergreift die Gelegenheit des Wachrufens dieser Erinnerung, um endlich
weinen und hinausgehen zu können, um zu weinen.
386
Vielleicht ist es ein schlechter
Gedanke, aber ich vermute, daß ohne das Mitleid für die beiden Abreisenden an
diesem Abend seine Gattin keine Träne für den "armen Alphäus" vergossen
hätte...
Maria des Alphäus ist so traurig
über die Abreise von Johannes und Syntyche, von Jesus, Jakobus und Judas, daß
sie ihren Tränen freien Lauf lassen muß, um nicht zu ersticken.
Maria geht nun an ihrer Stelle zu
Syntyche, die Jesus gegenüber zwischen Simon und Matthäus sitzt, legt ihr eine
Hand auf die Schulter und sagt: «Mut, eßt nun! Wollt ihr fortgehen und mich
auch in der Sorge zurücklassen, daß ihr nüchtern weggegangen seid?»
«Ich habe gegessen, Mutter», sagt
Syntyche und erhebt das müde, von tagelangem Weinen gezeichnete Antlitz. Dann
senkt sie ihr Gesicht auf die Schulter, auf die Hand Marias, und reibt ihre
Wange an der kleinen Hand, um liebkost zu werden. Maria streichelt ihr mit der
anderen Hand über das Haar, und zieht das Haupt Syntyches an sich, die nun das
Gesicht an ihre Brust drückt.
«Iß, Johannes! Es wird dir
wirklich guttun. Du darfst dich nicht erkälten. Du, Simon des Jonas, wirst
dafür sorgen, daß er jeden Abend heiße Milch mit Honig oder wenigstens sehr
heißes Honigwasser bekommt. Denk daran!»
«Auch ich werde dafür sorgen,
Mutter, sei versichert», sagt Syntyche.
«Ich bin sicher, aber du wirst es
tun, wenn ihr in Antiochia angekommen seid und euch dort eingerichtet habt;
vorläufig wird sich Simon des Jonas darum kümmern. Vergiß nicht, Simon, ihm
viel Olivenöl zu geben. Dafür habe ich dir diesen kleinen Krug mitgegeben. Paß
auf, daß er nicht zerbricht. Wenn du siehst, daß Johannes schwer atmet, dann
nimm den Salbentopf und tue, was ich dir gesagt habe. Nimm genügend Salbe, um
ihm die ganze Brust, die Schultern und die Nierengegend damit einreiben zu
können, und mache sie zuvor so heiß als möglich, daß man sie, ohne sich zu
verbrennen, noch anfassen kann. Bedecke nach dem Einreiben die Stellen sofort
mit den Wolltüchern, die ich dir gegeben habe, denn ich habe sie für diesen
Zweck vorbereitet. Du, Syntyche, vergiß nicht die Zusammensetzung, damit du
eine neue herstellen kannst. Du wirst überall Lilien, Kampfer und Fingerhut,
sowie Harze, Nelken, Lorbeer, Wermut und was du sonst noch brauchst, finden.
Ich höre, daß Lazarus dort in Antigonea Kräutergärten besitzt.»
«Herrliche Gärten!» sagt der
Zelote, der sie schon gesehen hat, und fügt hinzu: «Ich rate zu nichts, aber
ich kann nur sagen, daß dieser Ort für Leib und Seele des Johannes noch
heilsamer sein müßte als Antiochia. Er liegt windgeschützt, und eine leichte
Luft steigt aus den duftenden Wäldern an den Hängen eines kleinen Hügels
empor. Dieser Hügel hält den Meerwind ab, doch nicht die wohltätigen Einflüsse
des Meersalzes. Der Ort ist ruhig, aber auch heiter mit seinen tausend Blüten
und
387
Vögeln, die dort in Frieden
leben. Ihr werdet selbst sehen, wie gut er euch bekommen wird. Syntyche ist
sehr vernünftig! In diesen Dingen überläßt man sich besser den Frauen, nicht
wahr?»
«Das stimmt, und ich vertraue
meinen Johannes wahrlich dem gesunden Menschenverstand und dem guten Herzen
Syntyches an», sagt Jesus.
«Ich auch», sagt Johannes von
Endor. «Ich ... ich... ich habe keine Kraft mehr... und... werde zu nichts
mehr taugen ...»
«Johannes, sag das nicht! Wenn
der Herbst die Bäume entlaubt, ist damit nicht gesagt, daß sie schon
abgestorben sind. Im Gegenteil, sie schaffen mit verborgener Energie, um den
Sieg des Hervorbringens neuer Früchte vorzubereiten. Das trifft auch für dich
zu. Nun hat dich der kalte Wind des Leides entlaubt. Doch in Wirklichkeit
bereitest du dich schon in deinem Innersten auf neue Ämter vor. Eben dieses
Leid wird für dich ein Ansporn zur Arbeit sein. Ich bin dessen sicher, und so
wirst du wiederum der sein, der mir armer Frau helfen wird, die ich noch so
viel zu lernen habe, um etwas für Jesus zu werden.»
«Oh, zu was soll ich noch fähig
sein?! Ich habe nichts mehr zu geben... Ich bin am Ende!»
«Nein, das darfst du nicht sagen!
Nur wer stirbt, kann sagen: "Ich bin menschlich am Ende." Sonst keiner.
Glaubst du, du hättest nichts mehr zu tun? Noch verbleibt dir zu tun, was du
mir eines Tages gesagt hast: das Opfer zu vollbringen, und wie willst du es
vollbringen, wenn nicht durch das Leiden? Johannes, es wäre töricht, dir, dem
Lehrer und Redner, Weise zu zitieren; aber erinnere dich an Georgias von
Leontina. Er lehrte, daß man nicht ohne Schmerzen und Leiden sühnen kann,
weder in diesem noch im anderen Leben.
Ich erinnere dich auch an unseren
großen Sokrates: "Einem uns Überlegenen nicht zu gehorchen, sei er Gott oder
Mensch, ist schlecht und schändlich!" Wenn es nun recht ist, einem von
ungerechten Menschen gefaßten Beschluß Folge zu leisten, wie empfehlenswert
muß es dann erst sein, die Anweisungen des heiligsten Menschen und unseres
Gottes zu befolgen! Gehorsam ist etwas an und für sich schon Großes. Etwas
überaus Großartiges ist es also, einen heiligen Befehl zu befolgen, von dem
ich sage und du mit mir sagen mußt, daß er eine große Barmherzigkeit ist. Du
sagst immer, daß dein Leben sich dem Ende zuneigt. Andererseits fühlst du, daß
du deine Schuld gegen die Gerechtigkeit noch nicht beglichen hast. Warum
erkennst du in diesem großen Schmerz nicht das Mittel, welches dir die
Gelegenheit gibt, in der kurzen Zeit, die dir noch bleibt, deine Schuld zu
tilgen? Großer Schmerz ist erforderlich, um großen Frieden zu erlangen! Glaube
mir, es lohnt sich, ihn durchzustehen. Das einzig Wichtige im Leben ist, vor
dem Sterben die Tugend erlangt zu haben.»
«Du ermutigst mich, Syntyche...
Mach es immer so!»
388
«Ich will es tun. Ich verspreche
es hier. Doch du mußt mir helfen, als Mensch und als Christ.»
Das Mahl ist beendet. Maria nimmt
die übriggebliebenen Birnen und legt sie auf einen Teller und gibt ihn
Andreas, der hinausgeht. Kurz darauf kommt er zurück und sagt: «Es regnet
immer stärker. Ich würde sagen, daß es besser ist...»
«Ja. Langes Warten vertieft den
Schmerz. Ich gehe sofort und spanne das Tier an den Wagen. Kommt auch ihr mit
den Kisten und den anderen Sachen. Auch du, Porphyria. Rasch! Du bist so
geduldig, daß der Esel ganz bezaubert ist (genau so sagt er) und sich ohne
auszuschlagen anschirren läßt. Nachher wird Andreas, der dir gleicht, dafür
sorgen. Los, alle hinaus!»
Petrus schickt alle aus dem Raum
und aus der Küche, mit Ausnahme von Maria, Jesus, Johannes von Endor und
Syntyche.
«Meister! Oh, Meister! Hilf mir!
Es ist die Stunde... da mir das Herz zu zerspringen droht! Es ist nun soweit!
Oh, warum, guter Jesus, hast du mich nicht hier sterben lassen, nachdem ich
schon den Schmerz meiner Verurteilung erlitten und mich bemüht habe, sie
anzunehmen?!»
Johannes wirft sich bitterlich
weinend an die Brust Jesu.
Jesus und Maria versuchen, ihn zu
beruhigen, und Maria, die immer so zurückhaltend ist, löst ihn von Jesus,
umarmt ihn und sagt: «Mein lieber Sohn, mein liebster Sohn!»
Syntyche kniet indessen zu Füßen
Jesu nieder und bittet: «Segne mich, weihe mich, auf daß ich gestärkt sei.
Herr, Erlöser und König, hier, in Gegenwart deiner Mutter, schwöre und gelobe
ich, deine Lehre zu befolgen und dir bis zum letzten Atemzug zu dienen. Ich
schwöre und gelobe, mich deiner Lehre und deinen Nachfolgern in der Lehre zu
widmen aus Liebe zu dir, Meister und Heiland! Ich schwöre und gelobe, daß mein
Leben keinen anderen Zweck haben wird und alles, was Welt und Fleisch ist, für
mich endgültig tot ist, während ich mit der Hilfe Gottes und den Gebeten
deiner Mutter den Dämon zu besiegen hoffe, damit er mich nicht zum Irrtum
verleite und ich in der Stunde deines Gerichtes nicht verurteilt werde. Ich
schwöre und gelobe, daß Anfechtungen und Drohungen mich nicht beugen werden
und ich nichts vergessen werde, sofern es Gott nicht anders gefällt. Doch ich
hoffe auf ihn und glaube an seine Güte und bin deshalb gewiß, daß er mich
nicht dunklen Kräften, die stärker sind als ich, überlassen wird. Weihe deine
Dienerin, o Herr, damit sie gegen die Anfechtungen aller Feinde gefeit sei.»
Jesus legt seine Handflächen auf
ihr Haupt, wie es die Priester tun, und betet.
Maria führt Johannes an die Seite
Syntyches und läßt ihn niederknien, indem sie sagt: «Auch diesen, mein Sohn,
damit er dir in Heiligkeit und Frieden diene.»
389
Jesus wiederholt die Geste auf
dem geneigten Haupt des armen Johannes. Dann hilft er ihm aufstehen und
fordert auch Syntyche auf, sich zu erheben, indem er ihre Hände in die Hände
Marias legt und sagt: «Sie soll die letzte sein, die euch hier liebkost»; und
er geht eilends hinaus, ich weiß nicht wohin.
«Mutter, lebe wohl! Ich werde
diese Tage nie vergessen», jammert Johannes.
«Auch ich werde dich nie
vergessen, mein teurer Sohn.»
«Ich auch, Mutter... Lebe wohl!
Laß mich dich noch einmal küssen... Oh! Nach so vielen Jahren habe ich mich an
mütterlichen Küssen sättigen können! ... Nun ist es vorbei...» Syntyche weint
in den Armen Marias, die sie küßt.
Johannes schluchzt ohne jeden
Rückhalt. Maria umarmt auch ihn und hält nun beide in den Armen als wahre
Mutter der Christen. Sie berührt mit ihren reinen Lippen die faltige Wange des
Johannes, ein keuscher aber liebevoller Kuß, und mit dem Kuß bleibt eine Träne
der Jungfrau auf der eingefallenen Wange hängen...
Petrus kommt herein: «Es ist
alles fertig. Auf jetzt... !» Mehr kann er nicht sagen, denn er ist gerührt.
Margziam, der seinem Vater
nachläuft, wie der Schatten dem Körper folgt, hängt sich an den Hals Syntyches
und küßt sie, dann umarmt er Johannes und küßt ihn, küßt ihn... Doch auch er
weint.
Sie gehen hinaus. Maria führt
Syntyche an der Hand, Margziam hält die Hand des Johannes.
«Unsere Mäntel...» sagt Syntyche
unter Tränen und will in den Raum zurückkehren.
«Sie sind hier, rasch, nehmt
sie...» Petrus spielt den Grobian, um nicht zu zeigen, wie gerührt er ist,
doch hinter dem Rücken der beiden, die sich in ihre Mäntel hüllen, wischt er
sich mit dem Handrücken die Tränen ab...
Dort, hinter der Hecke, bildet
die schaukelnde Lampe des Karrens einen gelben Fleck in der Dunkelheit... Der
Regen läßt das Laub der Ölbäume rauschen und klatscht auf das wassergefüllte
Becken... Eine Taube gurrt, aufgescheucht vom Schein der Laternen der Apostel,
die sie tief halten und mit den Mänteln vor dem Wind zu schützen suchen, um
die Wege voller Pfützen zu beleuchten...
Jesus steht schon vor dem Wagen,
über den eine Decke als Dach ausgespannt ist.
«Schnell, schnell, es regnet
stark», treibt Petrus sie an. Während Jakobus des Zebedäus Porphyria die Zügel
abnimmt, hebt Petrus ohne viele Umstände Syntyche hoch und setzt sie auf den
Wagen; mit noch größerer Eile packt er Johannes von Endor und setzt ihn
hinauf. Schließlich steigt er selbst auf den Wagen und versetzt dem armen Esel
sogleich einen so kräftigen Hieb, daß dieser mit einem Ruck losgaloppiert und
dabei Jakobus
390
fast umwirft. Petrus treibt ihn
weiter an, bis sie auf der Straße sind, die schon ein schönes Stück von den
Häusern entfernt ist... Ein letzter Abschiedsgruß folgt den Scheidenden, die
nun weinen ohne sich Zwang anzutun...
Außerhalb von Nazareth hält
Petrus den Esel an, um auf Jesus und die anderen zu warten, die sich beeilen,
im strömenden Regen das Gefährt zu erreichen.
Sie schlagen einen Feldweg ein,
um wieder auf die Nordseite der Stadt zu gelangen, ohne sie zu durchqueren.
Doch Nazareth liegt dunkel und schlafend unter dem kalten Regen der
Winternacht... und ich glaube, daß die auf das weiche Erdreich schlagenden
Hufe des Esels nicht einmal von denen, die wach in den Betten liegen, gehört
werden.
Die Gruppe setzt schweigend ihren
Weg fort. Nur das Schluchzen der beiden Jünger ist zu hören, vermischt mit dem
Geräusch, das der Regen auf dem Laub der Ölbäume erzeugt.
360. AUF DEM WEG NACH JIPHTAEL
Es muß die ganze Nacht geregnet
haben. Doch bei Tagesanbruch ist ein trockener Wind aufgekommen, der die
Wolken nach Süden, jenseits der Hügel von Nazareth, vertrieben hat. So
erscheint eine blasse Wintersonne, die mit ihren Strahlen auf jedem Blatt der
Ölbäume einen Diamanten entzündet. Doch es ist ein Festkleid, das die Bäume
bald verlieren, denn der Wind schüttelt es von den Zweigen, die aussehen, als
weinten sie Diamantsplitter, und diese verlieren sich dann im taufeuchten Gras
oder auf der holperigen Straße.
Petrus bereitet mit Hilfe von
Jakobus und Andreas den Karren und den Esel für die Weiterreise vor. Die
anderen sieht man noch nicht. Doch dann kommen sie, einer nach dem anderen,
anscheinend aus einer Küche, denn sie sagen zu den dreien, die draußen sind:
«Geht nun auch ihr etwas essen», und sie gehen hinein, um bald darauf mit
Jesus wiederzukommen.
«Ich habe wegen des Windes die
Decke wieder ausgespannt», erklärt Petrus. «Wenn du wirklich nach Jiphtael
gehen willst, wird uns der Wind ins Gesicht wehen... und beißen. Ich weiß
nicht, weshalb wir nicht den direkten Weg nach Sycaminon einschlagen und dann
den Seeweg nehmen... Er wäre länger, aber nicht so anstrengend. Hast du
gehört, was der Hirte gesagt hat, den ich geschickt ausgefragt habe? Er sagte:
"Jotapata ist während der Wintermonate verlassen. Es führt nur ein Weg
dorthin, und mit den Schafen erreicht man es nicht... Man darf nichts auf den
Schultern tragen, denn es gibt Stellen, an denen man mehr mit den Händen als
mit den Füßen vorwärtskommt, und die Schafe können nicht
391
schwimmen ... Man trifft auf zwei
Flüsse, die oft Hochwasser führen, und der Weg selbst ist ein Bach, der über
felsigen Grund fließt. Ich werde im Frühjahr nach dem Laubhüttenfest dorthin
gehen und gute Geschäfte machen, denn dann deckt man sich dort für Monate
ein." Das hat er gesagt... und wir... mit diesem Fahrzeug... (er gibt dem
Wagenrad einen Fußtritt)... und mit diesem Esel... hm ... !»
«Der direkte Weg von Sephoris
nach Sycaminon wäre angenehmer, jedoch sehr belebt... Denk daran, daß es
besser ist, wenn von Johannes keine Spuren zurückbleiben ...»
«Der Meister hat recht. Wir
könnten auch Isaak mit den Jüngern begegnen... und dann erst in Sycaminon...
!» sagt der Zelote.
«So laßt uns also aufbrechen ...»
«Ich will die beiden rufen...»
sagt Andreas.
Während er dies tut,
verabschiedet sich Jesus von einer Greisin und einem Knaben, die mit
Milcheimern aus einem Stall kommen. Es kommen auch bärtige Hirten herbei,
denen Jesus für die in der Nacht gewährte Gastfreundschaft dankt.
Johannes und Syntyche sind schon
auf dem Karren, der sich, von Petrus gelenkt, auf der Straße in Bewegung
setzt. Jesus, der zwischen dem Zeloten und Matthäus geht und dem Andreas,
Jakobus, Johannes und die beiden Söhne des Alphäus folgen, beschleunigt den
Schritt, um sie einzuholen.
Der Wind bläst ihnen ins Gesicht
und bläht die Mäntel auf. Die Decke, die über den Wagen gespannt ist, flattert
wie ein Segel, obgleich der Regen der Nacht sie schwer gemacht hat. «Das macht
nichts, sie wird bald wieder trocken sein», murmelt Petrus, indem er sie
betrachtet. «Wenn nur die Lungen dieses armen Mannes nicht vertrocknen! ...
Warte, Simon des Jonas... So macht man es!» Er hält den Esel an, nimmt seinen
Mantel ab, steigt auf den Wagen und hüllt Johannes fest hinein.
«Aber warum denn? Ich habe schon
den meinen...»
«Weil mir vom Ziehen des Esels so
heiß wird, wie wenn ich in einem Backofen wäre. Außerdem bin ich es gewöhnt,
fast nackt im Kahn zu stehen, besonders bei Gewittern. Die Kälte spornt mich
an und macht mich beweglich. Also, bleib schön zugedeckt! Maria hat mir in
Nazareth so oft wiederholt, daß ich auf dich achten soll, und wenn du krank
würdest, könnte ich ihr nicht mehr unter die Augen treten...»
Er steigt vom Wagen herab, nimmt
die Zügel und treibt den Esel zum Weitergehen an. Doch bald muß er seinen
Bruder und auch Jakobus rufen, damit sie dem Esel helfen, von einer
schlammigen Stelle wegzukommen, an der ein Rad eingesunken ist. Sie schieben
nun abwechselnd den Karren, um den Esel zu entlasten, der die starken Beine in
den Schlamm stemmt und anzieht; das arme Tier keucht vor Anstrengung und
schnuppert vor Naschhaftigkeit, weil Petrus es zum Weitergehen anspornt, indem
er ihm
392
Brot- und Apfelstücke vor die
Nase hält, die er ihm jedoch nur in den Ruhepausen gibt.
«Du bist ein Betrüger, Simon des
Jonas», sagt Matthäus scherzend, der das Manöver beobachtet.
«Nein. Ich gewöhne das Tier mit
Güte an seine Pflicht. Anderenfalls müßte ich die Peitsche benützen, und das
mag ich nicht tun. Ich schlage auch das Boot nicht, wenn es Launen hat, und es
ist nur aus Holz. Warum sollte ich diesen Esel schlagen, der aus Fleisch und
Blut besteht? Nun ist er meine Barke... er ist im Wasser... und wie! Deshalb
behandle ich ihn wie meine Barke. Ich bin nicht Doras, wißt ihr! Ich wollte
den Esel schon Doras nennen, bevor ich ihn gekauft habe, doch dann habe ich
seinen Namen gehört, er hat mir gefallen, und so habe ich ihn ihm gelassen
...»
«Wie heißt er denn?» fragen alle
neugierig.
«Ratet einmal!» Petrus lacht in
seinen Bart.
Es werden die verrücktesten Namen
genannt, und auch die der schlimmsten Pharisäer, Sadduzäer usw. Doch Petrus
schüttelt immer den Kopf. Sie geben sich geschlagen.
«Antonius heißt er! Ist das nicht
ein schöner Name? Dieser verfluchte Römer! Man sieht, daß der Grieche, der mir
den Esel verkauft hat, auch einen Zorn auf Antonius hatte!»
Alle lachen, während Johannes von
Endor erklärt: «Er muß einer von denen sein, die nach dem Tod Caesars
freigekauft worden sind. Ist er alt?»
«So um die siebzig... und er
scheint alle möglichen Berufe ausgeübt zu haben... Nun hat er in Tiberias eine
Herberge...»
Sie sind an der Kreuzung von
Sephoris angelangt, wo die Straßen von Nazareth nach Ptolemais, nach Sycaminon
und nach Jotapata beginnen. Der römische Grenzstein trägt diese drei
Aufschriften: Ptolemais, Sycaminon, Jotapata.
«Gehen wir nach Sephoris,
Meister?»
«Das ist unnütz, wir gehen direkt
nach Jiphtael, ohne anzuhalten, und werden unterwegs essen, denn wir müssen
vor dem Abend dort ankommen.»
Sie gehen und gehen, überqueren
zwei angeschwollene Bäche und erklimmen die ersten Hänge einer Hügelkette, die
sich von Süden nach Norden erstreckt, dann jedoch im Norden einen unförmigen
Knoten bildet und sich schließlich noch nach Osten verlängert.
«Dort liegt Jiphtael», sagt
Jesus.
«Ich kann nichts sehen», bemerkt
Petrus.
«Es liegt im Norden. Auf unserer
Seite sind steile Felsen, ebenso im Osten und im Westen.»
«Dann muß man also um das ganze
Gebirge herumgehen?»
«Nein. Dort, am Fuße des höchsten
Berges, ist eine Straße, die durch eine Schlucht führt. Es ist eine gute,
obschon etwas steile Abkürzung.»
393
«Warst du schon hier?»
«Nein, aber ich weiß es.»
Es ist wirklich ein steiler Weg.
Als sie dort ankommen, erschrecken sie. Es scheint, als wolle die Nacht
hereinbrechen, so stark vermindert sich das Licht in der Schlucht, die mich an
die Abgründe aus der "Göttlichen Komödie" erinnert, so grauenerregend und
abschüssig ist der Pfad in den Felsen gehauen, mit Stufen an besonders steilen
Stellen, uneben, schmal, verwildert und eingezwängt zwischen einem Wildbach
und einem wilden Steilhang.
Je höher sie kommen, desto mehr
nimmt das Licht zu, aber auch die Mühe des Esels, so daß sie schließlich alle
persönlichen Reisetaschen vom Wagen nehmen und auch Syntyche absteigt, damit
das Gefährt so leicht als möglich wird. Johannes von Endor, der nach einigen
Worten den Mund nur noch öffnet, um zu husten, möchte ebenfalls absteigen.
Doch sie erlauben es ihm nicht; und so bleibt er, wo er ist, während die
anderen Tier und Karren ziehen und schieben und bei jeder Unebenheit des
Geländes schwitzen. Doch niemand beklagt sich. Im Gegenteil, sie geben zu
verstehen, daß sie alle glücklich über diese körperliche Übung sind, um die
beiden, derentwegen sie sie machen, nicht zu betrüben; denn diese haben schon
mehrmals ihr Bedauern darüber ausgedrückt, daß sie so viel Mühe verursachen.
Die Straße macht einen rechten
Winkel, dann noch einen spitzen und endet in einer Stadt, die sich an einen so
steilen Abhang schmiegt, daß man, wie Johannes sagt, den Eindruck hat, sie
müsse mit ihren Häusern ins Tal rutschen.
«Aber die Häuser sind stabil,
vollkommen mit dem Felsen verwachsen.»
«Also wie in Ramot...» sagt
Syntyche, die sich daran erinnert.
«Mehr noch. Hier ist der Fels ein
Teil der Häuser, nicht nur ihr Fundament. Diese Stadt erinnert mehr an Gamala.
Erinnert ihr euch an Gamala?»
«Ja, und damit auch an die
Schweine...» sagt Andreas.
«Genau von dort sind wir nach
Tarichäa, zum Tabor und nach Endor aufgebrochen...» erinnert sich Simon der
Zelote.
«Ich bin dazu bestimmt, euch an
peinliche Dinge und große Mühen zu erinnern ...» seufzt Johannes von Endor.
«Aber nein! Du hast uns eine
treue Freundschaft geschenkt, nicht mehr und nicht weniger, Freund...» sagt
Judas des Alphäus mit Nachdruck, und alle stimmen ihm zu, zur Bekräftigung
seiner Worte.
«Und doch... bin ich nicht
geliebt worden... Niemand sagt es mir, aber ich kann beobachten und die
einzelnen Tatsachen zu einem Bild zusammensetzen. Diese Abreise... nein, sie
war nicht vorgesehen, und die Entscheidung ist nicht spontan getroffen
worden...»
«Warum sprichst du so,
Johannes?», fragt Jesus etwas betrübt.
394
«Weil es wahr ist. Man hat mich
nicht gewollt. Ich, und nicht die anderen, nicht einmal die großen Jünger sind
erwählt worden, um so weit fortzugehen.»
«Und Syntyche?» fragt Jakobus des
Alphäus, betrübt durch die Erkenntnis, die im Geist des Mannes von Endor
auftaucht.
«Syntyche habt ihr mitgenommen,
um mich nicht allein fortzuschicken... um mir barmherzigerweise die Wahrheit
zu verschleiern.»
«Nein, Johannes.»
«Ja, Meister, und weißt du, ich
könnte dir auch den Namen meines Peinigers nennen. Weißt du, wo ich ihn lese?
Es genügt mir, diese acht Guten zu betrachten, um seinen Namen zu lesen. Indem
ich an die Abwesenheit der anderen denke, erkenne ich ihn. Der, dessentwegen
du mich gefunden hast, ist derselbe, der mich auch zu Beelzebub schicken
möchte. Er hat diese Stunde für mich herbeigeführt – und auch für dich,
Meister, denn auch du leidest mit mir und vielleicht noch mehr als ich; er hat
diese Stunde herbeigeführt, um mich in die Verzweiflung und in den Haß
zurückzustoßen, denn er ist böse, er ist grausam, eifersüchtig und anderes
mehr. Es ist Judas von Kerioth, die schwarze Seele unter deinen Dienern, die
ganz Licht sind ...»
«Sprich nicht so, Johannes! Nicht
nur er fehlt. Alle waren abwesend während des Lichterfestes, mit Ausnahme des
Zeloten, der keine Familie hat. In dieser Jahreszeit kann man von Kerioth
nicht so leicht nach Nazareth kommen. Es sind fast zweihundert Meilen Weges.
Es war recht, daß er die Mutter besuchte, wie Thomas. Auch Nathanael habe ich
geschont, weil er alt ist, und mit ihm Philippus, damit er Nathanael
Gesellschaft leistet...»
«Ja, die drei anderen sind auch
nicht hier... Oh, guter Jesus, du kennst die Herzen, weil du der Heilige bist.
Aber nicht nur du kennst sie! Auch die Bösen erkennen die Bösen, weil sie sich
in ihnen wiedererkennen. Ich war böse, und ich habe mich in meinen
schlechtesten Eigenschaften in Judas wiedererkannt. Doch ich verzeihe ihm! Aus
einem einzigen Grund verzeihe ich ihm, daß ich fortgeschickt werde, um in der
Ferne zu sterben: weil ich durch ihn zu dir gekommen bin. Gott möge ihm das
übrige verzeihen... alles andere!»
Jesus widerspricht ihm nicht...
Er schweigt. Die Apostel schauen einander an, während sie mit der ganzen Kraft
ihrer Arme den Karren auf dem glitschigen Weg aufwärtsschieben.
Der Abend ist nahe, als sie die
Stadt erreichen, wo sie als Unbekannte unter Unbekannten Unterkunft in einer
Herberge am südlichen Rand der Ortschaft suchen. Sie liegt an einer steilen
Felswand über einem tiefen Abgrund, und es wird einem schwindlig, wenn man
hinunterschaut. In der Tiefe nichts als friedlicher Schatten und das Rauschen
eines Sturzbaches.
395
361. DER ABSCHIED JESU VON DEN
ZWEI JÜNGERN
Auf derselben Straße – der
einzigen übrigens in diesem Dorf, das einem Adlernest auf dem einsamen Gipfel
eines Berges gleicht – setzen sie am anderen Tag ihre Reise fort, verfolgt von
regnerischem und kaltem Wetter, das das Vorwärtskommen erschwert. Selbst
Johannes von Endor muß den Karren verlassen, denn der Abstieg ist noch
gefährlicher als der Anstieg, und wenn der Esel auch einen sicheren Schritt
hat, so treibt die Wagenlast ihn doch vorwärts, so daß das arme Tier sich in
einer mißlichen Lage befindet.
Übel daran sind auch die Lenker
des Fahrzeugs. Sie schwitzen heute nicht beim Schieben, sondern beim
Zurückhalten des Karrens, der leicht abgleiten und Unglück verursachen oder
zumindest seine Ladung verlieren könnte.
Die Straße ist erschreckend bis
auf etwa einen Drittel ihrer Länge, dem letzten talabwärts. Dann wird sie
weniger gefährlich, bis sie sich teilt. Sie verweilen etwas, um auszuruhen,
und trocknen sich den Schweiß ab; Petrus belohnt den Esel, der vor Angst
zittert, schnaubend mit den Ohren wackelt und sicher in tiefe Betrachtung
versunken ist über die schmerzliche Lage der Esel und über die Launen der
Menschen, die solche Straßen wählen. Simon des Jonas schreibt den sinnenden
Ausdruck des Tieres diesen Betrachtungen zu, und um seine Stimmung zu heben,
hängt er ihm einen Sack voll Pferdebohnen um den Hals. Während der Esel gierig
die harten Bohnen kaut, essen die Menschen Brot und Käse und trinken Milch aus
ihren Flaschen.
Die Mahlzeit ist beendet, doch
Petrus will noch seinen «Antonius tränken, der größere Ehren verdient als
Caesar», wie er sagt, und geht mit einem Eimer, den er vom Wagen nimmt, an
einen dem Meer zustrebenden Bach.
«Nun können wir gehen... und
vielleicht einen kleinen Trab versuchen, denn ich nehme an, daß hinter diesem
Hügel alles eben ist... Wir Menschen können zwar nicht traben, aber schneller
gehen können wir. Auf, Johannes, und du, Frau, steigt auf den Wagen und laßt
uns aufbrechen.»
«Auch ich werde aufsteigen,
Simon, und den Wagen lenken. Ihr folgt uns alle nach», sagt Jesus sofort,
nachdem die beiden aufgestiegen sind.
«Warum? Fühlst du dich nicht
wohl? Du bist so bleich...»
«Nein, Simon. Ich möchte nur
allein mit ihnen reden...» und er weist auf die beiden, die ebenfalls blaß
geworden sind, weil sie ahnen, daß der Augenblick des Abschieds gekommen ist.
«Ah! Gut. Steige nur auf, wir
werden dir folgen.»
Jesus setzt sich auf das Brett,
das als Sitz für den Lenker dient, und sagt: «Komm an meine Seite, Johannes,
auch du, Syntyche, komm näher...»
396
Johannes setzt sich zur Linken
des Herrn, Syntyche zu seinen Füßen, fast auf den Rand des Wagens, mit dem
Rücken zur Straße, das Gesicht Jesus zugewandt. Auf den Fersen sitzend, die
Hände im Schoß gefaltet, damit sie nicht zittern, das Gesicht bleich, die
herrlichen violettschwarzen Augen wie verschleiert vom vielen Weinen, unter
dem Schatten des tief herabgezogenen Schleiers und des Mantels gleicht sie
einer untröstlichen Pieta.
Johannes erst! ... Ich glaube,
selbst wenn am Ende der Straße ein Galgen auf ihn warten würde, hätte er ein
weniger schmerzverzerrtes Gesicht.
Der Esel geht im Schritt, so
gehorsam und verständig, daß Jesus nicht sehr auf ihn aufpassen muß. Jesus
nützt die Gelegenheit, um die Zügel loszulassen, die Hand des Johannes zu
ergreifen und die andere auf das Haupt der Syntyche zu legen.
«Meine Kinder. Ich danke euch für
alle Freuden, die ihr mir geschenkt habt. Es war für mich ein mit Blumen der
Freude geschmücktes Jahr, denn ich habe eure Seelen pflücken und betrachten
können, um die Häßlichkeit der Welt zu verdecken; um die von der Sünde der
Welt verdorbene Luft mit ihrem Wohlgeruch zu erfüllen; um mich mit Wonne zu
erfüllen und mich in der Hoffnung zu bestärken, daß meine Sendung nicht
umsonst sei. Margziam, du, mein Johannes, Ermastheus, du, Syntyche, Maria des
Lazarus, Alexander Misaze und noch andere... Die Siegesblumen des Erlösers,
die mir nur jene redlichen Herzens nachfühlen können... Warum schüttelst du
das Haupt, Johannes?»
«Weil du gut bist und mich zu
denen, die redlichen Herzens sind, zählst. Doch meine Sünde ist immer in
meinem Gedächtnis gegenwärtig ...»
«Deine Sünde ist die Frucht eines
Fleisches, das von zwei Übeltätern aufgestachelt wurde. Die Rechtschaffenheit
deines Herzens ist die Grundlage deines ehrlichen Ichs, das nur nach
Gerechtigkeit verlangt, aber ins Unglück geraten ist, weil die Gerechtigkeit
dir durch den Tod oder die Bosheit genommen wurde. Doch blieb sie unter der
Last der großen Schmerzen stets lebendig. Es genügte, daß die Stimme der
Erlösers in die Tiefe drang, wo dein Ich krank darniederlag, damit du wieder
auf die Füße sprangst und jede Last abschütteltest, um zu mir zu kommen. Ist
es nicht so? Also bist du ein im Herzen Gerechter. Viel, viel gerechter als
andere, die deine Sünde nicht haben, dafür aber viel schlimmere, die sich
dessen bewußt sind und hartnäckig dabei bleiben.
Seid daher gesegnet, ihr Blumen
meines Triumphes als Erlöser. In dieser verstockten und feindlichen Welt, die
den Erlöser mit Bitterkeit und Abscheu erfüllt, habt ihr die Liebe vertreten.
Ich danke euch! In den schwersten Stunden, die ich in diesem Jahr erlebt habe,
habt ihr mir Trost und Stärkung gegeben. In den noch leidvolleren, die ich
haben werde, werde ich noch mehr an euch denken. Bis zum Tod! Mit mir werdet
ihr in der Ewigkeit sein, ich verspreche es euch.
397
Ich vertraue euch meine teuersten
Anliegen an, nämlich die Wegbereitung meiner Kirche in Kleinasien, dort, wo
ich nicht hingehen kann, weil Palästina der Ort meiner Mission ist, auch weil
der im Alten befangene Geist der Großen Israels mir mit allen Mitteln Schaden
zufügen würde, wenn ich anderswo hinginge. So möchte ich noch andere wie
Johannes und Syntyche für andere Länder haben, damit meine Apostel das
Erdreich gepflügt vorfinden, wenn die Stunde gekommen ist, den Samen
auszustreuen.
Seid sanft und geduldig und
gleichzeitig stark, um durchzudringen und zu ertragen. Ihr werdet
Verstocktheit und Spott antreffen. Seid deswegen nicht betrübt. Denkt: "Wir
essen das gleiche Brot und trinken den gleichen Kelch wie unser Jesus." Ihr
seid nicht mehr als euer Meister und könnt nicht verlangen, ein besseres Los
zu haben. Das beste Los ist dieses: zu teilen, was des Meisters ist.
Ich gebe nur eine Weisung: Seid
nicht traurig und sucht auch nicht nach einer Erklärung für diese Entfernung,
die kein Exil ist, wie Johannes es vermutet, sondern euch im Gegenteil vor
allen anderen an die Schwelle des Vaterlandes führt, als Diener, die besser
unterrichtet sind als alle anderen. Der Himmel hat sich über euch gesenkt wie
ein mütterlicher Schleier, und der König der Himmel nimmt euch schon in seinen
Schoß auf; er beschützt euch unter seinen Flügeln des Lichtes und der Liebe
wie Erstgeborene der zahllosen Schar der Diener Gottes, des Wortes Gottes, das
euch im Namen des Vaters und des ewigen Geistes jetzt und immer segnet.
Betet für mich, den Menschensohn,
der all seinen Qualen als Erlöser entgegengeht. Oh! Wahrlich, meinem
Menschsein steht bevor, von allen bitteren Erkenntnissen gequält zu werden!
... Betet für mich. Ich werde eure Gebete brauchen... Sie werden Liebkosungen
für mich sein... Ausdruck der Liebe... Sie werden mir eine Hilfe sein, damit
ich nicht sagen muß: "Die ganze Menschheit ist von Satan in Besitz genommen!"
Leb wohl, Johannes. Wir wollen
uns den Abschiedskuß geben... Weine nicht so... Selbst wenn es mich große
Opfer gekostet hätte, hätte ich dich bei mir behalten, wenn ich nicht sehen
müßte, wieviel Gutes diese Trennung für dich und mich bewirkt. Ewiges Gut...
Leb wohl, Syntyche. Ja, küsse
meine Hände und denk daran, daß wenn die Verschiedenheit der Geschlechter mich
auch daran hindert, dich wie eine Schwester zu küssen, so gebe ich doch deiner
Seele meinen Kuß als Bruder...
Erwartet mich mit eurer Seele,
ich werde kommen. Ich bin bei euch, in euren Mühen und in euren Seelen. Ja,
wenn auch die Liebe zum Menschen meine göttliche Natur in sterbliches Fleisch
gehüllt hat, so kann es doch ihrer Freiheit keine Grenzen setzen. Ich bin als
Gott frei, zu dem zu gehen, der es verdient, daß Gott mit ihm ist. Lebt wohl,
meine Kinder, der Herr ist mit euch...»
398
Er reißt sich los aus der
verzweifelten Umarmung des Johannes, der ihn an den Schultern festhält, und
von Syntyche, die sich an seine Knie klammert, steigt vom Wagen, grüßt die
Apostel mit einem Zeichen der Hand und eilt davon wie ein verfolgter Hirsch
auf der Straße, auf der sie gekommen sind...
Der Esel ist stehengeblieben, da
er gemerkt hat, daß die Zügel, die zuvor auf den Knien Jesu lagen, zu Boden
gefallen sind. Überrascht stehengeblieben sind auch die acht Apostel, die dem
Meister nachschauen, der sich immer weiter entfernt.
«Er hat geweint...» flüstert
Johannes.
«Er war bleich wie der Tod...»
murmelt Jakobus des Alphäus.
«Nicht einmal seine Tasche hat er
mitgenommen... Sie liegt dort auf dem Wagen ...» bemerkt der andere Jakobus.
«Was wird er jetzt tun?» fragt
Matthäus.
Judas des Alphäus bietet die
ganze Kraft seiner mächtigen Stimme auf und ruft: «Jesus, Jesus! Jesus... !»
Das Echo der Hügel antwortet von fern: «Jesus, Jesus, Jesus... !» Doch eine
Wegbiegung verbirgt im Grün ihrer Bäume den Meister, ohne daß dieser sich noch
einmal umwendet, um zu sehen, wer ihn ruft...
«Er ist gegangen... Es bleibt uns
nichts anderes übrig, als auch zu gehen...» sagt Petrus traurig, indem er den
Wagen besteigt und die Zügel ergreift, um den Esel anzutreiben.
Der Wagen setzt sich schaukelnd
in Bewegung, begleitet vom rhythmischen Trab der beschlagenen Hufe und dem
schmerzlichen Weinen der beiden Verlassenen, die hinten im Wagen seufzen: «Wir
werden ihn nie wiedersehen, nie wieder, nie wieder...»
362. SCHMERZ, GEBET UND BUSSE
JESU
Jesus befindet sich wieder am
Fuße des Bergmassivs, auf dem Jiphtael liegt. Doch nicht auf der Hauptstraße
(wenn wir sie so nennen wollen) oder dem Saumpfad, den er zuvor mit dem Wagen
genommen hat, sondern auf einem Pfad für Steinböcke; so abschüssig, steinig
und zerklüftet ist dieser Weg, der an den Berg geklebt oder besser gesagt in
die steile Bergwand eingeschnitten ist, wie wenn eine riesige Kralle
darübergefahren wäre. An seinem Rand geht es hinunter in eine fürchterliche
Schlucht, in deren Tiefe ein reißender Gießbach schäumt. Hier einen Fehltritt
zu machen, würde bedeuten, rettungslos in die Tiefe zu stürzen, von Dornbusch
zu Dornbusch und anderen wilden Gewächsen, die nicht senkrecht, sondern
waagrecht aus den Felsspalten wachsen, da es ihr Standort nicht anders zuläßt.
Ein Fehltritt würde bedeuten, von all den dornigen Zweigen
399
dieser Pflanzen zerrissen zu
werden oder sich die Rippen zu brechen beim Aufprall auf die harten
Baumstrünke, die über dem Abgrund hängen. Ein Fehltritt würde bedeuten, von
den scharfen Steinspitzen zerfleischt zu werden, die aus der Felswand der
Schlucht herausragen. Ein Fehltritt würde bedeuten, blutend und zerschmettert
in das schäumende Wasser des reißenden Gießbaches zu fallen und zu ertrinken,
auf spitzen Felssplittern liegend und von den wilden Wellen geschlagen.
Doch benützt Jesus gerade diesen
Pfad, diesen Kratzer im Felsen, der noch gefährlicher wird durch die
Feuchtigkeit, die dampfend vom Gießbach aufsteigt, von der überhängenden
Felswand herabrinnt und von den Bäumen tropft, die auf dieser vorstehenden,
leicht nach innen gewölbten Felswand wachsen. Ich will mich bemühen, Ihnen
(dem Seelenführer) diesen höllischen Ort zu skizzieren.
Jesus geht langsam, vorsichtig,
überlegt jeden Schritt auf den spitzen Steinen, von denen einige sich
losgelöst haben, und ist manchmal gezwungen, sich an die Wand zu pressen, wenn
sich der Weg stark verengt, und um gefährliche Stellen zu überwinden, muß er
sich an den Ästen festhalten, die von der Felswand herabhängen. Er geht so um
die Westseite herum und gelangt zur Südseite, gerade zu der Stelle, wo der
Berg, nach einem senkrechten Abfall vom Gipfel, eine Höhlung bildet, so daß
der Weg breiter wird, wenngleich er auch an Höhe verliert. Jesus muß an
manchen Stellen mit geneigtem Haupt gehen.
Vielleicht hat er die Absicht,
hier anzuhalten, wo der Pfad wie nach einem Steinschlag plötzlich aufhört.
Doch nachdem er den Ort genauer betrachtet hat, sieht er, daß sich unter dem
Felsvorsprung eine Höhle befindet, mehr ein Felsspalt als eine Höhle, und läßt
sich auf dem Geröll hinab. Er geht hinein. Am Anfang ist es ein Spalt, doch im
Innern wird es eine geräumige Grotte, als ob der Berg vor langer Zeit, aus ich
weiß nicht welchem Grund, mit Pickeln ausgehauen worden wäre. Man kann
deutlich erkennen, wo die natürlichen Einbuchtungen des Felsens von
Menschenhand erweitert worden sind, und zwar so, daß sich dem Eingang
gegenüber ein Gang öffnet, an dessen Ende Lichtschein eindringt und ferne
Büsche zu sehen sind; offensichtlich zieht sich der Gang also durch den Sporn
des Berges von Süden nach Osten.
Jesus zwängt sich durch diesen
halbdunklen, engen Stollen und erreicht den Ausgang, der oberhalb der Straße
liegt, die er mit den Aposteln und dem Karren genommen hat, um nach Jiphtael
zu gelangen.
Die Berge, die den See von
Galiläa umgeben, liegen vor ihm, jenseits des Tales, und in Richtung Nordosten
glänzt der große Hermon in seinem Gewand aus Schnee. Eine uralte Treppe ist an
dieser Seite des Berges, die nicht so steil abfällt, ausgehauen worden, und
diese Stufen führen zum Saumpfad im Tal und zur Höhe, auf der Jiphtael liegt.
Jesus freut sich über seine
Entdeckung. Er kehrt in die geräumige Höhle
400
zurück und sucht nach einem
geschützten Platz, wo er trockenes Laub, das der Wind angeweht hat, aufhäuft.
Ein armseliges Lager, ein Schleier trockenen Laubes zwischen seinem Körper und
dem nackten, eiskalten Erdboden... Er läßt sich darauf nieder und bleibt
reglos liegen, die Hände unter dem Haupt, die Augen zur felsigen Decke
gerichtet, gedankenverloren, ich möchte sagen, erschöpft, wie einer, der eine
Anstrengung oder einen Schmerz, die seine Kräfte übersteigen, hinter sich hat.
Dann beginnen langsam und lautlos Tränen aus seinen Augen zu quellen. Sie
rollen an beiden Seiten des Gesichtes herab, verlieren sich bei den Ohren in
den Haaren und enden gewiß im dürren Laub...
Lange weint er so, schweigend und
regungslos... Dann setzt er sich auf und, das Haupt zwischen den Knien, die er
mit beiden Armen umfangen hat, ruft er mit seiner ganzen Seele nach der fernen
Mutter: «Mutter! Mutter! Meine Mutter! Meine ewige Wonne! Oh, Mutter! Oh,
Mutter, wie gerne hätte ich dich jetzt in meiner Nähe! Warum habe ich dich
nicht immer bei mir, dich, den mir von Gott gesandten einzigen Trost?»
Nur die Höhle antwortet mit einem
leisen Echo auf seine Worte, auf sein Schluchzen, und es scheint, als weine
und schluchze auch sie in ihren Winkeln, ihren Felsbrocken und den wenigen und
noch kleinen Tropfsteinen, die in der Ecke, die die unterirdischen Gewässer
wohl am stärksten benetzen, herabhängen.
Jesus beruhigt sich etwas, als ob
das Rufen nach der Mutter ihn schon getröstet hätte, und sein Weinen wird
langsam zu einem Selbstgespräch.
«Sie sind fortgegangen...
Weshalb? Wegen wem? Warum habe ich ihnen diesen Schmerz zufügen müssen? Warum
mir selbst, da doch die Welt mir schon den Tag mit Schmerz erfüllt? ...
Judas!»
Wer weiß, wohin nun die Gedanken
Jesu gehen, der das Haupt von den Knien erhebt und vor sich hinschaut mit weit
geöffneten Augen und angespanntem Gesicht, wie jemand, der in Schauungen
künftiger Ereignisse oder tiefe Betrachtung versunken ist. Er weint nicht
mehr, leidet jedoch sichtlich. Dann scheint er einem unsichtbaren Fragesteller
zu antworten und steht auf.
«Ich bin Mensch, Vater. Ich bin
der Mensch. Die Tugend der Freundschaft ist in mir verwundet und zerrissen,
sie krümmt sich und klagt schmerzerfüllt...
Ich weiß, daß ich alles erleiden
muß. Ich weiß es. Als Gott weiß ich es, und als Gott will ich es auch, zum
Heil der Welt. Auch als Mensch weiß ich es, denn mein göttlicher Geist teilt
es meiner Menschlichkeit mit, und auch als Mensch will ich es, zum Heil der
Welt. Doch welch ein Schmerz, o mein Vater!
Diese Stunde ist viel leidvoller
als jene, die ich mit meinem und deinem Geist in der Wüste erlebt habe... Die
jetzige Versuchung, dieses abstoßende und quälende Wesen, das den Namen Judas
trägt, nicht mehr an meiner
401
Seite zu dulden und zu ertragen,
ist viel stärker. Er ist die Ursache so vieler Schmerzen, die mich tränken und
durchdringen und die Seelen quälen, denen ich den Frieden geschenkt habe.
Vater, ich fühle es. Du wirst
immer strenger mit deinem Sohn, je mehr ich mich dieser meiner Sühne für das
Menschengeschlecht nähere. Deine Güte wendet sich immer mehr von mir ab, und
dein strenges Antlitz erscheint meinem Geist, der immer tiefer in den Abgrund
gestoßen wird, in dem die Menschheit, durch deine Strafe geschlagen, seit
Jahrtausenden seufzt.
Es war mir süß zu leiden, und süß
war der Weg zu Beginn meines Lebens, süß auch, als ich vom Sohn des
Zimmermanns zum Lehrer der Welt wurde, mich von der Mutter losriß, um dich,
den Vater, dem gefallenen Menschen zurückzugeben. Im Vergleich zur heutigen
Stunde war der Kampf mit dem Feind bei der Versuchung in der Wüste noch
leicht. Ich habe mich ihm gestellt mit der Kühnheit eines Helden, der auf alle
seine Kräfte zählen kann... Oh, mein Vater! ... Wie sind jetzt meine Kräfte
geschwächt von der Lieblosigkeit und der Kenntnis vieler, allzu vieler
Dinge...
Ich wußte, daß Satan, nachdem er
mich versucht hatte, mich verlassen würde, und er verschwand. Die Engel kamen,
um deinen Sohn zu trösten, da er Mensch und als solcher der Versuchung Satans
ausgesetzt war.
Doch jetzt wird die Versuchung
kein Ende nehmen, nach dieser Stunde, in der der Freund leidet wegen der
Freunde, die weit weggeschickt worden sind, und wegen des verräterischen
Freundes, der ihm in der Nähe und in der Ferne schadet. Sie wird kein Ende
haben. Deine Engel werden nicht kommen, um mich in dieser Stunde und nach
dieser Stunde zu trösten.
Doch die Welt wird kommen. Mit
all ihrem Haß, ihrem Spott, ihrer Verständnislosigkeit. Er wird kommen, immer
näher, quälender und gemeiner, der Verräter, der Meineidige, der sich an Satan
verkauft hat, o Vater... !»
Es ist wirklich ein
herzzerreißender Aufschrei, ein angstvoller Flehruf, und Jesus wird so
unruhig, daß er mich an Gethsemane erinnert.
«Vater! Ich weiß es. Ich kann ihn
sehen... Während ich hier leide und leiden werde, während ich meine Leiden für
seine Bekehrung aufopfere und für alle, die mir aus den Armen gerissen wurden
und nun mit verwundetem Herzen ihrem Schicksal entgegengehen, verkauft er
sich, um größer zu werden als ich, der Menschensohn!
Nicht wahr, ich bin der
Menschensohn? Ja! Aber ich bin ja nicht der einzige. Das ganze
Menschengeschlecht ist da, die fruchtbare Eva hat ihre Kinder zur Welt
gebracht, und wenn ich Abel, der Unschuldige, bin, so fehlt auch Kain nicht in
der Nachkommenschaft der Menschheit. Wenn ich der Erstgeborene bin, so wie die
Menschenkinder es in deinen Augen sein sollten, ohne Makel, so ist er, der in
Sünde Geborene, der Schlimmste
402
von denen, die so geworden sind,
wie sie sind, nachdem sie in die vergiftete Frucht gebissen haben.
Noch nicht zufrieden damit, die
abstoßenden und gotteslästerlichen Triebe der Lüge, der Lieblosigkeit, des
Blutdurstes, der Geldgier, des Stolzes und der Unzucht in sich herumzutragen,
hat er sich mit Satan verbündet; dieser Mensch, der ein Engel hätte werden
können, wird zum Dämon... "Luzifer wollte Gott gleich sein, und daher wurde er
aus dem Paradies vertrieben und wohnt, in einen Dämon verwandelt, in der
Hölle."
Aber Vater! Oh, mein Vater! Ich
liebe ihn... ich liebe ihn noch. Er ist ein Mensch... Einer von denen,
derentwegen ich dich verlassen habe... Um meiner Verdemütigung willen rette
ihn... Allerhöchster Herr, gewähre mir, ihn zu erlösen. Diese Buße möge mehr
für ihn als für die anderen bestimmt sein! Oh, ich weiß, wie unangebracht es
ist, darum zu bitten, ich, der ich alles weiß! ... Doch, mein Vater, schaue
nur einen Augenblick nicht auf mich als dein Wort, betrachte nur meine
Menschlichkeit des Gerechten... und laß mich nur für einen Augenblick "der
Mensch" in deiner Gnade sein, ein Mensch, der die Zukunft nicht kennt und sich
täuschen kann... ein Mensch, der das unvermeidliche Schicksal nicht kennt und
deshalb mit absoluter Hoffnung beten kann, um dir das Wunder zu entreißen.
Ein Wunder! Ein Wunder für Jesus
von Nazareth, für Jesus der Maria von Nazareth, der von uns ewig Geliebten!
Ein Wunder, das die Vorherbestimmung außer Kraft setzt und sie nichtig macht!
Die Rettung des Judas! Er hat an meiner Seite gelebt, hat meine Worte in sich
aufgenommen, die Nahrung mit mir geteilt und an meiner Brust geruht... Nicht
er, nicht er sei mein Satan! ...
Ich bitte dich nicht darum, nicht
verraten zu werden... Dies muß sein und wird sein... denn durch meinen
Schmerz, verraten zu werden, mögen alle Lügen vergeben werden, durch meinen
Schmerz, verkauft worden zu sein, möge alle Habgier gesühnt und ausgelöscht
werden, durch meinen Schmerz als Verfluchter mögen alle Gotteslästerungen
wiedergutgemacht werden, dafür, daß man nicht an mich glaubt und nicht glauben
wird, möge den Glaubenslosen der Glaube geschenkt werden, und durch meine Qual
mögen die Menschen von allen Sünden des Fleisches gereinigt werden. Aber ich
bitte dich: nicht er, nicht er, Judas, mein Freund und mein Apostel!
Ich wollte, daß niemand mein
Verräter wäre... Niemand! ... Nicht einmal der Entfernteste in den
nördlichsten eisigen Zonen oder im Feuer der heißesten Gegenden... Ich wollte,
daß der Opfernde du allein seist... wie du es schon andere Male gewesen bist,
als du mit deinem Feuer die Brandopfer entzündet hast. Da ich jedoch durch
Menschenhand sterben muß, durch die Henkershand eines verräterischen Freundes,
des Schamlosen, der die Fäulnis Satans in sich hat und schon danach trachtet,
mir an
403
Macht gleich zu sein – so denkt
er in Hochmut und Unzucht – da ich durch Menschenhand sterben muß; Vater,
gewähre, daß nicht er es sei, den ich Freund genannt und als solchen geliebt
habe.
Vermehre, Vater, meine Qualen,
aber gib mir die Seele des Judas. Ich lege diese Bitte auf den Altar meiner
selbst als Sühneopfer... Vater, nimm sie an! ...
Der Himmel ist verschlossen und
stumm! ... Ist also dies der Schrecken, den ich bis zum Tod ertragen muß?
Der Himmel ist stumm und
verschlossen! ... Wird dies also das Schweigen und der Kerker sein, in dem ich
meinen Geist aushauchen werde?
Der Himmel ist stumm und
verschlossen! ... Wird dies also die größte Pein des Märtyrers sein? ...
Vater, dein Wille geschehe, nicht
mein Wille... Doch um meiner Leiden willen, oh, wenigstens dies! Um meiner
Leiden willen gib Frieden und Hoffnung dem anderen Märtyrer des Judas,
Johannes von Endor! Mein Vater... er ist wahrlich besser als viele andere. Er
ist einen Weg gegangen, den wenige gehen und gehen werden können. Für ihn ist
die Erlösung schon vollzogen. Verleihe ihm daher deinen vollkommenen Frieden,
damit ich ihn einst bei mir in meiner Herrlichkeit habe, wenn auch für mich
alles erfüllt sein wird zu deiner Ehre und im Gehorsam gegen dich... Mein
Vater... !»
Jesus ist allmählich auf die Knie
gesunken und weint, das Gesicht am Boden.
Er betet, während das Licht des
kurzen Wintertages in der dunklen Höhle rasch abnimmt und das Rauschen des
Gießbaches scheinbar um so lauter wird, je länger die Schatten im Tal
werden...
363. DER AUFBRUCH VON PTOLEMAIS
UND DIE FAHRT NACH TYRUS
Die Stadt Ptolemais scheint von
einem tiefen, bleiernen Himmel erdrückt zu werden, auf dem kein einziger
blauer Fleck eine Abwechslung in der dunklen Eintönigkeit bildet. Nein, keine
einzelne Wolke, weder ein Federwölkchen noch eine Gewitterwolke, an der
geschlossenen Decke des Firmaments, sondern ein einziges schweres Gewölbe, wie
ein Deckel, der gerade auf einen Topf gestülpt wird. Ein riesiger Deckel aus
schmutzigem Zinn, rußig, düster und bedrückend. Die weißen Häuser der Stadt
scheinen aus Kreide, roher grauer Kreide, in diesem Licht, farblos und trüb
das Blattwerk der immergrünen Gewächse, gespensterhaft die Gesichter der
Menschen und matt die Farben der Gewänder. Die Stadt erstickt im erdrückenden
Schirokko.
404
Das Meer ist, wie der Himmel, ein
Ausdruck des Todes. Ein endloses, unbewegliches, verlassenes Meer, das aber
nicht bleiern ist. Nein, es ist eine grenzenlose und, ich möchte fast sagen,
faltenlose Fläche, eine ölige Masse, grau wie es die Erdöltümpel sein müssen,
oder besser, wenn es dies gäbe, ein Silbersee, dessen Wasser mit Ruß und Asche
vermischt ist und der den typischen Glanz von Quarzsplittern hat, aber dennoch
nicht schimmert, so leblos und matt ist er. Den Glanz bemerkt man erst durch
das Mißbehagen, welches das geblendete Auge empfindet, durch das Zittern
schwärzlicher Perlmutterfarbe, die ermüdet, ohne zu erfreuen. Soweit das Auge
reicht, keine Welle. Der Blick schweift bis zum Horizont, wo das tote Meer den
toten Himmel berührt, ohne eine Wellenbewegung zu sehen, doch man erkennt, daß
das Wasser nicht erstarrt ist, denn an der Oberfläche sind kaum merkliche
Strömungen wahrzunehmen, die das schmutzige Schimmern bewirken. So tot ist
alles, daß die Wasser am Ufer still sind wie in einem Becken, ohne die
geringste Andeutung von Flut oder Brandung. Der Sand ist genau auf einen Meter
landeinwärts feucht und läßt darauf schließen, daß seit Stunden keine Wellen
mehr ans Ufer geschlagen haben. Absolute Windstille.
Die vereinzelten Schiffe, die im
Hafen liegen, sind reglos. Sie scheinen in fester Materie zu stecken, so
bewegungslos sind sie. Selbst die wenigen Stoffetzen, Flaggen oder
Kleidungsstücke, die an den hohen Mastbäumen befestigt sind, hängen
unbeweglich herab.
Aus einer Gasse des von Armen
bevölkerten Hafenviertels begeben sich die Apostel zum Meer, zusammen mit den
beiden, die auf dem Weg nach Antiochia sind. Ich weiß nicht, was sie mit dem
Esel und dem Karren gemacht haben, die ich nicht mehr sehe. Petrus und Andreas
tragen jetzt die eine Truhe, und Jakobus und Johannes die andere, während
Judas des Alphäus den zusammengelegten Webstuhl auf die Schultern genommen
hat, und Matthäus, Jakobus des Alphäus und Simon der Zelote sich die Taschen
der anderen, einschließlich derjenigen von Jesus, aufgeladen haben. Syntyche
hat nur einen Korb mit Lebensmitteln in den Händen, und Johannes von Endor
trägt nichts.
Sie gehen behende durch die
Menge, die zum großen Teil mit Einkäufen vom Markt kommt, oder, wenn es sich
um Seeleute handelt, zum Hafen eilt, um die Schiffe zu beladen, zu entladen
oder zu reparieren, je nachdem.
Simon des Jonas geht mit sicherem
Schritt voran. Er muß genau wissen, wo er hinzugehen hat, denn er schaut sich
nicht um. Ganz rot im Gesicht, hält er die Schlinge eines Strickes, die als
Handgriff für die Truhe dient, und Andreas auf der anderen Seite macht es
ebenso. Aus ihren und ihrer Kameraden Jakobus und Johannes aufgeschwollenen
Hand- und Armmuskeln kann man schließen, welche Anstrengung für sie das Tragen
der Truhen bedeutet, denn um sich freier bewegen zu können, haben sie
405
nur das kurze, ärmellose
Untergewand an und gleichen den Gepäckträgern, die von den Schuppen zu den
Schiffen gehen. So bleiben sie völlig unbeachtet.
Petrus geht nicht zum großen
Anlegeplatz, sondern über einen knarrenden Steg zu einem kleinen Landesteg für
Fischerboote an einer kleinen, halbkreisförmigen Mole. Er schaut umher und
ruft etwas.
Ein Mann antwortet ihm und erhebt
sich vom Boden eines starken, geräumigen Bootes.
«Willst du wirklich abreisen?
Schau, das Segel nützt heute nichts. Du wirst die Ruder benützen müssen.»
«Das wird mich erwärmen und
meinen Appetit anregen.»
«Aber bist du denn überhaupt
fähig, ein Boot zu führen?»
«Aber ja! Mann! Ich konnte noch
nicht Mutter sagen, da hatte mir mein Vater schon Wurfleine und Segeltaue in
die Hand gegeben. Ich habe meine Milchzähne daran geschliffen...»
«Weißt du auch warum? Dieses Boot
ist mein einziger Besitz, verstehst du... !»
«Seit gestern erzählst du mir
dasselbe... Kennst du kein anderes Lied?»
«Ich weiß nur, daß ich ruiniert
bin, wenn du untergehst...»
«Ruiniert wäre ich, denn ich
würde meine Haut verlieren, nicht du!»
«Aber dies ist mein Hab und Gut,
mein Brot, meine Freude und die Freude meiner Frau, die Mitgift für mein
Mädchen, und...»
«Uff, reize meine Nerven nicht,
die schon einen Krampf haben... einen Krampf, der schlimmer ist als der der
Schwimmer. Ich habe dir so viel gegeben, daß ich sagen könnte: "Ich habe das
Boot gekauft." Ich habe deine Forderung angenommen und nicht gehandelt, du
Seeräuber, ich habe dir bewiesen, daß ich von Rudern und Segeln mehr verstehe
als du, und wir haben uns über alles geeinigt. Wenn dir der Lauchsalat, den du
gestern abend gegessen hast – dein Mund stinkt ja noch danach wie ein Kielraum
– nicht gut bekommen ist und du nun Bedenken hast und es bereust, dann ist mir
das gleichgültig. Wir haben das Geschäft vor zwei Zeugen abgeschlossen, von
denen ich einen gestellt habe und du den anderen, das genügt. Komm heraus, du
haariger Krebs, und laß mich hinein!»
«Aber ich... wenigstens eine
Garantie... Wenn du stirbst, wer bezahlt mir dann das Schiff?»
«Das Schiff? Nennst du diesen
ausgehöhlten Kürbis Schiff? Oh, du erbärmlicher und eingebildeter Wicht! Um
dich zufriedenzustellen und zu einem raschen Entschluß zu bewegen, bezahle ich
dir weitere hundert Drachmen. Mit diesem Geld und dem, das ich dir schon
gegeben habe, kannst du dir drei von diesen Maulwürfen bauen lassen... Nein,
ich werde dir kein Geld geben. Du wärest imstande, mich einen Verrückten zu
schelten und bei meiner Rückkehr noch mehr dafür zu verlangen. Ich werde
406
zurückkehren, dessen kannst du
sicher sein. Vielleicht, um dich zu ohrfeigen, wenn du mir eine Barke mit
fehlerhaftem Kiel gegeben hast. Ich werde dir den Esel und den Wagen als Pfand
hinterlassen... Nein, nicht einmal das! Meinen Antonius vertraue ich dir nicht
an. Du wärest imstande, dein Handwerk zu wechseln, Fuhrmann zu werden und
durchzubrennen, während ich unterwegs bin. Mein Antonius ist zehnmal so viel
wert wie dein Boot. Es ist besser, dir Geld zu geben. Doch vergiß nicht, daß
es sich um ein Pfand handelt und daß du mir das Geld bei meiner Rückkehr
zurückgeben mußt. Hast du verstanden oder nicht? Hallo, ihr Männer auf dem
Schiff! Wer von euch ist aus Ptolemais?»
Auf einem in der Nähe liegenden
Boot zeigen sich drei Gesichter: «Wir!»
«Kommt her!»
«Nein, nein, das ist nicht nötig.
Wir machen es unter uns aus», fleht der Bootsverleiher.
Petrus schaut ihn prüfend an,
überlegt, und da er sieht, daß der andere das Boot verläßt und sich beeilt,
den Webstuhl aufzuladen, den Judas auf den Boden gestellt hat, murmelt er:
«Ich habe verstanden!» Er schreit denen auf dem Nachbarboot zu: «Nicht mehr
nötig. Bleibt nur, wo ihr seid.» Dann entnimmt er einer kleinen Börse einige
Münzen, zählt sie, küßt sie und sagt: «Ade, ihr Lieben!» und gibt sie dem
Bootsverleiher.
«Warum hast du die Münzen
geküßt?» fragt dieser überrascht.
«Ein... Brauch. Leb wohl, Dieb!
Los, ihr! Du, halte wenigstens das Boot fest. Du kannst das Geld nachher
zählen. Du wirst sehen, daß ich dich nicht betrogen habe. Ich will dich nicht
in der Hölle zum Kameraden haben, weißt du? Ich stehle nicht. Auf, hopp! Auf,
hopp!» und er zieht die erste Kiste an Bord. Dann hilft er den anderen, ihre
Kiste, die Taschen und alles übrige unterzubringen, verteilt das Gewicht
richtig und ordnet die Gegenstände auf solche Weise, daß er beim Manövrieren
ungehindert ist; dann sind die Personen an der Reihe.
«Siehst du, daß ich es verstehe,
mit einem Boot umzugehen, du Vampir. Setz dich in Bewegung und geh deines
Weges!»
Zusammen mit Andreas stößt er das
Ruder gegen die Mole, um sich von ihr zu lösen.
Als das Boot von der Strömung
erfaßt wird, gibt er das Steuer Matthäus und sagt: «Du, der du, um uns
genügend zu rupfen, oft zum Fischfang gekommen bist, kannst gut damit
umgehen.» Dann setzt er sich am Bug auf die vorderste Bank an die Seite von
Andreas. Vor ihm sitzen Jakobus und Johannes des Zebedäus und rudern mit
regelmäßigen, kräftigen Stößen. Die Barke gleitet ohne Erschütterungen schnell
dahin, obwohl sie reichlich beladen ist, vorbei an den Flanken der großen
Schiffe, von denen ihnen Worte des Lobes für den einwandfreien Ruderschlag
zugerufen werden.
407
Auf dem offenen Meer, außerhalb
der Molen... Ptolemais zieht mit seinen am Ufer aneinandergereihten Häusern
und dem Hafen im Süden an den Augen der Abreisenden vorbei.
Auf dem Boot herrscht absolutes
Schweigen. Man hört nur das Ächzen der Ruder in ihren Riemen.
Nach einer Weile, Ptolemais liegt
nun schon im Rücken, sagt Petrus: «Wenn es nur etwas Wind gäbe! ... Doch
nichts, kein Hauch... !»
«Wenn es nur nicht regnet... !»
sagt Jakobus des Zebedäus.
«Hin, es sieht ganz danach aus
...»
Schweigen und Ruderarbeit für
lange Zeit.
Dann fragt Andreas: «Warum hast
du die Münzen geküßt?»
«Weil man sich von jemand, der
für immer abreist, verabschiedet. Ich werde sie nie wiedersehen, und das tut
mir leid. Ich hätte sie lieber einem Armen geschenkt... Aber Geduld! Die Barke
ist wirklich gut, stark und gut gebaut. Es ist die beste von ganz Ptolemais,
und deshalb habe ich den Forderungen des Eigentümers nachgegeben, aber auch,
um nicht zu oft gefragt zu werden, wohin es geht. Deshalb habe ich ihm auch
gesagt: "Wir wollen im Weißen Garten Einkäufe machen..." Ach, nun fängt es an
zu regnen. Bedeckt euch, so gut ihr könnt, und du, Syntyche, gib dem Johannes
das Ei. Es ist Zeit... um so mehr, als bei einem so ruhigen Meer der Magen
keine Schwierigkeiten machen dürfte... Was wird Jesus jetzt tun? Ohne Kleider
zum Wechseln und ohne Geld! Wo wird er jetzt sein?»
«Er wird für uns beten, ganz
gewiß», antwortet Johannes des Zebedäus.
«Gut, aber wo ... ?»
Niemand kann eine Antwort darauf
geben, und die Barke gleitet schwer und mühsam unter dem bleiernen Himmel auf
dem aschgrauen Meer dahin, durch einen feinen, nebelartigen Regen, der lästig
ist wie ein ständiger Juckreiz. Die Berge, die sich nach einer ebenen Gegend
wieder dem Meer nähern, erscheinen fahl in der nebligen Luft. Das Meer in der
näheren Umgebung ermüdet die Augen auch weiterhin mit seinem seltsamen
Phosphoreszieren, das sich in der Ferne in einem Dunstschleier verliert.
«Bei der Ortschaft dort wollen
wir haltmachen, uns ausruhen und etwas essen», sagt Petrus, der unermüdlich
rudert. Die anderen stimmen ihm zu.
Die Ortschaft ist erreicht. Es
ist ein Weiler mit Fischerhütten, die sich an einen dem Meer zugewandten
Bergvorsprung schmiegen.
«Hier kann man nicht aussteigen.
Wir haben keinen festen Grund...», murmelt Petrus. «Gut, dann werden wir eben
hier essen, wo wir sind.»
Die Ruderer essen mit gutem
Appetit, die beiden Verbannten ohne allzu große Lust. Immer wieder hört es auf
zu regnen, dann kommt ein neuer Schauer. Das Dorf ist entvölkert, als hätte es
keine Einwohner. Doch besagen die von Haus zu Haus fliegenden Tauben und die
auf den Altanen
408
aufgehängten Wäschestücke, daß
Menschen dort sind. Endlich erscheint ein halbnackter Mann auf der Straße, der
zu einer an Land gezogenen Barke geht.
«Hallo, Mann! Bist du Fischer?»
schreit Petrus, indem er die Hände trichterförmig an den Mund legt.
«Jawohl.» Es ist ein durch die
große Entfernung kaum hörbares «Jawohl.»
«Was für ein Wetter ist zu
erwarten?»
«Bald Dünung, und wenn du nicht
von hier bist, dann rate ich dir, sofort hinter das Kap zu fahren. Dort sind
die Wogen ruhiger, besonders wenn du am Ufer entlangfährst, was du kannst,
denn das Meer ist tief. Aber mach dich gleich auf...»
«Ja. Der Friede sei mit dir!»
«Auch euch Friede und Glück!»
«Also vorwärts», sagt Petrus zu
den Kameraden, «und Gott sei mit uns!»
«Er ist es, gewiß, denn
sicherlich betet Jesus für uns», entgegnet Andreas und fängt wieder an zu
rudern.
Aber die Dünung hat schon
begonnen und hebt und senkt die arme Barke jedesmal, wenn sie mit ihr
zusammentrifft, während der Regen dichter wird und Windstöße dazukommen, um
die armen Seereisenden zu quälen. Simon des Jonas gibt ihm die malerischsten
Beinamen, denn es ist ein bösartiger Wind, der zum Segeln nicht taugt und
versucht, die Barke gegen die Klippen des Kaps zu drängen, das nun schon nahe
ist. Der Barke fällt es nicht leicht, es in Richtung auf den kleinen Golf, der
tintenschwarz ist, zu umrunden. Sie rudern und rudern, angestrengt, erhitzt,
verschwitzt, mit zusammengebissenen Zähnen und ohne auch nur im geringsten
Kraft durch Worte zu vergeuden. Die anderen, die ihnen gegenübersitzen – ich
sehe ihre Rücken – schweigen unter dem lästigen Regen: Johannes und Syntyche
in der Mitte, in der Nähe des Mastbaumes, hinter ihnen die Söhne des Alphäus
und schließlich Matthäus und Simon, die bei jedem Wellenstoß kämpfen müssen,
um das Steuer gerade zu halten.
Das Kap zu umschiffen ist ein
mühsames Unternehmen. Endlich ist es geschafft...
Nun ist den Ruderern, die
erschöpft sein müssen, ein wenig Ruhe vergönnt. Sie beraten, ob sie sich in
ein Dörflein jenseits des Kaps zurückziehen sollen. Doch dann siegt die
Überlegung, «daß man dem Meister auch gegen den eigenen Verstand gehorchen
muß. Er hat gesagt, daß sie Tyrus in einem Tag erreichen sollen.» Sie fahren
also weiter...
Plötzlich beruhigt sich das Meer.
Sie bemerken es, und Jakobus des Alphäus sagt: «Der Lohn für unseren
Gehorsam.»
«Ja, Satan hat sich davongemacht,
weil es ihm nicht gelungen ist, uns zum Ungehorsam zu verleiten», bestätigt
Petrus.
409
«Wir werden allerdings erst in
der Nacht in Tyrus ankommen. Dieser Kampf mit den Wellen hat uns viel Zeit
gekostet», meint Matthäus.
«Das macht nichts. Wir werden
schlafen gehen, und morgen werden wir das Schiff suchen», antwortet Simon der
Zelote.
«Aber werden wir es auch finden?»
«Jesus hat es gesagt. Also werden
wir es finden», sagt Thaddäus bestimmt.
«Wir können die Segel setzen,
Bruder», bemerkt Andreas. «Nun weht ein guter Wind, und wir werden rasch
vorankommen.»
Tatsächlich blähen sich die
Segel, es ist kein starker Wind, doch brauchen sie nun fast nicht mehr zu
rudern, und das Boot gleitet wie erleichtert auf Tyrus zu, dessen Vorgebirge,
oder besser, dessen Landenge dort im Norden im letzten Tageslicht weiß
aufleuchtet.
Die Nacht bricht schnell herein.
Es ist seltsam, nach so viel düsterem Himmel und einer unerwarteten Aufhellung
die Sterne aufleuchten und den Großen Bären mit seinen Gestirnen glitzern zu
sehen, während das Meer den friedlichen Schein des Mondes widerspiegelt, der
so weiß ist, daß es aussieht, als beginne bereits der Morgen nach diesem
mühevollen Tag, ohne Unterbrechung durch die Nacht.
Johannes des Zebedäus erhebt die
Augen zum Himmel und lacht. Dann öffnet er unvermittelt den Mund und singt im
Takt der Ruderschläge:
«Sei gegrüßt du Morgenstern,
Jasmin der Nacht, Goldener Mond an meinem Himmel, Heilige Mutter Jesu.
Auf dich hofft der Meerespilger,
Es träumt von dir, wer leidet und stirbt, Leuchte, heiliger, gütiger Stern,
Dem, der dich liebt, o Maria ...»
So singt er mit seiner kräftigen
Tenorstimme und ist selig.
«Aber was singst du denn da? Wir
reden von Jesus, und du singst von Maria?» fragt sein Bruder.
«Er ist in ihr, sie ist in ihm.
Er ist, weil es sie gegeben hat. Laß mich singen...» und er singt weiter und
steckt die anderen an...
So erreichen sie Tyrus. Das
Anlegen im kleinen Hafen südlich der Landenge ist nicht schwer. Er wird
erhellt von vielen Lampen, die an den Booten hängen, und die dort Anwesenden
verweigern den Ankommenden ihre Hilfe nicht.
Während Petrus und Jakobus in der
Barke bleiben, um die Kisten zu bewachen, gehen die anderen mit einem Mann von
einer anderen Barke in die Herberge, um sich auszuruhen.
410
364. ABREISE VON TYRUS AUF EINEM
SCHIFF AUS KRETA
Tyrus erwacht mit seinem Lärm auf
den Straßen. Das Meer ist ein Lachen von kleinen Wellen, eine weißblau
glänzende Fläche, leicht bewegt unter einem blauen Himmel, unter
Zirruswölkchen, die dort oben schweben, wie der Schaum der Wellen hier unten
schaukelt. Die Sonne freut sich des heiteren Tages nach dem vielen Grau des
schlechten Wetters.
«Jetzt geht mir ein Licht auf»,
sagt Petrus, indem er sich in der Barke erhebt, wo er geschlafen hat. «Es ist
Zeit aufzustehen. Wir haben von "ihm" (und er zeigt auf das Meer, das unruhig
in den Hafen eindringt) bereits das Weihwasser bekommen... Hm... Wir wollen
nun gehen und den zweiten Teil des Opfers vollbringen... Sag, Jakobus, scheint
es dir nicht auch, daß wir zwei Opfer zur Opferstätte bringen? Mir scheint es
so.»
«Auch mir, Simon. Ich danke dem
Meister für sein Vertrauen in uns. Aber... es wäre mir lieber, wenn ich nicht
so viel Leid sehen müßte. Niemals hätte ich gedacht, daß ich so etwas erleben
müßte...»
«Auch ich nicht... Aber... Weißt
du? Ich sage, daß der Meister es nicht getan hätte, wenn der Hohe Rat nicht
die Nase hineingesteckt hätte ...»
«Er hat es ja selbst gesagt...
Aber wer wird den Hohen Rat benachrichtigt haben? Das möchte ich wissen ...»
«Wer? Ewiger Gott, laß mich
schweigen und nicht daran denken. Reden wir von etwas anderem.»
«Wovon denn? Vom Wetter?»
«Ja, meinetwegen.»
«Aber ich verstehe ja nichts vom
Meer...»
«Ich glaube, wir werden tanzen»,
sagt Petrus, indem er das Meer betrachtet.
«Nein! Ein paar Wellen, weiter
nichts. Gestern war es schlimmer. Vom Schiff aus muß das bewegte Meer sehr
schön sein. Das wird Johannes gefallen... und ihn zum Singen bringen. Welches
mag wohl das Schiff sein?»
Er richtet sich auf und
beobachtet die Schiffe auf der anderen Seite, die mit ihrem hohen Deck
besonders gut zu sehen sind, wenn der Wellengang ihr Boot wie eine Schaukel
hochhebt.
Sie betrachten aufmerksam die
verschiedenen Schiffe und raten. Der Hafen belebt sich.
Petrus befragt einen Bootsmann,
der am Landesteg herumhantiert: «Weißt du, ob im Hafen dort das Schiff des...
warte, ich muß den Namen lesen... (er zieht ein verschnürtes Pergament unter
seinem Gürtel hervor). Hier steht er: Nikomedes Philadelphius des Philippus,
Kreter aus Paläokastro...»
«Oh, der große Seefahrer! Wer
sollte ihn nicht kennen? Ich glaube, daß er nicht nur vom Perlengolf bis zu
den Säulen des Herkules bekannt ist,
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sondern bis zum Eismeer, von dem
man erzählt, daß dort monatelang Nacht herrscht! Wie kommt es, daß du ihn
nicht kennst, da du doch ein Seemann bist?»
«Nein, ich kenne ihn nicht. Doch
bald werde ich ihn kennen, denn ich suche ihn im Auftrag unseres Freundes
Lazarus des Theophilus, der einmal Statthalter in Syrien war.»
«Ah! Als ich zur See fuhr – nun
bin ich alt – war er in Antiochia... Schöne Zeiten... Dein Freund? Und du
suchst Nikomedes den Kreter? Du kannst ihn nicht verfehlen. Siehst du jenes
Schiff dort, das höchste, mit den im Wind wehenden Wimpeln? Es gehört ihm. Er
fährt vor der sechsten Stunde ab. Er fürchtet das Meer nicht... !»
«Da ist auch nichts zu fürchten,
das ist nichts Besonderes», bemerkt Jakobus. Aber eine große Woge, die beide
von Kopf bis Fuß naßmacht, straft ihn Lügen.
«Gestern zu ruhig, heute zu
bewegt. Ganz schön verrückt, das Meer! Ich ziehe den See vor ...» murrt Petrus
und trocknet sich das Gesicht ab.
«Ich rate euch, in die
Schiffsdocks zu gehen. Alle gehen dorthin, seht ihr?»
«Aber wir müssen abreisen, mit
dem Schiff des... des... warte... Nikomedes und so weiter!» sagt Petrus, dem
es nicht gelingt, sich die eigenartigen Namen des Kreters ins Gedächtnis
einzuprägen.
«Ihr wollt wohl nicht auch das
Boot auf das Schiff verladen?»
«Nein, selbstverständlich nicht!»
«Nun, da gibt es im Dock einen
Platz für die Aufbewahrung. Eine Münze täglich bis zu eurer Rückkehr, denn ich
denke, daß ihr wohl zurückkehren werdet, oder ...»
«Gewiß, gewiß. Wir gehen, um uns
die Gärten des Lazarus anzusehen, das ist alles.»
«Ach, ihr seid seine Verwalter?»
«Noch mehr ...»
«Gut. Kommt mit mir. Ich will
euch den Ort zeigen. Er ist eigens für die gemacht worden, die, wie ihr, die
Barken zurücklassen wollen.»
«Warte... Da kommen die anderen.
Wir werden in einem Augenblick bei dir sein.» Petrus steigt auf den Steg und
eilt den ankommenden Gefährten entgegen.
«Hast du gut geschlafen, Bruder?»
fragt Andreas besorgt.
«Wie ein Kind in der Wiege. Es
hat mir weder das Schaukeln noch das Wiegenlied gefehlt ...»
«Mir scheint, es hat dir auch das
Bad nicht gefehlt», sagt Thaddäus lächelnd.
«Ja! Das Meer ist so... so gut,
daß es mir das Gesicht gewaschen hat, um mir den Schlaf zu nehmen.»
«Es muß ein tiefer Schlaf gewesen
sein», bemerkt Matthäus.
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«Oh, wenn ihr wüßtet, mit wem wir
reisen! Mit einem Mann, der selbst den Fischen im Eismeer bekannt ist.»
«Hast du ihn schon gesehen?»
«Nein. Aber es hat mir einer von
ihm erzählt, der mir auch gesagt hat, daß es einen Ort für die Aufbewahrung
der Barken gibt... Kommt, wir wollen die Kisten ausladen und gehen, weil
Nikodemus, nein, Nikomedes der Kreter, bald abfährt.»
«In der Meerenge von Zypern
werden wir schön tanzen», sagt Johannes von Endor.
«Ja, glaubst du?» fragt Matthäus
nachdenklich.
«Aber Gott wird uns helfen.»
Sie sind nun wieder bei der
Barke.
«Hier Mann. Nun holen wir diese
Sachen, und dann gehen wir, da wir gesehen haben, daß du ein guter Mensch
bist.»
«Man hilft sich eben
gegenseitig», sagt der von Tyrus.
«Nun ja, man hilft sich
gegenseitig, das heißt, man sollte sich helfen. Man sollte sich auch lieben,
denn das ist das Gesetz Gottes ...»
«Man hat mir erzählt, daß in
Israel ein neuer Prophet aufgestanden ist, der dies predigt. Ist das wahr?»
«Und ob es wahr ist! Dies und
noch viel mehr! Und was für Wunder er wirkt! Los, Andreas, auf, auf, los, mehr
nach rechts. Los, während die Welle die Barke hochhebt... Hoppla! Geschafft!
... Ich sage dir, Mann: und was für Wunder! Tote stehen auf, Kranke werden
gesund, Blinde sehen, Räuber bekehren sich, und selbst... Siehst du? Wenn er
hier wäre, dann würde er zum Meer sagen: "Beruhige dich!", und das Meer würde
sich beruhigen... Schaffst du es, Johannes? Warte, ich komme! Ihr haltet den
Steg fest... Los, los! Noch ein wenig... Du, Simon, nimm den Handgriff... Gib
auf die Hände acht, Judas! Los, los... Danke, Mann... Ihr beiden, Söhne des
Alphäus, passt auf, daß ihr nicht ins Wasser fallt... Los... Wir haben es
geschafft. Gott sei Dank! Es war weniger schwer, sie hinunterzuschaffen als
sie heraufzuholen... Meine Arme sind noch ganz kaputt von der gestrigen
Übung... Also, ich sprach gerade vom Meer ...»
«Aber ist es auch wahr?»
«Wahr? Ich war dabei und habe es
gesehen!»
«Ja? Oh! ... Aber wo denn?»
«Auf dem See Genesareth. Komm ins
Boot, während wir zum Aufbewahrungsort fahren, will ich es dir erzählen...»
und er rudert mit dem Mann und Jakobus auf dem Kanal, der zum Dock führt,
davon.
«Petrus sagt immer, daß er sich
ungeschickt anstellt», bemerkt der Zelote. «Stattdessen besitzt er die Kunst,
die Frohe Botschaft zu verkünden, ohne daß die Leute es merken, und tut mehr
als wir alle.»
«Was mir so sehr an ihm gefällt,
ist seine Redlichkeit», sagt der Mann von Endor.
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«Auch seine Ausdauer», fügt
Matthäus hinzu.
«Auch seine Demut. Seht nur, ob
er stolz geworden ist, nachdem er erfahren hat, daß er das Oberhaupt ist. Er
arbeitet mehr als alle anderen und sorgt sich mehr um uns als um sich selbst»,
sagt Jakobus des Alphäus.
«Er ist so tugendhaft mit seinem
gesunden Menschenverstand. Ein guter Bruder, nicht mehr und nicht weniger»,
endet Syntyche.
«Ist es wirklich so? Ihr gebt
euch also als Geschwister aus?» fragt der Zelote nach einer Weile die beiden
Jünger.
«Ja, es ist besser. Es ist keine
Lüge, sondern geistliche Wahrheit. Er ist mir wie ein älterer Bruder von einer
anderen Mutter, doch von demselben Vater. Der Vater ist Gott, und die beiden
Mütter sind Israel und Griechenland. Johannes ist älter als ich, sowohl in
bezug auf seine Lebensjahre, als auch, wenn man an die Zeit denkt, die er
schon Jünger ist. Da kommt Simon zurück ...»
«Alles erledigt! Laßt uns
gehen...»
Sie nehmen die Kisten und gehen
über die Landenge zum anderen Hafen. Der Mann von Tyrus, der sich hier
auskennt, begleitet sie durch die Gassen zwischen den Warenballen, die unter
den großen Schutzdächern aufgestapelt sind, bis zum mächtigen Schiff des
Kreters, das sich schon auf die bevorstehende Abfahrt vorbereitet. Er ruft
jemandem an Bord etwas zu, damit das Fallreep, das schon eingezogen war, noch
einmal heruntergelassen wird.
«Das geht nicht. Es ist kein
Platz mehr da», schreit der Lademeister.
«Er hat Briefe abzugeben», sagt
der Mann und deutet auf Simon des Jonas.
«Briefe? Von wem?»
«Von Lazarus des Theophilus, dem
ehemaligen Statthalter von Antiochia.»
«Ach so! Ich werde zum Herrn
gehen.»
Simon sagt zum anderen Simon und
zu Matthäus: «Kümmert ihr euch jetzt darum. Ich bin zu linkisch, um mit einem
Herrn zu verhandeln...»
«Nein, du bist das Haupt und du
machst es gut. Wir werden dir helfen, wenn nötig. Doch das wird nicht der Fall
sein...»
«Wo ist der Mann mit den Briefen?
Komm herauf», sagt ein dunkelhäutiger Mann, der wie ein Ägypter aussieht. Er
ist sehnig, schön, schlank, ernst und etwa vierzigjährig oder etwas darüber.
Er läßt die Brücke wieder herunter, und Simon des Jonas, der sein Gewand und
den Mantel angelegt hat, während er auf die Antwort gewartet hat, steigt
würdevoll hinauf. Hinter ihm folgen der Zelote und Matthäus.
«Der Friede sei mit dir, Mann»,
grüßt Petrus ehrfurchtsvoll.
«Sei gegrüßt. Wo ist der Brief?»
fragt der Kreter.
«Hier.»
Der Kreter erbricht das Siegel,
faltet den Brief auseinander und liest.
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«Willkommen seien die Gesandten
der Familie des Theophilus! Die Kreter vergessen nicht, daß er gut und höflich
zu ihnen war. Aber beeilt euch. Habt ihr viel Gepäck?»
«All das, was du hier auf dem
Hafendamm siehst.»
«Und wie viele seid ihr?»
«Wir sind zehn.»
«In Ordnung. Wir werden Platz für
die Frau machen. Ihr müßt euch eben einrichten, so gut es geht. Los, schnell.
Wir müssen den Hafen verlassen und das offene Meer erreichen, bevor der Wind
stärker wird, und das wird nach der sechsten Stunde der Fall sein.»
Er gebietet mit ohrenbetäubendem
Pfeifen, die Kisten zu verladen. Dann besteigen die Apostel und die zwei
Jünger das Schiff. Das Fallreep wird eingezogen, die Reling geschlossen, die
Anker werden gelichtet und die Segel gehißt. Das Schiff setzt sich in
Bewegung, stark schlingernd bei der Fahrt aus dem Hafen. Die Segel blähen sich
ächzend, so stark ist der Wind, und mit einem mächtigen Stampfen sticht das
Schiff in See und entfernt sich rasch in Richtung Antiochia...
Trotz des starken Windes sind
Johannes und Syntyche an Deck geblieben. Sie halten sich an einem Mast fest,
schauen zu, wie sie sich von der Küste, vom Land Palästina, entfernen, und
weinen...
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Gepriesen sei Gott unser
Vater, unser Schöpfer,
Gepriesen sei Jesus
Christus, der sich aus Liebe für uns geopfert hat,
Gepriesen sei der Hl. Geist, der unser Lehrmeister sein möchte.
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