Kirche Weitental

†  Gott ist die Liebe - Er liebt dich  †
 Gott ist der beste und liebste Vater, immer bereit zu verzeihen, Er sehnt sich nach dir, wende dich an Ihn
nähere dich deinem Vater, der nichts als Liebe ist. Bei Ihm findest du wahren und echten Frieden, der alles Irdische überstrahlt

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Maria Valtorta - Der Gottmensch

Band 1

 

Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte. Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.

Das Werk kann man hier in Buchform erwerben:

Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch

Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
 
 



Nur zu Testzwecken!

Inhalt
 

1. «Maria kann die Zweitgeborene des Vaters genannt werden». S. 17

2. Joachim und Anna machen dem Herrn ein Gelübde. S. 18

3. Das Gebet Annas im Tempel wird erhört. S. 21

4. «Joachim hat sich mit der Weisheit Gottes vermählt, die eingeschlossen war im Herzen der gerechten Frau». S. 24

5. Mit einem Lobgesang verkündet Anna die Mutterschaft. S. 26

6. «die Makellose war nie Gottes Gedenken bar». S. 29

7. Geburt der Jungfrau Maria. S. 31

8. «Ihre Seele erscheint schön und unbefleckt wie der Vater ersann!». S. 36

9. «In den drei Jahren wirst auch du da sein, meine Lilie». S. 44

10. «Sieh die vollkommene Magd mit dem Herzen einer Taube. S. 47

11. «Meine Freude woher weisst du diese heiligen Dinge? Wer hat sie dir gesagt?». S. 48

12. «Hat nicht der Sohn die Weisheit auf die Lippen der Mutter gelegt?». S. 53

13. Mariä Darstellung im Tempel. S. 55

14. «Die ewige Jungfräuliche hat nur einen Gedanken: Ihr Herz hinzurichten auf Gott. S. 60

15. Der Tod von Joachim und Anna. S. 61

16. «Du sollst die Mutter des Gesalbten sein». S. 64

17. «Sie schaute wieder, was ihr Geist in Gott gesehen hatte». S. 69

18. «Gott wird dir den Bräutigam geben, und er wird heilig, denn du vertraust auf Gott Du sollst ihm dein Gelübde bekennen». S. 71

19. Joseph wir zum Bräutigam der Jungfrau bestimmt. S. 75

20. Die Vermählung der Jungfrau mit Joseph. S. 80

21. «Joseph ist gesetzt als ''Siegel des Siegels'', wie ein Erzengel an der Schwelle des Paradieses». S. 85

22. Das Brautpaar kommt nach Nazareth. S. 87

23. Die Verkündigung. S. 93

24. Der Ungehorsam der Alten Eva. S. 96

25. Die Neue Eva war in jeder Beziehung gehorsam. S. 99

26. Noch ein Wort der Erklärung über die Erbsünde. S. 104

27. Die Schwangerschaft Elisabeths wird Joseph verkündet. S. 108

28. «Überlass mir die Aufgabe, dich bei deinem Bräutigam zu rechtfertigen». S. 110

29. Maria und Joseph auf dem Weg nach Jerusalem. S. 111

30. Von Jerusalem zum Haus des Zacharias. S. 113

31. «Entzieht euch nie dem Schutz des Gebetes!». S. 115

32. Ankunft im Haus des Zacharias. S. 118

33. Maria enthüllt Elisabeth den Namen. S. 120

34. Maria spricht von ihrem Kind. S. 124

35. «Das Gnadengeschenk Gottes muss uns immer besser machen». S. 126

36. Die Geburt des Täufers. S. 128

37. «Die Hoffnung blüht für alle, die ihr Haupt an meinen Mutterschoss legen». S. 132

38. Die Beschneidung des Täufers. S. 133

39. «Macht euren Geist empfänglich für das Licht!» S. 136

40. Darstellung des Täufers im Tempel. S. 137

41. «Wenn Joseph weniger heilig gewesen wäre, hätte Gott ihm sein Licht nicht gewährt». S. 142

42. Maria von Nazareth spricht sich mit Joseph aus. S. 144

43. «Überlass dem Herrn die Sorge euch als seine Diener kundzutun!». S. 147

44. Die Verordnung der Volkszählung. S. 148

45. «Lieben heisst, den Geliebt en über Gefühl und Interesse hinaus befriedigen». S. 151

46. Die Reise nach Bethlehem. S. 153

47. Die Geburt Jesu, unseres Herrn. S. 157

48. «Ich Maria, habe die Frau mit meiner göttlichen Mutterschaft erlöst». S. 162

49. Die Anbetung der Hirten. S. 184

50. «In den Hirten finden sich alle Eigenschaften der wahren Anbeter des Wortes». S. 172

51. Der Besuch des Zacharias. S. 173

52. «Joseph ist auch der Schutzherr der Gott». S. 176

53. Darstellung Jesu im Tempel. S. 179

54. Lehren, die aus der vorhergehenden Vision zu ziehen sind. S. 182

55. Wiegenlied der Jungfrau. S. 184

56. Anbetung der Weisen. S. 188

57. Bemerkungen über den Glauben der drei Weisen. S. 188

58. Die Flucht nach Ägypten. S. 198

59. «Der Schmerz war unser treuer Freund und hat die verschiedensten Gesichter und Namen». S. 203

60. Die Heilige Familie in Ägypten. S. 207

61. «In diesem Haus herrscht Ordnung». S. 211

62. Erste Arbeitslehre für Jesus. S. 215

63. «Ich wollte nicht durch eine meiner Altersstufen unangepasste Verhaltensweise auffallen». S. 216

64. Maria, die Lehrerin von Jesus, Judas und Jakobus. S. 219

65. Anfertigung des Gewandes für den volljährigen Jesus. S. 225

66. Die Reise von Nazareth nach Jerusalem zur Feier der Volljährigkeit Jesu. S. 227

67. Die Prüfung des volljährigen Jesus im Tempel. S. 229

68. Das Streitgespräch Jesu mit den Gelehrten im Tempel. S. 233

69. Der Schmerz weil Jesus fehlt. S. 240

70. Der Tod des heiligen Joseph. S. 242

71. «Maria hat beim Tod Josephs tief gelitten». S. 247

72. Zum Abschluss des verborgenen Lebens Jesu. S. 248

73. Der Abschied von der Mutter und der Aufbruch von Nazareth. S. 255
74. "Sie weinte, weil sie die Miterlöserin war". S. 258
75. Die Taufe Jesu am Jordan. S. 262
76. "Johannes benötigte kein besonderes Zeichen". S. 266
77. Jesus wird in der Wüste vom Teufel versucht. S. 268
78. "Satan zeigt sich immer wohlwollend". S. 273
79. Begegnung mit Johannes und Jakobus. S. 274
80. "Ich liebte Johannes wegen seiner Reinheit". S. 276
81. Johannes und Jakobus berichten Petrus vom Messias. S. 278
82. Erste Begegnung des Petrus mit dem Messias. S. 282
83. "Johannes war gross auch in der Demut. S. 289
84. Jesus begegnet im Haus des Petrus zu Bethsaida Philippus und Nathanael. S. 291
85. Judas Thaddäus kommt nach Bethsaida, um Jesus zur Hochzeit von Kana einzuladen. S. 299
86. Jesus an der Hochzeit von Kana. S. 302
87. "Frau, was habe ich nunmehr mit dir zu schaffen?". S. 306
88. Jesus treibt die Händler aus dem Tempel. S. 308
89. Begegnung mit Judas Iskariot und Thomas; Wunder an Simon, dem Zeloten. S. 313
90. Thomas wird Jünger Jesu. S. 319
91. Judas des Alphäus, Thomas und Simon werden am Jordan angenommen. S. 324
92. Nach Ostern, Rückkehr mit den sechs Jüngern nach Nazareth. S. 330
93. Die Heilung des Blinden in Kapharnaum. S. 333
94. Der Besessene von Kapharnaum in der Synagoge geheilt. S. 339

 

 

1 »Maria kann die Zweitgeborene des Vaters genannt werden«

Jesus trägt mir auf: »Nimm ein ganz neues Heft und kopiere auf das erste Blatt das Diktat vom 16. August. Dieses Buch wird von Ihr handeln.«
Ich gehorche und kopiere (22. August 1944).
Jesus sagt:
»Heute schreibe nur dies! Die Reinheit hat einen solchen Wert, daß der Schoß einer Frau den Unerfaßbaren nur umfassen konnte, weil sie die höchste Reinheit besaß, die ein Geschöpf Gottes haben kann.
Die Allerheiligste Dreifaltigkeit stieg mit ihren Vollkommenheiten herab, wohnte mit ihrem unendlichen Sein in einem kleinen Raum –
ohne dadurch von ihrer Unendlichkeit zu verlieren – und offenbarte sich mit ihren charakteristischen Eigenschaften: Der Vater wiederum als Schöpfer, wie am sechsten Tage. Er schuf eine wahre „Tochter“, seiner würdig und ihm ähnlich. Der Stempel Gottes war in Maria eingeprägt, so klar und scharf, daß er nur im Erstgeborenen des Vaters [Röm 8,29] vollkommener war. Maria kann die „Zweitgeborene“ des Vaters genannt werden, weil sie wegen der verliehenen und bewußt bewahrten Vollkommenheit, wegen der Würde als Braut und Mutter Gottes und als Königin des Himmels die Zweite nach dem Sohn des Vaters ist; die Zweite im ewigen Gedanken des Vaters, der von Ewigkeit her an ihr Wohlgefallen fand.
Der Sohn, der auch für sie „der Sohn“ war, lehrte sie – durch den geheimnisvollen Eingriff der Gnade – seine Wahrheit und Weisheit,
als er noch ein Keim war, der in ihrem Schoß heranwuchs.
Der Heilige Geist erscheint den Menschen in einem vorweggenommenen, verlängerten Pfingstfest als Liebe in „der, die er liebte“; als Trost durch die Frucht ihres Schoßes; als Heiligung durch die Mutterschaft des Heiligen.
Um sich den Menschen in einer neuen und vollkommenen Weise zu offenbaren, welche das Zeitalter der Erlösung einleitet, wählte Gott nicht einen Stern des Himmels zu seinem Thron oder den Palast eines mächtigen Herrschers; auch nahm er nicht die Flügel der Engel zum Schemel seiner Füße. Vielmehr wollte er einen Schoß ohne Makel.
Auch Eva war ohne Makel erschaffen worden; aber sie hat sich aus freiem Willen verderben wollen. Maria, die in einer zerrütteten Welt lebte – während Eva von einer reinen umgeben war – wollte ihre Reinheit nicht einmal durch einen Gedanken an die Sünde beeinträchtigen. Sie wußte, daß die Sünde existiert. Sie sah ihre vielfältigen, schrecklichen Gesichter. Sie sah sie alle, auch das grauenhafteste: den Gottesmord. Aber sie lernte sie kennen, um für sie zu sühnen und in alle Ewigkeit die zu sein, die Erbarmen mit den Sündern hat und für ihre Rettung betet.
Dieser Gedanke ist eine Einleitung zu anderen heiligen Dingen, die ich dir und vielen anderen zum Trost mitteilen werde.«

2 Joachim und Anna machen dem Herrn ein Gelübde

Ich sehe das Innere eines Hauses. Dort sitzt eine bejahrte Frau an einem Webstuhl. Nach ihrem sicherlich einst schwarzen, nun aber schon ergrauten Haar und ihrem Gesicht, das noch nicht gerunzelt, aber doch durch den Ernst der Jahre geprägt ist, möchte ich schätzen, daß sie 50–55 Jahre alt ist. Nicht älter.
Bei der Bestimmung dieses Alters nehme ich das Gesicht meiner Mutter zum Vergleich, das mir besonders in diesen Tagen, die mich an ihre letzten Tage an meinem Bett erinnern, gegenwärtig ist . . . Das Gesicht meiner Mutter war unter den frühzeitig weiß gewordenen Haaren sehr jugendlich. Im Alter von fünfzig Jahren war sie weiß und schwarz wie am Ende ihres Lebens. Aber, abgesehen von der Reife ihres Blickes, verriet nichts ihre Jahre. Ich könnte mich daher irren, wenn ich älteren Frauen eine bestimmte Anzahl von Jahren gebe.
Die Frau, die ich in einem hellerleuchteten Raum weben sehe, ist schön in ihren typisch hebräischen Gesichtszügen. Die halbgeöffnete Tür läßt den Blick über einen großen Garten schweifen, den ich aufgrund seiner Ausdehnung eher als ein kleines Gut bezeichnen möchte, das sich über ein welliges Gelände dahinzieht. Die tiefen, schwarzen Augen der Frau erinnern mich – ich weiß nicht warum – an jene Johannes des Täufers. Sie sind stolz wie die einer Königin, aber zugleich auch sanft, als wäre über ihr adlerhaftes Aufblitzen ein himmelblauer Schleier gebreitet worden. Sanft und zugleich ein wenig traurig, wie wenn jemand trübsinnig verlorener Dinge gedenkt.
Die Gesichtsfarbe ist bräunlich, aber nicht übermäßig. Der Mund, ein klein wenig breit, ist schön geformt und hat einen ernsten, aber nicht harten Zug. Die Nase ist lang und fein, leicht nach unten gebogen.
Eine Adlernase, die gut zu diesen Augen paßt. Die Frau ist kräftig, aber nicht dick, gut gebaut und, nach ihrer sitzenden Haltung zu schätzen, ziemlich groß.
Ich glaube, sie webt ein Zelttuch oder einen Teppich. Die vielfarbigen Spulen eilen schnell über den dunkelbraunen Webstuhl, und das fertige Stück Tuch zeigt eine Verschlingung von Verzierungen und Rosetten, in denen grün, gelb, rot und dunkelblau sich verflechten und vermischen wie in einem Mosaik. Die Frau trägt ein ganz einfaches, tiefdunkles Gewand, dessen Violettrot an gewisse Stiefmütterchen erinnert.
Auf ein Pochen an der Tür erhebt sie sich. Sie ist wirklich groß.
Vor der Tür steht eine Frau, die fragt: »Anna, willst du mir deinen Krug geben? Ich werde ihn für dich füllen.«
Die Frau hat einen lebhaften Jungen von fünf Jahren bei sich, der sich sofort an das Kleid der genannten Anna schmiegt. Sie liebkost ihn, während sie in einen anderen Raum geht, und kommt mit einem schönen kupfernen Krug zurück, den sie der Frau mit den Worten gibt: »Immer bist du gut zu deiner alten Anna. Gott vergelte es dir an diesem Kind und an den Söhnen, die du hast und haben wirst, du Glückliche!« Anna seufzt. Die Frau schaut sie an und weiß nicht, was sie zu diesem Seufzer sagen soll. Um sie von dem Kummer, der sie offenbar bedrückt, abzulenken, sagt sie: »Ich lasse Alphäus hier, wenn er dir nicht lästig ist; so geht es schneller, und ich kann dir viele Krüge und Schläuche füllen.«
Alphäus freut sich, daß er bleiben darf, und der Grund ist verständlich.
Kaum ist die Mutter fort, da nimmt ihn Anna auf ihre Schultern und geht mit ihm in den Garten hinaus. Sie hebt ihn hoch in einem Laubengang, von dem goldgelbe Weintrauben herabhängen, und sagt: »Iß, iß, die sind gut!« Und sie küßt ihn auf das vom Saft der Früchte klebrige Gesichtchen, während das Kind eifrig Beere um Beere verspeist. Dann lacht sie vor Freude und scheint gleich jünger mit den schönen Zähnen, die zum Vorschein kommen, und der Freude, die das Gesicht überstrahlt, als das Kind noch sagt: »Und was gibst du mir jetzt?« und sie dabei mit großen, graublauen Augen anschaut. »Was gibst du mir, wenn ich dir, wenn ich dir gebe . . . na, rate was!« Und das Kind klatscht in die Hände und sagt lachend: »Küsse, Küsse gebe ich dir, schöne Anna, gute Anna, Mama Anna . . . « Anna hört sich Mama nennen, drückt mit einem Freudenschrei den Kleinen an sich und sagt: »Oh, mein Schatz! Liebling, Liebling!« Bei jedem „Liebling“ küßt sie die rosigen Wangen. Dann gehen sie zu einem Schränkchen, und sie nimmt von einem Teller etwas Honigkuchen. »Ich habe ihn für dich gebacken, du Freude der armen Anna, weil du mich so gern hast. Aber sage mir, wie sehr liebst du mich?« Der Junge erinnert sich an das, was ihn in seinem bisherigen Leben am meisten beeindruckt hat, und sagt: »Wie den Tempel des Herrn.« Anna küßt ihn noch einmal auf die lebhaften Äuglein, auf das rosige Mündchen, und das Kind schmiegt sich an sie wie ein Kätzchen.
Die Mutter kommt und geht mit dem Krug und lacht, ohne dabei etwas zu sagen. Sie überläßt die beiden ihren Zärtlichkeiten.
Da kommt vom Garten her ein alter Mann, etwas kleiner als Anna, mit vollem, schneeweißem Haar. Er hat ein helles Gesicht mit einem viereckig geschnittenen Bart und zwei türkisblauen Augen unter den hellbraunen, fast blonden Augenbrauen. Ein dunkelbraunes Gewand kleidet ihn.
Anna sieht ihn nicht, denn sie steht mit dem Rücken gegen den Ausgang. Er geht auf sie zu und spricht: »Und für mich nichts?« Anna wendet sich um und sagt: »Oh, Joachim, bist du mit deiner Arbeit fertig?« Gleichzeitig schmiegt sich der kleine Alphäus an Joachims Knie und sagt: »Auch für dich, auch für dich.« Joachim beugt sich zu ihm nieder. Das Kind wühlt in dem weißen Bart und gibt ihm einen schallenden Kuß.
Auch Joachim hat ein Geschenk für Alphäus . . . Er hielt es bisher in der linken Hand hinter dem Rücken; nun aber zeigt er den wunderschönen Apfel, der wie gemalt aussieht, und sagt lachend zum Kind, das erwartungsvoll die Händchen danach ausstreckt: »Warte, ich schneide ihn dir in Stücke. So kannst du ihn nicht essen; er ist ja fast größer als du.« Und mit einem Messerchen, das er sonst zum Beschneiden der Bäume und der Blumensträucher benützt, zerteilt er den Apfel in kleine Scheiben, die er mit großer Sorgfalt in den kleinen Mund steckt, als hätte er es mit einem noch im Nest sitzenden Vögelchen zu tun.
»Sieh doch die Augen, Joachim! Sind sie nicht wie zwei Stückchen des galiläischen Meeres, wenn der Abendwind einen Wolkenschleier über den Himmel webt?« Bei diesen Worten legt Anna eine Hand auf Joachims Schulter und lehnt sich leicht an ihn: eine Haltung, die eine tiefe Gattenliebe bekundet; eine nach so langen Ehejahren ungetrübte Liebe.
Joachim schaut sie liebevoll an und nickt, indem er sagt: »Sehr schön sind sie! Und diese Löckchen? Haben sie nicht die Farbe des Heus, wenn es die Sonne getrocknet hat? Schau: ein Gemisch von Gold und Kupfer.«
»Ach, wenn wir ein Kind gehabt hätten: so hätte ich es mir gewünscht; mit diesen Augen und diesen Haaren . . . « Anna hat sich niedergebeugt, ja niedergekniet, und küßt mit einem schweren Seufzer die beiden großen blaugrauen Augen.
Auch Joachim seufzt. Aber er will sie trösten, legt ihr eine Hand auf die krausen, weißen Haare und sagt: »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Gott ist allmächtig. Solange man lebt, kann dasWunder jederzeit stattfinden; besonders wenn man ihn liebt und sich gegenseitig liebt.« Joachim betont diese letzten Worte.
Anna aber schweigt niedergeschlagen und hat das Haupt geneigt, um die beiden Tränen zu verbergen, die über ihre Wangen herunterrollen; nur der kleine Alphäus bemerkt sie und ist erstaunt und betrübt, daß seine große Freundin weint wie er selbst manchmal. Er hebt ein Händchen und wischt die Tränen ab. »Weine nicht, Anna!«
tröstet sie Joachim. »Wir sind auch so glücklich. Ich wenigstens bin es, weil ich dich besitze.«
»Auch ich bin glücklich, weil ich dich habe. Aber ich habe dir keinen Sohn geschenkt . . . Vielleicht habe ich dem Herrn in etwas mißfallen, da er mir den Schoß verschlossen hat . . . «
»Oh, meine Gattin! Worin solltest du ihm mißfallen haben, du Heilige?
Höre! Gehen wir für dieses unser Anliegen noch einmal zum Tempel! Nicht nur wegen des Laubhüttenfestes [Ex 23,14–17]. Beten wir lange! . . . Vielleicht ergeht es dir wie Sara . . . wie Hanna, der Frau des Elkana. Lange haben sie gewartet und haben geglaubt, sie seien verworfen, weil sie kinderlos blieben. Statt dessen reifte für sie im Himmel Gottes ein heiliges Kind [1 Kön 1; 2,11]. Lächle, meine Gattin! Dein Weinen schmerzt mich mehr als die Kinderlosigkeit . . .
Wir werden Alphäus mit uns nehmen und ihn beten lassen; ihn, der unschuldig ist . . . und Gott wird sein Gebet und unser Gebet annehmen und erhören.«
»Ja, machen wir dem Herrn ein Gelübde. Ihm soll das Kind gehören, wenn er es uns gibt . . . Ach, könnte ich mich doch „Mama“
rufen hören!«
Da sagt Alphäus, der erstaunte und unschuldige Zuschauer: »Ich nenne dich doch so!«
»Ja, meine liebe Freude . . . «
Hier endet die Vision.
Ich begreife, daß der Zyklus der Geburt Marias begonnen hat. Und ich bin sehr erfreut darüber, denn ich habe diese so sehr ersehnt. Ich denke, daß auch Sie zufrieden sein werden (In diesem Satz, wie an anderen Stellen dieses Buches, wendet sich die Verfasserin an ihren Seelenführer).
Bevor ich zu schreiben begann, hörte ich die Mutter sagen: »Tochter, schreibe jetzt von mir! Für alle deine Leiden wirst du Trost empfangen.« Und während sie mir dies sagte, legte sie mir die Hand aufs Haupt und streichelte mich zärtlich; dann kam die Vision. Anfangs aber, solange ich die Fünfzigjährige nicht mit Namen rufen hörte, wußte ich nicht, daß ich die Mutter der Mutter vor mir hatte und daß die Gnade ihrer Geburt bevorstand.

3 Das Gebet Annas im Tempel wird erhört

Bevor ich fortfahre, sei folgende Bemerkung gemacht.
Das Haus schien mir nicht das mir wohlbekannte von Nazaret zu sein; wenigstens war die Umgebung eine ganz andere. Auch war der Gemüse- und Blumengarten viel größer, und Felder waren in der Ferne sichtbar. Nicht viele, aber immerhin etliche. Später, nach der Vermählung Marias ist nur mehr ein Gemüsegarten da, und das Zimmer, das ich in dieser Vision sah, habe ich in den folgenden niemals wiedergesehen. Ich weiß nicht, wie ich mir das erklären soll; ob sich die Eltern Marias aus finanziellen Gründen eines Teiles ihrer Habe entledigten oder ob Maria nach dem Verlassen des Tempels in ein anderes Haus kam, das ihr vielleicht von Josef gegeben wurde. Ich erinnere mich nicht, ob sich in den früheren Visionen und Lehrstücken ein sicherer Anhaltspunkt dafür findet, daß das Haus von Nazaret ihr Geburtshaus gewesen ist. Mein Kopf ist sehr müde. Ferner vergesse ich, besonders was die Diktate angeht, sofort die Worte, während mir die Aufträge und das Licht in der Seele eingeprägt bleiben. Aber Einzelheiten verflüchtigen sich unmittelbar.
Wenn ich nach einer Stunde wiederholen sollte, was ich gehört habe, wüßte ich nichts mehr, abgesehen von ein oder zwei Hauptgedanken. Die Visionen hingegen bleiben mir lebendig im Gedächtnis, weil ich bei ihnen selbst beobachten muß. Die Diktate schreibe ich einfach nieder. Jene hingegen muß ich in mich aufnehmen. Sie bleiben in mir lebendig, weil ich selbst auf alle Einzelheiten habe achten müssen.
Ich hoffte, es würde ein Diktat über die gestrige Vision kommen. Aber nein. Nun beginne ich zu schauen und schreibe.
Außerhalb der Mauern von Jerusalem auf den Hügeln und zwischen den Ölbäumen hat sich eine große Menschenmenge niedergelassen. Es scheint ein riesiger Marktplatz zu sein. Aber man sieht keine Tische und Buden. Auch hört man nicht die Stimmen von Marktschreiern und Verkäufern. Keine Spiele. Es sind da sehr viele Zelte aus rauher, sicher wasserundurchlässiger Leinwand, die über Pfähle, die im Boden befestigt sind, gezogen ist. Von den Pfählen hängen grüne Zweige herab, die zur Zierde und zur Erfrischung dienen. Andere Zelte bestehen ganz aus Zweigen, die im Boden befestigt wurden und so miteinander verbunden sind, daß sie kleine, grüne Lauben bilden. Unter jedem dieser Zelte befinden sich Menschen jedes Alters und jedes Standes. Ihre Gespräche sind friedvoll und gesammelt, höchstens von einem Kinderschrei unterbrochen.
Die Nacht bricht herein, und schon leuchten da und dort, in diesem eigenartigen Lager, Öllaternen auf. Um diese Lichter versammelt nehmen einige Familien ihre Abendmahlzeit ein; man sitzt auf dem Boden, die Mütter mit ihren Kleinen auf dem Schoße. Viele Kinder schlafen ermüdet ein, oft noch ein Stück Brot zwischen den rosigen Fingerchen, und lassen ihre Köpfchen auf die Brust der Mutter sinken, wie Kücken unter der Henne. Die Mütter beenden ihre Mahlzeit, so gut sie es können, mit der freien Hand, während die andere das Kind an ihr Herz drückt. Andere Familien hingegen sind noch nicht bei der Mahlzeit. Man spricht im Halbdunkel miteinander und wartet darauf, daß das Essen bereit sei. Kleine Feuer brennen hier und dort, und um sie herum sind die Frauen beschäftigt. Ein Wiegenlied, langsam, fast klagend gesungen, wiegt ein noch unruhiges Kind in den Schlaf.
Oben in der Höhe ein schöner, heiterer Himmel, der immer dunkelblauer wird, bis er einem gewaltigen Theaterzeltdach aus weichem, schwarzblauem Samt gleicht, auf dem unsichtbare Künstler und Dekorateure ganz allmählich Perlen und Lichter erscheinen lassen; einige einzeln, andere in bizarren, geometrischen Gebilden, unter denen der große und der kleine Bär mit ihren Wagenformen hervorstechen, die Wagenstangen auf dem Boden aufgestützt und die Zugtiere ausgespannt. Der Polarstern strahlt in vollem Glanz.
Ich erfahre, daß es Oktober ist, denn eine kräftige Männerstimme sagt: »Der heurige Oktober ist von einer seltenen Schönheit!«
Sieh da, Anna kommt von einem Feuer. Sie trägt verschiedene Dinge auf einem breiten, flachen Brotfladen, der ihr als Teller dient.
An ihren Kleidern hängt Alphäus, dessen Kinderstimmchen hörbar ist. Joachim beeilt sich, die Laterne anzuzünden, als er Anna sieht.
Er hatte auf der Schwelle seiner kleinen Laubhütte mit einem dreißigjährigen Mann gesprochen, den Alphäus von weitem mit einem Schrei als Papa begrüßt hat.
Anna schreitet in fürstlichem Gang durch die Reihen der Zelthütten.
Fürstlich und doch bescheiden. Sie sieht auf niemanden stolz herab. Sie richtet den Kleinen einer armen, sehr armen Frau auf, der ihr gerade vor die Füße gefallen ist, als er bei seinem hastigen Laufen stolperte; und da er sich das Gesichtchen beschmutzt hat und weint, reinigt und tröstet sie ihn und übergibt ihn der herbeieilenden Mutter mit den Worten: »Oh, es ist nichts! Ich freue mich, daß er sich nicht weh getan hat. Welch ein schönes Kind! Wie alt ist es?«
»Drei Jahre. Er ist das Zweitjüngste; aber in Kürze werde ich noch ein Kind bekommen. Jetzt habe ich sechs Knaben und deshalb hätte ich gerne ein Mädchen . . . Für eine Mutter bedeutet ein Mädchen viel . . . «
»Der Allerhöchste hat dich sehr beschenkt, Frau!« Anna seufzt.
Die andere: »Ja, ich bin arm, aber die Kinder sind unsere Freude, und die größeren helfen schon bei der Arbeit mit. Und du, Herrin (daß Anna aus vornehmen Kreisen kommt, erkennt die Frau an ihrem ganzen Benehmen), wie viele Kinder hast du?«
»Keine«
»Keine?! Ist das nicht das deinige?«
»Nein, es gehört einer braven Nachbarin; es ist mein Trost . . . «
»Sind sie dir gestorben, oder . . . «
»Ich habe nie Kinder gehabt.«
»Oh!« Die arme Frau schaut sie mitleidig an. Anna grüßt sie mit einem tiefen Seufzer und geht zu ihrer Sippe.
»Ich habe auf mich warten lassen, Joachim. Eine arme Frau hat mich aufgehalten, eine Mutter von sechs Knaben, denke dir! Und in Bälde wird sie noch ein Kind bekommen.«
Joachim seufzt.
Der Vater von Alphäus ruft seinen Buben; aber dieser antwortet: »Ich bleibe bei Anna. Ich helfe ihr.« Alle lachen.
»Laß ihn nur! Er ist uns keine Last. Er ist noch nicht zur Einhaltung des Gesetzes verpflichtet. Hier oder dort. Er ist wie ein Vöglein, das gefüttert wird«, sagt Anna und setzt sich nieder mit dem Kind auf dem Schoß. Sie gibt ihm Brotkuchen und, wie mir scheint, gerösteten Fisch. Ich sehe, daß sie letzteren zubereitet, bevor sie ihn ihm gibt. Vielleicht nimmt sie die Gräten heraus. Vorher hat sie ihren Gemahl bedient. Sie selbst ißt als letzte.
Die Nacht wird immer sternenklarer und die Lichter im Lager immer zahlreicher. Dann erlöschen allmählich viele Lichter. Es beginnt bei jenen, die zuerst ihr Abendbrot eingenommen haben und die jetzt schlafen gehen. Auch der Lärm schwindet langsam. Kinderstimmen sind nicht mehr zu hören. Nur der eine oder andere Säugling läßt sein Stimmchen vernehmen wie ein Lämmlein, das nach der Muttermilch verlangt. Die Nacht breitet ihren Atem über Personen und Dinge und verwischt Mühen und Erinnerungen, Hoffnungen und Sorgen; aber vielleicht leben diese jetzt im Traum neu auf.
Während Anna Alphäus wiegt, der anfängt, auf ihren Armen einzuschlafen, sagt sie zu ihrem Gatten: »Letzte Nacht habe ich geträumt, daß ich im nächsten Jahr für zwei Feste in die heilige Stadt kommen werde, anstatt für eines allein. Und ein Fest wird die Opferung meines Kindes im Tempel sein . . . Oh! Joachim! . . . «
»Hoffe, hoffe, Anna! Hast du sonst nichts vernommen? Hat dir der Herr nichts ins Herz geflüstert?«
»Nichts. Es war nur ein Traum . . . «
»Morgen ist der letzte Gebetstag. Alle Opfer sind bereits dargebracht, aber wir werden die Gebete morgen nochmals feierlich wiederholen.
Wir wollen Gott überwältigen mit unserer treuen Liebe.
Ich denke immer, dir wird es wie der Hanna des Elkana ergehen.«
»So Gott will . . . und ich möchte auch jemandem begegnen, der mir sagt: „Geh in Frieden! Der Gott Israels hat dir die Gnade gewährt, um die du ihn bittest!“«
»Wenn die Gnade kommt, wird dein Kind es dir sagen, wenn es sich das erste Mal in deinem Schoße regt. Es wird die Stimme der Unschuld sein, daher die Stimme Gottes.«
Jetzt schweigt das Lager in der Finsternis. Auch Anna bringt Alphäus in die Nachbarhütte zurück und legt ihn aufs Heu neben die kleinen Brüder, die bereits schlafen. Dann legt sie sich neben Joachim nieder, und auch ihr Lämpchen erlöscht. Eines der letzten Sternchen der Erde. Viel schöner leuchten die Sterne am Firmament, die über die Schlafenden wachen.

4 »Joachim hat sich mit der Weisheit Gottes vermählt, die eingeschlossen war im Herzen der gerechten Frau«

Jesus sagt:
»Die Gerechten sind immer weise, denn sie sind Freunde Gottes, leben in seiner Gemeinschaft und werden von ihm belehrt; von ihm, der die unendliche Weisheit ist. Meine Großeltern waren gerecht und besaßen daher die Weisheit. Sie konnten in Wahrheit sagen, wie es im Buch steht, welches das Lob der Weisheit singt: „Ich habe sie geliebt und gesucht von meiner frühesten Jugend an und habe beschlossen, sie mir zur Braut zu nehmen.“ [Weish 8,2]
Anna vom Stamm Aarons war die starke Frau, von der unser Vorfahr spricht [Spr 31,10–31], und Joachim vom Stamme des Königs David hat nicht so sehr Anmut und Reichtum gesucht als vielmehr die Tugend. Anna besaß eine große Tugend. Ja, alle Tugenden waren in ihr vereint, wie ein duftender Blumenstrauß, um etwas einziges, Schönes zu bilden: die Tugendhaftigkeit. Eine königliche Tugend, würdig, vor dem Thron Gottes zu stehen.
Joachim hatte sich daher zweimal mit der Weisheit vermählt, „indem er sie liebte mehr als jede andere“. Er hat sich mit der Weisheit Gottes vermählt, die eingeschlossen war im Herzen der gerechten Frau. Anna, die Tochter Aarons, hatte nichts anderes gewollt, als ihr Leben mit einem gerechten Mann zu teilen, in der Überzeugung, daß die Freude der Familie in der Rechtschaffenheit besteht. Und um ein Sinnbild der „starken Frau“ zu sein, fehlte ihr nur die Krone der Kinder, die der Ruhm der verheirateten Frau und die Rechtfertigung der Vermählung ist, von der Salomon spricht [Spr 17,6]. Auch zu ihrem Glück fehlten ihr nur diese Kinder, die Blüten des Baumes, der zu einem einzigen geworden ist mit seinem Nachbarbaum und von ihm den Reichtum jener neuen Früchte empfangen hat, in denen sich die Tugenden beider zu einer einzigen verbinden; denn von seiten des Gatten mußte sie niemals eine Enttäuschung erleben.
Da sie nun alterte und seit vielen Jahren Joachims Gattin war, blieb sie für ihn dennoch immer „die Braut seiner Jugend, seine Freude, das geliebte Reh, die schlanke Gazelle“ [Spr 5,18–19], deren Liebkosungen jedes Mal den Zauber des ersten Vermählungsabends hatten und voller Zärtlichkeit seine Liebe entzückten, indem sie ihn frisch erhielten wie eine Blume, die der Tau benetzt, und glühend wie das Feuer, das immer von neuen genährt wird. In ihrer Betrübnis ob der Kinderlosigkeit richteten sie aneinander Worte des Trostes, in Gedanken und in den schweren Augenblicken. Die Stunde kam, und die ewige Weisheit, die sie im Leben unterwiesen hatte, erleuchtete sie nun in den nächtlichen Träumen. So erfuhren sie, daß der Morgenstern der Herrlichkeit aus ihnen hervorgehen sollte, nämlich die Heilige Maria, meine Mutter.
Wenn sie auch in ihrer Demut nicht daran dachten, so zitterten doch ihre hoffnungsvollen Herzen beim ersten Schall der göttlichen Verheißung. Schon liegt Gewißheit in den Worten Joachims: „Hoffe, hoffe . . . wir werden Gott besiegen durch unsere treue Liebe.“
Sie wünschten sich einen Sohn: sie erhielten die Mutter des Herrn.
Die Worte des Buches der Weisheit scheinen für sie geschrieben worden zu sein: „Durch sie werde ich Ruhm ernten vor dem Volk . . .
durch sie werde ich Unsterblichkeit erlangen und hinterlassen ewiges Gedenken meiner bei jenen, die nach mir kommen werden“
[Weish 8,13]. Um all das zu erlangen, mußten sie aber zu Königen einer wahren und dauerhaften Tugend werden, die kein Ereignis verletzen kann. Tugend des Glaubens, Tugend der Liebe, Tugend der Hoffnung, Tugend der Keuschheit.
Die Keuschheit der Gatten! Sie besaßen sie, denn um keusch zu sein, bedarf es nicht der Jungfernschaft. Auch das keusche Brautgemach hat seinen Schutzengel, der für eine gute Nachkommenschaft sorgt, für die die Tugend der Eltern eine Richtlinie im Leben bildet.
Was ist aber aus ihr geworden? Heute wünscht man weder Kinder noch Keuschheit. Daher sage ich, die Liebe und das Brautgemach sind entweiht worden.«

5 Mit einem Lobgesang verkündete Anna ihre Mutterschaft

Ich sehe wieder das Haus von Joachim und Anna. Im Innern hat sich nichts verändert, wenn man von den zahlreichen, blühenden Zweigen absieht, die hier und dort Vasen füllen und sicherlich von den Obstbäumen im Garten kommen, die jetzt alle in Blüte stehen: eine Wolke, deren Farbe vom Weiß des Schnees ins Rot gewisser Korallen übergeht.
Auch die Arbeit Annas ist nicht mehr die gleiche. An einem Webstuhl, der viel kleiner ist als der frühere, webt sie schöne Linnentücher und singt im Rhythmus der Bewegung ihrer Füße einen Lobgesang.
Sie singt und lächelt . . . Für wen? Für sich selbst, für etwas, das sie in ihrem Innern sieht. Der Gesang ist langsam und doch freudig.
Ich habe ihn niedergeschrieben, stückweise, denn sie wiederholt ihn mehrmals, als schöpfe sie daraus Seligkeit. Immer stärker und sicherer wird ihr Gesang, wie der eines Menschen, der einen Rhythmus in seinem Herzen gefunden hat und ihn erst nur leise vor sich hersagt, dann aber mit zunehmender Sicherheit den Ton erhöht und schneller wird. Ich schreibe ihn nieder, denn er ist sehr lieblich in seiner Schlichtheit.
»Ehre sei dem Vater, dem Allmächtigen, der von den Söhnen Davids Liebe erntet. Ehre sei dem Vater!
Hohe Gnade hat mich heimgesucht vom Himmel her.
Der alte Baum gibt einen neuen Sproß, der mich beglückt.
Am Fest der Lichter warf die Hoffnung ihren Samen: nun sieht der Blütenduft des Nisans ihn keimen.
Wie der Mandelbaum erblüht mein Fleisch zur Frühlingszeit.
Es fühlt, daß seine Frucht erscheinen wird, zur Abendzeit.
Auf diesem Zweig blüht eine Rose, prangt einer der süßesten Äpfel; ein Stern geht auf, hell leuchtet er am Himmel; ein junges, unschuldiges Leben ist uns gegeben.
Die Freude des Hauses, des Gatten und der Gattin.
Lob sei dem Herrn, ja meinem Herrn, der Erbarmen mit mir hatte!
Sein Licht hat mir verkündet: Ein Stern wird zu dir kommen.
Ehre, Ehre sei Dir! Dein wird die Frucht der Pflanze sein.
Die erste und letzte, heilige und reine, die ein Geschenk des Herrn ist.
Dein soll sie sein, und durch sie wird Freude und Frieden auf Erden kommen.
Webschiffchen, flieg! Der Faden soll zu Windeln fürs Kindlein werden.
Es wird geboren werden! Gott preisend steige empor meines Herzens Jubel!«
Joachim tritt ein, während sie dabei ist, ihren Gesang zum dritten Mal zu wiederholen. »Bist du glücklich, Anna? Du bist wie ein Vöglein an einem Frühlingsmorgen. Welch ein Gesang mag das wohl sein? Nie habe ich ihn von jemandem gehört. Woher kommt er uns?«
»Aus meinem Herzen, Joachim.« Anna hat sich erhoben und geht ihrem Gatten voll lachender Freude entgegen. Sie sieht jünger und schöner aus.
»Als Poetin habe ich dich noch nicht gekannt«, sagt ihr Gemahl und schaut sie mit offensichtlicher Bewunderung an. Sie scheinen nicht mehr ein bejahrtes Paar. In ihren Blicken liegt die Zartheit junger Verlobter.
»Ich kam aus dem Hintergrund des Gartens, da hörte ich dein Singen. Seit Jahren hörte ich dich nicht mehr mit der Stimme der verliebten Turteltaube singen. Willst du mir diesen Gesang noch einmal wiederholen?«
»Ich würde ihn dir wiederholen, auch wenn du mich nicht darum gebeten hättest. Die Kinder Israels haben stets dem Gesang den wahrsten Ausruf ihrer Hoffnung, ihrer Freude und ihres Schmerzes anvertraut. Auch ich will dir und mir mit dem Gesang eine große Freude kundtun. Ja, auch mir selbst, denn die Sache ist so groß, daß sie mir noch nicht wahr scheint, obwohl ich ihrer doch so sicher bin . . . « Und sie beginnt aufs neue zu singen. Als sie die Stelle erreicht: »Auf diesem Zweig blüht eine Rose, prangt einer der süßesten Äpfel; ein Stern geht auf . . . « erfaßt ihre schöne Altstimme ein Zittern; sie stockt, schaut Joachim mit einem Freudenschluchzer an und ruft mit erhobenen Armen aus: »Ich bin Mutter!« Dann stürzt sie an sein Herz, in die Arme, die er ihr entgegengestreckt hat und mit denen er jetzt seine glückliche Gemahlin an sich drückt. Das war die keuscheste und seligste Umarmung, die ich je gesehen habe.
Keusch und doch glühend in ihrer Keuschheit. Dazu der sanfte Vorwurf, der in das graue Haar von Anna gesprochen wird: »Und du hast mir nichts davon gesagt!«
»Ja, ich wollte dessen gewiß sein . . . Alt wie ich bin . . . mich als Mutter zu wissen . . . Ich konnte es nicht glauben . . . Und ich wollte dir nicht die bitterste aller Enttäuschungen bereiten. Schon seit Ende Dezember fühle ich eine tiefe Veränderung in meinem Innersten, weil, wie gesagt, ein neuer Zweig sich bildet. Aber nun bin ich der Frucht auf diesem Zweig sicher . . . Siehst du, dieses Tuch ist schon für den kommenden Sprößling.«
»Ist das nicht der Flachs, das du im Oktober in Jerusalem erworben hast?«
»Ja, und dieser Flachs habe ich gesponnen, während ich wartete . . .
und hoffte. Ich hoffte, denn als ich am letzten Tag im Tempel betete, solange eine Frau im Haus Gottes verweilen darf, und es war ja schon Abend . . . erinnerst du dich, daß ich da sagte: „Noch, noch ein wenig!“? Ich konnte mich von jener Stätte nicht trennen, ohne das Bewußtsein, Gnade erlangt zu haben! Und sieh da: Im Schatten, der schon das Innere des heiligen Ortes erfüllte, den ich mit der ganzen Anziehungskraft der Seele betrachtete, um von dem gegenwärtigen Gott eine Zusage zu erhalten, sah ich ein Licht, einen Funken schönsten Lichtes. Es war weiß wie der Mond, hatte aber in sich das Leuchten aller Perlen und Edelsteine, die es auf Erden gibt.
Es schien, als ob einer der kostbarsten Sterne des Vorhangs, einer der Sterne unter den Füßen der Kerubim, sich loslöste und ein übernatürliches Licht ausstrahlte . . . Es schien, als ob jenseits des heiligen Vorhanges von der Herrlichkeit Gottes ein Feuer ausginge, auf mich zueilte und beim Durchdringen der Luft mit himmlischer Stimme sänge: „Das, worum du bittest, soll dir gegeben werden.“ Daher singe ich: „Ein Stern wird zu dir kommen.“ Welch ein Sohn wird der unsrige sein, der uns als Sternenlicht im Tempel geoffenbart wird und der am Fest der Lichter spricht: „Da bin ich.“ Mögest du richtig gesehen haben, als du mich für eine neue Hanna Elkana hieltest [1 Sam 1,9]. Wie werden wir unser Kind nennen, das ich lieblich wie plätscherndes Wasser in meinem Schoß reden höre mit seinem kleinen Herzen, das schlägt und schlägt wie jenes eines Turteltäubchens in der Höhlung der Hände?«
»Wenn es ein Knabe ist, so werden wir ihn Samuel nennen; ist es aber ein Mädchen, so geben wir ihm den Namen Stella (Stern).
Dieses Wort hat deinen Gesang beendet, als mir die Freude zuteil wurde, mich Vater zu wissen; dies ist die Gestalt, die es angenommen hat, um sich im heiligen Schatten des Tempels zu offenbaren.«
»Stern, unser Stern, denn ich weiß nicht, aber ich denke, es wird ein Mädchen sein. Es scheint mir, daß so sanfte Liebkosungen nur von einem allerliebsten Töchterchen kommen können. Denn nicht ich trage es; es bereitet mir keine Schmerzen. Sie ist es, die mich dahinträgt auf einem himmelblauen, blumenreichen Pfad, als ob ich getragen würde von heiligen Engeln und die Erde schon weit entfernt wäre. Ich habe immer von den Frauen gehört, daß das Empfangen und Schwangersein Schmerzen mit sich bringt. Aber ich fühle keinen Schmerz. Ich fühle mich stark, jung und frisch, mehr als damals, da ich dir in ferner Jugendzeit meine Jungfräulichkeit schenkte. Die Tochter Gottes – denn von Gott kommt sie mehr als von uns, da sie aus einem verdorrten Stamme sprießt – bereitet ihrer Mutter keine Pein; nur Frieden und Segen bringt sie ihr: die Geschenke Gottes, ihres wahren Vaters.«
»Dann werden wir sie Maria nennen, Stern unseres Meeres, Perle, unser Glück. Es ist der Name der ersten Frau [Ex 15,20–21; Num 12,1–15]. Aber diese wird nie sündigen gegen den Herrn, und ihn allein wird sie besingen, denn ihm ist sie geweiht: Opfer schon vor der Geburt.«
»Ja, ihm sei es angeboten, ob Knabe oder Mädchen. Wenn wir uns drei Jahre an unserem Kind erfreut haben, werden wir es dem Herrn schenken. Auch wir wollen zusammen mit ihm eine Opfergabe sein, zur Ehre Gottes.«
Weiteres sehe und höre ich nicht.

6 »Die Makellose war nie Gottes Gedenken bar«

Jesus spricht:
»Die Weisheit Gottes erleuchtete sie in den nächtlichen Träumen, stieg als „Hauch der Gotteskraft in sie herab, als Ausstrahlung der Herrlichkeit des Allmächtigen“ [Weish 7,25], und wurde für die Unfruchtbare Wort. Der, der die Zeit der Erlösung herannahen sah, Ich, Christus, der Enkel Annas, wirkte etwa fünfzig Jahre später durch das Wort Wunder an den Unfruchtbaren, den Kranken, den Besessenen, den Trostlosen und an allen Elenden der Erde.
Inzwischen aber flüsterte ich, in der Freude, eine Mutter zu haben, geheimnisvolle Worte im Schatten des Tempels, der die Hoffnungen Israels barg; des Tempels an der Grenze seines Daseins; denn der neue und wahre Tempel, der nicht mehr die Hoffnungen eines Volkes, sondern die ewige Gewißheit des Paradieses für das Volk der ganzen Erde darstellt, sollte in Bälde errichtet werden. Und dieses Wort wirkt das Wunder und macht fruchtbar, was unfruchtbar war; es gibt mir eine Mutter, die nicht nur als Tochter zweier Heiliger eine vollkommene Natur hat, die nicht nur wie viele andere ein edles Herz besitzt, die nicht nur durch ihren guten Willen beständig an Güte zunimmt und nicht nur einen unbefleckten Körper hat, sondern auch als einzige unter den Geschöpfen eine unbefleckte Seele.
Du hast in deinem Leben viele aufeinanderfolgende Generationen der Kinder Gottes gesehen. Nun erwäge, wie schön die Seele gewesen sein muß, die der Vater mit Wohlgefallen anschaute, noch bevor die Zeit begann; diese Seele, die die Freude der Allerheiligsten Dreifaltigkeit war, die gleichsam darauf brannte, sie mit ihren Gaben auszustatten, um sich selbst damit zu beschenken. O du vollkommen Heilige, die Gott für sich und das Heil der Welt erschuf! Du Trägerin des Erlösers, du Anfang unseres Heiles! Lebendiges Paradies, du hast mit deinem Lächeln begonnen, die Erde zu heiligen.
O Seele, geschaffen, die Seele der Mutter Gottes zu sein! Als aus einem lebendigeren Herzschlag der dreifaltigen Liebe dieser lebendige Funke entsprang, jubelten die Engel; denn helleres Licht hatte das Paradies nie erblickt . . . Wie ein himmlisches Rosenblatt, ein geistiges, kostbares Blütenblatt, das zugleich Perle und Flamme, das der Hauch Gottes war, der herabstieg, ein Fleisch zu beleben, gar verschieden von den übrigen Menschen – wie ein mächtiges Feuer, das keine Schuld aufkommen ließ, durcheilte er die Räume und schloß sich ein in einen heiligen Schoß.
Die Erde besaß die Blume, wußte es aber noch nicht; die wahre, einzige Blume, die in alle Ewigkeit blüht: Lilie und Rose, Veilchen und Jasmin, Zyklame und Sonnenblume, alle irdische Blumenschönheit in sich schließend: Maria, in der alle Tugenden und Gnaden sich vereinen. Im April glich Palästina einem großen Garten. Die Düfte und Farben entzückten das Herz der Menschen. Aber noch war die allerschönste Rose unbekannt. Schon blühte sie für Gott im geheimen Mutterschoß, denn meine Mutter liebte vom Augenblick ihrer Empfängnis an.1 Aber erst wenn die Weinrebe ihr Blut gibt, damit daraus Wein werde, und der Duft des Mostes, süß und stark, die Tenne und die Nasenflügel erfüllt, erst dann soll sie vor Gott und den Menschen lächeln und mit ihrem unschuldigen Lächeln sagen: „Seht die Rebe, die euch die Traube geben wird, die, gepreßt in der Kelter, ewige Medizin gegen eure Übel sein wird – nun ist sie bei euch.“
Ich habe gesagt: „Maria liebte, seit sie empfangen war.“ Was gibt dem Geist Licht und Erkenntnis? Die Gnade. Und was nimmt die Gnade hinweg? Die Erbsünde und die Todsünde.
Maria, die Makellose, entbehrte nie Gottes Gedenken, seine Nähe, seine Liebe, seine Weisheit, sein Licht. Daher war sie schon fähig zu verstehen und zu lieben, als sie noch ein Fleisch war, das sich um eine unbefleckte Seele verdichtete, die beständig liebte.
Später werde ich dich im Geist die Tiefe der Jungfräulichkeit Marias schauen lassen. Es wird dir ein himmlisches Erschaudern verursachen, wie damals, als ich dir unsere Ewigkeit zu betrachten gab.
Inzwischen erwäge, wie die Mutter, die in ihrem Schoß ein Geschöpf trägt, das frei von allen von Gott trennenden Makeln ist, selbst wenn sie nur natürlich, menschlich empfangen hat, eine höhere Erkenntnis 1Sie war voller Gnaden. Gnade aber ist Liebe, ist Weisheit, ist alles. Und da Maria deren Fülle besaß, liebte sie von dem Augenblick an, da sie eine Seele hatte.
erhält, die aus ihr eine Prophetin macht: Die Prophetin ihrer Tochter, die sie „Tochter Gottes“ nennt.
Und dann bedenke, was geschehen wäre, wenn von den unschuldigen Ureltern unschuldige Kinder geboren worden wären, wie Gott es wollte! Das, ihr Menschen, die ihr euch zum „Übermenschen“ entwickeln wollt, mit euren Lastern aber nur zum „Überdämon“ werdet, das wäre das Mittel gewesen, ein „Übermenschentum“ zu erreichen.
Ihr wäret nicht vom Satan berührt worden und hättet Gott die Gestaltung des Lebens, der Erkenntnis und des Guten überlassen, ohne mehr zu verlangen, als Gott euch geben wollte (und es war um weniges weniger als das Unendliche). Ihr hättet in einer beständigen Entwicklung zum Vollkommenen Söhne gezeugt, die dem Leib nach Menschen und dem Geist nach Söhne der Weisheit gewesen wären, d. h. Sieger, Starke und Riesen gegenüber Satan, der zu Boden geschmettert worden wäre Tausende von Jahrhunderten vor der Stunde, in der es nun geschehen wird, und mit ihm all sein Böses.«

7 Geburt der Jungfrau Maria

Ich sehe Anna in den Blumen- und Gemüsegarten hinausgehen. Sie stützt sich auf den Arm einer Verwandten, wie mir scheint; denn die Frau sieht ihr sehr ähnlich. Sie ist hochschwanger und offenbar sehr müde; vielleicht auch wegen der Schwüle, die sehr jener gleicht, die mich umgibt.
Obwohl der Garten schattig ist, ist die Luft doch glühend heiß, ja erdrückend. Eine Luft, die man zerschneiden könnte wie einen weichen Teig, so dicht scheint sie zu sein unter dem erbarmungslos blauen Himmel. Es muß schon seit längerer Zeit nicht mehr geregnet haben, denn die Erde ist dort, wo sie nicht bewässert wird, buchstäblich zu feinstem, fast weißem Staub geworden. Das Weiß neigt leicht zu einem schmutzigen Rosa, während der Boden dort, wo er bewässert wird, dunkelbraun bis rot ist; so am Fuß der Bäume, längs der kleinen Beete, auf denen reihenweise Gemüse wächst, und um die Rosenstöcke, den Jasmin und andere Blumen und Blümchen, die es besonders vorne gibt und entlang der schönen Laube, die den Gemüsegarten in zwei Teile teilt, bis zum Beginn der Felder, deren Hafer schon geerntet worden ist. Auch das Gras am Rand des Besitztums ist trocken und spärlich. Nur am äußersten Ende, dort wo sich eine Hecke aus wildem Weißdorn befindet, der schon fast ganz der Rubine seiner kleinen Früchte beraubt ist, dort ist das Gras grüner und dichter, und dort weiden, bewacht von einem Hirtenknaben, einige Schafe auf der Suche nach Futter und Schatten.
Joachim macht sich an den Beeten und an den Olivenbäumen zu schaffen. Er hat zwei Männer um sich, die ihm helfen. Wenn er auch schon alt ist, so ist er dennoch flink und arbeitet mit Freude. Sie öffnen kleine Dämme an den Grenzen eines Feldes, um den durstigen Bäumen Wasser zuzuleiten. Und das Wasser bahnt sich einen Weg, plätschert zwischen Kräutern und trockener Erde dahin und breitet sich in den Wendungen aus, die für einen Augenblick gelbes Kristall zu sein scheinen, dann aber zu dunklen Rinnen feuchter Erde werden, rings um die Rebstöcke und die schwerbeladenen Olivenbäume.
Langsam geht Anna durch die schattige Laube, unter der goldgelbe Bienen gierig nach dem Saft der blonden Beeren fliegen, auf Joachim zu, der ihr, sobald er ihrer ansichtig wird, entgegeneilt.
»Bis hierher bist du gekommen?«
»Das Haus ist heiß wie ein Ofen.«
»Und du leidest darunter.«
»Das Leiden der letzten Stunden einer Schwangeren. Es ist das Leiden aller: Menschen und Tiere. Erhitze dich nicht zu sehr, Joachim!
«
»Der so lange erwartete Regen, der seit drei Tagen schon nahe scheint, ist noch nicht gekommen, und die Flur verbrennt. Es ist gut für uns, daß die Quelle so nahe ist, und so reich an Wasser. Ich habe die Kanäle geöffnet. Eine kleine Erleichterung für die Bäume mit ihren welken und staubbedeckten Blättern; aber genug, um sie am Leben zu erhalten. Wenn es nur regnete! . . . « Joachim blickt mit der Sorge des Landwirts forschend zum Himmel auf, während Anna sich müde Luft zufächelt mit einem getrockneten Palmblatt, das von vielfarbigen Fäden, die es steif halten, durchflochten ist.
Die Verwandte sagt: »Dort, jenseits des hohen Hermon steigen schnell dahinziehende Wolken auf. Nordwind; er bringt Frische und vielleicht etwas Regen.«
»Seit drei Tagen weht er so; aber dann läßt er beim Aufgehen des Mondes wieder nach. So wird es auch heute sein«, sagt Joachim entmutigt.
»Kehren wir ins Haus zurück. Auch hier kann man nicht atmen . . . « sagt Anna, die aufgrund einer Blässe, die ihr Gesicht befallen hat, olivenfarbiger als gewöhnlich erscheint.
»Hast du Schmerzen?«
»Nein. Ich fühle den großen Frieden, den ich im Tempel empfunden habe, als ich Erhörung fand; ich habe ihn auch gefühlt, als ich wußte, daß ich Mutter werde. Es ist wie eine Ekstase. Ein sanfter Schlaf des Körpers, während der Geist aufjubelt und in einem Frieden schwelgt, für den es auf menschlicher Ebene keinen Vergleich gibt. Ich habe dich lieb, Joachim, und als ich in dein Haus einzog und mir sagte: „Ich bin die Braut eines Gerechten“, hatte ich ein Gefühl des Friedens und ebenfalls, sooft deine tätige Liebe sich um deine Anna sorgte. Aber der jetzige Friede ist von anderer Art. Schau: ich glaube, daß es ein Friede ist, wie der sich ölartig ausbreitende und lindernde Friede, den der Geist Jakobs, unseres Vaters, nach seinem Traumgesicht von den Engeln empfand [Gen 28,12]; oder besser noch: er ähnelt dem freudigen Frieden der beiden Tobias, nachdem Rafael sich ihnen geoffenbart hatte [Tob 12]. Je mehr ich mich in ihn vertiefe und ihn genieße, um so mehr wächst er. Es ist, als erhöbe ich mich in die blauen Räume des Himmels . . . Ich weiß nicht warum, aber seit ich in mir diese friedliche Freude habe, vernehme ich einen Gesang in meinem Herzen: den des alten Tobias [Tob 13,1–13].
Mir ist, als sei er für diese Stunde geschrieben worden . . . für diese Freude . . . für das Land Israel, dem sie zuteil wird . . . für Jerusalem, die Sünderin, der nun verziehen wird . . . aber . . . lächelt nur über das irre Reden einer Mutter . . . aber wenn ich sage: „Danke dem Herrn für seine Wohltaten und preise den Herrn, den Ewigen, damit er in dir sein Zelt wieder erbaue!“, dann denke ich, daß der, der in Jerusalem das Zelt des wahren Gottes wieder erbauen wird, das Geschöpf ist, das bald geboren wird . . . Ich meine auch, daß nicht so sehr von der heiligen Stadt als vielmehr von meinem Kind das Schicksal vorausverkündet wird, wenn es im Lobgesang heißt: „Du wirst in hellem Licht erstrahlen, alle Völker der Erde werden sich vor dir niederwerfen, die Nationen werden zu dir kommen und dir Geschenke bringen, sie werden in dir den Herrn anbeten und dein Land heilig heißen; denn in dir werden sie den Großen Namen anrufen.
Du wirst glücklich sein in deinen Söhnen, denn alle werden gesegnet sein und sich um den Herrn versammeln. Selig, die dich lieben und sich an deinem Frieden erfreuen! . . . “ Und die erste, die sich freut, bin ich selbst, die selige Mutter . . . «
Anna entflammt sich bei diesen Worten und wechselt mehrmals Farbe wie ein Wesen, das aus dem Mondlicht zu einem großen Feuer getragen wird und umgekehrt. Sanfte Tränen rollen ihr über die Wangen herab; sie beachtet sie nicht in ihrer Freude. Inzwischen kehrt sie zwischen dem Gemahl und ihrer Verwandten, die beide bewegt schweigen und lauschen, zum Haus zurück.
Sie beeilen sich, denn die Wolken, die von einem starken Wind getrieben werden, kommen rasch näher und breiten sich am Himmel aus, und die Ebene wird dunkel und erschaudert in der Ankündigung des Gewitters. Als sie an der Schwelle des Hauses ankommen, durchfurcht ein erster hellzuckender Blitz den Himmel, und das Grollen des Donners ertönt wie das Schmettern einer riesigen Pauke, das sich in das Trommeln der ersten Tropfen auf die dürren Blätter mischt.
Alle treten ein, und Anna zieht sich zurück, während Joachim, von seinen Helfern eingeholt, an der Türe über den so lange erwarteten Regen zu sprechen beginnt, der ein wahrer Segen für das durstige Land ist. Aber die Freude verwandelt sich in Furcht, denn es kommt ein heftiges Unwetter mit Blitzen und hagelbeladenen Wolken.
»Wenn die Wolke platzt, werden die Weinstöcke und die Olivenbäume wie im Mörser zerstampft. Wir Ärmsten!«
Noch eine andere Angst befällt Joachim: für seine Gattin ist die Stunde gekommen, da ihr Kind das Licht derWelt erblicken soll. Die Verwandte versichert ihm, daß Anna tatsächlich nicht leidet. Aber er bleibt unruhig, und jedes Mal, wenn die Verwandte oder andere Frauen, unter denen sich auch die Mutter des Alphäus befindet, aus der Kammer Annas herauskommen und mit warmem Wasser, Decken und Linnen, die sie am hellflackernden Feuer der geräumigen Küche erwärmt haben, dorthin zurückkehren, geht er hin und erkundigt sich, läßt sich aber durch ihre Versicherungen nicht beruhigen.
Auch das Fehlen von Schmerzensschreien macht ihm Sorge.
Er sagt: »Ich bin ein Mann und habe nie eine Geburt gesehen; aber ich erinnere mich gehört zu haben, daß das Fehlen von Geburtswehen verhängnisvoll ist.«
Die Nacht bricht infolge des außergewöhnlich heftigen Gewitters verfrüht herein. Wassergüsse, Winde, Blitze, alles stellt sich ein; doch nicht der Hagel, der sich anderswo entladen hat.
Einer der Burschen weist auf die Heftigkeit des Gewitters hin und bemerkt: »Es scheint, daß Satan mit all seinen Dämonen aus der Hölle herausgekommen ist. Schau, welch schwarze Wolken! Riechst du, welch ein Schwefelgeruch in der Luft liegt und hörst du das Pfeifen und Zischen, die Klagestimmen und die Flüche? Wenn er es ist, dann rast er heute abend ganz schön!«
Der andere Bursche lacht und sagt: »Es muß ihm eine große Beute entgangen sein, oder Michael hat ihn mit einem neuen Blitz Gottes getroffen und ihm Hörner und Schwanz abgeschnitten und verbrannt.
«
Eine Frau kommt und ruft: »Joachim, sie hat gerade geboren! Alles ging schnell und glücklich vonstatten!« Und sie verschwindet wieder mit einem Krüglein in der Hand.
Das Unwetter bricht in sich zusammen nach einem lauten und so heftigen Blitzschlag, daß es die drei Männer gegen die Wand wirft und an der Frontseite des Hauses im Boden des Gartens zur Erinnerung ein schwarzes, rauchendes Loch bleibt. Während im Zimmer Annas ein Wimmern hörbar wird, das dem Klagen eines Turteltäubchens gleicht, das zum ersten Mal nicht mehr piepst, sondern gurrt, breitet ein gewaltiger Regenbogen seinen Halbkreis über die ganze Breite des Himmels aus. Er steigt auf oder scheint wenigstens aufzusteigen von der Höhe des Hermon aus, der, von einem Sonnenstrahl geküßt, wie ein Alabasterblock in zartestem Rosaweiß leuchtet und sich in den klaren Septemberhimmel erhebt. Dann durchzieht der Farbenbogen die von aller Unreinheit gesäuberten Himmelsräume, überfliegt die Hügel von Galiläa und die Ebene, die im Süden zwischen zwei Feigenbäumen sichtbar wird, dann noch einen anderen Berg und scheint sich am äußersten Horizont niederzulassen, dort, wo eine graue Gebirgskette jede weitere Aussicht versperrt.
»Ein nie gesehenes Schauspiel!«
»Schaut, schaut!«
»Es scheint, als werde ganz Israel in einen Kreis zusammengeschlossen . . . und nun schaut! . . . da erscheint ein Stern, während die Sonne noch nicht verschwunden ist. Welch ein Stern! Er leuchtet wie ein gewaltiger Diamant! . . . «
»Und der Mond dort, ein Vollmond, obwohl noch drei Tage bis dahin fehlen. Aber seht, wie er strahlt!«
Die Frauen kommen in festlicher Freude herbei, mit einem rosigen Kindlein in weißem Linnen.
Es ist Maria, die Mutter! Eine ganz kleine Maria, so klein, daß sie in den Armen eines Kindes schlafen könnte; eine Maria, nicht länger als ein Vorderarm, das Köpfchen wie aus leicht rosa gefärbtem Elfenbein und die winzigen Lippen, die nun nicht mehr weinen, karminrot; sie machen fast unmerkliche saugende Bewegungen, aber man kann sich kaum vorstellen, daß sie an der Mutterbrust saugen werden können. Das Näschen zwischen den beiden runden Bäckchen ist winzig, und wenn man es sachte berührt, dann öffnen sich die Äuglein und lassen durch zwei unschuldige, blaue Pünktchen zwei Stückchen Himmel sehen. Die Äuglein unter den blonden Wimpern schauen, ohne zu sehen. Auf dem runden Köpfchen bilden rötlichblonde Härchen einen zarten Flaum, der die Farbe eines gewissen, beinahe weißen Honigs hat. Die durchsichtigen Öhrchen gleichen zwei rosafarbenen Müschelchen. Und die Händchen, was sind das für winzige Dinge, die sich in die Luft heben und dann nach dem kleinen Mund greifen! Geschlossen, wie sie jetzt sind, gleichen sie zwei Knospen, die das Grün des Kelches abgestreift haben und am Aufbrechen sind . . . und nun, geöffnet . . . gleichen sie zwei Kameen aus rötlich angehauchtem Elfenbein. Die kleinen Händchen aus rosaschimmerndem Alabaster, mit fünf bleichen Granatplättchen als Fingernägel . . . wie können solche Händchen ein Meer von Tränen trocknen?
Und sieh, nun ist sie wieder in den Windeln und auf den Armen des irdischen Vaters, dem sie ähnelt. Eigentlich noch nicht. Vorerst ist sie nur der Entwurf eines Menschenkindes. Ich meine, daß sie ihm als Frau gleichen wird. Von der Mutter hat sie nichts. Vom Vater die Farbe der Haut und der Augen und sicher auch der Haare; denn wenn diese jetzt auch weiß sind, in der Jugend waren sie sicherlich blond, wie die Augenbrauen es bezeugen. Vom Vater hat sie auch die Gesichtsform, die aber feiner ausgearbeitet ist, da sie Frau und erhabene Frau ist; außerdem das Lächeln und den Blick, die Art und Weise, sich zu bewegen, und die Statur. Wenn ich an Jesus denke, wie ich ihn sehe, finde ich, daß Anna ihrem Enkelkind die Statur gegeben hat und die mehr elfenbeinartige Farbe der Haut.
Maria besitzt nicht die imponierende Gestalt Annas, dieser hohen, geschmeidigen Palme, wohl aber die Anmut des Vaters.
Die Frauen sprechen noch vom Gewitter und von dem Wunder des Mondes, des Sternes, des ungeheuren Regenbogens, während sie mit Joachim hineingehen zur glücklichen Mutter und ihr das Kindlein wiederbringen.
Anna lächelt in Gedanken und spricht: »Sie ist der Stern. Ihr Zeichen ist am Himmel erschienen. Maria, der Regenbogen des Friedens!
Maria, mein Stern, Maria, strahlender Mond! Maria, unsere Perle!«
»Maria nennst du sie?«
»Ja, Maria, Stern und Perle, Licht und Frieden . . . «
»Aber dieser Name bedeutet auch Bitterkeit . . . Fürchtest du nicht, daß er ihr Unheil bringen könnte?«
»Gott ist mit ihr. Sie gehörte ihm, schon bevor sie lebte. Er wird sie führen auf ihren Wegen, und jede Bitterkeit wird sich in paradiesische Süße verwandeln. Jetzt gehöre deiner Mutter . . . noch ein wenig, bevor du ganz Gottes sein wirst . . . !«
Die Vision endet mit dem ersten Schlaf der Mutter Anna zusammen mit ihrem Kind Maria.

8 »Ihre Seele erscheint schön und unbefleckt, wie der Vater sie ersann!«

Jesus spricht:
»Steh auf und beeile dich, kleine Freundin! Ich habe ein brennendes Verlangen, dich mit mir in das paradiesische Blau der Betrachtung der Jungfräulichkeit Marias zu führen. Du wirst daraus hervorgehen mit frischer Seele, als wärest du soeben vom Vater erschaffen worden; eine kleine Eva, die das Fleisch noch nicht kennt. Du wirst daraus hervorgehen mit einem Geist voller Licht und betrachtend dich versenken in das Meisterwerk Gottes. Du wirst daraus hervorgehen mit deinem ganzen Sein, überfließend von Liebe: denn du wirst begreifen, wie groß die Liebe Gottes ist. Von der Empfängnis Marias, der Makellosen, sprechen will heißen: untertauchen im Himmelsblau, im Licht, in der Liebe. Komm und lies ihre Herrlichkeiten im Buch des Vorfahren!
„Der Herr schuf mich, seines Waltens Erstling, als Anfang seiner Werke, vorlängst. Von Ewigkeit her bin ich gebildet, von Anbeginn, vor dem Ursprung der Welt. Noch ehe die Meere waren, ward ich geboren, noch vor den Quellen, reich an Wasser. Bevor die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln ward ich geboren, ehe er die Erde gemacht und die Fluren und die ersten Schollen des Erdreichs. Als er den Himmel baute, war ich dabei, als er das Gewölbe absteckte über der Urflut, als er die Wolken droben befestigte und die Quellen der Urflut stark machte, als er dem Meer seine Schranke setzte, daß die Wasser seinem Befehle gehorchten, als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als Liebling ihm zur Seite, war lauter Entzücken Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit, spielte auf seinem Erdenrund und hatte mein Ergötzen an den Menschenkindern.“
[Spr 8,22–31]
Ihr habt diese Worte auf die Weisheit bezogen, aber sie sprechen von ihr: der schönen Mutter, der heiligen Mutter, der jungfräulichen Mutter der Weisheit, die ich bin, der ich mit dir rede. Ich wollte, daß du den ersten Vers dieses Hymnus, der von ihr spricht, an den Anfang des Buches setztest, damit man erkennt und anerkennt, daß sie der Trost und der Ruhm Gottes, die Ursache der beständigen, vollkommenen und innigen Freude dieses Dreieinigen Gottes ist, der euch regiert und liebt und dem der Mensch so viel Anlaß zur Traurigkeit gibt; sie ist der Grund, weshalb er das Menschengeschlecht weiter bestehen ließ, damals, als es nach der ersten Prüfung verdiente, vernichtet zu werden; sie ist der Grund der Vergebung, die ihr erhalten habt.
Maria haben, um von ihr geliebt zu werden! Oh, es lohnte sich, den Menschen zu erschaffen, ihn leben zu lassen und ihm zu verzeihen, um die schöne Jungfrau, die heilige Jungfrau, die unbefleckte Jungfrau, die von der Liebe erfüllte Jungfrau, die geliebte Tochter, die reinste Mutter, die zärtliche Braut zu besitzen! So viel hat Gott und noch viel mehr hätte er euch gegeben, nur um das Geschöpf seines Entzückens, die Sonne seiner Sonne, die Blume seines Gartens zu besitzen. Und immer wieder fährt er fort, euch ihretwegen zu beschenken, auf ihre Bitten hin, zu ihrer Freude, weil ihre Freude sich vereinigt mit der Freude Gottes und sie erhöht mit dem funkelnden Glanz, der das große Licht des Paradieses erfüllt; und jedes Funkeln ist ein Geschenk an das Universum, an das Menschengeschlecht, ja an die Seligen selbst, die mit einem jauchzenden Halleluja auf jedes göttliche Wunder antworten, das gewirkt wird durch den Wunsch des Dreieinigen Gottes, das strahlende Lächeln der Jungfrau zu sehen!
Gott wollte dem Universum, das er aus dem Nichts erschaffen hatte, einen König geben; einen König, der das obersteWesen sein sollte unter allen aus der Materie erschaffenen und selbst materiellen Wesen; einen König, der etwas weniger als göttlich sein sollte in seiner geistigen Natur, vereinigt in seiner Unschuld mit der Gnade wie am ersten Tag. Doch der höchste Geist, der alles, was in den fernsten Zeiten geschieht, kennt; der unmittelbar alles weiß, was war, was ist und was sein wird; der, während er das Vergangene betrachtet und die Gegenwart beobachtet, seinen Blick auch auf die fernste Zukunft richtet; der weiß, welchen Todes der letzte Mensch sterben wird –
und das alles ohne Verwirrung und Unterbrechung – dieser höchste Geist wußte stets, daß der von ihm vorhergesehene und erschaffene König, der zu seiner Seite im Himmel halb-göttlich sein sollte, Erbe des Vaters, der nach der Kindheit seines irdischen Aufenthaltes als Erwachsener in sein Reich kommen sollte – der höchste Geist wußte stets und sah voraus, daß dieses Geschöpf gegen sich selbst das Verbrechen, die Gnade in sich zu töten und sich des Himmels zu berauben, begehen würde.
Warum hat er ihn dennoch erschaffen? Gewiß stellen sich viele diese Frage. Hättet ihr es vorgezogen, nicht zu sein? Verdient dieser Erdentag es nicht, obwohl er arm und bloß und rauh geworden ist infolge eurer Bosheit, gelebt zu werden, um das von Gotteshand ins Universum gestreute unendliche Schöne kennenzulernen und zu bewundern?
Für wen hätte er die Sterne und Planeten erschaffen, die wie Blitze und Pfeile vorüberzucken und das Gewölbe des Firmaments durchfurchen; die langsam zu sein scheinen und doch schneller als die schnellsten Geschosse ihre Bahnen ziehen; die euch Licht und die Jahreszeiten schenken; die euch beständig, unveränderlich und doch stets ihre Lage verändernd, neue Seiten im Himmelsblau zu lesen geben, jeden Abend, jeden Monat, jedes Jahr? Als wollten sie euch sagen: „Vergeßt eure Beschränktheit, laßt alle eure geschriebenen Werke beiseite, die angefüllt sind mit dunklen, faulenden, schmutzigen, giftigen, lügenhaften, gotteslästerlichen, verdorbenen Dingen!
Erhebt euch wenigstens mit dem Blick in die unbegrenzte Freiheit der Firmamente! Laßt eure Seele himmelblau werden im Betrachten dieser Herrlichkeit! Schafft euch einen Vorrat an Licht, um eure Finsternis zu erhellen! Lest das Wort, das wir beim Gesang unseres Sternenchors ins Firmament schreiben! Es ist harmonischer als jedes Orgelstück in den Kathedralen: das Wort, das wir leuchtend geschrieben haben: das Wort, das wir voller Liebe geschrieben haben; denn immer ist uns jener gegenwärtig, der uns die Freude des Seins schenkte, und wir danken ihm, uns das Dasein geschenkt zu haben, das Licht, das Leben, das Frei-Sein und das Schön-Sein inmitten der erquickenden Bläue, über die hinaus wir noch ein erhabeneres Blau sehen: das Paradies, und erfüllen den zweiten Teil seines Liebesgebotes, indem wir euch, unseren Nächsten im Universum, lieben; wir lieben euch und geben euch darum Führung und Licht, Wärme und Schönheit. Vernehmt das Wort, das wir euch sagen und dem gemäß wir unsere Melodie, unser Strahlen und unsere Freude ausrichten: Gott!“
Für wen sonst hätte Gott das flüssige Blau gemacht, in dem sich der Himmel spiegelt, auf dem ihr dahinfahrt, in dem das Wasser lächelt und die Wellen sprechen? Alles Worte, die mit dem Rauschen der Seide, mit dem heiteren Lachen der Kinder, mit dem Seufzen der Alten und den Schlägen, den Stößen, dem Brüllen und dem Donnern der Gewalt immer wieder reden und sagen: „Gott“. Das Meer wurde für euch erschaffen, ebenso wie der Himmel und die Sterne. Und mit dem Meer die Seen, die Flüsse, die Teiche, die Bäche und die reinen Quellen, die alle dazu dienen, euch zu tragen, euch zu nähren, euren Durst zu stillen und euch zu reinigen. Sie dienen euch, indem sie dem Schöpfer dienen, ohne über die Ufer zu treten und euch zu überfluten, wie ihr es verdientet.
Für wen sonst hätte er die unzähligen Familien der Tiere geschaffen, die wie singende Blumen fliegen (Vögel), die als eure Knechte laufen, arbeiten, euch nähren und euch erfreuen: euch, ihre Könige?
Für wen sonst hätte er all die zahllosen Familien der Bäume und Pflanzen erschaffen und die Blumen, die aussehen wie Schmetterlinge, Edelsteine und regungslose Vöglein; die Familien der Früchte, die wie Juwelen oder Perlenschreine sind, die euch als Teppiche für eure Füße, zum Schutz eurer Häupter, zur Zerstreuung, zur Freude für euren Geist, eure Glieder, eure Augen und die andren Sinne dienen?
Für wen anders hätte er die Mineralien in der Erde gemacht und die Salze aufgelöst in eiskalten oder heißkochenden Quellen: Schwefel, Jod und Brom, als für einen, der sich daran ergötze, der nicht Gott, aber Kind Gottes ist: für den Menschen.
Zu seiner Freude benötigte Gott sie nicht; er hat keine Bedürfnisse.
Er genügt sich selbst. Er braucht sich nur zu betrachten, um sich zu ergötzen und zu ernähren, um zu leben und zu ruhen. Die ganze Schöpfung hat die Unendlichkeit seiner Freude, seiner Schönheit, seines Lebens und seiner Macht nicht im geringsten erhöht. Vielmehr hat er alles für sein Geschöpf gemacht, das er zum König über das von ihm geschaffene Werk setzen wollte: den Menschen.
Es lohnt sich zu leben, um dieses großartige Werk Gottes zu schauen und ihm zu danken für seine Machtentfaltung. Ihr müßt ihm dankbar sein dafür, daß ihr lebt. Und ihr hättet es sein müssen, auch wenn er euch erst am Ende der Welt erlöst hätte; denn, obwohl eure Vorfahren die Gebote nicht befolgt haben und hochmütig, genußsüchtig und Mörder gewesen sind und auch ihr ebenso lebt, gestattet euch Gott immer noch, euch an dem Guten und dem Schönen im Universum zu erfreuen. Er behandelt euch, als ob ihr gute Menschen und gute Söhne wäret, denen alles gezeigt und zugestanden wird, um ihr Leben angenehmer und gesünder zu gestalten. Was ihr wißt, wißt ihr durch Gottes Licht. Was ihr entdeckt, entdeckt ihr auf einen Hinweis Gottes, soweit es gut ist. Die anderen Erkenntnisse und Erfindungen, die das Zeichen des Bösen tragen, kommen vom höchsten Bösen, vom Satan.
Der höchste Geist, dem nichts unbekannt bleibt, wußte schon vor der Erschaffung des Menschen, daß dieser aus eigenem Willen Dieb und Mörder geworden wäre. Da aber die ewige Güte Gottes ohne Grenzen ist, dachte Gott, noch bevor die Sünde begangen wurde, an ein Mittel, um die Schuld wiedergutzumachen. Das Mittel bin Ich, das Wort. Das Werkzeug, um aus dem Mittel ein wirksames Instrument zu machen, war Maria. Die Jungfrau wurde im erhabenen Gedanken Gottes geschaffen. Alle Dinge sind geschaffen worden für mich, den geliebten Sohn des Vaters.
Als König hätte ich unter meinen Füßen Teppiche und Kleinodien haben müssen, wie kein Königspalast sie je gehabt hat; Lieder und Stimmen, Knechte und Diener hätten mich umgeben müssen, wie keinen Herrscher je zuvor, und Blumen und Perlen und alles Erhabene, Großartige und Liebliche, das aus dem Gedanken Gottes entspringen kann. Aber ich sollte auch Fleisch sein, nicht nur Geist: Fleisch, um das Fleisch zu erlösen; Fleisch, um das Fleisch zu veredeln; um es in den Himmel zu tragen, viele Jahrhunderte vor der Zeit. Das vom Geist bewohnte Fleisch ist das Meisterwerk Gottes, und für dieses ist der Himmel erschaffen worden.
Um Fleisch zu werden, bedurfte ich einer Mutter. Um Gott zu sein, mußte mein Vater Gott sein. Und sieh da, Gott schuf sich eine Braut und sagte zu ihr: „Folge mir! An meiner Seite wirst du sehen, was ich für unseren Sohn tue. Schau und juble, ewige Jungfrau, ewige Tochter. Dein Lachen erfülle dieses Reich, gebe den Engeln den Ton an und lehre das Paradies die himmlische Harmonie! Ich schaue auf dich. Ich sehe dich schon, wie du sein wirst, o unbefleckte Frau, die du jetzt nur Geist bist: Gedanke, an dem ich mein Wohlgefallen finde. Ich schaue auf dich und gebe das Blau deiner Augen dem Meer und dem Firmament; die Farbe deiner Haare dem heiligen Korn; das reine Weiß und das Rosa, die Farben deiner seidenen Haut, der Lilie und der Rose; als Vorbild für die Perlen nehme ich deine feingearbeiteten Zähne; die süßen Erdbeeren bilde ich mit einem Blick auf deinen Mund; den Nachtigallen lege ich deine Stimme in die Kehle und den Turteltauben dein Klagen. Und indem ich deine künftigen Gedanken lese und das Klopfen deines Herzens höre, habe ich ein Leitmotiv für meine Schöpfung. Komm, meine Freude, bewohne die Welten zum Zeitvertreib, solange du noch tanzendes Licht meines Gedankens bist. Die Welten sind da für dein Lachen. Bewohne die Kränze der Sterne und die Ketten der Gestirne. Lege dir den Mond unter deine edlen Füße und umgürte dich mit dem Sternengurt der Milchstraße! Für dich sind die Sterne und Planeten erschaffen worden.
Komm und erfreue dich an den Blumen, die deinem Kind zum Spielzeug und dem Sohn deines Schoßes zum Kissen dienen werden!
Komm und schau, wie ich die Lämmer bilde, die Adler und die Tauben! Sei mir nahe, während ich die Schalen der Meere und die Betten der Flüsse erschaffe, die Berge erhebe und sie bemale mit Schnee und Wäldern; während ich das Getreide säe und die Bäume und den Weinstock bilde: die Olivenbäume für dich, meine Friedensträgerin, und den Weinstock für dich, meine Rebe, die die eucharistische Traube tragen wird.
Eile, fliege, juble, meine Schöne, und lehre die ganze Welt, die von Stunde zu Stunde erschaffen wird, mich zu lieben, du Liebevolle; die Welt soll schöner werden durch dein Lächeln, o Mutter meines Sohnes, du Königin meines Paradieses, du Liebe deines Gottes!“
Und während ich den Irrtum sehe und zugleich die Makellose vor Augen habe, rufe ich aus: „Komm zu mir, die du die Bitterkeit des menschlichen Ungehorsams, der menschlichen Unzucht mit Satan und der menschlichen Undankbarkeit auslöschest, mit dir werde ich Vergeltung üben an Satan.“
Gott, der Vater und Schöpfer, hatte Mann und Frau mit einem so vollkommenen Gesetz der Liebe erschaffen, daß ihr diese Vollkommenheit nicht einmal mehr verstehen könnt. Und ihr denkt ohne Erfolg darüber nach, was wohl mit dem Menschengeschlecht geschehen wäre, wenn der Mensch nicht die Lehren Satans angenommen hätte.
Schaut auf die Frucht- und Samenpflanzen! Erhalten sie Samen und Frucht durch Unzucht, durch eine Befruchtung unter hundert Vereinigungen? Nein! Von der männlichen Blüte geht der Blütenstaub aus und geführt von einem Komplex meteoritischer und magnetischer Gesetze gelangt er zum Fruchtknoten der weiblichen Blüte.
Dieser öffnet sich, nimmt ihn auf und bringt Frucht. Die weibliche Blüte beschmutzt sich nicht und weist ihn nicht ab, wie ihr es nur tut, um tags darauf wiederum dasselbe Lustgefühl kosten zu können.
Sie trägt Frucht; und bis zum nächsten Jahr bringt sie keine Blüte hervor, und wenn sie dann blüht, ist es wieder, um Frucht zu tragen.
Betrachtet die Tiere, alle! Habt ihr je ein männliches Tier gesehen, das sich zum weiblichen begibt steriler Umarmung wegen und zu lasterhaftem Verkehr? Nein. Von nah und fern, fliegend und kriechend, springend und laufend, gehen sie, wenn es Zeit ist, zum Befruchtungsritus und entziehen sich ihm nicht, indem sie nur die Befriedigung ihrer Lust suchen; sie übernehmen ohne weiteres die ernste und heilige Verantwortung für die Nachkommenschaft. Diesen alleinigen Zweck muß der Mensch, der Gott ähnlich ist aufgrund des göttlichen Ursprungs einer Gnade, die ich ihm voll und gänzlich geschenkt habe, annehmen in der Ausübung des notwendigen animalischen Aktes, seit ihr um einen Grad in Richtung des Tierreiches herabgesunken seid.
Ihr handelt nicht wie die Pflanzen und die Tiere. Ihr habt Satan zum Lehrmeister gehabt. Ihr habt ihn zum Lehrmeister gewollt und wollt ihn immer noch. Und die Werke, die ihr vollführt, sind des Meisters würdig, den ihr gewollt habt. Aber wenn ihr Gott treu geblieben wäret, hättet ihr den Kindersegen in heiligerWeise erlebt, ohne Schmerzen und ohne euch in unanständigen, unwürdigen Vereinigungen zu entkräften, die selbst den Tieren unbekannt sind; den Tieren ohne vernünftige und geistige Seele.
Dem von Satan verdorbenen Paar wollte Gott den Menschen gegenüberstellen, geboren von einer von Gott über alles erhobenen Frau. Sie gebar, ohne einen Mann gekannt zu haben: Blume, die die Blume gebiert, ohne der natürlichen Befruchtung zu bedürfen, einzig durch den Kuß der Sonne auf den unangetasteten Kelch der Lilie: Maria.
Die Vergeltung Gottes!
Mache nur, Satan, deinem Haß Luft, während sie geboren wird!
Dieses Kind hat dich besiegt! Noch bevor du zum Rebellen wurdest, zum Schleicher, zum Verderber, warst du schon besiegt, und sie ist deine Besiegerin! Tausend zur Schlacht gerüstete Heere vermögen nichts gegen deine Macht. Die Waffen der Menschen vermögen nichts gegen deinen Panzer, o ewiger Verführer, und es gibt keinen Wind, der den Gestank deines Atems wegwehen könnte. Und dennoch: Diese Kindesferse, die rosig ist wie das Innere einer rötlichen Kamelie; die glatt und weich ist, daß die Seide rauh ist im Vergleich zu ihr; die so klein ist, daß sie in den Kelch einer Tulpe paßt und sich daraus Schühlein machen könnte; sieh, sie nähert sich dir ohne Furcht und sie wird dich in deine Höhle jagen. Ihr Klagen schlägt dich in die Flucht, dich, der du die Heere nicht fürchtest, und ihr Atem reinigt die Welt von deinem Gestank. Du bist besiegt!
Ihr Name, ihr Blick, ihre Reinheit sind Lanze, Blitz und Stein, die dich durchbohren, die dich niederschmettern, die dich einschließen in dein Höllenloch, o Verfluchter, der du Gott die Freude genommen hast, Vater aller erschaffenen Menschen zu sein!
Nun aber hast du sie vergebens verdorben, sie, die unschuldig erschaffen worden sind. Du hast sie verführt zur Vereinigung und Empfängnis auf den Irrwegen der Fleischeslust; du hast Gott daran gehindert, seinem geliebten Geschöpf der Spender von Kindern zu sein nach Regeln, die, wenn sie beachtet worden wären, auf Erden ein Gleichgewicht erhalten hätten unter den Geschlechtern und den Rassen, wodurch Kriege unter den Völkern und Zwietracht in den Familien vermieden worden wären.
Wenn sie gehorcht hätten, hätten sie die Liebe kennengelernt. Vielmehr: nur im Gehorsam hätten sie die wahre Liebe verstanden und erhalten: den vollen und ruhigen Besitz dieses Ausflusses Gottes, der vom Übernatürlichen herabkommt zum Niedrigeren, damit auch das Fleisch darob heilig jubiliere; das Fleisch, das dem Geist verbunden ist und von demselben geschaffen wurde, der dem Fleisch eine Seele gegeben hat.
Eure Liebe, o Menschen, was ist sie jetzt? Entweder Sinnenlust, bemäntelt mit Liebe, oder unheilbare Furcht, die Liebe des Gatten zu verlieren durch eigene oder anderer Menschen Unzucht. Seit die Sinnenlust in der Welt herrscht, seid ihr nie sicher, das Herz des Gemahls oder der Gemahlin zu besitzen. Ihr zittert, weint und werdet wahnsinnig vor Eifersucht; manchmal Mörder, um einen Verrat zu rächen; verzweifelt bisweilen, werdet willenlos in gewissen Fällen und wahnsinnig in anderen.
Das hast du, Satan, den Kindern Gottes angetan. Die, welche du ins Verderben gestürzt hast, hätten die Freude erlebt, Kinder ohne Schmerzen zu gebären, und die Freude, geboren zu werden ohne die Angst, sterben zu müssen. Jetzt bist du, Satan, durch eine Frau und in einer Frau besiegt. Von nun an wird jeder, der Sie liebt, zu Gott zurückfinden; er wird jeder deiner Versuchungen widerstehen und die volle Reinheit bewahren können. Von jetzt an werden die Mütter, die nicht ohne Schmerzen gebären können, Sie zur Helferin haben. Von jetzt an werden die Eheleute Sie als Führerin und die Sterbenden Sie als Mütter haben; denn der Tod wird süß in ihren Armen, die Schutz und Schild gegen dich, den Verfluchten, sind. Sie ist aber auch die Fürbitterin beim Gericht Gottes.
Maria Valtorta, du kleine Stimme, du hast die Geburt des Sohnes der Jungfrau und den Eingang seiner Mutter in den Himmel gesehen.
Du hast gesehen, daß den Schuldlosen weder Geburtswehen noch Todesschmerzen bekannt sind. Und so, wie der unbefleckten Mutter Gottes die himmlischen Gaben vorbehalten waren, so wären allen, wenn sie wie die ersten Kinder Gottes unschuldig geblieben wären, Geburtswehen und Todesangst erspart geblieben.
Der erhabene Sieg Gottes über Satans Rache bestand darin, die Vollkommenheit des erwählten Geschöpfes so zu steigern, daß wenigstens in Einer der Hauch jener menschlichen Schwäche, die dem Gift des Satans Einlaß verschafft, nichtig wurde; und somit sollte der Sohn nicht aus einer menschlichen Vereinigung, sondern aus der göttlichen Umarmung, die den Geist im Feuer der Ekstase verzückt, hervorgehen.
Die Jungfräulichkeit der Jungfrau! . . .
Komm und erwäge diese tiefe Jungfräulichkeit, bei deren Betrachtung sich schwindelerregende Abgründe eröffnen! Was ist die arme, erzwungene Jungfräulichkeit einer Frau, die von keinem Mann begehrt wurde? Weniger als nichts! Was ist die Jungfräulichkeit einer Frau, die um Gottes Willen ehelos bleibt, dies aber nur dem Leib und nicht dem Geist nach? Sie läßt viele zügellose, unreine Gedanken in ihren Geist eintreten, spielt mit diesen und läßt sich von menschlichen Vorstellungen liebkosen! Das ist nur ein Larvenstadium der Jungfräulichkeit. Was ist die Jungfräulichkeit einer Gottgeweihten, die nur für Gott lebt? Viel, doch ist sie nie so vollkommen wie die meiner Mutter!
Eine Bindung ist immer vorhanden gewesen, selbst beim Heiligsten: jene zwischen Geist und Schuld; jene, die nur die Taufe zu lösen vermag. Sie löst sie; doch wie eine Frau, die durch den Tod von ihrem Mann getrennt wird, nicht die ganze Jungfräulichkeit wiederfindet, so gibt die Taufe nicht diese vollkommene Jungfräulichkeit zurück, die unseren Stammeltern vor der Sünde zu eigen war. Eine Narbe bleibt und schmerzt und bringt das Frühere in Erinnerung, und die einstige Wunde ist stets bereit, wieder aufzubrechen, wie gewisse Krankheiten periodisch durch ihre Viren neu entfacht werden.
Die Jungfrau Maria hat diese Narbe einer aufgelösten Bindung mit der Schuld nicht. Ihre Seele erscheint schön und unberührt wie damals, als der Vater sie erdachte und in ihr alle Gnaden vereinigte.
Sie ist die Jungfrau. Sie ist die Einzige. Sie ist die Vollkommene. Sie ist, wie sie erdacht wurde. So wurde sie geboren. So ist sie geblieben.
So wurde sie gekrönt. So ist sie in Ewigkeit.
Sie ist die Jungfrau. Sie ist ein Abgrund der Unberührtheit, der Reinheit, der Gnade, der sich verliert im Abgrund, aus dem sie stammt: Gott. Unberührtheit, Reinheit, vollkommenste Gnade. Sieh, so rächt sich Gott, der Dreieinige. Gegen alle entheiligten Geschöpfe erhebt er diesen Stern der Vollkommenheit. Gegen die ungesunde Neugierde erhebt er diese heilige Scheu, die allein in der Liebe Gottes Befriedigung findet. Dem Wissen um das Böse stellt er diese erhabene Unwissende gegenüber. In ihr ist nicht nur Unkenntnis der niedrigen Liebe, nicht nur Unkenntnis der Liebe, die Gott den verehelichten Menschen gab, sondern noch mehr. In ihr ist Unkenntnis der bösen Neigungen, die Erbschaft der Sünde sind. In ihr ist gleichzeitig Kühle, Weisheit und weißglühende Gottesliebe. Ein Feuer, welches das Fleisch mit Eis panzert, damit es der durchsichtige Spiegel sei am Altar, wo Gott sich mit einer Jungfrau vermählt und sich dennoch nicht erniedrigt; denn seine Vollkommenheit umarmt jene, die, wie es einer Braut geziemt, nur in einem Punkt niedriger ist als der Bräutigam: Sie ist Ihm unterworfen als Frau, aber ohne Makel wie Er.«

9 »In drei Jahren wirst auch du da sein, meine Lilie«

Ich sehe Joachim und Anna zusammen mit Zacharias und Elisabet.
Sie kommen aus einem Haus in Jerusalem, das sicher Freunden oder Verwandten gehört, und begeben sich zum Tempel, um an der Zeremonie der Reinigung teilzunehmen.
Anna hat in ihren Armen das Kindlein, ganz in Windeln gewickelt.
Es ist aber auch in ein weites Gewebe aus leichter Wolle gehüllt, das sehr weich und warm sein muß. Und mit welcher Sorge und Liebe sie ihr Kindlein überwacht! Von Zeit zu Zeit hebt sie den Saum des feinen und warmen Gewebes hoch, um zu schauen, ob Maria gut atmen kann, und rückt ihn dann wieder zurecht, um sie vor der eisigen Luft eines zwar heiteren, aber kalten Wintertages zu schützen.
Elisabet hat ein Bündel in den Händen. Joachim zieht an einer Schnur zwei gutgenährte, weiße Schäfchen hinter sich her; es sind schon mehr Schafe als Lämmer. Zacharias hat nichts. Er sieht schön aus in seinem weißen Linnengewand, das ein schwerer, wollener Mantel hervorblicken läßt. Es ist ein Zacharias in seiner vollen Männlichkeit, der viel jünger als jener, den ich schon bei der Geburt des Johannes gesehen habe, scheint. Auch Elisabet ist eine reife Frau mit frischem Aussehen, die sich jedesmal, wenn Anna das Kind anschaut, entzückt über das schlafende Gesichtchen neigt. Auch sie ist sehr schön in ihrem blauen, fast dunkelvioletten Gewand, mit dem Schleier, der ihr das Haupt bedeckt und über die Schultern und den Mantel, der noch dunkler ist als das Kleid, herabwallt.
Joachim und Anna aber sind feierlich in ihren Festkleidern. Gegen seine Gewohnheit trägt er nicht die kastanienbraune Tunika, sondern ein langes, dunkelrotes Gewand. Die Fransen an seinem Mantel sind neu und schön. Auf dem Haupt hat auch er eine Art von rechteckigem Schleier, der gehalten wird durch einen Lederreifen.
Alles ist neu und fein.
Und Anna, oh!, sie trägt heute nichts Dunkles! Sie hat ein hellgelbes Kleid an, das an die Farbe alten Elfenbeins erinnert: eng an der Hüfte, am Hals und an den Handgelenken und von einem schweren Gürtel zusammengehalten, der aus Gold und Silber zu sein scheint.
Ihr Kopf ist in einen leichten damastartigen Schleier gehüllt, der an der Stirn von einem feinen, aber kostbaren Metallplättchen festgehalten wird. Am Hals trägt sie eine Kette in Filigran und an den Handgelenken Armbänder. Sie sieht aus wie eine Königin, auch wegen der Würde, mit der sie das Kleid und besonders den goldfarbenen Mantel mit seinen sehr schön gestickten vielfarbigen Borten trägt.
»Du kommst mir vor wie am Tag der Hochzeit. Ich war etwas mehr als ein Kind, damals, aber ich erinnere mich noch, wie schön und glücklich du warst«, sagt Elisabet.
»Aber jetzt bin ich es noch mehr . . . Und ich wollte für diese Zeremonie das gleiche Kleid tragen. Ich habe es immer dafür aufbewahrt . . . Und ich hoffte schon nicht mehr, daß ich es je hätte tragen können.«
»Der Herr hat dich sehr geliebt . . . « sagt Elisabet mit einem Seufzer.
»Deswegen gebe ich ihm auch das Liebste, was ich habe: diese meine Blume.«
»Wie wirst du sie dir vom Herzen reißen können, wenn die Stunde kommt?«
»Indem ich mich daran erinnere, daß ich sie nicht hatte und Gott sie mir gegeben hat. Ich werde nun immer glücklicher sein als zuvor.
Wenn ich sie im Tempel weiß, werde ich mir sagen: „Sie betet in der Nähe des heiligen Zeltes; sie betet zum Gott Israels auch für ihre Mutter“, und ich werde den Frieden haben. Und noch größeren Frieden werde ich haben, wenn ich mir sage: „Sie ist ganz Sein.“
Wenn die beiden glücklichen Eltern, die sie vom Himmel erhalten haben, nicht mehr sein werden, wird er, der Ewige, noch ihr Vater sein. Glaube mir: ich bin fest überzeugt, daß diese Kleine nicht uns gehört. Aus mir konnte ich nichts mehr . . . Er hat sie in meinen Schoß gelegt, als göttliches Geschenk, um meine Tränen zu trocknen, unsere Hoffnung zu stärken und uns für unsere Gebete zu belohnen.
Deswegen gehört sie ihm. Wir sind nur ihre glücklichen Hüter . . .
Und dafür sei er gebenedeit!«
Sie haben die Tempelmauern erreicht.
»Während ihr zur Pforte des Nikanor geht, melde ich uns dem Priester. Dann werde auch ich kommen«, sagt Zacharias. Er verschwindet durch einen Bogen, der in einen großen Hof führt, der von Säulengängen umgeben ist.
Die Gruppe steigt weiter auf den sich ablösenden Terrassen empor; denn, ich weiß nicht, ob ich das schon einmal gesagt habe, der Tempelbezirk ist nicht auf ein und derselben Ebene gelegen, sondern steigt in aufeinanderfolgenden Etagen an. Zu jeder Etage gelangt man mittels breiter Treppen, und auf jeder von ihnen befinden sich Höfe, Hallen und schön verzierte Tore aus Marmor, Bronze und Gold.
Bevor sie zum festgelegten Ort gelangen, halten sie kurz an, um die mitgebrachten Dinge von ihren Hüllen zu befreien: Fladen, scheint mir, breit und dünn und stark ölgetränkt; weißes Mehl, zwei Tauben in einem Käfig aus Weidenruten und große silberne Münzen.
Gewisse Geldstücke sind sehr schwer; aber glücklicherweise gab es damals noch keine Taschen; sie hätten ihnen den Boden ausgerissen.
Sieh, da ist die schöne Pforte des Nikanor, voller Schnörkelwerk in schwerer Bronze und mit Silberplatten. Dort steht schon Zacharias an der Seite eines Priesters, würdevoll in seinem Linnengewande.
Anna wird mit Wasser, offenbar Weihwasser, besprengt und aufgefordert, sich dem Opferaltar zu nähern.
Das Kindlein ist nicht mehr auf ihren Armen. Elisabet hat es genommen; sie bleibt vor der Pforte zurück. Joachim hingegen tritt hinter seiner Gemahlin ein: er zieht ein unglückliches, blökendes Schäflein hinter sich her. Und ich . . . ich tue das, was ich schon bei der Reinigung Marias tat: ich schließe die Augen, um nicht das Schlachten mitansehen zu müssen.
Nun ist Anna gereinigt.
Zacharias flüstert seinem Kollegen etwas zu und dieser nickt lächelnd, schließt sich dann der Gruppe an, die sich draußen wieder versammelt hat, beglückwünscht Vater und Mutter zu ihrer Freude und zu ihrem Vertrauen gegenüber den Verheißungen und nimmt das zweite Lamm mit dem Mehl und dem Kuchen in Empfang.
»Diese Tochter ist also dem Herrn geweiht? Sein Segen sei mit ihr und mit euch. Sieh, da kommt Hanna. Sie wird eine ihrer Lehrerinnen sein. Hanna, die Tochter des Penuël, vom Stamm Ascher. Komm, Frau! Diese Kleine ist dem Tempel als Lobopfer geweiht worden. Du wirst ihre Lehrerin sein, und sie wird unter deiner Führung heilig heranwachsen.«
Die schon ganz weißhaarige Hanna des Penuël liebkost das Kindlein, das erwacht ist und mit seinen unschuldigen und erstaunten Äuglein all das Weiß und das Gold betrachtet, das die Sonne aufleuchten läßt.
Die Zeremonie scheint beendet zu sein. Ich habe keinen besonderen Ritus bei der Opferung Marias gesehen. Vielleicht genügt es, daß es dem Priester gesagt wurde und vor allem Gott, an seiner heiligen Stätte.
»Ich möchte diese Gabe dem Tempel darbringen und dorthin gehen, wo ich im vergangenen Jahr das Licht gesehen habe«, sagt Anna.
Sie gehen hin in Begleitung der Hanna des Penuël. Sie treten nicht in den eigentlichen Tempel ein; da sie Frauen sind und es sich um ein Mädchen handelt, gehen sie natürlich auch nicht dorthin, wo Maria ihren Sohn darbrachte. Aber nahe an der halbgeöffneten Tür stehend, blicken sie in das halbdunkle Innere, wo die lieblichen Gesänge eines Mädchenchors erklingen, und kostbare Leuchter goldenes Licht verbreiten über zwei Reihen weiß verhüllter Köpfchen: zwei wahre Lilienbeete.
»In drei Jahren wirst auch du da sein, meine Lilie« spricht Anna zu Maria, die wie fasziniert ins Innere schaut und zu dem leisen Gesang lächelt.
»Sie scheint zu verstehen«, sagt Hanna des Penuël. »Sie ist ein schönes Kind! Sie wird mir teuer sein, als wäre sie mein eigenes. Ich verspreche es dir, Mutter. Möge nur mein Alter erlauben, daß es so sei.«
»Es wird so sein, Frau«, sagt Zacharias. »Du wirst sie aufnehmen unter die geweihten Mädchen. Ich werde auch dabei sein. Ich will an jenem Tag hier sein, um ihr zu sagen, daß sie für uns alle beten soll, vom ersten Tag an . . . «
Und er schaut auf seine Gattin, die versteht und seufzt.
Die Zeremonie ist zu Ende, und Hanna des Penuël zieht sich zurück, während die andren, sich unterhaltend, den Tempel verlassen.
Ich höre Joachim sagen: »Nicht nur zwei, und zwar die besten, sondern alle meine Schäflein hätte ich gerne hergegeben für diese Freude und zum Lob Gottes!
« Anderes sehe ich nicht mehr.

10 »Sieh die vollkommene Magd mit dem Herzen einer Taube«

Jesus spricht:
»Salomon läßt die Weisheit sagen: „Wer ein Kind ist, komme zu mir!“ [Spr 9,4]. Und wirklich, aus der Festung, aus den Mauern ihrer Stadt sagte die Ewige Weisheit zum Ewigen Kind: „Komm zu mir!“ Sie brannte danach, es zu haben. Später wird der Sohn des reinsten Kindes sagen: „Lasset die Kinder zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich, und wer ihnen nicht ähnlich wird, wird meines Reiches nicht teilhaftig werden.“ Die Stimmen begegnen sich, und während die Stimme des Himmels nach der kleinen Maria ruft, „Komm zu mir“, sagt die Stimme des Gottmenschen, indem er an seine Mutter denkt: „Kommt zu mir, wenn ihr versteht, Kinder zu sein.“
Das Beispiel gebe ich euch in meiner Mutter.
Sie ist das vollkommene Kind mit dem einfachen und reinen Herzen einer Taube. Sie haben die Jahre der Berührung mit der Welt nicht in die Barbarei eines verdorbenen, verschlagenen, lügenhaften Geistes verwildern lassen. Weil sie es nicht will. Kommt zu mir, indem ihr Maria folgt.
Du, die du sie siehst, sage mir: „Ist ihr kindlicher Blick sehr verschieden von dem, den sie hatte zu Füßen des Kreuzes, im Jubel des Pfingstfestes oder in der Stunde, da sich die Lider zum letzten Schlaf über ihre Gazellenaugen schlossen? Nein! Hier siehst du den unbestimmten, erstaunten Blick des Kindes; dann wird es der erstaunte und ehrfurchtsvolle Blick bei der Verkündigung sein; dann der selige der Mutter von Betlehem; dann der anbetende meiner ersten erhabenen Jüngerin; dann jener der herzzerreißenden Qual auf Golgota; dann der strahlende Blick bei der Auferstehung und am Pfingsttag; und schließlich der vom ekstatischen Schlaf verhüllte Blick der letzten Vision. Aber sei es, daß sich die Augen zum ersten Mal öffnen, sei es, daß sie sich müde zum letzten Mal schließen, nachdem sie soviel Freude und soviel Schreckliches geschaut, sie sind der heitere, reine und sanfte Saum des Himmels, der immer gleich strahlt unter der Stirne Marias. Zorn, Lüge, Stolz, Sinnlichkeit, Haß und Neugierde beschmutzen sie nie mit ihren dunklen Wolken.
Es sind die Augen, die mit Liebe zu Gott aufschauen. Ob sie nun weinen oder lachen, es sind die Augen, die aus Liebe zu Gott liebkosen und verzeihen und alles ertragen. Durch die Liebe zu ihrem Gott sind sie unangreifbar geworden für die Angriffe des Bösen, der sich sooft der Augen bedient, um ins Herz einzudringen. Das ist der reine, ruhige, segnende Blick der reinen, heiligen, in Gott verliebten Menschen.“
Ich habe es bereits gesagt: „Das Licht deines Körpers ist das Auge.
Wenn das Auge rein ist, wird dein ganzer Körper erleuchtet sein.
Wenn aber das Auge trübe ist, so wird deine ganze Person in der Finsternis sein“ [Mt 6,22–23]. Die Heiligen haben dieses Auge gehabt, das dem Geist Licht ist und dem Fleisch Heil. Denn wie Maria haben sie ihr ganzes Leben hindurch auf Gott geschaut und mehr noch: sie haben sich Gottes erinnert!
Ich werde dir erklären, kleine Stimme, welchen Sinn diese Worte haben.«

11 »Meine Freude, woher weißt du diese heiligen Dinge?

Wer hat sie dir gesagt?«
Ich sehe wieder Anna. Seit gestern abend sehe ich sie so: sie sitzt am Eingang der schattigen Laube bei einer Näharbeit. Sie ist ganz in sandgrau gekleidet, in ein sehr einfaches, lockeres Kleid; vielleicht wegen der großen Hitze, die herrscht.
Am Ende der Laube sieht man Schnitter, die mit Sicheln das Gras mähen. Doch es kann wohl kein Maiheu sein, denn die Weintraube beginnt sich schon zu färben, und ein großer Apfelbaum zeigt zwischen dunklen Blättern seine Früchte, die beginnen, wachsgelb und rosa zu werden. Das Kornfeld ist nur mehr ein Stoppelfeld, auf dem sich die Flämmchen der Mohnblumen wiegen, während sich die Kornblumen steif und frei aufrichten, strahlend wie die Sterne in einem Blau, das dem des orientalischen Himmels ähnelt.
Aus der schattigen Laube kommt eine ganz kleine, aber schon flinke und selbständige Maria. Ihr kurzer Schritt ist sicher, und die Füße in den weißen Sandälchen stolpern nicht über die Steinchen. Sie hat schon andeutungsweise den lieblichen, leicht wiegenden Gang der Taube; sie ist weiß wie ein Täubchen in ihrem Leinenkleidchen, das bis zu den Fußknöcheln reicht und weit ist. Es ist durch himmelblaue Schnürchen aufgekrempelt am Hals und an den kurzen Ärmeln, die die rosigen und molligen Vorderärmchen sehen lassen.
Mit ihrem seidiges Haar, das honigblond leuchtet, nicht dicht ist, aber sanfte Wellen hat, die in Löckchen enden; mit ihren himmelblauen Augen und dem lieblichen, leicht geröteten, lächelnden Antlitz gleicht sie einem kleinen Engel. Auch der zarte Wind, der in ihre weiten Ärmel greift und das Linnen ihres Kleidchens an den Schultern bläht, trägt dazu bei, ihr das Aussehen eines Engelchens mit schon zum Flug geöffneten Flügeln zu verleihen.
In ihren Händchen hat sie Mohn- und Kornblumen und andere Blümchen, die zwischen dem Korne wachsen, deren Namen ich aber nicht kenne. Als sie in die Nähe der Mutter kommt, beginnt sie zu laufen, stößt mit ihrem Stimmchen einen kurzen, freudigen Schrei aus und eilt wie ein Turteltäubchen im Flug an die Knie der Mutter, die sich ein wenig geöffnet haben, um sie zu empfangen. Die Mutter hat ihre Arbeit beiseitegelegt, damit sich das Kind nicht steche. Sie hat ihm die Arme entgegengestreckt, um es zu umarmen.
»Mama, Mama!« Das weiße Täubchen ist nun ganz im Nest der mütterlichen Knie, mit den Füßchen auf dem niedrigen Gras und dem Gesichten im mütterlichen Schoß. Und man sieht nichts als das blasse Gold ihrer Härchen im feinen Nacken, den Anna liebevoll küßt, wozu sie sich niederbeugt. Dann erhebt das Täubchen sein Köpfchen und gibt ihr Blumen. Alle gibt sie der Mutter und zu jeder Blume erzählt sie eine Geschichte, die sie sich selbst erdacht hat: »Diese, blau und groß, ist ein Stern, der vom Himmel heruntergekommen ist, um den Kuß des Herrn seiner Mutter zu überbringen.
Küsse, küsse sie auf das Herz, küsse das Herz dieses himmlischen Blümleins, und du wirst fühlen, daß es den Duft Gottes hat.
Diese andere hingegen ist blaßblau, wie die Augen Papas; auf ihren Blütenblättern steht geschrieben, daß der Herr Papa sehr liebt, weil er so gut ist.
Und dieses kleine, kleine, das einzige, das ich gefunden habe (ein Vergißmeinnicht), hat der Herr gemacht, um Maria zu sagen, daß er sie lieb hat.
Und diese roten, weißt du, Mama, was das für Blumen sind? Das sind Stücke vom Kleid des Königs David, eingetaucht in das Blut der Feinde Israels, gesät auf den Kampfes- und Siegesfeldern. Sie sind aus dem Saum des heroischen Königsgewandes entsprungen, das zerrissen ward im Kampf für den Herrn [2 Sam 5–8].
Dieses weiße und liebliche Blümchen hingegen, das aus sieben Seidenschalen gemacht zu sein scheint, die von Wohlgeruch erfüllt zum Himmel schauen, und das dort geboren wurde, dort bei der Quelle – Papa hat es ihr aus dem Dorngebüsch herausgeholt – ist aus dem Gewand gemacht worden, das der König Salomon in demselben Monat trug, als ihm sein Enkelkind geboren wurde . . . aber viele, viele Jahre früher, als er in der weißen Pracht seiner Gewänder einherging mit einer großen Schar aus Israel vor der Bundeslade und dem Zelt, aufjubelte wegen der Wolke, die zurückgekehrt war, um seinen Ruhm zu umgeben, und den Lobgesang anstimmte und das Gebet seiner Freude verrichtete. Ich will immer wie diese Blume sein, und wie der weise König will ich singen das ganze Leben und beten vor dem Zelt.« [1 Kön 8]. Damit schloß sich der kleine Mund Marias.
»Mein Schatz! Woher weiß du diese heiligen Dinge? Wer hat sie dir gesagt? Dein Vater?«
»Nein, ich weiß nicht, wer es ist. Es scheint mir, als ob ich sie immer gewußt hätte. Aber vielleicht ist es einer, der sie mir sagt und den ich nicht sehe. Vielleicht einer der Engel, die Gott schickt, um mit den Menschen zu reden, die gut sind. Mama, erzählst du mir noch mehr davon? . . . «
»Oh, meine Tochter! Von was soll ich dir erzählen?«
Maria denkt nach, ernst und gesammelt. Man sollte sie malen, um den Ausdruck festzuhalten. In den kindlichen Geschichten spiegeln sich die Schatten ihrer Gedanken wieder: Lächeln und Seufzer, Strahlen der Sonne und Schatten der Wolken bei dem Gedanken an die Geschichte Israels . . . Dann wählt sie: »Noch einmal die Geschichte von Gabriel und Daniel, in der der Gesalbte versprochen wird«
[Dan 9].
Und nun hört sie mit geschlossenen Augen zu und wiederholt leise die Worte der Mutter, um sie besser behalten zu können. Nachdem Anna ihre Erzählung beendet hat, fragt sie: »Wieviel fehlt noch, bis Immanuel kommt?«
»Ungefähr noch dreißig Jahre, mein Liebling.« »Oh, wie lange noch! Dann werde ich im Tempel sein . . . Sage mir, wenn ich beten würde, viel, sehr viel, Tag und Nacht, Nacht und Tag, und wenn ich ganz Gottes sein wollte, das ganze Leben lang, würde mir der Ewige dann die Gnade schenken und den Messias seinem Volk schneller geben?«
»Das weiß ich nicht, meine Liebe; der Prophet sagt: siebzig Wochen.
Ich glaube, daß die Prophezeiung nicht irrt. Aber der Herr ist so gut«, beeilt Anna sich hinzuzufügen, als sie sieht, daß sich schon Tränenperlen auf den goldigen Wimpern ihres Kindleins bilden, »daß ich glaube, wenn du viel, viel, viel betest, wird er dich erhören.«
Das Lächeln kehrt auf ihr Gesichtchen zurück, das zur Mutter aufschaut, und ein Sonnenstrahl, der zwischen zwei Weinblättchen durchscheint, läßt die Tropfen des schon gestillten Weinens aufleuchten, wie Tautröpfchen an den so feinen Stengelchen des Bergmooses.
»Dann will ich beten, und werde mich als Jungfrau dafür weihen.«
»Aber weißt du, was das besagen will?«
»Das will besagen, nicht die Liebe eines Mannes kennenlernen, sondern nur die Liebe Gottes. Das will besagen, keinen Gedanken haben, der sich nicht auf Gott bezieht. Das will besagen, Kind im Fleisch bleiben und Engel im Herzen. Das will besagen, die Augen nur zu gebrauchen, um auf Gott zu schauen; die Ohren, um auf ihn zu hören; den Mund, um ihn zu loben; die Hände, um sich ihm als Opfer darzubringen; die Füße, um ihm schnell zu folgen; das Herz und das Leben, um sie ihm zu schenken.«
»Oh, du Gesegnete! Aber dann wirst du nie Kindlein haben, du, die du die Kinder so liebst, und die Lämmlein und die Täubchen . . .
Weißt du, ein Kindlein ist für eine Frau wie ein weißes, krauses Lämmlein; wie ein Täubchen mit Flaumfedern aus Seide und einem Korallenmündchen, das man lieben und küssen kann, und das zu einem sagt: „Mama.“«
»Das macht nichts. Ich will Gottes sein. Im Tempel werde ich beten, und dann werde ich vielleicht eines Tages Immanuel sehen. Die Jungfrau, die seine Mutter sein wird, muß, wie der große Prophet sagt, schon geboren und im Tempel sein . . . Ich werde ihre Gefährtin sein . . . und ihre Magd! O ja! Wenn ich sie nur erkennen könnte im Licht Gottes, ich würde ihr dienen, der Glücklichen! Dann würde sie mir ihren Sohn bringen, und ich würde ihm dienen. Denke dir, Mama! . . . Dem Messias dienen!« Maria ist ganz überwältigt von diesem Gedanken, der sie erhebt und zugleich vernichtet. Mit den auf der Brust gekreuzten Armen, dem ein wenig vorgebeugten Köpfchen und vor Aufregung entzückt, wie sie ist, scheint sie eine kindliche Nachbildung der Annunziata, die ich einmal in ihrem Heiligtum in Florenz gesehen habe. Sie fährt fort: »Aber wird es mir der König von Israel, der Gesalbte Gottes, erlauben, ihm zu dienen?«
»Daran zweifle nicht! Sagt der König Salomon nicht: „Sechzig sind die Königinnen und achtzig die übrigen Frauen, und die Mädchen sind ohne Zahl?“ [Hld 6,8]. Du siehst, im Palast des Königs werden zahllose Jungfrauen und Mädchen sein, die ihrem Herrn dienen werden.
«
»Oh! Siehst du nun, daß ich Jungfrau sein muß? Ich muß es sein, ich muß! Wenn er als Mutter eine Jungfrau haben will, ist das ein Zeichen dafür, daß er die Jungfräulichkeit über alles liebt. Ich will, daß er mich liebt, mich, seine Dienerin, wegen meiner Jungfräulichkeit; daß er mich ein wenig seiner geliebten Mutter ähnlich macht . . . das will ich . . . Ich möchte aber auch Sünderin sein, eine große Sünderin, wenn ich nicht fürchten muß, den Herrn dadurch zu beleidigen . . .
Sage mir, Mama, kann man Sünderin sein aus Liebe zu Gott?«
»Aber was sagst du, Schatz? Ich verstehe dich nicht.«
»Ich will sagen: sündigen, um von Gott geliebt zu werden; damit er zum Erlöser wird. Man rettet den, der verloren ist, nicht wahr? Ich möchte gerettet werden vom Erlöser, um seinem Blick der Liebe zu begegnen. Deswegen möchte ich sündigen; aber ohne eine Sünde zu begehen, die ihm mißfallen könnte. Wie kann er mich retten, wenn ich nicht verlorengehe?«
Anna ist ganz verblüfft. Sie weiß nicht, was sie sagen soll.
Da kommt ihr Joachim zu Hilfe, der, auf dem Gras schreitend, sich geräuschlos hinter dem Zaun der niederen Weinreben genähert hatte. »Er hat dich schon im voraus gerettet, weil er weiß, daß du ihn liebst und ihn allein lieben willst. Deswegen bist du schon erlöst und kannst Jungfrau sein, wie du es willst«, sagt Joachim.
»Wirklich, mein Vater?« Maria umschlingt seine Knie und blickt ihn an mit den hellen Sternlein ihrer Augen, die den väterlichen Augen so sehr ähneln und die nun glücklich sind in der Hoffnung, die ihr der Vater gegeben hat.
»Wirklich, meine Liebe. Schau! Ich bringe dir hier dieses Spätzlein.
Es kam bei seinem ersten Flug zum Quellbrunnen. Ich hätte es sich selbst überlassen können; aber die schwachen Flügel und die Füßchen aus Seide hatten nicht die Kraft, sich zu neuem Flug zu erheben oder sich aufrecht zu erhalten auf dem moosigen, schlüpfrigen Stein. Es wäre in die Quelle gefallen. Ich habe nicht gewartet, bis es soweit kam. Ich habe es genommen und gebe es dir. Tu damit, was du willst! So ist es gerettet worden, bevor es in der Gefahr umgekommen ist. Dasselbe hat Gott mit dir getan. Jetzt sage mir, Maria: Habe ich das Vöglein mehr geliebt, indem ich es jetzt gerettet habe, oder hätte ich es mehr geliebt, wenn ich es später gerettet hätte . . . ?«
»Du hast es mehr geliebt, indem du es jetzt gerettet hast; denn du hast nicht erlaubt, daß es sich weh tue im kalten Wasser.«
»Auch Gott hat dich mehr geliebt, indem er dich gerettet hat, bevor du sündigen konntest.«
»Und nun werde ich ihn ganz lieben. Ganz! Ganz! Schönes Spätzlein, ich bin wie du. Der Herr hat uns in gleicher Weise geliebt; er gab uns das Heil . . . Jetzt werde ich dich aufziehen, und dann lasse ich dich fliegen. Und du wirst im Wald und ich im Tempel das Lob des Herrn singen, und wir werden sagen: „Schicke, schicke deinen Verheißenen dem, der ihn erwartet!“ Oh, Papa! Wann wirst du mich in den Tempel führen?«
»Bald, meine Perle. Aber schmerzt es dich nicht, deinen Vater zu verlassen?«
»Sehr! Aber du wirst kommen . . . ! Wenn es mir nicht Schmerz bereiten würde, wäre es dann noch ein Opfer?«
»Und wirst du dich unser erinnern?«
»Immer. Nach dem Gebet für Immanuel werde ich für euch beten.
Möge Gott euch Freude und ein langes Leben schenken . . . bis zum Tag, da er der Erlöser sein wird. Dann werde ich ihm sagen, daß er euch nehme, um euch ins himmlische Jerusalem zu bringen.«
Die Vision entschwindet, während Maria von den väterlichen Armen umschlungen wird.

12 »Hat nicht der Sohn die Weisheit auf die Lippen der Mutter gelegt?«

Jesus spricht:
»Ich höre schon die Bemerkungen spitzfindiger Gelehrter: „Wie kann ein Kind von weniger als drei Jahren schon so sprechen? Das ist eine Übertreibung!“ Sie bedenken nicht, daß sie in dieser Weise aus mir ein Wunderwesen machen, wenn sie meiner Kindheit Handlungen eines Erwachsenen zuschreiben.
Intelligenz haben nicht alle in derselben Weise und zur selben Zeit.
Die Kirche hat die Verantwortungsfähigkeit auf das 7. Lebensjahr festgesetzt; denn das ist das Alter, in dem auch ein zurückgebliebenes Kind im großen und ganzen das Gute und das Böse zu unterscheiden vermag. Aber es gibt auch Kinder, die schon viel früher fähig sind zu unterscheiden, zu verstehen und zu wollen, und das mit einer genügend ausgebildeten Vernunft. Die kleine Imelda Lambertini, Rosa von Viterbo, Nelly Organ und Nenulina geben euch Beispiele dafür, ihr skeptischen Doktoren. Ich habe nur vier Namen genannt, unter Tausenden heiliger Kinder, die mein Paradies bevölkern, nachdem sie auf Erden über kürzere oder längere Jahre wie Erwachsene geurteilt haben.
Was ist der Verstand? Ein Geschenk Gottes. Gott kann ihn daher in dem Maß schenken, in dem er will, wem er will und wann er will.
Der Verstand ist ja eines der Dinge, die euch Gott, dem intelligenten und denkenden Geist, ähnlich machen. Vernunft und Intelligenz waren Gaben, die den Menschen im irdischen Paradies gegeben wurden; und wie waren sie lebendig, als die Gnade noch unberührt und wirksam im Geiste der beiden ersten Menschen vorhanden war!
Im Buch des Jesus Sirach steht geschrieben: „Alle Weisheit kommt von Gott, dem Herrn; sie ist stets bei ihm gewesen, auch vor den Jahrhunderten“ [Sir 1,1].
Welche Weisheit hätten die Menschen daher besessen, wenn sie Kinder Gottes geblieben wären?
Die Mängel eurer Intelligenz sind die Frucht des Verfalles eurer Gnade und eurer Lauterkeit. Durch den Verlust der Gnade habt ihr euch in den Jahrhunderten von der Weisheit entfernt. Wie ein Meteor sich verbirgt hinter kilometerlangen Nebeln, so ist die Weisheit mit ihrem klaren Schimmer nicht mehr zu euch gelangt wegen der Nebel, die eure Vergehen immer dichter werden ließen.
Dann ist Christus gekommen und hat euch die Gnade, das schönste Geschenk der Liebe Gottes, zurückgebracht. Versteht ihr, dieses Juwel klar und rein zu erhalten? Nein. Wenn ihr es nicht zersplittert mit eurem persönlichen Willen zur Sünde, beschmutzt ihr es durch beständige kleine Fehler, Schwächen und Neigungen zum Laster.
Auch durch Sympathien, die, wenn sie auch eigentlich nicht mit den sieben Hauptlastern verbunden sind, doch eine Schwächung des Lichtes und der Wirksamkeit der Gnade bedeuten. So habt ihr das großartige Licht der Intelligenz, das Gott den ersten Menschen gegeben hatte, durch Jahrhunderte der Verdorbenheit geschwächt, die eine zerstörende Wirkung auf euer physisches und psychisches Leben gehabt haben.
Aber Maria war nicht nur die Reine, die neue Eva, zur Freude Gottes wieder erschaffen: sie ist auch die Über-Eva; sie ist das Meisterwerk des Allerhöchsten, die Gnadenvolle, die Mutter des Wortes im Geist Gottes.
„Das Wort ist die Quelle der Weisheit“, sagt Jesus Barsirach [Sir 1,5]. Wird Jesus also nicht die Weisheit auf die Lippen der Mutter gelegt haben?
Wenn einem Propheten, der den Menschen die Worte sagen muß, die ihm das Wort, die Weisheit, anvertraut hat, der Mund mit glühenden Kohlen gereinigt wird [Jes 6,6–7], wird dann nicht die Liebe die Sprache der noch kindlichen Braut, die das Wort überbringen sollte, gereinigt und erhoben haben, so daß sie nicht wie ein Kind und später wie eine Frau, sondern nur und immer als himmlisches Geschöpf sprach, das geformt wurde durch das große Licht und die Weisheit Gottes?
Das Wunder liegt nicht in der höheren Intelligenz, die Maria im kindlichen Alter an den Tag legte, wie später auch ich. Das Wunder liegt in dem Verbergen einer unendlichen Weisheit, in den Einschränkungen, die verhindern sollten, die Menschen zu sehr in Staunen zu versetzen und die Aufmerksamkeit Satans auf sie zu lenken.
Ich werde darüber noch sprechen. Es gehört in das Kapitel des „Sich-Erinnerns“, das die Heiligen von Gott haben.

13 Mariä Darstellung im Tempel Ich sehe Maria zwischen Vater und Mutter auf dem Weg nach Jerusalem.

Die Vorübergehenden bleiben stehen, um das schöne Kind anzuschauen, das schneeweiß gekleidet und eingehüllt ist in ein leichtes Gewebe, das mit seinen dunklen Blatt- und Blumenmustern auf zartem Untergrund dasselbe zu sein scheint, das Anna am Tag ihrer Reinigung trug. Während es aber bei Anna nicht über den Gürtel hinausreichte, wallt es bei der noch ganz jungen, kleinen Maria fast bis zum Boden und hüllt sie in ein leichtes, leuchtendes Wölkchen von seltener Lieblichkeit. Ihr blondes Haar, das über die Schulter, oder richtiger, über den feinen Nacken lose herabfällt, leuchtet an den Stellen durch, wo keine Damastverzierungen im Schleier sind.
Der Schleier ist an der Stirn festgehalten von einem hellblauen Band, auf dem offenbar von der Mutter kleine silberne Lilien aufgestickt worden sind.
Das erwähnte blütenweiße Kleid reicht bis zur Erde, so daß die mit weißen Sandalen bekleideten Füßchen bei ihren Schritten kaum sichtbar werden. Die Händchen, die aus den langen Ärmeln hervorragen, gleichen zwei Blütenblättchen der Magnolie. Abgesehen von der himmelblauen Gürtelbinde ist keine andere Farbe sichtbar. Maria ist wie in Schnee gekleidet.
Joachim trägt dasselbe Kleid wie am Tag von Annas Reinigung; sie hingegen ist ganz in Violett gekleidet. Auch der Mantel, der ihr zugleich das Haupt bedeckt, ist dunkelviolett; sie läßt ihn weit über die Augen herabhängen. Zwei arme Mutteraugen, rot vom Weinen, die nicht weinen wollen und vor allem nicht weinend gesehen werden möchten, und denen es doch nicht möglich ist, nicht zu weinen unter dem Schutz des Mantels. Sie schützt sich so gegen die Blicke der Vorübergehenden und auch gegen jene von Joachim, dessen Augen sonst stets heiter sind; heute aber sind auch sie gerötet und trübe wegen der vergossenen und immer noch fließenden Tränen. Er geht sehr gebeugt unter seinem Kopftuch, das er wie einen Turban zusammengebunden hat und dessen Seitenflügel rechts und links von seinem Gesicht herabhängen. Er ist jetzt ein Greis, Joachim. Wer ihn sieht, hält ihn für den Großvater oder Urgroßvater der Kleinen, die er an der Hand führt. Der Schmerz, sie zu verlieren, gibt dem armen Vater einen schleppenden Schritt; eine Müdigkeit in seiner ganzen Haltung, die ihn um zwanzig Jahre älter erscheinen läßt. Sein Gesicht scheint das Gesicht eines Kranken zu sein, nicht nur das eines Alten, so müde und traurig ist es mit dem leicht zitternden Mund zwischen den beiden Falten, die heute seitlich der Nase so ausgeprägt sind.
Die beiden versuchen, ihr Weinen zu verbergen. Aber wenn es ihnen auch bei vielen gelingt, bei Maria, die wegen ihrer kleinen Gestalt von unten nach oben blickt, gelingt es ihnen nicht; das kleine Haupt erhebend, sieht sie abwechselnd auf Vater und Mutter, die sich bemühen, ihr mit zitterndem Mund zuzulächeln. Jedesmal, wenn ihr Töchterlein sie anschaut und lächelt, drücken sie ihr das kleine Händchen. Sie denken: »Noch ein Lächeln weniger von denen, die wir noch zu sehen bekommen.«
Sie gehen langsam, immer langsamer. Es scheint, als wollten sie so langsam wie möglich ihres Weges dahinziehen. Alles läßt sie haltmachen . . . Aber die Straße muß doch einmal enden. Und das Ziel ist jetzt schon nahe. Sieh da, auf der Höhe dieses letzten Teiles der steigenden Straße erscheinen die Ringmauern des Tempels. Anna seufzt und umklammert das Händchen Marias stärker.
»Anna, meine Teure, ich bin bei dir!« sagt eine Stimme aus dem Schatten eines niedrigen Bogens an einer Straßenkreuzung. Es ist Elisabet, die offenbar auf sie gewartet hat. Sie geht auf sie zu und drückt sie an ihr Herz. Und da sie Anna weinen sieht, sagt sie zu ihr: »Komm! komm für kurze Zeit in dieses Freundeshaus. Dann gehen wir zusammen weiter. Auch Zacharias ist dort.«
Alle treten in eine niedere und dunkle Stube ein, in der ein großes Feuer als Beleuchtung dient. Die Hausfrau, sicher eine Freundin Elisabets, Anna aber fremd, zieht sich höflich zurück, um die Neuankömmlinge allein zu lassen. »Glaube nicht, daß ich es bereue oder unwillig bin, meinen Schatz dem Herrn zu weihen«, erklärt Anna unter Tränen . . . »Aber mein Herz . . . oh! mein Herz! Wie weh tut es ihm, meinem alten Herzen, das zurück muß in die kinderlose Zeit! Ach, wenn du es mitfühlen könntest! . . . «
»Ich verstehe dich, meine liebe Anna . . . aber du bist so gut, und Gott wird dich stärken in deiner Einsamkeit. Maria wird beten für den Frieden ihrer Mama, nicht wahr?«
Maria liebkost die mütterliche Hand und küßt sie, führt sie sich über das Gesicht, um von ihr geliebkost zu werden, und Anna nimmt dieses Gesichtchen in ihre Hände und küßt es. Sie wird nicht müde, es zu küssen.
Zacharias tritt ein und grüßt: »Den Gerechten der Friede des Herrn!«
»Ja«, sagt Joachim, »erflehe für uns den Frieden, denn unser Inneres erzittert vor dem Opfer, wie das unseres Vaters Abraham, während er den Berg bestieg [Gen 22,1–14], und wir finden keine andere Opfergabe, um uns loszukaufen. Wir möchten es auch nicht, denn wir wollen Gott treu bleiben. Aber wir leiden darunter; Zacharias, Priester des Herrn, verstehe uns und erzürne nicht über uns!«
»Nein, im Gegenteil, euer Schmerz, der die erlaubten Grenzen nicht überschreitet und euch nicht zur Untreue verführt, ist mir ein Vorbild der Liebe zum Allerhöchsten; aber faßt Mut! Die Prophetin Hanna wird reichlich Sorge tragen für diese Blüte Davids und Aarons. In diesem Augenblick ist sie die einzige Lilie des heiligen Stammes Davids im Tempel; und sie wird behütet wie eine königliche Perle. Und da die Zeiten dem Ende entgegeneilen, sollten die Mütter des Stammes darauf achten, ihre Töchter dem Tempel zu weihen, denn aus einer Jungfrau des Stammes Davids wird der Messias hervorgehen, auch wenn auf Grund des Glaubensschwundes viele Plätze der Jungfrauen leer sind. Allzu wenige sind im Tempel, und von diesem königlichen Stamm niemand, seit vor drei Jahren Sara ihn als Braut des Elischa verließ. Es ist wahr, daß noch sechs Lustren (dreißig Jahre) bis zum Ende fehlen; nun aber hoffen wir, daß Maria die erste von vielen Jungfrauen aus dem Haus Davids vor dem heiligen Vorhang sein wird. Und dann . . . wer weiß . . . «
Zacharias spricht nicht weiter; er betrachtet gedankenvoll Maria.
Dann fährt er fort: »Auch ich werde über sie wachen. Ich bin Priester, und ich habe dort auch eine gewisse Macht. Ich werde sie für diesen Engel verwenden. Und Elisabet wird sie oft besuchen . . . «
»Oh! sicher! Ich habe so ein großes Verlangen nach Gott, und ich werde kommen, es diesem Kind mitzuteilen, damit sie es dem Ewigen sage.«
Anna fühlt sich etwas erleichtert. Um sie noch mehr aufzumuntern, fragt Elisabet: »Ist das nicht dein Brautschleier? Oder hast du einen neuen gewoben?«
»Er ist es. Ich weihe ihn zusammen mit ihr dem Herrn. Ich habe keine guten Augen mehr . . . Und auch die Reichtümer sind sehr geschwunden, der Steuern und der Unglücksfälle wegen . . . Ich konnte keine großen Ausgaben machen. Ich habe nur für eine gute Aussteuer für ihren Aufenthalt im Haus Gottes gesorgt und für später . . . ; denn ich denke nicht, daß ich es sein werde, die für ihre Hochzeitskleider sorgen wird. Und ich will, daß es die Hände ihrer Mama sind, auch wenn sie kalt und unbeweglich geworden, die sie für die Hochzeit ausstatten und ihr die Leinen und die Brautkleider weben.«
»Oh! Warum so denken?!«
»Ich bin alt, meine Kusine. Nie fühlte ich mich so alt wie unter diesem Schmerz. Die letzten Kräfte meines Lebens habe ich dieser Blume gewidmet, um sie tragen und ernähren zu können, und jetzt . . .
und jetzt am Ende läßt der Schmerz, sie zu verlieren, alle meine Kräfte schwinden.«
»Aber sprich nicht so, um Joachims willen!«
»Du hast recht. Ich will darauf achten, für meinen Mann zu leben.
«
Joachim tut, als ob er nichts gehört und auf Zacharias gelauscht hätte. Aber er hat es gehört und seufzt schwer mit vor Tränen glänzenden Augen.
»Wir sind zwischen der dritten und sechsten Stunde. Ich glaube, es wäre Zeit, zu gehen«, sagt Zacharias.
Alle erheben sich, um die Mäntel anzuziehen und zu gehen. Bevor sie aber hinausgehen, kniet Maria auf der Schwelle nieder und fleht mit ausgebreiteten Armen, wie ein kleiner Kerub: »Vater! Mutter!
Euren Segen!«
Sie weint nicht, die tapfere Kleine. Aber ihre kleinen Lippen zittern und die von einem inneren Schluchzen bebende Stimme gleicht mehr denn je dem bangen Klagen der Turteltaube. Das Gesichtchen ist bleicher; das Auge hat den Ausdruck der ergebenen Angst, die ich noch viel stärker auf dem Kalvarienberg sah, wo man sie nicht mehr ansehen konnte, ohne tief darunter zu leiden.
Die Eltern segnen und küssen sie. Einmal, zweimal, zehnmal. Sie können es nicht genug tun . . . Elisabet weint still, und Zacharias ist, obwohl er es nicht zeigen will, gerührt.
Sie verlassen das Haus, Maria zwischen Vater und Mutter, davor Zacharias und seine Frau. Sieh, schon sind sie innerhalb der Tempelmauern.
»Ich gehe zum Hohenpriester. Ihr steigt hinauf zur großen Terrasse.
«
Sie durchqueren drei Höfe und drei übereinanderliegende Vorhallen, und nun sind sie zu Füßen des mit Gold beschlagenen, großen Marmorwürfels gelangt. Jede Kuppel, gewölbt wie eine riesige, halbe Orange, blitzt in der Sonne, die jetzt am Mittag senkrecht auf den weiten Vorhof fällt, der das feierliche Gebäude umgibt. Auch der weite Platz und die breite Treppe, die zum Tempel führt, sind mit Licht erfüllt. Nur die Säulenhalle, die der Fassade entlang der breiten Treppe gegenüberliegt, liegt im Schatten, und die hohe Pforte aus Bronze und Gold erscheint noch dunkler und feierlicher bei soviel Licht.
Maria leuchtet stärker als Schnee in dieser hellen Sonne. Nun ist sie zwischen Vater und Mutter zu Füßen der breiten Treppe. Wie muß den dreien das Herz schlagen! Elisabet befindet sich auf der Seite Annas, ein wenig hinter ihr.
Ein silberner Trompetenklang und die Pforte dreht sich in den bronzenen Angeln. Das Innere zeigt sich mit seinen Lampen im Hintergrund, und ein festlicher Zug kommt auf den Ausgang zu. Ein feierlicher Zug unter dem Schall der silbernen Trompeten, den Wolken von Weihrauch und den Lichtern.
Nun ist der Zug auf der Schwelle, angeführt vom Hohenpriester.
Ein würdevoller Greis, gekleidet in feinste Leinwand, darüber eine kürzere Tunika, ebenfalls aus Leinwand, und über dieser eine Art Priestergewand, ein Mittelding zwischen dem Priestergewand und jenem eines Diakons, sehr farbenreich: Purpur und Gold, Violett und Weiß wechseln sich ab und leuchten wie Edelsteine in der Sonne.
Zwei echte Juwelen glänzen noch viel lebhafter auf den Schultern des Hohenpriesters; vielleicht sind es Schnallen in einer kostbaren Fassung. Auf der Brust ein breites Schild mit strahlenden Edelsteinen, das an einer goldenen Kette hängt. Quasten und Verzierungen leuchten unten an der kurzen Tunika, und Gold glänzt auf der Stirn über der Kopfbedeckung, die mich an die der orthodoxen Priester erinnert, deren Mitra kuppelförmig ist und nicht spitz wie die der Katholiken.
Die feierliche Persönlichkeit tritt allein hervor bis zur Freitreppe und steht nun im Gold der Sonne, die sie noch mächtiger erscheinen läßt. Die anderen warten, einen Halbkreis bildend, vor der Pforte im Schatten des Säulenganges. Auf der linken Seite befindet sich eine weiße Gruppe von Mädchen mit der Prophetin Hanna und anderen älteren Frauen, offenbar Erzieherinnen.
Der Hohepriester schaut auf die Kleine und lächelt. Sie muß ihm sehr klein erscheinen zu Füßen der großen Treppe, die eines ägyptischen Tempels würdig ist! Er erhebt die Arme zum Himmel, um zu beten. Alle neigen ihr Haupt, wie überwältigt von der priesterlichen Majestät, die mit der ewigen Majestät in Verbindung steht.
Und sieh da. Er macht Maria einen Wink. Sie löst sich von Mutter und Vater wie verzückt und steigt empor und lächelt. Sie lächelt im Schatten des Tempels, dort, wo der kostbare Vorhang herabwallt.
Jetzt ist sie oben angelangt vor den Füßen des Hohenpriesters, der ihr die Hände auf das Haupt legt.
Das Opfer ist angenommen worden. Hatte der Tempel je eine reinere Opfergabe gesehen?
Dann wendet sich der Hohepriester um; er legt ihr die Hand auf die Schulter, wie um sie, das makellose Lämmlein, zum Altar zu führen; er geleitet sie zum Tor des Tempels, und bevor er sie eintreten läßt, fragt er sie: »Maria, Tochter Davids, kennst du dein Gelübde?«
Auf das mit dem silbernen Stimmchen gesprochene »Ja«, ruft er: »Tritt ein, wandle in meiner Gegenwart und sei vollkommen!« [Gen 17,1]. Maria tritt ein, der Schatten verschlingt sie, und die Gruppen der Jungfrauen und der Meisterinnen, dann auch die der Leviten, verdecken sie immer mehr und trennen sie . . .
Sie ist verschwunden . . . Jetzt drehen sich auch die Pfortenflügel in ihren harmonischen Angeln. Ein immer enger werdender Spalt erlaubt, den festlichen Zug noch zu sehen; jetzt ist es nur noch ein Faden, jetzt nichts mehr. Das Tor ist geschlossen.
Auf den letzten Akkord der klangvollen Angeln antwortet ein Schluchzen der beiden betagten Eltern und ein einziger Ruf: »Maria, Tochter!« Dann ein Seufzen der beiden, die sich gegenseitig anrufen: »Anna!«, »Joachim!« und schließlich sagen: »Ehre sei dem Herrn, der sie aufnimmt in sein Haus und sie auf ihren Wegen leitet!«

14 »Die ewig Jungfräuliche hat nur einen Gedanken: ihr Herz hinzurichten auf Gott«

Jesus spricht:
»Der Hohepriester hatte gesagt: „Wandle in meiner Gegenwart und sei vollkommen!“ Der Hohepriester wußte nicht, daß er zu einer Frau sprach, die in ihrer Vollkommenheit nur Gott nachstand. Aber er sprach im Namen Gottes, und daher war seine Anweisung heilig.
Heilig ganz besonders ihr gegenüber, die „voll der Weisheit“ war.
Maria hatte es verdient, daß die „Weisheit sich ihrer annahm und sich ihr zuerst zeigte“, denn „von Anbeginn hatte sie an ihrer Pforte gewacht, und im Verlangen, unterwiesen zu werden, wollte sie rein sein, um die vollkommene Liebe zu erlangen und zu verdienen und sie als Lehrmeisterin zu haben“ [Spr 8,17–34].
In ihrer Demut wußte sie nicht, daß sie sie schon besaß, bevor sie geboren wurde (d. h. schon bei der Empfängnis), und daß die Vereinigung mit der Weisheit nur die Fortsetzung der göttlichen Herzschläge im Paradiese war. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Und als Gott geheimnisvolle Worte in der Stille ihres Herzens sprach, so dachte sie in ihrer Demut, es seien vom Hochmut eingeflößte Gedanken.
Sofort erhob sie ihr unschuldiges Herz zu Gott und flehte ihn an: „Habe Erbarmen mit deiner Dienerin, o Herr!“
Oh! wirklich, die wahre Weise, die ewig Jungfräuliche, hat von Anfang an nur einen Gedanken gehabt: Ihr Herz zu Gott hinzuwenden, zu wachen für den Herrn, zu beten vor dem Allerhöchsten, um Verzeihung zu bitten für die Schwächen ihres Herzens, an die sie in ihrer Demut glaubte; und sie wußte dabei noch nicht, daß sie im voraus für die Sünder um Vergebung bat, wie sie es später zu Füßen des Kreuzes zusammen mit ihrem sterbenden Sohn getan hatte.
„Wenn dann der große Herr es will, wird sie erfüllt sein vom Geist der Einsicht“ [Sir 39,6]. Dann wird sie auch ihre erhabene Sendung begreifen. Jetzt ist sie nichts weiter als ein Kind, das im heiligen Frieden des Tempels immer mehr ihr Reden, ihre Gefühle und ihre Erinnerungen mit Gott verbindet.
Das ist für alle.
Und dir, kleine Maria Valtorta, hat der Meister dir nichts Persönliches zu sagen?
„Wandle in meiner Gegenwart und sei vollkommen!“ Ich ändere diesen heiligen Ausspruch leicht und richte ihn an dich, als Befehl: „Sei vollkommen in der Liebe, vollkommen in der Hochherzigkeit, vollkommen im Leiden!“
Schau noch einmal auf die Mutter und betrachte das, was so viele nicht wissen oder nicht wissen wollen, weil der Schmerz für ihren Geschmack und für ihren Geist zu bitter ist. Der Schmerz! Maria hat ihn gekannt von der ersten Stunde ihres Lebens an. Vollkommen sein, wie sie es war, bedeutete auch, eine vollkommene Empfindsamkeit besitzen. Daher mußte ihr das Opfer viel schwerer erscheinen; deshalb aber war es auch verdienstvoller. Wer Reinheit besitzt, besitzt Liebe; wer Liebe hat, hat Weisheit; wer Weisheit besitzt, besitzt Hochherzigkeit und Heldentum; er weiß, warum er sich opfert.
Erhebe deinen Geist, auch wenn das Kreuz dich niederdrückt, dich zerreißt, dich tötet! Gott ist mit dir!«

15 Der Tod von Joachim und Anna

Jesus spricht:
»Wie bei einer schnellen Abenddämmerung im Winter, bei der ein Schneesturm die Wolken am Himmel häuft, so wurde es über dem Leben meiner Großeltern schnell Nacht, nachdem ihre „Sonne“
sich vor dem heiligen Vorhang des Tempels niedergelassen hatte, um dort zu erstrahlen.
Aber ist nicht gesagt worden: „Die Weisheit gibt Leben ihren Kindern, nimmt unter ihren Schutz diejenigen, die sie suchen . . . Wer sie liebt, liebt das Leben, und wer vor ihr wacht, erfreut sich ihres Friedens. Wer sie besitzt, der wird das Leben erben . . . Wer ihr dient, wird dem Heiligen gehorchen, und wer sie liebt, wird von Gott sehr geliebt . . . Wer an sie glaubt, wird sie zur Erbschaft haben, und sie wird seiner Nachkommenschaft sicher sein. Zuerst erwählt sie ihn; dann sendet sie ihm Ängste, Furcht und Prüfungen; sie wird ihn quälen mit der Geißel ihrer Zucht, bis seine Gedanken von ihr erfüllt sind und sie ihm trauen kann. Dann aber wird sie ihm Beständigkeit geben; sie wird sich ihm wieder zuwenden, ihn geradeaus führen und ihm Zufriedenheit geben. Sie wird ihm ihre Geheimnisse aufdecken, wird in ihn die Schätze ihres Wissens und ihrer Einsicht in die Gerechtigkeit legen.“ [Sir 4,12–21].
Ja, all das ist schon gesagt worden. Die Bücher der Weisheit gelten für alle Menschen, da sie in ihnen einen Spiegel ihrer Lebensführung und einen Führer haben. Glücklich aber sind jene, die unter die geistigen Liebhaber der Weisheit gezählt werden können.
Ich habe mich in meiner irdischen Verwandtschaft mit Weisen umgeben.
Anna, Joachim, Josef, Zacharias und noch mehr Elisabet und der Täufer, waren sie nicht wirklich weise? Ich will nicht von meiner Mutter sprechen, in der die Weisheit sich niedergelassen hatte.
Von der Jugend bis zum Grab hatte die Weisheit meine Großeltern eine gottgefällige Lebensweise gelehrt, und wie ein Zelt vor den Furien der Elemente schützt, so wurden sie von jener vor der Gefahr der Sünde bewahrt. Die heilige Gottesfurcht ist die Wurzel des Baumes der Weisheit, der seine Zweige ausstreckt, um mit seinem Gipfel die stille Liebe in ihrem Frieden zu erreichen, die friedliche Liebe in ihrer Sicherheit, die sichere Liebe in ihrer Treue, die treue Liebe in ihrer Glut, die vollkommene, hochherzige, tätige Liebe der Heiligen.
„Wer die Weisheit liebt, liebt das Leben“, sagt der Ekklesiastikus [Sir 4,13–14]. Aber dasselbe besagt auch mein Wort: „Wer sein Leben verliert um meiner Liebe willen, wird es retten“ [Mt 16,25; Mk 8,35; Lk 9,24]. Denn da ist nicht die Rede vom armen Leben dieser Erde, sondern von dem ewigen; nicht von den Freuden einer Stunde, sondern von den unsterblichen.
Joachim und Anna haben sie in diesem Sinn geliebt. Und sie war mit ihnen in ihren Prüfungen. Oh, wie viele von euch möchten, ohne von Grund auf böse zu sein, nie weinen und leiden müssen! Wieviel aber hatten diese Gerechten zu leiden, die es verdienten, Maria als Tochter zu besitzen!
Politische Verfolgungen, die sie aus dem Land Davids vertrieben, ließen sie aufs äußerste verarmen. Die Traurigkeit, ihre Jahre verfließen zu sehen, ohne daß eine Blüte ihnen gesagt hätte: „In mir lebt ihr weiter!“ Und später das Bangen, sie nie als Frau aufblühen zu sehen, da sie ihnen erst im Alter geschenkt worden war. Schließlich der Schmerz, sie sich vom Herzen reißen zu müssen, um sie auf dem Altar Gottes niederzulegen. Nun mußten sie in einem noch größeren Schweigen leben, nun, da sie sich an das Gurren ihrer Turteltaube, an das Geräusch ihrer Schrittchen, an das Lächeln und an die Küsse ihres Kindes gewöhnt hatten. In diesen Erinnerungen sollten sie die Stunde Gottes abwarten. Und weiter: Krankheiten, Heimsuchungen durch Unwetter, durch die Anmaßung der Mächtigen . . . So viele Rückschläge in der schwachen Burg ihres bescheidenen Wohlstandes.
Damit noch nicht genug: die Sorge um ihr fernes Kind, das allein und arm ist, und das trotz aller Mühe und Opfer nur mit einem Rest des väterlichen Besitztums zurückbleiben wird. Und wie wird sie es vorfinden, wenn es jahrelang unbebaut geblieben ist, verschlossen in Erwartung ihres Kommens? Befürchtungen, Ängste, Prüfungen und Versuchungen. Aber Treue, Treue, immer Treue Gott gegenüber.
Die Versuchung war groß: nicht zu verzichten auf den Trost der Tochter in der Zeit, da ihr Leben sich seinem Ende zuneigte.
Aber die Kinder gehören noch vor den Eltern Gott. Und jedes Kind kann sagen: „Weißt du nicht, daß ich die Belange des Vaters im Himmel tun muß?“ [Lk 2,49]. Jeder Vater und jede Mutter muß lernen, sich so zu verhalten, wie Maria und Josef im Tempel, wie Anna und Joachim im Haus von Nazaret, das immer leerer und trauriger wurde, in dem aber eins sich nicht verminderte und vielmehr immer anwuchs: die Heiligkeit der beiden Herzen, die Heiligkeit einer Ehe.
Was bleibt dem kranken Joachim und seiner leidenden Gattin als Lichtstrahl an den langen und stillen Abenden, in denen sie den nahen Tod fühlen? Die Kleidchen, die ersten Sandälchen, das einfache Spielzeug ihrer fernen Kleinen und die Andenken, die Erinnerungen.
Aber es erfüllt sie auch ein großer Friede; denn sie können sich sagen: „Ich leide, aber ich habe meine Pflicht getan aus Liebe zu Gott.“
Und sieh, da steigt in ihnen eine übermenschliche Freude auf in einem himmlischen Licht, das den Kindern der Welt unbekannt ist und das sich nicht verdunkelt, wenn es auf die schweren Augenlider zweier Sterbender fällt, sondern in der letzten Stunde noch heller leuchtet und Wahrheiten offenbart, die während des ganzen Lebens in ihrer Seele geschlummert haben, sozusagen wie die in den Puppen eingeschlossenen Schmetterlinge, die nur durch leicht schimmernde Bewegungen von ihrem Dasein Zeichen geben, während sie jetzt ihre Sonnenschwingen öffnen, so daß die Worte sichtbar werden, die zur Zierde auf ihnen stehen. Und das Leben erlöscht in dem Bewußtsein einer seligen Zukunft für sie und ihre Nachkommenschaft und mit einem Segensspruch auf den Lippen für ihren Gott.
So war der Tod meiner Großeltern. So entsprach er ihrem heiligen Leben. Wegen ihrer Heiligkeit verdienten sie, die ersten Hüter der von Gott Geliebten zu sein, und erst als sich an ihrem Lebensabend eine noch größere Sonne zeigte, erahnten sie die Gnade, die Gott ihnen zuteil hatte werden lassen. Wegen ihrer Heiligkeit hatte Anna keine Geburtswehen ertragen müssen und stattdessen die von ekstatischem Glück begleitete Geburt der Makellosen erlebt. Für beide gab es keine Agonie, nur eine Mattigkeit, die erlosch, wie ein Stern sanft erlöscht, wenn die Sonne in der Morgenröte aufgeht. Und wenn sie auch nicht den Trost hatten, mich, die fleischgewordene Weisheit, zu besitzen wie Josef, so war ich doch bei ihnen und sagte ihnen, gebeugt über ihre Kissen, erhabene Worte, um sie in Frieden einschlafen zu lassen in der Erwartung des Triumphes.
Da höre ich jemanden fragen: „Warum brauchten sie nicht zu leiden beim Gebären und in der Todesstunde, da sie doch Kinder Adams waren?“ Und ich antworte ihm: „Wenn der Täufer, als Adamssohn mit der Erbsünde empfangen, vor seiner Geburt geheiligt wurde, weil er in meine Nähe gekommen war, der ich im Schoß meiner Mutter gegenwärtig war, sollte da keinen Gnadenvorzug haben die heilige Mutter der Heiligen, der Makellosen, der von Gott Bewahrten, die einen Gott in sich trug in ihrem fast göttlichen Geist und in ihrem keimenden Herzen, die sich nie von ihm getrennt hatte, seit sie vom Vater erdacht worden war und schließlich heimkehrte, um Gott vollkommen zu besitzen im Himmel in der glorreichen Ewigkeit?“ Und ich füge noch hinzu: „Das gute Gewissen verleiht einen guten Tod, und die Gebete der Heiligen erlangen euch ein seliges Sterben.“
Joachim und Anna hatten ein ganzes Leben guten Gewissens hinter sich, und dieses diente ihnen als Führer zum Himmel; und sie hatten die „Heilige“ in Anbetung vor dem Altar Gottes. Sie betete für die von ihr getrennten Eltern, die bei ihr nach Gott, dem höchsten Gut, kamen; sie liebte sie, wie es das Gesetz und auch das unendliche Herz verlangen, jedoch mit einer übernatürlich vollkommenen Liebe.«

16 »Du sollst die Mutter des Gesalbten sein«

Erst gestern, Freitagabend, wurde mein Geist erleuchtet zum Schauen; ich habe aber nichts anderes gesehen als . . .
. . . eine ganz junge Maria: eine höchstens zwölfjährige Maria, deren Gesichtchen nicht mehr das Rundliche der Kindheit hat, wohl aber schon die künftigen Züge der Frau im Oval, das sich verlängert.
Auch die Haare fallen nicht mehr mit ihren Locken aufgelöst über den Hals herab; sie sind in zwei schwere Zöpfe von blassem Gold geflochten und wie mit Silber gemischt, so hell sind sie; sie bedecken die Schultern und reichen bis zu den Hüften. Der Blick ist nachdenklicher und reifer geworden, obgleich das Gesicht noch immer kindliche Züge aufweist. Ein schönes, reines Mädchen, das ganz in Weiß gekleidet in einer kleinen, weißen Kammer näht. Durch das weit geöffnete Fenster ist das mächtige zentrale Gebäude des Tempels sichtbar mit allen Treppen, den Höfen und den Säulengängen; dann die Umfassungsmauern und jenseits die Stadt mit ihren Gassen, Häusern und Gärten, und im Hintergrund der grüne Gipfel des Ölberges.
Sie näht und singt mit leiser Stimme. Ich weiß nicht, ob es ein heiliger Gesang ist. Er lautet: »Wie ein Stern im klaren Gewässer, ein Licht mir leuchtet im Herzensgrund.
Seit meiner Kindheit weicht es nicht von mir, und es geleitet mich sanft, voller Liebe.
Im Grund des Herzens tönt ein Gesang.
Woher mag er wohl kommen?
O Mensch, du weißt es nicht.
Von dort, wo der Heilige wohnt.
Ich schaue auf meinen hellen Stern, ich will nichts, was nicht so ist, und sei es noch so süß und teuer, wie dieses sanfte Licht, das ganz mir gehört.
Du hast mich getragen von den Himmelshöhen, Stern, hinein in einen Mutterschoß.
Du lebst jetzt in mir, doch hinter den Schleiern sehe ich das Antlitz des Vaters.
Wann gibst du deiner Magd die Ehre, die demütige Magd des Erlösers zu sein?
Sende uns, sende uns vom Himmel den Messias!
Heiliger Vater, nimm das Opfer Marias an!«
Maria schweigt, lächelt und seufzt; dann fällt sie zum Gebet auf die Knie. Ihr Antlitz ist ganz Licht. Hoch aufgerichtet zum klaren Blau eines schönen Sommerhimmels scheint sie die ganze Lichtfülle einzuatmen und wieder auszustrahlen. Oder besser noch: aus ihrem Inneren scheint eine verborgene Sonne Licht auszustrahlen, den rosa Schnee der Haut Marias zu entzünden und sich über die Dinge zu ergießen, selbst über die Sonne, die auf die Erde scheint, Segen spendet und viel Gutes verheißt.
Während Maria sich anschickt, sich nach ihrem liebeglühenden Gebet zu erheben, und ihr Antlitz in leuchtendem Entzücken glüht, tritt die Greisin Hanna des Penuël ein. Erstaunt oder wenigstens voller Bewunderung über die Haltung und den Anblick Marias bleibt sie stehen. Dann ruft sie: »Maria!«, und das Mädchen wendet sich um mit einem Lächeln, das neu, aber nicht weniger schön ist, und grüßt: »Hanna, der Friede sei mit dir!«
»Hast du gebetet? Hast du nie das Gefühl, genug gebetet zu haben?
«
»Das Gebet würde mir genügen, aber ich spreche mit Gott. Hanna, du kannst nicht wissen, wie nahe ich mich ihm fühle. Mehr als nahe: er ist in meinem Herzen. Gott möge mir solchen Übermut verzeihen.
Aber ich fühle mich nicht allein. Siehst du, dort in jenem Haus von Gold und von Schnee, hinter dem doppelten Vorhang, befindet sich der Heilige der Heiligen. Nie vermag ein Auge, abgesehen von dem des Hohenpriesters, auf den Sühnealtar zu blicken, auf dem die Herrlichkeit des Herrn ruht. Aber ich brauche diesen doppelten Vorhang, der sich bewegt beim Gesang der Jungfrauen und Leviten und duftet von kostbarem Weihrauch, nicht mit ehrfurchtsvoller Seele anzuschauen, wie um das doppelte Gefüge zu durchbohren und das Zeugnis des Bundes durchleuchten zu lassen. Ja, ich schaue ihn an. Fürchte nicht, daß ich es nicht mit ehrfürchtigem Auge tue, wie jeder Sohn Israels! Fürchte nicht, daß der Stolz mich blende bei dem Gedanken an das, was ich dir sage! Ich schaue ihn an, und es gibt keinen Knecht im Volk Gottes, der das Haus Gottes, seines Herrn, demütiger anschaut, als ich es tue, die ich überzeugt bin, die Geringste von allen zu sein. Aber was sehe ich? Was stelle ich mir vor hinter dem Vorhang? Ein Zelt. Und was hinter ihm? . . .
Wenn ich mir aber ins Herz blicke, da sehe ich Gott leuchten in seiner Herrlichkeit der Liebe, und er sagt zu mir: „Ich liebe dich“, und ich sage zu ihm: „Ich liebe dich“, und ich schmelze dahin und richte mich auf bei jedem Herzschlag bei diesem gegenseitigen Kuß . . .
Ich bin mitten unter euch, meine teuren Lehrmeisterinnen und Gefährtinnen. Aber ein Kreis von Flammen sondert mich von euch ab. In dem Kreis befinden sich Gott und ich. Und ich sehe euch durch das Feuer Gottes, und so liebe ich euch . . . Aber ich kann euch nicht dem Fleisch nach lieben und nie werde ich jemanden dem Fleisch nach lieben. Meine einzige Liebe ist Er, der mich liebt, und zwar dem Geiste nach. Ich kenne mein Los. Das Gesetz Israels will, daß jedes Mädchen eine Braut werde, und jede Braut eine Mutter [Gen 1,28; 9,1; Tob 8,9; Num 36,6–10; 1 Tim 5,14]. Ich will dem Gesetz gehorchen; ich gehorche aber auch der Stimme, die mir sagt: „Ich will dich.“ Jungfrau bin ich und werde ich sein. Wie werde ich es machen können? Die süße, unsichtbare Gegenwart, die mit mir ist, wird mir helfen, denn sie will es; ich fürchte mich nicht.
Ich habe keinen Vater und keine Mutter mehr . . . und der Ewige allein weiß, wie dieser Verlust alles, was menschlich in mir war, verbrannt hat. Es verbrannte, und ich erlitt einen tiefen Schmerz. Jetzt habe ich nichts mehr als Gott. Ihm gehorche ich daher blindlings . . .
Ich hätte es auch gegen den Willen des Vaters und der Mutter getan; denn die Stimme lehrt mich, daß der, der ihr folgen will, an Vater und Mutter, an den lieben Wächtern der äußeren Mauern eines Kinderherzens, vorüberschreiten muß. Die Eltern wollen ihre Kinder auf ihre Weise zum Glück führen . . . und sie wissen nicht, daß es andere Wege gibt, deren Freude und Friede unendlich sind . . . Ich hätte auf Kleider und Mantel verzichtet, um der Stimme zu folgen, die mir sagt: „Komm, du meine Geliebte, meine Braut!“ Alles hätte ich zurückgelassen, sowohl die Tränen – denn ich hätte geweint, weil ich ihnen nicht hätte gehorchen können – als auch die Rubinen meines Blutes – denn auch dem Tod hätte ich getrotzt, um der rufenden Stimme zu folgen; sie hätten ihnen gesagt, daß es noch etwas Größeres und Süßeres gibt als die Liebe zu Vater und Mutter: die Stimme Gottes.
Aber jetzt hat mich sein Wille auch von diesen Banden der Kindesliebe gelöst. Meine Eltern waren zwei Gerechte, und Gott sprach sicher in ihnen, wie er in mir spricht. Sie waren der Gerechtigkeit und der Wahrheit gefolgt. Wenn ich an sie denke, stelle ich sie mir in der Ruhe der Erwartung unter den Patriarchen vor, und ich beschleunige mit meinem Opfer die Ankunft des Messias, um ihnen die Pforten des Himmels zu öffnen. Auf Erden bin ich es, die mich lenkt, oder vielmehr, es ist Gott, der seine arme Dienerin lenkt und ihr seine Gebote vorschreibt; und ich erfülle sie, denn sie zu erfüllen ist eine Freude. Wenn die Stunde kommt, werde ich meinem Bräutigam mein Geheimnis mitteilen . . . und er wird es annehmen.«
»Aber Maria . . . welche Worte werden dir helfen, ihn zu überreden?
Du wirst die Liebe eines Menschen, das Gesetz und das Leben gegen dich haben.«
»Auf meiner Seite aber habe ich Gott . . . Gott wird das Herz des Bräutigams dem Licht öffnen . . . Das Leben wird die Stachel der Sinne verlieren und eine Blume werden, die den Duft der Liebe hat.
Das Gesetz . . . Hanna, nenne mich nicht eine Gotteslästerin . . . aber ich glaube, das Gesetz wird geändert werden. Von wem, fragst du, da es göttlich ist? Von dem einzigen, der es ändern kann: von Gott.
Die Zeit ist nahe, näher als ihr denkt, ich sage es euch. Denn bei der Lesung Daniels [Dan 9,24] entzündet sich im Innersten meines Herzens ein großes Licht, und mein Geist erfaßt den Sinn der geheimnisvollen Worte. Abgekürzt werden die siebzig Wochen durch die Gebete der Gerechten. Verändert sich so die Zahl der Jahre? Nein.
Prophezeiungen lügen nicht. Aber weder der Lauf der Sonne, noch der des Mondes ist das Maß der prophetischen Zeit; daher sage ich: „Die Stunde ist nah, die das Wimmern des von der Jungfrau Geborenen hören wird.“
Oh! Oh! möchte dieses Licht, das mich liebt und das mir soviel mitteilt, mir sagen, wo die Glückliche ist, die ihrem Volk den Sohn und den Messias gebären wird! Barfuß würde ich die Welt durcheilen, weder Kälte und Eis, noch Hitze und Staub, noch Tiere und Hunger würden mich daran hindern, zu ihr zu gelangen und ihr zu sagen: „Gestatte deiner Dienerin und der Magd der Knechte des Gesalbten, unter deinem Dach zu leben. Ich werde den Mühlstein drehen und die Presse; als Sklavin mich an die Mühle stellen; deine Herde will ich hüten und die Windeln deines Kindes waschen; setze mich in deine Küche, stelle mich an deinen Ofen . . . wohin du willst; aber nimm mich an! Damit ich ihn sehe! Seine Stimme höre!
Seinen Blick auffange!“ Und wenn sie mich nicht wollte, so würde ich an ihrer Tür von Almosen und Spott leben, unter freiem Himmel und heißer Sonne, nur um die Stimme des Messiaskindes und das Echo seines Lachens zu hören; um ihn vorübergehen zu sehen und vielleicht eines Tages von ihm ein Scherflein Brot zu erhalten . . . Oh!
wenn auch der Hunger meine Eingeweide zerreißen und ich ohnmächtig werden sollte nach den größten Entbehrungen: ich würde dieses Brot nicht essen! Ich würde es wie ein Säcklein voller Perlen an mein Herz drücken und es küssen, um den Wohlgeruch der Hände des Gesalbten zu spüren, und ich hätte keinen Hunger und keine Kälte mehr; denn diese Berührung würde mir Verzückung und Wärme, Verzückung und Speise sein . . . «
»Du solltest die Mutter des Gesalbten sein, da du ihn so liebst!
Willst du deshalb Jungfrau bleiben?«
»Oh! nein. Ich bin Elend und Staub. Ich wage nicht, den Blick zur Herrlichkeit Gottes zu erheben. Und das ist der Grund, weshalb ich lieber in das Innere des Herzens schaue als auf den doppelten Vorhang, auf dessen anderer Seite ich die unsichtbare Gegenwart Jehovas weiß. Dort ist der furchtbare Gott des Sinai; hier aber in mir sehe ich unseren Vater, ein liebevolles Antlitz, das mir zulächelt und mich segnet; denn ich bin klein wie ein Vöglein, das der Wind mit sich trägt, ohne seine Schwere zu fühlen, und schwach wie der Stiel des wilden Maiblümchens, das nur zu blühen und Duft zu verbreiten weiß und dem Wind keine andere Kraft entgegenstemmt als die seiner duftenden und reinen, süßen Sanftmut. Gott, mein Liebeshauch!
Dem von Gott und einer Jungfrau geborenen, dem Heiligsten, kann nichts anderes gefallen als das, was er im Himmel zur Mutter erwählt hat und was ihm auf Erden vom himmlischen Vater spricht: die Reinheit. Wenn das Gesetz dies betrachten würde, wenn die Rabbis, die es mit all den Spitzfindigkeiten ihrer Lehren versehen haben, ihren Sinn auf höhere Horizonte hinwenden würden, wenn sie sich eintauchen würden in das Übernatürliche, ohne das Menschliche und den eigenen Vorteil zu suchen, worüber sie das höchste Ziel vergessen . . . wenn sie das aufgeben würden, dann würden sie ihre Unterweisung vor allem auf die Reinheit hinrichten, damit der König Israels bei seiner Ankunft diese vorfinde. Mit dem Ölbaum des Friedfertigen, mit den Palmen des Triumphators streut Lilien, Lilien und immer wieder Lilien!
Wieviel Blut wird er vergießen müssen, um uns zu erlösen, der Heiland! Wieviel! Aus den tausend und tausend Wunden, die Jesaja am Mann der Schmerzen sah! [Jes 53,5]. Sieh, wie der Tau aus einem porösen Gefäß, fällt nun ein Regen von Blut.
Möge es nicht hinfallen, wo es Entheiligung und Gotteslästerung vorfindet, dieses göttliche Blut, sondern in Kelche von leuchtender Reinheit, die es aufnehmen und sammeln, um es dann über seelisch Kranke zu sprengen, über die Aussätzigen im Geiste und die für Gott Gestorbenen! Reicht ihm Lilien, Lilien, um mit dem weißen Gewand reiner Blütenblätter den Schweiß und die Tränen des Gesalbten zu trocknen! Gebt Lilien, gebt Lilien für das heilige Fieber des Märtyrers! Oh! Wo wird die Lilie sein, die dich trägt? Die deinen Durst stillen wird? Wo ist jener, den dein Blut röten und der sterben wird, indem er dich sterben sieht? Wo ist der, der weint über deinem blutentleerten Leib? Oh, Christus! Christus! Meine Sehnsucht! . . . «
Maria schweigt, weinend und überwältigt.
Auch Hanna schweigt und sagt dann mit der reinen Stimme der bewegten Greisin: »Hast du mich noch anderes zu lehren, Maria?
. . . «
Maria schüttelt sich. Sie muß wohl in ihrer Demut glauben, daß ihre Meisterin sie tadelt, denn sie sagt: »Oh! Verzeihung! Du bist die Meisterin, und ich bin ein armes Nichts. Aber diese Stimme steigt mir aus dem Herzen empor. Ich überwache sie gut, um nicht zu sprechen.
Aber wie ein Fluß, dessen Wasser über die Ufer tritt und die Dämme durchbricht, so hat es mich erfaßt und ist durchgebrochen.
Achte nicht auf meine Worte und demütige meine Anmaßung! Die geheimnisvollen Worte sollten verborgen bleiben in der geheimen Lade des Herzens, die Gott in seiner Güte beschenkte. Aber sie ist so liebreich, diese unsichtbare Gegenwart, daß ich davon trunken bin . . . Hanna verzeihe mir, deiner kleinen Magd!«
Hanna drückt sie an sich, und das faltenreiche, alte Antlitz bebt und glänzt vom Weinen. Die Tränen bahnen sich zwischen den Falten einen Weg, wie Wasser auf einem trockenen Erdreich. Aber die alte Meisterin erregt kein Lachen; vielmehr bewirkt ihr Weinen höchste Verehrung.
Maria liegt in ihren Armen, das Gesichtchen an die Brust der greisen Meisterin gelehnt, und alles endet so.

17 »Sie schaute wieder, was ihr Geist in Gott gesehen hatte«

Jesus spricht:
»Maria dachte an Gott. Sie träumte von Gott; sie glaubte zu träumen.
Sie tat nichts anderes, als wiederzusehen, was ihr Geist im Glanz des Himmels Gottes geschaut hatte, da sie erschaffen wurde, um mit dem auf der Erde empfangenen Leib vereinigt zu werden.
Sie teilte mit Gott, wenn auch in viel geringerem Maß, so wie die Gerechtigkeit es verlangt, eine der Eigenschaften Gottes: die des SichErinnerns, des Schauens und Vorausschauens, durch eine erhabene und vollkommene, nicht durch die Erbsünde verletzte Intelligenz.
Der Mensch ist nach dem Bild Gottes erschaffen worden. Eine der Ähnlichkeiten besteht in der Fähigkeit des von der Gnade erfüllten Geistes, sich zu erinnern, zu sehen und vorauszusehen. Das erklärt die Fähigkeit, in der Zukunft zu lesen: eine Fähigkeit, die oft direkt aus dem Willen Gottes entspringt, andere Male aus der Erinnerung, die auftaucht, wie die Sonne am Morgen, und einen bestimmten Punkt des Horizontes der Jahrhunderte beleuchtet, der schon gesehen ward vom Schoß Gottes aus. Dies sind Geheimnisse, die zu hoch sind, als daß ihr sie voll begreifen könntet.
Aber denkt einmal nach! Diese höchste Intelligenz, dieser Gedanke, der alles weiß, diese Schau, die alles sieht, die euch erschuf durch einen Willensakt und mit einem Hauch seiner unendlichen Liebe und euch zu seinen Kindern machte durch euren Ursprung und zu seinen Söhnen durch eure Bestimmung: könnte sie etwas geben, was von ihr verschieden ist? Sie gibt es euch in unendlich kleinem Maß (nicht im pantheistischen, sondern im theologischen Sinn „einer Teilnahme an der göttlichen Natur“ zu verstehen). Denn das Geschöpf könnte den Schöpfer nicht umfassen. Aber dieser Teil ist vollkommen und vollständig in seiner Kleinheit.
Welch einen Schatz von Intelligenz hat Gott dem Menschen, dem Adam gegeben! Die Schuld hat sie verringert, aber mein Opfer vervollständigt sie wieder und öffnet euch ihrem Leuchten, ihrem Strömen und ihrem Wissen.
Erhabenheit des menschlichen Geistes, der durch die Gnade mit Gott verbunden ist. Er ist teilhaftig der Fähigkeit Gottes, zu erkennen.
Es gibt keinen andren Weg. Das sollen alle bedenken, die übernatürliche Geheimnisse begreifen möchten. Jede Erkenntnis, die nicht aus einer von der Gnade erfüllten Seele kommt – der aber ist nicht in der Gnade, der gegen das Gesetz Gottes handelt, das klar in seinen Geboten ist – kann nur von Satan kommen und entspricht schwerlich der Wahrheit, auch wenn sie Menschliches zum Gegenstand hat.
Nie entspricht sie der Wahrheit, wenn es um Übermenschliches geht; denn der Dämon ist der Vater der Lüge und zieht euch mit auf den Pfad der Lüge. Es gibt keinen andren Weg, das Wahre zu erkennen, als den von Gott stammenden, der redet und spricht oder uns etwas ins Gedächtnis ruft, wie ein Vater dem Sohn sein Vaterhaus ins Gedächtnis ruft und sagt: „Erinnerst du dich, als du mit mir dieses oder jenes tatest, dieses sahst oder jenes hörtest? Erinnerst du dich daran, als du von mir den Abschiedskuß erhieltst? Erinnerst du dich, als du mich das erste Mal sahst, die strahlende Sonne meines Antlitzes auf deiner jungfräulichen, eben erschaffenen und noch reinen Seele, die du, kaum daß sie aus mir hervorgegangen, befleckt und damit geschwächt hast? Erinnerst du dich, daß du in einer Regung der Liebe verstanden hast, was die Liebe ist, was das Geheimnis unseres Seins und unserer Entwicklung ist?“ Und was die beschränkte Fassungskraft des Menschen in der Gnade nicht erreicht, das ergänzt der Geist des Wissens, der spricht und unterweist.
Aber, um den Heiligen Geist zu besitzen, bedarf man der Gnade!
Um die Wahrheit und das Wissen zu besitzen, bedarf es der Gnade.
Um den Vater mit sich zu haben, ist Gnade erforderlich. Das Zelt, in dem die drei Personen wohnen, ist der Ort der Versöhnung, an dem der Ewige ruht und nicht aus einer Wolke spricht, sondern dem getreuen Sohn sein Antlitz enthüllt.
Die Heiligen (die Gerechten) erinnern sich Gottes und der Worte, die sie gehört haben vom Schöpfergeist und die die göttliche Liebe in ihrem Herzen erweckt, um sie wie Adler zur Betrachtung des Wahren und zur Erkenntnis der Zeit zu erheben.
Maria war die Gnadenvolle. Die ganze Gnade des Dreieinigen war in ihr. Die ganze Gnade des Einen und Dreieinen bereitete sie als Braut für die Hochzeit vor, als Brautgemach für das Kind, als Göttliche zur Mutterschaft und zu ihrer Sendung. Sie ist es, die den Kreis der Prophetinnen des Alten Testaments schließt und den der „Wortträger Gottes“ im Neuen Testament eröffnet.
Wahre Arche des Wortes Gottes, schaut sie hinein in ihr in Ewigkeit unverletztes Innere, entdeckt sie, geschrieben vom Finger Gottes auf ihr unbeflecktes Herz, die Worte des ewigen Wissens und erinnert sich wie alle Heiligen, sie bereits in ihrem unsterblichen Geist gehört zu haben beim Geborenwerden, von Gott, dem Vater und Schöpfer allen Lebens. Und wenn sie sich nicht an alle ihre künftigen Aufgaben erinnert, so geschieht das, weil Gott in jeder menschlichen Vollkommenheit Lücken läßt nach dem Gesetz der göttlichen Klugheit, die Güte ist und Verdienst bedeutet für das Geschöpf.
Die zweite Eva, Maria, mußte sich ihren Verdienstanteil als Mutter Christi durch einen treuen, guten Willen erwerben, den Gott auch in seinem Gesalbten haben wollte, um ihn zum Erlöser zu machen.
Der Geist Marias war im Himmel, Gemüt und Fleisch auf der Erde, und sie mußte Erde und Fleisch mit Füßen treten, um den Geist zu erreichen und ihn mit dem Heiligen Geist in fruchtbarer Umarmung zu verbinden.«

18 »Gott wird dir den Bräutigam geben, und er wird heilig sein, denn du vertraust auf Gott. Du sollst ihm dein Gelübde bekennen«

Welch eine Höllennacht! Es schien wirklich, als wären die Teufel auf die Erde gekommen.
Kanonendonner, Lärm, Blitze, Gefahr, Furcht, Schmerz und das Leid, nicht in meinem eigenen Bett zu sein (infolge kriegerischer Ereignisse); und mittendrin, wie eine ganz weiße und liebliche Blume im Rauch und Durcheinander, Maria; Maria, ein wenig erwachsener als in der gestrigen Vision, aber immer noch sehr jung, mit blonden Zöpfen auf den Schultern, in ihrem weißen Kleid, mit ihrem sanften, gesammelten Lächeln: einem inneren Lächeln, hingerichtet auf das glorreiche Geheimnis, das sie im Herzen birgt. Ich verbringe die Nacht, indem ich Vergleiche zwischen ihrem sanften Anblick und der Grausamkeit der Welt anstelle, und ihre Worte von gestern morgen überdenke, ein Lied lebendiger Liebe, das ich mit dem Haß, der sich zerfleischt . . . vergleiche . . .
Heute morgen, zurückgekehrt in das Schweigen meines Zimmers, erlebe ich die folgende Szene: Maria ist immer noch im Tempel. Jetzt kommt sie mit anderen Jungfrauen heraus aus dem wahren und eigentlichen Tempel Gottes, aus den Räumen in der Nähe des Heiligtums.
Es muß dort irgendeine Zeremonie stattgefunden haben, denn der Weihrauch breitet sich in der Luft aus, die rötlich gefärbt ist vom schönen Sonnenuntergang, ich möchte sagen, eines vorgerückten Herbstes; denn der Himmel hängt an diesem heiteren Oktobertag ziemlich müde über den Gärten Jerusalems, in denen das Ockergelb der herabfallenden Blätter blondrote Flecken zwischen das Silbergrün der Olivenbäume legt.
Die Schar, vielmehr der weiße Schwarm der Mädchen durchquert den hinteren Säulengang, ersteigt die Stufen, durchrauscht einen Säulengang und betritt einen anderen, weniger prunkvollen, quadratischen Hof, der keine andere Öffnung hat als diesen Eingang.
Es muß die Pforte zu den kleinen Behausungen jener Jungfrauen sein, die dem Tempeldienst geweiht sind; denn jedes Mädchen eilt auf seine Zelle zu wie ein Täubchen zu seinem Nest, und es sieht genau so aus, wie wenn ein Schwarm von Tauben sich auflöst. Viele, beinahe alle reden leise, aber fröhlich miteinander, bevor sie sich trennen. Maria schweigt. Bevor sie sich aber von den andren trennt, grüßt sie mit freundlicher Stimme, und begibt sie sich dann zu ihrem Kämmerlein, in einen Winkel zur Rechten.
Eine Lehrerin nähert sich ihr, nicht so alt wie Hanna des Penuël, aber doch schon in einem fortgeschrittennen Alter: »Maria, der Hohepriester erwartet dich.«
Maria schaut sie etwas erstaunt an, stellt aber keine Frage. Sie antwortet nur: »Ich werde mich schnell zu ihm begeben.«
Ich weiß nicht, ob der weite Saal, in den sie eintritt, zum Haus des Hohenpriesters gehört oder ob er noch ein Teil der Frauenwohnungen im Tempel ist. Ich weiß nur, daß er weit, hell und gut eingerichtet ist und daß sich in ihm außer dem prächtig gekleideten Hohenpriester auch Zacharias und Hanna des Penuël befinden.
Maria macht an der Schwelle eine tiefe Verneigung und bleibt stehen, bis der Hohepriester zu ihr sagt: »Tritt näher, Maria, fürchte dich nicht!« Nun richtet Maria sich auf, erhebt ihr Antlitz und schreitet langsam vorwärts, nicht widerwillig, sondern mit einem ungewöhnlichen Ausdruck von Feierlichkeit, der sie fraulicher erscheinen läßt.
Hanna lächelt ihr zu, um sie zu ermutigen, und Zacharias grüßt sie mit einem: »Der Friede sei mit dir, meine Base.«
Der Hohepriester beobachtet sie aufmerksam und sagt, zu Zacharias hingewendet: »In ihr erkennt man den Stamm Davids und Aarons.«
Dann fährt er fort: »Tochter, ich kenne deine Anmut und Güte. Ich weiß, daß du täglich in den Augen Gottes und der Menschen an Wissen und Gnade zunimmst. Ich weiß, daß die Stimme Gottes deinem Herzen die lieblichsten Worte zuraunt. Ich weiß, daß du die Blume des Tempels Gottes bist und daß ein dritter Kerub vor dem Tabernakel steht, seit du hier bist. Ich möchte gerne, daß dein Duft auch weiterhin mit dem Weihrauch aller Tage vor Gott aufsteige. Aber das Gesetz spricht andere Worte. Du bist nun kein Kind mehr, sondern eine Frau. Und jede Frau in Israel muß Gattin werden, um dem Herrn Knaben darzubringen. Du mußt dem Gesetz folgen. Fürchte dich nicht, erröte nicht! Ich kenne deine königliche Abstammung.
Aber das Gesetz schützt dich mit der Verordnung, daß jedem Mann eine Frau aus seinem Stamm gegeben werde [Num 36,6–10]. Aber selbst, wenn es das nicht gäbe, ich würde dafür sorgen, daß dein edles Blut nicht verdorben wird. Kennst du niemanden aus deinem Stamm, der dir Bräutigam sein könnte?«
Maria erhebt ein von Schamhaftigkeit gerötetes Gesicht, während in den Winkeln der Augenwimpern erste Tränen aufschimmern, und mit zitternder Stimme antwortet sie: »Niemanden.«
»Sie kann niemanden kennen, denn sie trat in ihrer Kindheit hier ein, und der Stamm Davids ist zu sehr heimgesucht worden und zerstreut, als daß es möglich wäre, daß sich die verschiedenen Zweige zusammenfinden, um die Krone der königlichen Palme zu bilden«, sagt Zacharias.
»Dann überlassen wir Gott die Wahl!«
Die bisher zurückgehaltenen Tränen quellen nun hervor und fließen auf den zitternden Mund, und Maria wirft einen flehentlichen Blick auf ihre Meisterin.
»Maria hat sich dem Herrn geweiht zu seiner Ehre und zur Rettung Israels. Sie war noch ein Kind, das kaum zu buchstabieren gelernt hatte, und schon hatte sie sich an das Gelübde gebunden . . . «
sagt Hanna, um ihr zu helfen.
»Ist das der Grund deines Weinens? Nicht der Trotz gegen das Gesetz?«
»Deswegen, wegen nichts anderem . . . Ich gehorche dir, Hoherpriester Gottes.«
»Das bekräftigt, was mir immer von dir gesagt wurde. Seit wie langer Zeit bist du Gott als Jungfrau geweiht?«
»Seit jeher, glaube ich. Ich war noch nicht im Tempel, und schon hatte ich mich dem Herrn geschenkt.«
»Aber bist du nicht die Kleine, die mich vor zwölf Frühlingen gebeten hat, eintreten zu dürfen?«
»Ich bin es.«
»Aber wie kannst du sagen, daß du schon damals Gott gehörtest?«
»Soweit ich zurückschaue, sehe ich mich als Jungfrau . . . Ich erinnere mich nicht an die Stunde, da ich geboren wurde; auch nicht daran, wie ich langsam begann, meine Mutter zu lieben und zu meinem Vater zu sagen: „O Vater, ich bin deine Tochter . . . “ Aber ich erinnere mich, obwohl ich nicht sagen kann, wann es geschah, daß ich Gott mein Herz geschenkt habe. Vielleicht war es beim ersten Kuß, den ich zu geben vermochte, beim ersten Wort, das ich sprechen, beim ersten Schritt, den ich machen konnte . . . Ja, ich glaube, daß die erste Erinnerung an diese Liebe mit meinen ersten, sicheren Schritten verbunden ist . . . Mein Haus . . . mein Haus hatte einen Garten voller Blumen . . . hatte einen Obstgarten und Felder . . . Und eine Quelle im Hintergrund war dort, am Fuß des Hügels, und sprudelte hervor aus einem ausgehöhlten Felsen, der eine Grotte bildete . . . Der Hügel war mit langen und feinen Gräsern bedeckt, die wie ein grüner Wasserfall von allen Seiten herabregneten, und es schien, als ob die leichten Blättchen und Zweige, die einer Verzierung glichen, weinten, wenn ihre Wassertröpfchen beim Niederfallen wie kleine Glöcklein anklangen. Auch die Quelle sang. Und es gab dort auch Vöglein auf den Ölbäumen, die auf dem Bergvorsprung oberhalb der Quelle wuchsen, und die weißen Tauben kamen, sich zu waschen in dem klaren Spiegel dieser Quelle . . . Ich erinnere mich nicht mehr an alles, denn ich hatte mein Herz ganz in Gott versenkt, und außer Vater und Mutter, die ich liebte während ihres Lebens und nach ihrem Tod, war alles auf dieser Erde fern von meinem Herzen . . . du läßt mich nun daran denken, Hoherpriester . . . Ich muß suchen, wann ich mich Gott weihte . . . Und die Dinge der ersten Jahre tauchen in mir wieder auf . . .
Ich liebte diese Grotte, denn viel lieblicher noch als der Gesang des Wassers und der Vögel erklang dort eine Stimme, die zu mir sagte: „Komm, meine Geliebte!“ Ich liebte diese Gräser mit ihren klingenden Diamanttröpfchen, denn ich sah in ihnen das Zeichen meines Herrn, und ich verlor mich in den Worten: „Siehst du, wie groß dein Gott ist, meine Seele? Er, der die Zedern des Libanon gemacht hat für die großen Adler. Er hat diese Blättchen, die sich neigen unter der Last einer Fliege, zu deiner Augenweide und zum Schutz für deinen kleinen Fuß gemacht.“
Ich liebte das Schweigen der reinen Dinge: den leichten Wind, das silberne Wasser, die Einfalt der Tauben . . . Ich liebte diesen Frieden, der auf der kleinen Grotte ruhte, der von den Apfel- und Olivenbäumen herabzuregnen schien, die bald in Blüten waren, bald alle köstliche Früchte trugen . . . Und ich weiß nicht . . . es schien mir, daß die Stimme zu mir, eigens zu mir, sagte: „Komm, du meine niedliche Olive; komm, du mein süßer Apfel; du verschlossener Quell; komm, du meine Traube!“ . . . Süß ist die Liebe des Vaters und der Mutter, süß die Stimme, die mich rief . . . Aber diese! Diese! Oh! Ich glaube, daß im irdischen Paradies jener, der dann schuldig wurde, dieselbe gehört hat, und ich weiß nicht, wie er das Zischen einer Schlange dieser Stimme der Liebe vorziehen, wie er ein anderesWissen begehren konnte, das nicht von Gott war . . . Mit den Lippen, die noch der Milch der Mutter bedurften, aber schon mit einem Herzen trunken von himmlischem Honig habe ich damals gesagt: „Sieh, ich komme!
Dein bin ich! Kein anderer Herr wird meinen Leib besitzen außer dir, o Herr; wie auch mein Geist keine andere Liebe kennt.“ Als ich diese Worte sagte, schien es mir, als hätte ich sie schon gesagt, als vollendete ich nur einen Ritus, der bereits vollzogen war, als wäre mir der vorausbestimmte Bräutigam nicht fremd; denn ich kannte schon seine Glut, meine Augen hatten sich in seinem Licht gebildet und meine Fähigkeit zu lieben hatte sich erfüllt in seinen Armen.
Wann? . . . Ich weiß es nicht. Jenseits des Lebens, möchte ich sagen; denn ich fühle, daß ich ihn immer besessen habe und daß er mich immer besessen hat und daß ich bin, weil er mich gewollt hat zur Freude seines und meines Geistes . . .
Ich gehorche, Priester. Sage du mir, wie ich handeln soll . . . Ich habe weder Vater noch Mutter. Sei du mein Führer!«
»Gott wird dir den Bräutigam geben, und er wird heilig sein, da du dich Gott anvertraust. Du sollst ihm dein Gelübde mitteilen.«
»Wird er es annehmen?«
»Ich hoffe es. Bete, Tochter, daß er dein Herz verstehe! Geh und bete! Gott möge dich immer begleiten!«
Maria zieht sich mit Hanna zurück, während Zacharias bei dem Oberpriester bleibt.
So endet die Vision.

19 Josef wird zum Bräutigam der Jungfrau bestimmt

Ich sehe einen reichen Saal mit schönem Fußboden, Vorhängen, Teppichen und mit Intarsien verzierten Möbeln. Er muß noch zum Tempel gehören, denn es sind Priester darin, unter ihnen auch Zacharias und viele Männer jeden Alters (zwischen 20 und 50 Jahren).
Sie sprechen leise, aber lebhaft miteinander. Sie scheinen in ängstlicher Erwartung, aber ich weiß nicht warum. Alle sind festlich gekleidet mit neuen Gewändern, oder wenigstens mit ganz frisch gewaschenen, als wären sie eigens für ein Fest hergerichtet. Viele haben die Kopfbedeckung, ein Leinentuch, abgenommen; andere haben sie noch auf dem Kopf, besonders die Alten, während die Jungen ihren unbedeckten Kopf mit den dunkelblonden oder braunen Haare zeigen; nur einer ist kupferrot. Die Haare sind meist kurz geschnitten; aber es gibt auch einige mit langen, bis auf die Schultern wallenden Haaren. Es scheint, daß sich nicht alle kennen, denn viele beobachten sich neugierig. Aber sie scheinen doch irgendwie verwandt zu sein, denn man merkt, daß sie alle ein einziger Gedanke beherrscht.
In einem Winkel sehe ich Josef. Er spricht mit einem rüstigen älteren Mann. Josef ist etwas über dreißig. Ein schöner Mann mit kurzen, etwas krausen Haaren, die kastanienbraun sind, wie auch der Schnurrbart und der Bart, die ein schönes Kinn und die rotbraunen Wangen umschatten. Er hat dunkle, schöne, tiefe und sehr ernste, ich möchte fast sagen, etwas melancholische Augen. Wenn er aber lacht, wie jetzt, werden sie lebendig und jugendlich. Er ist ganz hellbraun gekleidet; einfach, aber sehr ordentlich.
Eine Gruppe von jungen Leviten kommt herein und stellt sich zwischen der Tür und einem langen schmalen Tisch auf, der nahe der Wand steht, in deren Mitte sich die weitgeöffnete Tür befindet.
Nur ein Vorhang, der bis auf 20 cm zum Boden herabhängt, bedeckt die Leere.
Die Neugierde wächst. Sie wächst noch mehr, als eine Hand den Vorhang zur Seite zieht, um einen Leviten eintreten zu lassen, der auf den Armen ein Bündel trockener Zweige trägt, auf das ganz vorsichtig ein blühender Zweig gelegt worden ist; ein leichter Schaum weißer Blütenblätter, die kaum rötlich angehaucht sind. Der Levit legt das Bündel der Zweige mit großer Sorgfalt auf den Tisch, um das Wunder dieses blühenden Zweiges inmitten von so vielen dürren Ästen nicht zu beschädigen.
Ein Raunen geht durch den Saal. Die Hälse recken sich. Die Blicke werden durchdringender. Auch Zacharias, der mit den Priestern dem Tisch näher ist, sucht etwas zu erkennen. Aber er sieht nichts.
Josef in seinem Winkel wirft kaum einen Blick auf das Bündel von Zweigen, und als sein Nachbar ihm etwas sagt, macht er eine abweisende Gebärde, als wollte er sagen: »Unmöglich!«, und lächelt.
Ein Trompetenstoß jenseits des Vorhanges! Alle schweigen und stellen sich in guter Ordnung auf, mit dem Blick zum Ausgang, der jetzt halbgeöffnet erscheint. Umgeben von den Ältesten tritt der Hohepriester ein. Alle verneigen sich tief. Der Priester geht zum Tisch und spricht aufrechtstehend: »Ihr Männer aus dem Haus Davids, die ihr auf meine Ausschreibung hier versammelt seid, hört zu! Der Herr hat gesprochen, er sei gepriesen. Von seiner Herrlichkeit ist ein Strahl herabgestiegen, und wie die Frühlingssonne hat er einem trockenen Zweig Leben gegeben.
Dieser hat auf wunderbare Weise geblüht, obwohl kein Zweig auf Erden heute in Blüte ist, am letzten Tag des Lichterfestes, während der Schnee, der auf den Höhen von Juda liegt, noch nicht geschmolzen ist; und so ist dieser der einzige weiße Glanz zwischen Zion und Betanien. Gott hat gesprochen und sich zum Vater und Beschützer der Jungfrau Davids gemacht, die keinen anderen zum Schutz hat als ihn. Heiliges Mädchen, Ruhm des Tempels und des Stammes Davids! Sie hat es verdient, daß durch ein Gotteswort der Name des Bräutigams bekannt wurde, der dem Ewigen genehm ist.
Ein gerechter muß derjenige sein, der vom Herrn als Hüter der ihm teuren Jungfrau erwählt wird! Somit mildert sich unser Schmerz, sie zu verlieren, und wird uns jede Sorge um ihr Schicksal als Braut genommen. Und dem von Gott Bezeichneten vertrauen wir mit aller Sicherheit die Jungfrau an, auf der Gottes Segen und auch der unsrige ruht. Der Name des Bräutigams ist Josef, der Sohn Jakobs aus Betlehem, vom Stamm Davids, Zimmermann zu Nazaret in Galiläa. Josef, komm her, der Hohepriester befiehlt es dir!«
Stimmengewirr. Köpfe, die sich drehen, Augen und Hände, die auf ihn weisen, enttäuschte Gesichter, Worte der Erleichterung. Der eine oder andere besonders unter den Älteren, muß froh sein, daß ihn dieses Los nicht getroffen hat.
Josef, rot und verlegen, tritt hervor. Jetzt befindet er sich vor dem Tisch, dem Priester gegenüber, den er ehrfürchtig grüßt.
»Kommt alle und schauet den Namen, der auf dem Zweig eingeritzt ist; ein jeder nehme seinen Zweig, um sicher zu sein, daß kein Betrug vorliegt!«
Die Männer gehorchen. Sie blicken auf den Zweig, den der Hohepriester behutsam in der Hand hält, und nehmen ihren eigenen, den der eine zerbricht, der andere aufbewahrt. Alle schauen auf Josef.
Der eine schaut und schweigt, der andere wünscht ihm Glück. Der ältere Mann, mit dem er vorher gesprochen hat, sagt: »Habe ich es dir nicht gesagt, Josef? Wer sich am unsichersten fühlt, siegt!« Alle sind an dem blühenden Zweig vorbeigegangen.
Der Hohepriester gibt ihn Josef; dann legt er ihm die Hände auf die Schulter und spricht: »Sie ist nicht reich, du weißt es, die Braut, die Gott dir gibt. Aber sie ist reich an Tugenden. Sei ihrer immer mehr würdig! Es gibt keine Blume in Israel, so lieblich und rein wie sie. Geht jetzt alle! Es bleibe Josef! Und du, Zacharias, als Verwandter, führe die Braut herbei!«
Alle gehen mit Ausnahme des Hohenpriesters und Josefs. Der Vorhang wird über den Ausgang gezogen.
Josef steht demütig neben dem majestätischen Hohenpriester. Ein kurzes Schweigen, dann sagt dieser zu ihm: »Maria hat dir ein Gelübde zu bekennen. Hilf ihr in ihrer Schüchternheit! Sei gut mit der Guten!«
»Ich werde meine Mannhaftigkeit in ihren Dienst stellen, und kein Opfer für sie wird mir zu schwer sein. Sei dessen versichert!«
Maria tritt ein mit Zacharias und Hanna des Penuël.
»Komm, Maria!« sagt der Priester. »Sieh, das ist der Bräutigam, den Gott für dich bestimmt hat. Es ist Josef von Nazaret. Du kehrst daher in deine Stadt zurück. Jetzt verlasse ich euch. Gott gebe euch seinen Segen! Der Herr möge euch behüten und segnen; er möge sich euch zeigen und allezeit Erbarmen mit euch haben! Er möge euch sein Antlitz zuwenden und euch den Frieden geben!«
Zacharias geht hinaus; er begleitet den Priester. Hanna beglückwünscht den Bräutigam, dann geht auch sie.
Die beiden Verlobten stehen nun einander gegenüber. Maria, die errötet ist, steht mit geneigtem Haupt da. Josef, auch er etwas errötet, beobachtet sie und sucht nach den ersten Worten, die er an sie richten kann. Endlich findet er sie, und ein leuchtendes Lächeln überstrahlt sein Gesicht, als er sagt: »Ich grüße dich, Maria; ich habe dich als kleines Kind gesehen . . . Ich war ein Freund deines Vaters, und der Neffe meines Bruders Alphäus war befreundet mit deiner Mutter. Er war ihr kleiner Freund, denn jetzt zählt er erst achtzehn Jahre, und als du noch nicht geboren warst, war er ein wirklich kleines Geschöpf; und doch erfreute er deine Mutter in ihrem Kummer; sie liebte ihn sehr. Du kennst uns nicht, weil du als kleines Mädchen hierher gekommen bist. Aber in Nazaret haben dich alle lieb und denken an dich; sie reden immer noch von der kleinen Maria des Joachim, deren Geburt ein Wunder des Herrn war, der die Unfruchtbare aufblühen ließ . . . Und ich erinnere mich noch des Abends, an dem du geboren wurdest . . . Wir erinnern uns alle noch des Wunders: eines gewaltigen Regens, der die Felder rettete, und eines heftigen Gewitters, bei dem die Blitze nicht einen einzigen Stengel des Heidekrautes niederschmetterten. Alles endete mit dem größten und lieblichsten Regenbogen, der je gesehen worden ist. Und dann . . . wer erinnert sich nicht der Freude des Joachim? Er zeigte dich überall seinen Nachbarn . . . Wie eine Blume seist du vom Himmel gekommen, und er bewunderte dich und wollte, daß alle dich bewundern. Noch kurz vor dem Tod erzählte der glückliche, alte Vater von seiner Maria, die so schön und gut sei, und von ihren Worten, die voll der Anmut und der Weisheit seien. Er hatte recht, als er dich bewunderte und sagte, daß es keine Schönere gäbe als dich! . . .
Und deine Mutter? Sie erfüllte mit ihrem Singen den Erdenwinkel, in dem ihr Haus lag. Sie schien eine Lerche im Frühjahr, während sie dich trug, und später, als sie dich auf ihrem Schoß hatte. Ich habe dir die Wiege gezimmert: eine kleine Wiege, ganz mit geschnitzten Rosen verziert; denn so wollte deine Mutter sie haben. Vielleicht ist sie noch in der verschlossenen Wohnung zu finden . . . Ich bin bejahrt.
Maria, als du geboren wurdest, verfertigte ich meine ersten Arbeiten.
Ich arbeitete schon . . . Wer hätte mir damals sagen können, daß ich dich einmal zur Braut haben werde! Vielleicht wären die Deinigen glücklicher gestorben; denn wir waren befreundet. Ich habe deinen Vater begraben und ihn aufrichtigen Herzens beweint; denn er war mir ein guter Lehrmeister im Leben gewesen.«
Maria erhebt langsam ihr Gesicht und wird immer unbefangener, als sie Josef so reden hört; und als er die Wiege erwähnt, lächelt sie ein wenig. Als Josef von ihrem Vater spricht, reicht sie ihm die Hand mit den Worten: »Danke, Josef!« Es ist ein schüchternes und sanftes Danke.
Josef nimmt das Lilienhändchen in seine kurzen und starken Zimmermannshände und drückt es mit einer Verehrung, die sie ermutigen soll. Vielleicht erwartet er noch andere Worte. Aber Maria schweigt von neuem. So fährt er fort: »Das Haus, das du kennst, ist unversehrt geblieben, abgesehen von dem Teil, der auf Befehl des Konsuls abgerissen wurde, um aus dem kleinen Weg eine Straße für die Wagen aus Rom zu machen. Und das Feld, das dir geblieben ist, ist ein wenig vernachlässigt worden; du weißt ja, die Krankheit des Vaters hat euer Besitztum sehr verringert. Es sind jetzt schon mehr als drei Frühlinge vergangen, daß die Bäume und Weinstöcke nicht mehr beschnitten worden sind, und der Boden ist ungepflegt und hart. Aber die Bäume, die du als kleines Mädchen gesehen hast, sind noch da, und wenn du mir erlaubst, werde ich mich ihrer sofort annehmen.«
»Danke, Josef. Aber du hast ja schon andere Arbeit . . . «
»Ich werde deinen Garten in den ersten und letzten Stunden des Tages pflegen. Jetzt nehmen die Tage mehr und mehr zu.
Für den Frühling werde ich alles zu deiner Freude in Ordnung bringen. Schau: dies ist ein Zweig des Mandelbaumes, der vor dem Haus steht; ich habe ihn mitbringen wollen . . . Man kann von überall her durch den verfallenen Zaun eintreten; aber jetzt werde ich ihn ausbessern und befestigen. Ich habe diesen genommen, weil ich dachte, wenn ich der Erwählte sein sollte . . . aber ich wagte es nicht zu hoffen, da ich ja ein Nazoräer bin [Num 6]. Ich habe nur dem Ruf des Hohenpriesters gehorcht. Da habe ich gedacht, es könnte dir Freude bereiten, einen Zweig aus deinem Garten zu erhalten.
Sieh ihn hier, Maria! Mit ihm gebe ich dir mein Herz, das bis heute nur für den Herrn geblüht hat; nun blüht es für dich, meine Braut.«
Maria nimmt den Zweig. Sie ist gerührt und schaut Josef mit einem immer festeren und strahlenderen Blick an. Sie fühlt sich sicher bei ihm. Als er sagte: »Ich bin Nazoräer«, leuchtete ihr Gesicht förmlich auf, und sie faßte Mut. »Auch ich gehöre ganz Gott an, Josef. Ich weiß nicht, ob der Hohepriester es dir gesagt hat . . . «
»Er hat nur gesagt, daß du gut und rein seist, daß du mir von einem Gelübde reden wollest und daß ich gut mit dir sein soll.
Sprich, Maria, dein Josef will dich glücklich machen in all deinen Wünschen! Ich liebe dich nicht dem Fleisch nach. Ich liebe dich dem Geist nach, du heiliges Kind, das David mir gibt! Sieh in mir einen Vater und einen Bruder, nicht nur den Bräutigam! Und vertraue mir wie einem Vater, wie einem Bruder.«
»Seit meiner Kindheit habe ich mich dem Herrn geweiht. Ich weiß, daß man so etwas in Israel nicht tut. Aber ich hörte eine Stimme, die meine Jungfräulichkeit als Opfer forderte, aus Liebe zum kommenden Messias. Schon so lange wird er erwartet in Israel! . . . Es ist nicht zuviel, um seinetwillen auf die Mutterschaft zu verzichten!«
Josef schaut sie fest an, als wolle er in ihrem Herzen lesen; dann nimmt er ihre beiden kleinen Hände, die noch den aufgeblühten Zweig halten, und spricht: »Und ich vereinige mein Opfer mit dem deinen, und wir werden mit unserer Keuscheit den Ewigen so sehr lieben, daß er der Erde den Erlöser schneller schickt und uns erlaubt, sein Licht in der Welt leuchten zu sehen. Komm, Maria, gehen wir in sein Haus und geloben wir ihm, uns zu lieben wie die Engel sich lieben. Dann werde ich nach Nazaret gehen und in deinem Haus alles für dich vorbereiten, wenn du gerne dorthin zurückkehren willst; sonst anderswo, nach deinem Wunsch.«
»In mein Haus . . . Es war dort eine Grotte im Hintergrund . . . Ist sie noch dort?«
»Ja, doch sie ist nicht mehr dein Eigentum . . . Aber ich mache dir eine, wo du dich erfrischen und dich in den heißen Stunden zurückziehen kannst. Ich will sie soweit möglich der anderen ähnlich gestalten. Und nun sage mir: Wen willst du bei dir haben?«
»Niemand, ich habe keine Furcht. Die Mutter des Alphäus, die mich immer besucht, wird mir tagsüber ein wenig Gesellschaft leisten, und in der Nacht möchte ich lieber allein sein. Es kann mir nichts Schlimmes zustoßen.«
»Und dann bin ich ja da . . . Wann soll ich kommen, um dich zu holen?«
»Wann du willst, Josef.«
»Dann werde ich kommen, sobald das Haus in Ordnung ist. Ich werde nichts anrühren. Ich will, daß du es vorfindest, wie deine Mutter es verlassen hat. Aber ich will, daß es viel Sonne hat und ganz sauber ist, um dich ohne Traurigkeit aufzunehmen. Komm, Maria!
Gehen wir, um dem Allerhöchsten zu sagen, daß wir ihn lobpreisen!
«
Weiter sehe ich nichts mehr. Aber im Herzen bleibt mir das Gefühl der Sicherheit, das Maria empfindet . . .

20 Die Vermählung der Jungfrau mit Josef

Wie schön ist Maria in ihrem Brautgewand unter ihren festlichen Freundinnen und Lehrerinnen! Auch Elisabet befindet sich unter ihnen.
Mit reinstem Linnen ist sie bekleidet, so fein, daß es kostbare Seide zu sein scheint. Ihr Gürtel mit in Gold und Silber gestochenem Schmuck ist aus Medaillons zusammengesetzt, die von Kettchen zusammengehalten werden; jedes einzelne Medaillon ist ein aus Gold und Silberfäden bestehendes Zierwerk, das schon von der Zeit gebräunt ist. Der Gürtel umgibt die schmalen Lenden, und da er für das zarte Mädchen wohl zu lang ist, hängen vorne zwischen den Falten des weiten Gewandes drei Medaillons herab. Hinten wirkt das Gewand wie eine Schleppe, so lang ist es. An den kleinen Füßen trägt Maria Sandalen aus schneeweißem Fell mit silbernen Schnallen.
Am Hals wird das Kleid von einem Kettchen aus goldenen Rosetten und silbernem Filigran gehalten, das im kleinen das Motiv des Ledergürtels wiederholt. Es ist durch breite Knopflöcher gezogen, um den Halsausschnitt zusammenzuhalten, und bildet so eine kleine Rüsche. Der Hals Marias ragt aus diesem gefalteten Blütenweiß mit der Grazie eines in kostbare Gaze gewickelten Stieles hervor und scheint noch schmächtiger zu sein: ein Blumenstiel, der in einem lilienweißen Antlitz endet, das noch bleicher und reiner geworden ist unter der inneren Bewegung. Ein Gesicht wie eine reine Hostie.
Die Haare fallen nicht mehr über die Schultern herab. Die Zöpfe sind zu einem Knoten geflochten, der von kostbaren Haarnadeln aus gebräuntem Silber, alle mit Filigran verziert, zusammengehalten wird. Der Schleier der Mutter ruht auf diesen Flechten und fällt vom kostbaren Stirnreifchen in schönen Falten nach unten; hinunter bis zu den Hüften, denn Maria ist nicht so groß wie ihre Mutter, bei der der Schleier nur bis zum Gürtel reichte. An den Händen trägt sie nichts, an den Handgelenken Armbänder. Aber die Gelenke sind so fein und zart, daß ihr die schweren Armbänder der Mutter bis auf die Handrücken rutschen; sie würden, wenn sie die Hände schüttelte, zu Boden fallen.
Die Gefährtinnen bestaunen sie von allen Seiten. Ihr Reden und Fragen hört sich an wie munteres Vogelgezwitscher.
»Sind die von deiner Mutter?«
»Alt, nicht wahr?«
»Wie schön ist dieser Gürtel, Sara!«
»Und der Schleier, Susanne! Schau, wie fein! Schau die Lilien, die hineingewoben worden sind!«
»Laß mich die Armbänder sehen, Maria! Gehörten sie deiner Mutter?
«
»Sie trug sie, aber sie sind von der Mutter Joachims, meines Vaters.
«
»Oh! Schau! Sie hat das Siegel Salomons, verwoben mit Palmen und Olivenzweigen, und dazwischen sind Lilien und Rosen. Oh, wer hat diese fehlerlose und präzise Arbeit geleistet?«
»Sie stammen aus dem Haus Davids«, erklärt Maria. »Seit Jahrhunderten schmücken sich die Frauen dieses Geschlechtes mit ihnen, wenn sie sich vermählen, und dann bleiben sie im Erbschatz als Vermächtnis.«
»Ja, du bist Erbtochter . . . «
»Haben sie dir alles aus Nazaret gebracht?«
»Nein, als meine Mutter starb, hat meine Kusine die Ausstattung in ihr Haus genommen, um sie gut aufzubewahren. Jetzt hat sie mir alles gebracht.«
»Wo ist die Aussteuer? Wo ist sie? Zeige sie deinen Freundinnen!«
Maria weiß nicht, was sie sagen soll . . . Sie möchte freundlich sein; aber sie möchte nicht alles auspacken, was in drei schweren Truhen untergebracht ist. Die Lehrerinnen kommen ihr zur Hilfe: »Der Bräutigam kommt. Jetzt ist keine Zeit, alles in Unordnung zu bringen.
Laßt sie jetzt in Ruhe, ihr ermüdet sie. Geht und bereitet euch vor!«
Der geschwätzige Schwarm entfernt sich ein wenig enttäuscht. Maria kann sich nun in Frieden auch den Lehrerinnen widmen, die ihr Worte des Lobes und des Segens sagen.
Auch Elisabet ist gekommen. Und da Maria erregt weint, weil Hanna des Penuël sie Tochter nennt und sie mit wirklich mütterlicher Liebe küßt, sagt Elisabet zu ihr: »Maria, deine Mutter ist nicht da, und doch ist sie zugegen. Ihre Seele freut sich mit dir. Und schau: die Sachen, die du trägst, geben dir ihre Liebkosungen wieder. In ihnen findest du auch den Duft ihrer Küsse. Eines Tages, am Tag, da du in den Tempel kamst, sagte sie zu mir: „Ich habe die Kleider und die Brautausstattung vorbereitet, denn ich will das Linnen weben und die Brautkleider anfertigen, um nicht zu fehlen am Tag ihrer Freude.“ Und weißt du, in den letzten Zeiten, in denen ich ihr beigestanden habe, wollte sie jeden Abend deine ersten Kleidchen liebkosen und die, die du jetzt trägst, und dabei sagte sie: „Hier atme ich den Lilienduft meiner Kleinen, und hier will ich, daß sie den Kuß ihrer Mutter spürt.“ Wie viele Küsse hat sie auf diesem Schleier hinterlassen, der jetzt deine Stirn umschattet! Mehr Küsse als Fäden . . .
Und wenn du die von ihr gewebten Stoffe anziehst, so denke daran: mehr als aus Kammwolle bestehen sie aus der Liebe deiner Mutter.
Und die Schmucksachen . . . Auch sie wurden in schweren Zeiten von deinem Vater zurückgelegt, um dich zu schmücken, wie es sich für eine Prinzessin aus dem Haus Davids ziemt in dieser Stunde.
Freue dich, Maria, du bist keine Waise; denn die Deinen sind bei dir, und du hast einen Bräutigam, der dir Vater und Mutter ist, so vollkommen ist er . . . «
»O ja! Das ist wahr! Über ihn kann ich mich wahrlich nicht beklagen.
In weniger als zwei Monaten ist er zweimal gekommen, und heute kommt er das dritte Mal, trotz Wind und Regen, um von mir Anweisungen zu erhalten . . . Denke dir: Anweisungen! Ich bin nur eine arme Frau und viel jünger als er. Und er hat mir nichts verweigert.
Er wartet nicht einmal, bis ich ihn bitte. Es scheint, daß ein Engel ihm eingibt, was ich wünsche, und er sagt es mir, bevor ich es selbst sagen kann. Das letzte Mal hat er gesagt: „Maria, ich glaube, du bist lieber in deinem väterlichen Haus. Da du die Erbtochter bist, kannst du es tun, wenn du es wünscht. Ich komme in dein Haus. Nur um den Brauch zu wahren, wirst du eine Woche im Haus des Alphäus, meines Bruders, wohnen. Maria, ich liebe dich schon sehr . . . Von dort wird am Abend der Hochzeitszug abgehen, der dich zu deinem Haus bringt.“ Ist das nicht lieb von ihm? Es hat ihm gar nichts ausgemacht, daß die Leute sagen, er habe ein Haus, das mir nicht gefällt . . . Mir hätte auch das seinige gefallen; wenn nur er da ist, denn er ist so gut. Aber gewiß . . . ich ziehe mein Haus vor . . . Wegen der Erinnerungen . . . Oh! Er ist gut, der Josef!«
»Was hat er wegen des Gelübdes gesagt? Du hast mir noch nicht davon erzählt.«
»Er hat nichts dagegen. Im Gegenteil, als er die Gründe erfuhr, hat er gesagt: „Ich vereinige mein Opfer mit dem deinem.“«
»Er ist ein heiliger junger Mann!« sagt Hanna des Penuël.
Der „junge Heilige“ tritt in diesem Augenblick in Begleitung von Zacharias ein.
Er sieht buchstäblich prachtvoll aus. Ganz in Goldgelb gekleidet, wie ein orientalischer Herrscher. Ein kostbarer Gürtel hält Börse und Dolch; erstere ist aus Maroquinleder, während der Dolch in einem Futteral aus demselben Leder mit Goldverzierungen steckt. Auf dem Haupte hat er eine Art Turban, beziehungsweise ein Wolltuch, das wie eine Kapuze umgelegt ist, so wie es noch gewisse Völker in Afrika und die Beduinen tragen; es wird durch einen kostbaren Reifen festgehalten, einem Band aus feinem Gold, an dem Myrrhesträußchen befestigt sind. Außerdem bedeckt ihn ein ganz neuer Mantel voller Fransen, der ihn festlich kleidet. Er strahlt vor Freude und hält blühende Myrten in der Hand.
»Der Friede sei mit dir, meine Braut!« grüßt er. »Friede euch allen!
«
Nach Empfang des Gegengrußes sagt er: »Ich habe deine Freude gesehen an jenem Tag, als ich dir den Zweig aus deinem Garten gab. So dachte ich, dir Myrte zu bringen, die ich bei der dir so lieben Grotte gepflückt habe. Ich wollte dir die Rosen bringen, die an deinem Haus wachsen und jetzt zu blühen beginnen; aber Rosen halten nicht lange; sie hätten die Reise nicht überstanden. Ich wäre mit lauter Dornen angekommen. Aber dir, meine Geliebte, will ich nur Rosen schenken, weiße, duftende Blumen will ich auf deinen Weg streuen, damit du deinen Fuß darauf setzest, ohne auf Schmutz und Steine zu treten.«
»Oh! Ich danke dir, Guter! Wie hast du sie so frisch bis hierher bringen können?«
»Ich habe ein Gefäß an den Sattel gebunden, und in dieses habe ich die Zweige mit den Knospen gesteckt. Auf dem Weg haben sie dann zu blühen begonnen. Hier, sie sind für dich, Maria. Deine Stirn soll mit Reinem bekränzt werden, dem Sinnbild der Braut; aber Blüten sind so viel geringer als die Reinheit, die du im Herzen trägst.«
Elisabet und die Lehrerinnen schmücken Maria mit einem Blumenkränzchen, das sie bilden, indem sie Myrten und kleine weiße Rosen mit dem kostbaren goldenen Reifen verflechten. Maria will schon ihren weißen, weiten Mantel anziehen; aber der Bräutigam kommt ihr zuvor und hilft ihr, den weiten Mantel mit zwei silbernen Spangen an den Schultern zu befestigen. Die Lehrerinnen ordnen die Falten mit Liebe und Anmut.
Alles ist bereit. Während sie auf irgend etwas warten, nimmt Josef Maria zur Seite und sagt: »Ich habe in dieser Zeit über dein Gelübde nachgedacht. Ich habe dir gesagt, daß ich es mit dir teile. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr begreife ich, daß der vorläufige Entscheid nicht genügt; auch wenn er öfters erneuert wird.
Ich habe dich verstanden, Maria. Ich verdiene das Wort des Lichtes noch nicht; aber ein Flüstern spüre auch ich. Und es läßt mich dein Geheimnis wenigstens in den Hauptzügen begreifen. Ich bin ein armer, unwissender Mensch, Maria, ich bin ein armer Arbeiter; ich bin ungebildet und besitze keine Schätze. Aber dir zu Füßen lege ich einen Schatz für immer und ewig: meine absolute Keuschheit, um würdig zu sein, an deiner Seite zu leben, du Jungfrau Gottes, „meine Schwester, Braut, verschlossener Garten, versiegelte Quelle“
[Hld 4,12], wie unser Ahnherr sagt, der das Hohelied vielleicht in Hinblick auf dich schrieb. Ich werde der Hüter dieses duftenden Gartens sein, in dem sich die schönsten Früchte finden und eine Quelle von lebendigem Wasser sanft sprudelt: deine Anmut, o Braut, die du mit deiner Reinheit meine Seele erobert hast, du ganz Schöne, schöner als die Morgenröte; du Sonne, die du strahlst, weil dein Herz erstrahlt; du, die du vollkommene Liebe für deinen Gott bist und für die Welt, der du den Erlöser geben willst mit deinem Opfer als Frau. Komm, meine Geliebte!« Und er nimmt sie zart bei der Hand und führt sie zur Tür. Alle anderen folgen ihnen, und draußen vereinigen sie sich mit den festlich gekleideten Gefährtinnen, alle in weiß und verschleiert.
Sie gehen durch Höfe und Säulenhallen, durch die Menge der Zuschauer, bis zu einem Ort, der nicht der Tempel ist, sondern ein Saal zu sein scheint, der dem Kulte dient; denn dort gibt es Lampen und Pergamentrollen wie in den Synagogen. Das Brautpaar geht vor ein hohes Pult, eine Art Kanzel, und wartet. Die anderen stellen sich hinter ihm in guter Ordnung auf. Andere, Priester und Neugierige, befinden sich im Hintergrund.
Nun tritt der Hohepriester feierlich ein.
Ein Raunen geht durch die Reihen der Neugierigen: »Wird er die Trauung vornehmen?«
»Ja, denn sie ist aus königlichem und priesterlichem Geschlecht.
Eine Blüte Davids und Aarons; die Braut ist Tempeljungfrau. Der Bräutigam ist aus dem Stamm Davids.«
Der Priester legt die Rechte der Braut in die des Bräutigams und segnet sie feierlich: »Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs sei mit euch! Er vereinige euch und erfülle euch mit seinem Segen, indem er euch seinen Frieden und eine zahlreiche Nachkommenschaft gebe zusammen mit einem langen Leben und einem seligen Tod im Schoß Abrahams!« [Tob 7,15–16]. Dann zieht er sich zurück, feierlich wie er eingetreten war.
Das Versprechen wird ausgetauscht. Maria ist nun die Braut Josefs.
Alle gehen hinaus, immer in guter Ordnung, und begeben sich in einen Saal, wo der Ehevertrag unterzeichnet wird, in dem es heißt, daß Maria, die Erbtochter des Joachim, aus dem Haus Davids, und Annas, der Tochter Aarons, als Mitgift dem Bräutigam ihr Haus und die zugehörigen Güter und ihre persönliche Aussteuer übergibt, sowie jedes andere Gut, das sie vom Vater geerbt hat.
Nun ist alles beendet.
Das Brautpaar tritt in den Hof hinaus und schreitet dem Ausgang zu, der sich neben dem Haus der Tempelfrauen befindet. Ein bequemes, schweres Fuhrwerk erwartet sie. Über ihm ist ein schützendes Zelttuch ausgespannt, und im Wagen befinden sich schon die Truhen Marias.
Abschiedsgrüße, Küsse und Tränen, Segen und Ratschläge, Empfehlungen jeder Art, dann steigt Maria mit Elisabet in den Wagen und nimmt im Inneren Platz. Vorne sitzen Josef und Zacharias. Sie haben ihre festlichen Mäntel abgelegt und sind beide in dunkle Mäntel eingehüllt. Der Wagen setzt sich in Bewegung; er wird von einem dunkelhaarigen Maultier gezogen. Die Mauern des Tempels entschwinden allmählich dem Auge, dann die Stadt, und nun kommt das freie Land, mit der frisch erwachten Blütenpracht in der ersten Frühlingssonne, mit dem bereits eine Handbreit hohen Korn, das sich zu wogenden, smaragdgrünen Blättlein entwickelt hat; wogend in der leichten Brise, die den Duft der blühenden Apfel- und Pfirsichbäume, des blühenden Klees und des wilden Minzenkrautes herbeiträgt.
Maria weint leise unter ihrem Schleier; von Zeit zu Zeit hebt sie den Vorhang und schaut noch einmal zum Tempel in der Ferne und nach der entschwindenden Stadt.
So endet die Vision.

21 »Josef ist gesetzt als „Siegel des Siegels“, wie ein Erzengel an der Schwelle des Paradieses«

Jesus spricht:
»Was sagt das Buch der Weisheit in seinem Lobgesang? „In der Weisheit ist wahrhaftig der Geist des Verstandes, der heilige, einzige, vielfältige und scharfsinnige!“ Dann fährt es fort, ihre Gnadengaben aufzuzählen, und beendet den Abschnitt mit den Worten: „Die Weisheit durchdringt dank ihrer Reinheit alles. Ein Hauch der göttlichen Kraft ist sie . . . deshalb ist nichts Unreines in ihr . . . sie ist ein Abbild der Güte Gottes. Obgleich sie nur eine ist, vermag sie alles; obgleich sie selbst unveränderlich ist, erneuert sie alles; sie teilt sich allen heiligen Seelen mit und formt die Gottesfreunde und Propheten“
[Weish 7,22–27].
Du hast gesehen, wie Josef nicht durch menschliche Erziehung, sondern durch übernatürliche Belehrung im versiegelten Buch der makellosen Jungfrau zu lesen weiß und wie er sich den prophetischen Wahrheiten nähert mit seinem „Schauen“ des Geheimnisses, das menschliches Begreifen übersteigt, dort, wo andere nur eine große Tugend sehen. Durchdrungen von dieser Weisheit, die Hauch der Kraft Gottes und ein gewisser Ausfluß des Allmächtigen ist, bewegt er sich mit sicherem Geist im Meer dieses Gnadengeheimnisses, das Maria ist; er verinnerlicht sich mit ihr in geistigen Kontakten, in denen, mehr als mit den Lippen, die beiden heiligen Seelen sich unterhalten in der heiligen Stille, wo nur Gott und seine treuen Diener, die von ihm erfüllt sind, Stimmen vernehmen.
Die Weisheit des Gerechten, die sich mehrt durch den Verkehr mit der „Gnadenvollen“, befähigt ihn, in die höchsten Geheimnisse Gottes vorzudringen, sie zu schützen und zu verteidigen gegen die Nachstellungen der Menschen und der Dämonen. Dabei erneuert sie ihn. Aus dem Gerechten macht sie einen Heiligen, aus dem Heiligen den Beschützer der Braut und des Sohnes Gottes.
Ohne das Siegel Gottes zu entfernen, kann der Keusche, der nunmehr seine Keuschheit zu einem engelhaften Heroismus entwickelt hat, das Feuerwort lesen, das vom Finger Gottes auf den jungfräulichen Diamanten geschrieben worden ist; dort liest er das, was seine Klugheit nicht preisgibt, was aber viel größer ist als das, was Mose auf den Tafeln von Stein las [Ex 24,12; Dtn 4,13; 5,22; 10,1–5]; und damit kein profanes Auge das Geheimnis entblättere, setzt er sich als Siegel auf das Siegel und steht als feuriger Erzengel an der Schwelle des Paradieses, in dem der Ewige sein Wohlgefallen hat. „Da wandelt er im Abendwind“ [Gen 3,8], und spricht mit ihr, die seine Liebe ist, ein Hain von Lilien und Blüten, ein wohlduftender Hauch, ein lieblich erfrischender Morgenwind, ein freundlicher Stern, Ergötzung Gottes. Die neue Eva ist da; nicht Gebein von seinem Gebein, nicht Fleisch von seinem Fleisch, sondern Begleiterin seines Lebens [Gen 2,18.23], die lebendige Arche Gottes, die er in seinen Schutz nimmt, die er Gott zurückerstatten muß, rein und ebenso wie er sie erhalten hat.
„Braut Gottes“ war im mystischen Buch mit den unbefleckten Seiten zu lesen . . . Und als ihn in der Stunde der Prüfung der Verdacht quälte, litt er als Mann und als Diener Gottes wie kein anderer wegen des vermuteten Sakrilegs. Aber das war die Prüfung, die noch kommen sollte.
Jetzt, in dieser Zeit der Gnade, schaut er und stellt sich in den Dienst Gottes. Später erlebt er den Sturm der Prüfung, wie alle Heiligen, damit er erprobt und zum Gehilfen Gottes werde.
Wie heißt es im Buch des Levitikus? „Sage deinem Bruder Aaron, daß er nicht zu jeder Zeit in das Heiligtum hineingehe hinter den Vorhang vor die Deckplatte, die auf der Lade liegt; er müßte sonst sterben. Denn ich erscheine auf der Deckplatte in der Wolke. Nur unter der Bedingung darf Aaron in das Heiligtum hineingehen, daß er einen jungen Stier als Sühnopfer und einen Widder als Brandopfer darbringt. Er soll einen heiligen linnenen Leibrock anziehen und mit linnenen Beinkleidern seine Blöße bedecken“ [Lev 16,2–4].
Wahrhaft, Josef tritt ein, wann Gott es will und so lange Gott es will, ins Heiligtum Gottes, jenseits des Vorhanges, der die Lade verhüllt, über welcher der Geist Gottes schwebt. Er opfert sich und wird das Lamm opfern als Opfer für die Sünden der ganzen Welt und zur Sühne der Sünde selbst. Und er tut dies mit Linnen bekleidet und mit abgetöteter Manneskraft, um das Sinnliche abzustreifen, das einmal, zu Beginn der Zeiten, triumphiert hat und das Recht Gottes über den Menschen verletzt hat, und das jetzt zertreten ist im Sohn, in der Mutter und im Pflegevater, um die Menschen zurückzuführen zur Gnade und Gott sein Recht über die Menschen zurückzugeben.
Dies tut er mit seiner beständigen Keuschheit.
War Josef nicht auf Golgota? Dünkt euch, er gehöre nicht zu den Miterlösern? Wahrlich, ich sage euch, er war unter den ersten und ist daher groß in den Augen Gottes; groß durch sein Opfer, seine Geduld, seine Beständigkeit und seinen Glauben. Welcher Glaube ist größer als der seinige, da er glaubte, ohne die Wunder des Messias gesehen zu haben?
Lob sei dem Nährvater! Er war euch ein Beispiel für das, was euch fehlt: Reinheit, Treue und vollkommene Liebe. Lob ihm, der wunderbar das versiegelte Buch zu lesen verstand, von der Weisheit sich belehren ließ, um die Geheimnisse der Gnade zu erfassen, der erwählt wurde von Gott, um das Heil der Welt gegen die Tücken aller Feinde zu beschützen!«

22 Das Brautpaar kommt nach Nazaret

Der klarblaue Himmel eines milden Februartages breitet sich aus über die Hügel Galiläas, über die sanften Hügel, die ich im Verlauf der Kindheit der Jungfrau nie gesehen habe, die meinem Auge aber jetzt so vertraut sind, als ob ich zwischen ihnen aufgewachsen wäre.
Die Hauptstraße ist nach dem letzten, vielleicht erst in der vergangenen Nacht gefallenen Regen frisch und ohne Staub, aber auch ohne Schlamm; sie ist fest und sauber wie eine Straße in der Stadt und an den Seiten von zwei Hecken von blühendem Weißdorn eingerahmt.
Der zarte Schnee dieser Blüten duftet herb und hat etwas vom Wohlgeruch des Waldes. Die Hecken werden von mächtigen Kaktusbüschen mit ihren dicken, schaufelartigen Blättern unterbrochen, die von Stacheln strotzen und mit riesigen, bizarren und stiellosen Früchten geziert sind. Letztere wachsen aus den Spitzen der Blätter heraus, die mir wegen ihrer Farbe und Form immer die Tiefe des Meeres mit ihren Büschen von Korallen und Quallen und ihren andren Meerestieren ins Gedächtnis rufen.
Die Hecken haben die Aufgabe, die einzelnen Besitztümer abzugrenzen.
Daher erscheinen sie in allen möglichen ungewohnten, geometrischen Formen von Kurven und Winkeln, Rauten, Quadraten, Halbkreisen und spitzen oder stumpfen Dreiecken; eine weiß überspritzte Zeichnung, wie ein Band, das zum Spaß die Felder entlang gelegt wurde und auf dem Hunderte von allen möglichen Vögeln fliegen, zwitschern und singen, in der Freude der Liebe und bei der Arbeit des Nestbaus. Jenseits der Hecken liegen die Felder mit dem sprießenden Korn, das hier schon viel höher ist als auf den Feldern von Judäa, ferner Wiesen in Blumenpracht.
Im Gegensatz zu den leuchtenden Wölkchen am Himmel, die der Sonnenuntergang rosa färbt, in zartes Lila taucht oder mit einem violetten Wintergrün, mit einem opalisierenden Himmelblau oder einem Korallenorange versieht, stehen auf der Erde Tausende von pflanzlichen Wolken, Fruchtbäume in allen Schattierungen von Weiß, Rot und Zartrosa.
Im leichten Abendwind flattern und fallen die ersten Blütenblätter der blühenden Bäume. Sie gleichen von Schmetterlingen auf der Suche nach dem Blütenstaub der Blumen des Feldes. Zwischen den Bäumen erblickt man die Gewinde der Rebstöcke, die noch kahl sind, und nur an den Spitzen, wo die Sonne sie am ehesten erreicht, spielt sich ein unschuldiges, erstauntes und unsicheres Aufknospen der ersten Blättlein ab.
Die Sonne geht im sanften Blau des Firmaments friedvoll unter; das Licht wird noch klarer, und die Schneegipfel des Hermon und anderer, fernerer Berge leuchten auf.
Ein Wagen kommt des Weges, der Wagen, der Maria und Josef und die Vettern Marias bringt. Die Reisenden sind am Ziel.
Maria blickt um sich mit den ängstlichen Augen eines Menschen, der etwas wiederzuerkennen sucht, was er schon gesehen hat, dessen er sich aber nicht mehr genau erinnert. Nun lächelt sie; das Bild einer Erinnerung taucht in ihr auf, und Lichter fallen auf dieses oder jenes Ding, auf diese oder jene Stelle. Elisabet und Josef helfen ihr, weisen auf diesen oder jenen Hügel hin, auf dieses oder jenes Haus und auf Nazaret, das in der hügeligen Landschaft auftaucht.
Von links her bescheint die untergehende Sonne das Weiß der sich terrassenartig überlagernden, breiten, meist niedrigen Häuser und taucht sie in Rosa; einige werden voll beleuchtet und gleichen einem Feuerbrand, so stark sind sie von der Abendröte bemalt, die auch das Wasser der Gräben und der fast brüstungslosen Ziehbrunnen rötet, an denen die Amphoren für den Haushalt und die Kessel für die Gärten gefüllt werden.
Kinder und Frauen stehen am Straßenrand, blicken zum Wagen und grüßen den ihnen bekannten Josef. Vor den anderen drei Insassen werden sie aber verlegen und unschlüssig. Als sich jedoch der Wagen dem Eingang des Städtchens nähert, verschwinden Erstaunen und Furchtsamkeit. Viel Volk hat sich unter einem ländlichen Bogen von Laub und Blumen eingefunden. Es sind Frauen, Mädchen und Kinder von Nazaret, die die Braut begrüßen wollen. Die bedächtigeren Männer stehen in der hinteren Reihe und grüßen mit Würde. Als der Wagen das letzte schräg gestellte Landhaus umfährt, erhebt sich ein Gezwitscher schriller Stimmen, und ein Schwenken von Zweigen und Blumen setzt ein.
Der Wagen war vorher von dem Zelttuch befreit worden, um Maria zu ermöglichen, die Heimat zu betrachten. Maria erscheint in ihrer vollen, blumenhaften Schönheit, weiß und blond, und wie ein Engel lächelt sie nun den Kindern zu, die ihr Blumen und Küsse zuwerfen; sie grüßt die Mädchen ihres Alters, die sie beim Namen nennen, und die Bräute und Mütter, die sie mit ihren singenden Stimmen segnen; sie verneigt sich vor den Männern, besonders vor einem, der vielleicht der Rabbi oder der Älteste der Stadt ist.
Der Wagen fährt langsam auf der Hauptstraße weiter, gefolgt von einem Teil der Menge, für die diese Ankunft ein Ereignis ist.
»Sieh da, dein Haus!« sagt Josef und zeigt mit der Peitsche auf ein kleines Gebäude, das gerade unter dem Scheitel einer Hügelwelle steht und an dessen Rückseite ein schöner, blühender Garten liegt, der in einen Olivenhain ausläuft. Jenseits davon bezeichnet die übliche Weißdorn- und Kakteenhecke die Grenze des Besitztums; die Felder, die einst Joachim gehörten, schließen sich an.
»Wie du siehst«, sagt Zacharias, »ist dir wenig geblieben; die Krankheit deines Vaters war langwierig und kostspielig. Kostspielig waren auch die Arbeiten, um den Schaden wiedergutzumachen, den Rom verursacht hatte. Siehst du, die Straße hat die drei wichtigsten Räume verschlungen. Das Haus wurde kleiner, und um es ohne allzu große Kosten geräumiger zu machen, wurde ein Teil des Berggeländes ausgehöhlt. Joachim verlegte dorthin seine Vorratskammer, und Anna ihre Webstühle. Du wirst damit tun, was dir gefällt.«
»Oh, wenn es auch kleiner ist, das ist nicht schlimm! Es wird immer noch genügen. Ich werde arbeiten.«
»Nein, Maria!« sagt Josef. »Ich werde arbeiten; du sollst nur weben und den Haushalt führen. Ich bin jung und stark und bin dein Gemahl. Beschäme mich nicht mit deiner Arbeit!«
»Ich werde tun, wie du es willst.«
»Ja, was das betrifft, will ich es so. Für alles andere ist dein Wunsch für mich Gesetz. In dieser Angelegenheit aber nicht.«
Sie sind angekommen. Der Wagen hält.
Zwei Frauen und zwei Männer von vierzig und fünfzig Jahren stehen am Eingang, und viele Kinder und Jugendliche um sie herum.
»Gott gebe dir den Frieden, Maria!« sagt der ältere Mann. Eine Frau nähert sich Maria, umarmt sie und küßt sie.
»Das sind mein Bruder Alphäus und seine Frau Maria, und diese sind ihre Kinder. Sie sind eigens gekommen, dich festlich zu empfangen und dir zu sagen, daß ihr Haus das deinige ist, wenn du willst«, sagt Josef.
»Ja, komm Maria, wenn es dir beschwerlich ist, allein zu sein. Das Land ist schön im Frühling, und unser Haus liegt mitten in blühenden Feldern. Du wirst die schönste Blume darin sein«, sagt die Maria des Alphäus.
»Ich danke dir, Maria. Ich würde sehr gerne kommen und ich werde auch manchmal kommen, bestimmt werde ich für die Hochzeit kommen. Aber ich verlange so sehr danach, mein Haus zu sehen, es wiederzusehen. Ich habe es als kleines Kind verlassen und sein Aussehen vergessen . . . Jetzt entdecke ich es wieder . . . Und es scheint mir, als fände ich meine verlorene Mutter wieder und den geliebten Vater, als hörte ich das Echo ihrer Stimmen, als spürte ich den Hauch ihres letzten Atemzuges. Ich habe das Gefühl, daß ich nun nicht mehr Waise bin, weil ich die Umarmung dieser Mauern gefunden habe . . . Verstehe mich, Maria!« Maria hat ein Weinen in ihrer Stimme und zwei Tränen auf den Lidern.
Die Maria des Alphäus antwortet: »Wie du willst, Teuerste. Ich möchte, daß du in mir eine Schwester und eine Freundin siehst und auch ein wenig eine Mutter, denn ich bin ja so viel älter als du.«
Die andere Frau tritt nun hervor: »Maria, ich begrüße dich. Ich bin Sara, eine Freundin deiner Mutter. Ich habe gesehen, wie du geboren wurdest. Und das ist Alphäus, der Neffe des Alphäus, der ein großer Freund deiner Mutter war. Was ich für deine Mutter tat, werde ich auch für dich tun, wenn du es willst. Siehst du, mein Haus ist dem deinigen am nächsten, und deine Felder gehören nun uns.
Wenn du zu uns kommen willst, tue es jederzeit! Wir werden einen Durchgang durch die Hecke machen, und so werden wir beisammen sein, auch wenn jede in ihrem Haus bleibt. Das ist mein Ehemann!«
»Ich danke euch allen für das Gute, das ihr den Meinen getan habt und mir tun wollt. Es segne euch dafür der allmächtige Gott!«
Die schweren Truhen werden abgeladen und ins Haus gebracht.
Man tritt ein. Und ich erkenne jetzt das Häuschen von Nazaret, wie es später im Leben von Jesus war.
Josef nimmt Maria, wie es Brauch ist, bei der Hand und tritt so ein. Auf der Schwelle sagt er: »Jetzt, auf dieser Schwelle, will ich von dir ein Versprechen. Bei allem, was du benötigst, was dir zustößt, hast du keinen anderen Freund, keine andere Hilfe, an die du dich wenden sollst, als Josef; du darfst dich unter keinen Umständen allein abmühen. Ich bin ganz für dich da, denke daran, und du wirst meine Freude sein. Ich will dich auf deinem Weg glücklich machen.
Und wenn auch das Glück hier auf Erden nicht immer in unserer Macht ist, so sollst du dich wenigstens sicher und ruhig fühlen.«
»Ich verspreche es dir.«
Türen und Fenster werden geöffnet. Der letzte Sonnenstrahl blickt neugierig herein. Maria hat sich des Mantels und des Schleiers entledigt.
Sie trägt noch das Hochzeitskleid, aber nicht mehr den Myrtenkranz.
Sie geht hinaus in den blühenden Garten, schaut und lächelt, und immer noch von Josef an der Hand geführt, macht sie einen Rundgang. Es scheint, als wolle sie von dem verlorenen Ort wieder Besitz ergreifen.
Josef zeigt ihr seine Arbeiten: »Siehst du? Hier habe ich diesen Graben ausgehoben, um darin das Regenwasser zu sammeln; denn die Reben haben immer Durst. Diesem Ölbaum habe ich die ältesten Äste abgeschnitten, damit er kräftiger wird. Und diese Apfelbäume habe ich gepflanzt, weil zwei von ihnen abgestorben waren. Dort habe ich Feigenbäume hingesetzt; wenn sie herangewachsen sind, schützen sie das Haus vor der Hitze der Sonne und vor den Blicken der Neugierigen. Die Laube ist die gleiche wie früher. Ich habe nur die morschen Pfosten ersetzt und die Weinstöcke beschnitten. Sie werden viele Trauben bringen, hoffe ich. Und dort, schau!« Er führt sie stolz zum Abhang, der sich hinter dem Haus befindet und den Gemüsegarten vor den Nordwinden schützt. »Dort habe ich eine kleine Grotte gemacht, und wenn die Pflanzen gewachsen sind, wird sie jener gleichen, die ihr hattet. Eine Quelle ist nicht vorhanden.
Aber ich hoffe, daß ich Wasser herleiten kann. Ich werde an den langen Sommerabenden daran arbeiten, wenn ich dich besuche . . . «
»Aber was soll das?« sagt Alphäus, »haltet ihr nicht in diesem Sommer Hochzeit?«
»Nein, Maria möchte die Wolltücher weben, das einzige, was in der Aussteuer fehlt. Und es ist mir recht so. Sie ist so jung, Maria, daß es nichts ausmacht, ein Jahr oder mehr zu warten; indessen wird sie sich an das Haus gewöhnen.«
»Ach was! Du bist immer anders als die andren gewesen und bist es immer noch; ich weiß nicht, wer es nicht eilig hätte, eine Blume wie Maria zur Gattin zu haben, und du verschiebst es monatelang . . . «
»Langersehnte Freude – reich vermehrte Freude«, antwortet Josef mit einem feinen Lächeln.
Der Bruder zuckt die Achseln und fragt: »Also, wann willst du heiraten?«
»Am 16. Geburtstag Marias, nach dem Laubhüttenfest. Die Winterabende werden wonnig sein für zwei Neuvermählte . . . « Er lächelt wieder mit einem Blick auf Maria. Ein Lächeln des geheimen und lieben Einverständnisses; einer brüderlichen Keuschheit, die tröstlich ist. Dann nimmt er seinen Rundgang wieder auf: »Das wird der große Raum im Berg sein. Mit deinem Einverständnis richte ich hier meine Werkstatt ein, wenn ich komme. Sie ist an die Wohnung angeschlossen und doch nicht im Haus. So werde ich dich nicht durch Geräusch und Unordnung stören. Wenn du es aber anders wünscht . . . «
»Nein, Josef, es wird gut so sein.«
Sie gehen ins Haus zurück und zünden die Lampen an.
»Maria ist müde«, sagt Josef. »Lassen wir sie in Ruhe mit den Vettern.«
Die Weggehenden grüßen alle. Josef bleibt noch kurze Zeit und spricht leise zu Zacharias.
»Dein Vetter läßt dir für einige Zeit Elisabet, bist du zufrieden damit?«
»O ja!« »Sie wird dir helfen . . . aus dir eine vollkommene Hausfrau zu machen. Mit ihr kannst du alles ordnen, und ich werde jeden Abend kommen, dir zu helfen. Mit ihr kannst du Wolle anschaffen und alles, was du sonst noch brauchst. Ich werde die Ausgaben begleichen.
Erinnere dich, daß du versprochen hast, zu mir zu kommen in jeder Angelegenheit. Behüte dich Gott! Maria, schlafe deinen ersten Schlaf als Herrin deines Hauses; der Engel Gottes möge es erheitern! Der Herr sei immer mit dir!«
»Auf Wiedersehen, Josef! Sei auch du unter den Fittichen des Engels Gottes! Ich danke dir für alles! So sehr ich kann, werde ich dir deine Liebe durch meine Liebe vergelten.«
Josef grüßt die Vettern und geht hinaus.
Damit endet auch die Vision.
Jesus spricht:
»Der Zyklus ist beendet, und damit hat dein Jesus dich süß und sanft, ohne Erschütterungen dem Tumult dieser Tage entzogen. Wie ein Kind in weiche Windeln gewickelt und auf weiche Kissen gelegt, bist du eingehüllt gewesen in diese seligen Visionen, damit du nicht fühlst, wovor du dich fürchtest: die Grausamkeit der Menschen, die sich hassen, anstatt sich zu lieben. Du könntest gewisse Dinge nicht mehr ertragen, und ich will nicht, daß du daran stirbst, denn ich sorge mich um mein „Sprachrohr“. Allmählich wird die Welt befreit von der Ursache, deretwegen die Opfer geplagt wurden von aller Art Verzweiflung. Auch für dich, Maria, endet daher die Zeit des furchtbaren Leidens um so vieler Gründe willen, die so sehr im Gegensatz stehen zu deiner Art und Weise zu fühlen. Du wirst nicht aufhören zu leiden, du bist ein Sühneopfer. Aber ein Teil des Leidens ist zu Ende; dann wird der Tag kommen, an dem ich zu dir sage, wie Maria Magdalena in ihrer Sterbestunde sagte: „Ruhe aus! Jetzt ist es Zeit, dich auszuruhen. Gib mir deine Dornen! Jetzt kommt die Zeit der Rosen. Ruhe aus und warte, ich segne dich, Gesegnete!“
Das habe ich dir gesagt einem Versprechen gemäß; du hast es aber nicht verstanden, als die Zeit kam und du untergetaucht warst, gefesselt, bedeckt mit Dornen, in tiefer Dunkelheit. Das wiederhole ich dir jetzt mit einer Freude, die allein die Liebe, die ich selbst bin, empfinden kann, wenn sie einem Geliebten einen Schmerz nehmen kann. Das sage ich dir jetzt, da diese Zeit des Opfers zu Ende ist. Und ich, der ich es weiß, sage dir für die Welt, die es nicht weiß, für Italien, für Viareggio, für diesen kleinen Landstrich, in den du mich gebracht hast – überdenke den Sinn dieser Worte – den Dank, den die Sühnopfer für ihre Opfer erhalten. Als ich dir Cäcilia, die jungfräuliche Braut, zeigte, habe ich dir gesagt, daß sie sich von meinem Wohlgeruch durchdringen ließ und daß sie dadurch Gatten, Schwager, Sklaven, Eltern und Freunde nach sich zog. Das hast auch du getan. Du weißt es nicht, aber ich sage es dir, ich, der ich es weiß: deine Sendung ist auch die Sendung der Cäcilia, in dieser wahnsinnigen Zeit. Du bist gesättigt von mir, von meinem Wort; du hast meine Wünsche unter die Menschen gebracht, und die besten haben sie verstanden, und nach dir, mein Opfer, sind viele, viele gekommen; und wenn dein Vaterland nicht völlig in Ruinen liegt und besonders die Orte, die dir teuer sind, so geschah es, weil viele Opferhostien sich geopfert haben nach deinem Beispiel und deinem Auftrag. Danke, Gesegnete! Aber fahre fort so! Ich will die Erde retten, die Erde wiedergewinnen. Der Preis seid ihr, meine Opfer.
Die Weisheit, die die Heiligen unterwiesen hat und die dich durch direkte Belehrung unterrichtet, erhebt dich immer mehr zum Verständnis der Wissenschaft des Lebens und zu ihrer Ausübung. Errichte auch du dein kleines Zelt neben dem Haus des Herrn! Festige die Pflöcke dieses Zeltes in der Wohnung der Weisheit und bleibe darin, ohne es je zu verlassen! Du wirst ruhen unter dem Schutz des Herrn, der dich liebt, wie ein Vogel in blühenden Zweigen. Er wird Schutz sein gegen jedes seelische Unwetter, und du wirst im Licht der Herrlichkeit Gottes verweilen und Worte des Friedens und der Wahrheit vernehmen. Geh in Frieden! Ich segne dich, Gesegnete.«
Gleich darauf spricht Maria: »Für dich, Maria, das Geschenk der Mutter an ihrem Fest. Eine Kette von Geschenken; und wenn ein Dorn darin verblieben ist, beklage dich nicht beim Herrn, der dich liebt, wie er nur wenige liebt. Er hat dir am Anfang gesagt: „Schreibe von mir! Jede Mühe wird dir zum Trost.“ Du siehst, daß es wahr war. Es wurde dir dieses Geschenk aufbewahrt für diese unruhige Zeit; denn wir sorgen nicht nur für den Geist; auch für den Leib haben wir ein Auge, denn der Leib ist zwar nicht König, aber doch nützlicher Diener des Geistes; auch er hat eine Aufgabe zu erfüllen.
Sei dem Allerhöchsten dankbar, der dir wahrhaft ein Vater ist, auch im fühlbaren menschlichen Sinn, und dich wiegt in lieblichen Ekstasen, um dir zu verbergen, was dich erschreckt! Liebe mich immer mehr! Ich habe dich in das Geheimnis meiner ersten Lebensjahre eingeführt. Jetzt weißt du alles von deiner Mutter. Liebe mich als Tochter und als Schwester, als Sühnopfer! Und liebe Gott, den Vater, Gott den Sohn und Gott den Heiligen Geist mit vollkommener Liebe! Der Segen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes geht durch meine Hände. Er duftet von meiner mütterlichen Liebe zu dir; er komme auf dich herab und ruhe auf dir!
Sei glücklich im Übernatürlichen!«

23 Die Verkündigung

Ich sehe folgendes: Maria als junges Mädchen, nach ihrem Aussehen zu schließen, höchstens fünfzehn Jahre alt, in einer kleinen rechteckigen Kammer, einem richtigen Jungmädchenzimmer.
Angelehnt an eine der beiden längeren Seiten befindet sich eine Bettstatt: ein niedriges Bettgestell ohne Rand, bedeckt mit dicken Matten oder Teppichen. Man könnte meinen, sie seien über einem Brett ausgebreitet oder über ein Schilfrohrgeflecht. Denn sie liegen sehr flach und ohne Wölbung wie bei unseren Betten.
An der anderen Längsseite steht ein Regal mit einer Öllampe, Pergamentrollen und einer mit Sorgfalt zusammengelegten Näharbeit.
Seitlich davon, gegen die Tür hin, die geöffnet ist und in den Garten führt, aber von einem vom Winde bewegten Vorhang verhängt ist, sitzt auf einem Schemel die Jungfrau.
Sie spinnt weißen seidenweichen Flachs. Ihre kleinen Hände, nur um ein wenig blasser als der Flachs, drehen flink die Spindel. Das jugendliche Gesichtchen ist wunderschön, leicht geneigt und lächelt, als ob sie einen lieblichen Gedanken hege oder verfolge.
Es ist still im Häuschen und im Garten. Es liegt tiefer Friede sowohl auf dem Antlitz Marias als auch auf ihrer Umgebung. Friede und Ordnung. Alles ist sauber und wohlgeordnet, und der Wohnraum ist bescheiden im Aussehen und in der Einrichtung, fast kahl wie in eine Zelle, hat aber etwas Strenges und Königliches an sich wegen der großen strahlenden Reinheit und der Sorgfalt, mit der die Stoffe des Ruhelagers angeordnet sind, die Buchrollen, die Lampe, der kleine Krug aus Bronze mit einem Strauß blühender Zweige, Zweige eines Pfirsich- oder Birnbaums, ich weiß es nicht, aber sicher von einem Fruchtbaum mit weißlichen, ins Rötliche übergehenden Blütenblättern.
Maria beginnt leise zu singen und erhebt dann leicht die Stimme.
Sie geht nicht zu lautem Gesang über. Aber es ist schon eine Stimme, die in der Kammer vibriert und ein Schwingen der Seele wiedergibt. Ich verstehe die Worte nicht, die sicher hebräisch sind.
Aber da das Wort Jehova oft wiederkehrt, nehme ich an, daß es irgendein heiliges Lied ist, vielleicht ein Psalm. Vielleicht erinnert sich Maria an die Gesänge im Tempel. Es muß eine liebliche Erinnerung sein, denn sie legt nun ihre Hände, die noch Spindel und Faden halten, in den Schoß, erhebt das Haupt, und lehnt es rückwärts an die Wand. Während ein sanftes Rot ihr Gesicht färbt, verliert sich der Blick in irgendeinem lieblichen Gedanken; Tränen leuchten auf, ihre Augen jedoch laufen nicht über, sondern werden nur größer. Zugleich strahlen diese Augen und lächeln einem Gedanken zu, den sie wahrnehmen und der sie ablenkt von allem Sichtbaren. Das Antlitz Marias, das aus dem weißen, höchst einfachen Kleid rosenrot hervorwächst und umrahmt wird von Zöpfen, die sie wie eine Krone um das Haupt gewunden hat, gleicht einer prächtigen Blume.
Der Gesang verwandelt sich in Gebet: »Höchster Herr und Gott, zögere nicht weiterhin, deinen Diener zu senden, damit er den Frieden auf Erden bringe! Erwecke die Zeit der Gnade und die Jungfrau, fruchtbar und rein für die Ankunft deines Gesalbten! Vater, heiliger Vater, erlaube deiner Magd, ihr Leben für diesen Zweck zu opfern!
Gestatte mir, erst dann zu sterben, wenn ich dein Licht und deine Gerechtigkeit auf Erden gesehen und erkannt habe, daß die Erlösung sich vollzogen hat! O heiliger Vater, sende der Erde die Sehnsucht der Propheten! Sende deiner Magd den Erlöser! Möge in der Stunde, in der mein Tag sich dem Ende zuneigt, für mich deine Wohnstätte sich öffnen, wenn ihre Tore schon geöffnet worden sind von deinem Gesalbten für alle, die auf dich gehofft haben! Komm, komm, o Geist des Herrn! Komm zu deinen Gläubigen, die auf dich warten! Komm, du Friedensfürst! . . . «
Maria bleibt in diesem Verlangen versunken.
Der Vorhang flattert stärker, wie wenn ihn jemand, der dahinter steht, rüttelte, um ihn zur Seite zu schieben.
Und sieh da: ein Licht, weiß wie mit Silber vermischter Perlenglanz, erleuchtet die leicht gelblichen Wände, belebt die farbigen Stoffe, vergeistigt das erhabene Gesicht Marias. In diesem Licht, und ohne daß der Vorhang zurückgezogen wird vor dem Geheimnis, das sich nun vollzieht – im Gegenteil, schon rührt er sich nicht mehr und hängt vielmehr steif an den Türpfosten herab, als wäre er eine Wand, die das Innere vom Äußeren trennt – verneigt sich tief der Erzengel.
Er muß notgedrungen das Aussehen einer menschlichen Gestalt annehmen; aber es ist dennoch ein überirdisches. Aus welchem Fleisch ist diese herrliche, leuchtende Gestalt wohl gebildet? Aus welcher Substanz hat Gott sie materiell gestaltet, um sie den Sinnen der Jungfrau sichtbar zu machen? Nur Gott ist der Herr dieses Stoffes und kann ihn in solch vollkommener Weise benützen.
Da sind ein Gesicht, ein Körper, Augen, Mund, Haare und Hände wie bei uns. Aber es handelt sich nicht um unsere undurchsichtige Materie. Es ist ein Licht, das die Farbe des Fleisches, der Augen, der Haare und der Lippen angenommen hat; ein Licht, das sich bewegt und lächelt, das schaut und spricht.
»Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade!«
Die Stimme klingt wie ein lieblicher Akkord, wie Perlen, die auf kostbares Metall geworfen werden.
Maria fährt zusammen und schlägt die Augen nieder. Noch mehr erschrickt sie, als sie dieses leuchtende Wesen in etwa einem Meter Entfernung auf den Knien sieht, die Hände über der Brust gekreuzt und in den Augen den Ausdruck unendlicher Ehrfurcht.
Maria steht auf, schmiegt sich an die Wand und wird abwechselnd bleich und rot. Ihr Antlitz verrät Schrecken und Bestürzung. Unbewußt preßt sie die Hände auf die Brust und verbirgt sie unter den weiten Ärmeln; sie beugt sich fast vor, als wolle sie ihren Körper so weit wie möglich verbergen. Ein Ausdruck lieblicher Schamhaftigkeit.
»Nein, fürchte dich nicht! Der Herr ist mit dir! Du bist gebenedeit unter den Frauen.«
Aber Maria fürchtet sich immer noch. Woher ist dieses außergewöhnliche Wesen gekommen? Ist es ein Abgesandter Gottes oder einer des Verführers?
»Nein, fürchte dich nicht, Maria!« wiederholt der Erzengel. »Ich bin Gabriel, der Engel Gottes; mein Herr hat mich zu dir gesandt.
Fürchte dich nicht, denn du hast Gnade gefunden bei Gott! Und jetzt wirst du in deinem Schoß empfangen; du wirst einen Sohn gebären und sollst ihm den Namen Jesus geben; dieser wird groß sein und wird der Sohn des Allerhöchsten genannt werden. (Und er wird es wirklich sein.) Und Gott, der Herr, wird ihm den Thron Davids, seines Vaters, geben, und er wird in Ewigkeit herrschen über das Haus Jakobs, und seines Reiches wird kein Ende sein. Begreife, o heilige Jungfrau, Geliebte des Herrn, seine gesegnete Tochter, berufen, die Mutter seines Sohnes zu werden, den du gebären wirst!«
»Wie kann das geschehen, wenn ich keinen Mann anerkenne? Vielleicht will der Herrgott das Opfer seiner Magd nicht annehmen und will nicht, daß ich Jungfrau bleibe aus Liebe zu ihm?«
»Nicht vermittels eines Mannes wirst du Mutter sein, Maria; du bist die ewige Jungfrau, die Heilige Gottes. Der Heilige Geist wird sich in dich hinabsenken, und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten. Daher wird heilig genannt werden, der aus dir geboren wird und Sohn Gottes ist. Alles vermag der Herr, unser Gott.
Elisabet, die Unfruchtbare, hat in ihrem Alter einen Sohn empfangen, welcher der Prophet deines Sohnes sein wird, um seine Wege zu bereiten. Der Herr hat von ihr die Schmach genommen, und ihr Andenken wird unter den Völkern bleiben und verbunden sein mit deinem Namen, wie der Name ihres Kindes mit dem deines Heiligen, und bis zum Ende der Jahrhunderte werden die Völker euch glücklich preisen wegen der Gnade des Herrn, die über euch kam und besonders über dich. Elisabet ist nun im sechsten Monat und ihre Last wird ihr zur Freude, und diese wird noch größer werden, wenn sie von deiner Freude erfährt. Bei Gott ist nichts unmöglich, Maria, du Gnadenvolle. Was soll ich meinem Herrn sagen? Laß dich in keiner Weise verwirren! Er wird sich um dich sorgen, wenn du dich ihm anvertraust. Die Welt, der Himmel und der Ewige warten auf dein Wort.«
Nun kreuzt Maria ihrerseits die Hände über der Brust, verbeugt sich tief und spricht: »Siehe die Magd Gottes! Es geschehe mir nach seinem Worte!«
Der Engel erstrahlt voller Freude. Er betet an, denn sicherlich sieht er den Geist Gottes sich niederlassen über der Jungfrau, die sich in Ergebung beugt; dann verschwindet er, ohne den Vorhang zu bewegen, den er über das heilige Geheimnis gebreitet läßt.

24 Der Ungehorsam der alten Eva

Jesus spricht:
»Oh, ihr Christen des 20. Jahrhunderts, die ihr die Berichte über meine Märtyrer als Fabeln verachtet und euch sagt: „Das kann nicht wahr sein! Wie könnte es so sein? Schließlich waren auch sie Männer und Frauen. Das sind Legenden. “Wisset, daß es keine Legenden sind, sondern Geschichte ist. Und wenn ihr an die bürgerlichen Tugenden der alten Athener, Spartaner und Römer glaubt und euch begeistern laßt vom Heroismus und der Größe der irdischen Helden, warum wollt ihr dann nicht an die übernatürlichen Tugenden glauben und fühlt euren Geist nicht angesprochen und angespornt zu hochherziger Nachahmung durch die Berichte über den Großmut und die großen Taten meiner Helden?
„Schließlich“, sagt ihr, „waren es Männer und Frauen“.
Gewiß, es waren Männer und Frauen. Ihr sprecht damit eine große Wahrheit aus und zugleich eure eigene Verurteilung. Es waren Männer und Frauen, und ihr seid wie unvernünftige Tiere, degradiert von der Ebenbildlichkeit Gottes, von der Sohnschaft Gottes auf das Niveau der Tiere, die sich nur vom tierischen Instinkt leiten lassen und von einer Verwandtschaft mit Satan. Es waren Männer und Frauen. Sie wurden wieder „Männer und Frauen“ durch die Gnade, so wie es der erste Mann und die erste Frau im Paradiese waren . . .
Steht in der Genesis nicht geschrieben, daß Gott den Menschen zum Herrscher über alle Dinge auf Erden gemacht hat, über alles, was unter Gott und seinen Dienern, den Engeln, steht? [Gen 1,26–28].
Liest man dort nicht, daß er die Frau bildete, damit sie Gefährtin des Mannes sei in der Freude und der Herrschaft über alles Lebende?
Liest man dort nicht, daß sie von allem essen durften, mit Ausnahme des Baumes der Erkenntnis des Guten und des Bösen? [Gen 2,16–17].
Warum wohl? Welchen Sinn haben die Worte: „Auf daß er über sie herrsche!“ Welche Bewandtnis hat es mit dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen? Habt ihr, die ihr euch so viele unnütze Fragen stellt, noch nie eure eigene Seele darüber befragt? Warum seid ihr nicht imstande, eure Seele über die himmlischen Wahrheiten zu befragen?
Wäre eure Seele nicht tot, so würde sie euch sagen, ob sie in der Gnade ist. Und wenn sie in der Gnade ist, dann ist sie wie eine Blume in den Händen eures Schutzengels – wie eine von der Sonne geküßte Blume, benetzt vom Tau des Heiligen Geistes, der sie erwärmt und erleuchtet und sie mit himmlischem Licht erfüllt und ziert . . . Wie viele Wahrheiten würdet ihr von eurer Seele erfahren, wenn ihr euch mit ihr zu unterhalten wüßtet; wenn ihr sie lieben würdet, weil sie euch zum Ebenbild Gottes macht, der reiner Geist ist, wie auch eure Seele Geist ist.
Welch große Freundin hättet ihr in eurer eigenen Seele, wenn ihr sie liebtet, statt sie tödlich zu hassen – welch große, herrliche Freundin, mit der ihr euch über den Himmel unterhalten könntet; ihr, die ihr so redselig seid und euch mit euren Freundschaften gegenseitig zugrunderichtet . . . mit Freundschaften, die, wenn sie nicht gerade unwürdig sind (manchmal sind sie es), doch fast immer zwecklos sind, und die sich nur auf eitles und schädliches Geschwätz über irdische Dinge beschränken.
Habe ich nicht gesagt: „Wer mich liebt, hört auf mein Wort, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden kommen, Wohnung bei ihm zu nehmen?“
Die Seele in der Gnade besitzt die Liebe, und wenn sie die Liebe hat, besitzt sie Gott, den Vater, der die Seele erhält, den Sohn, der die Seele lehrt, und den Heiligen Geist, der die Seele erleuchtet . . . Die Seele besitzt somit die Erkenntnis, die Wissenschaft und die Weisheit. Sie besitzt das Licht. Bedenkt also, welche erhabenen Gespräche eure Seele mit euch führen könnte: Gespräche, wie sie das Schweigen der Zellen und der Einsiedeleien, das Schweigen der Kammern heiliger Dulder belebt haben; Gespräche, die eingekerkerte Märtyrer in der Erwartung des Martyriums trösteten; die Mönche auf der Suche nach der Wahrheit erleuchteten; die Kranke zur Geduld im Leiden und selbst zur Kreuzesliebe führten.
Wenn ihr eure Seele zu fragen wüßtet, so würde sie euch sagen, daß der wahre, getreue und umfassende Sinn des Wortes: „Herrschen soll er“, dieser ist: „Der Mensch soll über alles herrschen. Über seine drei Bereiche: über den niederen, den tierischen, über den mittleren, den moralischen, und über den höheren, den geistigen. Alle drei soll er hinrichten auf das einzige Ziel: Gott zu besitzen!“ Und diesen Besitz verdient er durch die eiserne Zucht, mit der er alle Kräfte des eigenen Ich unterworfen hält und sie in den Dienst dieses einzigen Zieles stellt: verdienen, Gott zu besitzen.
Sie würde euch sagen, daß Gott die Erkenntnis des Guten und des Bösen verboten hat, weil er den Geschöpfen das Gute umsonst gegeben hat; und das Böse solltet ihr nicht kennen, weil es für den Gaumen zwar eine süße Frucht ist, aber im Blut ein tödliches Fieber erweckt und einen brennenden Durst entfesselt, der um so größer wird, je mehr man davon genießt.
Ihr werdet entgegenhalten: „Weshalb hat er es so gemacht?“ Weshalb?
Weil das Böse eine Kraft ist, die von selbst auftaucht, wie gewisse gefährliche Krankheiten sich auch im gesündesten Körper bilden.
Luzifer war ein Engel, der schönste unter den Engeln, vollkommener Geist und nur Gott unterlegen. In seinem lichtvollen Sein aber entstand der Rauch des Hochmuts, den er nicht verflüchtigte; den er vielmehr pflegte und nährte. Aus dieser Brut ist das Böse hervorgegangen.
Es war schon, bevor es den Menschen gab. Gott hatte ihn aus dem Paradies verstoßen, den verfluchten Brüter des Bösen, den Beflecker des Paradieses. Aber er ist der ewige Brüter des Bösen geblieben, und da er das Paradies nicht mehr beschmutzen konnte, hat er die Erde beschmutzt.
Jener metaphorische Baum steht da, um die Wahrheit klar zu bezeugen.
Gott hatte zu Mann und Frau gesagt: „Ihr kennt alle Gesetze und Geheimnisse der Schöpfung. Aber macht mir nicht das Recht streitig, Schöpfer des Menschen zu sein! Um das Menschengeschlecht fortzupflanzen, genügt meine Liebe, die in euch lebt. Ohne sinnliche Begier und vielmehr einzig durch den Herzschlag der Liebe wird sie neue Adame des Menschengeschlechts zum Leben erwecken.
Alles gebe ich euch. Nur dieses Geheimnis der Erschaffung des Menschen behalte ich mir vor.“
Satan wollte dem Menschen diese Jungfräulichkeit des Verstandes rauben und hat mit seiner Schlangenzunge liebkosend die Glieder und die Augen Evas umschmeichelt, indem er in ihr Gedanken und Empfindungen erweckte, die sie vorher nicht kannte, weil die Bosheit sie noch nicht vergiftet hatte.
„Sie sah“, und da sie sah, wollte sie versuchen. Das Fleisch war erweckt worden. Oh! Wenn sie doch Gott angerufen hätte! Wenn sie hingeeilt wäre, um zu sagen: „Vater, ich bin krank. Die Schlange hat mir geschmeichelt, und ich bin verwirrt.“ Der Vater hätte sie gereinigt und geheilt mit seinem Hauch; wie er ihr das Leben eingegossen hatte, so konnte er ihr auch erneut die Reinheit einflößen und sie das Gift der Schlange vergessen lassen; ja ihr einen Widerwillen gegen die Schlange einflößen, ähnlich der instinktiven Abscheu, die diejenigen, die von einer Krankheit befallen und geheilt worden sind, gegen dasselbe Übel empfinden. Aber Eva geht nicht zum Vater.
Eva kehrt zur Schlange zurück. Die Empfindung gefällt ihr. „Da sie sah, daß die Frucht des Baumes gut zum Essen war und dem Auge schön und angenehm erschien, nahm sie dieselbe und aß davon.“
Und „Sie verstand“. Nun war die Bosheit in ihren Eingeweiden, um ihren Biß anzubringen. Eva sah mit neuen Augen und hörte mit neuen Ohren die Gewohnheiten und die Stimmen der Tiere; sie begehrte mit maßloser Begierde. Sie hat allein mit der Sünde begonnen.
Sie vollendete sie mit ihrem Gefährten. Deshalb lastet auf der Frau die größere Schuld.
Ihretwegen ist der Mann zum Rebellen gegen Gott geworden und hat Unzucht und Tod kennengelernt. Ihretwegen hat er die drei Reiche nicht mehr zu beherrschen gewußt: das des Geistes, weil er zuließ, daß der Geist sich gegen Gott empörte; das des sittlichen Verhaltens, weil er gestattete, daß die Leidenschaften ihn beherrschten; das des Fleisches, weil er es zu den instinktiven Gesetzen der unvernünftigen Tiere erniedrigte. „Die Schlange hat mich verführt“, sagt Eva. „Die Frau hat mir die Frucht angeboten, und ich habe davon gegessen“, sagt Adam [Gen 3,12–13]. Seitdem hat die Begierde die drei Bereiche des menschlichen Daseins umklammert.
Nur die Gnade vermag die Umklammerung dieses Ungeheuers zu lockern. Und wenn sie lebendig ist, sehr lebendig, und immer wieder belebt wird vom Willen des getreuen Sohnes, so vermag er dieses Ungeheuer schließlich zu erwürgen, so daß er nichts mehr von ihm zu befürchten hat: weder von den Tyrannen des inneren Lebens, d. h. vom Fleisch und von seinen Leidenschaften, noch von den äußeren Tyrannen, den Mächtigen der Welt; noch von den Verfolgungen und auch nicht vom Tod. Wie der Apostel Paulus sagt [Apg 20,24]: „All dieses fürchte ich nicht. Auch mein Leben sehe ich für ganz wertlos an, wenn ich nur die Aufgabe erfülle, die ich vom Herrn Jesus Christus erhalten habe, nämlich Zeuge der Frohbotschaft von der Gnade Gottes zu sein.“
Meine Märtyrer haben daran festgehalten, ihre Aufgabe und den von mir aufgetragenen Dienst zu erfüllen: die Welt zu heiligen und Zeugnis von der Frohen Botschaft abzulegen. Mit nichts anderem haben sie sich befaßt. Sie haben die in ihnen lebendige Gnade mit Sorgfalt gehütet, mehr als ihren Augapfel, und das eigene Leben in freudiger Bereitschaft hingegeben, im Bewußtsein, Vergängliches zu opfern, um Unvergängliches zu erwerben. Darum wurden sie wiederum zu „Männern und Frauen“ und blieben nicht unvernünftige Tiere. Und als Männer und Frauen lebten sie und handelten auch als Kinder des himmlischen Vaters. Wie der heilige Paulus sagt [Apg 20,33], haben sie „nicht Silber und Gold oder Kleider von irgend jemandem begehrt, sondern sich vielmehr berauben lassen und freiwillig allen Reichtum und selbst das Leben hingegeben“, um mir nachzufolgen auf Erden und im Himmel.
Mit ihren Händen, wie der Apostel wiederum sagt [Apg 20,34], haben sie für ihre eigenen und für die Bedürfnisse anderer gesorgt, haben das Leben hingegeben und andere zum Leben geführt. Durch ihrer Hände Arbeit sind sie den Kranken zur Hilfe gekommen, die an der schrecklichsten Krankheit litten, die in einem Leben fern vom wahren Glauben besteht, und haben sich selbst ganz zu diesem Zweck verausgabt: Anhänglichkeiten, Blut, Leben, Mühe, alles haben sie hingegeben in Erinnerung an die Worte [Apg 20,35], die ich dir vor drei Tagen sagte: „Geben ist empfangen, geben ist besser als empfangen.“«

25 Die neue Eva war in jeder Beziehung gehorsam

Maria sagt:
»Als ich die Aufgabe verstand, zu der Gott mich berufen hatte, war ich von Freude erfüllt. Mein Herz öffnete sich wie eine verschlossene Lilie, und aus ihm ergoß sich das Blut, das den Grund und Boden für den Keim des Herrn bildete.
Welch eine Freude, Mutter zu sein!
Ich hatte mich seit frühester Jugend Gott geweiht, denn das Licht des Allerhöchsten hatte mich erleuchtet über den Ursprung des Bösen in der Welt. Daher wollte ich, sofern dies in meiner Macht lag, in mir die Spur Satans auslöschen. Ich wußte nicht, daß ich ohne Makel war. Ich konnte nicht auf den Gedanken kommen, es zu sein.
Allein schon der Gedanke daran wäre Anmaßung und Hochmut gewesen; denn, da ich von menschlichen Eltern geboren war, konnte ich mir nicht vorstellen, daß gerade ich die Auserwählte, die „Makellose“
sein sollte. Der Geist Gottes hatte mich unterrichtet vom Schmerz Gottvaters über die Verdorbenheit Evas, die sich, obwohl Geschöpf der Gnade, auf das Niveau eines niedrigeren Wesens erniedrigte.
Ich hatte die Absicht, diesen Schmerz zu lindern, indem ich mein Fleisch zu engelhafter Reinheit zurückführte und mich unberührt bewahrte vor Gedanken, Wünschen und menschlichen Beziehungen.
Nur ihm sollte der Pulsschlag meiner Liebe gelten, nur ihm mein ganzes Wesen angehören. Wenn auch in mir keine Fleischeslust brannte, so war es doch ein Opfer für mich, nicht Mutter zu werden.
Auch Eva hatte der Schöpfervater eine Mutterschaft zugedacht, frei von all dem, was sie heute erniedrigt; eine süße, reine Mutterschaft, ohne die Last des Sinnlichen. Ich habe sie erfahren. Wieviel hat Eva verloren durch den Verzicht auf diesen Reichtum! Es war mehr als der Verzicht auf die Unsterblichkeit. Das soll dir nicht als eine Übertreibung erscheinen. Mein Jesus, und mit ihm ich selbst, seine Mutter: wir haben die Todesnot kennengelernt. Ich die sanfte Mattigkeit der müde Einschlafenden, er die bittere Todesnot nach seiner Verurteilung. Auch an uns ist der Tod herangetreten. Aber die Mutterschaft ohne jegliche Entweihung ist mir, der neuen Eva, allein zuteil geworden, damit ich der Welt sagen konnte, welch süße Freude das Los der Frau gewesen ist, die ohne die Schmerzen des Fleisches Mutter wurde. Das Verlangen nach dieser reinen Mutterschaft durfte auch in der ganz gotthingegebenen Jungfrau bestehen, denn sie ist der Ruhm der Frau.
Wenn ihr nun bedenkt, in welch hohen Ehren die Frau als Mutter bei den Israeliten stand, dann werdet ihr noch besser verstehen, welch ein Opfer ich bringen mußte, als ich diesen Verzicht auf mich nahm. Nun hat die ewige Güte mir dieses Geschenk gegeben, ohne mir den Glanz zu nehmen, mit dem ich bekleidet war, um Blume an seinem Thron zu sein. Darum jubiliere ich in doppelter Freude, Mutter eines Menschen und Mutter eines Gottes zu sein.
Welch eine Freude, daß durch mich der Friede zwischen Himmel und Erde wiederhergestellt wurde.
Oh! Stets hatte ich diesen Frieden aus Liebe zu Gott und dem Nächsten ersehnt, und nun durfte ich wissen, daß er durch mich selbst, der armen Magd des Allmächtigen, der Welt geschenkt wurde!
Nun konnte ich sagen: „Oh, ihr Menschen, weint nicht mehr! Ich trage in mir das Geheimnis, das euch glücklich machen wird. Ich kann es euch nicht sagen, denn es ist in mir versiegelt, in meinem Herzen, so wie der Sohn im unversehrten Schoß eingeschlossen ist.
Aber schon bringe ich ihn unter euch, und nach jeder verflossenen Stunde ist der Augenblick näher, da ihr ihn sehen und seinen Namen kennenlernen werdet.“
Welch eine Freude, Gott glücklich gemacht zu haben: die Freude der Glaubenden an ihrem glücklichgemachten Gott! . . .
Oh! Vom Herzen Gottes die Bitterkeit über den Ungehorsam Evas genommen zu haben! Die Bitterkeit über ihren Hochmut und ihren Unglauben! Mein Jesus hat mir erklärt, mit welcher Schuld sich das erste Elternpaar befleckte. Ich habe diese Schuld getilgt, indem ich die Stufen ihres Abstieges wieder hinaufstieg.
Der erste Schritt zur Schuld war der Ungehorsam: „Eßt nicht und berührt nichts von diesem Baum!“, hatte Gott gesagt. Und der Mann und die Frau, die Könige der Schöpfung, die alles berühren und genießen durften mit dieser Ausnahme, weil Gott wollte, daß lediglich die Engel über ihnen stehen – sie achteten nicht auf dieses Verbot.
Die Pflanze war das Mittel, den Gehorsam der Kinder zu prüfen.
Was ist der Gehorsam den göttlichen Gesetzen gegenüber? Etwas Gutes, denn Gott befiehlt nur das Gute. Was ist der Ungehorsam? Er ist böse, denn er versetzt den Geist in den Zustand der Auflehnung, in welchem Satan wirken kann.
Eva geht zur Pflanze, von der ihr Wohl abhängt: entweder sie geht ihr aus dem Weg oder sie handelt gegen die klare Vorschrift Gottes.
Sie läßt sich leiten von der kindlichen Neugierde, sie will sehen, was sie Besonderes auf sich habe; sie läßt sich leiten von ihrer Unklugheit, die ihr das Gebot Gottes unnötig erscheinen läßt, da sie ja stark und rein ist, die Königin des Eden, wo alles ihr gehorcht und ihr nichts Übles zustoßen kann. Ihre Überheblichkeit wird ihr zum Verderben.
Überheblichkeit ist schon Sauerteig des Hochmuts.
Bei der Pflanze findet sie den Verführer, der ihrer Unerfahrenheit, ihrer jungfräulichen, so wunderbaren Unerfahrenheit, das Lied der Lüge singt. „Du glaubst, hier sei etwas Schlechtes? Nein! Gott hat dir das gesagt, weil er euch als Sklaven halten will. Glaubt ihr, Könige zu sein? Ihr seid nicht einmal so frei wie das wilde Tier. Ihm ist es erlaubt, sich in wahrer Liebe zu lieben. Euch nicht! Ihm wird es gewährt, Schöpfer zu sein wie Gott. Das Tier kann Junge zeugen und sieht seine Familie beliebig anwachsen. Ihr nicht! Euch wird diese Freude versagt. Wozu also hat er euch als Mann und Frau erschaffen, wenn ihr in dieser Weise leben müßt? Seid Götter! Ihr wißt nicht, welche Freude es ist, wenn zwei im Fleisch eins werden und dadurch einen Dritten zeugen! Glaubt den Versprechungen Gottes nicht; glaubt nicht, daß ihr das Glück der Nachkommenschaft haben werdet und sehen werdet, wie eure Kinder neue Familien gründen und Vater und Mutter um ihretwegen verlassen. Er hat euch nur ein Scheinleben gegeben: das wahre Leben besteht darin, die Gesetze des Lebens zu kennen; das macht euch zu Göttern, und ihr könnt zu Gott sagen: ‚Wir sind deinesgleichen‘.“
Und die Verführung geht weiter; denn es war kein Wille da, sie abzuweisen; vielmehr war der Wille da, ihr weiter zu folgen und das kennenzulernen, was der Mensch nicht wissen sollte. So wird der verbotene Baum für das Menschengeschlecht wirklich todbringend; denn an seinen Zweigen hängt die bittere Frucht des Wissens, das von Satan kommt. Und die Frau wird zum Weib, und mit dem Sauerteig des satanischen Wissens im Herzen geht sie hin, um Adam zu verführen. So ward das Fleisch erniedrigt, der Charakter verdorben, der Geist entehrt. Sie lernten den Schmerz und den Tod des der Gnade beraubten Geistes kennen und den Tod des der Unsterblichkeit beraubten Fleisches. Und die Wunde Evas gebar das Leiden, und sie wird nicht heilen, bevor nicht das letzte Paar auf Erden gestorben ist.
Ich habe die Wege der beiden Sünder rückwärts durchlaufen: ich habe gehorcht, in jeder Beziehung gehorcht. Ich habe die Jungfräulichkeit geliebt, die mich gleichmachte der Reinheit der Stammutter, bevor sie Satan kannte. Gott verlangte von mir, Braut zu werden, ich habe gehorcht, indem ich die Ehe zu dem Grad der Reinheit erhob, den sie im Gedanken Gottes hatte, als er die Stammeltern schuf. Ich war überzeugt, zur Einsamkeit im Ehestand bestimmt zu sein und zur Verachtung durch die Menschen wegen meiner heiligen Kinderlosigkeit.
Da forderte Gott von mir, Mutter zu werden. Ich gehorchte.
Ich habe geglaubt, daß es möglich sei und daß dieses Wort von Gott komme, weil sich in mir Friede ausbreitete, als ich es hörte.
Ich habe nicht gedacht: „Das habe ich verdient.“ Ich habe mir nicht gesagt: „Jetzt wird die Welt mich bewundern, denn ich bin Gott ähnlich, weil ich das Fleisch Gottes gebären werde.“ Nein, ich habe mich selbst vernichtet in der Demut. Die Freude ist in meinem Herzen aufgeblüht wie ein blühender Rosenstock. Aber er zierte sich sofort mit spitzen Dornen und wurde eingezwängt in das Gewirr des Schmerzes, wie Zweige, die umringt sind von den Schlingen der Zaunwinde.
Schmerz über den Schmerz des Bräutigams: sieh, das war die Bedrängnis in meiner Freude. Schmerz über die Schmerzen meines Sohnes: sieh, die Dornen meiner Freude. Eva wollte das Vergnügen, den Triumph, die Freiheit. Ich nahm den Schmerz, die Vernichtung, die Sklaverei an. Ich verzichtete auf ein stilles Leben, auf die Achtung von seiten meines Bräutigams, auf meine eigene Freiheit. Ich hielt nichts für mich zurück.
Ich wurde die Magd Gottes im Fleisch, im sittlichen Verhalten, im Geist, indem ich mich ihm nicht nur in der jungfräulichen Empfängnis anvertraute, sondern auch in der Verteidigung meiner Ehre, in der Tröstung meines Bräutigams und in der Suche nach einem Mittel, um auch ihn an der Heiligung der Ehe teilhaftig werden zu lassen und aus uns jene zu machen, die dem Mann und der Frau die verlorene Würde wiedergeben. Ich nahm den Willen des Herrn an für mich, für meinen Bräutigam und für mein Kind. Ich sagte ja für alle drei, sicher, daß Gott seine Versprechen nicht Lügen strafen würde: er hatte mir beigestanden in meinem Schmerz als Braut, die sich als schuldig verurteilt sah; in meinem Schmerz als Mutter, die sich erwählt wußte, einen Sohn zu gebären, um ihn den Schmerzen auszuliefern.
„Ja“, habe ich gesagt. Ja, und das genügte. Dieses Ja hat das Nein Evas gegenüber dem Gebot Gottes aufgehoben. Ja, Herr, wie du willst. Du wirst mir deinen Willen mitteilen. Ich werde leben, wie du willst. Ich werde mich freuen, wenn du es willst. Ich werde leiden, wofür du willst. Ja, immer ja, mein Herr, vom Augenblick an, in dem dein Strahl mich zur Mutter machte bis zu dem Augenblick, in dem du mich zu dir riefst. Ja, immer ja! Alle guten Eigenschaften des Fleisches, alle guten Sitten hatten in meinem „Ja“ ein unüberbietbares gutes Beispiel. Und darüber, wie auf einem Sockel aus Diamanten, erhebt sich mein Geist, dem zwar die Flügel fehlen, um zu dir zu fliegen, der aber der Herr seines ganzen Ichs und dein Knecht ist. Knecht in der Freude, Knecht im Schmerz. Aber lächle, o Gott!
Und sei glücklich! Die Schuld ist besiegt. Sie ist überwunden, sie ist zerstört. Sie liegt unter meiner Ferse, sie ist gewaschen mit meinen Tränen, zerstört von meinem Gehorsam. Aus meinem Schoß wird der neue Baum entspringen, der die Frucht trägt, die alles Böse kennenlernen wird, weil sie es selbst durchleiden muß, und alles Gute bringen wird. Zu ihr werden die Menschen kommen können, und ich werde glücklich sein, wenn sie sie pflücken, auch ohne daran zu denken, daß sie von mir geboren wurde. Wenn nur der Mensch gerettet und Gott geliebt wird! Es geschehe seiner Magd das, was mit der Scholle geschieht, aus der ein Baum wächst: eine Stufe, um aufzusteigen.«
Maria: »Man muß immer Stufe sein, um andere zu Gott emporsteigen zu lassen.
Wenn sie uns auch treten, es macht nichts. Wenn es ihnen nur gelingt, zum Kreuz zu gelangen. Es ist der neue Baum, der die Frucht der Erkenntnis des Guten und des Bösen trägt; denn es sagt dem Menschen, was böse ist und was gut ist, damit er wählen und leben kann, und lehrt ihn zu gleicher Zeit, aus sich einen Saft zu bilden, mit dem er alle die zu heilen vermag, die sich in der Berührung mit dem Bösen vergiftet haben.
Möge unser Herz unter die Füße der Menschen geraten, wenn nur die Zahl der Erlösten wächst und das Blut meines Jesu nicht vergeblich vergossen worden ist!
Das ist das Los der Magd Gottes. Aber dann dürfen wir im Kreis der Gläubigen die heilige Hostie empfangen und zu Füßen des Kreuzes, benetzt von seinem Blut und von unseren Tränen, sagen: „Sieh, o Vater, die unbefleckte Hostie, die wir dir aufopfern für das Heil der Welt. Blicke auf uns, o Vater, die wir verbunden sind mit ihm, und aufgrund seiner unendlichen Verdienste gib uns deinen Segen!“
Und ich liebkose dich. Ruhe dich aus! Der Herr ist mit dir!«

26 Noch ein Wort der Erklärung über die Erbsünde

Jesus spricht:
»Das Wort meiner Mutter dürfte selbst in den kompliziertesten Köpfen alle Zweifel behoben haben.
Es sind ihrer so viele! Sie wollen über die göttlichen Dinge grübeln mit ihrem menschlichen Maßstab und setzen voraus, daß auch Gott wie sie denkt. Es ist indessen beruhigend zu wissen, daß Gott in einer unendlich erhabeneren und unbeschränkteren Weise vorgeht und denkt als der Mensch. Es wäre so schön und nützlich, wenn ihr euch bemühen würdet, nicht nach Menschenart zu denken und zu reden, sondern dem Geist nach, und wenn ihr Gott folgen würdet. Man soll sich nicht dort verankern, wo unser Denken sich festgefahren hat. Auch das ist Hochmut; denn es setzt die Vollkommenheit des menschlichen Geistes voraus, während es in ihm doch nichts Vollkommeneres gibt als den göttlichen Gedanken. Er kann, wenn er es will und es für gut hält, herabsteigen und Wort werden im Geist und auf den Lippen eines Geschöpfes, das von der Welt verachtet wird, weil es in ihren Augen unwissend, dumm und kindisch ist.
Die Weisheit liebt es, den Hochmut des Geistes zu verwirren und sich gerade über die von der Welt Verworfenen auszugießen, die weder eine eigene Doktrin haben noch eine erworbene Lehrweisheit, die aber groß sind in der Liebe und in der Reinheit, groß in ihrem guten Willen, Gott zu dienen, Gott zu verkünden und mit allen ihren Kräften andere zu seiner Liebe zu führen. Habt acht, ihr Menschen! In Fatima, in Lourdes, in Guadalupe, in Caravaggio, auf la Salette: dort haben wahre und heilige Erscheinungen stattgefunden; die Seherinnen, die berufen waren, sie zu sehen, sind arme Geschöpfe, die wegen ihres Alters, ihrer Bildung und ihrer sozialen Stellung zu den Niedrigsten der Erde gehören. Diesen Unbekannten, diesen „Nichts“, offenbart sich die Gnade und macht sie zu ihren Herolden.
Was sollen die Menschen also tun? Sich demütigen wie der Zöllner und sagen: „Herr, ich bin zu sehr Sünder, als daß ich es verdiente, dich kennenzulernen. Sei gepriesen wegen deiner Güte, die mich tröstet durch diese Geschöpfe und mir ein himmlischer Anker, eine Führung, eine Unterweisung und das Heil sind.“ Sage nicht: „Aber nein, Aberglaube, Häresie! Das ist doch nicht möglich!“ Wie, nicht möglich? Daß ein Armseliger ein Gelehrter der Gotteswissenschaft werde? Und warum sollte das nicht möglich sein? Habe ich nicht die Toten erweckt, die Irren und die Epileptiker geheilt? Habe ich nicht den Mund der Stummen, die Augen der Blinden und die Ohren der Tauben geöffnet? Gab ich nicht den Törichten den Verstand? Ebenso wie ich die Teufel austrieb, habe ich den Fischen befohlen, sich in die Netze zu werfen, den Broten, sich zu vervielfältigen, dem Wasser, Wein zu werden, dem Sturm, sich zu legen, denWellen, sich zu glätten wie steinerner Boden.
Was ist bei Gott unmöglich?
Hat Gott nicht schon durch seine Diener, die in seinem Namen handelten, Wunder gewirkt, noch bevor er in Christus, dem Sohn Gottes, unter euch war? Sind nicht die Eingeweide der Sarai, der Frau des Abrahams, fruchtbar geworden, damit sie Sara wurde und in ihrem Alter noch den Isaak gebar, der dazu bestimmt war, mit mir einen Bund zu schließen? Sind nicht die Wasser des Nils auf Befehl des Mose in Blut verwandelt und mit unreinen Tieren erfüllt worden? Und sind nicht durch sein Wort Tiere an der Pest gestorben und die Fleischteile der verfaulten Glieder abgefallen, zermalmt wie durch einen Mühltrichter? Sind nicht Felder durch wildes Hagelwetter vernichtet und Bäume von Heuschrecken kahlgefressen worden, und wurde nicht drei Tage lang das Licht ausgelöscht, alle Erstgeburten getötet, das Meer zum Durchgang der Israeliten geöffnet und das Bitterwasser versüßt?
War nicht Überfluß an Wachteln und Manna vorhanden, und wurde nicht Wasser aus dem trockenen Felsen geschlagen? [Ex 7,17ff; 17,7]. Hat Josua nicht den Lauf der Sonne aufgehalten? [Jos 10,12–14]. Hat der Knabe David nicht den Riesen Goliat erschlagen? [1 Sam 17]. Hat Elija nicht Mehl und Öl vermehrt und den Sohn der Witwe von Sarepta von den Toten erweckt? [1 Kön 17,7–24]. Und ist auf seinen Befehl nicht Regen über das trockene Land gefallen und hat nicht Feuer vom Himmel das Brandopfer verbrannt? [1 Kön 18,19–46]. Und ist das Neue Testament nicht ein großer Blumengarten von Wundern? Wer ist der Herr des Wunders? Was ist bei Gott unmöglich? Wer ist wie Gott?
Beugt die Stirn und betet an! Die Zeiten reifen für die große Ernte, und bevor der Mensch aufhört zu sein, muß alles bekannt sein: sowohl die Prophezeiungen nach Christus, als auch jene vor Christus, und der biblische Symbolismus, der schon mit den ersten Worten der Genesis beginnt! Und wenn ich euch nun über einen Punkt unterrichte, der bisher unerklärt blieb, so nehmt das Geschenk an und zieht Nutzen daraus und nicht Verdammung! Macht es nicht wie die Juden in der Zeit meines sterblichen Lebens, die ihr Herz vor meinen Lehren verschlossen, und da sie mir nicht gleichkamen im Verständnis der Geheimnisse und der übernatürlichen Wahrheiten, mich zum Besessenen und Lästerer erklärten.
Ich sprach von einem „metaphorischen Baum“. Jetzt nenne ich ihn einen „symbolischen Baum“. Vielleicht versteht ihr das besser.
Sein Symbol ist klar: Aus dem Verhalten der beiden Gotteskinder gegenüber diesem Baum konnte man schließen, ob sich in ihnen eine Neigung zum Guten und Bösen entwickelte. Wie das Königswasser das Gold prüft und die Goldwaage die Karate wägt, so wurde dieser Baum zu einem Mittel, um ihr Verhalten Gott gegenüber zu prüfen.
Er erwies das Maß der Reinheit des Metalls von Adam und Eva.
Ich kenne schon euren Einwand: „Ist das nicht eine übertriebene Verurteilung und ist das nicht ein kindisches Mittel, um eine Verurteilung zu veranlassen?“
Durchaus nicht. Ein gegenwärtiger Ungehorsam bei euch selbst, die ihr ihre Erben seid, ist weniger schlimm als der ihrige. Ihr seid von mir erlöst worden. Aber das Gift Satans ist stets bereit, wirksam zu werden, wie gewisse Krankheiten, die im Blut nie ganz ausheilen.
Sie, die ersten Eltern, besaßen die Gnade, die nie durch die Ungnade entweiht worden war. Daher waren sie geschützt und gestärkt durch die Gnade, die Unschuld und Liebe erzeugt. Ein unendliches Geschenk hatte Gott ihnen gegeben. Um so schwerwiegender war ihr Fall.
Symbolisch ist auch die Frucht, die dargeboten und gegessen wurde.
Es war die Frucht einer Erfahrung, die sie freiwillig machen wollten auf satanische Einflüsterung hin, gegen das Gebot Gottes. Ich hatte den Menschen die Liebe nicht untersagt. Ich wollte nur, daß sie sich ohne Bosheit liebten; wie ich sie mit meiner Heiligkeit liebte, so sollten auch sie sich lieben in der Heiligkeit der Zuneigung, die von keiner Begehrlichkeit beschmutzt war.
Man darf nicht vergessen, daß die Gnade Licht ist, und wer sie besitzt, weiß, was nützlich und gut ist zu kennen. Die Gnadenvolle wußte alles, weil die Weisheit sie unterrichtete; die Weisheit, welche Gnade ist. Und sie verstand es, in heiliger Weise zu leben. Auch Eva kannte, was zu wissen für sie gut war, aber nicht mehr; denn es ist unnütz das zu kennen, was nicht gut ist. Sie hatte kein Vertrauen in das Wort Gottes und blieb ihrem Gehorsamsversprechen nicht treu. Sie glaubte Satan, brach das Versprechen und wollte das Nicht Gute kennenlernen; sie liebte es ohne Gewissensbisse; sie verwarf die Liebe, die ich ihnen so heilig übergeben hatte, und machte sie zu einer verderblichen, niedrigen Angelegenheit. Zu einem gefallenen Engel geworden, wälzte sie sich im Schlamm und auf dem Stroh, während sie glücklich unter den Blumen des irdischen Paradieses hätte wandeln können; so wie ein Baum sich mit Blüten bedeckt, ohne die Krone in den Schlamm zu beugen.
Seid nicht wie die törichten Kinder, die ich im Evangelium erwähne! [Lk 7,31–
32]. Sie hörten singen und haben sich die Ohren verstopft; sie hörten die Musik und haben nicht getanzt; sie hörten weinen und wollten lachen. Seid nicht engherzig; seid nicht Verneiner! Nehmt, nehmt ohne Arglist und Härte, ohne Ironie und Ungläubigkeit das Licht!
Genug darüber! Um euch zu verstehen zu geben, wie sehr ihr dem dankbar sein müßt, der für euch gestorben ist, um euch wieder zum Himmel zu erheben und die Begehrlichkeit Satans zu überwinden, wollte ich in dieser Vorbereitungszeit auf Ostern über das sprechen, was den ersten Ring bildet in der Kette, mit der das Wort zum Tod, das Lamm Gottes zur Schlachtbank geführt wurde. Ich wollte mit euch darüber sprechen, weil jetzt 90% von euch vom Rauch und vom Wort Luzifers, ähnlich wie Eva, vergiftet worden sind; ihr lebt nicht, um euch zu lieben, sondern um euch mit Sinnlichkeit zu sättigen. Ihr lebt nicht für den Himmel, sondern für den Schmutz. Ihr seid nicht mehr Geschöpfe, die mit Seele und Vernunft versehen sind, sondern wie Tiere ohne Seele und Verstand. Die Seele habt ihr getötet und die Vernunft verdorben. Wahrlich, ich sage euch, die unvernünftigen Tiere sind euch an Ehrbarkeit in der Liebe überlegen.«

27 Die Schwangerschaft Elisabets wird Josef verkündet

Vor mir erscheint das Häuschen von Nazaret und Maria in ihm. Maria ist jung, wie damals, als der Engel des Herrn ihr erschien. Allein schon ihr Anblick erfüllt meine Seele mit dem jungfräulichen Wohlgeruch dieser Behausung; mit dem engelhaften Duft, der noch der Umgebung anhaftet, wo der Engel seine goldenen Schwingen ausbreitete; mit dem göttlichen Wohlgeruch, der über Maria zusammenfloß und sie Mutter werden ließ, und der jetzt von ihr ausströmt.
Es ist Abend, denn die Schatten beginnen, sich in dem Raum auszubreiten, der zuvor vom Licht des Himmels überflutet war.
Maria kniet neben ihrem Bettchen; sie betet mit auf der Brust gekreuzten Armen, das Antlitz tief zur Erde gebeugt. Sie ist noch gekleidet wie im Augenblick der Verkündigung. Alles ist gleichgeblieben: der blühende Zweig in der Vase, das Bettzeug in derselben Ordnung . . . nur der Spinnrocken und die Spindel sind in eine Ecke gelehnt, mit dem Werg der Stammwolle der eine, die andere mit dem schimmernden Faden umwickelt.
Maria hört nun auf zu beten und erhebt sich, das Antlitz von einer Flamme erleuchtet. Der Mund lächelt, aber in ihren blauen Augen glänzen Tränen. Sie nimmt das Öllicht und entzündet es mit dem Feuerstein. Sie schaut umher, ob auch alles in der Kammer in Ordnung sei. Sie rückt die Decke der Lagerstätte zurecht, die sich etwas verschoben hatte. Sie gießt Wasser in die Vase des blühenden Zweiges und trägt sie hinaus in die frische Nacht. Dann kommt sie zurück, nimmt die zusammengefaltete Stickerei vom Regal und das brennende Licht; so geht sie hinaus, die Tür hinter sich schließend.
Sie macht einige Schritte im Gärtchen, an der Hauswand entlang, dann betritt sie das Zimmerchen, in dem ich den Abschied Jesu von Maria gesehen habe. Ich erkenne es gut wieder, obwohl es jetzt einige Gegenstände weniger aufweist als damals.
Maria verschwindet, sie nimmt das Licht in einen kleinen benachbarten Raum mit, und ich bleibe in Gesellschaft ihres Nähzeugs zurück, das sie auf eine Tischkante gelegt hat. Ich höre den leichten Schritt Marias, ihr Kommen und Gehen; ich höre plätscherndes Wasser, wie wenn jemand etwas wäscht; ich höre, wie Zweige gebrochen werden und, dem Geräusch nach, auch Holz gespalten wird.
Ich höre, daß sie Feuer anzündet; dann kommt sie wieder, geht in das Gärtchen hinaus und kehrt mit Äpfeln und Gemüse zurück. Sie legt die Äpfel auf den Tisch in eine Schale mit eingelegtem Metall (es ist gehämmertes Kupfer, wie mir scheint); dann begibt sie sich in die Küche (drüben ist bestimmt die Küche). Die Flamme des Herdes leuchtet lustig durch die geöffnete Tür bis zu mir herein und verursacht auf den Wänden einen Schattentanz.
Es vergeht einige Zeit, dann kehrt Maria mit einem kleinen braunen Brot und einem Napf warmer Milch zurück. Sie setzt sich und taucht Brotstücke in die Milch. Sie ißt langsam. Dann läßt sie eine halbe Tasse zurück, geht von neuem in die Küche, kommt mit Gemüse zurück, gießt Öl darüber und ißt es mit dem Brot. Sie stillt ihren Durst mit der restlichen Milch. Dann nimmt sie einen Apfel und ißt ihn. Ein Abendessen wie für ein Kind. Maria ißt und denkt und lächelt bei einem Gedanken, der sie innerlich beschäftigt. Sie hebt die Augen, läßt sie über die Wände schweifen und scheint ihnen ihr Geheimnis mitteilen zu wollen. Bisweilen wird sie ernst, fast traurig. Aber dann kommt das Lächeln wieder.
Sie hört ein Klopfen an der Tür, erhebt sich und öffnet. Josef tritt ein. Sie begrüßen einander. Dann setzt sich Josef auf der anderen Seite des Tisches auf einen Schemel Maria gegenüber.
Josef ist ein schöner Mann, in der Fülle der Jahre. Er ist höchstens 35 Jahre alt. Seine kastanienbraunen Haare und sein Bart von fast der gleichen Farbe umrahmen ein regelmäßiges Gesicht mit sanften, braunschwarzen Augen. Er hat eine breite, glatte Stirn, eine feine Nase, die ein wenig gebogen ist, und braune, nicht olivgetönte Wangen, die oben etwas rötlich sind. Er ist nicht sehr groß, aber stark und gut gebaut.
Bevor er sich setzt, legt er den Mantel ab (zum ersten Mal sehe ich einen dieser Art); er ist aus einem Stück geschnitten und wird am Hals mit einer Schnalle oder etwas Ähnlichem geschlossen; er hat auch eine Kapuze. Er ist hellbraun und scheint aus wasserundurchlässiger Naturwolle zu sein; es ist wohl ein Mantel für Bergbewohner, ein guter Schutz gegen Unwetter.
Noch bevor er sich niedersetzt, bietet er Maria zwei Hühnereier und eine große Weintraube an; sie ist fast überreif, aber in gutem Zustand. Er lächelt und sagt: »Das hat man mir von Kana gebracht.
Die Eier hat mir der Zenturio für eine Arbeit an seinem Wagen gegeben.
Ein Reifenrad war gebrochen, und sein Arbeiter ist krank. Sie sind frisch. Er hat sie aus dem Hühnerstall geholt. Trinke sie. Sie werden dir gut tun.«
»Morgen, Josef. Ich habe jetzt gerade gegessen.«
»Aber die Weintraube kannst du nehmen. Sie ist gut und süß wie Honig. Ich habe sie vorsichtig getragen, um sie nicht zu beschädigen.
Iß sie! Ich habe noch andere. Ich werde sie dir morgen in einem Körbchen bringen. Heute war es mir nicht möglich, denn ich komme direkt vom Haus des Zenturio.«
»Dann hast du also noch nicht zu Abend gegessen.«
»Nein, aber das tut nichts.«
Maria erhebt sich sofort, geht in die Küche und kommt mit einer Schale Milch, Oliven und Käse zurück. »Ich habe sonst nichts«, sagt sie. »Nimm ein Ei!«
Josef will nicht. Die Eier sind für Maria. Er ißt aber mit Appetit den Käse und trinkt die noch lauwarme Milch. Dann nimmt er einen Apfel. Das Abendessen ist beendet.
Maria nimmt ihre Näharbeit zur Hand, nachdem sie das Geschirr vom Tisch geräumt hat. Josef hilft ihr und bleibt in der Küche, auch nachdem sie wieder zurückgekehrt ist. Ich höre, wie er dort alles an seinen Platz stellt. Er schürt und belebt das Feuer, denn der Abend ist frisch.
Als er zurückkommt, dankt ihm Maria. Sie sprechen miteinander.
Josef erzählt, wie er den Tag verbracht hat. Er spricht von seinem kleinen Neffen, interessiert sich für die Arbeit Marias und für ihre Blumen. Er verspricht ihr, Blumen zu bringen, sehr schöne, die ihm der Zenturio versprochen hat. »Es sind Blumen, die wir nicht haben.
Sie kommen aus Rom. Er hat mir Setzlinge versprochen. Wenn dann der Mond günstig steht, werde ich sie pflanzen. Sie haben herrliche Farben und einen feinen Duft. Ich habe sie im vergangenen Jahr im Sommer gesehen, denn sie blühen im Sommer. Sie werden dein ganzes Haus in Wohlgeruch hüllen.«
Maria lächelt und dankt. Dann folgt ein Schweigen. Josef schaut auf das blonde Haupt Marias, die über ihre Näharbeit gebeugt ist.
Ein Blick engelhafter Liebe. Gewiß, wenn ein Engel eine Frau mit bräutlicher Liebe lieben würde, könnte er so aussehen.
Wie jemand tut, wenn er einen Entschluß faßt, so legt Maria ihre Näharbeit in ihren Schoß und sagt: »Auch ich habe dir etwas zu sagen. Ich habe fast nie etwas zu sagen, denn du weißt, wie zurückgezogen ich lebe. Aber heute habe ich eine Neuigkeit. Ich habe nämlich Nachricht erhalten, daß unsere Verwandte Elisabet, die Frau des Zacharias, bald einen Sohn haben wird . . . «
Josef macht große Augen und sagt: »In diesem Alter?«
»In diesem Alter!« antwortet Maria lächelnd. »Der Herr vermag alles. Und jetzt hat er unseren Verwandten diese Freude schenken wollen.«
»Wie hast du es erfahren? Ist die Nachricht sicher?«
»Ein Bote ist gekommen, einer der nicht lügen kann. Ich möchte zu Elisabet gehen, um ihr zu helfen und ihr zu sagen, daß ich mich mit ihr freue. Wenn du erlaubst . . . «
»Maria, du bist meine Frau, und ich bin dein Knecht. Alles, was du tust, ist gut getan. Wann willst du abreisen?«
»So schnell wie möglich. Aber ich werde mehrere Monate abwesend sein.«
»Und ich werde die Tage zählen bis zu deiner Rückkehr, ziehe unbesorgt! Für dein Haus und deinen kleinen Garten werde ich sorgen.
Du wirst deine Blumen so schön vorfinden, wie wenn du sie gepflegt hättest. Nur . . . warte! Ich muß vor Ostern nach Jerusalem, um einige Gegenstände für meine Arbeit zu kaufen. Wenn du noch einige Tage wartest, kann ich dich bis dorthin begleiten. Weiter nicht; denn ich muß rasch zurückkehren. Aber bis dorthin können wir zusammen reisen. Ich bin auch ruhiger, wenn ich dich nicht allein auf dem Weg weiß. Laß mich deine Rückkehr wissen, dann werde ich dir entgegenkommen.«
»Du bist so gut, Josef. Der Herr möge es dir mit seinem Segen vergelten und alles Leid von dir fernhalten! Ich bitte ihn immer darum.
«
Die beiden keuschen Brautleute lächeln sich engelhaft zu. Es wird wieder still für einige Zeit. Dann erhebt sich Josef. Er legt den Mantel um, zieht die Kapuze über den Kopf und grüßt Maria, die sich ebenfalls erhoben hat, und geht.
Maria schaut ihm mit einem Seufzer nach. Dann erhebt sie die Augen zum Himmel. Gewiß betet sie. Sie verschließt sorgfältig die Tür, legt ihre Näharbeit zusammen, geht in die Küche, löscht und bedeckt das Feuer. Sie schaut, ob alles an seinem Platz ist, nimmt das Licht, geht hinaus und schließt die Tür. Sie rückt mit der Hand die Flamme zurecht, die im kühlen Nachtwind flackert, tritt ein in ihr Zimmer und betet wieder. Die Vision ist zu Ende.

28 »Überlasse mir die Aufgabe, dich bei deinem Bräutigam zu rechtfertigen«

Maria spricht:
»Meine liebe Tochter, als die Verzückung beendet war, die mich mit unaussprechlicher Freude erfüllte, und ich mit meinen Sinnen wieder auf Erden war, galt mein erster Gedanke Josef. Dieser Gedanke, stechend wie ein Dorn der Rosen, verwundete mein Herz, das seit einigen Augenblicken gleichsam von den Rosen der Liebe Gottes umhüllt war.
Ich liebte ihn ja, diesen meinen heiligen und vorsorgenden Beschützer. Seitdem der Wille Gottes durch das Wort seines Priesters mich zur Braut Josefs bestimmt hatte, hatte ich die Heiligkeit dieses Gerechten kennen und schätzen gelernt. Mit ihm fühlte ich die Verlassenheit des Waisenkindes von mir weichen und klagte nicht mehr über den Verlust der Zuflucht im Tempel. Er war gütig wie der Vater, den ich verloren hatte. In seiner Nähe fühlte ich mich sicher wie bei einem Priester. Alles Zaudern war geschwunden und nicht nur verschwunden, sondern auch vergessen, so gänzlich war es von meinem jungfräulichen Herzen gewichen; denn ich hatte verstanden, daß kein Grund zum Verzagen und nichts zu fürchten war, was Josef betraf. Meine Jungfrauschaft war bei Josef so sicher wie ein Kind in den Armen der Mutter. Wie sollte ich ihm nun sagen, daß ich Mutter geworden war? Ich suchte nach Worten, um es ihm anzukündigen. Eine schwierige Aufgabe! Denn ich wollte mich nicht der Gabe Gottes rühmen und ich konnte in keiner Weise meine Mutterschaft rechtfertigen, ohne zu sagen: „Der Herr hat mich geliebt unter allen Frauen und er hat mich, seine Magd, zu seiner Braut erhoben.“
Ihn täuschen durch die Verheimlichung meines Zustandes, das wollte ich ebenfalls nicht.
Während ich betete, sprach der Heilige Geist, von dem ich nun erfüllt war, zu mir: „Schweige! Überlasse mir die Aufgabe, dich bei deinem Bräutigam zu rechtfertigen!“ Wann? Wie? Ich hatte nicht danach gefragt. Ich hatte mich immer Gott anvertraut, wie eine Blume sich der Welle anvertraut, die sie trägt. Nie hatte mich der Ewige ohne Hilfe gelassen. Seine Hand hatte mich aufgerichtet, geschützt und geführt bis hierher. Er würde es auch weiter tun.
Meine Tochter, wie schön und machtvoll ist doch das Vertrauen auf unseren ewigen, guten Gott! Er legt uns in seine Arme wie in eine Wiege; er trägt uns wie eine Barke zum Lichthafen des Guten.
Er erwärmt das Herz, tröstet uns, ernährt uns und gibt uns Ruhe und Freude, Licht und Führung. Das Vertrauen auf Gott ist alles, und Gott gibt dem alles, der ihm vertraut: er gibt ihm sich selbst.
An jenem Abend brachte ich als Mensch mein Vertrauen zur Vollkommenheit. Jetzt konnte ich es tun, denn Gott war in mir. Zuerst hatte ich das Vertrauen des armen Geschöpfes, das ich war. Immer noch ein Nichts, auch wenn ich die von ihm so sehr Geliebte war, die Makellose. Aber jetzt hatte ich ein göttliches Vertrauen, weil Gott mein war: mein Bräutigam und mein Sohn! Oh, welche Freude! Eins zu sein mit Gott! Nicht zu meinem Ruhm, sondern, um ihn zu lieben in einer vollkommenen Vereinigung und ihm sagen zu können: „Du, du allein, du bist in mir; wirke mit deiner göttlichen Vollkommenheit in allem, was ich tue!“
Wenn er mir nicht gesagt hätte: „Schweige!“, hätte ich vielleicht gewagt, mit zu Boden gerichtetem Blick Josef zu sagen: „Der Geist Gottes hat mich durchdrungen, und in mir ist der Keim Gottes“; und er hätte mir geglaubt, weil er mich schätzte und weil er wie alle, die nie lügen, nicht glauben konnte, daß ich log. Ja, nur um ihn in Zukunft nicht zu betrüben, hätte ich das Widerstreben überwunden, mir dieses Lob zu spenden. Aber ich gehorchte dem göttlichen Gebot.
Und von diesem Augenblick an habe ich monatelang die erste Wunde verspürt, die mein Herz zum Bluten brachte.
Der erste Schmerz meines Anteils als Miterlöserin. Ich habe ihn geopfert und erduldet, um zu sühnen und euch eine Verhaltensnorm für eure Schmerzensaugenblicke zu geben: die Notwendigkeit des Schweigens bei einem Ereignis, das euch in ein schlechtes Licht stellt bei dem, den ihr liebt.
Überlaßt Gott die Hut eures guten Namens und eurer edlen Interessen!
Verdient durch ein heiliges Leben den Schutz Gottes und seid unbesorgt! Sollte auch die ganze Welt gegen euch sein, er wird euch verteidigen bei dem, der euch liebt; er stellt die Wahrheit ins Licht.
Jetzt ruhe aus, meine Tochter! Und sei immer mehr meine Tochter!
«

29 Maria und Josef auf dem Weg nach Jerusalem

Ich wohne der Abreise zur heiligen Elisabet bei. Josef ist mit zwei Eselchen gekommen, um Maria abzuholen: eines ist für ihn, eines für Maria.
Eines der beiden kleinen Lasttiere hat außer dem gewöhnlichen Sattel ein merkwürdiges Gestell, das, wie ich nun erkenne, zum Lastentragen dient: eine Art Gepäckträger, auf dem Josef einen kleinen Holzkasten befestigt, ein Köfferchen, würden wir heute sagen, das er Maria gebracht hat, damit sie darin ihre Kleider unterbringe und sie so vor dem Regen schütze. Ich höre, wie Maria sich bei Josef für dieses praktische Geschenk sehr bedankt. Sie füllt die Truhe mit Dingen, die sie bereits in ein Bündel verpackt hatte.
Sie schließen die Haustür und machen sich auf den Weg. Es ist kurz vor Tagesanbruch, denn ich sehe kaum etwas von einer Morgenröte am Horizont. Nazaret liegt noch im Schlummer. Die beiden morgendlichen Reisenden begegnen nur einem Hirten, der seine Schäflein vor sich hertreibt. Sie drücken und drängen einander, vielen blökenden Keilen gleich. Die Lämmchen blöken am allermeisten mit ihren scharfen, feinen Stimmen; sie möchten selbst im Laufen noch das mütterliche Euter erfassen. Aber die Mutterschafe eilen zum Weideplatz und laden sie mit stärkerem Blöken zum Weitertraben ein.
Maria betrachtet sie und lächelt, und da sie angehalten haben, um die Herde vorüberziehen zu lassen, neigt sie sich vom Sattel herunter und streichelt die sanften Tierlein, die im Vorübergehen den Esel streifen. Als der Hirt mit einem Lämmlein auf dem Arme daherkommt, das eben geboren wurde, und grüßt, lächelt Maria, streichelt das rosige Mäulchen des verzweifelt blökenden Lämmleins und sagt: »Suche deine Mama! Da ist sie; die verläßt dich nicht, Kleines!« Und sieh da, das Mutterschaf drängt sich an den Hirten heran, hebt sich auf die Hinterfüße und leckt das Mäulchen des Neugeborenen. Die vorüberziehende Herde erzeugt ein Geräusch, als regnete es auf Blätter, und läßt aufgewirbelten Staub und die Verzierungen der Fußstapfen auf dem Boden zurück.
Josef und Maria nehmen ihren Weg wieder auf. Josef ist mit einem großen Mantel bekleidet, Maria eingehüllt in eine Art gestreiften Schal, denn der Morgen ist sehr frisch. Sie befinden sich auf freiem Feld und reiten nebeneinander. Sie sprechen selten. Josef denkt an seine Arbeit, und Maria folgt den Gedanken, in die sie versunken ist, und lächelt dabei. Sie lächelt auch, wenn sie aus ihrer Sammlung heraustretend den Blick über die Umgebung schweifen läßt. Bisweilen schaut sie auf Josef; ein Hauch von wehmütigem Ernst verschleiert dann ihr Gesicht. Ihr Lächeln kehrt wieder zurück, wenn sie ihren fürsorglichen Bräutigam betrachtet, der wenig spricht und nur, um Maria zu fragen, ob sie bequem sitze und nichts benötige.
Jetzt werden die Straßen belebter, besonders in der Nähe von Dörfern oder innerhalb derselben. Sie reiten auf ihren trippelnden Eseln mit ihren lauten Schellen und halten nur einmal unter dem Schatten eines Buschwerks an, um etwas Brot und Oliven zu essen und an einer Quelle zu trinken, die in einer kleinen Grotte sprudelt; ein anderes Mal, um sich vor einem starken Regenguß zu schützen, der ganz unerwartet aus einer dunklen Wolke herniederprasselt.
Sie haben sich unter einen Felsvorsprung begeben, der sie vor der Nässe schützt. Josef will unbedingt, daß Maria sich den dicken, wasserundurchlässigen Mantel umhängt, auf dem das Wasser herabgleitet.
Maria muß seinem sorgendem Drängen nachgeben, und um sie davon zu überzeugen, daß er selbst auch geschützt ist, legt er sich die graue Decke des Esels über Kopf und Schultern. Mit der Kapuze sieht Maria aus wie ein junger Mönch; sie rahmt ihr Gesicht ein, während der dunkelbraune Mantel, der am Hals geschlossen ist, sie ganz einhüllt.
Der Platzregen läßt nach, geht aber in einen lästigen feinen Regen über. Die beiden nehmen den Weg wieder auf, der nun ganz schlammig geworden ist. Aber es ist Frühling, und bald scheint erneut die Sonne und macht die Reise wieder angenehmer. Die beiden Eselchen trippeln nun fröhlicher auf ihrem Weg dahin. Mehr sehe ich nicht; denn die Vision ist hier zu Ende.

30 Von Jerusalem zum Haus des Zacharias

Wir sind in Jerusalem. Ich erkenne es gut mit seinen Straßen und seinen Toren. Das Ehepaar begibt sich zuerst zum Tempel. Ich erkenne die Stallung, wo Josef den Esel am Tag der Darstellung im Tempel eingestellt hat. Auch jetzt läßt er die beiden Tiere dort, nachdem er sie hat grasen lassen; dann geht er mit Maria, um den Herrn anzubeten.
Nun kommen sie wieder, und Maria geht mit Josef in ein Haus von Bekannten, wie mir scheint. Dort stärken sie sich. Maria ruht sich aus, bis Josef mit einem alten Mann kommt. »Dieser Mann nimmt denselben Weg wie du. Nur wenig hast du dann noch allein zurückzulegen, um zu deiner Base zu kommen. Du kannst dich ihm anvertrauen; ich kenne ihn.«
Sie steigen wieder auf die Esel, und Josef begleitet Maria bis zum Tor (nicht zu demselben, durch das sie gekommen sind, sondern zu einem anderen). Dort verabschieden sie sich, und Maria nimmt ihren Weg zusammen mit dem Alten auf, der ebenso gesprächig ist, wie Josef schweigsam; er interessiert sich für tausend Dinge. Maria antwortet ihm geduldig.
Jetzt hat sie die kleine Truhe, die der Esel von Josef getragen hatte, vorn auf dem Sattel. Sie trägt nicht mehr den großen Mantel und auch nicht den Schal, der jetzt gefaltet auf der Truhe liegt. Sie ist sehr schön in ihrem tiefblauen Gewand und dem weißen Schleier, der sie vor der Sonne schützt. Wie schön ist sie doch!
Der Alte ist wohl etwas schwerhörig; denn um sich verständlich zu machen, muß Maria recht laut sprechen; sie, die nicht laut zu sprechen gewohnt ist. Aber nun ist er müde geworden. Er hat das ganze Register seiner Fragen und Neuigkeiten erschöpft und schlummert, auf dem Sattel sitzend, während er sich von seinem Esel führen läßt, der die Straße gut kennt.
Maria benützt diese Pause, um sich in ihren Gedanken zu sammeln und um zu beten. Es muß wohl ein Gebet sein, was sie da mit leiser Stimme singt, wobei sie zum blauen Himmel aufschaut und die Arme über der Brust hält. Ihr Gesicht ist Licht und Seligkeit, Ausdruck ihres seelischen Zustandes.
Mehr sehe ich nicht.
Auch jetzt, da die Vision unterbrochen ist, wie gestern, bleibt die Mutter bei mir, sichtbar meinem inneren Blick, und zwar so klar, daß ich die rosige Tönung ihrer ein wenig vollen, doch sanften Wangen, das lebhafte Rot ihres kleinen Mundes und den schönen Glanz ihrer himmelblauen Augen unter den dunkelblonden Lidern beschreiben kann.
Ich kann sagen, wie die gescheitelten Haare prächtig in drei Wellen zu beiden Seiten herabfallen und teilweise bis zur Hälfte die rosigen Öhrchen bedecken, um dann in ihrem blassen leuchtenden Gold unter dem Kopfschleier zu verschwinden.
(Ich sehe sie nämlich, den Schleier über den Kopf gelegt, bekleidet mit einem Gewand von paradiesischer Seide und einem leichten Mantel, der fein wie der Schleier und doch undurchsichtig ist.)
Ich kann auch sagen, daß das Kleid um den Hals von einem Saum mit einer Kordel gehalten wird, deren Enden vorn an der Halswurzel geschnürt sind. Das Gewand wird um die Hüfte zusammengehalten durch ein breites Band von weißer Seide, dessen Enden auf der Seite herabhängen. Ferner kann ich sagen, daß das an Hals und Hüften zusammengehaltene Gewand auf der Brust sieben abgerundete, weiche Falten schlägt, der einzige Schmuck an diesem überaus keuschen Gewand.
Ich kann sagen, daß die ganze Erscheinung Marias mit ihrer harmonischen und zarten Gestalt den Eindruck einer engelhaften Keuschheit erweckt.
Je mehr ich sie anschaue, um so mehr leide ich bei dem Gedanken, wie sehr man sie hat leiden lassen, und ich frage mich, wie es möglich war, daß man mit ihr kein Mitleid hatte, die sie doch so milde und liebreich war, sogar in ihrer äußeren Erscheinung. Ich schaue auf sie und höre den Tumult und das Geschrei auf dem Kalvarienberg; auch ihr galten alle die Schmähungen, der Spott und die Verwünschungen, mit denen man sie überhäufte, weil sie die Mutter des Verurteilten war.
Jetzt sehe ich sie schön und ruhig. Aber ihr gegenwärtiger Anblick löscht nichts aus von meiner Erinnerung an ihr leiderfülltes Antlitz in jenen Stunden der Todesangst und der Trostlosigkeit und an ihr trauriges Gesicht im Haus von Jerusalem nach dem Tod Jesu. Ich möchte sie streicheln und küssen auf ihre so zart geröteten Wangen, um das Gedenken an jene Tränen auszulöschen, das bei ihr sicherlich ebenso geblieben ist wie bei mir.
Ich kann nicht fassen, welch einen Frieden ich empfinde, sie in meiner Nähe zu haben. Ich denke mir, daß das Sterben bei ihrem Anblick süß sein muß, süßer als die schönste Stunde meines Lebens. In der letzten Zeit, als ich sie nicht mehr so sah, so ganz für mich, habe ich gelitten wie wegen der Abwesenheit einer Mutter. Jetzt fühle ich wieder die unaussprechliche Freude, die mich im Dezember begleitete und während der ersten Tage des Januar (1944), und ich bin glücklich; glücklich, obwohl ich den ganzen Verlauf der Passion gesehen, der über mein Glück einen Schleier des Leidens breitet.
Es ist schwer zu sagen und zu verstehen zu geben, was sich am 11. Februar abends ereignete, und was ich empfand, als ich Jesus in seiner Passion leiden sah.
Es war eine Schau, die mich völlig umgewandelt hat. Sollte ich jetzt sterben oder in hundert Jahren, diese Vision würde immer dieselbe bleiben in ihrer Lebendigkeit und ihren Wirkungen. Vorher dachte ich an die Leiden Christi; jetzt habe ich sie erlebt, und es genügt ein Wort, der Blick auf ein Bild, um erneut zu erleiden, was ich an jenem Abend gelitten habe, und zu erschaudern vor den Qualen und mich zu ängstigen ob seines trostlosen Leidens. Und auch wenn nichts daran erinnert, erwacht von selbst die quälende Erinnerung.
Maria beginnt zu sprechen, daher schweige ich.

31 »Entzieht euch nie dem Schutz des Gebetes!«

Maria spricht:
»Ich werde wenig sagen, denn du bist müde, armes Kind. Ich mache dich und den Leser nur aufmerksam auf die ständige Gewohnheit Josefs und meiner selbst, stets dem Gebet den ersten Platz einzuräumen. Müdigkeit, Eile, Sorgen und Beschäftigungen waren Dinge, die uns eher dazu anspornten, als uns davon abzuhalten.
Das Gebet war stets die Königin all unseres Tuns. Es war unsere Erquickung, unser Licht, unsere Hoffnung. War es in traurigen Stunden unser Trost, so war es in den glücklichen unser Lobgesang. Immer war es die beständige Freude unserer Seele. Es löste uns los von der Erde, von diesem Exil, und erhob uns zum Himmel, zum Vaterland.
Nicht ich allein hatte ständig Gott in meinem Innern und brauchte nur auf meinen Schoß zu achten, um dort den Heiligen der Heiligen anzubeten; auch Josef fühlte sich vereint mit Gott, wenn er betete; denn unser Gebet war wahre Anbetung aus unserem ganzen Wesen, das sich in Gott versenkte in der Anbetung und im Gefühl seiner Umarmung.
Und schaut, obgleich ich doch den Ewigen in mir trug, hielt ich mich dennoch nicht davon entschuldigt, ihn im Tempel zu besuchen.
Auch die höchste Heiligkeit befreit nicht von der Überzeugung, Gott gegenüber ein Nichts zu sein, und davon, dieses Nichts in einem beständigen Hosanna zu Ehren seiner Herrlichkeit demütigen zu müssen.
Seid ihr schwach und arm und voller Fehler? Ruft die Heiligkeit des Herrn an: „Heilig, heilig, heilig!“ Ruft ihn zu Hilfe, diesen gebenedeiten Heiligen, in eurem Elend. Er wird kommen und seine Heiligkeit in euch gießen. Seid ihr heilig und reich an Verdiensten in seinen Augen? Auch dann ruft die Heiligkeit des Herrn an! Die unendliche Heiligkeit wird die eurige stets vermehren.
Die Engel, die den menschlichen Schwächen so sehr überlegen sind, hören keinen Augenblick auf, ihr „Sanctus“ zu singen, und ihre übernatürliche Schönheit vermehrt sich bei jeder Anrufung der Heiligkeit unseres Gottes. Ahmt die Engel nach!
Entzieht euch nie dem Schutz des Gebetes, von dem die Waffen Satans wie die Bosheit der Welt, die Gelüste des Fleisches und der Hochmut des Geistes abprallen. Legt diese Waffe, der sich die Himmel öffnen, um Gnaden und Segen über euch zu ergießen, nie aus den Händen.
Die Erde bedarf der Ströme des Gebetes, um sich zu reinigen von ihren Sünden, die Gottes Strafen anziehen. Und da nur wenige beten, müssen diese wenigen viel beten, um das Versagen der vielen auszugleichen. Sie müssen ihr inbrünstiges Beten vervielfältigen, um das nötige Gewicht für die Gnadenspendung herzustellen. Lebendig werden die Gebete, wenn sie ihre Quelle in der Liebe und im Opfer haben.
Wenn du, meine Tochter, leidest, so ist es vorzüglich, wenn du deine Leiden vereinst mit Jesu Leiden und den meinen; das ist Gott wohlgefällig und ist verdienstvoll.
Deine mitleidende Liebe ist mir kostbar. Möchtest du mich küssen? Dann küsse die Wunden meines Sohnes. Salbe sie mit deiner Liebe. Ich habe in meinem Geist die schrecklichen Schmerzen der Geißelung, der Dornenkrönung, die Tortur der Nägel und des Kreuzes mitgelitten. Aber ich fühle auch alle Liebe, die meinem Jesus erwiesen wird, und das sind Liebkosungen, die mir erwiesen werden. Komm!
Ich bin die Königin des Himmels, bleibe aber auch immer die Mutter . . . «
Und ich bin glücklich.

32 Ankunft im Haus des Zacharias

Ich befinde mich in einer bergigen Gegend. Es sind keine hohen Berge, aber auch nicht mehr Hügel. Es gibt da Gipfel und Schluchten,
wie im echten Gebirge, wie in unserem toskanisch-umbrischen Apennin. Die Vegetation ist üppig und prachtvoll, und es ist reichlich frisches Wasser vorhanden, das die Weiden und die gepflegten Obstgärten grün erhält. In der Nähe der Häuser gibt es auch Reben.
Es muß Frühling sein, denn die Trauben sind schon groß wie Wickenkörner. Die Äpfel haben schon die Blüten verloren und grüne Kügelchen angesetzt, und an den Spitzen der Feigenäste werden schon die ersten kleinen Früchte sichtbar. Die Wiesen gleichen einem weichen, tausendfarbigen Teppich. Auf ihnen weiden die Herden, weiße Flecken auf dem grünen Smaragd des Grases.
Maria reitet auf ihrem Eselchen auf einem ziemlich guten Weg, der wohl die Hauptstraße des Ortes ist; die Ortschaft, die ganz ansehnlich zu sein scheint, liegt auf einer Anhöhe. Meine übliche innere Stimme sagt mir, daß dieser Ort Hebron sei. An einer Kreuzung steht auf einem Stein geschrieben: Hebron. Man sprach mir von „Montana“. Aber ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll.
Mir wird dieser Name angegeben. Ich weiß nicht, ob Hebron die ganze Gegend bedeutet oder nur der Name der Ortschaft ist.
Jetzt kommt Maria in das Dorf. Frauen unter den Türen – es ist gegen Abend – bemerken die Ankunft der Fremden und machen sich gegenseitig darauf aufmerksam. Sie folgen ihr mit den Blicken und haben keine Ruhe, bis sie sehen, daß sie vor einem der schönsten Häuser mitten in der Ortschaft anhält. Vor dem Haus befindet sich ein Garten. Dahinter und ringsum sind gut gepflegte Obstbäume. Weiter hinten liegt eine weite Wiese, die, der Gebirgsformation folgend, steigt und fällt; sie endet schließlich an einem Wald mit hohen Bäumen, die den weiteren Blick versperren. Der ganze Bereich ist eingezäunt von Maulbeerbäumen und wilden Rosensträuchern.
Ich kann nicht gut unterscheiden, was sie tragen; da die Blüten und Blätter der dornigen Sträucher sich sehr ähnlich sehen, kann man sich, solange keine Früchte auf den Zweigen sichtbar sind, leicht täuschen. Vor dem Haus, also auf der dem Dorf zugewandten Seite, ist der Platz mit einem weißen Gemäuer umgeben, auf dem sich echte Rosenstöcke befinden, zwar ohne Blüten, aber voller Knospen.
In der Mitte ein geschlossenes Eisengitter. Man sieht sofort, daß dieses Haus einem Vornehmen des Ortes oder jedenfalls wohlhabenden Leuten gehört, denn alles zeugt, wenn nicht von ausgesprochenem Reichtum, so doch von einer gewissen Wohlhabenheit. Alles ist in guter Ordnung.
Maria steigt vom Esel und nähert sich dem Gitter. Sie schaut durch die Eisenstangen, sieht aber niemanden. So sucht sie, sich bemerkbar zu machen. Ein Frauchen, neugieriger als alle übrigen, ist ihr gefolgt und weist sie hin auf einen eigenartigen Gegenstand, der als Glocke dient. Es sind zwei Metallstücke an einer Achse. Wenn man die Achse mittels einer Kordel bewegt, schlagen sie aneinander und erzeugen einen Klang wie den einer Glocke oder eines Gongs.
Maria zieht an der Kordel, aber so sanft, daß niemand auf das zarte Klingeln aufmerksam wird. Da kommt die kleine Alte mit ihrer großen Nase, dem vorstehenden Kinn und dazwischen einem Mundwerk für zehn, greift nach der Kordel und zieht und zieht. Sie läutet, als wolle sie einen Toten erwecken. »So muß man ziehen! Wie wollen Sie sich sonst bemerkbar machen? Wissen Sie, Elisabet ist alt, ebenso Zacharias. Dazu ist er auch noch stumm und taub. Auch die beiden Diener sind alt; das müssen Sie wissen. Sind Sie niemals hier gewesen? Kennen Sie Zacharias? Sind Sie . . . «
Vor einem Redeschwall und einer Flut von Fragen wird Maria durch einen herbeihinkenden Alten gerettet, der wohl Gärtner oder Bauer ist, denn er hält ein Rebenmesser in der Hand und trägt an der Seite eine Hippe. Er öffnet, und Maria tritt ein, dankt dem Frauchen, aber . . . oh weh, sie beantwortet die Frage nicht. Welch eine Enttäuschung für die Neugierige!
Kaum eingetreten, sagt Maria: »Ich bin Maria, die Tochter des Joachim und der Anna aus Nazaret, eine Nichte eurer Herren.«
Der Alte verneigt sich, grüßt und ruft alsdann: »Sara! Sara!« Dann öffnet er das Gitter, um das Eselchen hereinzulassen, das draußen geblieben war; denn Maria war, um sich von der aufdringlichen Frau zu befreien, schnell eingetreten, und der Gärtner hatte ebenso schnell das Gitter vor der Nase der Alten geschlossen. Und während er den Esel hereinführt, sagt er: »Ah! Ein großes Glück und ein großes Unglück sind über dieses Haus gekommen. Der Himmel hat der Unfruchtbaren einen Sohn geschenkt, und der Allerhöchste sei dafür gebenedeit! Aber Zacharias ist vor sieben Monaten ungefähr stumm von Jerusalem zurückgekehrt. Er macht sich verständlich durch Zeichen oder schriftlich. Habt ihr das vielleicht schon gewußt? Meine Herrin hat sich so sehr nach dir gesehnt in dieser Freude und in dieser Mühsal. Immer wieder hat sie mit Sara von euch gesprochen und gesagt: „Hätte ich doch meine kleine Maria bei mir! Wäre sie doch noch im Tempel! Ich hätte Zacharias geschickt, um sie holen zu lassen. Aber nun hat der Herr gewollt, daß sie die Braut Josefs von Nazaret werde. Sie allein könnte mir in dieser Mühsal Trost sein und mir helfen, zu Gott zu beten; denn sie ist so gut.
Und im Tempel wird sie vermißt. Als ich am vergangenen Festtag mit Zacharias nach Jerusalem ging, um Gott dafür zu danken, daß er mir einen Sohn gegeben hat, hörte ich ihre Lehrerin sagen: ‚Der Tempel scheint die Kerubim der Herrlichkeit Gottes verloren zu haben, seit die Stimme Marias nicht mehr in seinen Mauern erklingt‘.“
Sara! Sara! Meine Frau ist etwas schwerhörig. Aber komm, komm, ich werde dich führen.«
Anstelle Saras erscheint oben an der Treppe an der Hausseite eine sehr betagte Frau voller Runzeln und mit sehr ergrautem Haar, das früher wohl tiefschwarz gewesen sein muß; denn sie hat noch schwarze Wimpern und Augenbrauen. Einen eigenartigen Kontrast zu ihrem offenbaren Alter bildet die trotz des weiten Gewandes sichtbare Schwangerschaft. Sie blickt nach unten, indem sie die Hand zum Schutz gegen die Sonne vor die Augen hält. Da erkennt sie Maria, hebt ihre Arme mit einem freudigen und erstaunten Ausruf zum Himmel und eilt, so gut sie kann, Maria entgegen. Auch Maria, die sonst in ihren Bewegungen immer ruhig ist, läuft nun schnell wie ein junges Reh und erreicht den Treppenabsatz gleichzeitig mit Elisabet. Maria umarmt mit lebhafter Herzlichkeit ihre Base, die bei ihrem Anblick Freudentränen weint.
Sie bleiben einen Augenblick umschlungen, dann löst sich Elisabet von der Umarmung mit einem: »Ah!«, einem Gemisch von Schmerz und Freude, und legt die Hände auf ihren schwangeren Mutterschoß. Sie neigt ihr Antlitz, das abwechselnd erbleicht und errötet. Maria und der Diener strecken ihre Hände aus, um sie zu stützen, denn sie wankt, als fühle sie sich übel. Aber nachdem sie eine Weile wie in sich gesammelt geblieben ist, erhebt sie ihr Gesicht so strahlend, daß sie ganz verjüngt erscheint; lächelnd und mit einer Ehrfurcht, als erblicke sie einen Engel, verneigt sie sich tief und sagt: »Du bist gebenedeit unter den Frauen! Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes! Wie habe ich es verdient, daß zu mir, deiner Dienerin, die Mutter meines Herrn kommt? Sieh: beim Ton deiner Stimme jubelte das Knäblein in meinem Schoß, und als ich dich umarmte, hat der Geist des Herrn erhabene Wahrheiten zu meinem Herzen gesprochen.
Selig bist du, weil du geglaubt hast, daß bei Gott auch das möglich sei, was dem menschlichen Verstand unmöglich erscheint!
Gebenedeit bist du, denn durch deinen Glauben läßt du die Verheißungen in Erfüllung gehen, die der Herr dir gegeben und die von den Propheten für diese Zeit vorausgesagt worden sind! Gebenedeit bist du, weil du den Nachkommen Jakobs das Heil gebären wirst!
Gebenedeit bist du, weil du meinem Sohn die Heiligkeit gebracht hast; denn ich fühle, daß er aufhüpft wie ein fröhliches Zicklein in meinem Schoß; denn er fühlt sich befreit von der Last der Schuld und dazu berufen, der Vorläufer zu sein, der geheiligt ist vor der Erlösung durch den Heiligen, der in dir heranwächst!«
Maria ruft nun unter Tränen, die wie Perlen aus den Augen zum lächelnden Mund herabfließen, und mit zum Himmel erhobenem Blick und Händen, in einer Körperhaltung, die später so oft ihr Jesus annehmen wird: »Hochpreise meine Seele den Herrn«, und fährt fort mit dem Lobgesang, so wie er uns überliefert ist. Zum Schluß, beim Vers: »Er hat sich Israels, seines Knechtes angenommen usw.«, kreuzt sie die Hände über der Brust und verneigt sich bis zu Erde, in die Anbetung Gottes versunken.
Der Diener, der sich klugerweise entfernt hatte, als er sah, daß Elisabet keine Übelkeit befallen hatte, sondern daß sie ihre Gedanken Maria anvertrauen wollte, kehrt nun aus dem Baumgarten zurück mit einem ehrwürdigen Alten mit schneeweißem Bart und weißen Haaren, der mit großen Gesten und stammelnden Kehllauten von weitem Maria begrüßt.
»Zacharias kommt«, sagt Elisabet und berührt die ins Gebet versunkene Jungfrau an der Schulter. »Mein Zacharias ist stumm. Gott hat ihn gestraft, weil er nicht geglaubt hat. Ich werde dir später davon erzählen. Aber nun hoffe ich, daß Gott ihm verzeihen wird, da du gekommen bist, du Gnadenvolle!«
Maria erhebt sich, geht Zacharias entgegen, verbeugt sich tief vor ihm und küßt den Saum seines weißen Gewandes, das bis zum Boden reicht. Es ist sehr weit, dieses Gewand, und wird von einem gestickten Band an den Hüften zusammengehalten.
Zacharias äußert mit Zeichen seinen Willkommensgruß, und gemeinsam mit Elisabet treten sie in ein schön eingerichtetes Gemach ein. Dort laden sie Maria ein, sich niederzusetzen, und lassen ihr eine Tasse frisch gemolkener, noch schäumender Milch und kleines Backwerk reichen.
Elisabet gibt der Dienerin, die schließlich gekommen ist, Anordnungen.
Diese hat Mehl an den Händen und in den Haaren, die ohnehin schon weiß sind und so noch weißer erscheinen. Sie ist wohl mit dem Backen beschäftigt. Den Diener, den sie Samuel nennt, beauftragt sie, das Gepäck Marias in eine bestimmte Kammer zu tragen: alles Pflichten einer Hausherrin ihrem Gast gegenüber.
Inzwischen beantwortet Maria die Frage, die Zacharias mit einem Stift auf eine Wachstafel geschrieben hat. Aus den Antworten entnehme ich, daß er sich über Josef erkundigt und über die Verlobung mit ihm. Es wird mir auch klar, daß Zacharias kein übernatürliches Licht über den Zustand Marias und ihre Würde als Mutter des Messias erhalten hat. Erst Elisabet, die sich ihrem Mann nähert und ihm liebevoll eine Hand auf die Schulter legt, klärt ihn mit den Worten auf: »Auch Maria ist Mutter geworden. Freue dich über ihr Glück!«
Mehr sagt sie nicht. Sie schaut auf Maria, und Maria auf sie, ohne sie aufzufordern, mehr zu sagen; und so schweigt sie.
Eine schöne, überaus liebliche Vision! Sie nimmt mir die Bitterkeit, die mir geblieben war von Judas Selbstmord.
Gestern abend sah ich vor dem Einschlafen das Wehklagen Marias, die sich über den entseelten Leichnam des Erlösers auf dem Salbungsstein neigt. Sie war auf seiner rechten Seite mit dem Rücken gegen den Eingang der Grabesgrotte. Das Licht der Fackeln erhellte ihr Antlitz und ließ mich ihr armes, vom Schmerz verstörtes Antlitz sehen, das in Tränen gebadet war. Sie nahm Jesu Hand, streichelte sie, erwärmte sie an ihren Wangen, küßte sie und streckte seine Finger . . . einen nach dem anderen küßte sie diese leblosen Finger. Dann liebkoste sie sein Antlitz und beugte sich, um den geöffneten Mund, die geschlossenen Augen und die verwundete Stirn zu küssen. Das rötliche Licht der Fackeln ließ die Wunden des gemarterten Körpers noch frischer, die Grausamkeit der erlittenen Qualen und die Wirklichkeit des Todes noch deutlicher erscheinen.
Und so blieb ich in Betrachtung, so lange mein Geist noch klar und wach war. Sodann, aufgewacht aus diesem Schlummerzustand, habe ich gebetet, mich beruhigt und zum Schlafen niedergelegt. Dann begann die oben beschriebene Vision. Aber die Mutter hat mir gesagt: »Bewege dich nicht, schau nur! Morgen kannst du schreiben.
« Im Schlaf habe ich dann alles durchgeträumt. Als ich um 6.30 Uhr aufwachte, habe ich alles von neuem gesehen wie am Vorabend und im Traum. Während ich schaute, habe ich geschrieben. Dann sind Sie gekommen, und ich konnte Sie fragen, ob ich hinzusetzen solle, was folgt. Es sind einzelne kleine Bilder über das Verbleiben Marias im Haus des Zacharias (2. April 1944).

33 Maria enthüllt Elisabet den Namen

Ich schlage die Augen auf; es scheint Morgen zu sein, Maria näht. Sie sitzt im Saal des Erdgeschosses. Elisabet geht im Haus geschäftig hin und her. Wenn sie hereinkommt, unterläßt sie es nie, Marias blondes Haupt liebevoll zu streicheln; bei den etwas dunklen Wänden und unter den Strahlen der hellen Sonne, die durch die zum Garten hin geöffnete Türe hereinströmen, erscheinen sie besonders auffallend blond.
Elisabet beugt sich über Maria, um ihre Arbeit zu sehen – es ist die Näharbeit, die sie in Nazaret begonnen hat – und lobt deren Schönheit.
»Ich habe auch Flachs zu spinnen«, sagt Maria.
»Für dein Kind?«
»Nein, ich hatte es schon, als ich noch nicht daran dachte . . . «
mehr sagt Maria nicht. Aber ich vermute: ». . . Als ich noch nicht daran dachte, daß ich Mutter Gottes werden soll.«
»Aber jetzt mußt du es für ihn verwenden. Ist es schön? Fein? Die Kindlein, weißt du, bedürfen ganz weicher Linnen.«
»Ich weiß es.«
»Ich hatte angefangen . . . spät, denn ich wollte sicher sein, daß es nicht eine Täuschung des Bösen war. Obwohl ich . . . in mir eine so große Freude empfand, daß es nicht vom Satan kommen konnte.
Dann . . . habe ich soviel gelitten. Ich bin alt, Maria, für einen solchen Zustand. Ich habe viel gelitten. Leidest du nicht? . . . «
»Nein. Ich habe mich nie so wohl gefühlt.«
»Ja, eben! Du . . . In dir ist kein Makel, wenn Gott dich zu seiner Mutter erwählt. Deshalb bist du nicht den Schmerzen Evas unterworfen.
Der, den du trägst, ist heilig!«
»Mir kommt es vor, als trüge ich Flügel im Herzen und keine Last. Es kommt mir vor, als hätte ich in mir alle Blumen und alle Vögelein, die im Frühling singen, und allen Honig und die ganze Sonne . . . Oh! Ich bin glücklich!«
»Gesegnet bist du! Auch ich, seit ich dich gesehen habe, fühle keine Last mehr, weder Müdigkeit noch Schmerz. Ich komme mir vor wie neu, jung, befreit vom Elend meines fraulichen Fleisches. Als mein Kind glücklich aufhüpfte beim Ton deiner Stimme, ist es in seiner Freude ruhig geworden. Und es scheint mir, als trüge ich es in mir wie in einer lebendigen Wiege und als sähe ich es schlafen, gestillt und selig, atmend wie ein glücklicher Vogel unter dem Schutz der Flügel seiner Mutter . . . Jetzt will ich mich wieder an die Arbeit machen. Sie wird mir nicht mehr schwer. Ich sehe schlecht, aber . . . «
»Laß das, Elisabet! Ich will für dich und dein Kind spinnen und weben. Ich bin flink und sehe gut.«
»Aber du solltest an deines denken . . . «
»Oh! Ich habe noch viel Zeit dazu! . . . Zuerst denke ich an dich, da du bald den Kleinen haben wirst; dann werde ich an meinen Jesus denken.« Wie süß sind doch der Ausdruck und die Stimme Marias, wie erstrahlt ihr Auge im sanften, glücklichen Tränenglanz, und wie wunderbar ist ihr Lächeln beim Aussprechen dieses Namens, während sie aufschaut zum strahlend blauen Himmel; das geht über alle menschliche Vorstellungskraft. Sie scheint verzückt, beim bloßen Aussprechen des Namens: »Jesus.«
Elisabet sagt: »Welch ein schöner Name! Der Name des Gottessohnes, unseres Erlösers!«
»Oh, Elisabet!« Maria wird traurig, traurig und ergreift die Hände, die ihre Base über ihrem aufgewölbten Schoß hält. »Sage mir, die du bei meiner Ankunft vom Geist des Herrn erfüllt wurdest und das prophezeit hast, was der Welt unbekannt ist; sage mir, was muß mein Geschöpf tun, um die Welt zu retten? Die Propheten . . . Oh!
Was sagen die Propheten vom Erlöser? Jesaja . . . Erinnerst du dich an Jesaja? „Er ist der Mann der Schmerzen. Durch seine Wunden werden wir geheilt. Er ist durchbohrt und voller Wunden wegen unserer Sünden . . . Der Herr will ihn mit Leiden überhäufen . . . Nach seiner Verurteilung wird er erhöht“ [Jes 52,13–15; 53]. Von welcher Erhöhung spricht er? Sie nennen ihn Lamm, und ich denke . . . ich denke an das Osterlamm [Ex 12,1–28; Num 28,16–25; Dtn 16,1–8], an das mosaische Lamm; ich stelle es in Zusammenhang mit der von Mose am Kreuz erhöhten Schlange [Num 21,4–9; Weish 16,5–7; Joh 3,14–15]. Elisabet! . . . Elisabet! . . . Was werden sie meinem Sohn antun? Was wird er leiden müssen, um die Welt zu retten?« Maria weint.
Elisabet tröstet sie: »Maria, weine nicht! Er ist dein Sohn, aber er ist auch Sohn Gottes. Gott wird an seinen Sohn denken und auch an dich, die du seine Mutter bist. Und wenn auch noch so viele grausam mit ihm sind, so werden viele, viele ihn lieben. So viele! . . .
Durch alle Jahrhunderte hindurch! Die Welt wird hinschauen auf dein Kind und dich mit ihm lobpreisen. Dich, die Quelle, aus der die Erlösung kommt. Das Schicksal deines Sohnes! Erhöht zum König über die ganze Schöpfung! Bedenke dies, Maria! König: denn alles Erschaffene wird er erlösen, und daher wird er der König des Universums sein. Auch auf Erden, im Verlauf der Zeit, wird er geliebt werden. Mein Sohn wird dem deinigen vorausgehen, und er wird ihn lieben. Der Engel hat es dem Zacharias gesagt, und er hat es mir aufgeschrieben . . . Ach! Welch ein Schmerz, ihn stumm zu sehen, meinen Zacharias! Aber ich hoffe, daß bei der Geburt des Knaben auch der Vater befreit wird von seiner Züchtigung. Bete du, die du der Sitz der Macht Gottes und die Ursache der Freude der Welt bist! Um das zu erlangen, opfere ich, soweit es mir möglich ist, mein Kind dem Herrn: sein ist es wahrhaftig, denn er hat es seiner Dienerin geliehen, um ihr die Freude zu schenken, Mutter genannt zu werden. Das ist die Bezeugung dessen, was der Herr an mir getan.
Ich will ihn Johannes nennen (der Name Johannes bedeutet: Gott ist wohlgesinnt). Ist es vielleicht keine Gnade, mein Kind? Ist es nicht eine Gnade, die Gott mir zuteil hat werden lassen?«
»Und Gott, auch ich bin davon überzeugt, wird dir diese Gnade schenken. Ich werde darum beten . . . mit dir.«
»Es tut mir so weh, ihn stumm zu sehen! . . . « Elisabet weint.
»Wenn er schreibt, da er ja nicht mehr mit mir sprechen kann, dann scheint es mir, als seien Berge und Meere zwischen mir und meinem Zacharias. Nach vielen Jahren süßer Worte schweigt sein Mund nun.
Gerade jetzt, da es so schön wäre, über das zu sprechen, was kommen soll. Ich unterlasse es sogar zu reden, um nicht zusehen zu müssen, wie er sich abmüht, mir durch Zeichen zu antworten. Ich habe so viel geweint! Wie sehr habe ich mich nach dir gesehnt! Die Leute beobachten, reden, kritisieren. Die Welt ist nun einmal so. Und wenn man Sorgen oder Freuden hat, braucht man Verständnis, nicht Kritik. Jetzt scheint mir das Leben wieder ganz anders, viel besser; ich fühle die Freude in mir, seit du bei mir bist. Ich fühle, daß meine Prüfung vorübergeht; daß ich bald glücklich sein werde. So wird es sein, nicht wahr? Ich ergebe mich in alles. Aber wenn Gott doch meinem Gatten verzeihen möchte! Wenn ich ihn doch wieder beten hörte, wie früher!«
Maria streichelt und ermuntert sie, und um sie etwas abzulenken, lädt sie Elisabet ein, mit ihr in den sonnigen Garten zu gehen.
Sie gehen durch eine gut gepflegte Laube bis zu einem ländlichen, kleinen Wachtturm, in dessen Löchern Tauben nisten.
Maria streut lächelnd Körner; die Tauben stürzen sich mit viel Geflatter auf sie und kreisen gurrend um sie. Auf den Kopf, auf die Schulter, auf Arme und Hände lassen sie sich nieder, strecken ihre rosafarbenen Schnäbel vor, um die Körner aus ihrer hohlen Handfläche zu picken und mit Anmut selbst die rosigen Lippen und die in der Sonne glänzenden Zähne zu berühren. Maria nimmt aus einem Säckchen blonde Körner und lacht herzlich über diese aufdringliche Gier.
»Wie sie dich gern haben!« sagt Elisabet. »Kaum bist du einige Tage bei uns, und schon lieben sie dich mehr als mich, die ich sie immer gefüttert habe.«
Der Spaziergang wird fortgesetzt. Sie gelangen zu einem Zaun an der Grenze des Baumgartens, wo etwa zwanzig Ziegen mit ihren Zicklein grasen.
»Kommst du von derWeide?« fragt Maria einen Hirtenbuben und streichelt ihn.
»Ja, mein Vater hat mir gesagt: „Geh nach Hause! Bald wird es regnen und einige Tiere werden Junge bekommen. Sorge dafür, daß trockenes Heu und eine Bettstatt bereit sind!“ Dort kommt er!« und der Bub zeigt hin zum Wald, aus dem ein zittriges Gemecker ertönt.
Maria streichelt ein blondes Zicklein, das sich wie ein Kind an sie schmiegt, und trinkt zusammen mit Elisabet von der eben gemolkenen Milch, die der Hirtenknabe ihnen anbietet.
Die Herde nähert sich mit einem Hirten, der wuchtig und struppig ist wie ein Bär. Er muß aber ein gutmütiger Mensch sein, denn er trägt auf seinen Schultern ein jammerndes Schaf. Nun legt er es sanft nieder und erklärt: »Es wird bald ein Lämmlein haben. Es konnte vor Schwäche und Müdigkeit kaum mehr gehen. Daher habe ich es auf die Schultern genommen und bin gelaufen, um rechtzeitig da zu sein.« Das Schaf, das vor Schmerzen hinkt, wird von dem Knaben zum Schafstall geführt.
Maria hat sich auf einen Stein gesetzt und scherzt mit den Zicklein und Lämmlein. Sie bietet den rosigen Mäulchen Kleeblüten an.
Ein schwarzweißes Zicklein legt seine Pfoten auf ihre Schultern und beschnuppert ihre Haare. »Das ist kein Brot«, lacht Maria. »Morgen bringe ich dir eine Kruste. Sei nun lieb!«
Auch Elisabet ist wieder heiter und lacht dazu.

34 Maria spricht von ihrem Kind

Ich sehe, wie Maria mit großem Eifer in der Laube spinnt, wo die Trauben immer größer werden. Es muß schon eine gewisse Zeit verflossen sein, denn die Äpfel beginnen rot zu werden und die Bienen summen um die vollen Blüten des Feigenbaumes.
Elisabet ist rundlich geworden und geht sehr schwerfällig. Maria betrachtet sie mit Aufmerksamkeit und Liebe. Auch Maria erscheint, als sie sich erhebt, um die Spindel zu holen, die ihr weit davongerollt ist, stärker in den Hüften, und der Ausdruck ihres Gesichtes ist reifer geworden. Vorher war sie ein Kind, jetzt ist sie eine Frau.
Die beiden Frauen gehen in das Haus, denn der Abend bricht herein, und im Zimmer werden die Lampen angezündet. In Erwartung des Abendessens arbeitet Maria am Webstuhl.
»Aber macht dich das nicht müde?« fragt Elisabet, auf den Webstuhl hinweisend.
»Nein, gewiß nicht!«
»Diese Hitze entkräftet mich. Ich habe keine Schmerzen mehr gehabt, aber jetzt spüre ich die Last auf meinen alten Nieren.«
»Sei tapfer! Bald wirst du davon befreit sein. Wie glücklich wirst du dann sein! Ich kann die Stunde nicht erwarten, Mutter zu werden.
Mein Kind! Mein Jesus! Wie wird er aussehen?«
»Schön wie du, Maria.«
»O nein! Viel schöner! Er ist Gott. Ich bin seine Magd. Ich wollte sagen: wird er blond sein oder braun? Wird er Augen haben wie der blaue Himmel oder wie die Hirsche in den Bergen? Ich stelle ihn mir viel schöner vor als einen Kerub, mit goldenen Haaren, mit Augen in der Farbe des galiläischen Meeres, wenn die Sterne beginnen, am Himmel zu erscheinen, mit einem Mündlein klein und rot wie der Riß eines Granatapfels, der eben an der Sonne gereift und aufgesprungen ist; und mit Bäckchen wie die bleichen Rosen dieses Rosenstockes; und zwei Händchen, die in einem Lilienkelch Platz finden könnten, so klein und schön; und zwei Füßchen, die in die Höhlung meiner Hand passen würden, weich und zart wie Blütenblättlein.
Schau! Ich entnehme die Vorstellung, die ich mir von ihm mache, den schönen Dingen der Natur. Ich höre schon seine Stimme.
Er wird weinen, wenn er Hunger verspürt oder müde ist, mein Kleiner; zum großen Leid seiner Mutter, die ihn nicht weinen sehen kann . . . nein, sie kann ihn nicht weinen sehen, ohne daß es ihr das Herz zerreißt. Sein Schreien wird dem Blöken des eben geborenen Lämmchens gleichen, das wir gerade hören; es sucht das Euter der Mutter und die Wärme ihres Felles.
In seinem Lächeln wird er mir mein Herz, das verliebt ist in mein Kind, zum Himmel machen; ich darf ja in ihn verliebt sein, denn er ist mein Gott, und ihn als Verliebte lieben, widerspricht nicht meiner gottgeweihten Jungfrauschaft. Sein Lachen wird dem fröhlichen Gurren eines glücklichen, gesättigten Täubchens gleichen, das zufrieden in seinem Nestchen liegt. Ich sehe schon seine ersten Schritte . . .
Ein hüpfendes Vögelein auf der blühenden Wiese. Die Au wird das Herz seiner Mutter sein, das seinen rosigen Füßchen ein liebevoller Teppich sein wird, damit er sich an nichts verletze. Oh, wie werde ich es lieben, mein Kind! Meinen Sohn! Auch Josef wird ihn lieben!«
»Aber du mußt es endlich Josef sagen!«
Maria wird traurig und seufzt. »Ich werde es ihm sagen müssen . . .
Ich hätte lieber, wenn der Himmel es ihm offenbaren würde; denn es ist sehr schwer, es zu sagen.«
»Willst du, daß ich es ihm sage? Wir lassen ihn für die Beschneidung des Johannes kommen . . . «
»Nein. Ich habe Gott die Aufgabe überlassen, ihn über sein glückliches Los aufzuklären, der Nährvater des Sohnes Gottes zu sein.
Und er wird mich nicht im Stich lassen. Der Geist hat mir an jenem Abend gesagt: „Schweige, vertraue mir die Aufgabe der Rechtfertigung an!“ Er wird es tun. Gott lügt nicht. Es ist eine große Prüfung, aber mit Hilfe des Ewigen werde ich sie bestehen. Aus meinem Mund darf niemand – außer dir, der der Geist es schon enthüllt hat – erfahren, was die Güte des Herrn an seiner Dienerin gewirkt hat.«
»Ich habe immer geschwiegen; auch Zacharias gegenüber, der doch gejubelt hätte. Er hält dich für eine Mutter wie alle anderen.«
»Ich weiß. Und so wollte ich es auch, aus Klugheit. Die Geheimnisse Gottes sind heilig. Der Engel des Herrn hat Zacharias meine göttliche Mutterschaft nicht geoffenbart. Er hätte es tun können, wenn Gott es gewollt hätte. Denn Gott wußte, daß die Zeit der Fleischwerdung seines Wortes bevorsteht; aber Gott hat dieses Licht der Freude vor Zacharias verborgen, da er deine späte Mutterschaft als unmöglich zurückgewiesen hatte. Ich habe mich dem Willen Gottes unterworfen. Und nun, du siehst es: du hast das in mir lebendige Geheimnis gespürt. Er hat nichts bemerkt. Solange der Schleier seiner Ungläubigkeit gegenüber der Allmacht Gottes nicht fällt, bleibt ihm das übernatürliche Licht verborgen.«
Elisabet seufzt und schweigt. Zacharias tritt ein. Er übergibt Maria Gebetsrollen. Es ist Zeit für das abendliche Tischgebet. Maria betet mit lauter Stimme anstelle des Zacharias; dann setzen sie sich zu Tisch.
»Wie werden wir es bedauern, wenn du nicht mehr hier bist, daß niemand mit uns betet«, sagt Elisabet mit einem Blick auf ihren stummen Gemahl.
»Dann wirst du beten, Zacharias«, erwidert Maria.
Er schüttelt den Kopf und schreibt: »Ich werde nie mehr für die anderen beten können. Ich bin dessen unwürdig geworden, seit ich an Gott gezweifelt habe.«
»Zacharias, du wirst beten; Gott verzeiht.«
Der Alte wischt sich eine Träne ab und seufzt.
Nach dem Abendbrot kehrt Maria zum Webstuhl zurück. »Es ist genug«, sagt Elisabet, »du ermüdest dich zu sehr.«
»Die Zeit ist kurz, Elisabet, und ich will deinem Kind eine Aussteuer bereiten, die dem Vorläufer des Königs aus dem Stamm Davids würdig ist.«
Zacharias schreibt: »Von wem wird er geboren werden? Und wo?«
Maria antwortet: »Die Propheten haben den Ort gesagt; der Ewige wird die Mutter auswählen« [Mi 5,2–5; Mt 2,2–6; Joh 7,41–42].
Zacharias schreibt: »Also in Betlehem! In Judäa. Wir werden hingehen, ihn zu verehren, Frau. Dann wirst auch du mit Josef nach Betlehem kommen.«
Maria neigt ihr Haupt über den Webstuhl und sagt: »Ich werde kommen.«
Und so endet die Vision.

35 »Das Gnadengeschenk Gottes muß uns immer besser machen«

Maria spricht:
»Die Nächstenliebe muß sich in erster Linie dem Nächsten gegenüber äußern. Das soll dir nicht als Wortspiel erscheinen.
Es gibt eine Liebe zu Gott und eine Liebe zum Nächsten. In der Liebe zum Nächsten ist auch die Liebe zu uns selbst einbegriffen.
Aber wenn wir uns mehr als die anderen lieben, sind wir schon nicht mehr liebevoll. Wir sind dann Egoisten.
Auch bei den erlaubten Dingen muß man immer so heilig sein, daß man den Bedürfnissen des Nächsten den Vorrang gibt. Seid versichert, meine Kinder, daß Gott den Hochherzigen mit den Mitteln seiner Macht und Güte zu Hilfe kommt. Diese Gewißheit hat mich nach Hebron geführt, um meiner Base im gegenwärtigen Zustand behilflich zu sein. Und zu meiner Hilfe auf menschlicher Ebene fügte Gott wie üblich eine unverhoffte Gabe übernatürlicher Art hinzu.
Ich mache mich auf, um materielle Hilfe zu leisten, und Gott heiligt meine gute Absicht durch die Heiligung der Leibesfrucht Elisabets.
Und durch diese Heiligung, die den Täufer schon vor der Geburt heiligte, hat er das physische Leiden der reifen Tochter Evas, die noch in ungewöhnlichem Alter empfangen hatte, gelindert.
Elisabet, eine Frau mit unerschrockenem Glauben und voller Hingabe an den Willen Gottes, verdiente es, das Geheimnis zu kennen, das in mir eingeschlossen war. Der Geist sprach zu ihr durch das Aufhüpfen des Kindes in ihrem Schoß. Der Täufer hatte seine erste Botschaft als Verkünder des Wortes durch die Schleier und Wände von Fleisch und Blut gegeben, die ihn trennten und zugleich vereinten mit seiner heiligen Gebärerin. Auch ich verschweige ihr – die dessen würdig ist und der sich das Licht enthüllte – meine Berufung zur Mutter des Herrn nicht. Es ihr versagen, wäre ein Versagen Gott gegenüber gewesen; ein Vorenthalten des Lobes, das ihm gebührte, des Lobes, das ich in mir trug und das ich, da ich es niemandem sagen durfte, den Pflanzen, den Blumen, den Sternen, der Sonne, den singenden Vögeln, den geduldigen Lämmern, dem sprudelnden Wasser und dem goldenen Licht, das mich, herabsteigend vom Himmel, küßte, sang. Aber zu zweit beten ist viel schöner als allein.
Ich hätte mein Glück am liebsten der ganzen Welt verkünden wollen, nicht um meinetwillen, sondern um sie in meinen Lobgesang einstimmen zu lassen.
Die Klugheit hat mir verboten, Zacharias die Wahrheit zu enthüllen.
Es wäre eine Vorwegnahme des Wirkens Gottes gewesen, und wenn ich auch seine Braut und Mutter bin, so bleibe ich doch immer seine Magd, und wenn er mich auch im Übermaß liebt, so darf ich mir dennoch nicht erlauben, an seine Stelle zu treten und einen Entschluß vorwegzunehmen. Elisabet in ihrer Heiligkeit versteht und schweigt. Denn wer heilig ist, ist auch immer bescheiden und demütig.
Die Gaben Gottes müssen uns immer besser machen. Je mehr wir von ihm empfangen, um so mehr müssen wir ihm geben. Denn je mehr wir von ihm empfangen, desto deutlicher ist das Zeichen, daß er in uns und mit uns ist; und je mehr er in und mit uns ist, um so mehr müssen wir uns bemühen, seiner Vollkommenheit näherzukommen.
Das ist der Grund, weshalb ich meine Arbeit hintanstelle und für Elisabet arbeite.
Ich lasse mich nicht von der Befürchtung leiten, keine Zeit zu haben.
Gott ist auch Herr der Zeit. Wer auf ihn hofft, auch in den gewöhnlichen Dingen, für den sorgt er. Der Egoismus ist kein Zeitgewinn, eher ein Zeitverlust. Die Liebe zögert nicht; sie beeilt sich.
Haltet euch das stets vor Augen!
Welch ein Friede im Haus Elisabets! Hätte ich mich nicht um Josef gesorgt und um mein Kind, den Erlöser der Welt, ich wäre glücklich gewesen. Aber schon warf das Kreuz seinen Schatten in mein Leben, und wie ein Trauergesang ertönten die Stimmen der Propheten in mir . . . Man nannte mich Maria. Bitterkeit war immer in die süßen Freuden gemischt, die Gott in mein Herz ergoß. Und sie vermehrte sich ohne Unterlaß bis zum Tod meines Sohnes; Maria war Miterlöserin – daher auch Opfer.
Aber wenn Gott uns aufruft, Maria Valtorta, zu seiner Ehre Opfer zu sein, dann ist es süß, zermahlen zu werden wie das Korn unter dem Mühlstein, um unseren Schmerz zu Brot werden zu lassen, das die Schwachen stärkt und sie befähigt, in den Himmel zu kommen. Doch jetzt Schluß. Du bist müde und glücklich. Ruhe aus mit meinem Segen!«

36 Die Geburt des Täufers

Mitten in den widerlichen Dingen, die uns die Welt heute bietet, steigt vom Himmel friedlich die folgende Vision herab.
Es ist immer noch das Haus Elisabets, an einem schönen Sommerabend.
Der Himmel wird von einer untergehenden Sonne erhellt und hat sich schon mit der Mondsichel geschmückt, die wie ein silbernes Komma auf seinem dunkelblauen Teppich erschienen ist.
Die Rosenstöcke duften stark, und die Bienen machen ihre letzten Flüge, summende Goldtropfen in der stillen, warmen Abendluft.
Von den Wiesen kommt der Duft des an der Sonne getrockneten Heus; ein Duft, der dem des gerade aus dem Ofen gezogenen Brotes ähnelt. Vielleicht kommt er auch von den zahlreichen Leintüchern, die zum Trocknen aufgehängt sind und die Sara nun zusammenfaltet.
Maria ist auf einem Spaziergang, Arm in Arm mit ihrer Base. Sie gehen unter der schon halbdunklen Laube langsam auf und ab.
Maria hat für alles ein Auge, und wenngleich sie sich auch mit Elisabet unterhält, so bemerkt sie doch, daß Sara Schwierigkeiten hat, ein langes Leintuch zu falten, das sie von einer Hecke gezogen hat.
»Warte auf mich und setze dich hierher!« sagt sie zu ihrer Verwandten und geht hin, der alten Magd zu helfen, die Leinwand straff zu ziehen und mit Sorgfalt zusammenzulegen. »Sie ist noch warm und hat noch etwas Sonne in sich«, sagt sie lächelnd. Und um die Frau zu beglücken, fügt sie hinzu: »Diese Leinwand ist durch das Waschen wunderschön geworden. Keiner versteht sich so gut darauf wie du.«
Sara geht jubelnd mit ihrer Last duftender Leintücher fort.
Maria kehrt zu Elisabet zurück und sagt: »Noch ein paar Schritte.
Das wird dir gut tun.« Und da Elisabet müde ist und sich nicht mehr bewegen mag, sagt sie ihr: »Gehen wir noch schauen, ob deine Tauben alle in ihren Nestern sind und ob das Wasser in ihren Becken auch sauber ist. Dann gehen wir zurück ins Haus.«
Die Tauben müssen wohl die Lieblinge Elisabets sein. Als sie vor dem kleinen, ländlichen Turm stehen, sind die Tauben schon alle darin versammelt; die Weibchen in den Brutnestern und die Männchen vor ihnen, regungslos auf die beiden Frauen schauend, um sie mit einem letzten Gurren zu begrüßen. Das rührt Elisabet. Ihre Schwäche und die daraus entspringenden Sorgen bringen sie zum Weinen.
Sie eröffnet Maria ihre Ängste: »Wenn ich sterben sollte . . . meine armen Täubchen. Du bleibst ja nicht bei uns. Wenn du in meinem Haus bliebest, würde ich ohne Sorge sterben. Ich habe die größte Freude erlebt, die einer Frau beschert werden kann; eine Freude, auf die zu verzichten ich mich schon abgefunden hatte. Und auch über den Tod kann ich mich beim Herrn nicht beklagen, denn Gott sei gepriesen, er hat mich mit seiner Güte überhäuft. Aber da ist Zacharias . . . Und da wird das Kind sein. Er ist alt und wäre wie in einer Wüste verloren, ohne eine Frau. Und das Kind, so klein, wie eine Blume, es wird bestimmt vor Kälte sterben, ohne seine Mutter.
Armes Kind, ohne die Liebkosungen seiner Mutter!«
»Aber warum bist du so traurig? Gott hat dir die Freude gegeben, Mutter sein zu dürfen; er wird sie dir nicht jetzt nehmen, wo dein Wunsch gerade in Erfüllung gegangen ist. Der kleine Johannes wird alle Küsse seiner Mutter erhalten, und Zacharias wird bis ins hohe Alter die Fürsorge seiner treuen Gattin haben. Ihr seid beide Zweige derselben Pflanze. Keiner von euch wird den andren allein lassen.«
»Du bist gut und tröstest mich. Aber ich bin schon zu alt, um einen Sohn zu gebären. Jetzt, da die Stunde naht, fürchte ich mich.«
»O nein! Hier ist doch Jesus! Man darf sich nicht fürchten, wenn Jesus da ist. Mein Kind hat dich von den Schmerzen befreit, du selbst hast es gesagt, als es noch eine Knospe war. Jetzt, da es immer größer wird und sein eigenes Leben in mir lebt, fühle ich sein Herz in meiner Kehle schlagen; ich höre sein Herzchen in meiner Brust schlagen und habe das Gefühl, ein Vögelchen im Nest zu haben. Jesus wird dich von jeder Gefahr befreien. Du mußt Vertrauen haben!«
»Ich habe Vertrauen. Aber wenn ich sterben sollte . . . dann verlasse Zacharias nicht sofort! Ich weiß, du denkst an dein Haus. Aber bleibe noch ein wenig, um meinem Mann über die ersten Trauertage hinwegzuhelfen!«
»Ich werde bleiben, um mich an seiner Freude zu erfreuen, und ich werde dich erst verlassen, wenn du stark und freudenvoll bist.
Aber beruhige dich jetzt, Elisabet! Alles wird gut gehen. In deinem Haus wird es an nichts fehlen, während du leidest. Zacharias wird von der liebevollsten Dienerin bedient werden, und deine Blumen werden gepflegt werden. Auch um deine Tauben wird man sich kümmern, und sie werden zufrieden und gut gepflegt darauf warten, die Rückkehr ihrer Herrin feiern zu können. Gehen wir jetzt zurück ins Haus! Ich sehe, daß du weiß wirst . . . «
»Ja, mir scheint, daß sich die Schmerzen verdoppelt haben. Vielleicht ist die Stunde gekommen. Maria, bete für mich!«
»Ich werde dich mit meinem Gebet stärken, bis dein Schmerz sich in Freude verwandelt hat.«
Nun treten die beiden Frauen langsam ins Haus.
Elisabet zieht sich in ihre Gemächer zurück. Maria gibt geschickt und vorsorglich Anordnungen und bereitet alles vor, was im Fall einer Geburt nötig sein könnte; auch tröstet sie den besorgten Zacharias.
Man wacht im Haus in dieser Nacht, und man hört die Stimme fremder Frauen, die zu Hilfe gerufen worden sind. Maria bleibt wach, wie ein Leuchtturm in stürmischer Nacht. Das ganze Haus dreht sich um sie. Sie sorgt für alles, milde und lächelnd. Sie betet. Wenn sie nicht wegen irgendeiner Angelegenheit gerufen wird, bleibt sie im Gebet vertieft. Sie ist in dem Zimmer, in dem man sich zu den Mahlzeiten und zur Arbeit zusammenfindet. Zacharias ist bei ihr, seufzt und geht verwirrt im Zimmer auf und ab. Sie haben schon gemeinsam gebetet; Maria aber fährt fort zu beten. Auch jetzt, da sich der Alte müde niedergesetzt hat, schweigend und schläfrig, betet sie. Und als sie sieht, daß er gänzlich eingeschlafen ist, das Haupt auf seinen Armen, die auf den Tisch gestützt sind, löst sie ihre Sandalen von den Füßen und geht barfuß, um weniger Lärm zu verursachen. Und ohne mehr Lärm zu machen als der Nachtfalter, der im Zimmer umherschwirrt, nimmt sie den Mantel des Zacharias und breitet ihn mit einer solchen Zartheit über ihm aus, daß er weiterschläft in der weichen Wolle, die ihn vor der nächtlichen Frische schützt, die hin und wieder durch die des öfteren geöffnete Tür eindringt. Dann betet sie wieder. Und immer inständiger betet sie, auf den Knien und mit erhobenen Händen, wenn das Jammern der Leidenden stärker wird.
Sara tritt ein und gibt ihr ein Zeichen zu kommen. Maria geht barfuß in den Garten. »Die Herrin wünscht dich«, sagt Sara.
»Ich komme«, und Maria geht am Haus entlang und steigt die Treppe hinauf . . . Sie ist wie ein weißer Engel, in dieser ruhigen und sternenklaren Nacht. Sie tritt bei Elisabet ein.
»Oh! Maria! Maria! Welch ein Schmerz! Ich kann nicht mehr, Maria!
Welche Schmerzen muß man leiden, um Mutter zu werden!«
Maria streichelt sie liebevoll und küßt sie.
»Maria, Maria! Laß mich meine Hände auf deinen Schoß legen!«
Maria nimmt die beiden runzligen, geschwollenen Hände, legt sie auf ihren gerundeten Mutterschoß und drückt sie mit ihren zarten, kleinen Händen fest an sich. Dann sagt sie leise, da sie nun allein sind: »Jesus ist da, er fühlt und sieht dich. Habe Vertrauen, Elisabet!
Sein heiliges Herz schlägt jetzt stärker, denn er wirkt jetzt zu deinem Wohl. Ich fühle sein Herz klopfen, als hätte ich es in meiner Hand; ich verstehe sie, die Worte, die mir mein Kind durch sein Herzklopfen sagen will. Es spricht: „Sage der Frau, sie solle sich nicht fürchten.
Noch ein wenig Schmerz. Dann, beim ersten Sonnenstrahl, wird dein Haus die schönste unter den vielen Rosen besitzen, die diesen Morgenstrahl erwarten, um sich auf ihrem Stiel zu öffnen: Johannes, meinen Vorläufer!“«
Elisabet legt ihr Antlitz auf Marias Schoß und weint leise.
Maria rührt sich lange Zeit nicht, denn es scheint, daß ihr Schmerz sich mindere und beruhige. Allen gibt sie ein Zeichen, still zu sein.
Sie bleibt bei der Leidenden stehen, weiß und schön im zarten Schimmer eines Öllichtleins, wie ein Engel. Sie betet. Ich sehe ihre Lippen sich bewegen. Auch wenn ich das nicht sehen könnte, würde ich an ihrem Ausdruck der Verzückung erkennen, daß sie betet.
Es vergeht eine gewisse Zeit. Der Schmerz erfaßt Elisabet erneut.
Maria küßt sie von neuem und zieht sich zurück. Behende steigt sie im Mondenschein die Treppe hinab und eilt zu sehen, ob der Alte noch schläft. Er schläft und seufzt im Schlaf. Maria bekundet Mitleid mit ihm und beginnt wieder zu beten.
Einige Zeit darauf schüttelt sich der Greis im Schlaf, erhebt sein Haupt mit wunderlichem Blick, wie einer, der sich nicht bewußt ist, weshalb er sich hier befindet. Dann erinnert er sich. Eine Geste, ein Kehllaut. Dann schreibt er: »Ist er noch nicht geboren?« Maria verneint mit einem Zeichen. Zacharias schreibt: »Wieviel Leid! Meine arme Frau! Wird es gut gehen, ohne daß sie daran stirbt?«
Maria ergreift die Hand des greisen Priesters und beruhigt ihn: »In der Morgendämmerung, in Bälde, wird das Kind geboren sein.
Alles wird gut gehen, Elisabet ist stark. Wie schön wird dieser Tag sein – und bald ist es Tag – an dem dein Kind das Licht der Welt erblicken wird! Der schönste Tag deines Lebens wird es sein! Große Gnaden stehen dir noch bevor, und dein Sohn wird ihr Verkünder sein.«
Zacharias schüttelt traurig den Kopf und deutet auf seinen stummen Mund. Er möchte so vieles sagen und kann es nicht. Maria versteht ihn und gibt zur Antwort: »Der Herr wird deine Freude vollkommen machen. Glaube an ihn in vollkommener Weise, hoffe unbedingt auf ihn, liebe ihn aus ganzem Herzen! Der Allerhöchste wird dich erhören, mehr als du zu hoffen wagst. Der Herr will dieses völlige Vertrauen, um dich rein zu waschen von deinem vergangenen Mißtrauen. Sage in deinem Herzen mit mir: „Ich glaube.“ Sage es bei jedem Herzschlag. Die Schätze Gottes öffnen sich dem, der an ihn und an seine machtvolle Güte glaubt.«
Licht beginnt durch die angelehnte Tür einzudringen. Maria öffnet sie. Die Morgendämmerung verbreitet ihr weißes Licht über die staubbedeckte Erde. Ein starker Duft von feuchter, grünender Erde liegt in der Luft. Das erste Zwitschern der Vögel wird hörbar; sie grüßen sich von Ast zu Ast.
Der Greis und Maria gehen zur Tür. Sie sind bleich nach der schlaflosen Nacht, und das Licht der Morgendämmerung läßt sie noch bleicher erscheinen. Maria zieht ihre Sandalen wieder an, geht zum Treppenabsatz und horcht. Als sich eine Frau sehen läßt, winkt sie ihr zu und kehrt dann zurück. Es ist noch nicht soweit . . . Maria geht in ein Zimmer und kommt mit warmer Milch zurück, die sie dem Greis zu trinken gibt; dann geht sie zu den Tauben, kommt zurück und verschwindet in einem Raum. Vielleicht in der Küche.
Sie geht umher und überwacht alles. Sie scheint gut geschlafen zu haben, so lebhaft und heiter ist sie.
Zacharias geht nervös im Garten hin und her. Maria betrachtet ihn voller Mitleid. Dann kehrt sie ins Zimmer zurück, kniet neben ihrem Webstuhl nieder und betet inständig, da das Jammern der Leidenden lauter geworden ist. Sie beugt sich nieder bis zur Erde, um den Ewigen anzuflehen. Zacharias tritt ein, sieht sie auf den Knien und weint; er, der arme Greis. Maria erhebt sich und nimmt ihn bei der Hand. Sie ist um vieles jünger, aber sie scheint nun die gute Mutter dieses verlassenen Alten zu sein, und spendet ihm Trost.
Jetzt stehen sie nebeneinander in der Sonne, die den Morgenhimmel rötlich färbt. Da erreicht sie die frohe, festliche Nachricht: »Er ist geboren, er ist geboren. Ein Junge! Glücklicher Vater! Ein Junge, blühend wie eine Rose, schön wie die Sonne, stark und gütig wie die Mutter. Freue dich, du vom Herrn gesegneter Vater! Er hat dir einen Sohn geschenkt, damit du ihn im Tempel darbringst. Ehre sei Gott, der diesem Haus Nachkommenschaft geschenkt hat! Segen über dich und den Sohn der dir geboren ist! Möge seine Nachkommenschaft deinen Namen preisen in den Jahrhunderten, von Geschlecht zu Geschlecht, und stets das Bündnis mit dem Ewigen, dem Herrn, wahren!«
Maria preist den Herrn mit Freudentränen. Und dann empfangen beide den Kleinen, der zum Vater getragen wird, damit er ihn segne.
Zacharias geht nicht zu Elisabet. Er nimmt das Knäblein entgegen, das wie verzweifelt schreit, geht aber nicht zu seiner Frau.
Maria geht zu ihr, mit dem liebevollen Kleinen auf den Armen, der sofort schweigt, als sie ihn zu sich nimmt. Die Gevatterin, die ihr folgt, bemerkt dies. »Frau«, sagt sie zu Elisabet, »dein Kind ist sofort still geworden, als sie es genommen hat. Schau, wie ruhig es schläft! Der Himmel weiß, wie lebendig und stark es ist. Schau es an! Ein Täubchen!«
Maria legt das Kindlein neben die Mutter und liebkost sie, während sie ihr die grauen Haare ordnet. »Die Rose ist geboren«, sagt sie ihr leise. »Und du lebst. Zacharias ist glücklich.«
»Spricht er?«
»Noch nicht. Aber hoffe auf den Herrn! Ruhe dich jetzt aus! Ich bleibe bei dir.«

37 »Die Hoffnung blüht für alle, die ihr Haupt an meinen Mutterschoß legen«

Maria spricht:
»Wenn meine Gegenwart den Täufer geheiligt hat, so hat sie doch Elisabet nicht von der Schuld befreit, die von Eva stammt: „Du wirst deine Kinder unter Schmerzen gebären“ [Gen 3,16], hatte der Ewige gesagt. Nur ich allein, die ich makellos war und keine menschliche Vereinigung gehabt hatte, wurde von den Geburtswehen befreit.
Traurigkeit und Schmerz sind die Früchte der Schuld. Ich mußte aber, obwohl ich schuldlos war, ebenfalls Schmerz und Traurigkeit erfahren, weil ich Miterlöserin war. Aber ich erlebte die Pein des Gebärens nicht; nein, diese Pein habe ich nicht gekannt.
Aber glaube mir, meine Tochter, es gab nie und es wird nie eine solche Qual beim Gebären geben, wie ich sie als Märtyrerin einer geistigen Mutterschaft erlitten habe, die sich auf dem härtesten Bett vollzog: auf meinem Kreuz, zu Füßen des Marterholzes, an dem mein Sohn gestorben ist. Wo ist die Mutter, die gezwungen worden ist, so zu gebären? Dem Leib, den das Röcheln des sterbenden Sohnes zerriß, noch die Qual hinzufügen, den Schrecken überwinden zu müssen, um sagen zu können: „Ich liebe euch. Kommt zu mir, ich bin eure Mutter!“ Das den Henkern meines Sohnes sagen zu müssen, der aus der erhabensten Liebe hervorgegangen war, die der Himmel je gesehen hat: aus der Liebe Gottes zu einer Jungfrau, durch einen Kuß des Feuers, durch eine Umarmung mit dem Licht, das Fleisch geworden ist und aus einem Frauenschoß den Tabernakel Gottes machte.
„Welch ein Schmerz, Mutter zu sein!“ sagte Elisabet. Er war groß; aber nichts im Vergleich zu dem meinigen.
„Laß mich meine Hände auf deinen Schoß legen!“ Oh! Wenn ihr in eurem Leid mich stets um dieses bitten würdet!
Ich bin die ewige Trägerin Jesu. Er ist in meinem Schoß, wie du es im vergangenen Jahr gesehen hast, wie eine Hostie in der Monstranz.
Wer zu mir kommt, findet ihn. Wer sich auf mich stützt, berührt ihn. Wer sich zu mir wendet, spricht mit ihm. Ich bin sein Gewand.
Er ist meine Seele. Noch viel mehr als damals, während der neun Monate, da er in meinem Schoß heranwuchs, ist der Sohn nun mit seiner Mutter verbunden; und so schläfert er jeden Schmerz ein, jede Hoffnung blüht auf und jegliche Gnade kommt über den, der zu mir eilt und sein Haupt an meinen Mutterschoß legt.
Ich bete für euch. Denkt daran! Die Seligkeit, im Himmel zu weilen, in den Strahlen Gottes zu leben, läßt mich keineswegs meine Kinder vergessen, die noch auf der Erde leiden. Und ich bete. Der ganze Himmel betet, weil er liebt. Der Himmel ist lebendige Liebe.
Und die Liebe hat Mitleid mit euch. Aber wenn ich auch ganz allein wäre, mein Gebet allein würde schon genügen für die Nöte aller, die auf Gott vertrauen; denn ich höre nicht auf, für euch alle zu beten: für Heilige und Böse, um den Heiligen Freude und den Bösen rettende Bußgesinnung zu vermitteln.
Kommt, kommt, Kinder meines Schmerzes! Am Fuß des Kreuzes erwarte ich euch, um euch Gnaden zu schenken.«

38 Die Beschneidung des Täufers

Ich sehe das Haus im Festschmuck. Es ist der Tag der Beschneidung.
Maria hat dafür gesorgt, daß alles schön und in Ordnung sei. Die Räume erstrahlen im Licht, wie auch die schönsten Stoffe und die schönsten Einrichtungsgegenstände. Viel Volk ist da.
Maria bewegt sich flink unter den einzelnen Gruppen; sie ist schön in ihrem schönsten weißen Gewand.
Elisabet wird wie eine Matrone verehrt und freut sich ihres Festes.
Ihr Kind ruht auf ihrem Schoß, gesättigt mit Milch.
Es kommt die Stunde der Beschneidung.
»Wir wollen ihn Zacharias heißen. Du bist alt. Es ist gut, wenn dein Name dem Kind gegeben wird«, sagen die Männer.
»Nein, nein!« ruft die Mutter. »Sein Name ist Johannes. Sein Name muß Zeugnis geben von der Allmacht Gottes.«
»Aber hat es denn je in unserer Verwandtschaft einen Johannes gegeben?«
»Das tut nichts zur Sache. Er muß Johannes heißen.«
»Was sagst du, Zacharias? Du willst ihm doch deinen Namen geben, nicht wahr?«
Zacharias gibt Zeichen der Verneinung! Er nimmt das Täfelchen und schreibt: »Sein Name ist Johannes«, und kaum hat er zu schreiben geendet, da fügte er schon mit nun befreiter Zunge hinzu: »Denn Gott hat große Gnade an mir, seinem Vater, und an seiner Mutter geübt und auch an diesem seinem neuen Knecht, der sein Leben verzehren wird zur Ehre des Herrn; und groß wird er in den Jahrhunderten und vor den Augen Gottes genannt werden, denn er wird kommen, die Herzen zum Herrn, dem Allerhöchsten, zu bekehren.
Der Engel hat es gesagt, und ich habe es nicht glauben wollen.
Aber jetzt glaube ich, und ein Licht leuchtet in mir. Dieses Licht ist unter euch, und ihr seht es nicht. Sein Schicksal wird sein, nicht gesehen zu werden, denn der Geist der Menschen ist umnachtet und träge. Aber mein Sohn wird es sehen und von ihm reden, und er wird die Gerechten Israels auf Ihn hinweisen. Oh! Selig, die glauben werden, die immer glauben an das Wort des Herrn! Und Du sei gebenedeit, o ewiger Herr, Gott Israels, denn Du hast uns heimgesucht und Deinem Volk Erlösung gebracht; Du hast einen mächtigen Erlöser im Haus seines Knechtes David erweckt, wie Du es versprochen hast durch den Mund der heiligen Propheten seit den ältesten Zeiten [Jer 23,5–6; 33,14–26], um uns zu befreien von unserem Feind und aus den Händen derer, die uns hassen; um Dein Erbarmen an unseren Vätern zu üben und Dich deines heiligen Bundes eingedenk zu zeigen. Dies ist der Schwur, den Du Abraham, unserem Vater, getan: uns zu gewähren, daß wir ohne Furcht, befreit von den Händen unserer Feinde, Dir dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor Deinem Angesicht das ganze Leben hindurch bis ans Ende.« [Gen 22,15–18].
Die Anwesenden staunen; sie staunen über den Namen, über das Wunder und über die Wort des Zacharias.
Elisabet ist beim ersten Worte des Zacharias in einen Freudenschrei ausgebrochen und weint nun in den Armen Marias, die sie glücklich liebkost.
Der Neugeborene wird zur Beschneidung in einen anderen Raum getragen. Als man ihn zurückbringt, schreit der kleine Johannes aus vollem Hals. Nicht einmal die Muttermilch beruhigt ihn. Er schlägt aus wie ein junges Füllen. Aber Maria nimmt und wiegt ihn; da schweigt er und beruhigt sich.
»Da schaut einmal!« sagt Sara. »Er beruhigt sich nur, wenn sie ihn auf ihren Arm nimmt!«
Das Volk entfernt sich langsam. Im Zimmer bleiben nur Maria mit dem Kleinen auf dem Arm und Elisabet, die Glückliche, zurück.
Zacharias tritt ein und schließt die Tür. Mit Tränen in den Augen schaut er Maria an. Er möchte reden. Aber er schweigt. Er geht auf Maria zu und wirft sich vor ihr auf die Knie. »Segne den elenden Diener des Herrn!« sagt er. »Segne ihn, denn du kannst es, du, die du Ihn in deinem Schoß trägst. Das Wort des Herrn sprach zu mir, als ich meinen Irrtum erkannte und alles glaubte, was mir gesagt worden war. Ich sehe dich und dein glückliches Los. In dir bete ich an den Gott Jakobs. Du mein erster Tempel, wo der bekehrte Priester in neuerWeise zum Ewigen beten kann. Du bist gesegnet, da du Gnade erlangt hast für dieWelt und jetzt den Erlöser trägst. Verzeihe deinem Knecht, wenn er so spät deine Erhabenheit erkannt hat. Alle Gnaden hast du uns durch dein Kommen gebracht, denn wohin immer du gehst, du Gnadenvolle, wirkt Gott seine Wundertaten; und heilig sind die Mauern, in die du einkehrst; geheiligt werden die Ohren, die deine Stimme hören, und das Fleisch, das du berührst.
Geheiligt werden die Herzen, denn du erteilst Gnaden, du Mutter des Allerhöchsten, du prophezeite Jungfrau, die erwartet wurde, damit sie dem Volk Gottes den Erlöser schenken sollte.«
Maria lächelt, verlegen vor Demut, und spricht: »Lob sei dem Herrn, Ihm allein. Von Ihm, nicht von mir kommt jede Gnade. Und Er spendet sie dir, damit du Ihn liebst und Ihm in den noch übrigen Jahren in Vollkommenheit dienen wirst, um sein Reich zu verdienen, das mein Sohn den Patriarchen, den Propheten und den Gerechten des Herrn öffnen wird. Und du, jetzt, da du vor dem Heiligen beten darfst, bete für die Magd des Allerhöchsten. Denn Mutter des Sohnes Gottes sein, ist ein seliges Los; Mutter der Erlösers aber muß ein Los bitteren Schmerzes sein. Bete für mich, denn von Stunde zu Stunde fühle ich in mir die Last des Schmerzes wachsen. Und ein ganzes Leben lang werde ich sie tragen müssen. Und wenn ich auch die Einzelheiten noch nicht kenne, so fühle ich doch, daß es eine größere Last werden wird, als wenn auf diese meine Frauenschultern die ganze Welt gelegt würde und ich sie dem Himmel darbieten müßte. Ich, ich allein, eine arme Frau! Mein Kind! Mein Sohn!
Ach! Der deine weint jetzt nicht mehr, weil ich ihn wiege; werde ich meinen eigenen wiegen können, um seinen Schmerz zu lindern? . . .
Bete für mich, Priester des Herrn! Mein Herz bebt wie die Blume im Sturmwind. Ich blicke auf die Menschen und liebe sie. Aber ich sehe hinter ihren Gesichtern den Widersacher erscheinen, der aus ihnen Feinde Gottes, meines Sohnes Jesu, machen will . . . «
Und die Vision endet mit dem Erbleichen Marias und den Tränen, die ihren Blick zum Leuchten bringen.

39 »Macht euren Geist empfänglich für das Licht!«

Maria spricht:
»Wer seinen Fehler einsieht und ihn in Demut und mit aufrichtigem Herzen bereut und bekennt, dem verzeiht Gott. Er verzeiht nicht nur: er belohnt auch. Oh! Wie gut ist mein Herr mit den Demütigen und den Aufrichtigen! Mit denen, die an Ihn glauben und auf Ihn vertrauen! Befreit euren Geist von all dem, was ihn umschattet und träge macht! Macht ihn bereit, das Licht aufzunehmen, das wie ein Leuchtturm in der Finsternis Führer und heiliger Trost ist!
O Freundschaft mit Gott, Seligkeit seiner Getreuen, unvergleichlicher Reichtum! Wer dich besitzt, ist nie allein, noch fühlt er die Bitterkeit der Verzweiflung. Du nimmst nicht den Schmerz weg, o heilige Freundschaft, denn der Schmerz war das Los eines menschgewordenen Gottes und kann auch das Los des Menschen sein. Aber mache diesen Schmerz süß in seiner Bitterkeit, und vermische ihn mit Licht und Liebe, die wie eine himmlische Berührung das Kreuz erleichtern.
Und wenn die göttliche Güte euch eine Gnade gibt, dann benützt das Empfangene gut zur Ehre Gottes! Seid nicht wie die Wahnsinnigen, die sich aus einem guten Gegenstand eine schädliche Waffe schmieden, oder wie die Verschwender, die sich aus dem Reichtum ein Elend machen.
Zu großen Schmerz bereitet ihr mir, meine Kinder, wenn ich hinter eurem Antlitz den Feind erscheinen sehe, der sich auf meinen Jesus stürzt. Allzu großen Schmerz! Ich möchte allen die Quelle der Gnaden sein. Aber zu viele unter euch wollen die Gnade nicht. Ihr bittet um Gnaden, aber mit einer Seele, in der die Gnade fehlt. Und wie kann die Gnade euch helfen, wenn ihr ihre Feinde seid?
Das große Geheimnis des heiligen Karfreitags nähert sich. Alles in den Kirchen erinnert an dieses und feiert es. Aber ihr müßt es in euren Herzen feiern und seiner gedenken; ihr müßt euch an die Brust schlagen, wie jene, die von Golgota herabstiegen, und sagen: „Er ist wahrhaftig der Sohn Gottes, der Erlöser“ [Mt 27,54; Mk 15,39], und sagen: „Jesus, um deines Namens willen rette uns!“, und sagen: „Vater, verzeihe uns!“, und schließlich: „Herr, ich bin nicht würdig.
Aber wenn Du mir verzeihst und zu mir kommst, wird meine Seele gesund [Mt 8,8; Lk 7,6–7]. Ich will wirklich nicht mehr sündigen, um nicht wieder krank zu werden und ein Abscheu für Dich zu sein.“
Betet, meine Kinder, mit den Worten meines Sohnes! Sagt zum Vater für eure Feinde: „Herr, verzeihe ihnen!“ [Lk 23,34]. Ruft den Vater an, wenn er sich zurückgezogen hat infolge eurer Verfehlungen: „Vater, Vater, warum hast Du mich verlassen? [Mt 27,46; Mk 15,34; Ps 21,2]. Ich bin ein Sünder; wenn Du mich verläßt, gehe ich zugrunde.
Kehre zurück, Heiliger Vater, damit ich gerettet werde!“ Vertraut euer ewiges Heil und euren Geist dem Einzigen an, der sie vor dem Dämon unverletzt bewahren kann: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist“ [Lk 23,46].
Oh, wenn ihr doch demütig und liebevoll euren Geist Gott anempfehlen wolltet. Er leitet euch, wie ein Vater seinen kleinen Sohn, und erlaubt nicht, daß eurem Geist etwas Böses zustoße. Jesus hat in seiner Todesangst gebetet, um euch beten zu lehren.
Ich erinnere euch daran, in diesen Tagen der Passionszeit. Und du, Maria, die du meine Mutterfreude siehst und darüber in Entzückung gerätst, bedenke und erinnere dich daran, daß ich Gott durch einen stets wachsenden Schmerz besessen habe. Er ist in mich eingetreten mit dem Keim Gottes und wie ein gewaltiger Baum gewachsen, bis er mit dem Gipfel den Himmel, mit seinen Wurzeln aber die Hölle berührte, als ich das entseelte Fleisch meines Fleisches auf meinen Schoß nahm, die klaffenden Wunden sah, das durchbohrte Herz berührte und meinen Schmerz bis zum letzten Tropfen auskostete.«

40 Darstellung des Täufers im Tempel

In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag der Karwoche sehe ich folgendes: Aus einem bequemen Wagen, an den auch das Lasttier Marias gebunden ist, sehe ich Zacharias, Elisabet, Maria, mit dem kleinen Johannes und Samuel mit einem Lamm und einer Taube in einem Körbchen steigen. Sie steigen vor der üblichen Stallung aus. Diese bildet eine Etappe für alle Tempelpilger, die dort ihre Reittiere unterbringen können.
Maria ruft einen kleinen Mann, dem die Stallung gehört, und fragt ihn, ob tags zuvor oder in den Morgenstunden niemand aus Nazaret eingetroffen sei. »Niemand, Frau«, antwortet der Alte. Maria ist erstaunt, fragt aber nicht weiter.
Sie läßt das Eselein von Samuel unterbringen, gesellt sich dann zu Zacharias und Elisabet, denen sie die Verspätung Josefs erklärt: »Er scheint durch irgend etwas aufgehalten worden zu sein. Aber heute kommt er sicher noch.« Sie nimmt wieder den Knaben, den sie Elisabet übergeben hatte, und dann begeben sie sich zum Tempel.
Zacharias wird von den Tempelwächtern ehrenvoll empfangen und von anderen Priestern begrüßt und beglückwünscht. Er macht heute einen prachtvollen Eindruck in seinen priesterlichen Gewändern und in seiner Freude als glücklicher Vater. Er sieht aus wie ein Patriarch; ich denke, daß Abraham ihm gleichen mußte, als er die Freude hatte, Isaak dem Herrn aufzuopfern [Gen 22,1–18].
Ich sehe die Zeremonie der Darstellung des kleinen Israeliten und die Reinigung der Mutter. Sie ist noch prunkhafter als jene von Maria; denn für einen Priestersohn veranstalten die Priester ein größeres Fest. Nun kommen sie in großer Zahl herbei und bilden einen feierlichen Kreis um die Gruppe der Frauen und den Neugeborenen.
Auch eine neugierige Menge ist herbeigeströmt, und ich höre ihre Bemerkungen. Da Maria den Knaben auf ihren Armen trägt, als man sich zum üblichen Ort begibt, glaubt die Menge, sie sei die Mutter.
Eine Frau aber sagt: »Das kann nicht sein. Seht ihr nicht, daß sie schwanger ist? Das Kind ist erst wenige Tage alt, und sie ist schon rundlich!«
»Trotzdem«, sagt ein anderer, »nur sie kann die Mutter sein. Die andere ist alt. Sie ist wohl eine Verwandte. Aber Mutter kann sie in ihrem Alter nicht sein.«
»Folgen wir ihnen, so werden wir sehen, wer recht hat.«
Und das Staunen wächst, als sie sehen, das der Ritus der Reinigung an Elisabet vollzogen wird, die ihr blökendes Lämmlein als Brandopfer und ihre Taube für die Sühne darbringt. »Sie ist die Mutter, hast du gesehen?«
»Nein!«
»Doch!«
Die Leute flüstern noch ungläubig. Sie flüstern aber so laut, daß ein herrisches »Pst!« aus der Gruppe der Priester, die der Zeremonie beiwohnen, hörbar wird. Das Volk schweigt einen Augenblick, wird aber noch lauter, als Elisabet strahlend und in heiligem Stolz das Kind nimmt und in den Tempel schreitet zu seiner Darstellung vor dem Herrn.
»Sie ist es also doch!«
»Es ist immer die Mutter, die den Knaben aufopfert.«
»Was ist das für eine wunderbare Geschichte?«
»Was wird aus dem Kind werden, das dieser Frau in ihrem hohen Alter geschenkt worden ist?«
»Was soll das bedeuten?«
»Wißt ihr nicht?« sagt einer, der atemlos dazukommt: »Das ist der Sohn des Priesters Zacharias vom Stamm Aaron; er wurde stumm, als er das Rauchopfer im Tempel darbrachte.«
»Geheimnis! Geheimnis! Jetzt spricht er wieder! Die Geburt des Sohnes hat ihm die Zunge gelöst.«
»Welcher Geist mag wohl mit ihm gesprochen und seine Zunge gelähmt haben, um ihn an das Schweigen zu gewöhnen, das den Geheimnissen Gottes gebührt?«
»Geheimnis! Welche Wahrheit hat Zacharias wohl erfahren?« »Ist sein Sohn vielleicht der von Israel erwartete Messias?« »Er ist in Judäa geboren, nicht in Betlehem und nicht von einer Jungfrau. Er kann nicht der Messias sein.« »Wer sonst?«
Aber die Antwort bleibt im Schweigen Gottes, und das Volk bei seiner Neugierde.
Die Zeremonie ist beendet. Die Priester beglückwünschen nun auch die Mutter und den Kleinen. Die einzige, auf die wenig geachtet, die sogar fast mit Abscheu angesehen wird, sobald man ihren Zustand bemerkt [Lev 12,2], ist Maria.
Nach Beendigung der Beglückwünschung gehen die meisten ihrer Wege. Maria will zur Stallung zurückkehren, um zu sehen, ob Josef angekommen sei. Er ist noch nicht da. Maria ist enttäuscht und wird nachdenklich.
Elisabet macht sich Sorgen um sie: »Bis zur sechsten Stunde können wir bleiben, dann aber müssen wir abreisen, um vor der ersten Nachtwache zu Hause zu sein. Er ist noch zu klein, um in der Nacht draußen bleiben zu können.«
Maria spricht ruhig und traurig: »Ich werde in einem Hof des Tempels bleiben. Ich gehe zu meinen Lehrerinnen . . . Ich weiß nicht.
Irgend etwas werde ich schon unternehmen . . . «
Zacharias greift mit einem Vorschlag ein, der als gute Lösung sofort angenommen wird. »Gehen wir zu den Verwandten des Zebedäus.
Josef wird dich sicher dort suchen, und wenn er nicht dorthin kommen sollte, wirst du leicht jemanden finden, der dich nach Galiläa begleitet; denn in diesem Haus gehen die Fischer von Gennesaret ein und aus.«
Sie holen den Esel und gehen zu den Verwandten des Zebedäus; vor vier Monaten hatten Josef und Maria sich bei ihnen aufgehalten.
Die Stunden schwinden schnell dahin, aber Josef kommt nicht.
Maria beherrscht ihren Kummer; sie liebkost den Kleinen, aber man sieht, daß sie nachdenklich ist. Als wolle sie ihren Zustand verbergen, hat sie ihren Mantel nicht abgelegt, trotz der großen Hitze, die alle zum Schwitzen bringt.
Endlich kündet ein starkes Klopfen an der Tür die Ankunft Josefs an. Das Antlitz Marias heitert sich auf und strahlt.
Josef grüßt sie, denn sie kommt ihm als erste entgegen und grüßt ihn ehrerbietig. »Der Segen Gottes sei mit dir, Maria!«
»Und auch mit dir, Josef! Und Lob sei dem Herrn, daß du gekommen bist! Sieh, Zacharias und Elisabet waren schon zur Abreise bereit, um noch vor Nacht zu Hause zu sein.«
»Dein Bote kam nach Nazaret, während ich wegen der Arbeit in Kana war. Vorgestern abend erfuhr ich davon und bin sofort abgereist.
Aber, obwohl ich nirgendwo gerastet habe, habe ich mich verspätet, denn mein Esel hat ein Hufeisen verloren. Verzeih mir!«
»Verzeih du mir, daß ich so lange von Nazaret ferngeblieben bin [Lk 1,56]. Aber schau: sie waren so glücklich, mich bei sich zu haben, daß ich bis jetzt geblieben bin.«
»Du hast gut daran getan, Frau. Und wo ist das Kind?«
Sie gehen ins Zimmer, wo Elisabet vor der Abreise noch einmal Johannes stillt. Josef beglückwünscht die Eltern wegen des kräftigen Körperbaues des Knaben, der von der Mutterbrust genommen wird, um Josef gezeigt zu werden, und schreit und strampelt, als ob man ihn schinden wolle. Alle lachen wegen seiner Proteste.
Auch die Verwandten des Zebedäus lachen; sie sind mit frischen Früchten, Milch und Brot für alle und einem großen Gefäß voller Fische herbeigekommen und beteiligen sich an der Unterhaltung.
Maria spricht wenig. Sie sitzt ruhig und schweigsam in ihrer Ecke, die Hände auf dem Schoß unter ihrem Mantel. Auch während sie eine goldfarbene Weintraube und ein wenig Brot ißt und eine Tasse Milch trinkt, spricht sie wenig und rührt sich kaum. Sie schaut mit einem etwas sorgenvollen und forschenden Blick auf Josef.
Auch er schaut sie an und nach einiger Zeit beugt er sich über ihre Schulter und fragt: »Bist du müde oder leidest du? Du bist bleich und traurig.«
»Ich leide darunter, mich von dem kleinen Johannes trennen zu müssen. Ich habe ihn so gern. Kaum geboren, ist er mir ans Herz gewachsen.«
Josef forscht nicht weiter.
Die Stunde der Abreise des Zacharias ist gekommen. Der Wagen hält vor der Tür, und alle gehen auf ihn zu. Die beiden Basen umarmen sich liebevoll. Maria küßt immer wieder den Kleinen, bevor sie ihn in den Schoß der Mutter legt, die schon im Wagen sitzt. Dann grüßt sie Zacharias und bittet um seinen Segen. Beim Niederknien vor dem Priester gleitet ihr der Mantel von den Schultern und die Leibesformen treten in dem scharfen Licht des sommerlichen Nachmittags deutlich hervor. Ich weiß nicht, ob Josef sie in diesem Augenblick beobachtet hat, beschäftigt wie er war mit dem Abschied von Elisabet. Der Wagen setzt sich in Bewegung.
Josef geht mit Maria ins Haus zurück; sie nimmt wieder ihren Platz in dem halbdunklen Winkel ein. »Wenn es dir nichts ausmacht, in der Nacht zu reisen, würde ich vorschlagen, bei Sonnenuntergang aufzubrechen. Die Hitze ist untertags stark. Die Nacht hingegen ist frisch und ruhig. Ich sage es um deinetwillen, damit du nicht zu sehr unter der Sonne leidest. Für mich ist es gleichgültig, in der Sonnenhitze zu reisen. Aber du . . . «
»Wie du willst, Josef. Ich halte es auch für gut, in der Nacht zu reisen.«
»Das Haus ist völlig in Ordnung. Auch das Gärtchen. Du wirst sehen, wie schön die Blumen sind! Du kommst gerade zur rechten Zeit, um sie alle in Blüte zu sehen. Der Apfelbaum, der Feigenbaum und die Reben sind voller reifer Früchte wie sonst nie, und den Granatapfelbaum habe ich stützen müssen, so beladen sind seine Äste mit wohlgeformten Früchten, wie man sie selten um diese Zeit sieht.
Dann die Oliven . . . Öl wirst du im Überfluß haben. Die Bäume haben wunderbar geblüht, und keine Blüte ist verloren gegangen. Alle sind jetzt schon kleine Oliven. Wenn sie reif sind, wird der Baum aussehen, als ob er voller schwarzer Perlen sei. Kein Garten in ganz Nazaret ist so schön wie der deinige. Auch die Verwandten sind ganz erstaunt. Und Alphäus sagt, das sei ein Wunder.«
»Dein Fleiß hat das geschafft.«
»O nein! Ich armer Mensch soll das gemacht haben? Ich habe ein wenig die Bäume gepflegt und den Blumen ein wenig Wasser gegeben . . . Weißt du? Ich habe dir hinten bei der Grotte einen Brunnen gemacht, mit einem Becken. So brauchst du nicht hinauszugehen, um Wasser zu holen. Ich habe es von der Quelle hergeleitet, die sich über dem Olivengarten des Matthias befindet. Das Wasser fließt dort rein und reichlich. Ein kleines Bächlein habe ich dir zugeleitet. Ich habe eine gutgedeckte Rinne angelegt, und jetzt fließt das Wasser und singt wie eine Harfe. Es hätte mir leid getan, hättest du zur Quelle des Dorfes gehen und dich mit vollen Krügen beladen müssen.
«
»Ich danke dir, Josef! Du bist so gut!«
Die beiden Eheleute schweigen jetzt vor Müdigkeit, und Josef schlummert sogar ein. Maria betet.
Es kommt der Abend. Die Gastgeber bestehen darauf, daß die beiden vor der Abreise noch etwas essen. Josef ißt auch tatsächlich Brot und Fisch; Maria nur Früchte und Milch.
Dann gehen sie. Josef hat auf seinem Esel wie bei der Herreise das Gepäck Marias befestigt; bevor Maria ihr Lasttier besteigt, achtet er darauf, daß der Sattel festsitzt. Ich sehe, wie Josef Maria beobachtet, als sie in den Sattel steigt. Aber er sagt nichts. Die Reise beginnt unter dem Aufleuchten der ersten Sterne am Himmelsgewölbe.
Sie beeilen sich, um noch zu den Toren zu gelangen, bevor sie geschlossen werden. Während sie Jerusalem verlassen und die Landstraße nach Galiläa nehmen, werden die Sterne immer zahlreicher am klaren Himmel. Ein großes Schweigen liegt über der Landschaft.
Man hört nur Nachtigallen singen und das Getrippel der Hufe der beiden Esel auf dem harten Boden der vom Sommer ausgebrannten Straße.

41 »Wenn Josef weniger heilig gewesen wäre, hätte Gott ihm sein Licht nicht gewährt«

Maria sagt:
»Es ist der Vorabend des Gründonnerstag. Manch einem wird diese Vision unangebracht erscheinen. Aber dein Liebesschmerz über meinen gekreuzigten Jesus ist in deinem Herzen und bleibt dort, auch wenn eine liebliche Vision sich zeigt.
Sie ist wie eine milde Wärme, die von einer Flamme ausgeht, die noch Feuer und doch nicht mehr Feuer ist. Feuer ist die Flamme, nicht ihre Wärme, die nur ihr Ergebnis ist. Keine selige oder friedvolle Vision ist imstande, dir diesen Schmerz vom Herzen zu nehmen. Behüte ihn sorgfältiger als dein Leben! Denn es ist das größte Geschenk, das Gott jemandem machen kann, der an seinen Sohn glaubt.
Außerdem steht meine Vision in ihrem Frieden nicht im Gegensatz zu den Feiern dieser Woche.
Auch mein Josef hatte seine Passionszeit [Mt 1,18–25]; sie begann in Jerusalem, als ihm mein Zustand klar wurde. Und sie dauerte tagelang, wie für Jesus und für mich. Und es war kein geringer seelischer Schmerz. Nur wegen der Heiligkeit des Gerechten, meines Bräutigams, verlief sie in einer Weise, die so würdig und geheim war, daß sie im Laufe der Jahrhunderte wenig Beachtung gefunden hat.
Oh! Wie schmerzlich war unsere erste Passionszeit! Wer könnte ihre tiefe, stille Intensität beschreiben! Wer meinen Schmerz, da ich feststellen mußte, daß der Himmel mich noch nicht erhört und mein Geheimnis noch nicht enthüllt hatte; daß Josef es nicht kannte, sah ich an seinem Verhalten mir gegenüber, das wie üblich war.
Wenn er gewußt hätte, daß ich in mir das Wort Gottes trug, hätte er dieses in meinem Schoß verschlossene Wort mit Akten der Verehrung, wie sie Gott gebühren, angebetet; er hätte sie nicht unterlassen, ebenso wie ich mich nicht geweigert hätte, sie entgegenzunehmen, nicht für mich, sondern für den, den ich in mir trug, so wie die Bundeslade die steinernen Tafeln und die Gefäße mit Manna in sich barg.
Wer kann meinen Kampf gegen die Niedergeschlagenheit beschreiben, die mich überwältigen wollte, um mich zu überzeugen, daß ich vergeblich auf den Herrn gehofft hatte? Oh! Ich glaube, es war die Wut Satans! Ich fühlte, wie der Zweifel hinter meinen Schultern auftauchte und mit seinen kalten langen Krallen meine Seele zu umklammern und zu halten versuchte, um sie vom Gebet fernzuhalten.
Zweifel ist gefährlich, ja tödlich für den Geist. Tödlich, weil der Zweifel der erste Ausdruck der tödlichen Krankheit ist, die „Verzweiflung“
heißt. Gegen sie muß der Geist sich mit aller Kraft wehren, um nicht seelisch zugrunde zu gehen und Gott zu verlieren.
Wer kann den Schmerz Josefs wahrheitsgetreu beschreiben, seine Gedanken und die Verwirrung seiner Gefühle? Wie eine kleine, von einem großen Sturm ergriffene Barke befand er sich in einem Wirbel sich widersprechender Gedanken, in einem Netz peinlicher und grausamer Überlegungen, eine schmerzhafter als die andere. Er war ein Mann, der dem Schein nach von seiner Frau verraten worden war. Er sah seinen guten Namen und die Achtung in der Welt zusammenbrechen; er stellte sich schon vor, daß man ihretwegen mit Fingern auf ihn zeigen und ihn im ganzen Ort bedauern würde. Er sah seine Liebe und Hochachtung zu mir zu Tode getroffen durch die Offensichtlichkeit der Tatsache.
Seine Heiligkeit erstrahlt hier noch erhabener als die meine. Und ich gebe dies Zeugnis mit meiner Liebe als Frau, weil ich will, daß ihr ihn liebt, meinen Josef, diesen weisen und klugen, diesen geduldigen und guten Menschen, der vom Geheimnis der Erlösung nicht ausgeschlossen ist, sondern mit ihm aufs innigste verbunden ist, denn er litt den Schmerz für das Geheimnis und verzehrte sich selbst dafür, er rettete euch den Erlöser durch den Preis seines Opfers und seiner großen Heiligkeit. Wäre er weniger heilig gewesen, so hätte er menschlich gehandelt und mich als Ehebrecherin verklagt, damit ich gesteinigt würde, und die Frucht meiner Sünde mit mir zugrunde ginge. Wäre er weniger heilig gewesen, so hätte ihm Gott das Licht der Erleuchtung in dieser Prüfung nicht geschenkt.
Aber Josef war heilig. Sein reiner Geist lebte in Gott. Die Liebe in ihm war glühend und stark. Und durch diese Liebe rettete er euch den Erlöser, da er mich nicht bei den Ältesten verklagte; und später ließ er in bereitwilligem Gehorsam alles zurück, um Jesus nach Ägypten zu führen und zu retten. Wenig der Zahl nach, aber furchtbar in der Intensität waren die drei Tage der Passion Josefs, die auch die meine war. Meine erste Passion. Obwohl ich seinen Schmerz kannte, konnte ich ihn in keiner Weise davon befreien aus Gehorsam gegenüber dem Beschluß Gottes, der mir gesagt hatte: „Schweige!“
Und als wir in Nazaret angekommen waren und ich sah, wie er nach einem kurzen Gruß wegging, gebeugt und wie in kurzer Zeit gealtert, und abends nicht mehr zu mir kam, wie es sonst seine Gewohnheit war: ich sage euch, meine Kinder, mein Herz weinte in heftigem Schmerz. Eingeschlossen in meinem Haus, allein, im Haus, wo mich alles an die Verkündigung und Menschwerdung erinnerte, und an Josef, der in einer unversehrten Jungfräulichkeit mit mir verlobt war, mußte ich der Entmutigung widerstehen, den Einflüsterungen Satans, und hoffen, hoffen und hoffen. Und beten, beten und beten. Und verzeihen, verzeihen und verzeihen, dem Verdacht Josefs, dem Aufwallen seiner scheinbar berechtigten Entrüstung. Kinder: man muß hoffen, beten und verzeihen, um die Gnade zu erhalten, daß Gott zu unseren Gunsten eingreift. Auch ihr habt eure Passion durchzumachen. Ihr verdient sie wegen eurer Sünden. Ich lehre euch, wie man sie durchsteht und in Freude umwandelt. Hofft ohne Maß! Betet ohne Mißtrauen! Verzeiht, um Verzeihung zu erhalten!
Die Vergebung Gottes wird der Friede sein, nach dem ihr strebt, meine Kinder.
Weiteres möchte ich jetzt nicht sagen. Bis nach dem Ostertriumph wird Schweigen herrschen. Es ist Passionszeit. Habt Mitleid mit eurem Erlöser! Hört sein Klagen, zählt seine Wunden und Tränen; jede einzelne ist für euch geflossen, für euch ist alles gelitten worden. Jede andere Vision soll verschwinden vor dieser Erinnerung an die Erlösung, die für euch vollzogen wurde.«

42 Maria von Nazaret spricht sich mit Josef aus

Nach 53 Tagen zeigt die Mutter sich wieder mit der folgenden Vision, die ich nach ihrer Anweisung in dieses Buch einfügen soll. Die Freude erneuert sich in mir.
Denn Maria sehen, heißt Freude besitzen.
Ich sehe also das Gärtlein von Nazaret. Maria spinnt im Schatten eines dicht belaubten Apfelbaums, der voll beladen ist mit Früchten, die sich zu röten beginnen und rosig und rund wie Kinderbäcklein sind.
Aber Maria ist es durchaus nicht rosig zumute. Die schöne Farbe, die ihre Wangen in Hebron belebte, ist verschwunden. Ihr Antlitz ist bleich wie Elfenbein. Nur die Lippen zeichnen einen Bogen von bleichem Korall. Unter den gesenkten Wimpern liegen zwei dunkle Schatten, und die Augenränder sind geschwollen wie bei jemand, der geweint hat. Ich sehe ihre Augen nicht, denn ihr Haupt ist nach vorne geneigt. Ihre Aufmerksamkeit ist auf ihre Arbeit gerichtet und mehr noch auf betrübliche Gedanken, denn ich höre sie seufzen wie jemand, der im Herzen schmerzlich leidet. Sie ist weiß gekleidet, in weißes Linnen; es ist sehr warm, obwohl die noch volle Frische der Blumen mir sagt, daß es Morgen sein muß. Ihr Haupt ist unbedeckt, und die Sonne, die mit dem von einem leichten Wind bewegtem Blätterwerk des Apfelbaumes spielt und wie mit Lichtbündeln bis zur braunen Erde der Blumenbeete vordringt, zeichnet Lichtkreise auf ihr blondes Haupt, und die Haare leuchten dort wie Dukatengold.
Vom Haus her dringt kein Geräusch, ebensowenig von den benachbarten Gärten. Man hört nur das Murmeln eines kleinen Wasserrinnsals, das hinten im Garten in ein Becken plätschert.
Ein kräftiges Klopfen an der Außentür des Hauses läßt Maria auffahren.
Sie legt Spinnrocken und Spindel nieder und geht, um zu öffnen. Wenn auch ihr Gewand noch so locker und weit ist, es gelingt ihm nicht vollständig, die Rundung des Leibes zu verbergen.
Vor ihr steht Josef. Maria erbleicht bis zu den Lippen. Jetzt gleicht ihr Antlitz einer Hostie, so blutleer ist es. Maria schaut ihn an mit einem traurigen, fragenden Blick. Josef sieht sie an mit fast flehenden Augen. Schweigend schauen sie sich an. Maria öffnet den Mund: »Zu dieser Stunde, Josef? Brauchst du etwas? Was willst du mir sagen?
Komm!«
Josef tritt ein und schließt die Tür. Er spricht noch nicht.
»Sprich, Josef! Was willst du von mir?«
»Dein Verzeihen.« Josef beugt sich nieder, als wollte er niederknien.
Aber Maria, sonst immer so zurückhaltend, ihn zu berühren, faßt ihn entschlossen bei den Schultern und hindert ihn daran. Die Farbe im Antlitz Marias wechselt ständig. Bald ist sie ganz rot, bald schneeweiß wie vorher. »Mein Verzeihen! Ich habe dir nichts zu verzeihen, Josef. Ich kann dir immer nur danken für alles, was du hier drinnen während meiner Abwesenheit getan hast, und für die Liebe, die du mir entgegenbringst.«
Josef schaut sie an, und ich sehe, wie sich zwei große Tränen in der Höhlung seiner tiefen Augen bilden; sie stehen wie auf dem Rand eines Gefäßes und rollen dann über Wangen und Bart. »Verzeih, Maria!
Ich habe dir mißtraut. Jetzt weiß ich [Mt 1,19–24].
Ich bin nicht würdig, einen solchen Schatz zu besitzen. Ich habe gegen die Liebe gefehlt, ich habe dich in meinem Herzen angeklagt.
Ich habe dich ungerechterweise angeklagt, denn ich habe dich nicht nach der Wahrheit gefragt. Ich habe gegen das Gesetz Gottes gefehlt, weil ich dich nicht geliebt habe, wie ich mich selbst geliebt hätte . . . «
[Lev 19,18].
»Oh! Nein! Du hast nicht gefehlt!«
»Doch, Maria! Wenn ich eines solchen Fehlers angeklagt worden wäre, hätte ich mich verteidigt. Du jedoch . . . Ich habe dir nicht ermöglicht, dich zu verteidigen, denn ich war daran, Entscheidungen zu treffen, ohne dich zu fragen. Ich habe gegen dich gefehlt, weil ich dich mit meinem Verdacht beleidigt habe. Schon ein Verdacht ist eine Beleidigung, Maria.Wer Verdacht schöpft, versteht nicht. Ich habe dich nicht verstanden, wie ich hätte sollen. Aber um des Schmerzes willen, den ich gelitten habe . . . drei Tage der Qual, verzeih mir, Maria!«
»Ich habe dir nichts zu verzeihen. Im Gegenteil: ich bitte dich um Verzeihung für den Schmerz, den ich dir bereitet habe.«
»O ja, das war ein Schmerz! Welch ein Schmerz! Schau: heute morgen hat man mir gesagt, daß ich um die Schläfen weiß geworden bin, daß ich im Gesicht Falten habe. Um mehr als zehn Lebensjahre bin ich in diesen Tagen älter geworden! Aber warum, Maria, bist du so demütig gewesen, vor mir, deinem Bräutigam, deinen Ruhm zu verbergen, und hast gestattet, daß ich dich verdächtigte?«
Josef kniet nicht mehr, aber er steht so gebeugt da, daß es fast so scheint. Maria legt ihre kleine Hand auf sein Haupt und lächelt.
Sie scheint ihm zu verzeihen und sagt: »Wenn meine Demut nicht vollkommen gewesen wäre, hätte ich nicht verdient, den zu empfangen, der kommt, die Schuld jenes Hochmuts zu tilgen, der den Menschen zugrunde gerichtet hat. Und dann habe ich gehorcht . . . Gott hat diesen Gehorsam von mir verlangt. Er hat mich sehr viel gekostet . . . um deinetwillen, um des Schmerzes willen, den du erlitten hast. Aber ich konnte nur gehorchen. Ich bin die Magd Gottes, und die Diener widersprechen den Anordnungen nicht, die sie erhalten.
Sie führen sie aus, Josef, auch wenn es sie blutige Tränen kostet.«
Maria weint leise, während sie spricht. So still, daß Josef, gebeugt wie er ist, es erst bemerkt, als eine Träne zu Boden fällt.
Da erhebt er das Haupt und – es ist das erste Mal, daß ich ihn dies tun sehe – er nimmt die zarten Hände Marias in seine braunen, starken Hände und küßt die Spitzen der zarten Finger, die wie Pfirsichknospen aus den umschließenden Händen Josefs hervorragen.
»Aber jetzt muß vorgesorgt werden, weil . . . « Josef spricht nicht weiter, sondern blickt auf den Leib Marias. Sie wird purpurrot und setzt sich sogleich, um ihre Körperformen nicht so seinem Blick auszusetzen.
»Es muß schnell etwas geschehen. Ich werde hierherkommen.
Wir werden die Ehe schließen . . . [Mt 1,24] in der kommenden Woche . . . paßt es dir?«
»Alles was du tust, ist gut, Josef. Du bist der Hausherr, ich deine Dienerin.«
»Nein. Ich bin dein Diener. Ich bin der glückliche Knecht meines Herrn, der in deinem Schoß heranwächst. Du bist gebenedeit unter allen Frauen Israels. Heute abend werde ich die Verwandten benachrichtigen und dann . . . wenn ich hier sein werde, werden wir alles vorbereiten für sein Kommen . . . Oh! Wie werde ich Gott in meinem Haus empfangen können? Gott in meinen Armen? Ich werde sterben vor Freude! . . . Ich werde nie wagen, ihn zu berühren! . . . «
»Du wirst es können, wie ich es können werde, durch die Gnade Gottes.«
»Aber du bist Du! Ich bin ein armer Mensch, der ärmste der Söhne Gottes . . . !«
»Jesus kommt für uns Arme, um uns reich zu machen in Gott; er kommt zu uns beiden, denn wir sind die Ärmsten und erkennen an, es zu sein! Freue dich, Josef! Der Stamm Davids hat den erwarteten König, und unser Haus wird prächtiger sein als der Königspalast Salomons; denn hier wird der Himmel sein. Wir werden mit Gott das Geheimnis des Friedens teilen, das die Menschen später kennen werden. Er wird unter uns aufwachsen, und unsere Arme werden die Wiege des heranwachsenden Erlösers sein, und unsere Mühen werden ihm das Brot sichern . . . Oh, Josef, wir werden die Stimme Gottes vernehmen, die „Vater und Mutter“ zu uns sagen wird!
Oh!« . . . Maria weint vor Freude: ein glückliches Weinen!
Und Josef kniet jetzt zu ihren Füßen und weint, das Haupt fast in ihrem weiten Gewand verborgen, das in Falten auf den armen Ziegelboden des Zimmers fällt.
Hier endet die Vision.

43 »Überlaßt dem Herrn die Sorge, euch als seine Diener kundzutun!«

Maria spricht:
»Niemand soll meine Blässe falsch auslegen. Sie entspringt nicht menschlicher Furcht. Menschlich gesehen, hatte ich die Steinigung zu erwarten; aber das war nicht der Grund meiner Furcht. Ich litt wegen der Leiden. Auch der Gedanke, daß er mich verklagen könne, verwirrte mich nicht. Ich befürchtete nur, er könne, wenn er auf Klage bestünde, gegen die Nächstenliebe fehlen. Wenn ich ihn sah, lief mir aus diesem Grund alles Blut zum Herzen. Es war der Augenblick, in dem ein Gerechter die Gerechtigkeit hätte verletzen können, indem er gegen die Liebe fehlte. Und daß ein Gerechter fehlen könnte, er, der nie einen Fehler beging, hätte mir den allergrößten Schmerz verursacht.
Wenn ich nicht bis zum äußersten demütig gewesen wäre, wie ich es Josef gesagt habe, wäre ich nicht würdig gewesen, den in mir zu tragen, der, um den Hochmut im Menschengeschlecht zu tilgen, sich selbst vernichtete: Gott, in der Erniedrigung der Menschwerdung.
Ich habe dir diese Szene gezeigt, von der kein Evangelium berichtet, weil ich die irregeleitete Aufmerksamkeit der Menschen hinlenken wollte auf die wesentlichen Voraussetzungen, um Gott zu gefallen und sein beständiges Kommen in der Seele zu erleben.
Glaube: Josef hat blind an die Worte der himmlischen Botschaft geglaubt. Er bat Gott nur, glauben zu können; denn er war der aufrichtigen Überzeugung, daß Gott gut ist und daß er ihm, der auf den Herrn vertraute, nicht den Schmerz antun würde, verraten, getäuscht und vom Nächsten verspottet zu werden. Er bat Gott nur, mir vertrauen zu können; denn redlich, wie er war, konnte er nicht ohne Schmerzgefühl daran denken, daß andere es nicht seien. Er lebte das Gesetz, und das Gesetz sagt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Wir lieben uns selbst so sehr, daß wir glauben, vollkommen zu sein, auch wenn wir es nicht sind. Warum also aufhören, den Nächsten lieben, bei dem Gedanken, er sei unvollkommen?
Absolute Nächstenliebe! Liebe, die verzeihen kann und verzeihen will. Im voraus verzeihen, indem man im Herzen die Fehler des Nächsten entschuldigt. Augenblicklich verzeihen und alle Milderungsgründe dem Schuldigen zugestehen.
Unbedingte Demut wie die Liebe. Anerkennen, daß man gefehlt hat, wenn auch nur mit dem bloßen Gedanken, und nicht so hochmütig sein, – was noch schlimmer wäre als der vorhergehende Fehler – daß man nicht bekennen will: „Ich habe mich geirrt.“ Außer Gott fehlen alle. Wen gibt es, der da sagen könnte: „Ich fehle nie?“
Noch viel schwieriger ist die Demut, die von den Wundertaten Gottes in uns zu schweigen weiß (wenn es nicht um der Ehre Gottes willen nötig wird, davon zu reden), damit der Nächste, der diese besonderen Gottesgaben nicht besitzt, nicht gedemütigt werde. Wenn er will, ja wenn er will, enthüllt Gott sich selbst in seinem Knecht!
Elisabet sah mich, wie ich war. Mein Bräutigam erkannte, was ich war, als die Stunde der Erkenntnis für ihn gekommen war.
Überlaßt dem Herrn die Sorge, euch als seine Diener kundzutun!
Ihn drängt eine liebevolle Eile dazu; denn jedes Geschöpf, das er erhebt zu einer besonderen Sendung, ist ein neuer Ruhm für seine unendliche Glorie; denn es bezeugt, daß der Mensch so ist, wie Gott ihn haben will: eine geringere Vollkommenheit, die ihren Urheber widerspiegelt. Bleibt im Schatten und im Schweigen, ihr Bevorzugten der Gnade, um die einzigen Worte zu hören, die „Leben“ sind; um würdig zu werden, über euch und in euch die Sonne zu haben, die ewig leuchtet.
Oh, seligstes Licht, du unser Gott, du Freude deiner Knechte, leuchte über diese Knechte, die dir gehören, auf daß sie jubeln in ihrer Demut und dich lobpreisen, dich allein, der du die Stolzen zerstreust, die Demütigen aber, die dich lieben, zur Herrlichkeit deines Reiches erhebst!«

44 Die Verordnung der Volkszählung

Ich sehe das Haus von Nazaret. Die kleine Stube, wo Maria gewöhnlich ihre Mahlzeiten einnimmt. Jetzt arbeitet sie an einer weißen Leinwand. Sie legt ihre Arbeit nieder, um eine Lampe anzuzünden, denn der Abend bricht herein, und sie sieht nicht mehr gut in dem grünlichen Licht, das durch die zum Garten halbgeöffnete Tür hereindringt.
Sie schließt auch die Tür. Ich sehe, daß ihre Schwangerschaft weit fortgeschritten ist. Sie ist aber immer noch sehr schön. Ihr Schritt ist immer noch behend, und lieblich jede Bewegung. Nichts von der Schwerfälligkeit, die man bei den Frauen beobachtet, wenn sie bald ein Kind zur Welt bringen. Nur im Gesicht ist sie verändert.
Jetzt ist sie „die Frau“. Vorher, zur Zeit der Verkündigung, war sie ein junges Mädchen mit einem heiteren, offenen Gesicht: dem Gesicht eines unschuldigen Kindes.
Später, im Haus der Elisabet, zur Zeit der Geburt des Täufers, haben sich ihre Gesichtszüge verfeinert; sie ist durch eine reifere Schönheit gekennzeichnet. Jetzt ist ihr Antlitz abgeklärt, strahlt aber in liebevoller Weise auch eine Würde aus, die in der Mutterschaft den Höhepunkt ihrer Vollkommenheit erreicht.
Sie erinnert nicht mehr an Ihre „Annunziata“ von Florenz, Pater. Als sie noch Kind war, habe ich sie in diesem Werk wiedergefunden. Jetzt ist das Antlitz länglicher und magerer, das Auge sinnender und größer: das Antlitz, das Maria auch im Himmel hat. Denn dort hat sie das Gesicht und das Alter, die sie im Augenblick der Geburt des Erlösers hatte. Es ist die ewige Jugend, die nicht nur die Verwesung des Todes, sondern auch das Verblühen im Lauf der Jahre nicht gekannt hat. Die Zeit hat sie nicht berührt, unsere Königin und Mutter des Herrn, der die Zeit erschaffen hat. In den Qualen der Passion, die für sie schon viel, viel früher angefangen haben, ich möchte sagen, seit Jesus mit der Verkündigung der Frohen Botschaft begann, schien sie gealtert. Aber dieses Altern war wie ein Schleier, den das Leid über ihre unvergängliche Person warf.
Von dem Augenblick an, da sie Jesus als den Auferstandenen sieht, wird sie wieder jenes frische und vollkommene Wesen, das sie vor den Leiden war, als ob sie durch das Küssen der heiligen Wunden den Balsam der Jugendlichkeit getrunken hätte, der das Zerstörungswerk der Zeit und erst recht dasjenige des Leidens zunichte macht. Tatsächlich, auch vor acht Tagen, als ich die Herabkunft des Heiligen Geistes schaute, erschien mir Maria schön, so wunderschön, und plötzlich viel jünger, wie ich oben schon geschrieben habe: „Sie gleicht einem himmelblauen Engel.“ Die Engel kennen kein Alter. Sie sind ewig schön durch ihre ewige Jugend, durch die ewige Gegenwart Gottes, der sich in ihnen widerspiegelt. Die engelhafte Jugendlichkeit Marias: ein himmelblauer Engel, der, sich vollendend, das vollkommene Alter erreicht, das sie mit in den Himmel genommen hat und in alle Ewigkeit in ihrem heiligen verklärten Körper bewahren wird, wenn der Heilige Geist seiner Braut den Ring ansteckt und sie vor aller Augen krönt. Jetzt ist sie nicht mehr verborgen in einer der Welt unbekannten Kammer, allein mit dem Erzengel als alleinigem Zeugen.
Ich habe diese Abschweifung machen wollen, da sie mir notwendig erschien.
Nun kehre ich zurück zur Vision.
Maria ist nun also eine wirkliche „Frau“ geworden, voller Würde und Anmut.
Auch ihr Lächeln hat sich umgewandelt in Milde und Majestät.
Wie ist sie schön!
Josef tritt ein. Er scheint vom Dorf zu kommen, denn er kommt durch die Haustür, nicht von der Werkstatt her. Maria erhebt das Haupt und lächelt ihm zu. Auch Josef lächelt. Aber es scheint, als falle es ihm schwer, wie einem, der Sorgen hat. Maria beobachtet ihn mit fragendem Blick. Dann erhebt sie sich, um Josef den Mantel abzunehmen, faltet ihn und legt ihn auf eine Truhe.
Josef setzt sich an den Tisch, stützt einen Ellbogen darauf und legt den Kopf in die Hand, während er mit der anderen, in Gedanken versunken, immer wieder durch den Bart fährt.
»Hast du Sorgen, die dich plagen?« fragt Maria. »Kann ich dir helfen?«
»Du bist mir immer Trost, Maria; aber jetzt bin ich sehr besorgt um deinetwillen.«
»Um meinetwillen, Josef? Und warum?«
»Ein Erlaß ist an der Synagogentüre angeschlagen worden. Eine Volkszählung aller Bewohner Palästinas ist angeordnet worden, und man muß sich am Herkunftsort einschreiben lassen. Wir müssen nach Betlehem gehen . . . «
»Oh!« unterbricht ihn Maria und legt die Hände auf ihren Schoß.
»Das erschreckt dich, nicht wahr? Es wird mühevoll sein, ich weiß es.«
»Nein, Josef. Es ist nicht das. Ich denke . . . ich denke an die heilige Schrift: Rahel, die Mutter Benjamins und Frau Jakobs, aus dem der Stern hervorgehen wird: der Erlöser [Num 24,17; Gen 35,18–20; 48,7], Rahel ist begraben in Betlehem, von dem es heißt: „Und du Betlehem-Efrata, du bist die kleinste Stadt im Stamme Juda, aber aus dir wird hervorgehen der Herrscher“ [Mi 5,2]. Der Herrscher, der dem Geschlecht David verheißen worden ist! Er wird dort geboren werden . . . «
»Glaubst du . . . glaubst du, daß es schon Zeit ist? Oh! Was sollen wir tun?«
Josef ist völlig verwirrt. Er schaut mit mitleidigen Augen auf Maria.
Sie bemerkt es. Und lächelt, mehr zu sich selbst als zu ihm. Ein Lächeln, das zu sagen scheint: »Er ist ein Mensch, ein gerechter, aber ein Mensch. Und er sieht als Mensch, denkt als Mensch. Habe Erbarmen mit ihm, meine Seele, und lehre ihn mit geistigen Augen zu sehen!« Und ihre Güte drängt sie, ihn zu beruhigen. Sie lügt nicht, aber sie lenkt seinen Kummer ab: »Ich weiß nicht, Josef. Die Zeit ist nahe. Aber könnte der Herr sie nicht verzögern, um dich von dieser Sorge zu befreien? Er vermag alles. Fürchte nichts!«
»Aber die Reise . . . ! Wer weiß, wieviel Volk unterwegs ist! Werden wir eine gute Unterkunft finden? Werden wir zur rechten Zeit wieder zu Hause sein? Und wenn du dort gebären solltest, was machen wir dann? Wir haben kein Haus . . . Wir kennen dort niemanden mehr . . . «
»Fürchte nichts! Alles wird gut gehen. Gott läßt das gebärende Tier einen Zufluchtsort finden. Meinst du, daß er uns nicht einen für seinen Messias finden läßt? Wir vertrauen auf ihn, nicht wahr? Stets vertrauen wir auf ihn. Je größer die Prüfung ist, um so mehr vertrauen wir. Wie zwei Kinder legen wir unsere Hände in seine Vaterhand.
Er führt uns. Wir wollen uns ganz ihm überlassen. Schau, wie er uns bisher mit Liebe geführt hat! Auch der beste Vater könnte es nicht mit größerer Sorgfalt tun. Bleiben wir seine Kinder und seine Diener!
Erfüllen wir seinen Willen! Nichts Böses kann uns zustoßen. Auch dieses Edikt ist sein Wille. Was ist schon ein Kaiser? Ein Werkzeug in der Hand Gottes. Seit der Vater beschlossen hat, dem Menschen zu verzeihen, hat er auch vorausbestimmt, daß sein Christus in Betlehem geboren werde. Sie ist die kleinste Stadt von Judäa; sie war noch nicht, und schon wurde ihr Ruhm verkündet. Damit dieser Ruhm sich bewahrheite und das Wort Gottes nicht Lügen gestraft werde – und das würde geschehen, wenn der Messias anderswo geboren würde – sieh da, ein Mächtiger, weit weg von hier, der uns bezwungen hat und jetzt seine Untertanen kennen will; jetzt, da die Welt im Frieden ist . . . Was bedeutet uns die kleine Mühe, wenn wir an die Schönheit dieses Augenblicks des Friedens denken? Überlege, Josef! Eine Zeit, in der es keinen Haß in der Welt gibt! Kann es eine glücklichere Stunde geben für den Aufgang des Sternes, dessen Licht göttlich und dessen Einwirkung Erlösung ist? Oh! Habe keine Furcht, Josef! Wenn die Wege unsicher sind, wenn das viele Volk die Reise erschwert, werden die Engel uns verteidigen und beschirmen.
Nicht uns: ihren König. Wenn wir keine Unterkunft finden, werden ihre Flügel unser Zelt sein. Nichts Böses kann uns zustoßen; nichts kann uns geschehen: Gott ist mit uns.«
Josef blickt sie an und hört selig zu. Die Falten auf seiner Stirn glätten sich, das Lächeln kehrt zurück. Er erhebt sich ohne Müdigkeit und Sorgen. Er lächelt. »Du Gesegnete, du Sonne meiner Seele! Du Gebenedeite, du verstehst alles im Licht der Gnade zu betrachten, von dem du erfüllt bist. Verlieren wir also keine Zeit, denn wir müssen so rasch wie möglich abreisen und . . . so schnell wie möglich zurückkehren; denn hier ist alles bereit für den . . . für den . . . «
»Für unseren Sohn, Josef. Das muß er in den Augen der Welt sein, denk daran! Der Vater hat seine Ankunft mit Geheimnis umgeben, und wir dürfen den Schleier nicht heben. Er, Jesus, wird es tun, wenn die Stunde gekommen ist . . . «
Die Schönheit des Antlitzes, des Blickes, des Ausdrucks und der Stimme Marias ist unbeschreiblich, als sie das Wort „Jesus“ ausspricht; das ist bereits Verzückung!
Und mit dieser Ekstase endet diese Schau.

45 »Lieben heißt, den Geliebten über Gefühl und Interesse hinaus befriedigen«

Maria spricht:
»Ich brauche nicht viel hinzuzufügen, denn meine Worte sind schon Belehrung.
Ich möchte jedoch die Aufmerksamkeit der Frauen auf folgendes lenken. Gar viele Ehen geraten in Unordnung durch die Schuld der Frauen, die nicht jene Liebe besitzen, die alles ist: Freundlichkeit, Mitleid und Trost dem Gatten gegenüber. Auf dem Mann lastet nicht das körperliche Leiden, das die Frau bedrückt. Aber alle seelischen Sorgen lasten auf ihm. Der Zwang der Arbeit; die Entscheidungen, die zu fällen sind; die Verantwortung gegenüber den Behörden und gegenüber der eigenen Familie . . . Oh, wie viele Dinge lasten doch auf dem Mann! Und wie sehr bedarf auch er des Trostes! Der Egoismus ist oft so groß, daß die Frau dem müden, entmutigten, verkannten und besorgten Mann auch noch die Last ihrer unnützen und vielfach ungerechtfertigten Klagen aufbürdet. All das, weil sie egoistisch ist. Sie liebt nicht.
Lieben heißt nicht, für sich selbst Befriedigung in der Sinnlichkeit und im Gewinn suchen. Lieben heißt, den Geliebten über das Sinnliche und Nützliche hinaus im Geist zu befriedigen; heißt, seinem Geist die Stütze zu sein, die er nötig hat, um seine Flügel offen halten zu können im Himmel der Hoffnung und des Friedens.
Ein anderer Punkt, auf den ich die Aufmerksamkeit lenken möchte.
Ich habe schon darüber gesprochen, aber ich weise immer wieder darauf hin: ich meine das Gottvertrauen. Das Vertrauen faßt die theologischen Tugenden zusammen. Wer Vertrauen hat, beweist damit seinen Glauben. Vertrauen ist Zeichen der Hoffnung. Vertrauen ist auch eine Äußerung der Liebe. Wenn jemand liebt, hofft, an eine Person glaubt, hat er Vertrauen. Sonst nicht. Gott verdient dieses Vertrauen.
Wenn wir es armen Menschen schenken, die fehlen können, warum sollten wir es dann Gott verweigern, der niemals fehlt?
Vertrauen ist auch Demut. Der Stolze sagt: „Ich genüge mir selbst.
Jenem kann ich nicht vertrauen, denn er ist unfähig, lügnerisch, anmaßend . . . “
Der Demütige sagt: „Ich vertraue ihm. Warum sollte ich ihm nicht vertrauen? Warum sollte ich denken, daß ich besser sei als er?“ Und mit noch mehr Recht sagt er von Gott: „Warum sollte ich dem mißtrauen, der gut ist? Weshalb sollte ich denken, daß ich mir selbst genüge?“
Gott schenkt sich dem Demütigen, zieht sich aber vor dem Stolzen zurück.
Vertrauen ist auch Gehorsam. Und Gott liebt den Gehorsamen.
Gehorsam bezeugt, daß wir uns als seine Kinder betrachten und Gott als Vater anerkennen. Und ein Vater kann nur lieben, wenn er ein wahrer Vater ist. Gott ist unser wahrer und vollkommener Vater.
Ein dritter Punkt, den ich euch zu beachten empfehle, ist ebenso auf dem Vertrauen gegründet. Nichts geschieht, ohne daß Gott es zuläßt. Bist du Untergebener? So bist du es, weil Gott es erlaubt hat.
Bist du mächtig? So bist du es, weil Gott es gestattet hat.
Trachte daher, du Mächtiger, aus deiner Macht nicht dein Unglück zu machen! Es wäre immer „dein Schaden“, auch wenn es anfänglich so scheinen könnte, daß es der anderen Übel sei. Wenn Gott etwas erlaubt, so erlaubt er doch nicht alles. Und wenn du das Maß überschreitest, so wird er dich treffen und zerbrechen. Suche deinerseits, du Untergebener, aus diesem deinem Los einen Magnet zu machen, der den göttlichen Schutz anzieht! Und verfluche nie!
Überlasse Gott die Sorgen: ihm allein, dem Herrn aller Menschen, steht das Recht zu, seine Geschöpfe zu segnen und zu verdammen.
Ziehe in Frieden!«

46 Die Reise nach Jerusalem

Ich sehe eine Landstraße. Eine große Menge belebt sie. Esel, beladen mit Hausrat und Personen, kommen und gehen. Die Leute spornen ihre Reittiere an, und die Fußgänger gehen eilig, denn es ist kalt.
Die Luft ist rein und trocken und der Himmel heiter, aber alles hat die scharfen Umrisse der kalten Wintertage. Die abgeernteten und nackten Felder erscheinen größer in ihrer Ausdehnung, und die Weiden haben nur ein kurzes, von den Winterstürmen ausgetrocknetes Gras. Auf diesen Weiden suchen die Schafe ein wenig Nahrung sowie die Sonne, die langsam aufgeht. Sie drängen sich aneinander, denn auch sie spüren die Kälte. Sie blöken und erheben die Mäuler und Blicke zur Sonne, als wollten sie sagen: »Komm schnell, denn es ist kalt!« Der Boden ist wellig, und die Wellen treten immer deutlicher hervor. Eine richtige Hügellandschaft mit grasigen Mulden und Abhängen, Tälern und Bergrücken. Die Straße geht mittendurch, Richtung Südost.
Maria sitzt auf einem grauen Esel, ganz eingewickelt in einen schweren Mantel. Vor dem Sattel ist die Truhe befestigt, die ich schon auf der Reise nach Hebron gesehen habe, und auf dieser befindet sich ein Kästchen mit den notwendigsten Dingen.
Josef geht an der Seite und hält die Zügel. »Bist du müde?« fragt er von Zeit zu Zeit.
Maria schaut ihn lächelnd an und antwortet: »Nein.« Nach dem dritten Mal fügt sie hinzu: »Du wirst müde sein, da du zu Fuß gehst.«
»Oh, ich! Das macht mir nichts aus. Ich denke, wenn ich noch einen zweiten Esel gefunden hätte, hättest du es bequemer gehabt, und wir kämen schneller vorwärts. Aber ich habe keinen mehr gefunden.
Alle brauchen jetzt die Reittiere. Aber Mut! Bald sind wir in Betlehem. Hinter jenem Berg ist Efrata.«
Sie schweigen. Wenn die Jungfrau schweigt, scheint sie sich zum inneren Gebet zu sammeln. In ihre Gedanken versunken, lächelt sie sanft. Sie blickt auf die Menge; doch scheint sie nicht Männer und Frauen, Alte und Hirten, Reiche und Arme zu unterscheiden; sie sieht das, was nur sie sehen kann.
»Hast du kalt?« fragt Josef; denn es hat sich ein Wind erhoben.
»Nein, danke.«
Aber Josef glaubt ihr nicht. Er betastet ihre mit Sandalen bekleideten Füße, die seitlich des Eselchens herabhängen und die man kaum unter dem langen Gewand hervorragen sieht. Sie müssen sich wohl kalt anfühlen, denn er schüttelt den Kopf und nimmt eine Decke, die er sich umgehängt hatte, und wickelt sie um die Beine Marias; er zieht sie auch über den Schoß, so daß die Hände unter Decke und Mantel gut warm bleiben.
Sie begegnen einem Hirten, der mit seiner Herde die Straße überquert, um von einer Weide auf der rechten Seite zu einer auf der linken zu gelangen. Josef wendet sich ihm zu, um ihm etwas zu sagen.
Der Hirte nickt. Josef nimmt den Esel an den Zügeln und zieht ihn hinter der Herde auf die Weide. Der Hirte holt einen einfachen Napf aus der Tasche, melkt ein großes Schaf mit vollem Euter und gibt den Napf Josef, der ihn Maria anbietet.
»Gott segne euch beide!« sagt Maria. »Dich für deine Liebe und dich für deine Güte. Ich werde für dich beten.«
»Kommt ihr von weit her?«
»Von Nazaret«, antwortet Josef.
»Und wohin geht es?«
»Nach Betlehem.«
»Eine weite Reise für eine Frau in diesem Zustand. Ist es deine Frau?«
»Es ist meine Frau.«
»Habt ihr jemanden, der euch Unterkunft geben wird?«
»Nein.«
»Schlimme Sache! Betlehem ist voller Menschen, die von überall her gekommen sind, um sich einschreiben zu lassen, oder auf der Durchreise sind. Ich weiß nicht, ob ihr eine Unterkunft finden werdet.
Kennst du den Ort?«
»Nicht besonders.«
»Nun . . . ich werde dir etwas sagen . . . um ihretwillen (er zeigt auf Maria). Sucht die Herberge! Alles wird besetzt sein. Aber ich sage es euch, damit ihr einen Anhaltspunkt habt: Dort ist ein großer Platz, der größte. Man gelangt auf dieser Landstraße zu ihm. Ihr könnt nicht fehlgehen. Vor der Herberge ist ein Brunnen. Sie ist groß und niedrig, mit einem großen Eingangstor. Sie wird voll sein. Wenn ihr aber in der Herberge und in den Häusern keinen Platz findet, dann geht hinter der Herberge den Feldern zu. Dort sind Ställe im Berg, die den Händlern auf dem Weg nach Jerusalem manchmal dazu dienen, ihre Tiere einzustellen, wenn für diese in der Herberge kein Platz mehr ist. Sie sind feucht und kalt und ohne Türen. Aber sie sind immerhin eine Zuflucht; denn die Frau . . . darf nicht auf der Straße bleiben. Vielleicht findet ihr dort einen Platz . . . und Heu zum Schlafen und für den Esel. Gott möge euch begleiten!«
»Und Gott schenke dir Freude!« erwidert Maria. Josef hingegen sagt: »Der Friede sei mit dir!«
Sie machen sich wieder auf den Weg. Vom Hügel aus, den sie gerade erstiegen haben, sieht man eine breitere Mulde. In der Mulde und an den sanften Abhängen liegen überall Häuser. Das ist Betlehem.
»Sieh, nun sind wir in der Heimat Davids, Maria. Jetzt wirst du ausruhen können. Du scheinst sehr müde zu sein.«
»Nein, ich dachte . . . ich denke . . . « Maria ergreift die Hand Josefs und sagt mit einem seligen Lächeln: »Ich denke, daß gerade jetzt die Zeit gekommen ist.«
»Gott der Barmherzigkeit! Was machen wir?«
»Habe keine Angst, Josef! Sei geduldig! Siehst du, wie ruhig ich bin?«
»Aber du leidest doch wohl sehr.«
»O nein! Ich bin voller Freude. Eine Freude, so groß, so stark, so schön und unfaßbar, daß mein Herz ganz laut schlägt und zu mir sagt: „Er kommt! Er kommt!“ Es sagt dies bei jedem Schlag. Es ist mein Kind, das an mein Herz pocht und spricht: „Mama, ich bin hier und komme, dir den Kuß Gottes zu geben.“ Oh, welch eine Freude, mein Josef!«
Aber Josef ist nicht so freudetrunken. Er denkt an die Dringlichkeit, eine Unterkunft zu finden, und beschleunigt seine Schritte. An jeder Tür fragt er. Alles besetzt. Sie kommen zur Herberge. Diese ist überfüllt bis unter die primitiven Säulengänge, die den großen Innenhof umgeben. Alles voller Leute, die biwakieren.
Josef läßt Maria auf dem Esel drinnen im Hof zurück und geht, um in anderen Häusern zu suchen. Entmutigt kehrt er zurück. Es ist nichts zu finden. Die schnelle winterliche Dämmerung beginnt ihre Schleier auszubreiten. Josef fleht den Gastwirt an. Er bittet Reisende.
Sie sind kräftige und gesunde Männer, und dort ist eine Frau unmittelbar vor der Geburt eines Kindes. Sie sollen doch Mitleid haben.
Nichts. Da ist ein reicher Pharisäer, der mit ganz offenkundiger Verachtung auf sie schaut; und als Maria sich ihm nähert, schüttelt er sich, als ob sie eine Aussätzige wäre. Josef beobachtet ihn, und die Röte des Zorns steigt ihm ins Gesicht. Maria legt ihre Hand auf sein Handgelenk, um ihn zu beruhigen, und sagt: »Bestehe nicht weiter darauf! Laß uns gehen! Gott wird schon sorgen.«
Sie gehen hinaus und folgen der Mauer der Herberge. Dann biegen sie in eine Gasse ein, die zwischen der Herberge und armseligen Häusern liegt. Sie gehen hinter der Herberge weiter und suchen.
Sieh, da finden sie eine Art Grotten; eher Keller als Ställe, so tief gelegen und feucht sind sie. Die schönsten sind bereits belegt. Josef wird mutlos.
»Heh, Galiläer!« ruft ihm ein alter Mann zu. »Dort hinten, unter jener Ruine, dort ist eine Höhle. Vielleicht ist noch keiner darin.«
Sie eilen hin. Es ist wirklich eine Höhle. Zwischen den Resten eines zur Ruine gewordenen Gebäudes ist ein Durchgang. Er führt in eine Grotte, die mehr einem Keller im Berg als einer Grotte gleicht.
Man könnte sagen, es seien die Fundamente des alten Bauwerks, dem als Dach die Trümmer, gestützt von kaum bearbeiteten Baumstämmen, dienen.
Um besser sehen zu können – denn es ist schon beinahe dunkel –
nimmt Josef Zunder und Feuerstein und zündet eine kleine Laterne an, die er aus dem umhängenden Rucksack hervorholt. Er tritt ein und wird mit einem Muhen begrüßt. »Komm, Maria! Sie ist frei. Nur ein Ochse ist da.« Josef lächelt. »Besser als nichts.«
Maria steigt vom Esel und tritt ein.
Josef hat die Laterne an einen Nagel gehängt, welcher in einen der Stützpfeiler geschlagen worden ist. Am Gewölbe sind viele Spinngewebe sichtbar, und der Boden aus festgestampfter Erde ist sehr uneben, voller Löcher, Steine, Abfälle und Schmutz und mit Stroh bedeckt. Im Hintergrund wendet sich der Ochse um und schaut mit seinen ruhigen Augen auf sie; aus seinem Maul hängt Heu. Es befinden sich noch ein plumper Schemel und zwei Steine in einer Ecke bei einer Mauerspalte. Der Ruß in diesemWinkel zeigt, daß sich hier eine Feuerstelle befindet.
Maria nähert sich dem Ochsen. Es ist kalt. Sie legt ihre Hände auf seinen Hals, um sie zu erwärmen. Der Ochse muht und läßt geschehen, als verstände er. Auch als Josef ihn fortdrängt, um viel Heu in die Krippe zu schütten und Maria ein Lager herzurichten, wehrt er sich nicht. Die Krippe besteht aus zwei Teilen: aus dem einen frißt der Ochs, und der andere, darüber, ist eine Art Gestell, in dem sich der Heuvorrat befindet. Diesen letzteren nimmt Josef. Der Ochse macht selbst dem Esel Platz, der müde und hungrig gleich zu fressen beginnt. Josef entdeckt auch einen umgekehrten, ganz verbeulten Eimer. Er geht hinaus, denn draußen hat er ein Bächlein gesehen, und kehrt mit Wasser für den Esel zurück. Dann nimmt er ein Bündel belaubter Zweige und versucht damit, ein wenig den Boden zu reinigen. Hierauf breitet er das Heu aus und macht nahe beim Ochsen an einer trockenen und geschützten Stelle ein Lager.
Aber er merkt, daß es feucht ist, dieses elende Heu . . . Josef seufzt.
Er zündet ein Feuer an und trocknet mit einer Engelsgeduld bündelweise das Heu, indem er es der Wärme entgegenhält.
Maria, die müde auf dem Schemel sitzt, schaut zu und lächelt.
Nun ist das Lager bereit. Maria macht es sich auf dem weichen Heu bequem; sie lehnt den Rücken an einen Baumstamm. Josef vervollständigt . . . die Einrichtung, indem er seinen Mantel wie einen Vorhang vor die Öffnung hängt. Ein sehr dürftiger Schutz. Dann bietet er der Jungfrau Brot und Käse an und reicht ihr Wasser aus einer Feldflasche. »Schlafe jetzt!« sagt er. »Ich werde wachen, damit das Feuer nicht erlischt. Zum Glück gibt es hier Holz. Hoffen wir, daß es reicht und gut brennt! So werde ich das Öl für die Lampe sparen können.«
Maria legt sich gehorsam hin, und Josef bedeckt sie mit ihrem Mantel und mit der Decke, in die vorher ihre Füße eingewickelt waren.
»Aber du . . . wirst kalt haben.«
»Nein, Maria, ich bleibe beim Feuer. Versuche, dich auszuruhen.
Morgen wird es besser gehen.«
Maria schließt die Augen, ohne weiter darauf zu bestehen. Josef zieht sich in seinen Winkel zurück und setzt sich auf den Schemel neben die dürren Zweige. Es sind nur wenige. Sie werden wohl nicht lange reichen können.
Die Lage ist die folgende: Maria befindet sich zur Rechten, mit dem Rücken gegen den Eingang und halb verdeckt vom Pfosten und vom Ochsen, der sich niedergelegt hat. Josef ist zur Linken und schräg zur Tür, mit dem Gesicht zum Feuer und dem Rücken zu Maria.
Er wendet sich allerdings bisweilen um, um nach ihr zu schauen, und er sieht, daß sie ruhig liegt, als ob sie schliefe. Er zerbricht leise seine Zweiglein und wirft sie eines nach dem anderen ins Feuerchen, damit es nicht erlösche, Licht spende und das wenige Holz ausreiche.
Die Lampe ist ausgelöscht worden, und im Halbdunkel stechen nur die Helle des Ochsen und das Gesicht und die Hände Josefs hervor.
Der Rest versinkt im grauen Halbdunkel und ist nicht mehr zu unterscheiden.
»Es gibt kein Diktat«, sagt Maria. »Die Vision spricht für sich selbst. Es liegt an euch, daraus die Lehre der Liebe, Demut und Reinheit zu ziehen. Ruhe aus, indem du wachst, wie ich wachte, als ich Jesus erwartete! Er wird kommen, um dir seinen Frieden zu bringen.«

47 Die Geburt Jesu, unseres Herrn

Ich sehe wieder das Innere dieser armen, steinigen Zufluchtsstätte, wo Maria und Josef, das Los der Tiere teilend, Unterkunft gefunden haben.
Das Feuerchen schlummert zusammen mit seinem Wächter. Maria hebt leise ihr Haupt vom Lager und schaut sich um. Sie sieht Josef, der mit dem bis auf die Brust gesunkenen Haupt dasitzt, als ob er nachdenke. Sie erkennt, daß die Müdigkeit stärker war als sein guter Wille, und lächelt gütig. Nun setzt sie sich auf, darum bemüht, so wenig Geräusche als möglich zu verursachen – selbst ein Falter könnte sich nicht lautloser auf einer Rose niederlassen – und geht dann von der sitzenden Stellung in die kniende über, um mit einem glücklichen Lächeln auf dem Antlitz zu beten. Sie betet mit offenen Armen; nicht in Kreuzesform, sondern die Arme erhoben und nach vorne gerichtet, und die Handflächen nach oben geöffnet. Sie scheint nicht müde zu werden in dieser unbequemen Haltung. Dann beugt sie sich ganz tief nach vorne, bis sie mit ihrem Gesicht das Heu berührt, und verharrt so in einem innigen, sehr langen Gebet.
Josef schüttelt sich. Er sieht, daß das Feuer fast erstorben und der Stall fast dunkel ist. Er wirft eine Handvoll feinen Heidekrauts hinein, und die Flamme flackert wieder auf; nun legt er größere Zweige hinzu, dann noch größere, denn es beginnt, empfindlich kalt zu werden. Die Kälte dieser heiteren Winternacht dringt von allen Seiten in die Ruine ein. Der arme Josef, so nahe an der Tür – nennen wir so das Loch, über dem sein Mantel hängt – muß vor Kälte fast erstarrt sein. Er hält die Hände an die Flamme, löst die Sandalen und streckt auch die Füße zum Feuer hin. So erwärmt er sich. Sobald das Feuer gut brennt und sein Licht verbreitet, dreht er sich um. Aber er sieht nichts; nicht einmal den hellen Schleier von Maria, der sich erst wie ein heller Streifen vom dunklen Heu abhob. Er richtet sich auf und nähert sich der Lagerstätte.
»Schläfst du, Maria?« fragt er. Dreimal muß er fragen, bis sie sich bewegt und antwortet: »Ich bete.«
»Benötigst du nichts?«
»Nein, Josef.«
»Versuche etwas zu schlafen; wenigstens etwas auszuruhen!«
»Ich werde es versuchen. Aber beten ermüdet mich nicht.«
»Gott sei mit dir, Maria!«
»Und auch mit dir, Josef!«
Maria nimmt wieder ihre frühere Stellung ein. Josef wirft sich neben dem Feuer auf die Knie, um nicht wieder dem Schlaf zu verfallen, und betet. Er betet mit den Händen vor dem Gesicht. Bisweilen entfernt er sie, um das Feuer zu schüren; dann kehrt er wieder zu seinem inständigen Gebet zurück. Abgesehen von dem Geräusch der Holzstücke, die im Feuer prasseln, und dem des Esels, der dann und wann mit einem Huf auf den Boden schlägt, hört man nichts.
Ein feiner Mondstrahl dringt durch einen Spalt in der Decke und scheint wie eine körperlose, silberne Klinge Maria zu suchen. Sie wird mit dem Höhersteigen des Mondes immer größer, so daß sie schließlich das Haupt der Betenden erreicht und es mit einem strahlenden Glanz umgibt.
Maria hebt das Haupt, wie einer himmlischen Stimme folgend, und wirft sich von neuem auf die Knie. Oh! Wie schön ist sie jetzt!
Ihr Haupt scheint im weißen Licht des Mondes zu strahlen, und ein übernatürliches Lächeln verklärt sie. Was sieht sie? Was hört sie?
Was empfindet sie? Nur sie allein könnte sagen, was sie sieht, hört und empfindet in der leuchtenden Stunde ihrer Mutterschaft. Ich sehe nur, daß um sie herum das Licht stärker und immer stärker wird.
Es scheint vom Himmel zu kommen; es scheint von den ärmlichen Dingen rings um sie herum auszugehen; es scheint vor allem, daß sie selbst es ist, die es ausstrahlt.
Ihr dunkelblaues Gewand erscheint jetzt im milden Himmelsblau des Vergißmeinnichts. Die Hände und das Gesicht werden bläulich, wie unter dem Licht eines riesigen, bleichglühenden Saphirs. Diese Farbe erinnert mich, auch wenn sie zarter ist, an jene, die ich in den Visionen des heiligen Paradieses und auch bei der Ankunft der Weisen gesehen habe. Immer mehr breitet sie sich aus über die Gegenstände und Kleider und läutert sie und gibt ihnen ihren Glanz.
Immer mehr strömt dieses Licht vom Körper Marias aus. Es scheint, daß sie alles Licht anzieht, das vom Himmel kommt. Nunmehr ist sie selbst die Verwalterin des „Lichtes“. Sie, die dieses Licht der Welt geben soll. Es ist das beseligende, unbezwingbare, unermeßliche, ewige, göttliche Licht, das jetzt gegeben wird und das sich ankündet durch eine Morgendämmerung, einen Morgenstern, einen Chor von Lichtatomen, die anwachsen, wachsen wie eine Meeresflut, die steigen, aufsteigen wie Weihrauch, die herniederfallen wie ein Strom und sich ausbreiten wie ein Schleier . . .
Die Decke voller Risse, Spinngewebe, hervorspringender Trümmer, die in der Schwebe hängen wie ein statisches Wunder, rauchgeschwärzt und abstoßend, erscheint nun wie das Gewölbe eines königlichen Saals. Jeder Stein wirkt wie ein silberner Block, jeder Riß wie das Schimmern eines Opals, jedes Spinngewebe wie ein kostbarer Baldachin, durchwirkt mit Silber und Diamanten. Eine große Eidechse, die sich zwischen zwei Felsstücken im Winterschlaf befindet, scheint ein Smaragd zu sein, der dort von einer Königin vergessen wurde, und eine Traube von schlafenden Fledermäusen sieht aus wie ein kostbarer Leuchter von Onyx. Das Heu, das von der höheren Krippe herabhängt, ist kein Gras mehr: es sind Fäden aus reinem Silber, die in der Luft mit der Anmut aufgelöster Haare zittern.
Die darunterliegende Krippe in ihrem groben Holz ist ein Block von gebräuntem Silber geworden. Die Wände sind bedeckt mit einem Brokat, in dem der Glanz der weißen Seide unter den perlfarbigen Verzierungen verschwindet. Und der Boden? . . . Was ist aus dem Boden geworden? Ein von weißem Licht erhellter Kristall. Die Buckel sind wie Lichtrosen, die als Ehrenbezeigung auf den Boden gestreut wurden, und die Löcher wie kostbare Kelche, aus denen Wohlgerüche aufsteigen.
Das Licht wird stärker und stärker. Es wird für das Auge unerträglich.
In ihm verschwindet, wie von einem weißglühenden Lichtschleier verhüllt, die Jungfrau . . . und kommt aus ihm hervor als die Mutter.
Ja, als das Licht für meine Augen wieder erträglich wird, sehe ich Maria mit ihrem neugeborenen Sohn auf den Armen. Ein Kindlein, rosig und mollig, das sich bewegt und mit seinen Händchen – groß wie Rosenknospen – herumfuchtelt und mit seinen Füßlein zappelt, die im Herzen einer Rose Platz hätten. Es wimmert mit einem zitternden Stimmlein, gerade wie ein eben geborenes Lämmlein, und zeigt beim Öffnen des Mündleins, das klein wie eine Walderdbeere ist, ein gegen den Gaumen zitterndes Zünglein. Ein Kindlein, das sein Köpfchen bewegt, das die Mutter in ihrer hohlen Hand hält, während sie ihr Kindlein betrachtet und anbetet, weinend und freudig zugleich. Sie neigt sich, um es zu küssen, nicht auf das unschuldige Haupt, sondern tiefer, mitten auf die Brust, dort, wo das Herzchen schlägt . . . ja, für uns schlägt . . . dort, wo eines Tages die Wunde sein wird. Sie heilt sie schon im voraus, die Wunde; sie, die Mutter, mit ihrem unbefleckten Kuß.
Der vom Lichtglanz geweckte Ochse erhebt sich mit großem Lärm der Hufe und einem lauten Muhen. Der Esel wendet seinen Kopf und schreit sein »Iah!«. Das Licht, das sie verwundert, hat sie geweckt; aber ich denke lieber, daß sie ihren Schöpfer haben grüßen wollen, in ihrem Namen und in dem aller Tiere.
Auch Josef, der wie verzückt innig betet, so daß er all dem entzogen schien, was ihn umgab, kommt nun zu sich und sieht durch die vor das Gesicht gehaltenen Finger das eigenartige Licht durchscheinen, hebt den Kopf und dreht sich um. Der stehende Ochse verbirgt Maria. Aber sie ruft: »Josef, komm!« Josef eilt hin . . . aber, als er sieht, was geschehen ist, hält er von Ehrfurcht überwältigt inne und will auf die Knie fallen. Aber Maria wiederholt: »Komm, Josef!« und stützt sich mit der Linken auf das Heu, während sie mit der Rechten das Kind an ihr Herz drückt; sie erhebt sich und geht Josef entgegen, der sich verlegen nähert, hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen hinzugehen und der Furcht, unehrerbietig zu sein.
An der Lagerstätte begegnen sich die beiden Verlobten und blicken sich an in seligem Weinen.
»Komm, wir wollen Jesus dem Vater aufopfern!« sagt Maria.
Und während Josef niederkniet, hält Maria, die aufrecht zwischen den beiden das Gewölbe tragenden Pfosten steht, ihr Kind in die Höhe und spricht: »Hier bin ich. Für ihn, o Gott, sage ich dir diese Worte: „Sieh, hier bin ich, deinen Willen zu tun. Und mit ihm, ich, Maria, und Josef, mein Bräutigam. Sieh, o Herr, deine Diener!
Möge an uns immer und in jeder Stunde dein Wille geschehen zu deiner Ehre und aus Liebe zu dir.“« Dann neigt sich Maria und sagt: »Nimm, Josef!« und bietet ihm das Kind an.
»Ich? Mir? O nein! Ich bin nicht würdig!« Josef ist verwirrt, vernichtet bei dem Gedanken, Gott zu berühren.
Maria aber besteht lächelnd auf ihrem Wort: »Du bist dessen wohl würdig. Niemand mehr als du, und deswegen hat der Allerhöchste dich erwählt. Nimm, Josef, und halte es, während ich die Windeln hole!«
Josef, rot wie Purpur, streckt die Hände aus, nimmt das Bündelchen Fleisch, das vor Kälte schreit, und nachdem er es einmal in den Armen hat, verharrt er nicht weiter in seiner Absicht, es aus Ehrfurcht weit von sich zu halten; er drückt es an sein Herz und sagt unter reichlichen Tränen: »Oh! Herr! Mein Gott!« Und er beugt sich, um die Beinchen zu küssen. Er fühlt ihre Kälte und setzt sich daher zu Boden, nimmt das Kind in seinen Schoß und sucht es mit seinem braunen Gewand und seinen Händen zu bedecken, zu erwärmen und zu schützen vor der bitteren Kälte der Nacht. Er möchte zum Feuer gehen, aber da ist die Zugluft, die durch die Tür eindringt.
Lieber hier bleiben. Besser noch ist es, zwischen die beiden Tiere zu gehen, die einen Schild bilden gegen die Zugluft und Wärme ausstrahlen. So begibt er sich zwischen Ochs und Esel und stellt sich mit dem Rücken gegen die Türöffnung, über den Neugeborenen gebeugt, um aus seiner Brust eine Muschel zu machen, deren Seitenwände ein grauer Kopf mit langen Ohren und ein großes weißes Maul mit dampfenden Nüstern und feuchten, gutmütigen Augen sind. Maria hat die Truhe geöffnet und ihr Tücher und Windeln entnommen. Sie ist ans Feuer gegangen und hat sie erwärmt. Nun kommt sie zu Josef und wickelt das Kind in die gewärmte Leinwand und dann in ihren Schleier, um sein Köpfchen gegen die Kälte zu schützen.
»Wo legen wir es jetzt hin?« fragt sie.
Josef schaut umher und denkt nach . . . »Warte!« sagt er. »Treiben wir die beiden Tiere samt ihrem Heu hinüber, und nehmen wir das Heu von oben herunter, und legen wir es da hinein! Das Holz der Krippenwand wird es vor der Zugluft schützen; das Heu kann ihm als Kissen dienen; und der Ochse wird es mit seinem Atem etwas erwärmen . . . besser der Ochse, er ist geduldiger und ruhiger.« Josef macht sich an die Arbeit, während Maria ihr Kindlein in den Schlaf wiegt, indem sie es fest an ihr Herz drückt und ihre Wange an sein Köpfchen hält, um ihm Wärme zu spenden.
Josef schürt das Feuer; ohne zu sparen legt er auf, um eine schöne Flamme zu haben; er erwärmt das Heu und legt es unter seinen Mantel, damit es nicht wieder erkalte, und als er soviel beisammen hat, daß er ein Maträtzchen für das Kindlein daraus bilden kann, geht er zur Krippe und legt es wie in einer Wiege zurecht. »Fertig«, sagt er. »Jetzt brauchen wir noch eine Decke, denn das Heu sticht, und auch, um es zuzudecken . . . «
»Nimm meinen Mantel«, sagt Maria.
»Du wirst kalt haben!«
»Oh! Das macht nichts! Die Decke ist zu rauh. Der Mantel ist warm und weich. Ich fühle durchaus keine Kälte. Nur daß Er nicht mehr darunter leide!«
Josef nimmt den weiten Mantel aus dunkelblauer, weicher Wolle, legt ihn doppelt genommen über das Heu und läßt einen Zipfel über die Krippe herunterhängen. Das erste Bettlein für den Erlöser ist bereit.
Die Mutter bringt ihn mit ihrem anmutigen, wiegenden Schritt herbei, legt ihn nieder, bedeckt ihn mit den Zipfeln des Mantels und hüllt auch das nackte Köpfchen ein. Nur das Gesichtchen bleibt unbedeckt.
Die beiden beugen sich über die Krippe und betrachten selig das Kindlein, wie es seinen ersten Schlaf schläft; die sanfte Wärme der Windeln und des Heus haben die Tränen versiegen und den süßen Jesus einschlafen lassen.

48 »Ich, Maria, habe die Frau mit meiner göttlichen Mutterschaft erlöst«

Maria spricht:
»Ich habe dir versprochen, daß er kommen werde, um dir seinen Frieden zu bringen. Erinnerst du dich an den Frieden, den du während der Weihnachtstage verspürt hast, als du mich mit meinem Kind sahst? Das war deine Zeit des Friedens.
Jetzt ist deine Zeit des Leidens. Aber du weißt es ja: im Leiden erringt man den Frieden und jede Gnade für uns und für den Nächsten. Jesus-Mensch war wieder Jesus-Gott nach dem entsetzlichen Leiden der Passion. Der Friede war wieder in ihm. Der Friede im Himmel, von dem er ja gekommen war und von wo er jetzt seinen Frieden auf jene ausgießt, die ihn in der Welt lieben. Aber in den Stunden der Passion war er, der Friede der Welt, dieses Friedens beraubt. Er hätte nicht gelitten, wenn er ihn gehabt hätte. Er mußte aber leiden; er mußte alles erleiden.
Ich, Maria, habe die Frau durch meine göttliche Mutterschaft erlöst.
Aber das war nur der Anfang der Erlösung der Frau. Da ich jeder menschlich-ehelichen Bindung durch das Gelübde der Jungfräulichkeit entsagte, habe ich jeder Befriedigung der Begierden entsagt und so bei Gott Gnade erworben. Aber das genügte noch nicht.
Denn die Sünde Evas war ein Baum mit vier Ästen: Hochmut, Habsucht, Gaumenlust und Wollust. Alle vier wurden abgeschnitten, bevor der Baum von der Wurzel her unfruchtbar gemacht wurde.
Indem ich mich bis auf den Grund verdemütigte, habe ich den Hochmut besiegt. Ich habe mich vor allen verdemütigt. Ich spreche nicht von meiner Demut vor Gott. Diese ist jedes Geschöpf Gott schuldig. Sein „Wort“ besaß sie. Auch ich mußte sie haben als Frau.
Aber hast du jemals darüber nachgedacht, welchen Demütigungen von seiten der Menschen ich mich unterziehen mußte, ohne mich in irgendeiner Weise zu verteidigen?
Auch Josef, der ein Gerechter war, hatte mich in seinem Herzen angeklagt.
Die anderen, die nicht gerecht waren, sündigten durch ihre Urteile über meinen Zustand, und das Gemurre ihrer Worte kam mir zu Ohren wie eine bittere Welle, die an meiner Menschheit zerbrach.
Und das waren die ersten der unzählbaren Demütigungen, die mein Leben als Mutter Jesu und des Menschengeschlechts mit sich brachte.
Demütigungen der Armut, Demütigungen der Flucht, Demütigungen durch Vorwürfe von seiten der Verwandten und Freunde, die, weil sie die Wahrheit nicht kannten, meine Haltung gegenüber meinem Jesus, als er zum jungen Mann heranwuchs, als Schwäche bezeichneten. Demütigungen während der drei Jahre seines öffentlichen Wirkens; grauenvolle Demütigungen während der Stunden auf dem Kalvarienberg; Demütigungen bis zum Eingestehen müssen, daß ich nichts besaß, um ein Grab und wohlriechende Öle für das Begräbnis meines Sohnes anzuschaffen.
Ich habe die Habsucht der Stammeltern besiegt, da ich im voraus auf mein Kind verzichtete. Eine Mutter verzichtet nie auf ihr Kind, es sei denn, daß sie dazu gezwungen wird. Wird es ihrem Herzen vom Vaterland, von der Liebe einer Braut oder von Gott selbst abverlangt, so wehrt sie sich gegen die Trennung. Das ist natürlich. Das Kind wächst in ihrem Schoß heran, und das Band, das ihre Person mit der seinen verknüpft, wird niemals vollständig durchgeschnitten.
Wenn auch die Nabelschnur des Lebens getrennt ist, es bleibt immer noch ein Nerv, der vom Herzen der Mutter ausgeht, ein geistiger Nerv, lebendiger und empfindlicher als ein physischer Nerv, der sich überträgt aufs Herz des Sohnes. Und sie fühlt das Zerren an diesem Nerv bis zur schmerzlichen Qual, wenn die Liebe zu Gott oder zu einem Menschen oder die Erfordernisse des Vaterlandes ihr den Sohn entreißen. Und das Herz der Mutter zerreißt förmlich, wenn ihr der Tod einen Sohn nimmt.
Ich habe auf meinen Sohn verzichtet vom Augenblick an, da ich ihn empfing. Ich habe ihn Gott gegeben. Euch habe ich ihn gegeben.
Ich habe mich der Frucht meines Leibes entäußert, ohne große Überlegungen anzustellen.
Ich habe die Begierde nach Genuß überwunden, weil ich mir jeden Sinnengenuß versagt habe. Mein Fleisch habe ich mir unterworfen.
Das Fleisch, das Werkzeug Satans, habe ich zusammen mit Satan unter meine Ferse genommen, um mir daraus einen Schemel zu machen und dem Himmel näher zu sein. Der Himmel! Mein Ziel!
Dort, wo Gott ist. Das war mein einziger Hunger. Nicht ein Hunger des Gaumens, sondern eine segensreiche Sehnsucht nach Gott, der wünscht, daß wir nach ihm verlangen.
Ich habe die Wollust besiegt. Sie ist eine bis zur Gier getriebene Lust. Denn jedes ungezügelte Laster führt zu einem noch größeren Laster. Die Gaumenlust Evas, an sich schon verwerflich, führte zur Gier, zur Unzucht. Es genügte ihr nicht mehr, sich selbst zufriedenzustellen.
Sie wollte ihren Fehler bis zu einer ausgesuchten Intensität treiben und machte sich zur Lehrmeisterin der Wollust ihrem Gefährten gegenüber. Ich habe das Gegenteil getan; statt zu fallen, bin ich immer aufgestiegen; statt herabzuziehen, habe ich immer in die Höhe gehoben. Aus meinem Gefährten, der ein Gerechter war, habe ich einen Engel gemacht.
Und nun war ich im Besitz Gottes, im Besitz Jesu, und mit ihm hatte ich seine unendlichen Schätze. Und eiligst habe ich mich entäußert und gesagt: „Sieh, durch ihn und an ihm geschehe dein Wille!“
Keusch ist derjenige, der sich zurückhält, nicht nur dem Fleisch nach, sondern auch der Neigung und dem Gedanken nach. Ich mußte die Keusche sein, um die Unzüchtige dem Fleisch, dem Herzen und dem Geist nach zunichte zu machen. Ich trat nicht aus meiner Zurückhaltung hervor und sprach nicht von meinem Sohn: „Einzig mir gehörst du auf Erden, wie du im Himmel nur Gott gehörst. Du gehörst mir und ich will dich.“
Und dennoch genügte das noch nicht, um der Frau den Frieden zu erlangen, den Eva verloren hatte. Ich erlangte ihn zu Füßen des Kreuzes, wo ich den sterben sah, den du zur Welt kommen sahst.
Als mein Inneres gleichsam zerriß beim Todesschrei meines Sohnes, blieb ich frei von aller Weiblichkeit: ich war nicht mehr Fleisch, sondern Engel. Maria, die dem Geist vermählte Jungfrau, starb in diesem Augenblick. Es blieb zurück die Mutter der Gnade, die aus ihren Qualen die Gnade gebar und sie euch gegeben hat. Das Weib, das ich in der Weihnachtsnacht wieder zur echten Frau geweiht hatte, erwarb zu den Füßen des Kreuzes die Mittel, Kind des Himmels zu werden.
Das habe ich für euch getan, indem ich mir jede Befriedigung, auch eine heilige, versagte. Aus euch, von Eva erniedrigten Frauen, erniedrigt bis auf die Stufe der Partnerinnen des Tierreichs, habe ich, sofern ihr es wollt, Heilige Gottes gemacht. Ich bin emporgestiegen für euch. Wie Josef, habe auch ich euch höher gehoben. Der Fels vom Kalvarienberg ist mein Ölberg. Dort habe ich mich emporgeschwungen, um die wieder geheiligte Seele der Frau zusammen mit meinem Fleisch in den Himmel zu tragen, verherrlicht, weil ich das Wort Gottes getragen und in mir auch die letzte Spur Evas vernichtet hatte; die letzte Wurzel jenes Baumes mit seinen vier vergifteten Zweigen.
Sie hatte die Menschheit zu Fall gebracht, und sie wird bis zum Ende der Zeiten und bis zur letzten Frau euer Fleisch quälen. Von dort, wo ich jetzt im Strahl der Liebe erglänze, rufe ich euch und zeige ich euch die Arznei, mit der ihr euch selbst besiegen könnt: die Gnade meines Herrn und das Blut meines Sohnes.
Und du, meine Stimme, laß deine Seele ruhen im Licht der Morgendämmerung Jesu, um Kraft zu schöpfen für die künftigen Kreuzigungen, die dir nicht erspart bleiben; denn hier wollen wir dich haben, und hierher gelangt man nur durch das Leiden; denn hier wollen wir dich haben, wo man um so höher steigt, je mehr man gelitten hat, um Gnade für die Welt zu erhalten. Geh in Frieden, ich bin mit dir!«

49 Die Anbetung der Hirten

Ich sehe ein weites Feld. Der Mond steht im Zenit und segelt friedlich durch einen mit Sternen besäten Himmel. Dieser gleicht einem riesigen, mit zahllosen Diamanten geschmückten Baldachin aus dunkelblauem Samt. Und mittendrin lacht der Mond mit seinem runden weißen Gesicht, von dem sich Ströme von milchweißem Licht auf die Erde ergießen. Die kahlen Bäume scheinen höher und schwärzer auf dem lichtüberfluteten Boden, während die Mäuerchen, die sich hier und da als Grenze erheben, milchig weiß sind; ein Haus in der Ferne ähnelt einem Block aus Carrara-Marmor.
Zu meiner Rechten sehe ich einen Platz, der auf zwei Seiten von einer Dornhecke und auf den anderen beiden von einer niederen, holprigen Mauer umgeben ist. Diese Mauer stützt das Dach einer Art langen, niedrigen Schuppens, der innerhalb des Geheges teils Mauerkonstruktion, teils Holzwerk aufweist, als wenn zur Sommerszeit die Holzteile entfernt würden und so der Schuppen in eine offene Säulenhalle umgewandelt würde. Aus diesem geschlossenen Gehege ertönt von Zeit zu Zeit ein kurzes Geblöke. Es müssen Schafe sein, die träumen oder vielleicht wegen der Helle, die der Mond verbreitet, glauben, der Tagesanbruch sei schon nah. Es ist ein ungewöhnliches Licht, das gleichsam zunimmt, als ob der Trabant sich der Erde nähere oder infolge eines geheimnisvollen Brandes funkle.
Ein Hirte erscheint am Eingang; er hält einen Arm über die Stirn, um die Augen zu schützen, und schaut in die Höhe. Es scheint ihm unmöglich, daß man sich gegen die Helle des Mondes schützen muß. Aber sie ist so außerordentlich stark, daß sie blendet; besonders wenn man aus einem finsteren Raum kommt. Alles ist ruhig.
Aber das Licht ist erstaunlich. Der Hirte ruft seine Gefährten. Sie werden alle am Eingang sichtbar; eine Schar Männer verschiedenen Alters mit struppigen Haaren. Einige sind kaum dem Kindesalter entwachsen, andere schon ergraut. Sie machen ihre Bemerkungen über diese eigenartige Erscheinung; die jüngeren haben Angst; besonders einer, ein Knabe von zwölf Jahren. Er beginnt zu weinen und setzt sich so dem Spott der älteren aus.
»Wovor fürchtest du dich, du Dummkopf?« sagt der Älteste zu ihm. »Siehst du nicht, wie ruhig die Luft ist! Hast du noch nie den Mond leuchten sehen? Du bist immer am Schürzenzipfel deiner Mutter gehangen, wie die Küken sich unter der Henne verstecken, nicht wahr? Du wirst noch Dinge kennenlernen! Einmal bin ich bis zu den Bergen des Libanon vorgedrungen und noch weiter. Hoch hinauf.
Ich war noch jung, und das Gehen machte mir keine Mühe.
Ich war auch reich, damals . . . Auf einmal sah ich ein solches Licht, daß ich glaubte, Elija wolle wiederkommen auf seinem Feuerwagen [2 Kön 2,11]. Der Himmel war ganz in Flammen. Ein Alter – jetzt ist er selbst alt – sagte zu mir: „Es nähert sich ein großes Ereignis.“ Für uns war es ein Unglück, denn es kamen die Soldaten aus Rom. Oh!
Du wirst noch viel erleben, wenn . . . «
Aber der Hirtenknabe hört schon nicht mehr zu. Es scheint, daß er auch keine Angst mehr hat; denn er verläßt die Schwelle und schlüpft hervor hinter dem Rücken eines starken Schafhirten, hinter den er sich geflüchtet hatte, und begibt sich auf den grasigen Platz vor dem Schuppen. Er schaut in die Höhe und geht wie ein Nachtwandler oder wie einer, der im Bann von irgend etwas steht, was ihn vollkommen gefangennimmt. Plötzlich schreit er: »Oh!«, und bleibt mit halbgeöffneten Armen wie angewurzelt stehen. Die anderen blicken sich erstaunt an.
»Was hat denn dieser dumme Junge?« fragt einer.
»Morgen schicke ich ihn zu seiner Mutter zurück. Ich will keinen Verrückten zum Hüten meiner Schafe«, sagt ein anderer.
Aber der Alte, der kurz vorher gesprochen hat, sagt: »Sehen wir nach, bevor wir urteilen! Ruft auch die anderen, die noch schlafen, und holt die Stöcke! Vielleicht ist es ein wildes Tier, oder Straßenräuber sind in der Nähe . . . «
Sie gehen hinein, rufen die anderen Hirten, kommen dann mit Fackeln und Knüppeln heraus und gehen zum Knaben.
»Dort, dort«, murmelt er lächelnd. »Dort über dem Baum! Schaut, welch ein Licht da kommt! Es scheint, als ob es auf den Strahlen des Mondes herabgleite. Seht, es nähert sich! Oh, wie schön ist es!«
»Ich sehe nur einen helleren Schein.«
»Ich auch.«
»Auch ich«, sagen die anderen.
»Nein, ich sehe etwas wie einen Körper«, sagt einer, in dem ich den Hirten erkenne, der Maria die Milch gegeben hat.
»Es ist ein . . . Engel!« schreit der Knabe. »Seht, er kommt herab und nähert sich . . . nieder auf die Knie vor dem Engel Gottes!«
Ein langes und ehrfurchtsvolles »Oh!« steigt aus der Gruppe der Hirten auf, die, das Gesicht zu Boden gerichtet, niederfallen; und je älter sie sind, um so mehr scheinen sie von der leuchtenden Erscheinung beeindruckt. Die Jüngeren sind auf den Knien, schauen aber auf den Engel, der immer näher kommt. Nun schwebt er ruhig über der Umfriedungsmauer und bewegt die großen, perlfarbigen Flügel, die weiß schimmern im milchigen Mondlicht.
»Fürchtet euch nicht! Ich bringe kein Unheil. Ich bringe euch die Kunde einer großen Freude für das Volk Israel und für alle Völker der Erde.« Die Stimme des Engels ist wie ein Harfenklang, vermischt mit dem Gesang von Nachtigallen.
»Heute ist in der Stadt Davids der Erlöser geboren!« Bei dieser Ankündigung öffnet der Engel seine Flügel noch mehr und bewegt sie wie in einem plötzlichen Aufwall der Freude, und ein Funkenregen von Gold und kostbaren Steinen scheint von ihm auszugehen: ein wahrer Regenbogen, der sich wie ein Triumphbogen über den armseligen Stall wölbt.
». . . der Heiland, der Christus ist.« Der Engel schwebt in immer größerem Glanz. Seine beiden Flügel bewegen sich nicht mehr und sind mit ihren Spitzen zum Himmel gerichtet, wie zwei unbewegliche Segel auf dem Saphirblau des Meeres; sie gleichen zwei Flammen, die brennend emporlodern.
». . . Christus, der Herr!« Der Engel zieht seine beiden leuchtenden Flügel ein und hüllt sich in sie ein wie in ein Überkleid aus diamantenen Perlen; er beugt sich wie zur Anbetung nieder, die Arme kreuzweise über dem Herzen; sein Antlitz neigt sich über die Brust und verschwindet unter den Spitzen der zusammengefalteten Flügel. Während der Dauer eines Gloria sieht man nichts mehr als eine längliche, unbewegliche Lichtgestalt.
Doch jetzt bewegt er sich wieder. Er öffnet die Flügel, erhebt das leuchtende Antlitz, und Licht fällt darauf und vereinigt sich mit seinem paradiesischen Lächeln. Er sagt: »Daran werdet ihr es erkennen: in einem armen Stall hinter Betlehem werdet ihr ein Kindlein finden, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend; denn für den Messias war kein Platz in der Stadt.« Bei diesen Worten wird der Engel ernst, ja traurig.
Aber vom Himmel kommen nun viele – oh, wie viele – viele Engel, die ihm ähnlich sind: eine Leiter von Engeln, die jubelnd herabsteigen und den Mond mit ihrem paradiesischen Licht übertreffen; sie versammeln sich um den Verkündigungsengel, indem sie die Flügel schlagen und Wohlgerüche ausströmen, und im Wohlklang von Tönen, in denen die schönsten Stimmen der Schöpfung in der höchsten Vollkommenheit widerhallen. Wenn die Materie in der Farbe zu Licht wird, so ist hier die Melodie ein Aufklingen der Schönheit Gottes für die Menschen. Diese Melodie hören heißt, das Paradies kennenlernen, wo alles Harmonie der Liebe ist, die von Gott ausstrahlt, um die Seligen zu beglücken, und von diesen zu Gott zurückkehrt, um ihm zu sagen: »Wir lieben dich!«
Das „Gloria“ des Engels breitet sich in immer größeren Wellen über die ruhige Landschaft aus, und mit ihm das Licht; und die Vögel stimmen in den Gesang ein, um dieses frühe Licht zu begrüßen, und die Schafe beginnen mit ihrem Geblöke zu diesem vorzeitigen Sonnenlicht. Aber wie schon im Stall bei Ochs und Esel, glaube ich lieber, daß die Tiere ihren Schöpfer begrüßen, der mitten unter ihnen erschienen ist, um sie nicht nur als Gott, sondern auch als Mensch zu lieben.
Der Gesang wird schwächer, ebenso das Licht, während die Engel wieder zum Himmel aufsteigen. Die Hirten kommen langsam zu sich.
»Hast du gehört?«
»Sollen wir hingehen, um nachzusehen?«
»Und die Tiere?«
»Oh, es wird ihnen nichts geschehen! Gehen wir, um dem Wort Gottes zu gehorchen! . . . «
»Aber wohin sollen wir gehen?«
»Hat er nicht gesagt, daß er heute geboren worden ist? Und daß er keine Unterkunft in Betlehem gefunden hat?«
Nun ergreift der Hirt, der die Milch gegeben hat, das Wort: »Kommt, ich weiß, wo wir ihn finden. Ich habe die Frau gesehen und hatte Mitleid mit ihr. Ich habe ihnen den Ort bezeichnet, denn ich dachte mir, daß sie keine Unterkunft finden würden; und dem Mann habe ich Milch für sie gegeben. Sie ist sehr jung und schön, und sie muß gut sein wie der Engel, der zu uns gesprochen hat.
Kommt, kommt, nehmen wir Milch, Käse, Lämmer und gegerbte Felle mit. Sie müssen sehr arm sein, und . . . wer weiß, wie sehr jener frieren muß, dessen Name ich nicht auszusprechen wage. Und wenn ich daran denke, daß ich zu seiner Mutter geredet habe, wie zu einer armen Ehefrau! . . . «
Sie gehen in ihren Unterschlupf und kommen kurz darauf wieder heraus: der eine mit Krügen voller Milch, der andere mit rundem Käse in einem geflochtenen Netz, ein dritter mit einem blökenden Lämmlein in einem Korb und wieder ein anderer mit gegerbten Schaffellen.
»Ich bringe ein Schaf. Es hat vor einem Monat ein Junges bekommen und hat jetzt gute Milch. Es wird ihnen nützlich sein, wenn die Frau keine Milch hat. Sie schien mir noch ein Kind, und sie war so blaß! . . . Ein Antlitz wie Jasmin im Mondschein«, sagt der Hirte mit der Milch. Und er führt das Schaf mit sich.
Sie gehen im Mondlicht und im Schein der Fackeln, nachdem sie Schuppen und Hürde verschlossen haben. Sie gehen auf Feldwegen, zwischen Dornenhecken, die der Winter geplündert hat. Sie gehen um Betlehem herum und sie kommen zum Stall. Aber nicht von der Seite, von der Josef und Maria gekommen waren, sondern von der entgegengesetzten, so daß sie nicht an den schöneren Stallungen vorüberkommen, sondern gleich auf die gesuchte Unterkunft stoßen.
Sie nähern sich ihr.
»Geh hinein!«
»Ich wage es nicht!«
»Dann geh du!«
»Nein.«
»So schau wenigstens!«
»Du, Levi, der du den Engel zuerst gesehen hast, ein Zeichen, daß du besser bist als wir, schau du!« Vorher hatten sie ihn verrückt gescholten; nun aber möchten sie, daß er wagt, was sie selbst nicht wagen.
Der Knabe zögert erst; dann faßt er Mut. Er nähert sich der Öffnung, hebt ein wenig den vorgehängten Mantel, schaut . . . und bleibt entzückt stehen.
»Was siehst du?« fragen sie ihn ängstlich mit leiser Stimme.
»Ich sehe eine junge, schöne Frau und einen Mann, der über eine Krippe gebeugt ist, und höre . . . höre ein Kindlein weinen, und die Frau spricht zu ihm mit einer Stimme . . . Oh! welch eine Stimme!«
»Was sagt sie?«
»Sie sagt: „Jesus, kleiner Jesus! Du Liebe deiner Mutter! Weine nicht, mein Söhnlein!“ Sie sagt: „Oh! Könnte ich zu dir sagen: Nimm die Milch, mein Kleiner! Aber ich habe noch keine.“ Sie sagt: „Du hast so kalt, meine Liebe! Und dich sticht das Heu. Welch ein Schmerz für deine Mutter, dich so weinen zu hören und dir nicht helfen zu können!“ Sie sagt: „Schlafe, meine Seele! Denn mein Herz zerspringt, wenn ich dich weinen höre und deine Tränen sehe!“ Und sie küßt es und wärmt ihm gewiß mit ihren Händen die Füßchen; denn sie steht gebeugt und hat die Hände in der Krippe.«
»Rufe! Mach dich bemerkbar!«
»Ich nicht. Du, der du uns geführt hast und sie schon kennst.«
Der Hirte öffnet den Mund und beschränkt sich darauf zu stöhnen.
Josef wendet sich um und kommt an die Tür.
»Wer seid ihr?«
»Hirten. Wir bringen euch Speisen und Wolle. Wir kommen, den Erlöser anzubeten.«
»Tretet ein.«
Sie gehen hinein, und der Stall wird vom Licht der Fackeln erhellt.
Die Alten schieben die Jungen vor sich her.
Maria wendet sich um und lächelt. »Kommt!«, sagt sie. »Kommt!«
Und sie lädt sie mit der Hand und mit ihrem Lächeln ein und nimmt den, der den Engel gesehen hat, bei der Hand und führt ihn zur Krippe. Und der Knabe schaut selig hinein.
Die anderen, von Josef aufgefordert, kommen mit ihren Geschenken näher und legen sie mit bewegten Worten zu Füßen Marias nieder; dann schauen sie auf das Kindlein, das leise weint, und lächeln gerührt und selig.
Und einer, der beherzter als die anderen ist, sagt: »Nimm, o Mutter!
Sie ist weich und sauber. Ich habe sie für das Kind, das mir bald geboren wird, vorbereitet. Aber ich gebe sie dir. Lege deinen Sohn in diese Wolle, sie ist weich und warm!« Er bietet ihr ein Schaffell an. Es ist ein sehr schönes Fell mit reicher, weißer und langhaariger Wolle.
Maria nimmt Jesus und wickelt ihn ein. Sie zeigt ihn den Hirten, die auf den mit Stroh bedeckten Boden niederknien und ihn voller Entzücken betrachten.
Sie werden nun mutiger, und einer schlägt vor: »Man sollte ihm einen Schluck Milch geben; besser noch Wasser und Honig. Aber wir haben keinen Honig. Er tut den ganz Kleinen gut. Ich habe sieben Kinder und weiß . . . «
»Hier ist die Milch. Nimm sie, o Frau!«
»Aber sie ist kalt. Sie muß warm sein. Wo ist Elija? Er hat das Schaf.«
Elija muß der Hirte mit der Milch sein. Aber er ist nicht da. Er ist draußen stehengeblieben und schaut durch den Spalt hinein; im Dunkel der Nacht sieht man ihn nicht.
»Wer hat euch hierhergeführt?«
»Ein Engel hat uns gesagt, wir sollen kommen, und Elija hat uns hierher geführt. Aber wo ist er jetzt?«
Das Schaf verrät ihn mit seinem Blöken.
»Komm herein, man braucht dich!«
Nun tritt er mit seinem Schaf ein, beschämt, im Mittelpunkt zu stehen.
»Du bist es?« sagt Josef, der ihn wiedererkennt; und Maria lächelt ihm zu und sagt: »Du bist gütig.«
Sie melken das Schaf, und mit der Spitze eines in die warme und schäumende Milch getauchten linnenen Tüchleins benetzt Maria die Lippen des Kindleins, das die süße Sahne einsaugt. Alle freuen sich, und ihre Freude wächst noch an, als Jesus mit dem Linnenzipfel zwischen den kleinen Lippen in der warmen Wolle einschläft.
»Aber hier könnt ihr nicht bleiben! Es ist feucht und kalt hier. Und dann . . . hier riecht es zu stark nach Tieren. Das ist nicht gut . . . und schickt sich nicht für unseren Heiland.«
»Ich weiß es«, sagt Maria mit einem tiefen Seufzer. »Aber es ist kein Platz für uns in Betlehem.«
»Sei getrost, Frau, wir werden dir ein Haus suchen.«
»Ich werde es meiner Herrin sagen«, versichert derjenige mit der Milch, Elija. »Sie ist gut. Sie wird euch aufnehmen, selbst wenn sie ihr Zimmer räumen müßte. Sobald es Tag ist, werde ich es ihr sagen.
Ihr Haus ist voller Menschen; aber sie wird euch ein Plätzchen geben.«
»Wenigstens für mein Kind! Josef und ich, wir können auf dem Boden schlafen. Aber für den Kleinen . . . «
»Seufze nicht, Frau! Ich werde mich darum kümmern. Und wir werden vielen verkünden, was uns gesagt worden ist. Es wird euch an nichts fehlen. Für jetzt nehmt das, was unsere Armut euch geben kann. Wir sind Hirten . . . «
»Auch wir sind arm. Und wir können es euch nicht vergelten«, sagt Josef.
»Oh, wir wollen nichts! Auch wenn ihr könntet, würden wir nichts nehmen. Der Herr hat es uns schon vergolten. Er hat allen den Frieden versprochen. Die Engel sagten: „Friede den Menschen guten Willens!“ Und uns hat er ihn schon gegeben, denn der Engel hat gesagt, daß dieses Kind der Erlöser ist, der Christus, der Herr. Wir sind arme und unwissende Schäfer; aber wir wissen, daß die Propheten sagen, der Erlöser werde der Friedensfürst sein [Jes 9,6], und man hat uns gesagt, wir sollen hingehen und Ihn anbeten. Daher hat Er uns seinen Frieden gegeben. Ehre sei Gott in der Höhe, und Ehre diesem kleinen Gesalbten; und gebenedeit bist du, Frau, die du Ihn geboren hast! Heilig bist du, denn du bist würdig gewesen, Ihn zu tragen! Befiehl uns als Königin, denn wir werden glücklich sein, dir zu dienen. Was können wir für dich tun?«
»Meinen Sohn lieben und stets im Herzen die Gedanken hegen, die ihr jetzt habt.«
»Aber für dich? Für dich willst du nichts? Hast du keine Verwandten, denen du melden möchtest, daß er geboren ist?«
»Ja, ich hätte solche. Aber sie sind nicht in der Nähe. Sie leben in Hebron . . . «
»Ich gehe hin«, sagt Elija. »Wer sind sie?«
»Zacharias, der Priester, und Elisabet, meine Base.«
»Zacharias? Oh, den kenne ich gut. Im Sommer gehe ich dort auf die Berge, denn die Weiden sind reich und grün, und ich bin mit seinen Hirten befreundet; sobald ich dich wohlversorgt weiß, gehe ich zu Zacharias.«
»Danke, Elija.«
»Nichts zu danken. Es ist eine große Ehre für mich, den armen Hirten, zum Priester zu gehen und ihm zu sagen: „Der Erlöser ist geboren.“«
»Nein, du wirst sagen: „Maria von Nazaret, deine Base, hat gesagt, daß Jesus geboren ist, und bittet dich, nach Betlehem zu kommen.“«
»So werde ich es sagen.«
»Gott vergelte es dir! Ich werde deiner gedenken, euer aller . . . «
»Wirst du deinem Kind von uns erzählen?«
»Ja, das werde ich.«
»Ich bin Elija.«
»Und ich Levi.«
»Und ich Samuel.«
»Und ich Jona.«
»Und ich Tobias.«
»Und ich Jonatan.«
»Und ich Daniel.«
»Und ich Simeon.«
»Und ich heiße Johannes.«
»Ich heiße Josef und mein Bruder Benjamin; wir sind Zwillinge.«
»Ich werde mich eurer Namen erinnern.«
»Wir müssen gehen . . . Aber wir kommen wieder . . . Und wir werden andere mitbringen zur Anbetung . . . «
»Wie kann man zur Herde zurückkehren und dieses Kind verlassen?
«
»Ehre sei Gott, der es uns gezeigt hat!«
»Laß uns sein Kleid küssen!« sagt Levi mit einem engelhaften Lächeln.
Maria nimmt Jesus vorsichtig aus der Krippe, und auf dem Heu sitzend, hält sie die in Leinwand eingehüllten Füßlein hin zum Kuß.
Die Hirten verneigen sich und küssen die in Leinwand gewickelten Füßlein. Wer einen Bart hat, streicht ihn vorher zurecht, und fast alle weinen. Als sie schließlich aufbrechen, gehen sie rückwärts hinaus . . .
und lassen ihr Herz zurück . . .
So endet meine Vision, mit Maria, die auf dem Heu sitzt, das Kind im Schoß, und Josef, der, einen Arm auf die Krippe gestützt, betrachtet und anbetet.

50 »In den Hirten finden sich alle Eigenschaften der wahren Anbeter des Wortes«

Jesus sagt:
»Heute spreche ich. Du bist sehr müde, aber habe noch ein wenig Geduld! Es ist der Vorabend des Fronleichnamsfestes. Ich könnte dir von der Eucharistie sprechen und von den Heiligen, die Apostel ihres Kultes waren. Aber ich will von etwas anderem sprechen, von einer Kategorie von Anbetern meines Leibes, die die Vorläufer der Apostel des „Herzens Jesu“ waren.
Es sind die Hirten. Sie sind die ersten Anbeter meines Leibes, des fleischgewordenen Wortes. Einmal habe ich es dir schon gesagt, und auch meine Kirche sagt, daß die „Unschuldigen Kinder“ die ersten Märtyrer Christi sind.
Jetzt sage ich dir noch, daß die Hirten die ersten Anbeter des Göttlichen Leibes gewesen sind. In ihnen finden sich alle Eigenschaften der wahren Anbeter meines heiligen Leibes: der eucharistischen Seelen.
Fester Glaube: Sie glauben bereitwillig und blindlings dem Engel.
Hochherzigkeit: Sie geben all ihr Besitztum dem Herrn.
Demut: Armen, die menschlich gesehen noch ärmer sind als sie selbst, nähern sie sich in bescheidener Art und Weise, die nicht beschämt; sie bekennen sich als ihre Diener.
Verlangen: Was sie nicht selbst geben können, suchen sie mit dem Verkünden der Heilsbotschaft und mühevoller Arbeit zu erreichen.
Gehorsamsbereitschaft: Maria wünscht die Benachrichtung des Zacharias, und Elija geht sofort. Er verliert keine Zeit.
Liebe schließlich: Sie können sich von der Krippe nicht trennen, und du sagst: „Sie lassen dort ihre Herzen zurück.“ Das ist gut gesagt.
Aber müßte man sich nicht auch so meinem Sakrament gegenüber verhalten?
Und noch etwas anderes; aber ich sage es nur für dich allein: beachte, an wen sich der Engel zuerst wendet, und wer gewürdigt wird, die Herzlichkeit Marias zu spüren: der Knabe Levi. Wer eine kindliche Seele hat, dem zeigt sich Gott, dem zeigt er seine Geheimnisse und erlaubt ihm, die Worte Gottes und Marias zu vernehmen; und wer eine kindliche Seele besitzt, hat auch die heilige Kühnheit Levis und sagt: „Laß mich das Gewand Jesu küssen!“ Er sagt es zu Maria. Denn Maria ist es immer, die euch Jesus gibt. Sie ist die Trägerin der Eucharistie. Sie ist das lebendige Ziborium.
Wer zu Maria geht, findet mich. Wer mich erbittet bei ihr, erhält mich durch sie. Das Lächeln meiner Mutter, wenn ein Geschöpf ihr sagt: „Gib mir deinen Jesus, damit ich ihn lieben kann“, läßt die Himmel in hellerem Glanz der Freude erstrahlen, so glücklich ist sie.
Darum sage ihr: „Laß mich das Gewand Jesu küssen; laß mich seine Wunden küssen.“ Und wage noch mehr, sage ihr: „Laß mich mein Haupt an das Herz deines Jesu legen, damit ich dort meine Glückseligkeit finde.“
Komm und ruhe dich aus! Wie Jesus in der Wiege, zwischen Josef und Maria.«

51 Der Besuch des Zacharias

Ich sehe den weiten Raum, in dem ich die Begegnung der Weisen mit Jesus und ihre Anbetung gesehen habe. Ich verstehe, daß ich in dem gastlichen Haus bin, in dem die Heilige Familie aufgenommen wurde. Und ich erlebe die Ankunft des Zacharias.
Elisabet ist nicht da. Die Hausherrin geht über die bedeckte Terrasse hinaus, dem ankommenden Gast entgegen, führt ihn zu einer niedrigen Tür und klopft an. Dann zieht sie sich diskret zurück.
Josef jubelt, als er Zacharias sieht. Er läßt ihn in ein kleines Zimmer, eine Art Gang, treten: »Maria stillt gerade ihr Kind. Warte einen Augenblick! Setze dich, denn du wirst müde sein!« Er macht dem Gast auf seinem Lager Platz und setzt sich neben ihn.
Ich höre, wie Josef nach dem kleinen Johannes fragt, und Zacharias antwortet: »Er wächst kräftig heran wie ein kleines Füllen. Aber jetzt hat er etwas Zahnweh, deswegen haben wir ihn nicht mitnehmen wollen. Es ist sehr kalt. Daher ist auch Elisabet nicht gekommen.
Sie wollte ihn nicht ohne Milch lassen. Sie ist betrübt darüber; aber die Jahreszeit ist so rauh.«
»Es ist wirklich sehr kalt«, antwortet Josef.
»Der Mann, den ihr mir geschickt habt, sagte mir, daß ihr bei der Geburt kein Haus gefunden habt. Wer weiß, was ihr habt ausstehen müssen.«
»Ja, es war schwer! Aber unsere Angst war größer als das Ungemach.
Wir befürchteten, daß es dem Kind schaden könnte; wir mußten die ersten Tage dort verbringen. Aber es fehlte uns an nichts, denn die Hirten verkündeten die Frohbotschaft den Bewohnern von Betlehem, und viele kamen mit Geschenken. Aber es fehlte ein Haus, ein geschütztes Zimmer, ein Bett . . . und Jesus weinte oft, besonders während der Nacht, wegen des Windes, der überall eindrang. Ich machte etwas Feuer, aber nur selten, denn der Rauch reizte das Kind zum Husten . . . und die Kälte blieb. Zwei Tiere wärmen nur wenig, besonders dort, wo es von allen Seiten hereinbläst. Es fehlte warmes Wasser, um ihn zu waschen; es fehlte trockene Wäsche zum Wechseln.
Oh! Er hat viel gelitten! Und Maria litt, weil sie ihn leiden sah.
Auch ich habe gelitten . . . da kannst du dir denken, wie sie erst gelitten hat. Sie gab ihm Milch und Tränen, Milch und Liebe . . . Hier haben wir es besser. Ich hatte eine bequeme Wiege angefertigt, und Maria hatte sie mit einer weichen, kleinen Matratze gefüttert. Aber sie ist in Nazaret! Ach! Wenn er dort geboren worden wäre, dann wäre alles ganz anders gewesen!«
»Aber Christus mußte in Betlehem geboren werden. So war es vorhergesagt.«
Maria tritt ein; sie hat die Stimmen gehört. Sie hat den dunklen Mantel abgelegt, den sie auf der Reise und in der Grotte trug, und ist ganz weiß gekleidet, wie ich sie schon früher gesehen habe. Sie hat nichts auf dem Haupt, und auf den Armen trägt sie Jesus, der in seinen weißen Windeln schläft, gesättigt mit Milch.
Zacharias erhebt sich höflich und verneigt sich in Verehrung.
Dann tritt er näher und betrachtet Jesus mit einem Ausdruck größter Ehrfurcht. Er steht gebeugt da, nicht so sehr, um ihn besser zu sehen, sondern um ihm zu huldigen. Maria reicht ihm Jesus, und Zacharias nimmt ihn mit solcher Ehrfurcht, daß es scheint, er halte eine Monstranz. Tatsächlich ist es ja auch die Hostie, die er auf seinen Armen trägt; die Hostie, die schon aufgeopfert worden ist und die den Menschen als Brot der Liebe und der Erlösung gegeben werden wird.
Zacharias gibt Jesus an Maria zurück. Alle setzen sich, und Zacharias entschuldigt vor Maria erneut Elisabet, die nicht gekommen ist, und sagt auch, wie es ihr leid tut. »Sie hatte in diesen Monaten Leintücher für deinen gebenedeiten Sohn gewoben. Ich habe sie dir mitgebracht. Sie sind unten im Wagen.«
Er erhebt sich, geht hinaus und kommt mit einem großen und einem kleinen Bündel zurück. Sowohl aus dem einen, das Josef ihm sofort abnimmt, als auch aus dem anderen zieht er seine Geschenke hervor: eine weiche, wollene, handgewobene Bettdecke, Windeln und Kleidchen; dann noch Honig, schneeweißes Mehl, Butter und Äpfel für Maria, einen von Elisabet bereiteten und gebackenen Kuchen; viele andere kleine Sachen, als Ausdruck der mütterlichen Zuneigung der dankbaren Base gegenüber der jungen Mutter.
»Sage Elisabet, daß ich ihr dankbar bin! Und auch dir bin ich dankbar.
Ich hätte sie so gern gesehen, aber ich verstehe ihre Gründe.
Auch den kleinen Johannes hätte ich gern wiedergesehen . . . «
»Aber im Frühjahr werdet ihr ihn sehen. Wir werden euch besuchen.
«
»Nazaret ist zu weit entfernt«, sagt Josef.
»Nazaret? Aber ihr müßt hier bleiben. Der Messias muß in Betlehem aufwachsen. Das ist die Stadt Davids. Der Allerhöchste hat es gefügt durch den Willen des Kaisers, daß er in der Heimat Davids geboren werde, im heiligen Land Judäa. Warum ihn nach Nazaret bringen? Ihr wißt, wie man bei den Juden über die Nazarener urteilt.
Morgen wird dieses Kind der Retter seines Volkes sein. Es geht nicht, daß die Hauptstadt ihren König verachtet, weil er aus einem Ort kommt, den sie verachtet. Ihr wißt ebensogut wie ich, wie spitzfindig das Synedrium ist, und wie verächtlich die drei Hauptkasten sind . . . Und hier, in meiner Nähe, werde ich euch etwas helfen können; und alles, was ich habe, nicht so sehr die materiellen Dinge, als vielmehr die moralischen Werte, kann ich in den Dienst dieses Neugeborenen stellen. Wenn er dann im verständigen Alter ist, werde ich mich glücklich fühlen, ihm Lehrmeister zu sein, wie meinem Knaben. Dafür wird er mich segnen, wenn er groß geworden ist.
Wir müssen bedenken, daß er zu Großem berufen ist und daß er sich daher der Welt vorstellen muß mit allem Können und Wissen, um leichter seine Aufgabe erfüllen zu können. Bestimmt wird er die Weisheit besitzen. Aber allein schon die Tatsache, daß ein Priester sein Lehrmeister ist, wird ihn den schwierigen Pharisäern und ebenso den Schriftgelehrten eher genehm machen, und das wird ihm seine Mission erleichtern.«
Maria schaut auf Josef, und Josef auf Maria. Über dem unschuldigen Haupt des Kindes, das rosig und unbekümmert schläft, findet ein stummer Gedankenaustausch statt. Es sind in Traurigkeit verhüllte Fragen. Maria denkt an ihr Häuschen. Josef denkt an seine Arbeit. Hier müßten sie in allem neu beginnen; hier, wo sie noch vor wenigen Tagen Unbekannte waren. Hier ist nichts von all den lieben Dingen, die sie dort gelassen und mit so viel Liebe für das Kind vorbereitet haben.
Maria spricht es aus: »Was sollen wir machen? Wir haben alles drüben gelassen. Josef hat so viel für meinen Jesus gearbeitet, ohne an Mühe und Geld zu sparen. Er hat nachts gearbeitet, um tagsüber für die anderen arbeiten zu können und auf diese Weise soviel zu verdienen, daß wir das beste Holz und die weichste Wolle und das reinste Leinen anschaffen konnten: alles für Jesus.
Er hat Bienenstöcke gebaut und sogar als Maurer gearbeitet, um im Haus Veränderungen vorzunehmen, damit die Wiege in meinem Zimmer sein und bleiben kann, bis Jesus größer und die Wiege von einem Bett abgelöst wird; denn Jesus wird bei mir bleiben, bis er zum Jüngling herangewachsen ist.«
»Josef kann hingehen und holen, was ihr dort gelassen habt.«
»Und wo sollen wir es unterbringen? Du weißt, Zacharias, daß wir arm sind. Wir haben nichts als die Arbeit und das Haus. Beides hilft uns zu leben, ohne hungern zu müssen; hier . . . werden wir vielleicht Arbeit finden. Doch wir müssen an ein Haus denken. Die gute Frau hier kann uns nicht ewig bei sich behalten, und ich kann Josef nicht überfordern und nicht mehr verlangen, als er jetzt schon für mich tut!«
»Oh, ich! Um mich mache dir keine Sorgen! Ich denke nur an den Schmerz Marias, wenn sie nicht in ihrem Haus in Nazaret leben kann . . . «
Maria hat zwei große Tränen in den Augen.
»Ich denke mir, daß ihr jenes Haus so teuer ist wie das Paradies wegen des Wunders, das sich dort vollzogen hat . . . Ich sage wenig, aber verstehe viel. Wenn das nicht wäre, würde ich mir keine Gedanken machen. Ich bin stark und jung und könnte doppelt so viel arbeiten wie bisher und für alles sorgen. Wenn Maria nicht zu sehr darunter litte . . . Wenn du sagst, daß es gut ist . . . was mich angeht . . . so bin ich bereit. Ich tue das, was euch das Beste scheint.
Genug, wenn es nur Jesus nützlich ist.«
»Nützlich ist es bestimmt. Denkt darüber nach, und ihr werdet die Gründe einsehen!«
»Es heißt auch, daß der Messias Nazarener genannt werden wird . . . « [Mt 2,23; Ri 13,5], wendet Maria ein.
»Das ist wahr. Aber wenigstens, bis er erwachsen ist, laßt ihn in Judäa aufwachsen! Der Prophet sagt: „Und du Betlehem-Efrata, wirst die Größte sein, denn aus dir wird der Erlöser hervorgehen!“ [Mi 5,2; Mt 2,6]. Er spricht nicht von Nazaret. Vielleicht wird ihm dieser Beiname gegeben aus wer weiß welchem Grund. Aber sein Land ist dieses hier.«
»Du sagst es, Priester, und wir . . . und wir . . . hören dir mit Schmerzen zu . . . und müssen dir recht geben. Aber welch ein Schmerz! . . . Wann werde ich das Haus wiedersehen, in dem ich Mutter wurde?« Maria weint leise. Und ich verstehe ihr Weinen. Oh!
Und wie ich es verstehe!
Die Vision endet mit dem Weinen Marias.

52 »Josef ist auch der Schutzherr der Gottgeweihten«

Maria sagt hierauf: »Du verstehst es, ich weiß. Aber du wirst mich noch viel heftiger weinen sehen. Jetzt werde ich deinen Geist erheben, indem ich dich die Heiligkeit Josefs schauen lasse. Er war ein Mensch, oder, besser gesagt, er hatte keine andere Hilfe für seinen Geist als seine Heiligkeit. Ich besaß alle Gnadengaben Gottes in meiner Stellung als Unbefleckte. Ich wußte nicht, daß ich es war. Aber die Gnade war in meiner Seele tätig und gab mir seelische Kraft. Er jedoch war nicht unbefleckt. Die Menschlichkeit war in ihm mit ihrer ganzen schmerzlichen Last, und er mußte sich emporarbeiten mit dieser großen Belastung durch beständigen Einsatz all seiner Kräfte, um zur Vollkommenheit zu gelangen und Gott wohlgefällig zu sein.
Oh! Du mein heiliger Bräutigam! Heilig in allen Dingen, auch in den niedrigsten des Lebens! Heilig durch deine engelhafte Keuschheit! Heilig in deiner Ehrbarkeit als Mensch! Heilig in deiner Geduld, in deiner Arbeitsamkeit, in deiner stets gleichbleibenden Heiterkeit und Bescheidenheit! Seine Heiligkeit leuchtet auch aus diesem Ereignis.
Ein Priester sagt zu ihm: „Es ist gut, wenn du dich hier niederläßt.“
Und obwohl er weiß, welch größerer Arbeit er entgegengeht, sagt er: „Mir macht es nichts aus. Aber ich denke an den Schmerz Marias. Wäre es nicht darum, mir würde es nichts ausmachen. Es genügt mir, wenn es für Jesus nützlich ist.“ Jesus und Maria, ihnen gilt seine engelhafte Liebe. Er hat nichts anderes auf Erden geliebt, dieser mein heiliger Bräutigam. Und für diese Liebe hat er sich selbst zum Diener gemacht.
Man hat ihn zum Beschützer der christlichen Familien, der Arbeiter und anderer Gruppen erwählt. Aber nicht nur zum Patron der Sterbenden, der Eheleute, der Bergleute, sondern auch zum Patron der Gottgeweihten sollte man ihn machen. Wer unter den Gottgeweihten der Erde – wer er auch immer sein möge – hat sich wie er dem Dienst seines Gottes geweiht? Wer nahm wie er alles an, verzichtete auf alles, ertrug alles, tat alles mit Bereitwilligkeit, mit heiterem Gemüt, mit unerschütterlichen Gleichmut? Nein, keinen anderen gibt es wie ihn.
Und noch auf etwas anderes möchte ich dich aufmerksam machen, vielmehr auf zwei Dinge. Zacharias ist ein Priester. Josef ist es nicht.
Aber beachte: wie er, der es nicht ist, den Geist mehr zum Himmel gerichtet hat als der Priester. Zacharias denkt nach menschlicher Art und legt die Schrift mit seinem menschlichen Verstand aus; es ist nicht das erste Mal, daß er dies tut. Er läßt sich sehr vom guten Menschenverstand leiten. Er ist dafür auch bestraft worden. Aber er hat wieder einen Rückfall, wenn auch einen weniger schweren.
Zur Geburt des Johannes hatte er gesagt: „Wie kann das geschehen, da ich alt bin und meine Frau unfruchtbar?“ [Lk 1,18]. Jetzt sagt er: „Um sich den Weg zu bereiten, muß er hier aufwachsen.“ Und mit diesem Würzelchen des Hochmuts, das auch im Besten zu finden ist, glaubt er, Jesus nützlich zu sein. Nicht nützlich wie Josef durch sein Dienen, sondern nützlich als Lehrmeister . . . Gott hat ihm wegen seiner guten Absicht verziehen. Hat der Meister andere Lehrmeister nötig?
Ich versuchte, ihn aufmerksam zu machen auf das Licht in den Prophezeiungen. Aber er glaubte gelehrter zu sein als ich und benützte diese seine Überzeugung nach seiner Art. Ich hätte auf meiner Meinung bestehen und ihn überzeugen können; aber hierin besteht die zweite Anweisung, die ich dir geben möchte: ich habe den Priester in seiner Würde respektiert, nicht wegen seines Wissens.
Der Priester ist im allgemeinen immer von Gott erleuchtet. Ich habe gesagt „im allgemeinen“. Er ist es, wenn er ein wahrer Priester ist. Nicht das Kleid heiligt, sondern die Seele. Um zu beurteilen, ob jemand ein wahrer Priester ist, muß man beurteilen, was von seiner Seele kommt. Es ist wie Jesus gesagt hat [Mt 15,11; 18,19]: „Aus der Seele kommt das, was heiligt oder befleckt; das, was die ganze Art des einzelnen Menschen kennzeichnet.“ Folglich: wenn jemand ein wahrer Priester ist, ist er für gewöhnlich immer von Gott geleitet.
Anderen, die es nicht sind, muß man übernatürliche Liebe entgegenbringen und muß für sie beten.
Aber mein Sohn hat dich schon in den Dienst dieser Erlösung einbezogen, und ich sage nichts mehr darüber. Freue dich, leiden zu dürfen, um die Zahl der wahren Priester zu vermehren, und stütze dich auf das Wort, das dich führt! Glaube und höre auf seinen Rat!
Gehorchen rettet immer, auch wenn der erhaltene Rat nicht in allem vollkommen ist. Du siehst: wir haben gehorcht. Es war gut so. Es ist wahr, daß Herodes sich darauf beschränkte, die Kinder von Betlehem und Umgebung ermorden zu lassen. Aber hätte Satan nicht diese Welle der Bosheit noch weiter ausbreiten können und alle Mächtigen Palästinas zu demselben Verbrechen verleiten können, um den künftigen König der Juden zu töten? Er hätte es tun können. Und ebenso war es in den ersten Zeiten Christi, als wiederholte wunderbare Phänomene die Aufmerksamkeit der Menge und die Augen der Mächtigen erregten. Wie hätten wir ganz Palästina durchqueren können, um von dem fernen Nazaret Ägypten, das Gastland der verfolgten Hebräer, zu erreichen, und das mit einem kleinen Kind während einer wütenden Verfolgung? Viel leichter war die Flucht von Betlehem aus, wenn auch immerhin schmerzlich. Der Gehorsam rettet immer. Bedenke es! Und die Hochachtung vor dem Priester ist immer ein Zeichen christlicher Erziehung.
Wehe – und Jesus hat es gesagt [Mt 5,13–16; Lk 12,49] – wehe den Priestern, welche die Flamme des apostolischen Eifers erlöschen lassen!
Wehe auch jenen, die glauben, es sei ihnen erlaubt, sie zu verachten!
Denn die Priester weihen und verteilen das wahre Brot, das vom Himmel herabsteigt. Und diese Berührung heiligt sie wie einen heiligen Kelch, auch wenn sie keine Heiligen sind. Sie werden Gott darüber Rechenschaft ablegen müssen. Ihr aber sollt nur ihre Würde sehen und euch nicht um anderes kümmern. Seid nicht unversöhnlicher als euer Herr, Jesus, der auf ihren Befehl den Himmel verläßt und herabsteigt, um von ihren Händen erhoben zu werden! Lernt von ihm! Und wenn sie blind sind, wenn sie taub sind, wenn ihre Seele gelähmt und ihr Verstand verdunkelt ist, so sind sie Aussätzige in ihrer Schuld und stehen im Gegensatz zu ihrer Missionsaufgabe; und wenn sie Lazarusse in Gräbern sind, so ruft Jesus an, daß er sie heile und auferwecke!
Ruft ihn an mit euren Gebeten und euren Opfern, ihr Sühneseelen!
Eine Seele retten heißt, der eigenen Seele den Himmel sichern.
Aber eine Priesterseele retten, heißt eine große Zahl von Seelen retten; denn jeder heilige Priester ist ein Netz, das Seelen zu Gott zieht.
Einen Priester retten oder besser, ihn heiligen, ihn wiederum heiligen, heißt, ein solches mystisches Netz anfertigen. Alle seine Beute ist Licht, das eurer ewigen Krone hinzugefügt wird.«

53 Darstellung Jesu im Tempel

Ich sehe vor einem sehr bescheidenen Haus ein Paar aufbrechen.
Auf einer Außentreppe steigt eine ganz junge Frau mit ihrem Kind auf den Armen herab, das in ein weißes Tuch gewickelt ist.
Ich erkenne in ihr unsere Mutter. Sie ist immer dieselbe, bleich und blond, schlank und liebenswürdig in all ihrem Tun. Sie ist weiß gekleidet und trägt einen hellblauen Mantel. Auf dem Haupt hat sie einen weißen Schleier. Mit großer Sorgfalt trägt sie ihr Kind. Am Fuß der Treppe erwartet sie Josef mit einem grauen Esel. Josef ist ganz hellbraun gekleidet, Tunika und Mantel sind von derselben Farbe. Er schaut auf Maria und lächelt ihr zu. Als Maria zum Eselein kommt, legt sich Josef die Zügel desselben auf den linken Arm und hält für einen Augenblick das ruhig schlummernde Kind, um es Maria zu ermöglichen, sich bequem in den Sattel des Esels zu setzen. Dann gibt er ihr Jesus zurück, und sie machen sich auf den Weg.
Josef geht zu Fuß an der Seite Marias; er hält die Zügel des Tieres in der Hand und achtet darauf, daß es den rechten Weg nimmt und nicht strauchelt. Maria hält Jesus auf ihrem Schoß und aus Furcht, die Kälte könne ihm schaden, legt sie noch ein Stück ihres Mantels über ihn. Sie sprechen sehr wenig, die beiden Verlobten, aber lächeln sich oft zu.
Die Straße, die sich nicht gerade in einem musterhaften Zustand befindet, zieht sich durch eine Gegend, die in dieser Winterszeit öde aussieht. Bisweilen begegnet den beiden ein Reisender oder ein anderer holt sie ein; aber es sind nur wenige unterwegs.
Dann erscheinen Häuser und hierauf die Mauern einer Stadt. Die beiden Verlobten gehen durch ein Tor in die Stadt, und es beginnt die Strecke auf dem sehr holprigen städtischen Pflaster! Sie kommen nun viel schwerer vorwärts, denn es herrscht ein großer Verkehr, der jeden Augenblick das Eselein anhalten läßt, oder aber das Tier stolpert wegen der Löcher im Pflaster und verursacht Maria und dem Kind Unbehagen.
Die enge Straße ist uneben und steigt etwas an zwischen hohen Häusern mit schmalen, niedrigen Türen und kleinen Fenstern zur Straße hin. In der Höhe zeigt sich der Himmel in kleinen, hellblauen Ausschnitten zwischen den Häusern und Terrassen. Auf der Straße herrscht viel Geschrei; es begegnen ihnen viele Menschen zu Fuß oder beritten, auch Eselstreiber mit beladenen Tieren. Andere führen platzraubende Kamelkarawanen an. Einmal begegnet ihnen mit viel Hufgeklapper und Waffenklirren eine Abteilung römischer Legionäre, die jenseits eines Bogens in einer steinigen und engen Gasse verschwinden.
Josef biegt nach links ab und nimmt einen breiteren und schöneren Weg. Im Hintergrund sehe ich eine mit Zinnen versehene Mauer, die ich schon kenne.
Maria steigt vom Esel, nahe der Pforte, wo sich eine Art Stallung für Lasttiere befindet. Ich sage Stallung; aber es ist eine Art Schuppen, besser ein Wetterdach, wo Stroh gestreut ist und Pflöcke mit Ringen angebracht sind, an denen man die Vierfüßler anbinden kann. Josef gibt einem jungen Mann einige Münzen für etwas Heu, holt in einem Wasserschlauch aus einem einfachen Ziehbrunnen in einem Winkel Wasser und tränkt den Esel.
Dann begibt er sich wieder zu Maria, und beide betreten den Tempelbereich.
Sie wenden sich einem mit Säulenhallen umgebenen Hof zu, wo die Verkäufer sind, die Jesus später energisch geißeln wird; Verkäufer von Turteltauben und Lämmern sowie die Geldwechsler.
Josef kauft zwei weiße Täubchen. Geld wechselt er nicht. Offenbar hat er schon, was er braucht.
Josef und Maria begeben sich nun zu einer Seitentür, zu der acht Stufen führen – wie mir scheint, ist dies vor allen Türen der Fall – so daß sich der Kubus des Tempels etwas über dem normalen Boden erhebt. Dieser Tür folgt eine große Vorhalle, wie bei den Eingängen unserer großstädtischen Häuser; hier ist sie aber viel geräumiger und voller Schmuck. In ihr befinden sich rechts und links zwei Altäre oder zwei rechteckige Konstruktionen, deren Zweck ich vorläufig noch nicht ein sehe. Es sind niedrige Wannen, denn der äußere Rand erhebt sich einige Zentimeter über die innere Fläche. Ein Priester eilt herbei; ich weiß nicht, ob Josef ihn gerufen hat. Maria überreicht ihm die beiden Täubchen als Reinigungsopfer. Und ich wende, da ich das Los der Täubchen kenne, den Blick anderswohin. Ich betrachte die Ornamente des schweren Portals, der Decke, des Vorhofs. Nun scheint mir, daß der Priester Maria mit Wasser besprengt. Es muß wohl Wasser sein, denn ich sehe keine Flecken auf dem Gewand Marias.
Sie hat dem Priester zusammen mit den Täubchen eine Anzahl Geldstücke gegeben (ich hatte vergessen, es zu sagen) und tritt nun mit Josef und in Begleitung des Priesters in das eigentliche Tempelgebäude ein.
Ich schaue nach allen Seiten. Sie befinden sich in einem reich geschmückten Raum. Skulpturen, wie Engelsköpfe und Palmen und Verzierungen, laufen den Säulen, Wänden und der Decke entlang.
Licht tritt ein durch merkwürdig lange, schmale Fenster, natürlich ohne Glas, die schräg die Wände durchbrechen. Ich nehme an, daß sie so gebaut worden sind, um das Eindringen des Regens zu verhindern.
Maria geht vor bis zu einer bestimmten Stelle. Dann bleibt sie stehen.
Einige Meter vor ihr sind weitere Stufen, und über diesen erhebt sich eine Art Altar, und jenseits davon schließt sich ein weiteres Gebäude an. Ich glaubte, schon im Tempel zu sein; in Wirklichkeit aber befinde ich mich in einem Bau, der den wahren und eigentlichen Tempel, das Allerheiligste umgibt, in das, wie mir scheint, niemand außer dem Priester eintreten darf. Was ich für den Tempel hielt, ist nur eine geschlossene Vorhalle, die von drei Seiten den Tempel umschließt, in dem sich der Tabernakel befindet. Ich weiß nicht, ob ich mich gut ausgedrückt habe, da ich weder Architekt noch Ingenieur bin.
Maria opfert das Kind, das nun aufgewacht ist und die unschuldigen Äuglein mit dem erstaunten Blick eines nur wenige Tage alten Kindes zum Priester hinwendet. Dieser nimmt es und hebt es mit ausgestreckten und zum Tempel hingewandten Armen empor, während er sich an den altarähnlichen Aufbau lehnt.
Der Ritus ist beendet. Das Kind wird der Mutter zurückgegeben, und der Priester geht fort. Neugieriges Volk steht da umher. Zwischen ihm macht sich ein gebeugter, hinkender Greis Platz, der sich auf seinen Stab stützt. Er muß sehr alt sein; ich schätze ihn über achtzig. Er nähert sich Maria und bittet sie, ihm für einen Augenblick den Kleinen zu geben. Lächelnd erfüllt Maria seinen Wunsch.
Simeon, von dem ich immer glaubte, daß er zur Klasse der Priester gehöre, der aber nur ein einfacher Gläubiger ist, wenigstens dem Gewand nach zu urteilen, nimmt ihn entgegen und küßt ihn. Jesus lächelt ihm zu, mit dem unsicheren Gesichtsausdruck, der den Säuglingen eigen ist. Es scheint, als beobachte er ihn neugierig; denn der Alte weint und lacht zu gleicher Zeit, und die in die Falten fließenden Tränen bilden ein Glitzerwerk und fallen dann auf den langen weißen Bart, nach dem Jesus seine Händchen ausstreckt. Jesus ist noch das Kindlein, das von allem angezogen wird, was sich bewegt, und alles anfassen möchte, um es besser anschauen zu können. Josef und Maria lächeln, ebenso wie die Anwesenden, die die Schönheit des Kleinen loben.
Ich höre die Worte des heiligen Alten und bemerke den erstaunten Ausdruck Josefs [Lk 2,29–32] und die Rührung Marias und der kleinen Menge, die teils erstaunt und bewegt ist, teils bei den Worten des Greises in ein Gelächter ausbricht. Es sind auch bärtige Männer da und aufgeblasene Mitglieder des Synedriums, die den Kopf schütteln und mit ironischem Mitleid auf Simeon schauen. Sie glauben wohl, er habe infolge des Alters den Verstand verloren.
Das Lächeln Marias verschwindet, und eine starke Blässe tritt in ihr Antlitz, als Simeon ihr das Leiden ankündigt [Lk 2,34–35]. Obwohl sie davon weiß, durchbohren die Worte ihre Seele. Maria nähert sich Josef, um Trost zu finden und drückt in ihrem Schmerz das Kind an die Brust. Wie eine dürstende Seele trinkt sie die Worte Hanna des Penuëls in sich hinein, die sich als Frau ihres Schmerzes erbarmt und ihr verheißt, daß der Ewige ihr die Stunde der Leiden mit übernatürlicher Kraft lindern werde. »Frau! Dem, der seinem Volk den Erlöser geschenkt hat, wird die Macht nicht fehlen, seinen Engel auszusenden, damit er dir in deinem Leid beistehe. Die Hilfe des Herrn hat den großen Frauen Israels nie gefehlt, und du bist viel größer als Judit und Rahel [Jdt 13; Ri 4,17–23]. Unser Gott wird dir ein Herz aus lauterem Gold geben, damit es dem Meer der Schmerzen gewachsen sei; denn du bist die größte Frau der Schöpfung, die Mutter. Und du, Kindlein, gedenke meiner in der Stunde deiner Sendung!
« Hier endet die Vision.

54 Lehren, die aus der vorhergehenden Vision zu ziehen sind

Jesus sagt:
»Zwei Lehren soll man aus deinem Bericht ziehen.
Die erste: nicht dem Priester, der mit seinen Riten beschäftigt und mit seinem Geist abwesend ist, sondern einem einfachen Gläubigen enthüllt sich die Wahrheit.
Der Priester, der immer mit dem Göttlichen in Beziehung steht und das pflegt, was Gottes ist; der Priester, der all dem zugewandt ist, was über dem Fleisch steht, hätte sofort ahnen müssen, wer das Kind war, das an jenem Morgen im Tempel dargebracht wurde. Aber um das zu erkennen, mußte man mit einem lebendigen Geist erfüllt sein. Nur ein Gewand tragen, das den Geist umhüllt, der, wenn er nicht tot ist, doch eingeschlafen ist, genügt nicht. Der Geist Gottes kann, wenn er will, donnern und blitzen; er kann Erdbeben auslösen und so auch den abgestumpftesten Geist beeindrucken. Er tut es aber im allgemeinen nicht. Er ist ein Geist der Ordnung, und Ordnung herrscht in jedem seiner Geschöpfe und in ihrem Handeln. Daher ergießt er sich und spricht er dort, wo er den guten Willen sieht, um seinen Eingebungen zu entsprechen. Ich spreche nicht von einem hinreichenden Verdienst, seine Einwirkung erfahren zu dürfen; denn dann würde er sich gar selten zeigen, und auch du würdest seine Erleuchtung nicht erfahren.
Wie kann man diesen guten Willen entfalten? Mit einem Leben, das soweit wie möglich nur für Gott ist: im Glauben, im Gehorsam, in der Reinheit, in der Liebe, in der Hochherzigkeit und im Gebet. Nicht in äußerlichen Handlungen, sage ich, sondern im Gebet.
Zwischen äußerlichen Handlungen und Gebet ist ein größerer Unterschied als zwischen Tag und Nacht. Gebet ist Vereinigung des Geistes mit Gott. Aus dieser Vereinigung kommt man gestärkt und entschlossener hervor; entschlossener, immer mehr Gottes zu sein.
Das andere ist einfach eine Gewohnheit, die verschiedene Ursprünge haben kann, die aber immer egoistisch sind. Ihr bleibt, was ihr seid, ja noch mehr: ihr beschwert euch mit einer Schuld der Lügenhaftigkeit oder der Trägheit.
Simeon hatte diesen guten Willen. Das Leben hatte ihm Leiden und Prüfungen nicht erspart. Aber er hat dabei nicht seinen guten Willen eingebüßt. Die Jahre mit ihren Wechselfällen haben seinen Glauben an den Herrn und an seine Verheißungen nicht angegriffen und erschüttert. Sie haben seinen guten Willen, immer mehr Gottes würdig zu sein, nicht ermüdet. Und Gott hat – bevor sich die Augen seines treuen Dieners dem Licht der Sonne verschlossen, in der Erwartung, sich nach meiner Himmelfahrt vor der leuchtendroten Sonne Gottes wieder zu öffnen – Gott hat ihm den Strahl seines Geistes gesandt, der ihn zum Tempel führte, damit er das Licht der Welt sehe.
„Geführt vom Heiligen Geist“, sagt das Evangelium [Lk 2,27]. Ach, wenn die Menschen wüßten, welch ein vollkommener Freund der Heilige Geist ist! Welch ein Führer, welch ein Lehrmeister! Wenn sie ihn doch lieben und anrufen würden, diese Liebe der allerheiligsten Dreifaltigkeit, dieses Licht des Lichtes, dieses Feuer vom Feuer, diesen Geist, diese Weisheit! Wieviel mehr wüßten sie von dem, was zu wissen nottut!
Schau, Maria (Valtorta), schaut, Kinder! Simeon hat ein Leben lang gewartet, um das Licht und die Verheißung Gottes erfüllt zu sehen.
Er hat sich nie gesagt: „Es ist unnütz, immer zu hoffen und zu beten.“ Er hat ausgeharrt. Er sah das, was der Priester nicht sah, und ebensowenig die Synedristen, die voll Hochmut und Finsternis waren: er sah den Sohn Gottes, den Messias, den Erlöser in jener kindlichen Gestalt, die in ihm Wärme und Freude erzeugte. Er hat das Lächeln Gottes auf meinen Kindeslippen gesehen als Belohnung für sein ehrenhaftes und frommes Leben.
Die zweite Lehre liegt in den Worten Hannas. Auch sie, die Prophetin, sieht in mir, dem Neugeborenen, den Messias. Und das natürlich dank ihrer prophetischen Gabe. Aber höre, hört alle, was sie von Glauben und Liebe angetrieben, zu meiner Mutter sagt! Schöpft daraus Licht für euren Geist, der in dieser Zeit der Finsternis und an diesem Fest des Lichtes erzittert!
„Dem, der uns einen Erlöser gegeben hat, wird die Kraft nicht fehlen, seinen Engel auszusenden zu deiner Stärkung in deinem, in ‚eurem‘ Leiden.“ Bedenkt, daß Gott sich selbst hingegeben hat, um das Werk Satans in den Seelen zunichte zu machen. Wird er denn nicht fähig sein, die Dämonen zu besiegen, die euch jetzt quälen?
Kann er nicht eure Tränen trocknen und diese Dämonen verjagen und wieder den Frieden seines Gesalbten senden? Warum bittet ihr nicht gläubig darum? Mit einem wahren, standhaften Glauben, vor dem die Strenge Gottes, der durch eure zahlreichen Verfehlungen erzürnt ist, sich umwandelt in ein Lächeln und in ein Verzeihen, das Hilfe bedeutet. Möge sich sein Segen wie ein Regenbogen über dieser Erde wölben, die in einer selbstgewollten Flut von Blut versinkt!
Bedenkt: nachdem der Vater die Menschen mit der Sintflut bestraft hatte, sagte er zu sich selbst und zu seinem Patriarchen: „Ich werde die Erde nicht mehr um der Menschen willen verfluchen; denn die Triebe, Sinne und Gedanken des menschlichen Herzens sind zum Bösen geneigt von Jugend auf; daher werde ich nicht alles Lebende schlagen, wie ich es getan habe“ [Gen 8,21]. Und er ist seinem Wort treu geblieben. Er hat die Flut nicht mehr geschickt. Aber ihr, wie oft habt ihr euch gesagt und Gott gesagt: „Wenn wir dieses Mal gerettet werden, wenn du uns rettest, werden wir nie mehr Kriege führen, nie mehr“, und doch habt ihr immer Schrecklicheres getan, und wie oft, ihr falschen Menschen, ohne Ehrfurcht vor dem Herrn und vor eurem eigenen Wort! Und doch würde euch Gott noch einmal helfen, wenn die große Masse der Gläubigen ihn mit Glauben und mächtiger Liebe anflehen würde.
Ihr alle, die ihr zu wenig zahlreich seid, um die vielen aufzuwiegen, die den Zorn Gottes lebendig erhalten, bleibt ihm treu, trotz der fürchterlichen Zeit, die euch bevorsteht und jeden Augenblick näherkommt, legt eure Mühen und Sorgen Gott zu Füßen! Er wird euch seinen Engel senden, wie er den Erlöser der Welt gesandt hat.
Fürchtet euch nicht! Steht vereint unter dem Kreuz! Es hat immer die Nachstellungen jenes Teufels besiegt, der mit der Wildheit der Menschen und den Trübsalen des Lebens kommt, um euch zur Verzweiflung zu verleiten, d. h. zur Trennung von Gott.«

55 Wiegenlied der Jungfrau

Diesen Morgen hatte ich ein süßes Erwachen. Während ich noch im Halbschlaf dahinschlummerte, vernahm ich eine reine Stimme, die langsam und sanft ein Wiegenlied sang. Es schien ein weihnachtliches Hirtenlied zu sein, so erhebend und feierlich hörte es sich an. Ich folgte diesem Motiv und dieser Stimme und wurde immer mehr wach. Schließlich war ich ganz bei Bewußtsein und verstand. Ich sagte: »Gegrüßt seist du Maria, voll der Gnade!« Denn es war die Mutter, die sang.
Und sie verstärkte ihre Stimme, nachdem sie mir erwidert hatte: »Auch ich grüße dich. Komm und sei glücklich!«
Ich habe sie gesehen, im Haus von Betlehem; in dem von ihr bewohnten Zimmer; sie war dabei, Jesus in den Schlaf zu wiegen. Im Zimmer waren der Webstuhl Marias und die Näharbeiten. Es schien, als habe Maria ihre Arbeit beiseitegelegt, um ihr Kind zu stillen und ihm die Windeln zu wechseln – denn es war schon einige, ich möchte sagen, sechs bis acht Monate alt – und daß sie gedachte, ihre Arbeit nach dem Einschlafen des Kleinen wiederaufzunehmen.
Es war um die Abendstunde. Die Sonne war schon fast untergegangen, und der heitere Himmel hatte goldene Wolkenflöckchen.
Herden kehrten zurück, grasten die letzten Kräuter einer blumenreichen Wiese ab und blökten mit erhobenen Mäulern.
Das Kindlein hatte Mühe einzuschlafen. Es schien ein wenig unruhig zu sein wegen der schmerzenden Zähnchen oder anderer kleiner Kinderleiden.
So gut ich konnte, habe ich im Dunkel jener frühen Morgenstunde das Lied aufgezeichnet, und zwar auf ein Stück Papier, von dem ich es jetzt abschreibe.
»Goldene Wölkchen – sie gleichen den Schafherden des Herrn auf einer blumigen Wiese. Eine andere Herde schaut ihnen zu. Doch hätte ich auch alle Herden, die es auf Erden gibt, mein liebstes Schäflein wärest immer du . . .
Schlaf, schlaf, schlaf, schlaf . . .
Weine nicht mehr . . .
Tausend leuchtende Sterne stehen am Himmel und blicken herab. Laß deine lieben Augensterne, laß sie nicht mehr weinen! Deine Saphiraugen sind die Sterne meines Herzens. Deine Tränen sind mein Schmerz! Oh! weine nicht mehr . . .
Schlaf, schlaf, schlaf, schlaf . . .
Weine nicht mehr . . .
Alle strahlenden Engel, die im Paradiese sind, sind deine Krone, Unschuldiger, dein Anblick beglückt sie. Doch du weinst und willst die Mutter, die Mutter . . . Sie ist bei dir und wiegt dich in den Schlaf . . .
Schlaf, schlaf, schlaf, schlaf . . .
Weine nicht mehr . . .
Bald färbt sich der Himmel, und die Morgenröte steigt auf. Doch die Mutter will noch nicht schlafen, damit du nicht weinst. Beim Aufwachen wirst du „Mama“ sagen, und ich „mein Sohn“. Und mein Kuß gibt dir zusammen mit der Milch Liebe und Leben . . .
Schlaf, schlaf, schlaf, schlaf . . .
Weine nicht mehr . . .
Ohne Mutter kannst du nicht leben, auch wenn du vom Himmel träumst. Komm, Komm! Unter meinem Schleier wiege ich dich in den Schlaf. Meine Brust sei dein Kissen, meine Arme deine Wiege. Du brauchst nichts zu fürchten, denn ich bin bei dir . . .
Schlaf, schlaf, schlaf, schlaf . . .
Weine nicht mehr . . .
Ich will stets bei dir bleiben, du bist das Leben meines Herzens . . . Du schläfst wie eine Blume auf meiner Brust . . . Seid sachte! Er schläft, vielleicht sieht er den Heiligsten Vater . . . Sein Anblick trocknet die Tränen meines süßen Jesu . . .
Er schläft, er schläft, er schläft, er schläft und weint nicht mehr . . . «
Unmöglich, die Anmut dieser Szene zu beschreiben! Es ist ja nicht irgendeine Mutter, die ihren Kleinen wiegt. Es ist diese Mutter und es ist dieses Kind! Man kann sich daher denken, welche Anmut, welche Liebe, welche Reinheit, welch ein Himmel in dieser kleinen, großen, lieblichen Szene liegt, deren Erinnerung mich froh stimmt, und deren Melodie in mir bleibt; ich wiederhole letztere immer wieder, um sie an andere weitergeben zu können. Aber ich habe nicht die reine Silberstimme Marias, die jungfräuliche Stimme der Jungfrau!
. . . Die meine klingt eher wie ein verstimmtes Örgelchen. Doch das hat keine Bedeutung. Ich bemühe mich, so gut es eben geht.
Welch ein schönes Hirtenlied für die Weihnachtskrippe! Die Mama schaukelte vorerst langsam die hölzerne Wiege, und als Jesus sich nicht beruhigte, nahm sie ihn in ihre Arme, setzte sich an das offene Fenster und schaukelte ihn sanft im Rhythmus des Liedes; sie wiederholte ihr Wiegenlied zweimal, bis der kleine Jesus die Äuglein schloß, das Köpfchen an sie lehnte und einschlief, das rosige Gesichten an den warmen Busen gelehnt, ein Händchen neben dem rosigen Gesichtchen auf die Mutterbrust und das andere auf ihren Schoß gelegt. Der Schleier Marias beschattete das heilige Kindlein.
Dann erhob sich Maria mit großer Vorsicht und legte ihren Jesus in die Wiege, bedeckte ihn mit kleinen Decken, breitete zum Schutz gegen die Mücken und gegen die Luft einen Schleier über ihn und blieb in Betrachtung vor ihrem schlafenden Schatz stehen.
Sie hielt eine Hand aufs Herz, die andere noch auf der Wiege, bereit diese wieder zu bewegen, falls er erwachen sollte, und lächelte selig. Sie stand etwas gebeugt da, während die Schatten und die Stille sich auf die Erde senkten und auch in die Kammer der Jungfrau eindrangen. Welch ein Friede! Welche Schönheit! Ich bin glücklich darüber.
Das ist nun keine großartige Vision, und vielleicht ist sie auch in den Augen vieler unwichtig, weil sie nichts Besonderes offenbart. Ich weiß es. Aber für mich ist sie eine wahre Gnade, und ich schätze sie als solche, weil sie meine Seele friedvoll, rein und liebevoll macht, als wäre sie durch die Mutter wiederbelebt worden. Ich denke, daß sie auch anderen in diesem Sinn gefallen wird. Wir sind ja „Kinder“.
Und es ist gut so. Wir wollen Jesus gefallen. Andere gelehrte und komplizierte Menschen mögen denken, was sie wollen, und uns kindisch nennen. Das kümmert uns nicht! Nicht wahr?

56 Anbetung der Weisen

Mein innerer Mahner sagt mir: »Nenne die Betrachtungen, die du nun haben wirst und die ich dir sagen werde: „Die Frohe Botschaft des Glaubens“; denn sie werden dir und den anderen gegeben zur Erläuterung der Macht und der Früchte des Glaubens, und um euch im Glauben an Gott zu stärken.«
Ich sehe das kleine, weiße Betlehem wie eine Brut unter dem Licht der Sterne liegen. Zwei große Straßen teilen es in Kreuzform. Die eine kommt von außerhalb des Ortes und ist die Hauptstraße, die dann wieder zum Städtchen hinausführt. Die andere verbindet die äußersten Enden der Ortschaft miteinander, führt aber nicht darüber hinaus. Andere Wege zerschneiden den kleinen Ort ohne jede Straßenplanung, wie wir sie kennen. Sie passen sich vielmehr der jeweiligen Unebenheit und den Häusern, die da und dort erbaut worden sind, an. Einmal biegen sie nach rechts, einmal nach links. Hier eine Wendung zu einem anderen Weg hin, statt geradeaus weiterzuführen.
Manchmal ein kleiner Platz, sei es für einen Markt, sei es für einen Brunnen, sei es, weil überall regellos gebaut wurde und ein eckiger Bodenrest, auf dem es unmöglich ist, etwas Neues hinzusetzen, geblieben ist.
Gerade mit einem dieser unregelmäßigen Plätze, so scheint mir, müssen wir uns besonders beschäftigen. Er sollte quadratisch oder mehr oder weniger rechteckig sein. Statt dessen ist ein so merkwürdiges Trapez daraus geworden, daß es auch ein Dreieck sein könnte mit einer abgebrochenen Spitze. Auf der Breitseite oder Basis des Dreiecks steht ein breites, niedriges Gebäude. Es ist das größte des Ortes. Außen herum führt eine riesige, glatte Mauer mit zwei großen Torbögen, die jetzt verschlossen sind. Das Gebäude hat im ersten Stockwerk viele Fenster, während darunter Säulengänge die Höfe umschließen, in denen Stroh und Abfälle um die Tränken der Pferde und anderer Tiere herumliegen. An den einfachen Säulen der Hallen sind Ringe angebracht, an denen die Tiere angebunden werden, und auf der einen Seite befindet sich ein großes Wetterdach für Herden und Reittiere. Es wird mir klar, daß dies die Herberge von Betlehem ist.
Auf den beiden anderen gleichlangen Seiten des Platzes befinden sich Häuser und Hütten, einige mit kleinen Vorgärten. Auf der anderen schmäleren Seite, gegenüber der Karawanserei, ist ein kleines Haus mit einer Außentreppe, die auf halber Höhe der Fassade Zutritt zum bewohnten Stockwerk gibt. Angesichts der späten Stunde ist niemand auf der Straße zu sehen.
Ich sehe nur, daß das nächtliche Licht, das vom sternenbesäten Himmel herabströmt, heller wird. Die Sterne am orientalischen Himmel sind so schön, so lebendig und groß, daß sie ganz nahe scheinen, als ob man sie mit der Hand berühren könnte, diese leuchtenden Blumen auf dem Samt des Firmamentes. Ich erhebe den Blick, um nach der Quelle dieses stärkeren Lichtes zu schauen. Ein Stern von ungewöhnlicher Größe, wie ein kleiner Mond, gleitet am Himmel von Betlehem dahin, und die anderen scheinen auszuweichen, um wie Dienerinnen ihrer Königin Platz zu machen; so groß ist der Glanz, der sie überragt. Vom Stern, der einem gewaltigen Saphir gleicht, der innen von einer Sonne erleuchtet wird, geht ein Schweif aus, in dem unter der vorherrschenden Farbe des leuchtenden Saphirs, blonde Topase, grüne Smaragde, glitzernde Opale, blutrote Rubinen und sanftschillernde Amethysten aufleuchten. Alle Edelsteinfarben der Welt sind in diesem Schweif vertreten, der den Himmel in schnell wogender Bewegung durchfurcht, als wäre er lebendig. Aber die Farbe, die vorherrscht, strömt von der Scheibe des Sternes aus: die paradiesische Farbe des blassen Saphirs, der herabsteigt, um die Häuser in ein silbernes Blau zu kleiden, wie auch die Wege und den Boden von Betlehem, das die Wiege des Erlösers ist.
Es ist nicht mehr die arme Stadt, für uns weniger als ein Bauerndorf, sondern eine phantastische Märchenstadt, in der alles silbern ist. Und das Wasser der Quellen und Brunnen ist wie flüssiger Diamant.
Mit einem noch lebhafteren Leuchten bleibt der Stern über dem Häuschen auf der engeren Seite des kleinen Platzes stehen. Weder seine Bewohner, noch die übrigen Betlehemiten sehen ihn, denn sie schlafen in den verschlossenen Häusern. Der Stern aber vervielfältigt die Fluten seines Lichtes, sein Schweif vibriert stärker, und die wellenartigen Bewegungen, die nun deutlicher hervortreten, zeichnen beinahe Halbkreise an den Himmel. Vom Sternennetz, das er nach sich zieht, wird das ganze Firmament gefärbt, und es verteilt auch auf die anderen Sterne anmutige Farben, als wolle es ihnen ein Wort der Freude mitteilen.
Das Häuschen ist eingetaucht in das flüssige Feuer der Edelsteine.
Das Dach der kleinen Terrasse, das Treppchen aus dunklem Stein, die kleine Tür: alles ist wie ein Block aus reinstem Silber, der überstreut ist mit Perlen und Diamanten. Kein Königspalast auf der ganzen Welt hat je eine Treppe wie diese gehabt, noch wird je einer eine solche besitzen: eine Treppe, die die Engel und die Mutter Gottes benützen. Die Jungfrau, die Makellose, wird ihre Füße auf diese Pracht setzen, ihre Füße, die dazu bestimmt sind, auf den Stufen des Thrones Gottes zu stehen.
Aber die Jungfrau weiß es nicht. Sie wacht an der Wiege ihres Sohnes und betet. In ihrer Seele sind Lichter, die heller leuchten als die Strahlen der Sterne, die alles schmücken.
Von der Hauptstraße her nähert sich eine Reiterschar. Berittene und an der Hand geführte Pferde, Dromedare und Kamele mit Reitern oder Lasten. Das Geräusch der Hufe gleicht dem Rauschen und Klatschen eines über Steine fließenden Sturzbaches. Auf dem Platz angelangt, machen alle halt. Die Reiterschar unter dem leuchtenden Stern erstrahlt in phantastischem Glanz. Das Geschirr der reich ausgestatteten Tiere, das Gepäck, die Gewänder der Reisenden: alles glänzt, und der Glanz des Metalls, des Leders, der Seide, der Juwelen und Pelze vereinigt sich mit dem Glanz des großen Sternes. Die Augen strahlen, die Gesichter lachen, denn noch ein anderer Glanz hat die Herzen entzündet: der Glanz einer übernatürlichen Freude.
Während die Diener mit ihren Tieren die Karawanserei aufsuchen, steigen drei aus der Karawane von ihren Reittieren, die ein Diener sofort wegführt, und gehen auf das Haus zu. Sie werfen sich nieder, mit der Stirne zur Erde, um den Staub zu küssen. Es sind drei Mächtige. Das beweisen die reichen Gewänder. Einer mit tief dunkler Hautfarbe ist von einem Kamel gestiegen; er ist eingehüllt in einen äthiopischen Mantel aus schneeweißer Seide, der an der Stirn und um die Lenden von kostbaren Reifen gehalten wird. An seiner Seite hängt ein Dolch oder ein Schwert mit perlengeschmücktem Griff. Die beiden anderen steigen von reich geschmückten Pferden.
Der eine von ihnen ist bekleidet mit einem reichen, gestreiften Stoff, in dem die gelbe Farbe vorherrscht. Es ist ein Herrenmantel, versehen mit Kapuze und Gürtel, beide so reich mit Goldbrokat bestickt, daß sie einem einzigen goldenen Filigranstück gleichen. Der dritte hat ein hemdartiges seidenes Gewand an mit langen und weiten Hosen, die an den Füßen zusammengeschnürt sind. Darüber umhüllt ihn ein feiner Schal, der mit seinen leuchtenden Farben wie ein Blumengarten aussieht. Auf dem Kopf trägt er einen Turban, der von einer Diamantenkette gehalten wird.
Nachdem sie dem Haus ihre Huldigung dargebracht haben, in dem sich der Erlöser befindet, erheben sie sich und gehen zur Karawanserei, wo die Diener angeklopft und um Einlaß gebeten haben.
Hier wird die Vision unterbrochen. Drei Stunden später nimmt sie ihren Fortgang mit der Anbetung Jesu durch die drei Weisen.
Es ist Tag geworden. Hell strahlt die Sonne am vormittäglichen Himmel. Ein Diener der drei überquert den Platz und steigt die Treppe des kleinen Hauses empor. Er tritt ein, kommt bald wieder heraus und kehrt zur Herberge zurück.
Die drei Weisen treten hervor, ein jeder gefolgt von einem Diener.
Sie überqueren den Platz. Die wenigen Vorübergehenden drehen sich um, um die prunkhaften Persönlichkeiten anzuschauen, die langsam und feierlich daherschreiten. Zwischen dem Eintritt des Dieners und der drei ist eine gute Viertelstunde vergangen, die den Bewohnern des Hauses Gelegenheit gab, sich auf den Empfang der Gäste vorzubereiten. Diese sind jetzt noch reicher gekleidet als am Abend zuvor. Die Seidenkleider glänzen, die Edelsteine glitzern. Ein großer Federbusch mit kostbaren Diamantsplittern flattert und funkelt auf dem Haupt des Turbanträgers.
Einer der Diener trägt eine mit Intarsien verzierte Truhe, deren Beschläge aus reinstem Gold sind; der zweite einen fein gearbeiteten Kelch mit einem noch mehr verzierten Deckel aus purem Gold; der dritte einen breiten, niedrigen Krug aus reinem Gold, dessen pyramidenartiger Verschluß mit einem Brillanten besetzt ist. Die Geschenke müssen schwer sein, denn die Diener tragen sie mit Mühe, besonders der Truhenträger.
Die drei steigen die Treppe hinauf und treten in einen Raum, der von der Straße bis zur Rückseite des Hauses reicht. Man sieht durch ein zur Sonne hin geöffnetes Fenster ein Gärtchen im Hof. Türen öffnen sich an den beiden Seitenwänden, und durch diese blicken die Eigentümer des Hauses: ein Mann, eine Frau und drei oder vier größere und kleinere Kinder.
Maria sitzt da mit dem Kind auf dem Schoß; neben ihr steht Josef; aber auch sie erhebt und verneigt sich, als sie die Magier eintreten sieht. Sie sieht schön aus in ihrem einfachen, blütenweißen Gewand, das sie vom Hals bis zu den Füßen, von den Schultern bis zu den zarten Handgelenken bedeckt. Von ihrem von blonden Zöpfen umrahmten Haupt und dem vor Rührung geröteten Gesicht, von den zärtlich lächelnden Augen und dem Mund, der sich zum Gruß: »Der Herr sei mit euch!« öffnet, sind die drei einen Augenblick so beeindruckt, daß sie stehenbleiben. Dann treten sie näher, werfen sich zu ihren Füßen nieder und bitten sie, sich zu setzen.
Sie selbst aber setzen sich nicht, wie sehr Maria sie auch darum bittet. Sie bleiben auf den Knien, auf ihren Fersen ruhend. Hinter ihnen, ebenfalls auf den Knien, sind die drei Diener. Sie waren sofort nach Übertreten der Schwelle niedergekniet. Sie haben die drei mitgebrachten Gegenstände vor sich aufgestellt und warten nun.
Die drei Weisen betrachten das Kind, das mir neun bis zwölf Monate alt zu sein scheint, so lebhaft und kräftig ist es bereits. Es steht auf dem Schoß der Mutter und lächelt und lallt mit dem Stimmchen eines Vögeleins. Es ist wie seine Mutter ganz in Weiß gekleidet und trägt an den Füßchen kleine Sandalen. Seine schlichte Bekleidung besteht aus einer ganz kleinen Tunika, aus der die unruhigen Füßchen hervorschauen, die Fäustchen, die nach allem greifen möchten, und vor allen Dingen das wunderbar schöne Gesichtchen, mit den dunkelblauen funkelnden Augen und dem Mund, an dessen Seiten sich bei jedem Lächeln zwei Grübchen bilden und in dem schon die ersten Zähnchen sichtbar werden. Die Löckchen scheinen aus Goldstaub zu sein, so glänzend und leicht sind sie.
Der älteste der Weisen spricht für alle. Er erzählt Maria, wie sie in einer Nacht des vergangenen Dezembers gesehen haben, daß sich ein neuer Stern von ungewöhnlichem Glanz am Himmel entzündete.
Nie hatten die Himmelskarten dieses Gestirn aufgezeichnet oder von ihm Kunde gegeben. Sein Name war unbekannt, denn es hatte keinen. Aufgegangen war er aus dem Schoß Gottes, um den Menschen eine segensvolle Wahrheit, ein göttliches Geheimnis zu verkünden.
Aber die Menschen hatten nicht darauf geachtet, denn ihre Seelen steckten im Schlamm. Sie erhoben ihren Blick nicht zu Gott und vermochten die Worte nicht zu lesen, die er ihnen – in Ewigkeit sei er darob gepriesen – mit feurigen Sternen ans Himmelsgewölbe geschrieben hatte.
Sie aber hatten ihn gesehen und sich bemüht, seine Stimme zu verstehen. Gern opferten sie den kurzen Schlaf, den sie ihren Gliedern sonst gewährten, vergaßen das Essen und vertieften sich in das Studium des Tierkreises. Und die Stellungen der Gestirne, die Zeit, die Jahreszeit, die Berechnung der verflossenen Stunden und der astronomischen Konstellationen hatten ihnen den Namen und das Geheimnis des Sternes kundgetan. Sein Name war: »Messias.«
Und sein Geheimnis: »Der Messias ist zur Welt gekommen.« Und so waren sie abgereist, um ihn anzubeten, ein jeder, ohne von dem anderen zu wissen, über Berge und Flüsse, durch Täler und Wüsten waren sie nächtelang in Richtung Palästina gereist, denn der Stern wanderte in dieser Richtung, für einen jeden von einem verschiedenen Punkt der Erde aus. Sie sollten sich jenseits des Toten Meeres treffen; der Wille Gottes hat sie dort zusammengeführt, und zusammen sind sie weitergereist und haben sich durch ein Wunder des Ewigen verstanden, obgleich ein jeder in seiner Landessprache redete.
Zusammen sind sie nach Jerusalem gekommen, weil der Messias der König von Jerusalem, der König der Juden, sein sollte. Aber der Stern hat sich über dem Himmel dieser Stadt verhüllt; sie fühlten ihr Herz brechen und erforschten sich, um zu wissen, ob sie Gottes unwürdig geworden seien. Aber ihr Gewissen hat sie beruhigt, so daß sie sich an König Herodes wandten, um zu erfahren, in welchem Palast der neugeborene König zu finden sei, denn sie seien gekommen, ihn anzubeten. Da hat der König die Obersten der Priester und Schriftgelehrten zusammengerufen und sie gefragt, wo der Messias geboren werden solle. Und sie haben geantwortet: »In Betlehem in Judäa.«
Und als sie die heilige Stadt verlassen hatten, strahlte der Stern am Abend heller denn je. Der ganze Himmel war wie ein Feuermeer.
Dann blieb er stehen und hat das ganze Licht der anderen Sterne in seinem Strahlenglanz über diesem Haus vereinigt. So haben sie verstanden, daß das göttliche Kind hier sein mußte. Und jetzt beteten sie es an und brachten ihm ihre Geschenke und mehr noch ihre Herzen dar, die nie aufhören würden, Gott wegen der erwiesenen Gnaden zu preisen und seinen Sohn zu lieben, dessen heilige Menschheit sie gesehen haben. Nachher wollten sie zurückkehren und dem König Herodes davon berichten, denn auch er wünschte, ihn anzubeten.
»Und sieh, hier ist Gold, wie es einem König gebührt, hier ist Weihrauch, wie es einem Gott gebührt, und hier, o Mutter, ist Myrrhe; denn dein Sohn ist Gott, aber auch Mensch. Durch sein Fleisch und sein menschliches Leben wird er Bitterkeit und das unvermeidliche Gesetz des Sterbens erfahren. Unsere Liebe möchte sie nicht aussprechen, dieseWorte, und ihn für ewig halten, auch dem Fleisch nach. Aber, o Frau, wenn unsere Zeichen, und mehr noch unsere Seelen nicht irren, ist dein Sohn der Erlöser, der Gesalbte Gottes und deshalb muß er, um die Welt zu retten, die Schuld der Welt auf sich nehmen, zu deren Strafen auch der Tod gehört. Dieser Balsam ist für jene Stunde, damit das Fleisch, das doch heilig ist, keine Verwesung kenne und seine Unversehrtheit bewahre bis zu seiner Auferstehung.
Um dieser unserer Gabe willen möge er sich unser erinnern und seine Diener retten und ihnen sein Reich schenken. Einstweilen möge die Mutter ihr Kind unserer Liebe überlassen, damit wir durch es geheiligt werden; wir möchten seine Füßchen küssen, damit der Segen des Himmels auf uns herniederkomme.«
Maria hat inzwischen die Bestürzung überwunden, die die Worte der Weisen in ihr hervorgerufen haben, und ihre Traurigkeit unter einem Lächeln verborgen. Sie legt ihr Kind dem Ältesten in die Arme, der es küßt und von ihm geliebkost wird. Dann reicht er es den beiden anderen.
Jesus lächelt, spielt mit den Kettchen und den Fransen der drei und schaut aufmerksam in die offene Truhe voller gelber, glänzender Dinge; er freut sich, als er sieht, daß die Sonne einen Regenbogen bildet, sobald sie den Brillanten des Deckels auf dem Gefäß mit Myrrhen trifft.
Dann geben sie Maria das Kind zurück und erheben sich. Auch Maria erhebt sich. Nachdem der Jüngste der Weisen seinem Knecht aufgetragen hat, sich zu entfernen, verneigen sie sich nacheinander.
Die drei sprechen noch ein wenig. Sie können sich noch nicht entschließen, das Haus zu verlassen. Tränen der Rührung stehen in ihren Augen. Endlich wenden sie sich dem Ausgang zu, von Maria und Josef begleitet. Jesus will aus den Armen seiner Mutter herab, um dem Ältesten der drei das Händchen zu geben, und so trippelt er, von Maria und dem Weisen an der Hand gehalten, mit noch unsicherem Schritt im Zimmer herum und lacht, während seine Füßchen auf den Streifen treten, den die Sonne auf dem Boden zeichnet.
An der Schwelle angekommen – man darf nicht vergessen, daß der Raum so lang ist wie das Haus – verabschieden sich die drei; sie knien noch einmal nieder und küssen die Füßchen Jesu. Maria, über den Kleinen gebeugt, faßt ihn beim Händchen und führt es über das Haupt eines jeden der Weisen zu einer Geste des Segens. Es ist schon ein Kreuzzeichen, das die Fingerlein Jesu unter der Anleitung Marias zeichnen [Ez 9,4.6; Offb 7,2–3; 9,4]. Dann steigen die drei Weisen die Treppe hinunter. Die Karawane steht schon bereit. Die Zügel der Pferde glänzen in der untergehenden Sonne. Das Volk hat sich auf dem kleinen Platz versammelt, um dem ungewöhnlichen Schauspiel beizuwohnen.
Jesus lacht und klatscht in die Hände. Seine Mutter hat ihn hochgehoben und auf die breite Brüstung gestellt, die den Treppenabsatz umgibt; sie hält ihn mit einer Hand an der Brust, damit er nicht hinunterfällt.
Josef ist mit den dreien hinabgestiegen und hält einem jeden beim Besteigen der Pferde und des Kamels die Steigbügel.
Nun sind Herren und Diener alle auf ihren Tieren. Der Marschbefehl wird gegeben. Die drei beugen sich zu einem letzten Gruß nieder bis zum Hals der Reittiere. Auch Josef verneigt sich, und ebenso Maria, die alsdann das Händchen Jesu zu einer Geste des Abschieds und des Segens führt.

57 Bemerkungen über den Glauben der drei Weisen

Jesus spricht:
»Und nun? Was soll ich euch sagen, ihr Seelen, die ihr den Glauben schwinden fühlt?
Die Weisen aus dem Morgenland hatten nichts, um sich der Wahrheit zu vergewissern; nichts Übernatürliches, nur die astronomische Berechnung und ihr Nachdenken darüber, daß ein reines Leben zur Vollkommenheit führt. Trotzdem besaßen sie den Glauben. Sie glaubten an alles: an die Wissenschaft, an das Gewissen und an die göttliche Güte. Der Wissenschaft wegen haben sie geglaubt, daß der neue Stern kein anderer sein konnte als „jener“, der seit Jahrhunderten von der Menschheit erwartet wurde: der Messias. Sie haben der Stimme des Gewissens geglaubt. Als sie die „himmlische“ Stimme vernahmen, sagten sie sich: „Das ist der Stern, der die Ankunft des Messias ankündigt.“ Der Güte Gottes haben sie vertraut, da sie glaubten, daß Gott sie nicht irreführen werde und ihnen, da ihre Absicht ehrlich war, in jeder Weise helfen werde, ihr Ziel zu erreichen.
Das ist ihnen gelungen. Sie allein unter so vielen Gelehrten der Sterndeutung haben dieses Zeichen verstanden; denn sie allein hatten in der Seele die Sehnsucht, die Worte Gottes zu verstehen mit der einzigen Absicht, Gott zu loben und zu ehren.
Sie suchen nicht den eigenen Nutzen. Sie nehmen vielmehr Mühen und Ausgaben auf sich und verlangen keinen menschlichen Lohn. Sie wünschen nur, daß Gott ihrer gedenke und sie rette für die Ewigkeit. Da sie keine Gedanken an eine künftige, menschliche Belohnung hegen, haben sie auch keine menschliche Sorge, als sie die Reise beschließen. Ihr hättet tausend Vorwände erhoben: „Wie soll ich eine so lange Reise in Länder unternehmen, in denen fremde Sprachen gesprochen werden? Werden sie mir glauben oder werden sie mich als Spion einsperren? Welche Hilfe werden sie mir leisten, um durch Wüsten, über Flüsse und Berge zu kommen? Und die Hitze? Und der Wind der Hochebene? Und die Fiebergefahr in den sumpfigen Gebieten? Die Flüsse, wenn sie vom Regen angeschwollen sind? Dazu die ungewohnte Nahrung? Und die verschiedenen Umgangsformen und . . . und . . . “
So klügelt ihr. Sie klügeln nicht so. Sie sagen mit aufrichtiger und heiliger Kühnheit: „Du, o Gott, kannst in unseren Herzen lesen; du siehst, welches Ziel wir verfolgen; auf deine Führung vertrauen wir.
Verleihe uns die übermenschliche Freude, deine zweite Person, die Mensch geworden ist, das Heil der Welt, anzubeten!“
Das ist alles. Und sie brechen vom fernen Indien auf. (Jesus sagt mir, daß hier unter Indien Mittelasien zu verstehen ist; das Gebiet, wo jetzt Turkestan, Afghanistan und Persien liegen.) Von den mongolischen Bergketten, über denen nur die Adler und die Geier kreisen und wo Gott im Rauschen der Winde und der Gießbäche spricht und geheimnisvolle Worte auf die endlosen Schneefelder schreibt; von den Ländern, in denen der Nil geboren wird und zu strömen beginnt, die grünblaue Ader, die sich in das himmelblaue Herz des Mittelmeers ergießt. Weder Bergrücken noch Wälder, noch Sandwüsten, diese ausgetrockneten Ozeane, die noch gefährlicher sind als die Meere, halten ihre Wanderung auf, und der Stern leuchtet über ihren Nächten und nimmt ihnen den Schlaf. Wenn man Gott sucht, müssen die natürlichen Gewohnheiten der übermenschlichen Ungeduld und Notwendigkeit weichen.
Der Stern nimmt seine Bahn von Norden, von Osten und von Süden, und durch ein Wunder Gottes geht er allen dreien voraus auf denselben Punkt zu. Durch ein weiteres Wunder gibt er ihnen, in einer Vorwegnahme der Pfingstweisheit, die Gabe, zu verstehen und verstanden zu werden, wie es im Paradies geschieht, wo nur eine Sprache gesprochen wird: die Sprache Gottes.
Nur einmal überfällt sie ein Schrecken . . . als der Stern verschwindet; aber in ihrer Demut, in der sie wahrhaft groß sind, denken sie nicht, daß dies wegen der Bosheit anderer geschehen ist, weil das verdorbene Jerusalem es nicht verdiente, den Stern Gottes zu sehen; sie glauben vielmehr, daß sie selbst Gottes unwürdig geworden seien, und prüfen sich mit Zittern und Bangen, bereit, um Verzeihung zu bitten.
Aber ihr Gewissen beruhigt sie. Seelen, die zu betrachten gewöhnt sind, haben ein sehr zartes Gewissen, verfeinert durch beständige Aufmerksamkeit und scharfe Selbstprüfung; sie haben in ihrem Innern einen Spiegel, der auch die kleinsten Flecken im täglichen Geschehen wiedergibt. Sie haben aus ihm einen Lehrmeister gemacht, der beim kleinsten, ich möchte nicht sagen Fehler, sondern schon beim Blick auf einen Fehler, beim Blick zum Menschlichen hin, seine mahnende und tadelnde Stimme erhebt. Wenn sie sich daher diesem Lehrmeister, diesem ernsten und klaren Spiegel gegenüberstellen, wissen sie, daß er nicht lügt. Jetzt aber beruhigt er sie, und sie schöpfen wieder Kraft und Atem.
„Oh! Es ist beruhigend zu fühlen, daß sich in uns nichts findet, was Gott entgegen wäre; zu fühlen, daß er mit Wohlgefallen auf die Seele des treuen Kindes schaut und sie segnet. Dieses Gefühl bringt mit sich eine Zunahme des Glaubens, des Vertrauens, der Hoffnung, der Festigkeit und der Geduld. Jetzt ist die Zeit des Sturmes; aber sie wird vorübergehen, denn Gott liebt mich und weiß, daß ich ihn liebe; er wird es nicht unterlassen, mir weiterzuhelfen.“ So sprechen alle, die den Frieden besitzen, der aus einem guten Gewissen kommt, das der Gebieter all ihrer Handlungen ist.
Ich habe gesagt: sie waren demütig, weil sie wirklich groß waren.
In eurem Leben hingegen, was geschieht da? Wenn einer, nicht weil er groß ist, sondern weil er eigenmächtig ist, sich dank seiner Anmaßung und eurer törichten Vergötterung durchsetzt, so wird er niemals demütig sein. Da gibt es Unglückliche, die schon wegen ihrer Stellung als Verwalter bei einem Mächtigen, als Angestellte in einem Büro, als Funktionäre einer Partei, als Diener also derer, die sie zu solchen gemacht haben, so tun, als ob sie Halbgötter wären.
Sie sind bedauernswert! . . .
Die drei Weisen sind wirklich groß: erstens wegen ihrer übernatürlichen Tugenden, zweitens wegen ihres Wissens und drittens wegen ihres Reichtums. Aber sie halten sich für nichts: Staub auf dem Staub der Erde vor Gott, dem Allerhöchsten, der mit einem Lächeln Welten schafft und sie wie Weizenkörner ausstreut, um die Augen der Engel mit dem Glanz der Sterne zu ergötzen.
Aber sie fühlen sich gering gegenüber dem allerhöchsten Gott, der den Planeten geschaffen hat, auf dem sie leben, und ihn so mannigfach ausgestattet hat; er, der unübertreffliche Bildner unermeßlicher Werke, der hier mit dem Druck eines Fingers eine Krone sanfter Hügel geschaffen hat, dort eine Kette von Bergen und Bergspitzen, als ob es Rückenwirbel der Erde, dieses unermeßlichen Leibes wären, dessen Adern die Flüsse, dessen Becken die Seen, dessen Herz die Ozeane, dessen Kleider die Wälder, dessen Segel die Wolken, dessen Schmuck die Gletscher, dessen Edelsteine Türkise und Smaragde, Opale und Berylle aller Gewässer sind, die mit den Wäldern und Winden den großen Lobgesang singen, den sie dem Herrn zollen.
Aber die drei Weisen fühlen sich in ihrer Weisheit als Nichts gegenüber Gott, dem Allerhöchsten, von dem die Weisheit kommt, und der ihnen viel mächtigere Augen gegeben hat, die mehr vermögen als die beiden Pupillen, mit denen sie die irdischen Dinge sehen: Augen der Seele, die in den Dingen das Wort zu lesen vermögen, das nicht von Menschenhand geschriebene Wort, das geprägt ist vom Gedanken Gottes.
Und sie fühlen ihr Nichts auch in ihrem Reichtum, der nur ein Atom ist im Vergleich zum Reichtum des Herrn, der das Universum besitzt, der Metalle und Edelsteine auf die Sterne streut und übernatürliche Fülle, unerschöpfliche Fülle in das Herz dessen eingießt, der ihn liebt.
Angelangt vor einem Haus, in der elendesten der Städte Judäas, schütteln sie nicht etwa den Kopf und sagen: „Unmöglich!“, sondern beugen den Rücken und die Knie und vor allem das Herz und beten an. Dort hinter dieser armen Mauer ist Gott, der Gott, den sie immer angerufen haben, ohne daß sie jemals im geringsten zu hoffen gewagt hätten, daß sie ihn einmal sehen würden. Aber sie haben ihn angerufen für das Wohl der ganzen Menschheit. Oh! Das allein wünschten sie: Ihn zu sehen, zu besitzen in jenem Leben, das keinen Sonnenaufgang und keinen Abend kennt.
Er ist dort hinter der armen Mauer. Wahrscheinlich hört sein Kinderherz, das aber ebenso das Herz eines Gottes ist, die Herzschläge dieser drei, die sich im Staub der Straße niederbeugen und lobpreisen: „Heilig, heilig, heilig, gebenedeit sei der Herr, unser Gott, und Ehre sei ihm in den höchsten Himmeln und Friede seinen Dienern!
Ruhm, Ehre, Segen und Lobpreis!“ Das erbitten sie von ihm mit liebepochendem Herzen. Und während der ganzen Nacht und des folgenden Morgens bereiten sie sich mit inständigem Gebet auf die Begegnung mit dem göttlichen Kinde vor. Sie gehen nicht zu diesem Altar, der ein jungfräulicher Schoß mit der göttlichen Hostie ist, wie ihr hingeht mit einer Seele voller menschlicher Geschäftigkeit.
Sie vergessen Schlaf und Speise; sie nehmen die allerschönsten Gewänder, und das nicht aus menschlicher Eitelkeit, sondern um den König der Könige zu ehren. In die königlichen Paläste treten die Würdenträger nur mit ihren schönsten Gewändern ein. Und ist es etwa nicht recht, daß sie sich zu diesem König mit ihren Festkleidern begeben? Und welches Fest kann für sie größer sein als dieses?
Oh! In ihren fernen Ländern haben sie sich so schmücken müssen für Menschen ihres Standes, um sie festlich zu empfangen und zu ehren. Es ist daher recht, zu den Füßen des höchsten Königs Purpur und Perlen, Seide und kostbare Federn niederzulegen, da sie ja außerdem alle seine Werke sind; auch diese irdischen Dinge sollen ihren Schöpfer ehren. Und sie wären glücklich gewesen, wenn das Kindlein ihnen befohlen hätte, sich auf den Boden niederzustrecken zu einem lebendigen Teppich für seine kindlichen Schritte und wenn es über sie dahingeschritten wäre: Er, der ihnen die Sterne überlassen hat, ihnen, die nur Staub und abermals Staub sind.
Demütig und hochherzig sind sie und gehorsam den „Stimmen“
des Erhabenen gegenüber. Diese Stimmen befahlen, dem neugeborenen König Geschenke darzubringen. Und sie bringen ihre Gaben.
Sie sagen nicht: „Er ist reich und bedarf dessen nicht. Er ist Gott und wird keinen Tod erleiden.“ Sie gehorchen. Sie sind es, die als erste dem Erlöser in seiner Armut beistehen. Wie gelegen kommt das Gold dem, der morgen schon ein Flüchtling sein wird! Wie bezeichnend sind die Öle für den, der bald getötet wird! Wie lieblich ist der Weihrauch für den, der den widerlichen Gestank der menschlichen Ausschweifung in der Nähe seiner unendlichen Reinheit ertragen muß!
Demütig, hochherzig, gehorsam und voller Ehrfurcht sind sie zueinander.
Tugenden erzeugen immer neue Tugenden. Die auf Gott gerichteten Tugenden gehen über zu den Tugenden dem Nächsten gegenüber. Ehrfurcht wird zur Nächstenliebe. Der Älteste wird gebeten, für alle zu sprechen, als erster den Kuß des Erlösers zu empfangen und seine Händchen zu halten. Die anderen werden ihn wiedersehen können. Er nicht. Er ist alt, und nah ist der Tag seiner Rückkehr zu Gott. Er wird ihn sehen, diesen Christus, nach seinem qualvollen Tod, und er wird ihm folgen in der Schar der Geretteten bei der Rückkehr in den Himmel. Aber er wird ihn nicht mehr sehen hier auf Erden. Als Wegzehr bleibt ihm die Wärme der kleinen Hand, die sich seiner schon runzeligen anvertraute.
Kein Neid bei den anderen. Wohl aber eine Steigerung ihrer Verehrung für den alten Weisen. Er hat es sicher mehr verdient als sie, und längere Zeit hindurch. Das Gotteskind weiß es. Noch spricht es nicht, das Wort des Vaters; aber sein Handeln ist Wort, und gepriesen sei sein unschuldiges Wort, das diesen als Bevorzugten bezeichnet.
Aber meine Kinder, noch zwei andere Lehren ergeben sich aus dieser Vision.
Das Verhalten Josefs, der es versteht an „seinem“ Platz zu bleiben; als Wächter und Beschützer der Reinheit und der Heiligkeit. Aber kein Usurpator der Rechte anderer. Es ist Maria mit ihrem Jesus, die Ehrung und Gruß entgegennimmt. Josef jubelt darüber in sich und ist nicht betrübt, eine Nebenfigur zu sein. Josef ist gerecht; er ist der Gerechte. Und er ist immer gerecht. Auch in dieser Stunde. Der Rauch der Feste steigt ihm nicht in den Kopf. Er bleibt demütig und gerecht.
Er ist glücklich über die Geschenke. Nicht seinetwegen, sondern weil er denkt, mit ihnen das Leben seiner Braut und des lieblichen Kindes angenehmer gestalten zu können. Habgier ist bei Josef nicht zu finden. Er ist ein Arbeiter und wird fortfahren zu arbeiten. Damit „sie“, seine doppelte Liebe, es leicht und bequem haben. Weder er noch die Weisen wissen, daß diese Gaben nützlich sein werden für eine Flucht und ein Leben im Exil, wo Besitz und Vermögen dahinschwinden wie die vom Wind vertriebenen Wolken; aber auch nützlich für die Rückkehr ins Vaterhaus, nachdem alles verlorengegangen ist, Kunden und Werkzeug, und nur die nackten Mauern des Hauses geblieben sind, die Gott beschützt hat, weil er sich dort mit der Jungfrau verbunden hat und Fleisch geworden ist.
Josef, der Beschützer Gottes und seiner Mutter, der Braut des Allerhöchsten, ist so demütig, daß er sogar die Steigbügel dieser Vasallen Gottes hält. Er ist ein armer Schreiner; denn die menschliche Anmaßung hat die Erben Davids ihrer königlichen Rechte und Güter beraubt. Aber er ist immer noch königlicher Abkömmling und hat königliche Züge. Auch für ihn gilt das Wort: „Er war demütig, weil er wahrhaft groß war.“
Und nun eine letzte liebliche und bezeichnende Lehre.
Maria ist es, die Jesu Hand nimmt, die noch nicht zu segnen weiß, und sie zu dieser heiligen Geste führt.
Immer ist es Maria, die Jesu Hand nimmt und sie führt. Auch jetzt.
Jesus weiß jetzt zu segnen; aber bisweilen fällt seine durchbohrte, müde Hand enttäuscht zurück, im Bewußtsein, daß es unnütz ist zu segnen. Ihr zerstört meinen Segen. Die Hand fällt auch empört nieder, weil ihr mich verflucht. Da ist es Maria, die den Unwillen von dieser Hand nimmt, indem sie sie küßt. Oh! Der Kuß meiner Mutter! Wer kann diesem Kuß widerstehen? Und dann nimmt sie dieselbe Hand mit ihren zarten Fingern und zwingt mich liebevoll zu segnen. Meine Mutter kann ich nicht zurückweisen. Aber man muß zu ihr gehen, um sie zur Fürsprecherin zu haben.
Sie war meine Königin, noch bevor sie die eure wurde, und ihre Liebe zu euch hat eine Nachsicht und Langmut, die sogar meine Liebe nicht kennt; und sie vertritt, auch ohne Worte, aber mit den Perlen ihrer Tränen und mit der Erinnerung an mein Kreuz, dessen Zeichen sie mich in der Luft machen läßt, eure Sache und erinnert mich: „Du bist der Erlöser. Rette!“
Seht, Kinder, dies ist das „Evangelium des Glaubens“ in der Szene der Weisen. Betrachtet es und tut desgleichen, zu eurem Besten!«
Freitag, den 3. März 1944
Jesus spricht:
»Schreibe nur dies! Vor einigen Tagen hast du gesagt, daß du sterben wirst mit dem unerfüllten Verlangen, die Heiligen Orte zu sehen. Du siehst sie und zwar so, wie sie waren, als ich sie durch meine Gegenwart heiligte. Heute, nach zwanzig Jahrhunderten der Entheiligung durch Haß oder Liebe sind sie nicht mehr, wie sie waren. Daher bedenke, daß du sie siehst, und wer nach Palästina geht, sie nicht sieht. Also, beklage dich nicht!
Zweitens: Du beklagst dich, daß die Bücher, die von mir sprechen, dir ohne Kraft und Saft zu sein scheinen, während du sie früher so sehr liebtest. Auch das kommt von deiner jetzigen Lage. Wie kannst du wollen, daß dir menschliche Arbeiten vollkommen erscheinen, wenn du die Wahrheit über die Ereignisse durch mich selbst erfährst? So geht es auch mit den Übersetzungen, selbst wenn sie gut sind.
Sie verstümmeln immer die Kraft der ursprünglichen Worte. Die menschlichen Beschreibungen der Orte, der Geschehnisse und Gefühle sind wie „Übersetzungen“, und daher immer unvollkommen, ungenau, wenn nicht in den Worten und in den Tatsachen, so doch in den Gefühlsbeschreibungen. Zumal heute, wo der Rationalismus so vieles unfruchtbar macht. Wenn ich mich daher jemandem offenbare, damit er mich sehe und kennenlerne, dann wirkt jede andere Beschreibung kalt, unbefriedigend, ja abstoßend.
Drittens: Es ist Freitag. Ich will, daß du „mein“ Leiden aufs neue erlebst. Ich will das heute von dir. Du sollst es miterleben in Gedanken und im Fleisch. Genug nun.
Leide im Frieden und in der Liebe!
Ich segne dich.«

58 Die Flucht nach Ägypten

Mein Geist sieht folgende Szene: Es ist Nacht. Josef schläft auf seinem Lager in einem sehr kleinen Raum. Ein sanfter Schlaf dessen, der sich nach vieler ehrlich und fleißig geleisteter Arbeit ausruht.
Ich sehe ihn im Dunkel des Zimmers, das von einem fahlen Mondlicht durchbrochen wird. Das Licht dringt durch einen Spalt des Fensters ein, das nur angelehnt ist, als hätte Josef zu warm in dem kleinen Zimmer, oder wollte er diesen Lichtstreifen haben, um sich nach der Morgendämmerung richten und rechtzeitig aufstehen zu können.
Er liegt auf der Seite und lächelt im Schlaf; wer weiß, was er im Traum sieht. Aber das Lächeln geht in Traurigkeit über. Er seufzt tief, wie wenn ihn ein Alptraum bedrückte, und wacht plötzlich auf.
Er setzt sich im Bett auf, reibt sich die Augen und schaut umher.
Er blickt zum Fensterchen, durch das der Lichtstrahl dringt. Es ist tiefe Nacht; aber er ergreift das Gewand zu Füßen des Lagers und, immer noch auf dem Bettrand sitzend, zieht er es über die weiße Tunika mit kurzen Ärmeln, die er auf der Haut trägt. Er schlägt die Bettdecke zurück, setzt die Füße auf den Boden und sucht die Sandalen, zieht sie an und schnürt sie. Er richtet sich auf und geht zur Tür gegenüber seinem Lager, nicht zur Tür an der Bettseite, die zum großen Raum führt, wo die Magier empfangen wurden. Er pocht leise mit den Fingerspitzen.
Er hört offenbar, daß er eingeladen wird einzutreten, denn er öffnet vorsichtig die Tür und lehnt sie wieder leise an. Er hat ein kleines Öllicht angezündet, bevor er zur Tür gegangen ist; es leuchtet nur schwach. Er tritt ein. In der Kammer, die nur wenig größer ist als die seine, befinden sich ein niedriges Lager und daneben eine Wiege, und in einer Ecke flackert ein Öllicht, das mit seinem milden Schein einem Sternchen gleicht; es erlaubt zu sehen, stört aber die Schlafenden nicht.
Aber Maria schläft nicht. Sie kniet in ihrem hellen Gewand bei der Wiege, betet und wacht über Jesus, der ruhig schläft; Jesus hat dasselbe Alter wie beim Besuch der Weisen; ein Kind von etwa einem Jahr, schön, rosig und blond. Er schläft, das lockige Köpflein im Kissen verborgen und ein Händchen mit geschlossenem Fäustchen unter dem Kinn.
»Schläfst du nicht?« fragt Josef erstaunt mit leiser Stimme. »Warum?
Geht es Jesus nicht gut?«
»Nein, nein! Es geht ihm gut. Ich bete. Aber sicher werde ich bald schlafen gehen. Warum bist du gekommen, Josef?« Maria spricht, während sie am selben Platz auf den Knien bleibt.
Josef spricht ganz leise, um das Kind nicht zu wecken, aber erregt.
»Wir müssen sogleich von hier aufbrechen. Sofort! Bereite die Truhe vor, einen Sack und lege hinein, soviel du kannst. Ich werde das Übrige vorbereiten und mitnehmen, soviel ich kann . . . In der Morgenfrühe müssen wir fliehen. Ich würde schon früher gehen, aber ich muß noch mit der Hausherrin reden . . . «
»Aber warum diese Flucht?«
»Ich werde es dir später erklären. Es ist wegen Jesu. Ein Engel hat mir gesagt: „Nimm das Kind und die Mutter und fliehe nach Ägypten!“ Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich will vorbereiten, was ich kann.«
Es ist unnötig, Maria zu sagen, sie dürfe keine Zeit verlieren.
Kaum hat sie vom Engel sprechen gehört, von Jesus und von Flucht, hat sie auch schon verstanden, daß ihr Kind in Gefahr schwebt. Sie hat sich erhoben, ein Gesicht bleicher als Wachs, und hält angstvoll die Hand auf ihr Herz. Sofort beginnt sie, flink und leicht die Kleider in der Truhe und in einem weiten Sack, den sie auf ihrem noch unberührten Bett ausbreitet, unterzubringen. Gewiß hat sie Angst, aber den Kopf hat sie nicht verloren. Sie macht alles rasch und sorgsam.
Immer, wenn sie an der Wiege vorübergeht, wirft sie einen Blick auf Jesus, der unbekümmert schläft.
»Brauchst du Hilfe?« fragt Josef von Zeit zu Zeit, indem er den Kopf durch die halbgeöffnete Tür steckt.
»Nein, danke«, erwidert Maria jedesmal. Erst, als der Sack voll und schwer daliegt, ruft sie Josef zu Hilfe, um ihn gemeinsam zu schließen und vom Bett zu heben. Josef kommt, will aber keine Hilfe, sondern macht alles allein; er nimmt das umfangreiche Bündel und trägt es in seine Kammer.
»Soll ich auch die Wolldecken mitnehmen?« fragt Maria.
»Nimm, soviel du kannst. Den Rest werden wir verlieren; aber nimm auf jeden Fall die Decken mit! Sie werden uns nützlich sein; denn wir müssen einen weiten Weg zurücklegen, Maria! . . . « Josef ist sehr bedrückt bei diesen Worten, und Maria kann sich vorstellen, wie ihm zumute ist. Sie faltet ihre und Josefs Bettdecke zusammen, und er bindet sie mit einer Leine zusammen. »Lassen wir die Steppdecke und die Matten zurück!« sagt er, während er die Bettdecken schnürt. »Auch wenn ich drei Esel nehme, darf ich sie nicht zu sehr belasten. Wir haben eine lange und beschwerliche Reise vor uns, teils über Berge, teils durch die Wüste. Decke Jesus gut zu! Die Nächte sind sehr kalt in den Bergen, ebenso in der Wüste. Ich nehme die Geschenke der Weisen mit, denn sie werden uns dort unten sehr nützlich sein. Alles, was ich habe, gebe ich, um zwei Esel zu kaufen.
Wir können sie nicht zurückschicken, müssen sie also kaufen. Ich gehe, ohne auf das Morgengrauen zu warten. Ich weiß, wo ich sie finden kann. Beendige du, was noch zu tun ist!« Und er geht hinaus.
Maria packt noch einige Sachen zusammen, geht dann mit einem Blick auf Jesus hinaus und kehrt mit Kleidchen zurück, die noch feucht zu sein scheinen; vielleicht wurden sie tags zuvor gewaschen.
Sie faltet sie zusammen, wickelt sie in ein Tuch und legt sie zu den anderen Sachen. Das ist alles. Sie blickt umher und sieht ein Spielzeug von Jesus: ein aus Holz geschnitztes Schäfchen. Sie nimmt es mit einem Seufzer und küßt es. Das Holz trägt die Spuren der Zähnchen Jesu, und die Öhrchen des Schäfchens sind ganz abgenagt. Maria liebkost diesen armseligen Gegenstand aus einfachem Holz, der aber für sie sehr wertvoll ist; denn er spricht von der Liebe Josefs zu Jesus und erzählt von ihrem Kind. Auch das legt sie neben die anderen Sachen auf die verschlossene Truhe.
Jetzt bleibt wirklich nichts mehr übrig. Nur Jesus ist noch in seiner Wiege. Maria findet, daß es Zeit ist, auch das Kind herzurichten. Sie geht zur Wiege und schüttelt sie ein wenig, um den Kleinen aufzuwecken.
Aber er läßt nur ein kleines Wimmern hören und wendet sich auf die andere Seite, um weiterzuschafen. Maria streichelt ihm zärtlich die Löckchen. Jesus öffnet sein Mündchen und gähnt. Maria beugt sich über ihn und küßt ihn auf die Wange. Da erwacht Jesus.
Er öffnet die Augen, sieht seine Mama, lächelt und streckt seine Händchen nach ihrer Brust aus.
»Ja, du Liebling deiner Mama. Ja, die Milch . . . früher als gewohnt . . . aber du bist immer bereit, an deiner Mutter zu saugen, mein heiliges Lämmlein.«
Jesus lacht und scherzt, indem er die Decke wegstrampelt. Er wirft die Ärmchen mit jener Heiterkeit um sich, die an den Kindern so lieblich wirkt. Er stemmt die Füßchen gegen den Magen der Mama, biegt sich zu einem Bogen und legt das blonde Köpfchen auf ihre Brust. Dann wirft er sich zurück und lacht, während er mit den Händchen die Kordeln des Kleides Marias umklammert, die am Hals gebunden sind und versucht, sie zu öffnen. In seinem Linnenhemdchen sieht er wunderschön aus und rosig wie eine Blume.
Maria beugt sich über die Wiege, wie zum Schutz, und weint und lächelt in einem, während das Kind Worte lallt, die keine sind, in denen aber klar und deutlich das Wort „Mama“ wiederkehrt. Er schaut sie an, erstaunt, sie weinen zu sehen, streckt ein Händchen in die leuchtende Linie der Tränen aus und befeuchtet es beim Liebkosen; dann lehnt er sich wieder an die mütterliche Brust und drückt sich ganz daran, indem er sie mit seinen Händchen liebkost.
Maria küßt ihn auf die Haare und nimmt ihn in die Arme, setzt sich nieder und kleidet ihn an. Schon ist das wollene Kleidchen übergezogen und auch die Sandälchen an den Füßen. Sie gibt ihm die Brust, und Jesus saugt begierig die mütterliche Milch und da es ihm scheint, daß von der rechten Seite immer weniger kommt, sucht er die linke. Er lacht dabei und schaut von unten herauf seine Mutter an. Dann schläft er an ihrem Busen ein, die rosige rundliche Wange noch an die weiße, runde Mutterbrust gelehnt.
Maria erhebt sich vorsichtig und legt ihn auf die Steppdecke ihres Bettes. Sie bedeckt ihn mit ihrem Mantel, kehrt zur Wiege zurück und faltet die kleinen Deckchen. Sie überlegt, ob es gut wäre, auch das Maträtzchen mitzunehmen. Es ist so lieblich klein! Man kann es mitnehmen. Zusammen mit dem Kopfkissen legt sie es neben die Sachen, die bereits auf der Truhe liegen. Und nun weint sie über der leeren Wiege, die arme mit ihrem Kindlein verfolgte Mutter.
Josef kommt herein. »Bist du bereit? Ist Jesus bereit? Hast du seine Decken und sein Bettchen? Die Wiege können wir nicht mitnehmen, aber er soll wenigstens seine kleine Matratze haben, armer Kleiner, den man zu töten sucht!«
»Josef!« ruft Maria aus, während sie den Arm Josefs erfaßt.
»Ja, Maria, sie wollen ihn töten! Herodes will ihn töten . . . Denn er fürchtet ihn . . . wegen seines irdischen Reiches hat er Angst vor diesem unschuldigen Kind, die unreine Bestie! Was er tun wird, wenn er erfährt, daß Jesus geflohen ist, weiß ich nicht. Aber wir werden bald schon in weiter Ferne sein. Ich glaube nicht, daß er sich rächen wird und ihn bis nach Galiläa verfolgen wird. Es wäre sehr schwierig für ihn herauszufinden, daß wir Galiläer sind und dazu aus Nazaret, und wer wir genau sind. Es sei denn, daß Satan ihm hilft zum Dank für seine treuen Dienste. Aber was auch geschieht, Gott wird uns helfen. Weine nicht, Maria! Dich weinen zu sehen, ist mir ein viel größerer Schmerz, als ins Exil gehen zu müssen.«
»Verzeih mir, Josef! Nicht wegen mir weine ich, nicht wegen der geringen Habe, die ich verliere. Ich weine wegen dir . . . Du hast schon so viel opfern müssen! Und jetzt kommt es soweit, daß du weder Kunden noch Haus haben wirst. Wieviel koste ich dich, Josef!«
»Wieviel? Nein, Maria, es kostet mich nichts. Es tröstet mich. Denke nicht an morgen! Wir haben die Schätze der Weisen. Sie werden uns helfen in der ersten Zeit. Ich werde Arbeit suchen. Ein ehrlicher und geschickter Arbeiter findet seinen Weg. Du hast es hier gesehen.
Die Stunden reichen mir nicht für die Arbeit, die ich habe.«
»Ich weiß es. Aber was wird dich vor dem Heimweh schützen?«
»Und du, wer wird dich trösten in der Sehnsucht nach dem Haus, das dir so teuer ist?«
»Jesus! In ihm habe ich immer noch, was ich dort empfangen habe.
«
»Auch ich habe in Jesus meine Heimat, die ich noch bis vor wenigen Monaten erhoffte. Ich habe meinen Gott. Du siehst, daß ich nichts von dem verliere, was mir über alles teuer ist; wenn wir nur Jesus retten, dann bleibt uns alles. Auch wenn wir diesen Himmel nicht wiedersehen sollten, diese Weiden und selbst Galiläa nicht, so werden wir immer noch alles haben, weil wir ihn besitzen. Komm, Maria, die Dämmerung beginnt! Es ist Zeit, uns von der Gastwirtin zu verabschieden und unsere Sachen aufzuladen. Alles wird gut gehen.«
Maria erhebt sich gehorsam und hüllt sich in ihren Mantel, während Josef ein letztes Bündel packt und mit ihm beladen hinausgeht.
Maria nimmt behutsam das Kind, wickelt es in einen Schal und drückt es an das Herz. Sie blickt noch einmal auf die Wände, in denen sie einige Monate Schutz gefunden haben, und streift sie mit einer Hand. Glückliches Haus, das Maria geliebt und gesegnet hat!
Sie geht hinaus und, nachdem sie das Zimmerchen Josefs durchschritten hat, begibt sie sich in den großen Raum. Die Hausherrin küßt sie unter Tränen; dann hebt sie den Schal hoch und küßt das Kind auf die Stirn; es schläft ruhig weiter. Darauf steigen sie die äußere Treppe hinunter.
Der erste Schimmer der Morgendämmerung zeigt sich am Horizont; man kann noch kaum etwas erkennen. Im kargen Licht unterscheidet man die Konturen dreier Lasttiere. Das stärkste ist bereits mit dem Hausrat beladen. Die beiden anderen haben Sättel. Josef bemüht sich, die Truhe und das Bündel gut am Saumsattel des einen zu befestigen. Ich sehe seine Schreinerwerkzeuge zusammengebunden oben auf dem Bündel. Noch einige Grüße und Tränen, und Maria besteigt ihren Esel, während die Hausherrin Jesus in den Armen hält und ihn nochmals küßt. Dann gibt sie ihn Maria zurück. Auch Josef besteigt seinen Esel, den er mit dem Lastesel verbunden hat; so ist er frei, das Eselchen Marias am Halfter zu halten.
Die Flucht beginnt, während Betlehem, das noch von der zauberhaften Ankunft der Weisen träumt, ruhig schläft und nichts von dem ahnt, was ihm bevorsteht.
So endet die Vision.

59 »Der Schmerz war unser treuer Freund und hatte die verschiedensten Gesichter und Namen«

Jesus spricht:
Auch diese Folge von Visionen endet so. In gutem Einvernehmen mit den schwierigen Doktoren haben wir dir Szenen gezeigt, die meiner Ankunft vorausgegangen sind, sie begleitet haben und ihr gefolgt sind; nicht um ihrer selbst willen, denn sie sind sehr bekannt, sondern weil sie im Lauf der Jahrhunderte durch Beifügungen aus menschlicher Sicht entstellt wurden. Diese Entstellungen erfolgten in guter Gesinnung, zur höheren Ehre Gottes, und sind deshalb verzeihlich; aber sie machen doch die Wirklichkeit unwirklich, die im tatsächlichen Geschehen so wunderschön ist. Meine Menschlichkeit und die Marias werden durch diese Rückkehr zur Wirklichkeit nicht herabgemindert, ebenso wenig wie meine Gottheit, die Majestät des Vaters und die Liebe der Allerheiligsten Dreifaltigkeit durch diese Wirklichkeit verkleinert werden. Vielmehr treten die Verdienste meiner Mutter und meine vollkommene Demut, sowie auch die allmächtige Güte des Ewigen Herrn nur noch leuchtender hervor.
Wir haben dir aber diese Szenen gezeigt, um dir und anderen den übernatürlichen Sinn aufzuzeichnen, der in ihnen liegt und euch als Lebensnorm dienen soll.
Die Zehn Gebote Gottes sind das Gesetz; mein Evangelium ist die Glaubenslehre, die dieses Gesetz klarer beleuchtet und freudiger befolgen läßt. Dieses Gesetz und diese Lehre würden genügen, um aus den Menschen Heilige zu machen.
Aber ihr werdet von eurer menschlichen Natur so behindert, sie unterdrückt euren Geist so sehr, daß ihr diesen Wegen nicht folgen könnt, daß ihr fallt oder mutlos stehenbleibt. Ihr sagt euch selbst oder anderen, die euch vorwärtsbringen wollen, indem sie Beispiele aus dem Evangelium zitieren: „Aber Jesus, Maria und Josef (und mit ihnen alle Heiligen) waren nicht wie wir. Sie waren stark und wurden sofort getröstet in ihren geringen Leiden; sie kannten nicht die Leidenschaften und waren nicht so erdgebunden wie wir.“
Geringe Leiden? Sie kannten die Leidenschaften nicht?
Der Schmerz war unser treuer Freund und hatte die verschiedensten Gesichter und Namen. Die Leidenschaften . . . mißbraucht das Wort nicht und nennt die Laster, die euch irreleiten, nicht Leidenschaften; nennt sie aufrichtig „Laster“ und überdies „Hauptlaster“!
Es stimmt nicht, daß wir sie nicht kannten. Wir hatten Augen und Ohren, um zu sehen und zu hören, und Satan ließ vor uns und um uns die Laster tanzen; er zeigte sie uns in ihrem ganzen Schmutz oder versuchte uns mit Einflüsterungen. Aber, da unser Wille nur bestrebt war, Gott zu gefallen, erreichte Satan mit diesen Widerlichkeiten und Einflüsterungen nur das Gegenteil von dem, was er zu erreichen suchte. Und je mehr er uns verfolgte, um so mehr suchten wir unsere Zuflucht im Licht Gottes, aus Abscheu vor der schlammigen Finsternis, die er unseren leiblichen oder geistigen Augen anbot.
Aber die Leidenschaften im philosophischen Sinn waren uns nicht unbekannt. Wir haben die Heimat geliebt, und in der Heimat unser kleines Nazaret mehr als jede andere Stadt in Palästina. Wir haben die Zuneigung zu unserem Haus, zu unseren Verwandten und Freunden gefühlt. Warum hätten wir sie nicht fühlen sollen? Aber wir sind nicht zu ihren Sklaven geworden; denn nichts darf uns beherrschen als Gott allein. Aber wir waren ihnen gute Kameraden.
Meine Mutter tat einen Freudenschrei, als sie nach etwa vier Jahren nach Nazaret zurückkehrte und den Fuß auf die Schwelle ihres Häuschens setzte. Sie hat die Wände geküßt, in denen sie durch ihr „Ja“ ihren Schoß dem göttlichen Keim öffnete. Josef hat mit Freude seine Verwandten und seine Neffen begrüßt, die an Zahl und Jahren herangewachsen waren, und außerdem konnte er feststellen, daß seine Mitbürger sich seiner erinnerten und ihn sofort wegen seiner Tüchtigkeit wieder aufsuchten. Ich bin sehr empfänglich gewesen für Freundschaften und habe den Verrat des Judas als eine seelische Kreuzigung empfunden. Und was folgt daraus? Weder meine Mutter noch Josef zogen ihre Liebe zu Haus und Verwandtschaft dem Willen Gottes vor.
Und ich verschonte weder die Hebräer noch den Judas, wenngleich ich mir dadurch ihren Groll und ihren Unmut zuzog. Ich wußte, daß Geld genügt hätte, um ihn an mich zu binden; nicht an mich, den Erlöser, sondern an mich, den reichen Mann. Ich, der ich das Brot vermehrt habe, hätte auch das Geld vermehren können, wenn ich gewollt hätte. Aber ich bin nicht gekommen, um menschliche Befriedigungen zu verschaffen. Niemandem! Am allerwenigsten meinen Berufenen. Ich habe Opfer, Losschälung, keusches Leben und demütige Haltung gepredigt. Was für ein Meister wäre ich gewesen und was für ein Gerechter, wenn ich jemandem, um ihn zu behalten, Geld gegeben hätte für seine geistigen und leiblichen Bedürfnisse?
Groß wird man in meinem Reich, wenn man sich „klein“ macht.
Wer groß sein will in den Augen der Welt, der ist nicht geeignet, in meinem Reich zu herrschen. Er ist Stroh für das Bett der Dämonen.
Denn die Größe der Welt steht im Widerspruch zum Gesetz Gottes.
Die Welt nennt „groß“, die mit fast immer unerlaubten Mitteln die besten Posten zu erobern wissen; und um sie zu erreichen, machen sie aus dem Nächsten einen Schemel, auf den sie steigen, um ihn dann zu erdrücken. Sie nennt „groß“, die zu töten verstehen um der Herrschaft willen. Sie töten seelisch oder physisch. Sie erpressen sich Stellungen und Länder und bereichern sich, indem sie andere in ihren privaten und gemeinschaftlichen Gütern aussaugen. Die Welt nennt oft die Verbrecher „groß“. Nein! Verbrechertum ist keine Größe.
Diese liegt in der Güte, in der Ehrenhaftigkeit, in der Liebe, in der Gerechtigkeit. Seht eure „Großen“: welch vergiftete Früchte sie euch anbieten, die sie in ihrem verbrecherischen, dämonischen Seelengarten gezüchtet haben!
Ich möchte noch etwas zur letzten Vision sagen und nicht weiter von anderen Dingen reden, da es ja unnütz ist, weil die Welt die Wahrheit, die sie angeht, nicht hören will. Diese Vision beleuchtet einen Satz, den wir im Matthäus-Evangelium zweimal vorfinden: „Erhebe dich, nimm das Kind und seine Mutter und fliehe nach Ägypten!“ [Mt 2,13] und: „Erhebe dich, nimm das Kind und dessen Mutter und kehre in das Land Israel zurück!“ [Mt 2,20]. Und du hast gesehen, daß Maria allein in ihrem Zimmer mit ihrem Kind war.
In Abrede gestellt wird die Jungfräulichkeit Marias nach der Geburt und die Keuschheit Josefs von denen, die selbst faulender Schlamm sind und nicht gestehen wollen, daß menschliche Geschöpfe, wie die beiden es sind, Flügel und Licht sein können. Es sind die Unglücklichen, deren Seele so verdorben und deren Fleisch so dem Fleisch verfallen ist, daß es ihnen unvorstellbar ist, daß ein Mann die Frau so achten kann und in ihr nur die Seele und nicht das Fleisch sieht, und daß er sich selbst erhebt, um in einer übernatürlichen Atmosphäre zu leben, wo nicht Fleischliches begehrt wird, sondern nur das, was göttlich ist.
Nun, diesen Leugnern des Schönsten, diesen Würmern, die unfähig sind, zu Schmetterlingen zu werden, diesen vom Schlamm ihrer Sinnenlust bedeckten Kriechtieren, die keine Ahnung haben von der Schönheit einer Lilie, sage ich, daß Maria Jungfrau war und blieb, und daß nur ihre Seele mit Josef vermählt war, wie ihr Geist einzig und allein mit dem Geist Gottes verbunden war. Und nur durch sein Eingreifen empfing sie den Einzigen, den sie im Schoß getragen: Mich, Jesus Christus, den Eingeborenen von Gott und Maria.
Das ist keine erst später entstandene Überlieferung, weil man liebevolle Ehrfurcht für die Selige empfand, die meine Mutter war.
Matthäus wurde nicht Jahrhunderte später geboren. Er war ein Zeitgenosse Marias. Matthäus war kein armer Ungebildeter, der aus der Wildnis kam und bereit war, jedes Märchen zu glauben. Er war ein Zollbeamter, wie ihr heute sagen würdet; ein Zöllner, wie wir damals sagten. Er verstand es zu sehen, zu hören, zu begreifen und zu unterscheiden zwischen Wahrem und Falschem. Matthäus kannte die Dinge nicht nur vom Hörensagen. Er vernahm sie von den Lippen Marias, die zu fragen ihn die Liebe zum Meister und zur Wahrheit drängte. Ich glaube nicht, daß die Leugner der Makellosigkeit Marias denken können, sie selbst habe gelogen. Meine eigenen Verwandten hätten sie widerlegen können, wenn sie andere Kinder gehabt hätte: Jakob, Judas, Simon und Josef waren Mitjünger des Matthäus. Es wäre ihm leicht gewesen, Behauptungen zu vergleichen, wenn es Meinungsverschiedenheiten gegeben hätte. Matthäus sagt nie: „Erhebe dich, nimm deine Frau.“ Er sagt: „Nimm seine Mutter!“ Vorher sagt er: „Die mit Josef verlobte Jungfrau“ [Mt 1,18]
und „Josef, ihr Bräutigam“ [Mt 1,16].
Sie sollen mir nicht entgegenhalten, daß das eine Redeweise der Hebräer war, als ob es eine Schande gewesen wäre, Frau zu sein.
Nein, ihr Leugner der Reinheit! Schon in den ersten Zeilen des Buches liest man: „. . . und er wird sich vereinigen mit ihr“ [Gen 2,24].
Sie wird Gefährtin genannt bis zum Augenblick der vollzogenen körperlichen Ehegemeinschaft, und erst danach wird sie verschiedene Male und in verschiedenen Kapiteln „Frau“ genannt. Dasselbe gilt auch von den Frauen der Söhne Adams. Ebenso wird Sara die Frau Abrahams genannt: „Nimm Sara, deine Frau“ [Gen 17,15]. „Nimm deine Frau und deine beiden Töchter“, wird zu Lot gesagt [Gen 19,15], und im Buch Rut steht geschrieben: „Die Moabiterin, die Frau des Machlon“ [Rut 4,10]; im ersten Buch Samuels heißt es: „Elkana hatte zwei Frauen“ [1 Sam 1,1–2], und weiterhin: „Elkana erkannte nun seine Frau Hanna“ [1 Sam 1,19]; ferner: „Eli segnete Elkana und seine Frau“ [1 Sam 2,20], und an einer anderen Stelle sagt das Buch Samuels [2 Sam 11,27]: „Batseba, die Frau des Urija, des Hetiters, wurde die Frau Davids, und sie gebar ihm einen Sohn.“ Und wie heißt es in dem blauen Buch des Tobias, aus dem die Kirche euch bei eurer Hochzeit singt, um euch zu raten, in der Ehe heilig zu sein?
„Als nun Tobias mit seiner Frau und seinem Sohn ankam . . . “ [Tob 1,11], und weiter: „Tobias gelang es, mit dem Sohn und seiner Frau zu fliehen“ [Tob 1,21].
In den Evangelien, d. h. in der Zeit, in der Christus lebte und man also in der damals modernen Sprache schrieb und deshalb keine Abschreibefehler zu befürchten hatte, heißt es, und ausgerechnet bei Matthäus, im 22. Kapitel: „. . . und der erste nahm die Frau, starb und ließ die Frau seinem Bruder“ [Mt 22,25], und bei Markus, im Kapitel 10: „Wer seine Frau verstößt . . . “ [Mk 10,11]; Lukas nennt viermal hintereinander Elisabet die Frau des Zacharias [Lk 1,5; 1,13; 1,8; 1,24], und im achten Kapitel sagt er: „Johanna, die Frau des Chuza“ [Lk 8,3].
Wie ihr seht, wurde dieses Wort von denen nicht verschmäht, die auf den Wegen des Herrn wandelten; es war kein unreines Wort, das man nicht aussprechen und noch weniger niederschreiben durfte, wo es sich um Gott und seine Wunderwerke handelte. Und wenn der Engel sagt: „Das Kind und seine Mutter“, dann meint er damit: „Sie war seine wahre Mutter“, die aber nicht die „Frau“ des Josef war. Sie blieb immer „die mit Josef verlobte Jungfrau.“
Das ist nun die letzte Lehre aus diesen Visionen. Sie ist wie ein Glorienschein um das Haupt Marias und Josefs: der unversehrten Jungfrau und des gerechten, keuschen Mannes. Die zwei Lilien, unter denen ich aufwuchs und nur den Wohlgeruch der Reinheit wahrnahm.
Mit dir, mein kleiner Johannes (eine Anrede, die immer der Seherin gilt), könnte ich über den Schmerz Marias bei ihrer doppelten Trennung von Haus und Heimat reden. Aber es ist nicht nötig, darüber zu sprechen. Du verstehst, was das bedeutet, und du stirbst daran. Gib mir deinen Schmerz! Ich will nichts anderes. Er ist das beste von all dem, was du mir geben kannst. Es ist Freitag, Maria. Denke an mein und an Marias Leiden auf Golgota, um dein Kreuz tragen zu können! Der Friede und unsere Liebe bleiben mit dir.«

60 Die Heilige Familie in Ägypten

Eine liebliche Vision von der Heiligen Familie. Der Ort befindet sich in Ägypten; darüber besteht kein Zweifel, denn ich sehe die Wüste und eine Pyramide.
Ich sehe ein Häuschen, das aus einem weißen Erdgeschoß besteht.
Ein armes Haus sehr armer Leute. Seine Mauern sind kaum verputzt und mit einer schwachen Kalkschicht bestrichen. Das Häuschen hat zwei nebeneinander liegende Türen, die in die zwei einzigen Räume führen, in die ich vorerst nicht eintrete. Das Häuschen steht auf einem sandigen Boden, der von einem Schilfrohrhecke eingezäunt ist. Nur ein schwacher Schutz gegen Diebe; er kann wohl höchstens Hunde oder umherirrende Katzen abwehren. Wer möchte auch dort etwas stehlen, wo offenbar keine Spur von Reichtum zu finden ist?
Um den Zaun etwas solider und weniger armselig erscheinen zu lassen, hat man an ihm eine einfache Ackerwinde emporklettern lassen. Nur auf der einen Seite ist ein blühender Jasminstrauch und ein Rosenstock von der allergewöhnlichsten Sorte. Das kleine Stück Land innerhalb des Rohrzauns ist sorgfältig bebaut. Trotz des trockenen und mageren Geländes ist ein kleines Gärtchen angelegt worden. Ich sehe das bescheidene Grün der wenigen Beete unter einem Baum mit hohem Stamm, dessen Namen ich nicht kenne; dieser gibt dem der Sonne sehr ausgesetzten Gelände und dem Häuschen etwas Schatten. An den Baumstamm ist eine schwarzweiße Ziege angebunden, die Blätter von Zweigen, die auf dem Boden liegen, abreißt und wiederkäut.
Im Schatten des Baumes, auf einer am Boden ausgebreiteten Matte, sitzt das Jesuskind. Es scheint mir zwei, höchstens zweieinhalb Jahre alt zu sein. Es spielt mit einigen geschnitzten Figuren, die Schäfchen oder Pferdchen darstellen, und mit einigen hellen Hobelspänen, die weniger geringelt sind als seine goldenen Locken. Mit den Patschhändchen versucht es, Hobelspäne um den Hals seiner Tierchen zu legen.
Das Jesuskind ist brav und lächelt. Ein wunderschöner Anblick!
Ein Köpfchen voller goldener, sehr dichter Locken. Die Haut hell und zart gerötet; lebhafte, strahlende, tiefblaue Augen. Der Ausdruck ist natürlich nicht der frühere, aber an der Farbe der Augen erkenne ich meinen Jesus: zwei dunkle, überaus schöne Saphire. Er trägt eine Art langes, weißes Hemdchen, das sicher als Tunika dient.
Die Ärmel reichen bis zu den Ellbogen. Er ist zurzeit barfuß. Die Sandälchen liegen auf der Matte, und auch sie dienen dem Kind als Spielzeug; es legt seine Tiere auf die Sohle und zieht an den Nesteln des Sandälchens, als wäre es ein kleines Fuhrwerk. Es sind sehr einfache Sandälchen: eine Sohle und zwei Nesteln, von denen eine an der Spitze, die andere an der Ferse befestigt ist. Die an der Spitze teilt sich an einem bestimmten Punkt, und ein Teil geht durch die Öse des Riemens an der Ferse, um sich dann mit dem anderen Teil verflechten zu lassen und auf dem Rist des Fußes einen Ring zu bilden.
In geringer Entfernung, ebenfalls im Schatten des Baumes, sitzt die Muttergottes. Sie webt an einem einfachen Webstuhl und überwacht das Kind. Ich sehe, wie die feinen, weißen Hände das Weberschiffchen hin- und herbewegen; ihr mit Sandalen bekleideter Fuß tritt das Pedal. Sie trägt eine malvenfarbige Tunika: rötlichviolett wie gewisse Amethyste. Sie ist barhaupt, und so kann ich erkennen, daß ihre auf dem Haupt gescheitelten blonden Haare einfach gekämmt, zu zwei Zöpfen geflochten und am Nacken zu einem zierlichen Knoten zusammengefaßt sind. Sie trägt lange, fast enge Ärmel. Sie hat keinen anderen Schmuck als ihre Schönheit und ihren lieblichen Gesichtsausdruck.
Die Farbe des Gesichtes, der Haare, der Augen und die Gesichtsform sind so, wie ich sie immer sehe. Hier scheint sie sehr jung, höchstens zwanzig Jahre alt.
Auf einmal erhebt sie sich, beugt sich über das Kind, legt ihm die Sandälchen an und schnürt sie mit Sorgfalt. Dann liebkost sie es und küßt es auf das Köpfchen und die Äuglein. Das Jesulein lallt etwas, und sie antwortet; aber ich verstehe die Worte nicht. Dann kehrt sie zu ihrem Webstuhl zurück, breitet über Leinwand und Gestell ein Tuch aus, nimmt den Schemel, auf dem sie gesessen hat, und trägt ihn ins Haus. Das Knäblein folgt ihr mit dem Blick, ohne sich zu ängstigen, weil sie es allein läßt.
Man sieht, daß die Arbeit beendet ist und der Abend hereinbricht.
Tatsächlich senkt sich die Sonne über die nackte Landschaft, und ein wahrer Feuerbrand zieht am Himmel hinter der fernen Pyramide auf.
Maria erscheint wieder; sie nimmt Jesus bei der Hand und läßt ihn von seiner Strohmatte aufstehen. Das Kind gehorcht ohne Widerstand, während die Mutter das Spielzeug und die Matte zusammenrafft und ins Haus trägt. Es trippelt auf seinen wie gedrechselten Beinchen zur kleinen Ziege und wirft ihr die Ärmchen um den Hals.
Die Ziege meckert und streift ihr Mäulchen an der Schulter Jesu.
Maria kommt wieder. Jetzt hat sie einen langen Schleier auf dem Haupt und einen Krug in der Hand. Sie nimmt Jesus beim Händchen, und beide gehen um das Häuslein herum auf die Vorderseite.
Ich folge ihnen mit meinen Augen und bewundere die Anmut des Bildes. Die Muttergottes bemißt ihren Schritt nach dem des Kindes, und das Kind trippelt an ihrer Seite. Ich sehe die rosigen Fersen, die mit der den Kinderschritten eigenen Grazie sich erheben und sich im Sand des Pfades aufsetzen. Es fällt mir auf, daß seine Tunika nicht bis zu den Füßen, sondern nur bis zur Mitte der Waden reicht.
Sie ist sehr reinlich, sehr einfach und wird um die Lenden von einer ebenfalls weißen Kordel festgehalten.
Ich sehe, daß vor dem Haus der Zaun von einer einfachen Gartentür unterbrochen wird, die Maria öffnet, um auf den Weg hinauszutreten.
Ein armseliger Weg am Rand einer Stadt oder eines Dorfes, was es auch immer sein mag, dort, wo es auf dem sandigen Boden endet; noch ein anderes Häuschen steht hier, arm wie das ihrige, mit einem kleinen Garten. Ich sehe niemanden. Maria schaut zur Ortsmitte hin, nicht zum Land, als ob sie jemanden erwarte; dann geht sie auf eine Quelle oder einen Brunnen zu, der einige zehn Meter weit entfernt und von einigen schattigen Palmen umgeben ist. Ich sehe, daß der Boden dort auch einige grüne Gräser aufweist.
Ich sehe einen Mann des Weges kommen; er ist nicht sehr groß, aber kräftig. Ich erkenne in ihm Josef. Er lächelt; er ist jünger als zu dem Zeitpunkt, da ich ihn in der Paradiesvision sah. Er scheint höchstens vierzig Jahre zu zählen. Haut und Barthaare sind dicht und schwarz, die Haut etwas gebräunt, die Augen dunkel. Er hat ein ehrliches und ansprechendes Gesicht und einen Blick, der Vertrauen einflößt. Sobald er Jesus und Maria sieht, beschleunigt er seine Schritte. Auf der linken Schulter trägt er eine Säge und eine Art Hobel, und in der Hand hält er andere Werkzeuge seines Handwerkes, die den heutigen ähnlich sind. Es scheint, daß er von einer Arbeit heimkehrt, die er in irgendeinem Haus geleistet hat.
Sein Gewand hat die Farbe zwischen nuß- und haselnußbraun; es ist nicht sehr lang; es endet ein gutes Stück über den Knöcheln, und die Ärmel reichen bis zu den Ellbogen. Um die Lenden trägt er einen Ledergurt, wie mir scheint; ein wahres Arbeitergewand. An den Füßen Sandalen, die um die Knöchel geschnürt sind.
Maria lächelt, das Kind gibt Freudenschreie von sich und streckt das freie Ärmchen aus. Bei der Begegnung der drei beugt sich Josef über das Kind und gibt ihm eine Frucht, offenbar einen Apfel, nach Farbe und Form zu schließen. Dann hält er ihm die Arme entgegen, und das Kind verläßt die Mutter und stürzt sich in Josefs Arme, neigt das Köpfchen zum Hals Josefs, küßt ihn und wird von ihm geküßt. Eine Szene voll zärtlicher Anmut.
Ich vergaß zu sagen, daß Maria bereitwillig die Arbeitswerkzeuge Josefs übernommen hat, um ihn für die Umarmung des Kindes frei zu machen.
Josef erhebt sich wieder; er hatte sich bis zur Höhe Jesu niedergebeugt.
Nun nimmt er mit der linken Hand seine Werkzeuge wieder und hält auf dem rechten Arm den kleinen Jesus fest an seine starke Brust. Er nähert sich dem Haus, während Maria zur Quelle geht, um ihren Krug mit Wasser zu füllen. Nachdem er in die Umzäunung des Hauses eingetreten ist, stellt Josef das Knäblein zu Boden, nimmt den Webstuhl Marias und trägt ihn ins Haus; dann melkt er die Ziege. Und Jesus beobachtet aufmerksam jede Handlung, auch wie die Ziege in ihren kleinen Stall auf einer Seite des Hauses gebracht wird.
Der Abend sinkt hernieder. Ich sehe, wie das Rot des Sonnenuntergangs auf dem Sand ins Violett übergeht; die Luft scheint vor Wärme zu zittern, und die Pyramide wird dunkler.
Josef geht in das Haus, in ein Zimmer, das zugleich Werkstatt, Küche und Eßzimmer ist. Es scheint, daß das andere Zimmer als Schlafraum dient. Aber dort sehe ich nicht hinein. Hier ist eine niedrige brennende Feuerstelle, dort eine Hobelbank, ein kleiner Tisch, ein Schemel, ein Gestell mit Geschirr und zwei Öllampen. In einem Winkel steht der Webstuhl.
Es herrscht sehr gute Ordnung und Reinlichkeit. Eine arme, aber äußerst saubere Wohnung.
Folgende Beobachtung mache ich immer wieder: bei allen Visionen, die das menschliche Leben Jesu betreffen, habe ich bemerkt, daß sowohl Jesus als auch Maria, Josef und ebenso Johannes immer ordentlich und reinlich sind in ihren Kleidern und in der Haarpflege.
Bescheidene Gewänder und einfache Frisur, aber eine Reinlichkeit, die sie vornehm erscheinen läßt.
Maria kommt mit ihrem Krug zurück, und die Tür wird vor der plötzlich hereinbrechenden Dämmerung geschlossen. Der Raum wird von einer Lampe erhellt, die Josef angezündet und auf eine Bank gestellt hat. Dort hat er wieder begonnen, an kleinen Holzstücken zu basteln, während Maria das Abendbrot bereitet. Auch das Feuer erhellt den Raum. Die Händchen auf die Bank gestützt und das Köpfchen nach oben gerichtet, beobachtet Jesus, was Josef tut. Dann setzen sie sich nach einem Gebet zu Tisch. Sie machen natürlich nicht das Kreuzzeichen, aber sie beten. Josef betet vor, und Maria antwortet. Ich verstehe nichts. Es muß ein Psalm sein. Aber es ist eine Sprache, die mir völlig unbekannt ist.
Dann setzen sie sich an den Tisch, auf dem jetzt die Lampe steht.
Maria hat Jesus auf dem Schoß und gibt ihm Ziegenmilch zu trinken, in welche sie Brotstückchen eintunkt, die sie von runden Brotscheiben abgebrochen hat. Die Kruste des Brotes ist dunkel, aber auch die Krume. Das Brot ist aus Roggen- oder Gerstenmehl hergestellt, jedenfalls enthält es viel Kleie und ist grau. Dann setzt Maria Jesus neben sich auf ein Sesselchen und bringt gekochtes Gemüse auf den Tisch; es scheint mir gekocht und angemacht zu sein, wie wir es zu tun pflegen. Nachdem Josef sich bedient hat, ißt auch Maria davon.
Jesus knabbert ruhig an seinem Apfel und lächelt, wobei seine weißen Zähnchen sichtbar werden. Die Mahlzeit endet mit Oliven oder Datteln; ich bin mir nicht sicher; für Oliven sind sie zu hell und für Datteln zu hart, Wein fehlt. Ein Nachtmahl armer Leute. Aber der Raum strahlt einen großen Frieden aus; der Anblick eines prunkvollen Königspalastes könnte mir keinen so tiefen Eindruck vermitteln.
Und welch eine Harmonie!
Jesus spricht an diesem Abend nicht. Er erklärt mir die Szene nicht! Er belehrt mich mit dem Geschenk der Vision, und das genügt. Er sei immer gleicherweise gepriesen!

61 »In diesem Haus herrscht Ordnung«

Jesus spricht:
»Die Unterweisung für dich und die anderen geben dir die Dinge, die du siehst. Es ist eine Lehre der Demut, der Ergebung und schöner Eintracht; ein Beispiel für alle christlichen Familien und besonders für alle Familien in ähnlich schmerzlicher Zeit.
Du hast ein armseliges Haus gesehen. Und das, was so schmerzhaft ist: ein armes Haus im fremden Land.
Viele von euch halten sich für „gangbare“ Gläubige, wenn sie beten und mich in der Heiligen Kommunion empfangen; aber sie beten und kommunizieren nur für ihre eigenen Bedürfnisse, nicht für die Bedürfnisse der Seelen und zur Ehre Gottes. Es kommt sehr selten vor, daß jemand in seinem Beten nicht egoistisch ist. Viele möchten ein materiell leichtes Leben haben, frei von Unannehmlichkeiten; sie möchten wohlhabend und glücklich sein.
Josef und Maria hatten mich, den wahren Gott, als ihren Sohn, und doch hatten sie nicht einmal das Glück der Armen: arm zu sein im eigenen Land, in der Heimat, wo sie bekannt waren, wo sie wenigstens ihr eigenes Haus hatten, wo sie leichter Arbeit finden und für das Leben sorgen konnten. Sie sind gerade deshalb Flüchtlinge, weil sie mich besitzen. Verschiedenes Klima, verschiedenes Land, so traurig im Vergleich zu den lieblichen Feldern von Galiläa; verschiedene Sprache, verschiedene Sitten, mitten in einer Bevölkerung, der sie unbekannt sind und die ein übliches Mißtrauen gegenüber Flüchtlingen und Fremdlingen zeigt.
Ohne die nützlichen und lieben Möbel ihres eigenen Hauses, ohne die vielen kleinen notwendigen Dinge, die sie dort hatten und nun entbehren, ohne all das, was ihnen dort gar nicht so notwendig schien, während es hier, wo sie vom Nichts umgeben sind, wertvoll wäre, wie der Überfluß, der die Häuser der Reichen so angenehm gestaltet. Dazu die Sehnsucht nach Heim und Heimatort mit den zurückgelassenen Habseligkeiten und dem Gärtchen mit den Reben, dem Feigenbaum und den anderen Nutzpflanzen, worum sich nun vielleicht niemand kümmert. Und hier die Notwendigkeit, für den täglichen Unterhalt zu sorgen, für die Kleider, für das Brennmaterial; Tag für Tag, in der Sorge um mich, das göttliche Kind, dem sie nicht dieselbe Nahrung geben können wie sich selbst. Und mit so vielen Qualen im Herzen: dem Heimweh, der Ungewißheit über die Zukunft, dem Mißtrauen der Leute, die besonders in den ersten Zeiten eine so ablehnende Haltung gegenüber den beiden arbeitsuchenden Unbekannten einnahmen.
Und trotzdem, du hast es gesehen! In diesem Haus herrschen Freundlichkeit, Lächeln und Eintracht; gemeinsam wird danach gestrebt, das Heim zu verschönern, auch das elende Gärtchen, damit es dem ähnlicher werde, das sie zurückgelassen haben. Ein Gedanke herrscht hier vor: mir, dem Heiligen, der ich von Gott komme, das Land weniger feindlich erscheinen zu lassen. Es ist die Liebe der Glaubenden und Eltern, die sich äußert in tausend Sorgen, angefangen bei der Ziege, die nur durch viele Überstunden erworben werden konnte, bis zu den kleinen Spielsachen, die aus Holzresten geschnitzt werden und zu den Früchten, die nur für mich bestimmt waren.
Mein geliebter irdischer Nährvater, wie wurdest du von Gott geliebt, von Gott, dem Vater in den Höhen des Himmels, und von Gott Sohn, der auf Erden der Erlöser wurde!
In diesem Haus gibt es kein nervöses Aufbrausen, keinen Groll, keine finsteren Gesichter, keine gegenseitigen Vorwürfe und noch weniger Vorwürfe Gott gegenüber, der sie nicht mit irdischem Wohlstand überhäuft. Josef wirft Maria nicht vor, die Ursache der Entbehrungen zu sein, und Maria wirft Josef nicht vor, er verstehe sich nicht darauf, ihnen ein angenehmeres Leben zu verschaffen. Sie lieben sich auf heilige Weise; damit ist alles gesagt. Und deswegen ist ihre Sorge nicht das eigene Wohlergehen, sondern das der anderen. Die wahre Liebe kennt keinen Egoismus. Und die wahre Liebe ist immer keusch, auch wenn sie nicht so vollkommen in der Keuschheit ist, wie bei diesen beiden jungfräulichen Seelen. Mit Liebe verbundene Keuschheit bringt eine ganze Reihe anderer Tugenden mit sich, und daher macht sie aus den beiden, die sich keuscherweise lieben, ein vollkommenes Elternpaar.
Die Liebe meiner Mutter und Josefs war vollkommen. Daher war sie Nährstoff für jede andere Tugend, besonders für die Liebe zu Gott, der allezeit gepriesen wurde, obwohl sein heiliger Wille ihnen Sorgen auferlegte für Leib und Seele. Gepriesen wurde er, weil über Fleisch und Herz der Geist herrschte; sie priesen mit Dankbarkeit den Herrn, der sie auserwählt hatte, seines ewigen Sohnes Hüter zu sein.
In diesem Haus wurde gebetet. Heutzutage wird in den Familien viel zu wenig gebetet. Der Tag beginnt und die Nacht bricht herein, ihr beginnt die Arbeit und sitzt bei Tisch, ohne an den Herrn zu denken, der euch erlaubt hat, einen neuen Tag zu erleben, eine neue Nacht zu erhalten, der eure Mühen gesegnet hat und gestattete, daß sie zu Mitteln wurde, euch die Speise, das Feuer, die Kleider, das Dach und alles, was für euer Menschendasein notwendig ist, zu beschaffen.
Immer ist „gut“, was vom guten Gotte kommt; auch wenn es arm und kärglich ist.
Die Liebe gibt euch Kraft und Würze: die Liebe, die im ewigen Schöpfer den Vater sieht, der euch liebt.
In diesem Haus herrscht Genügsamkeit. Sie wäre auch da, wenn es nicht an Geld mangeln würde. Da ernährt man sich, um zu leben, nicht um dem Gaumen mit unersättlicher Gefräßigkeit zu dienen, mit den Launen der Feinschmecker, die sich den Magen füllen bis zum Überdruß und das Geld verschwenden in teuren Speisen, ohne derer zu gedenken, die darben und hungern, und ohne daran zu denken, daß durch ihre Mäßigung viele andere vor der Bitterkeit des Hungers bewahrt werden könnten.
In diesem Haus wird die Arbeit geliebt. Man würde sie auch lieben, wenn Geld im Überfluß da wäre; denn in der Arbeit gehorcht der Mensch den Befehlen Gottes und befreit sich vom Laster, das wie hartnäckiger Efeu die Müßiggänger gleich einer unbeweglichen Masse erwürgt und erstickt. Gut ist die Speise, angenehm die Ruhe; sie befriedigen das Herz, wenn jemand gut gearbeitet hat und sich die Zeit der Ruhe zwischen der einen Arbeit und der anderen gönnt.
Im Haus und im Geist dessen, der die Arbeit liebt, kann das Laster in seiner vielfältigen Gestalt keine Wurzel fassen; und da dies nicht geschieht, erblüht die gegenseitige Zuneigung und Hochachtung, wachsen in reiner Atmosphäre die zarten Sprossen, aus denen später heilige Familien werden.
In diesem Haus herrscht die Demut. Welche Lehre für euch, ihr Hochmütigen!
Maria hätte, menschlich gesprochen, tausend und abertausend Gründe gehabt, sich zu überheben und sich von ihrem Mann verehren zu lassen. Gar viele Frauen tun das, weil sie ein wenig mehr gebildet oder aus vornehmer Familie sind oder eine reichere Börse besitzen als ihr Gemahl. Maria ist Braut und Mutter Gottes, und dennoch dient sie, und läßt sich nicht bedienen vom Gemahl, dem sie in Liebe zugetan ist. Josef ist der Herr des Hauses, von Gott gewürdigt, Familienoberhaupt zu sein; von Gott beauftragt, das menschgewordene Wort und die Braut des heiligen Geistes zu behüten; und dennoch ist er beflissen, Maria Arbeit und Mühe abzunehmen. Die demütigsten Hausarbeiten nimmt er auf sich, damit Maria sich nicht ermüde; und noch mehr: so gut er kann, sucht er ihr beizustehen und sie zu ermuntern und ist bemüht, ihr das Haus behaglich zu gestalten und sie mit einem kleinen Blumengarten zu erfreuen.
In diesem Haus wird die Ordnung hochgeschätzt: die übernatürliche, moralische und materielle Ordnung. Gott ist der oberste Herr. Ihm gilt Kult und Liebe: das ist die übernatürliche Ordnung. Josef ist das Haupt der Familie. Er empfängt Zuneigung, Achtung und Gehorsam: das ist die moralische Ordnung. Das Haus ist ein Geschenk Gottes, ebenso wie die Kleidung und die Haushaltsgeräte. In allen Dingen ist die Vorsehung Gottes sichtbar; jenes Gottes, der den Schafen ihr Fell, den Vögeln die Federn, den Tieren das Heu, den beflügelten Tieren die Körner und die Zweige der Bäume gibt und der Lilie des Feldes ihr Gewand webt. Das Haus, die Kleider, die Werkzeuge werden mit Dankbarkeit angenommen; gepriesen wird die Hand Gottes, die sie ihnen bietet; mit Achtung werden sie behandelt als Geschenke des Herrn; nicht mit Mißmut werden sie betrachtet wegen ihrer Armseligkeit; sie werden nicht unnötig abgenützt, die göttliche Vorsehung wird nicht mißbraucht: das ist die materielle Ordnung.
Du hast dieWorte, die im Dialekt von Nazaret gewechselt wurden, nicht verstanden. Ebensowenig wie die Worte der Gebete. Aber was du gesehen hast, ist dir eine große Lehre gewesen. Betrachtet es, ihr alle, die es euch nunmehr schmerzt, in so vielen Dingen gegen Gott gefehlt zu haben; unter anderem auch in jenen Dingen, in denen die heiligen Vermählten, die mir Mutter und Vater gewesen sind, nie gefehlt haben.
Und du, beselige dich selbst in der Erinnerung an den kleinen Jesus; lächle im Gedanken an seine Kinderschritte! Bald wirst du ihn unter dem Kreuz wanken sehen, und es wird eine Vision der Tränen sein.«

62 Erste Arbeitslehre für Jesus

Liebreich wie einen Sonnenstrahl an einem regnerischen Tag sehe ich meinen Jesus erscheinen. Er ist ein Kind von etwa fünf Jahren, blond und schön in seinem einfachen, himmelblauen Kleidchen, das ihm bis zur Mitte der rundlichen Waden herabhängt. Er spielt im Gärtchen mit der Erde. Er macht Häufchen und pflanzt darauf Zweiglein, die er zu kleinen Wäldern gruppiert; mit Steinchen bildet er Sträßchen und möchte dann noch einen kleinen See am Fuß seiner Hügelchen haben; dazu nimmt er als Höhlung den Boden eines alten Töpfchens, das er bis zum Rand eingräbt. Er füllt es mit Wasser aus einem Krüglein, das er in eine Wanne eintaucht, die sicher als Wasch- oder als Gießbecken für den kleinen Garten dient.
Aber er erreicht damit nichts anderes, als daß er sich das Kleidchen und besonders die Ärmel naß macht. Das Wasser entweicht aus den Sprüngen des Töpfchens und . . . der See trocknet aus.
Josef erscheint auf der Schwelle, kommt leise näher und betrachtet lächelnd die Arbeit des Kindes. Es ist wirklich ein Schauspiel, das einen freudig lächeln läßt. Um nun zu verhindern, daß Jesus sich noch mehr naß macht, ruft er ihn. Jesus dreht sich lächelnd um, und als er Josef sieht, eilt er ihm mit ausgebreiteten Ärmchen entgegen.
Josef wischt mit einem Zipfel seines kurzen Arbeitskleides die erdigen, nassen Händchen ab und küßt sie. Ein lieblicher Dialog entwickelt sich zwischen den beiden. Jesus erklärt seine Arbeit und sein Spiel und die Schwierigkeiten, denen er bei der Ausführung begegnet ist. Er wollte einen See machen, wie jenen von Gennesaret; daraus entnehme ich, daß sie mit ihm darüber gesprochen oder ihn an den See geführt haben. Er wollte ihn offenbar im kleinen nachahmen, zu seinem Vergnügen. Hier liegt Tiberias, dort Magdala, dort Kafarnaum . . . das ist die Straße über Kana nach Nazaret. Er wollte kleine Barken vom Stapel lassen: die Blätter sind Barken, zur Überfahrt an das andere Ufer. Aber das Wasser ist weggeflossen . . .
Josef hört sinnend zu und interessiert sich, als gehe es um eine sehr wichtige Sache. Dann schlägt er vor, daß er tags darauf einen kleinen See, nicht mit einem gesprungenem Topf, sondern mit einem Becken aus gut geleimtem Holz machen werde. Auf diesem wird Jesus richtige kleine Barken aus Holz vom Stapel lassen können, die er ihn herzustellen lehren wird. Sogleich bringt er ihm kleine, ihm angepaßte Arbeitsgeräte, damit er ohne Mühe lerne, sie zu gebrauchen.
»So werde ich dir helfen!« sagt Jesus lächelnd.
»Ja, du kannst mir helfen und wirst ein tüchtiger Zimmermeister werden. Komm und sieh!«
Sie gehen in die Werkstatt. Josef zeigt ihm einen kleinen Hammer, eine kleine Säge, kleine Schraubenzieher, einen Puppenhobel, Dinge, die auf einem Hobelbänklein liegen, die der Größe des kleinen Jesus angepaßt sind.
»Schau! Um zu sägen, legt man das Holz so hin und achtet darauf, daß die Säge nicht mit den Fingern in Berührung kommt. Probiere einmal . . . !«
So beginnt die Lehre. Jesus, rot vor Anstrengung, sägt mit gepreßten Lippen und großer Aufmerksamkeit; dann hobelt er das kleine Brettchen, und es scheint ihm schön zu sein, wenn auch noch etwas uneben. Josef lobt ihn und lehrt ihn, mit Geduld und Liebe zu arbeiten.
Maria kommt gerade zurück; sie war sicher außerhalb des Hauses und erscheint nun auf der Schwelle und schaut zu. Die beiden anderen sehen sie erst nicht, denn sie haben ihr den Rücken zugekehrt.
Die Mama lächelt, als sie den Eifer sieht, mit dem Jesus den Hobel handhabt und die Liebenswürdigkeit, mit der Josef ihn unterweist.
Aber Jesus muß ihr Lächeln spüren; er wendet sich um, sieht die Mutter, eilt ihr mit seinen halbgehobelten Hölzern entgegen und zeigt sie ihr. Maria schaut sie an und beugt sich, um Jesus zu küssen.
Sie richtet ihm die in Unordnung geratenen Locken zurecht, wischt ihm den Schweiß aus dem Gesichtchen und hört mit Interesse zu; Jesus verspricht, ihr ein Schemelchen zu machen, damit sie es bei der Arbeit bequemer habe. Josef steht aufrecht an der kleinen Hobelbank, die Hände in die Seiten gestemmt, schaut zu und lächelt.
Ich habe der ersten Arbeitslehre meines Jesus beigewohnt. Und der ganze Friede dieser heiligen Familie hat sich in mich ergossen.

63 »Ich wollte nicht durch eine meiner Altersstufe unangepaßte Verhaltensweise auffallen«

Jesus sagt:
»Ich habe dich getröstet, meine Seele, mit einer Vision aus meiner Kinderzeit.
Dort herrschte Glück in der Armut, denn ich war umgeben von der Zuneigung zweier heiliger Personen, wie sie die Welt nie gesehen hat.
Man sagt, Josef sei mein Nährvater gewesen. Oh! Wenn er mir als Mann die Milch nicht geben konnte, mit der mich Maria nährte, so mühte er sich doch mit seiner Arbeit ab, um mir Brot und stärkende Nahrung zu verschaffen; und er hatte eine wahrhaft mütterlich liebenswürdige Zuneigung zu mir. Von ihm habe ich alles gelernt, was ein Kind zum Mann macht; zu einem Mann, der sich sein Brot selbst verdienen muß, und nie hatte ein Schüler einen besseren Lehrmeister.
Wenn auch meine Intelligenz als Sohn Gottes vollkommen war, so ist es doch angemessen zu erwägen und zu glauben, daß ich nicht durch eine meiner Altersstufe unangepaßte Verhaltensweise auffiel.
Darum erniedrigte ich die Vollkommenheit meines göttlichen Geistes auf die Ebene des Menschenverstandes; ich habe mich einem menschlichen Lehrmeister unterworfen. Wenn ich in der Folge rasch gelernt habe, so nimmt mir das nicht das Verdienst, mich in die Abhängigkeit eines Menschen begeben zu haben; noch wird dadurch das Verdienst jenes Menschen vermindert, der meinem unerwachsenen Verstand die für das Leben notwendigen Kenntnisse vermittelt hat.
Die lieben Stunden, die ich an der Seite Josefs verbrachte, der mich wie im Spiel an die Arbeit gewöhnte und für sie fähig machte, vergesse ich auch jetzt nicht, da ich im Himmel bin. Und wenn ich auf meinen scheinbaren Vater blicke, sehe ich auch wieder den kleinen Garten und die staubige Werkstatt, und mir ist, als sähe ich auch die stets tätige Mutter mit ihrem Lächeln, das unseren Aufenthalt gleichsam vergoldete und uns beglückte.
Wieviel könnten die Familien von diesem vollkommenen Paar lernen, das sich liebte wie kein anderes sich je geliebt hat!
Josef war das Haupt. Unbestritten und unbestreitbar war seine Autorität in der Familie, und die Braut und Mutter Gottes beugte sich ihr ehrfürchtig, und auch der Sohn Gottes unterwarf sich ihr. Alles, wofür Josef sich entschied, war gut und wurde ohne Widerrede, ohne Einwände und ohne Widerstand angenommen. Sein Wort war unser kleines Gesetz, das wir befolgten. Und dennoch, welch eine Demut in ihm! Nie ein Mißbrauch seiner Gewalt, nie ein widersinniges Wollen, das sich nur auf seine Autorität stützte. Die Gemahlin war seine sanfte Ratgeberin, und wenn sie sich in ihrer tiefen Demut als Dienerin ihres Gemahls ansah, so bezog der Gemahl von ihrer Weisheit, die voller Gnade war, lichtvolle Führung in allen Gegebenheiten.
Und ich wuchs heran wie eine Blume unter dem Schutz zweier kräftiger Bäume, zwischen der Liebe der beiden, einer Liebe, die sich wie die Zweige der (zum Vergleich herangezogenen) beiden Bäume über mich wölbte, um mich zu schützen und zu lieben.
Nein! Solange das jugendliche Alter mich in Unkenntnis der Welt ließ, bedauerte ich nicht, fern vom Paradies zu sein. Gottvater und der Göttliche Geist fehlten nicht, denn Maria war von ihnen erfüllt.
Und die Engel waren hier zu Hause, denn nichts entfremdete sie in diesem Haus. Einer von ihnen, könnte ich sagen, hatte Fleisch angenommen, und das war Josef, diese engelhafte Seele, die von der Last des Fleisches befreit und nur damit beschäftigt war, Gott und seiner Sache zu dienen und ihn zu lieben, wie die Serafim ihn lieben.
Der Blick Josefs! Sanft und rein wie das Licht eines Sternes, der keine irdische Begierlichkeit kennt. Er war unsere Ruhe und unsere Stärke.
Viele glauben, ich hätte nicht menschlich gelitten, als der Tod den Blick dieses Heiligen, der über unser Haus wachte, erlöschen ließ.
Als Gott kannte ich das glückliche Los Josefs und litt darum nicht unter seinem Weggang, dem sich nach einem kurzen Aufenthalt in der Vorhölle der Aufstieg in den Himmel angeschlossen hat. Aber als Mensch habe ich geweint in dem seiner liebevollen Gegenwart beraubten Haus. Ich habe um meinen verstorbenen Freund geweint.
Hätte ich nicht weinen sollen um diesen mir so nahestehenden Heiligen, an dessen Brust ich als kleines Kind geschlafen hatte, und der mich während so vieler Jahre mit seiner Liebe umgeben hatte?
Schließlich mache ich auch alle Eltern darauf aufmerksam, daß Josef ohne die Hilfe einer pädagogischen Bildung es verstand, aus mir einen tüchtigen Arbeiter zu machen.
Kaum war ich alt genug, um Werkzeuge handhaben zu können, da leitete er mich zur Arbeit an, um mich nicht im Müßiggang steckenbleiben zu lassen; und meine Liebe zu Maria half ihm, mich zur Arbeit anzuspornen. Er ließ mich Gegenstände anfertigen, die für die Mutter nützlich waren. So prägte sich die Ehrfurcht zur Mutter in mir ein, die jeder Sohn haben muß, und auf diesen ehrfurchts- und liebevollen Hebel stützte er die Lehre für den künftigen Zimmermann.
Wo sind heute die Familien, in denen man den Kleinen Liebe zur Arbeit einflößt als Mittel, den Eltern Freude zu bereiten? Die Kinder sind heute die Despoten im Haus. Sie wachsen hartherzig, gleichgültig und frech heran. Sie betrachten die Eltern als ihre Diener, als ihre Sklaven. Sie lieben sie nicht und werden daher nur wenig geliebt.
Indem die Familie aus den Kindern aufbrausende Herrschsüchtige macht, entfremden sie sich diese in einer beschämenden Weise. Eure Kinder gehören allen, nur nicht euch, den Eltern des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie gehören der Amme, der Pflegerin, den Lehrern, den Internaten, wenn ihr reich seid; den Kameraden, der Straße, der Schule, wenn ihr arm seid; nur nicht euch. Ihr Mütter bringt sie auf die Welt und das ist alles, was ihr für sie tut. Ihr Väter seid genauso.
Ein Kind besteht aber nicht nur aus Fleisch und Blut. Es ist auch Geist, Herz und Seele. Glaubt mir, niemand hat mehr die Pflicht und das Recht, diesen Verstand, dieses Herz, diese Seele zu bilden als ein Vater und eine Mutter!
Die Familie ist da und muß da sein. Es gibt keine Theorie und keinen Fortschritt, die sich dieser Wahrheit widersetzen können, ohne allgemeinen Ruin zu verursachen. Aus einer zerrütteten Familie können nur künftige Männer und Frauen hervorgehen, die immer sittenloser werden und immer mehr Verderbtheit mit sich bringen.
Und ich sage euch, es wäre besser, wenn es keine Ehen und keine Nachkommen auf der Erde gäbe, als daß solche zerrüttete Familien bestehen, die weniger einträchtig sind als eine Horde Affen; Familien, die nicht mehr Schulen der Tugend, der Arbeit, der Liebe und der Religion sind, sondern ein Chaos, in dem jeder für sich selbst lebt wie in einem Getriebe, in dem die Zahnräder nicht mehr richtig ineinandergreifen und zerbrechen.
Zerbrecht, zerstört! Die Frucht eures Vernichtens der heiligsten Art gemeinsamen Lebens seht und erleidet ihr selbst! Macht nur so weiter, wenn ihr wollt! Aber beklagt euch dann nicht, daß diese Erde immer mehr zu einer Hölle wird, zu einer Wohnstätte von Ungeheuern, die Familien und Nationen verschlingen. Ihr wollt es so, und so sei es!«

64 Maria, die Lehrerin von Jesus, Judas und Jakobus

Jesus sagt:
»Komm, kleiner Johannes, und schau! Ich will dich an meiner Hand in die Jahre meiner Kindheit zurückführen! Was du siehst, soll in das Evangelium meiner Kindheit eingefügt werden. Auch der Aufenthalt in Ägypten soll dort eingeflochten werden. Ordne es so an: die Familie in Ägypten, dann der erste Arbeitsunterricht für das Jesuskind, danach das, was du jetzt beschreiben wirst, die Szene meiner Volljährigkeitserklärung, und als letztes die Vision von Jesus unter den Lehrern des Tempels an seinem zwölften Osterfest.
Was du nun sehen wirst, hat seinen besonderen Grund. Es beleuchtet Einzelheiten und Episoden meiner ersten Lebensjahre und die Beziehungen zu meinen Verwandten. Es soll für dich ein Geschenk sein am Fest meines Königtums; denn du wirst den Frieden des Hauses von Nazaret in dir verspüren, wenn du es siehst.
Schreibe also!«
Ich sehe den Raum, in dem die Mahlzeiten eingenommen werden und wo Maria gewöhnlich am Webstuhl oder mit der Nadel arbeitet.
Daneben liegt Josefs Werkstatt, in der man ihn eifrig arbeiten hört.
Hier hingegen herrscht Schweigen. Maria näht Wollstreifen aneinander, die sie sicher selbst gewoben hat und die ungefähr einen halben Meter breit und doppelt so lang sind. Meiner Ansicht nach sind sie für einen Mantel für Josef bestimmt. Durch die zum Hausgarten geöffnete Tür sieht man die Beete, die mit blauvioletten Margeriten übersät sind; man nennt sie hierzulande Marien- oder Himmelssternblumen.
Ich kenne ihren botanischen Namen nicht. Sie blühen, also muß es Herbst sein. Das Laub der Bäume ist jedoch noch dicht und grün, und die Bienen der zwei Bienenstöcke auf der Mauer summen und glänzen in der Sonne beim Hin- und Herschwirren vom Feigenbaum zu den Reben und von diesen zum Granatapfelbaum voller runder Früchte, die schon vor Reife platzen und die rubinroten saftigen Perlen zeigen, die im Innern des grünroten Spaltes in gelb unterteilten Fächern angereiht sind.
Unter den Bäumen spielt Jesus mit zwei Knaben seines Alters. Sie sind ebenfalls gelockt, aber nicht blond. Einer ist ganz schwarzhaarig: ein Lockenkopf wie ein schwarzes Schaf, wodurch das weiße, runde Gesicht, in dem zwei große, tiefblaue, fast veilchenblaue, schöne Augen leuchten, noch heller erscheint. Der andere hat weniger lockiges, dunkelbraunes Haar; er hat braune Augen und auch die Haut ist gebräunt, doch scheinen die Wangen rosig durch. Jesus mit seinem hellen Lockenkopf zwischen den beiden dunklen Schöpfen scheint einen leuchtenden Heiligenschein zu haben. Sie spielen einträchtig mit Wägelchen, die mit allen möglichen Dingen beladen sind: mit Blättern, Steinchen, Kügelchen, Hölzchen und Hobelspänen.
Sie spielen anscheinend Käufer und Verkäufer, und Jesus ist ein Kunde, der für seine Mutter einkauft und ihr bald dieses, bald jenes bringt. Maria nimmt die Einkäufe lächelnd entgegen.
Doch nun wechseln sie das Spiel. Eines der Kinder schlägt vor: »Spielen wir den Auszug aus Ägypten! Jesus ist Mose, ich Aaron und du . . . Maria.«
»Aber ich bin doch ein Junge!«
»Das macht nichts. Tu es trotzdem! Du bist Maria und mußt um das goldene Kalb tanzen [Ex 32], das dieser Bienenstock ist.«
»Ich tanze nicht. Ich bin ein Mann und will keine Frau spielen. Ich glaube nicht an Götzen und tanze nicht vor ihnen.«
Jesus vermittelt: »Spielen wir nicht diese Stelle, sondern jene, in der Josua zum Nachfolger des Mose erwählt wird. So vermeiden wir die häßliche Szene der Götzenanbetung, und Judas wird zufrieden sein; denn er wird ein Mann und mein Nachfolger sein. Nicht wahr, dann bist du zufrieden?«
»Ja, Jesus. Aber dann mußt du sterben; denn Mose stirbt. Ich will nicht, daß du stirbst, da du immer so gut zu mir bist«, antwortet der kleine Judas des Alphäus, der spätere Apostel.
»Alle sterben . . . Aber bevor ich sterbe, werde ich Israel segnen, und da hier niemand ist außer ihr zwei, werde ich ganz Israel in euch segnen.«
Alle sind damit einverstanden. Aber es ergibt sich die Frage, ob das Volk Israel nach der langen Wanderung noch die Wagen besaß, die es beim Auszug aus Ägypten hatte. Die Ansichten sind verschieden.
Man wendet sich an Maria: »Mama, ich sage, die Israeliten hatten die Wagen noch. Jakobus meint, daß das Gegenteil der Fall war.
Judas weiß nicht, wem er recht geben soll. Weißt du es?«
»Ja, mein Sohn. Das Nomadenvolk hatte noch seine Wagen. Bei den Aufenthalten wurden sie repariert. Die Schwächsten durften sie besteigen, und alles wurde daraufgeladen, was für ein so großes Volk nötig war. Nur die Bundeslade wurde mit Händen getragen.
Alles andere lag auf den Wagen.«
Die Frage ist beantwortet. Die Kinder gehen in den Hintergrund des Gartens. Dort beginnen sie die Prozession und schreiten psalmierend dem Haus zu. Jesus geht voraus und singt mit silberhellem Stimmchen Psalmen. Hinter ihm gehen Judas und Jakobus, ein kleines Wägelchen tragend, das die Bundeslade darstellen soll. Da sie jedoch außer Aaron und Josua noch das ganze Volk Israel darstellen wollen, haben sie die anderen Wägelchen an ihre Beine gebunden und schreiten so ernst wie echte Schauspieler einher. Sie gehen durch den langen Laubengang bis zur Tür, an der Maria sitzt, und Jesus sagt: »Mama, grüße die Bundeslade, die vorbeizieht.« Maria erhebt sich lächelnd und neigt sich vor dem Sohn, der, vom Licht der Sonne angestrahlt, vorübergeht.
Dann begibt sich Jesus zum Hügel, der sich an der Grenze des Gartens über der kleinen Grotte erhebt. Er steigt hinauf und spricht zum Volk Israel. Er zitiert die Gesetze und Verheißungen Gottes, bezeichnet Josua als Feldherrn und ruft ihn zu sich. Nun steigt Judas ebenfalls auf den Felsvorsprung. Jesus ermahnt und segnet ihn.
Dann läßt er sich ein Täfelchen geben (es ist ein breites Feigenblatt), schreibt den Hymnus und liest ihn vor; nicht den ganzen, aber doch einen guten Teil, und es sieht so aus, als ob er wirklich etwas vom Blatt ablese. Dann entläßt er Josua, der ihn weinend umarmt, und steigt bis zur Spitze des Abhangs empor. Von dort aus segnet er ganz Israel in den beiden, vor ihm auf dem Boden ausgestreckten Spielgefährten.
Dann legt er sich ins niedrige Gras, schließt die Augen und . . . stirbt.
Maria ist in der Tür lächelnd stehengeblieben. Als sie ihn aber wie leblos daliegen sieht, ruft sie ängstlich: »Jesus, Jesus, steh auf! Bleib nicht so liegen! Deine Mutter möchte dich nicht tot sehen!«
Jesus steht sofort lächelnd auf, eilt zu ihr hin und küßt sie liebevoll.
Auch Jakobus und Judas kommen und werden von Maria liebkost.
»Wie kann Jesus diesen langen Hymnus behalten, der so schwierig ist und all die Segnungen?« fragt Jakobus.
Maria lächelt und antwortet einfach: »Er hat eben ein gutes Gedächtnis und ist immer sehr aufmerksam, wenn ich vorlese.«
»Ich bin in der Schule auch aufmerksam. Aber ich werde mit der Zeit müde von all den Klageliedern und schlafe darüber ein . . . So werde ich nie etwas lernen.«
»Du wirst es auch lernen, sei beruhigt!«
Es klopft an der Tür. Josef durcheilt den Garten und das Zimmer und öffnet die Tür.
»Der Friede sei mit euch, Alphäus und Maria!«
»Auch mit euch!«
Es ist der Bruder Josefs und seine Frau. Ein großer ländlicher Wagen, von einem kräftigen Esel gezogen, steht auf dem Weg.
»Habt ihr eine gute Reise gehabt?«
»O ja, sie war sehr angenehm. Und wie geht es den Kindern?«
»Sie sind im Garten bei Maria.«
Aber die Kinder eilen schon herbei, um ihre Mutter stürmisch zu begrüßen. Auch Maria, die Jesus an der Hand führt, kommt. Die Schwägerinnen küssen sich.
»Sind sie brav gewesen?«
»Sehr brav und sehr lieb. Geht es allen Verwandten gut?«
»Ja. Sie lassen euch grüßen und schicken euch von Kana viele Geschenke: Weintrauben, Äpfel, Käse, Eier, Honig und . . . Josef, ich habe gefunden, was du für Jesus haben wolltest; es ist auf dem Wagen im runden Korb.« Die Frau des Alphäus lacht. Sie neigt sich über Jesus, der sie mit seinen großen Augen anschaut, und küßt ihn mit den Worten: »Weißt du, was ich für dich habe? Rate einmal!«
Jesus überlegt und scheint es nicht zu erraten. Vielleicht tut er absichtlich so, um Josef die Freude der Überraschung nicht zu verderben.
Josef kommt mit dem runden Korb herein und stellt ihn vor Jesus auf den Boden. Er löst die Schnur, die den Deckel befestigt, und nimmt den Deckel ab . . . Ein schneeweißes Lämmlein, eine Schaumflocke, liegt schlafend auf dem sauberen Stroh.
Jesus stößt vor Freude und Überraschung ein „Oh!“ aus, will sich auf das Tierchen werfen, macht aber kehrt und eilt auf Josef zu, der noch auf dem Boden kniet. Er umarmt ihn und küßt ihn dankbar.
Die Vettern betrachten voller Bewunderung das Tierchen, das nun erwacht ist, sein rosiges Mäulchen erhebt und blökend nach seiner Mutter verlangt. Sie nehmen es aus dem Korb und geben ihm eine Handvoll Klee. Das Tier nimmt das Futter, kaut und kaut und schaut dabei mit seinen sanften Augen umher.
Jesus sagt immer wieder überrascht: »Für mich, wirklich für mich?
Ich danke dir, Vater . . . «
»Gefällt es dir?«
»O ja, sehr! Weiß . . . sauber . . . ein Lämmlein . . . « Dabei wirft Jesus die Ärmchen um den Hals des Lämmleins, drückt seinen blonden Kopf an das lockige Fell und steht glücklich lächelnd da . . .
»Auch für euch habe ich zwei mitgebracht«, sagt Alphäus zu seinen Söhnen. »Aber sie sind dunkel, weil ihr nicht so ordentlich seid wie Jesus. Ihr würdet sie nicht sauber halten, wenn sie weiß wären.
Das ist nun eure Herde. Gebt auf sie acht; dann braucht ihr euch nicht mehr müßig auf der Straße herumzutreiben und mit Steinen zu werfen, ihr Schelme.«
Die Kinder klettern auf den Wagen und betrachten die beiden anderen Schäflein.
Jesus ist bei seinem Lamm geblieben. Er trägt es in den Garten, gibt ihm zu trinken, und das Tier folgt ihm, als hätte es ihn immer gekannt. Jesus nennt es „Schnee“, und das Lämmlein antwortet mit einem freudigen „Bäh“.
Die Besucher haben sich an einen Tisch gesetzt, und Maria setzt ihnen Brot, Oliven und Käse vor. Sie bringt auch einen Krug mit Most oder Apfelsaft . . . ich weiß es nicht genau . . . Ich sehe nur, daß das Getränk hellgelb ist. Die Erwachsenen unterhalten sich, während die Kinder mit ihren Tieren spielen. Jesus wünscht, daß die beiden anderen Schäfchen mit dem seinen beisammen bleiben und einen Namen erhalten. »Deines, Judas, soll „Stern“ heißen, weil es ein sternförmiges Zeichen auf der Stirne hat. Und deines, Jakobus, wollen wir „Flamme“ nennen, da es die Farbe des Feuers hat, wenn man dürres Heidekraut verbrennt.«
»Es ist uns recht so.«
Die Großen plaudern, und Alphäus meint: »Somit werden die Streitereien der beiden Jungen aufhören. Du bist es gewesen, Josef, der mich auf den Gedanken gebracht hat. Ich habe mir gesagt: „Mein Bruder Josef möchte für seinen Jesus ein Lämmlein haben, damit er damit spielen kann.“ So habe ich zwei andere für meine Buben genommen, damit ich nicht immer wegen blutender Köpfe oder Knie Auseinandersetzungen mit anderen Eltern haben muß. Nun, da sie die Schule und die Tiere haben, werden sie sich hoffentlich friedlicher verhalten. Du wirst Jesus dieses Jahr auch in die Schule schicken müssen.«
»Ich werde Jesus nie in die Schule schicken«, sagt Maria entschieden. Nur selten höre ich sie so reden und vor Josef das Wort ergreifen.
»Warum? Das Kind muß doch lernen und imstande sein, die Prüfung der Volljährigkeit im Tempel zu bestehen . . . «
»Das Kind wird dazu fähig sein. Doch zur Schule wird es nicht gehen. Das ist beschlossen.«
»Du wärest die einzige in ganz Israel, die so handelt.«
»Und wenn ich auch die einzige bin, so ist doch nichts daran zu ändern; nicht wahr, Josef?«
»Ja, es ist nicht notwendig, Jesus zur Schule zu schicken. Maria ist im Tempel unterrichtet worden, und sie kennt das Gesetz wie ein Gelehrter. Sie wird seine Lehrerin sein. Das ist auch mein Wunsch.«
»Ihr verwöhnt den Knaben.«
»Das kann man nicht sagen. Er ist der bravste von Nazaret. Hast du ihn je weinen, trotzen, ungehorsam oder respektlos gesehen?«
»Nein, aber er wird es werden, wenn er weiterhin verwöhnt wird.«
»Wenn man die Kinder bei sich behält, so bedeutet das nicht, daß man sie verwöhnt; es bedeutet nur, daß man sie mit gütigem Herzen und gesundem Verstand liebt. So lieben wir unseren Jesus, und da Maria gebildeter ist als der Schullehrer, wird sie eine gute Lehrmeisterin für Jesus sein.«
»Als Erwachsener wird dein Jesus aber ein ängstliches Weiblein sein, das sich vor jeder Mücke fürchtet.«
»Es wird nicht so kommen. Maria ist eine starke Frau und weiß männlich zu erziehen. Ich selbst bin auch kein Schwächling und kann ihm ein männliches Beispiel geben. Jesus ist ohne körperliche, seelische oder geistige Mängel. Er wird deshalb in Leib und Seele stark und aufrecht heranwachsen. Beruhige dich, Alphäus! Er wird die Familie nicht entehren. Ich habe so entschieden, und damit ist die Sache beschlossen.«
»Das mag Maria entschieden haben, aber du . . . «
»Und selbst wenn es so wäre . . . Ist es nicht schön, wenn zwei, die sich lieben, stets bereit sind, die gleichen Gedanken und denselben Willen zu haben und sich in ihren Wünschen zuvorzukommen?
Wenn Maria etwas Törichtes verlangte, dann würde ich sagen „Nein“. Aber da sie Wünsche ausspricht, die voller Klugheit sind, stimme ich zu und mache sie zu den meinen. Wir lieben uns wie am ersten Tag, und so wird es bleiben bis an unser Lebensende. Nicht wahr, Maria?«
»Ja, Josef. Und wenn einer von uns – was Gott verhüten möge –
vor dem anderen sterben sollte, so werden wir uns trotzdem weiterlieben.
«
Josef streichelt das Haupt Marias, als wäre sie seine kleine Tochter; sie blickt ihn mit ihren fried- und liebevollen Augen an.
Die Schwägerin schaltet sich ein: »Ihr habt wirklich recht. Wenn ich nur auch selbst unterrichten könnte! In der Schule lernen sie Gutes und Böses. Zu Hause nur Gutes. Aber ich weiß nicht . . . wenn Maria . . . «
»Was wünschst du, Schwägerin? Sag es offen! Du weißt, daß ich dich gern habe und froh bin, wenn ich etwas für dich tun kann.«
»Ich meine . . . Jakob und Judas sind nur ein wenig älter als Jesus.
Sie gehen schon zur Schule . . . aber was haben sie dort schon gelernt! Jesus hingegen kennt das Gesetz schon gut. So möchte ich, wenn ich dich darum bitten darf . . . daß du auch sie übernimmst, wenn du Jesus unterrichtest. Ich bin sicher, daß sie artig sein und mehr lernen würden. Sie sind doch schließlich Vettern, und es ist gut, daß sie sich wie Brüder lieben . . . Ich wäre so glücklich!«
»Wenn Josef und dein Mann damit einverstanden sind, bin ich dazu bereit. Ob ich für einen spreche oder für drei, ist doch dasselbe.
Die Heilige Schrift wieder durchzugehen, ist für mich eine Freude.
Sie sollen kommen!«
Die drei Kinder, die ganz leise eingetreten sind und zugehört haben, warten nun auf die Entscheidung.
»Sie werden dich zur Verzweiflung bringen«, sagt Alphäus.
»Nein. Hier bei mir sind sie immer sehr artig. Nicht wahr, Kinder, ihr werdet brav sein, wenn ich euch unterrichte?«
Die zwei kommen näher; der eine stellt sich rechts, der andere links von Maria auf. Sie legen ihr die Arme um den Hals und die Lockenköpfchen an die Schultern und versprechen, ihr Bestmögliches zu tun.
»Laß sie es versuchen, Alphäus, und laß mich versuchen! Ich denke, daß die Probe gut ausfallen wird. Sie sollen täglich von der sechsten Stunde bis zum Abend zu mir kommen. Das wird genügen, glaube mir! Ich unterrichte, ohne zu ermüden. Sie werden gleichzeitig zur Aufmerksamkeit erzogen und abgelenkt. Man muß sie nur verstehen, sie lieben und von ihnen geliebt werden; dann kann man alles bei ihnen erreichen. Ihr liebt mich doch, nicht wahr?«
Zwei herzliche Küsse sind die Antwort.
»Siehst du?«
»Ich sehe. Ich kann dir nur sagen: „Danke“. Was wird aber Jesus dazu sagen, wenn er seine Mutter mit zwei anderen teilen muß? Was sagst du dazu, Jesus?«
»Ich sage: „Selig, die sie anhören und bei ihr verweilen dürfen!“
[Spr 8,34]. Wie die Weisheit sagt, ist der glücklich, der ein Freund meiner Mutter ist. Und ich bin glücklich, wenn meine Freunde auch ihre Freunde sind.«
»Wer legt wohl solche Worte auf diese Kinderlippen?« fragt Alphäus erstaunt.
»Keiner, Bruder, keiner, der von dieser Welt ist.«
Hier endet die Vision.
Jesus sagt:
»Maria wurde so meine Lehrerin und die Lehrerin des Jakobus und Judas. Daher liebten wir uns wie Brüder; mehr als einfache Verwandte oder Mitschüler, die zusammen aufwachsen; wie drei Rebschößlinge desselben Rebstocks . . . Meine Mutter: eine Gelehrte, wie es in ganz Israel keine andere gab; sie, meine sanfte Mutter, der Sitz der Weisheit, der wahren Weisheit, die uns unterrichtete für die Welt und für den Himmel. Ich sage: „Sie lehrte uns“, da ich ihr Schüler war, der sich in keiner Weise von den Vettern unterschied.
Das Geheimnis wurde durch das „Siegel“ Gottes gegen die Nachforschungen Satans unter dem Mantel eines gewöhnlichen Lebens bewahrt.
Bist du glücklich über die liebliche Vision? Der Friede sei mit dir!
Jesus ist mit dir.«

65 Anfertigung des Gewandes für den volljährigen Jesus

Jesus hat mir ein Versprechen gemacht. Ich habe zu ihm gesagt: »Jesus, ich würde mich sehr darüber freuen, wenn ich die Feier deiner Volljährigkeit sehen könnte.«
Und Jesus darauf: »Ich werde sie dich schauen lassen, sobald wir „unter uns“ sind und dies den Ablauf des Geheimnisses nicht stört. Du kannst sie dann nach dem Kapitel „Meine Mutter, die Lehrerin von Jesus, Judas und Jakobus“ einfügen. Füge sie zwischen dieser Vision und der des Streitgespräches im Tempel ein!«
Ich sehe Maria über ein Becken oder einen Trog aus Ton gebeugt, in dem sie etwas mischt, das in der kalten, ruhigen Luft, die den Garten von Nazaret erfüllt, Dampf erzeugt.
Es muß Winter sein, denn außer den Olivenbäumen haben alle Bäume das Laub verloren. Über den kahlen Bäumen strahlt am tiefblauen Himmel die Sonne; sie erwärmt jedoch den kalten Wind nicht, der die Äste schüttelt und die graugrünen Zweige der Olivenbäume hin und her wogen läßt.
Die Muttergottes ist in ein dunkelbraunes, fast schwarzes Gewand gehüllt; vorn hat sie eine Schürze aus grobem Leinen, um das Kleid zu schonen. Sie nimmt den Stock aus dem Trog, mit dem sie den Inhalt umgerührt hat, und ich sehe Tropfen einer schönen, rubinroten Farbe. Maria prüft die Farbe und scheint zufrieden zu sein. Sie geht ins Haus, kommt aber gleich wieder mit vielen Strähnen weißer Wolle heraus. Sie taucht eine nach der anderen mit Geduld und Sorgfalt in den Trog.
Während sie damit beschäftigt ist, kommt aus Josefs Werkstatt ihre Schwägerin Maria, die Frau des Alphäus. Sie begrüßen und unterhalten sich.
»Wird es gut?« fragt die Maria des Alphäus.
»Ich hoffe es.«
»Die Heidin hat mir versichert, daß es die Farbe ist, die in Rom verwendet wird. Ich habe diese Farbe nur für dich erhalten, denn die Dame sagte, daß selbst in Rom niemand so schön sticken könne wie du. Bei der Arbeit, die du für sie gemacht hast, mußt du ja beinahe erblindet sein . . . «
Maria lächelt und macht eine Kopfbewegung, als wollte sie sagen: »Nicht der Rede wert.«
Die Schwägerin betrachtet die letzten Wollsträhnen und gibt sie dann Maria.
»Wie hast du die Wolle gesponnen? Sie ist haarfein und ganz gleichmäßig. Du machst ja alles so einwandfrei . . . und dabei so flink! Mir scheint, daß diese letzten Strähnen heller werden!«
»Ja, sie sind für das Kleid; der Mantel ist dunkler.«
Die beiden Frauen arbeiten nun zusammen am Trog. Sie entnehmen diesem die purpurrot gefärbten Strähnen, tauchen sie rasch in das eiskalte Wasser eines Beckens und spülen immer wieder . . . Zuletzt hängen sie die Strähnen auf Rohrstöcke, die von einem Baumast zum anderen befestigt sind.
»Bei diesem Wind werden sie rasch trocken sein«, sagt die Schwägerin.
»Gehen wir nun zu Josef! Er hat ein Feuer«, sagt die Muttergottes.
»Du mußt ja halb erfroren sein. Du warst so gut und hast mir geholfen.
So ging es rascher und leichter, wofür ich dir sehr dankbar bin.«
»Oh, Maria, was würde ich nicht für dich tun! Bei dir sein ist immer eine Freude. Und dann, diese ganze Arbeit ist ja für Jesus.
Ich liebe ihn so sehr, deinen Sohn! . . . Ich fühle mich auch als seine Mutter, wenn ich dir bei den Vorbereitungen auf das Fest seiner Volljährigkeit im Tempel helfen darf.«
Die Vision wird unterbrochen . . .
und wird mit der Abreise des zwölfjährigen Jesusknaben fortgesetzt. Er ist sehr schön, hat sich gut entwickelt und sieht neben seiner jungen Mutter aus, als ob er der jüngere Bruder wäre. Sein blonder Lockenkopf erreicht schon ihre Schulter. Seine Haare sind nicht kürzer als während seiner ersten Lebensjahre; sie reichen ihm bis unter die Ohren. Ein Reif hält sie zusammen, so daß sie einem goldenen Helm mit leuchtenden Verzierungen gleichen.
Das Gewand ist rot, hellrubinrot; es reicht ihm bis zu den Knöcheln und läßt nur die von Sandalen geschützten Füße sehen. Auch die Ärmel sind lang und weit. Am Halsausschnitt, am Rand der Ärmel und unten befinden sich sehr schöne, Ton auf Ton gewobene Verzierungen.

66 Die Reise von Nazaret nach Jerusalem zur Feier der Volljährigkeit Jesu

Ich sehe Jesus mit seiner Mutter ins Eßzimmer von Nazaret eintreten.
Jesus ist ein schöner zwölfjähriger Jüngling, hochgewachsen, wohlgestaltet und kräftig – nicht dick. Er sieht infolge seiner Statur erwachsener aus als er ist. Er ist schon groß und er reicht seiner Mutter bis an die Schultern. Sein Gesicht ist noch rundlich und rosig wie damals, als er klein war; es wird sich während des Jugend- und Mannesalters verfeinern und eine blassere Farbe annehmen wie feiner, rosagelblicher Alabaster.
Die Augen sind ebenfalls noch Kinderaugen, groß und weit geöffnet mit einem Funken von Freude im ersten, verlorenen Blick. Später sind sie nicht mehr so weit offen . . . Die Lider werden sich halb über die Augen senken, um die zu große Verdorbenheit derWelt vor dem Reinen und Heiligen zu verschleiern. Nur in den Augenblicken des Wunderwirkens werden sie weit offen und strahlend sein, mehr noch als jetzt, um Satan und den Tod zu vertreiben, um die Kranken und Sünder zu heilen. Und dann wird die kleine Spur der Freude nicht mehr in den ernsten Augen sein . . .
Der Tod und die Sünde werden ihnen stets gegenwärtig sein und mit ihnen das Wissen, auch das menschliche Wissen um die Nutzlosigkeit seines Opfers infolge des gegensätzlichen Willens der Menschen.
Nur in sehr seltenen Augenblicken der Freude, wie bei seinem Verweilen mit den Erlösten, den Reinen und den Kindern, werden diese heiligen, gütigen Augen wieder einmal aufleuchten.
Jetzt ist er noch bei der Mutter, in ihrem Haus, neben Josef, der ihm liebevoll zulächelt. Auch die Vettern sind da und bewundern Jesus. Seine Tante Maria, die Frau des Alphäus, liebkost ihn. Jesus ist glücklich. Mein Jesus braucht Liebe, um glücklich zu sein. In diesem Augenblick hat er sie.
Er trägt ein weites, rubinrotes Wollkleid, das weich fällt und sehr schön und gleichmäßig gewoben ist. Am Hals, vorne auf der Brust, am Ende der langen, weiten Ärmel und am Saum des bodenlangen Gewandes, das die Sandalen sehen läßt, ist eine Borte, die nicht gestickt, sondern in rubinroter Wolle gewoben ist, einen Ton dunkler als das Gewand. Es muß das Werk der Mutter sein, denn die Schwägerin bewundert und lobt sie. Jesus trägt neue, schön angefertigte Sandalen; sie bestehen nicht nur aus einer Sohle und zwei Lederriemen, mit denen sie am Fuß festgehalten werden.
Jesu blonde Haare sind schon sehr dicht, und ihre Farbe etwas satter als in den Kindertagen. Die bis unter die Ohren fallenden Locken leuchten kupferfarbig auf in ihren Rundungen. Es sind nicht mehr die dürftigen Löckchen der Kindheit. Es sind auch noch nicht die schulterlangen, gewellten Haare des Mannes, die dann in einer nach innen gedrehten Welle enden; doch sie beginnen schon in Farbe und Fülle diesen zu gleichen.
»Da ist er, unser Sohn«, sagt Maria und legt ihre Rechte auf die linke Hand Jesu. Es sieht aus, als wolle sie ihn vorstellen und damit die Pflegevaterschaft des Gerechten, der dabeisteht, bestätigen.
Und sie fügt hinzu: »Segne uns, Josef, bevor wir uns nach Jerusalem aufmachen! Die rituelle Segnung vor dem Schulgang, dem ersten Schritt ins Leben, war nicht notwendig. Aber nun, da er in den Tempel geht, um dort als Erwachsener anerkannt zu werden, tue es und segne mich mit ihm! Dein Segen (Maria unterdrückt einen Seufzer)
wird ihn stärken und auch mir Kraft geben, wenn ich mich langsam von ihm losreißen muß.«
»Maria, Jesus wird immer dein sein! Dieser Ritus wird unsere Beziehungen nicht beeinflussen. Und ich werde ihn dir nicht abspenstig machen. Niemand anderer als du, meine Heilige, ist würdig, ihn ins Leben hinauszubegleiten!«
Maria verneigt sich, nimmt die Hand Josefs und küßt sie. Sie ist die ehrerbietige und liebevolle Braut des Gemahls!
Josef nimmt dieses Zeichen der Achtung und Liebe würdig entgegen.
Dann legt er die geküßte Hand auf Marias Haupt und sagt: »Ja, ich segne dich, du Gebenedeite, und Jesus mit dir. Kommt, meine einzigen Freuden, meine Ehre, meine einzige Aufgabe!« Josef spricht feierlich. Die Arme ausgebreitet, mit den Handflächen über den blonden, heiligen Häuptern, spricht er den Segen: »Der Herr beschütze und behüte euch; er erbarme sich euer und gebe euch seinen Frieden! Der Herr gebe euch seinen Segen!«
Und dann sagt er: »Jetzt wollen wir gehen! Die Stunde des Aufbruchs ist gekommen!«
Maria nimmt ein großes, dunkelrotes Tuch und legt es in Falten um den Körper des Sohnes. Sie liebkost ihn dabei.
Dann gehen sie aus dem Haus, schließen alles ab und machen sich auf den Weg. Sie gesellen sich zu anderen Pilgern, die die gleiche Richtung eingeschlagen haben. Außerhalb des Ortes trennen sich die Frauen von den Männern. Die Kinder gehen, mit wem sie wollen, Jesus bleibt bei der Mutter.
Die Pilger singen wandernd Psalmen. Die Landschaft ist frühlingshaft.
Frische Felder, frische Wiesen, frische Blätter an den Bäumen, die schon geblüht haben. Menschen singen auf den Feldern und Wegen.
Gezwitscher verliebter Vögel in den Bäumen . . . Klare Bächlein, in denen sich die Blumen an den Ufern spiegeln . . . Lämmlein, die am Mutterschafe hochspringen . . . Friede und Freude unter dem schönsten Aprilhimmel . . . So endet die Vision.

67 Die Prüfung des volljährigen Jesus im Tempel

Der Tempel an einem Festtag. Menschen kommen und gehen durch die Tore der Umfassungsmauer, durchschreiten Vorhöfe, Innenhöfe und Säulengänge, um dann in diesem oder jenem Gebäude des Tempelkomplexes zu verschwinden. Auch die Reisegesellschaft, zu der die Familie Jesu gehört, kommt nun, andächtig Psalmen singend, an.
Zuerst alle Männer, dann die Frauen. Ihnen haben sich auch andere Pilger angeschlossen; vielleicht sind auch sie aus Nazaret, oder vielleicht sind es Freunde aus Jerusalem. Ich weiß es nicht.
Josef trennt sich von der Gruppe, nachdem er mit den anderen an einem Ort den Allerhöchsten angebetet hat, zu dem nur die Männer Zutritt haben (die Frauen sind auf einer tieferen Terrasse stehengeblieben).
Er geht mit Jesus durch die Höfe zurück, biegt seitlich ab und betritt einen großen Raum, der wie eine Synagoge aussieht. Ich weiß nicht, warum. Gab es im Tempel auch Synagogen? Er spricht mit einem Leviten, und dieser verschwindet hinter einem gestreiften Vorhang, um dann mit einigen alten Priestern (ich nehme an, daß es Priester sind) zurückzukehren. Sicherlich sind es Lehrer der Gesetzeskunde, die die Aufgabe haben, die Gläubigen zu prüfen.
Josef stellt Jesus vor. Zuerst haben sich beide tief vor den zehn Gelehrten, die würdig auf niedrigen Holzschemeln sitzen, verneigt.
»Hier ist mein Sohn«, sagt Josef. »Seit drei Monaten und zwölf Tagen hat er das Alter, das das Gesetz für die Großjährigkeit vorschreibt.
Ich wünsche aber, daß er auch nach den israelitischen Vorschriften volljährig sei. Ich bitte zu beachten, daß er auch im Aussehen zeigt, daß er die Kindheit und die Minderjährigkeit beendet hat. Ich bitte euch, gnädig und gerecht zu prüfen und zu beurteilen, ob das, was ich als Vater vorbringe, der Wahrheit entspricht. Ich habe ihn auf diese Stunde und für die Würde, ein Sohn des Gesetzes zu werden, vorbereitet. Er kennt die Gebote, die Überlieferungen, die Beschlüsse und das Brauchtum mit den Schnüren. Er kennt die täglichen Gebete und Segnungen. Er kann, da er das Gesetz als solches und in seinen Verzweigungen die Halacha, der Midrasch und die Haggada kennt, als Mann auftreten. Ich bitte daher, von der Verantwortung über seine Handlungen und Sünden entbunden zu werden. Von nun an soll er den Vorschriften unterworfen sein und für seine Nachlässigkeiten gegen das Gesetz selbst verantwortlich sein. Prüft ihn!«
»Das werden wir tun. Tritt näher, Knabe! Wie ist dein Name?«
»Jesus des Josef von Nazaret.«
»Nazarener, kannst du lesen?«
»Ja, Rabbi. Ich kann die geschriebenen Wörter lesen und verstehe, was sie aussagen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, daß ich auch die Bedeutung der Sinnbilder oder Symbole verstehe, die sich unter dem Äußeren verbirgt, wie sich die Perle in der rohen, verschlossenen Muschel versteckt.«
»Eine ungewöhnliche und sehr weise Antwort! Selten hört man so etwas von den Lippen Erwachsener, erst recht nicht von denen eines Knaben, und noch dazu eines Nazareners.«
Die Aufmerksamkeit der Zehn erwacht. Sie wenden ihre Augen nicht mehr von dem schönen blonden Knaben ab, der sie so sicher, so unbefangen und furchtlos anblickt.
»Du machst deinem Lehrer, der gewiß sehr gelehrt war, Ehre.«
»Die Weisheit Gottes hat sich in seinem gerechten Herzen niedergelassen.
«
»Du Glücklicher, Vater eines solchen Sohnes!«
Josef, im Hintergrund des Saales, verneigt sich und lächelt.
Sie geben Jesus drei verschiedene Schriftrollen und sagen: »Lies jene, die mit dem goldenen Band verschlossen ist.«
Jesus öffnet die Rolle und liest. Es sind die Zehn Gebote. Doch nach den ersten Worten nimmt ihm ein Richter die Rolle aus der Hand und sagt: »Fahre aus dem Gedächtnis fort.« Jesus fährt fort, so sicher, als ob er ablese. Jedesmal, wenn er den Namen des Herrn nennt, verneigt er sich tief.
»Wer hat dich das gelehrt? Warum tust du das?«
»Weil dieser Name heilig ist und mit einem inneren und äußeren Zeichen der Ehrfurcht ausgesprochen werden muß. Vor dem König, der nur für kurze Zeit König ist, verneigen sich die Untertanen; und doch ist er nur Staub. Sollte sich da nicht vor dem König der Könige, dem allerhöchsten Herrn Israels, der gegenwärtig, wenn auch nur dem Geist sichtbar ist, ein jedes Geschöpf verbeugen, das Ihm für die ganze Ewigkeit untertan ist?«
»Bravo! Mann, wir raten dir, laß deinen Sohn von Hillel oder Gamaliël unterrichten. Er ist zwar ein Nazarener, doch seine Antworten lassen hoffen, daß er ein neuer großer Lehrer werden wird.«
»Der Sohn ist volljährig. Er kann tun, was er will. Ich werde ihm nichts in den Weg legen, wenn das, was er will, ehrenhaft ist.«
»Knabe, höre! Du hast gesagt: „Vergiß nicht, die Feiertage zu heiligen!
Das gilt nicht nur für dich, sondern auch für deinen Sohn, deine Tochter, deinen Knecht, deine Magd und selbst für dein Zugtier.
Allen ist es verboten, am Sabbat zu arbeiten!“ Nun sage mir: Wenn eine Henne am Sabbat ein Ei legt oder ein Schaf ein Junges bekommt, ist es dann erlaubt, diese Leibesfrucht zu verwenden oder ist sie als Schandtat anzusehen?«
»Ich weiß, daß viele Rabbis und auch der lebende Schammai sagen, daß das am Sabbat gelegte Ei gesetzwidrig sei. Doch ich denke, daß der Mensch etwas anderes ist als das Tier oder als der tierische Akt des Gebärens. Wenn ich das Tier verpflichte, am Sabbat zu arbeiten, dann begehe auch ich seine Sünde; denn ich zwinge es mit der Peitsche zur Arbeit. Aber wenn ein Huhn ein Ei legt, das im Eierstock herangereift ist oder ein Schaf am Sabbat ein Junges wirft, dann ist ein solches Ereignis keine Sünde. Darum sind in den Augen Gottes das Ei und das Lämmlein, die am Sabbat ans Licht treten, keine Sünde.«
»Wieso das, wenn doch eine jede Arbeit am Sabbat Sünde ist?«
»Weil Empfangen und Gebären vom Willen des Schöpfers abhängen und geregelt werden durch das von ihm in jedes Geschöpf gelegte Gesetz. So gehorcht die Henne nur diesem Gesetz, das sagt, nach so und soviel Stunden ist das Ei bereit und muß gelegt werden.
Und auch das Lamm gehorcht nur dem Gesetz, das der gegeben hat, der alles erschaffen und auch festgelegt hat, daß zweimal im Jahre – wenn der Frühling auf den blühenden Wiesen lacht und wenn der Wald sich entblättert und die Kälte die Brust des Menschen schnürt – die Schafe zu ihren Böcken gehen, um dann zu gegebener Zeit Milch, Fleisch und nahrhaften Käse zu liefern für die Monate der harten Mühsal der Ernte oder der wachsenden Not der Kältezeit.
Wenn also ein Schaf zu seiner Zeit ein Junges wirft, so kann dieses sogar auf dem Altar als Opfer heilig sein, weil es die Frucht des Gehorsams dem Schöpfer gegenüber ist.«
»Ich werde nicht weiter fragen. Seine Weisheit übersteigt die der Erwachsenen und ist erstaunlich.«
»Nein. Er hat behauptet, auch die Symbole erklären zu können.
Hören wir ihn an!«
»Sag zuerst einen Psalm, die Segnungen und die Gebete!«
»Auch die Gebote!«
»Ja, auch die Midraschim!«
Jesus sagt mit großer Sicherheit eine ganze Litanei von Vorschriften auf . . . »das darfst du nicht . . . das unterlasse . . . « Wenn wir noch all diese Einschränkungen hätten, rebellisch wie wir sind, so versichere ich euch, daß niemand gerettet würde . . .
»Genug! Öffne nun die Schriftrolle mit dem grünen Band!«
Jesus öffnet sie und will mit der Lesung beginnen.
»Weiter vorne . . . noch weiter . . . «
Jesus gehorcht.
»Lies und erkläre, was dies bedeutet, wenn dir scheint, daß hier ein Symbol vorliege!«
»Im Wort Gottes fehlt es selten. Wir sind es, die nicht imstande sind, es zu sehen und anzuwenden. Ich lese im zweiten Buch der Könige Kapitel 22, Vers 10: „Schafan, der Schreiber, sagte in seinem Bericht an den König: ‚Der Hohepriester Hilkija hat mir eine Rolle gegeben.‘ Als Schafan es in der Gegenwart des Königs gelesen hatte, zerriß der König, nachdem er die Worte des Gesetzes Gottes gehört hatte, seine Kleider und gab . . . “«
»Überschlage die Namen . . . «
»„. . . folgende Anordnung: ‚Geht und fragt den Herrn für mich, für das Volk, für ganz Judäa über die Worte dieses Buches! Der große Zorn Gottes ist gegen uns entbrannt, weil unsere Väter die Worte dieses Buches nicht angehört haben und seine Vorschriften nicht befolgt haben‘ . . . “«
»Genug. Dies hat sich vor mehreren Jahrhunderten zugetragen.
Welches Symbol siehst du in diesem Vorkommnis der alten Chronik?
«
»Ich finde, daß es keine Zeit für das gibt, was ewig ist. Gott ist ewig, unsere Seele ist ewig, ewig sind die Verbindungen zwischen Gott und der Seele. Was also vor langer Zeit die Strafe ausgelöst hat, ruft sie auch heute hervor, und so sind auch die Folgen der Sünde die gleichen.«
»Und weiter.«
»Israel besitzt die Weisheit nicht mehr, die von Gott kommt. Ihn, nicht die armen Menschen muß man um Erleuchtung bitten. Und diese Erleuchtung erhält man nicht, wenn man Gott gegenüber untreu und ungerecht ist. So wird gesündigt, und Gott straft in seinem Zorn.«
»Wir sollten die Weisheit nicht mehr kennen? Was sagst du da, Knabe? Und die sechshundertdreizehn Vorschriften?«
»Die Vorschriften sind da; aber es sind nur mehr Wörter. Wir kennen sie, doch wir befolgen sie nicht. Daher kennen wir sie nicht. Das Symbol bedeutet: jeder Mensch, jede Zeit muß den Herrn befragen, um seinen Willen zu erkennen und sich an ihn zu halten, um nicht seinen Zorn herauszufordern.«
»Der Knabe ist vollkommen. Nicht einmal die Schlinge der verfänglichen Frage hat ihn verwirrt. Er soll in die wahre Synagoge eingeführt werden.«
Gemeinsam gehen sie in einen größeren Raum. Hier kürzen sie ihm zuerst einmal die Haare. Josef nimmt die Locken an sich. Dann umgürten sie sein rotes Gewand mit einem langen Gürtel, den sie mehrmals um seine Taille winden. Sie legen ihm Streifen an die Stirne, an den Arm und an den Mantel, und befestigen diese mit einer Art Spangen. Darauf singen sie Psalmen, und Josef lobt den Herrn mit einem langen Gebet und erbittet alles Gute für den Sohn.
Die Zeremonie ist beendet und Jesus geht mit Josef fort. Auf dem Rückweg treffen sie mit den männlichen Verwandten zusammen. Sie kaufen und opfern ein Lamm. Dann begeben sie sich mit dem geschlachteten Opfer zu den Frauen.
Maria küßt ihren Jesus. Ihr ist, als habe sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie schaut ihn an, der nun mit dem veränderten Kleid und den geschnittenen Haaren wie ein Mann aussieht. Sie liebkost ihn. Sie gehen hinaus, und alles ist zu Ende.

68 Das Streitgespräch Jesu mit den Gelehrten im Tempel

Ich sehe Jesus als Jüngling. Er ist bekleidet mit einer Tunika, die – wie mir scheint – aus weißer Leinwand besteht und bis zu den Füßen reicht. Darüber trägt er ein hellrotes, rechteckiges Tuch. Keine Kopfbedeckung auf den halblangen, dichten Haaren, die bis zur Mitte der Ohren reichen und nun etwas dunkler sind. Für sein Alter ist der Jüngling sehr kräftig und hochgewachsen; sein Gesichtsausdruck aber ist noch sehr jugendlich.
Er blickt mich an und lächelt, indem er die Hände nach mir ausstreckt.
Es ist ein Lächeln, das jenem gleicht, das ich beim erwachsenen Jesus sehe; sanft und eher ernst. Er ist allein. Ich sehe vorerst nichts anderes. Er steht an ein Mäuerchen gelehnt in einem engen Gäßlein, das steinig ist und auf- und absteigt und in dessen Mitte ein Graben ist, der bei Regen zu einem Bach wird. Jetzt ist er trocken, denn das Wetter ist schön.
Mir scheint, daß auch ich mich dem Mäuerchen nähere und mich umblicke und hinunterschaue wie Jesus. Ich sehe ein ungeordnetes Häusergewirr. Die Gebäude sind teils hoch, teils niedrig und nach allen Seiten orientiert. Es sieht aus – ein armseliger, doch treffender Vergleich – wie eine Handvoll weißer, auf einen dunklen Grund geworfener Kieselsteine. Die Straßen und Gäßlein sehen in diesem Weiß wie Adern aus. Da und dort sind die Mauern bewachsen. Viele Pflanzen sind in Blüte, und viele sind schon mit neuen Blättern bedeckt. Es muß Frühling sein.
Zu meiner Linken sehe ich eine Siedlung, Gebäude, Türme, Höfe und Säulenhallen, die auf drei übereinanderliegenden Terrassen verteilt sind und in deren Mitte sich ein herrliches Gebäude erhebt.
Dieses wird von Kuppeln überragt, die in der Sonne glänzen, als wären sie mit Kupfer oder Gold bedeckt. Das Ganze ist von einer Mauer mit Zinnen umgeben, wie bei einer Festung. Ein Turm, der höher als die anderen ist, steht am Ende einer engen, ansteigenden Straße und beherrscht deutlich die ausgedehnte Siedlung. Er gleicht einem strengen Wachtposten.
Jesus betrachtet wie starr diesen Ort. Dann wendet er sich um und lehnt den Rücken wieder an die Mauer, um eine kleine Anhöhe gegenüber den Gebäuden zu betrachten: einen vollkommen mit Häusern übersäten Hügel. Ich sehe, daß oben eine Straße in einem Bogen endet, hinter dem nur ein mit ungleichen Steinen gepflasterter Weg sichtbar ist. Die Pflastersteine sind quadratisch oder ungleich und unbehauen. Sie sind nicht sehr groß; nicht wie jene der römischen Konsularstraßen. Sie gleichen eher den klassischen, alten Gehsteigen von Viareggio – ich weiß nicht, ob sie noch existieren – sie sind schlecht aneinandergefügt; es ist eine schlechte Straße.
Das Gesicht Jesu wird sehr ernst, und ich bemühe mich festzustellen, ob der Grund dieser Melancholie die Anhöhe sein kann; aber ich sehe nichts Besonderes.
Inzwischen habe ich Jesus aus den Augen verloren. Als ich mich umgedreht habe, war er nicht mehr da. Und mit dieser Vision schlummere ich ein.
Beim Erwachen habe ich noch die Erinnerung an die Vision im Herzen und fühle mich durch sie etwas gestärkt und beruhigt; alles schläft, und ich befinde mich auf einem unbekannten Platz. Es sind hier Tore, Brunnen, Höfe und Häuser, eher Hütten, denn sie sehen mehr nach Hütten aus als nach Häusern. Es sind sehr viele Menschen da in ihren althergebrachten, hebräischen Kleidern, und auch sehr viel Lärm. Indem ich um mich blicke, wird mir klar, daß ich mich in dem Gebäudekomplex befinde, den Jesus betrachtet hat.
Ich sehe nämlich die Mauer mit ihren Zinnen, den Wachtturm und das mächtige Gebäude in der Mitte, das von großen Säulengängen umgeben ist, unter denen viele Menschen allen möglichen Beschäftigungen nachgehen.
Ich begreife nun, daß ich im Vorhof des Tempels von Jerusalem bin. Ich sehe Pharisäer in ihren langen, wallenden Gewändern und Priester in Linnengewändern mit einer kostbaren Plakette oben auf der Brust und einer an der Stirn und Edelsteinen, die da und dort auf dem weißen Stoff aufleuchten. Die Gewänder werden in der Taille von einem wertvollen Gürtel gehalten.
Auch andere, die nicht so reich gekleidet sind, sehe ich. Auch sie gehören zur priesterlichen Kaste und sind von ihren Jüngern umgeben. Ich ahne, daß es Gesetzeslehrer sind.
Unter all diesen Persönlichkeiten komme ich mir ganz verloren vor, weil ich wirklich nicht weiß, was ich hier zu tun habe. Ich nähere mich einer Gruppe von Gelehrten, in der gerade ein theologisches Gespräch im Gang ist; viele andere Leute wohnen demselben bei.
Unter den „Doktoren“ befindet sich eine Gruppe, die von einem gewissen Gamaliël angeführt wird, den ein anderer, ein fast blinder Greis, in seinen Ausführungen unterstützt. Dieser Greis wird Hillel genannt, und mir scheint, daß er der Lehrer oder ein Verwandter Gamaliëls ist, weil letzterer ihn vertrauensvoll und respektvoll behandelt.
Die Gruppe des Gamaliël hat großzügigere Ansichten, während eine andere Gruppe, die zahlreicher ist und von einem gewissen Schammai geleitet wird, eine enge, heuchlerische und spitzfindige Unnachgiebigkeit vertritt, wie sie im Evangelium so gut geschildert wird.
Gamaliël ist von einer dichten Gruppe von Jüngern umringt; er spricht von der Ankunft des Messias. Gestützt auf die Prophezeiungen Daniels, besteht er darauf, daß der Messias schon geboren sein müsse [Dan 9], weil seit mehr als zehn Jahren bereits die geweissagten siebzig Jahrwochen erfüllt seien und zwar seit dem Dekret über den Wiederaufbau des Tempels. Schammai widerspricht ihm und behauptet, daß der Tempel wohl wieder aufgebaut, die Knechtschaft Israels jedoch vermehrt worden und der vorausgesagte Friede nicht zu spüren sei; jener Friede, den doch, wie die Propheten sagen, der „Friedensfürst“ hätte bringen sollen. Jerusalem werde von einem Feind beherrscht, der es sogar wage, seine Herrschaft bis in den Tempelbereich vorzuschieben, den er von der Burg Antonia aus mit seinen römischen Legionären überwache. Letztere seien jederzeit bereit, jede Art Aufstand für die Unabhängigkeit des Vaterlands mit dem Schwert niederzuschlagen.
Das lautstarke Gespräch, voller Haarspaltereien, kommt zu keinem Ende. Jeder Lehrer prunkt mit seiner Gelehrtheit, nicht so sehr, um den Rivalen zu besiegen, sondern um die Bewunderung der Zuhörer zu gewinnen. Diese Absicht ist offenkundig.
Aus der Gruppe der Zuhörer ruft eine frische Knabenstimme: »Gamaliël hat recht!«
Eine Bewegung geht durch die Menschenmenge und die Gruppe der Lehrer. Man sieht sich nach dem Zwischenrufer um. Es ist aber nicht nötig, ihn zu suchen; er verbirgt sich nicht. Er bahnt sich einen Weg und gesellt sich zur Gruppe der Rabbis. Ich erkenne meinen jugendlichen Jesus. Er erscheint sicher und unbefangen mit seinen intelligenten, leuchtenden Augen.
»Wer bist du?« fragen sie ihn.
»Ein Sohn Israels, der gekommen ist zu erfüllen, was das Gesetz vorschreibt.«
Die begeisterte und sichere Antwort gefällt und bewirkt Beifall und Wohlwollen. Man ist neugierig auf das weitere Verhalten des kleinen Israeliten.
»Wie heißt du?«
»Jesus von Nazaret.«
Das Wohlwollen erlischt bei der Gruppe des Schammai. Der verständigere Gamaliël jedoch führt das Gespräch zusammen mit Hillel fort . . . ja es ist Gamaliël, der Hillel ehrerbietig bittet: »Frage du den Knaben etwas!«
»Worauf gründest du deine Sicherheit?« fragt Hillel.
(Ich setze nunmehr die Namen voran, um abzukürzen und alles klarer zu gestalten.)
Jesus: »Auf die Prophezeiung, die sich in der Zeitangabe nicht irren kann, und auf die Zeichen, die ihre Verwirklichung begleitet haben. Es ist wahr, daß Cäsar uns beherrscht. Doch die Welt war im Frieden, als die siebzig Jahrwochen erfüllt waren, so daß Cäsar die Volkszählung in Palästina anordnen konnte. Er hätte dies nicht tun können, wenn in seinem Kaiserreich Krieg geführt worden wäre oder Palästina einen Aufstand organisiert hätte. Wie die Zeit erfüllt war, erfüllte sich auch der andere Zeitabschnitt der zweiundsechzig und einer Jahrwoche seit der Vollendung des Tempels, damit der Messias gesalbt werde und sich bewahrheite, was die Prophezeiung des weiteren über das Volk, das ihn nicht haben will, sagt. Könnt ihr darum zweifeln? Erinnert ihr euch nicht, daß der Stern von den Weisen aus dem Morgenland gesehen wurde und sich wirklich am Himmel über Betlehem in Judäa niederließ, und daß die Prophezeiungen und Gesichte seit der Zeit Jakobs Betlehem als den Ort der Erfüllung angeben, wo die Geburt des Messias, des Sohnes des Sohnes des Sohnes Jakobs, erfolgen sollte? Erinnert ihr euch nicht mehr daran, was Bileam sagt: „Ein Stern wird aus Jakob geboren werden?“ [Num 24,17]. Die Weisen aus dem Morgenland, denen der Glaube und die Reinheit die Augen und die Ohren öffneten, haben den Stern gesehen und seinen Namen „Messias“ verstanden und sind gekommen, das auf die Welt herabgekommene Licht anzubeten.
«
Schammai fragt mit listigem Blick: »Du sagst, daß der Messias zur Zeit des Sternes über Betlehem-Efrata geboren wurde?«
Jesus: »Ich sage es.«
Schammai: »Dann lebt er also nicht mehr. Weißt du nicht, Knabe, daß Herodes alle Neugeborenen bis zum Alter von zwei Jahren in Betlehem und Umgebung ermorden ließ? Du, der du die Schrift so gut kennst, mußt doch auch wissen: „Ein Schrei wurde gehört in der Höhe . . . Es ist Rahel, die ihre Söhne beweint.“ [Jer 31,15]. Die Täler und Anhöhen von Betlehem haben die Tränen der sterbenden Rahel aufgefangen und sind noch von dem Weinen der Mütter über ihre Kinder erfüllt. Unter diesen befindet sich bestimmt auch die Mutter des Messias.«
Jesus: »O Greis, du irrst. Das Wehklagen der Rahel hat sich in Hosanna verwandelt; denn dort, wo sie den „Sohn ihres Schmerzes“
ans Licht brachte, hat die neue Rahel der Welt den Benjamin des Himmlischen Vaters, den Sohn seiner Rechten, geboren; den, der berufen ist, das Volk Gottes unter seinem Szepter zu versammeln und es aus dem schrecklichsten Sklaventum zu befreien.«
Schammai: »Und wie ist das denn möglich, da er doch getötet wurde?«
Jesus: »Hast du nicht über Elija gelesen: „Er wurde von einem feurigen Wagen hinweggenommen?“ Wird Gott der Herr nicht seinen Immanuel gerettet haben, damit er der Messias seines Volkes werde?
Er, der vor Mose das Meer geöffnet hat, damit Israel trockenen Fußes in sein Land ziehen konnte [Ex 14,15–22], könnte er nicht auch seine Engel gesandt haben, um seinen Christus vor der Grausamkeit des Menschen zu bewahren? Wahrlich, ich sage euch: Christus lebt und ist unter euch, und wenn die Zeit gekommen ist, wird er sich in seiner ganzen Macht offenbaren.« Bei diesen Worten, die ich unterstreiche, hat Jesu Stimme eine Kraft, die den ganzen Raum erfüllt. Seine Augen leuchten noch stärker, und mit einer gebietenden und verheißungsvollen Geste streckt er seine Rechte aus, wie zum Schwur. Er ist nur ein Knabe, aber würdevoll wie ein Mann . . .
Hillel: »Wer hat dich diese Worte gelehrt, Knabe?«
Jesus: »Der Geist Gottes. Ich habe keinen menschlichen Lehrer. Es ist das Wort des Herrn, das durch meine Lippen zu euch spricht.«
Hillel: »Komm zu uns, damit ich dich aus der Nähe sehe, Knabe, und meine Seele sich erleuchte an der Sonne deiner Seele!«
Jesus wird nun eingeladen, auf einem hohen Sitz zwischen Gamaliël und Hillel Platz zu nehmen; es werden Schriftrollen gebracht, damit er daraus lese und sie erkläre. Es handelt sich um eine regelrechte Prüfung. Die Menge drängt sich um ihn und hört zu.
Jesus liest mit jugendlicher Stimme: »„Tröste dich, mein Volk!
Sprecht zum Herzen Jerusalems! Tröstet es, denn seine Knechtschaft ist zu Ende . . . Stimme eines Rufenden in der Wüste: bereite den Weg des Herrn . . . Dann wird die Herrlichkeit des Herrn erscheinen . . . “« [Jes 40,1–5]
Schammai: »Da siehst du es, Nazarener! Hier wird von beendeter Knechtschaft gesprochen. Nie waren wir Sklaven wie jetzt. Hier wird von einem Vorläufer gesprochen. Wo ist er? Du redest irre.«
Jesus: »Ich sage dir: An dich ergeht mehr als an die anderen die Einladung des Vorläufers; an dich und an deinesgleichen. Sonst wirst du die Herrlichkeit des Herrn nicht schauen und das Wort Gottes nicht verstehen; denn Niederträchtigkeit, Hochmut und Doppelzüngigkeit hindern dich daran zu sehen und zu hören.«
Schammai: »So sprichst du zu einem Lehrer?«
Jesus: »So spreche ich, und so werde ich reden bis zu meinem Tod; denn über meinem Vorteil steht das Interesse des Herrn und die Liebe zur Wahrheit, deren Sohn ich bin. Und ich füge hinzu, Rabbi, daß die Knechtschaft, von der der Prophet spricht und von der auch ich spreche, nicht die ist, die du meinst, wie auch das Königtum nicht das sein wird, das du dir vorstellst. Denn durch das Verdienst des Messias wird der Mensch aus der Knechtschaft des Bösen, die von Gott trennt, befreit werden, und das Zeichen Christi wird über den Seelen sein, die, befreit von jeglichem Joch, Untergebene des ewigen Reiches sind. Alle Nationen werden das Haupt beugen, o Geschlecht Davids, vor dem aus dir geborenen Keim, der zum Baum heranwachsen, die ganze Erde bedecken und bis zum Himmel sich erheben wird. Und im Himmel und auf Erden werden alle Stimmen seinen Namen loben, und jedes Knie wird sich beugen vor dem Gesalbten des Herrn, dem Friedensfürsten, der aus sich selbst jede müde Seele belebt und jede hungrige Seele sättigt; dem Heiligen, der einen Bund zwischen Himmel und Erde schließt; nicht einen Bund, wie den mit den Vätern Israels, als Gott sie von Ägypten befreite und sie noch als Knechte behandelte; er wird seine himmlische Vaterschaft in den Geist der Menschen prägen, durch die neu fließende Gnade auf Grund der Verdienste des Erlösers, durch den alle Guten den Herrn kennen werden. Das Heiligtum Gottes wird nicht mehr abgebrochen oder zerstört werden.«
Schammai: »Lästere Gott nicht, Knabe! Denke an Daniel! Er sagt, daß nach dem Tod des Gesalbten der Tempel und die Stadt zerstört werden von einem Volk und einem Führer, der zu diesem Zweck kommen wird. Und du sagst, daß das Heiligtum Gottes nicht mehr niedergerissen wird. Halte dich an die Propheten!«
Jesus: »Wahrlich ich sage dir, daß es Einen gibt, der mehr ist als die Propheten, und du kennst ihn nicht und wirst ihn nicht kennen, da dir der Wille dazu fehlt. Ich behaupte, daß alles, was ich dir gesagt habe, wahr ist. Das wahre Heiligtum wird keine Zerstörung kennen; es wird wie er, der es heiligt, zum ewigen Leben auferstehen.«
Hillel: »Höre mich an, Knabe! Haggai sagt: „Der von den Völkern Ersehnte wird kommen . . . Groß wird die Herrlichkeit dieses Hauses sein, und die des letzten mehr als die des ersten“ [Hag 2,8–10].
Ist vielleicht damit das Heiligtum gemeint, von dem du sprichst?«
Jesus: »Ja, Meister. Das ist damit gemeint. Deine Redlichkeit wird dich zum Licht führen, und ich sage dir: Wenn das Opfer Christi vollbracht ist, wird der Friede zu dir kommen; denn du bist ein Israelit ohne Lüge.«
Gamaliël: »Sage mir, Jesus: Der Friede, von dem die Propheten sprechen, wie kann man ihn erhoffen, wenn der Krieg dieses Volk zerstört? Sprich und erleuchte auch mich!«
Jesus: »Erinnerst du dich nicht mehr daran, Meister, was jene erzählten, die zugegen waren in der Nacht von Christi Geburt? Die Engelschöre sangen: „Friede den Menschen, die guten Willens sind!“
Aber der Wille dieses Volkes ist nicht gut, und so wird es auch keinen Frieden haben. Es wird seinen König, den Gerechten, den Erlöser verkennen, da es einen König voll menschlicher Macht erwartet, während er der König des Geistes ist. Dieses Volk wird ihn nicht lieben, da Christus predigen wird, was ihm nicht gefällt. Christus wird nicht gegen Feinde kämpfen, die mit Wagen und Pferden ausgerüstet sind, sondern gegen die Feinde der Seele, die das Menschenherz, das für Gott erschaffen worden ist, zu teuflischen Genüssen verführen. Das ist nicht der Sieg, den Israel vom Messias erwartet.
Er wird kommen, Jerusalem, dein König und „auf der Eselin und auf dem Füllen reiten“ [Sach 9,9], womit die Gerechten Israels und die Heiden gemeint sind. Aber das Füllen, sage ich euch, wird ihm treuer sein als die Eselin, und es wird ihm folgen, und es wird wachsen auf dem Weg der Wahrheit und des Lebens. Israel wird wegen seines schlechten Willens den Frieden verlieren und durch Jahrhunderte das erleiden, was es an Leiden seinem König bereitet hat, den es so zum Mann der Schmerzen, von dem Jesaja spricht, gemacht hat.«
Schammai: »Dein Mund riecht nach Milch und Gotteslästerung, Nazarener. Antworte mir: Wo ist der Vorläufer? Wann werden wir ihn haben?«
Jesus: »Er ist schon da. Sagt nicht Maleachi: „Siehe, ich sende meinen Engel vor mir her, daß er meinen Weg ebne, und sofort wird zu seinem Tempel der von euch erwartete Herrscher und der von euch ersehnte Engel des Testaments kommen?“ Also kommt der Vorläufer kurz vor Christus. Er ist schon da, wie auch Christus selbst. Wenn Jahre zwischen dem, der die Wege des Herrn bereitet, und Christus lägen, dann würden diese Wege bis dahin wieder uneben sein. Gott weiß es und hat beschlossen, daß der Vorläufer dem Meister nur eine Stunde voraus sein soll. Wenn ihr diesen Vorläufer seht, könnt ihr sagen: „Die Sendung Christi hat begonnen.“ Dir sage ich: Christus wird viele Augen und viele Ohren öffnen, wenn er auf diesen Straßen wandelt; doch nicht die deinen und die deiner Gleichgesinnten, die ihr ihm den Tod bereitet für das Leben, das er euch bringt. Noch erhabener als dieser Tempel, erhabener als das Allerheiligste, das im Heiligsten eingeschlossen ist, erhabener als die von Kerubim getragene „Herrlichkeit“ wird der Erlöser auf seinem Thron und auf seinem Altar sein. Dann wird Fluch den Gottesmördern und Leben den Heiden aus seinen tausend und tausend Wunden zufließen; denn er, du weißt es nicht, o Meister, er ist nicht der König eines menschlichen, sondern eines geistigen Königreiches, und seine Untergebenen sind ausschließlich die, die durch seine Liebe sich im Geist erneuern und wie Jona, nachdem sie schon geboren waren, wiedergeboren werden im Reich Gottes durch eine geistige Zeugung, die durch Christus vollzogen wird, der der Menschheit das wahre Leben schenken wird.«
Schammai und seine Anhänger: »Dieser Nazarener ist Satan!«
Hillel und die seinen: »Nein, dieser Knabe ist ein Prophet Gottes.
Bleibe bei uns, Kind! Mein Alter wird dein Wissen dem seinen einverleiben, und du wirst Lehrer des Volkes Gottes sein.«
Jesus: »Wahrlich ich sage euch: Wenn viele wären wie du, würde Heil über Israel kommen. Doch meine Stunde ist noch nicht da. Zu mir sprechen die Stimmen des Himmels, denen ich in der Einsamkeit lauschen muß, bis meine Stunde gekommen ist. Dann werde ich mit meinem Mund und meinem Blut zu Israel sprechen, und mein Los wird das der Propheten sein, die gesteinigt und getötet wurden. Doch über meinem Dasein schwebt Gott, der Herr, dem ich mich als treuer Knecht unterwerfe, damit er die Welt zum Schemel der Füße Christi mache. Erwartet mich in meiner Stunde! Diese Steine werden meine Stimme wieder hören und bei meinem letzten Wort erzittern.
Selig, die in dieser Stimme Gott gehört haben und durch sie an ihn glauben! Ihnen wird Christus das Reich geben, das euer Egoismus als menschliches träumt, während es himmlisch ist. Ich lege dafür dieses Zeugnis ab: „Hier ist dein Diener, o Herr, der gekommen ist, deinen Willen zu erfüllen. Vollziehe ihn, denn ich brenne darauf, ihn zu erfüllen!“«
Und hier endet die Vision mit Jesus, der seine Arme und sein Antlitz, das von geistiger Leidenschaft glüht, zum Himmel erhebt und aufrecht mitten unter den bestürzten Gelehrten steht.
Es ist 3.00 Uhr, der 29. Januar 1944.
Man fragt mich heute, wie ich auf die Namen „Gamaliël“, „Hillel“ und „Schammai“
gekommen bin. Es ist die Stimme, die ich als meine „zweite Stimme“ bezeichne, die mir solche Dinge eingibt; sie ist weniger hörbar als die meines Jesus und die der anderen, die mir diktieren. Diese sind Stimmen, wie ich schon sagte, die mein geistiges Ohr wie menschliche Stimmen vernimmt. Ich höre ihren sanften oder entrüsteten, ihren frohen oder traurigen Ausdruck, genau so, als ob man ganz nahe bei mir spräche. Diese „zweite Stimme“ hingegen ist wie ein Licht, das in meinem Geist und nicht zu meinem Geist spricht. Das ist ein Hinweis.
So war es, als ich mich der Gruppe der Diskutierenden näherte und nicht wußte, wer die imponierende Persönlichkeit war, die an der Seite eines Greises so eifrig redete. Da sagte diese Stimme: »Gamaliël – Hillel.« Ja, zuerst Gamaliël und dann Hillel. Ich habe keine Zweifel. Während ich noch darüber nachdachte, wer die beiden seien, zeigte mir die innere Weisung dieses dritte, unsympathische Individuum, gerade als Gamaliël es beim Namen nannte. So erfuhr ich den Namen. Er sah wie ein Pharisäer aus. Heute läßt mich diese innere Stimme verstehen, daß ich das Weltall nach seinem Tod sah; das Weltall, wie es oft in den Visionen erscheint und das mich viele Einzelheiten verstehen läßt, die ich von mir aus nicht begreifen würde und die doch verstanden werden müssen. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausgedrückt habe. Doch nun muß ich aufhören, denn Jesus beginnt zu sprechen.

69 Der Schmerz Marias, weil Jesus fehlt

Jesus sagt:
»Kleiner Johannes, habe Geduld! Hier ist noch etwas! Behandeln wir auch das noch, um deinen Seelenführer zufriedenzustellen und das Werk zu vollenden. Ich wünsche, daß diese Arbeit ihm morgen, am Aschermittwoch, übergeben wird. Ich will, daß du diese ermüdende Arbeit abschließt, denn . . . Ich will, daß du mit mir leidest.
So gehen wir noch einmal weit, weit zurück (22. Februar 1944 – Tatsächlich hatte sie am selben Tag Stücke geschrieben, die zur Passion und Verherrlichung gehörten). Wir gehen zum Tempel, worin der Zwölfjährige disputiert. Noch mehr.
Wir kehren zurück auf die Wege, die nach Jerusalem führen und in Jerusalem zum Tempel.
Du siehst die Angst Marias, als sie beim Zusammentreffen der Frauen und Männer feststellt, daß ich nicht bei Josef war. Sie erhebt nicht die Stimme in bitteren Vorwürfen gegen den Gefährten. Alle Frauen hätten dies getan. Ihr tut es geringer Dinge wegen und vergeßt, daß der Mann immer das Haupt der Familie ist.
Doch der Schmerz, der auf dem Antlitz Marias liegt, durchbohrt Josef mehr als jeder Vorwurf. Maria ergeht sich nicht in dramatischen Szenen. Ihr tut dies wegen geringfügiger Dinge, um bemerkt und bemitleidet zu werden. Doch ihr zurückgehaltener Schmerz ist offenkundig im Zittern, das sie befällt, im erbleichenden Antlitz mit den geöffneten Augen, das mehr Mitleid erregt als Tränen und Gejammer.
Sie ist nun weder müde noch hungrig. Und der Weg ist weit gewesen, und seit Stunden hat sie keine Stärkung mehr zu sich genommen.
Doch sie vergißt alles: auch das Lager, das vorbereitet, und das Essen, das bald ausgeteilt wird. Sie geht zurück; es ist Abend; die Nacht bricht herein. Das kümmert sie nicht. Jeder Schritt bringt sie Jerusalem näher. Sie hält die Karawanen und Pilger auf; sie stellt Fragen.
Josef folgt und hilft ihr. Eine Tagesreise verlangt die Rückkehr, und dann beginnt die rastlose Suche in der Stadt.
Wo, wo kann ihr Jesus nur sein? Und Gott läßt zu, daß sie viele Stunden nicht weiß, wo sie mich suchen könnte. Ein Kind im Tempel zu suchen, war doch eine Sinnlosigkeit. Was sollte ein Kind im Tempel tun?
Es hätte sich höchstens in der Stadt verlaufen können und wäre dorthin zurückgekehrt mit seinen kleinen Schritten und hätte mit weinender Stimme nach der Mutter gerufen und so die Aufmerksamkeit der Erwachsenen, besonders der Priester, auf sich ziehen können, die dann durch Anschläge an den Toren dafür gesorgt hätten, die Eltern ausfindig zu machen . . . Doch da war nirgends eine Bekanntmachung. Niemand wußte von diesem Knaben. Schön?
Blond? Kräftig? Oh, solche gibt es viele! Zu wenig, um sagen zu können: „Ich habe ihn gesehen. Er war da oder dort! . . . “
Dann, nach drei Tagen, symbolisch für die drei künftigen Tage der Angst, kommt Maria erschöpft in den Tempel und durcheilt die Höfe und Hallen. Nichts! . . . Die arme Mutter läuft nach allen Richtungen, von wo sie eine Knabenstimme zu vernehmen meint. Selbst das Blöken der Lämmlein kommt ihr wie Kinderweinen vor. Doch Jesus weint nicht. Er lehrt. Da hört Maria hinter einer Schranke von Menschen die teure Stimme, die soeben sagt: „Diese Steine werden erzittern . . . “ Sie versucht, die Menge zu zerteilen. Es gelingt ihr nach großer Mühe. Da steht ihr Sohn mit ausgebreiteten Armen inmitten der Gelehrten.
Maria ist die „kluge Jungfrau“. Doch diesmal überwindet der Kummer ihre gewohnte Zurückhaltung. Sie überwindet alle Hindernisse.
Sie eilt zu Jesus, umarmt ihn, hebt ihn vom Stuhl hoch, stellt ihn auf den Boden . . . und sagt: „Warum hast du uns das getan? Seit drei Tagen suchen wir dich. Deine Mutter stirbt vor Kummer, Sohn!
Dein Vater ist erschöpft! Warum, Jesus?“
Man fragt Den nicht nach dem „Warum“, der weiß. Berufene fragt man nicht, warum sie alles verlassen haben, um der Stimme Gottes zu folgen. Ich war die Weisheit und ich wußte. Ich war „berufen“
zu einer Sendung und erfüllte sie. Über dem irdischen Vater und der leiblichen Mutter war Gott, der göttliche Vater. Seine Interessen sind gewichtiger als unsere; seine Zuneigungen sind über alles erhaben.
Ich sage es meiner Mutter. Ich beendige die Unterweisung der Gelehrten mit der Unterweisung Marias, der Königin der Gelehrten.
Und sie hat es nie vergessen. Die Sonne war in ihr Herz zurückgekehrt, während sie meine Hand, demütig und gehorsam, hielt; aber meine Worte sind ihr im Herzen geblieben.
Viel Sonne und viele Wolken wandern am Himmel in den 21 Jahren, die ich noch auf Erden verbringe. Viel Freude und viel Schmerz wechseln sich in ihrem Herzen in diesen 21 Jahren ab. Doch sie wird nie mehr fragen: „Warum hast du uns dies angetan, mein Sohn?“
Lernt davon, ihr anmaßenden Menschen!
Ich selbst habe dich durch diese Vision geführt und sie dir erklärt, weil du außerstande bist, mehr zu tun!«

70 Der Tod des Heiligen Josef

Plötzlich, während ich dabei bin, das Heft, genauer gesagt, das Diktat über die Pseudoreligionen von heute zu korrigieren, überkommt mich diese Vision. Ich schreibe während der Schau.
Ich sehe das Innere einer Zimmermannswerkstatt. Mir scheint, daß zwei Wände aus Felsen sind, wie wenn man hier eine natürliche Grotte als zusätzlichen Raum für das Haus benutzt hätte. Genauer gesagt, bestehen die Wände auf der Nord- und Westseite aus Felsgestein und die anderen beiden wie üblich aus Mauerwerk.
An der Nordseite wurde in einer Einbuchtung des Felsens eine Feuerstelle angelegt, ein einfacher Herd, auf dem ein Pfännchen mit Leim oder Lack steht . . . Das seit Jahren hier verbrannte Holz hat die Wand geschwärzt, sie scheint geteert zu sein. Ein Loch in der Wand, überdeckt mit einem großen gewölbten Ziegelbogen, dient als Abzugskamin, scheint jedoch nicht besonders dafür geeignet zu sein, denn auch die anderen Wände sind schwarz vom Rauch, wie auch in diesem Moment ein rauchiger Nebel im Raum hängt.
Jesus arbeitet an einer Hobelbank. Er hobelt Bretter glatt und stellt sie dann hinten gegen die Wand. Dann nimmt er eine Art Hocker, der auf zwei Seiten in einen Schraubstock eingespannt ist, befreit ihn von dieser Umklammerung, prüft die Arbeit, nimmt ein Winkelmaß und mißt alle Seiten; dann geht er zum Kamin, nimmt das Pfännchen und rührt darin mit einem Stöcklein oder Pinsel – (ich sehe nur dessen Ende).
Jesus ist dunkelbraun gekleidet und trägt eine eher kurze Tunika; die Ärmel sind bis über die Ellbogen aufgestülpt; vorne trägt er eine Art Schürze, an der er sich die Finger abwischt, nachdem er das Pfännchen berührt hatte. Er ist allein. Er arbeitet fleißig und mit Sorgfalt. Keine ungeordnete, ungeduldige Bewegung. Er ist genau und arbeitet ohne Unterbrechung. Nichts ärgert ihn, weder ein Ast im Holz, der dem Hobel ein Hindernis ist, noch der Schraubenzieher (so sieht das Werkzeug aus), der zweimal von der Werkbank auf den Boden fällt, noch der Rauch, der seine Augen reizt.
Von Zeit zu Zeit schaut er auf und blickt zur Wand an der Südseite, an der sich eine geschlossene Tür befindet, als ob er horche. Auf einmal geht er zur Tür an der Ostseite, die zur Straße führt und öffnet sie. Ich sehe ein Stück des staubigen Sträßchens. Es sieht so aus, als erwarte er jemand. Dann kehrt er zur Arbeit zurück. Er ist nicht traurig, aber sehr ernst. Er schließt die Tür und nimmt die Arbeit wieder auf.
Während er noch beschäftigt ist, etwas wie Teile eines Radreifens zusammenzusetzen, kommt die Mutter herein. Sie tritt durch die Tür in der Südwand ein. Eilig geht sie auf Jesus zu. Sie trägt ein dunkelblaues Kleid. Das Haupt ist unbedeckt. Das Kleid ist in der Taille mit einer gleichfarbenen Kordel gegürtet . . . Sie ruft ängstlich den Sohn und greift mit beiden Händen nach seinem Arm, in einer Bewegung, die schmerzerfüllt nach Hilfe sucht. Jesus legt liebevoll eine Hand auf ihre Schulter und tröstet sie. Dann legt er seine Arbeit und seine Schürze beiseite und verläßt mit seiner Mutter den Raum.
Ich nehme an, Sie möchten auch die gesprochenen Worte kennen.
Maria sagt nur wenig: »Oh, Jesus, komm, komm! Es geht ihm schlecht.« Diese Worte kommen von bebenden Lippen, und Tränen glänzen in den geröteten, müden Augen. Jesus sagt nur: »Mama!«
Doch in diesem einen Wort ist alles enthalten.
Sie treten in das nebenan liegende Zimmer. Es ist voller Sonne, die durch die zum Gärtchen führende, halbgeöffnete Tür einströmt. Das Gärtchen ist voller Licht und Grün. Täubchen fliegen zwischen den zum Trocknen aufgehängten Wäschestücken umher. Der Raum ist einfach, doch ordentlich und rein. In ihm befindet sich ein niedriges Lager, bedeckt mit Maträtzchen (ich sage Maträtzchen, weil diese Decken dick und weich sind; aber es ist nicht ein Bett, wie wir es kennen). Auf diesen und von vielen Kissen gestützt, liegt der sterbende Josef. Man sieht es deutlich: das Antlitz ist totenbleich, das Auge erloschen, die Brust keucht. Der Zerfall des Körpers ist offenbar.
Maria geht an seine Linke, nimmt die rauhe, an den Nägeln bläuliche Hand, küßt und liebkost sie. Mit einem Tüchlein trocknet sie ihm den Schweiß, der an den eingefallenen Schläfen glänzt, und die Träne, die im Augenwinkel hängt. Sie befeuchtet die Lippen mit einem in eine Flüssigkeit (anscheinend Weißwein) getauchten Tüchlein.
Jesus stellt sich auf die rechte Seite. Er hebt schnell und sorgfältig den eingesunkenen Körper und legt ihn sanft auf die Kissen zurück, wobei Maria ihm hilft. Er streicht dem Sterbenden über die Stirne und sucht ihn zu ermutigen.
Maria weint still, lautlos, aber sie weint. Tränen rollen über die bleichen Wangen auf das dunkelblaue Kleid hinunter und glänzen wie Saphire.
Josef erholt sich ein wenig und schaut Jesus an. Er reicht ihm die Hand, wie um ihm etwas zu sagen und in der göttlichen Berührung Kraft zu finden für die letzte Prüfung. Jesus beugt sich über die Hand und küßt sie. Josef lächelt. Dann sucht sein Blick Maria, und er lächelt auch ihr zu. Maria kniet vor dem Lager nieder und versucht zu lächeln. Es gelingt ihr schlecht, und sie senkt das Haupt.
Josef legt ihr die Hand aufs Haupt, in keuscher Liebkosung, gleich einem Segen.
Man hört nur den Flügelschlag und das Gurren der Tauben, das Rascheln der Blätter, das Quirlen des Wassers und im Zimmer das schwere Atmen des Sterbenden.
Jesus geht um das Lager herum, nimmt einen Schemel und läßt Maria sich hinsetzen. Er sagt nur: »Mama.« Dann kehrt er an seinen Platz zurück und nimmt Josefs Hand in seine Hände. Die Szene ist so wahr, daß ich über den Schmerz Marias weinen muß. Dann neigt sich Jesus über den Sterbenden und flüstert einen Psalm. Ich weiß, daß es ein Psalm ist, aber ich kann nicht sagen welcher [Ps 16]. Er beginnt: »„Beschütze mich, o Herr, denn ich nehme zu dir meine Zuflucht . . .
Die Heiligen, die wohnen in seinem Lande, sind die Herrlichen, an denen ich mein Wohlgefallen habe.
Ich preise den Herrn, der mich berät; . . .
Allzeit habe ich vor Augen den Herrn. Er steht mir zur Rechten, so daß ich nicht wanke.
Darum freut sich mein Herz, es frohlockt meine Seele, und auch mein Leib kann ruhen in Frieden.
Denn nicht dem Totenreiche gibst du meine Seele anheim, deinen Heiligen läßt du Verwesung nicht schauen.
Du weisest mir den Weg des Lebens: Fülle der Freuden vor deinem Angesicht und Wonnen zu deiner Rechten ewiglich.“«
Josef lebt ganz auf, lächelt Jesus mit einem lebendigeren Blick zu und drückt ihm die Finger. Jesus antwortet mit einem Lächeln, und seine Hände liebkosend, fährt er fort [Ps 84]: »„Wie freundlich ist deine Wohnung, o Herr der himmlischen Heerscharen! Meine Seele sehnt sich, ja schmachtet nach den Vorhöfen des Herrn.
Findet doch der Sperling ein Heim und die Turteltaube ein Nest für ihre Jungen. Nach deinen Altären sehne ich mich, o Herr.
Selig, die wohnen in deinem Haus! Selig der Mensch, der deiner Kraft sich erfreut, wenn er sich rüstet zu heiliger Fahrt aus dem Tal der Tränen zum auserwählten Ort.
Herr, erhöre mein Gebet . . .
O Gott, wende deinen Blick zu mir und schaue das Antlitz deines Gesalbten . . . “«
Josef betrachtet Jesus mit einem Seufzer und möchte etwas sagen, wie um ihn zu segnen. Aber es fehlt ihm die Kraft dazu. Man sieht, daß er versteht, aber die Sprache versagt ihm. Doch ist er glücklich und schaut lebhaft und vertrauensvoll auf seinen Jesus.
»„O Herr“«, fährt Jesus fort, »„du bist gnädig gewesen deinem Land, hast Jakob befreit von der Knechtschaft . . .
Zeige uns, o Herr, deine Barmherzigkeit und gib uns deinen Erlöser.
Hören will ich, was kündet der Herr, unser Gott. Wahrhaft, er kündet den Frieden all seinen Frommen, allen, die von Herzen an ihn sich wenden.
Ja, dein Heil ist nahe . . . und deine Herrlichkeit wird wohnen auf Erden . . .
Begegnen werden sich Erbarmen und Treue; Gerechtigkeit und Friede werden sich küssen. Aus der Erde sprießt die Treue; Gerechtigkeit blickt hernieder vom Himmel.
Ja, der Herr verleiht uns seinen Segen, und unsere Erde gibt ihre Frucht. Gerechtigkeit geht vor ihm her, und Heil folgt der Spur seiner Schritte.“« [Ps 85]
Du hast diese Stunde gesehen, Vater, und für sie hast du dich bemüht. Du hast alles getan für diese Stunde, und der Herr wird es dir lohnen. Ich sage es dir«, fügt Jesus hinzu und wischt eine Träne der Freude ab, die langsam über die eingefallene Wange rollt.
Dann beginnt er wieder [Ps 132]: »„Gedenke, o Herr, Davids und all seiner Mühseligkeit, wie er dem Herrn geschworen, dem Starken Jakobs gelobt hat: ‚Ich will nicht in das Zelt meines Hauses gehen, noch auf das Lager meines Bettes steigen, ich will meinen Augen keinen Schlaf gönnen und meinen Wimpern keinen Schlummer, bis ich gefunden eine Stätte dem Herrn, eine Wohnung dem Mächtigen Jakobs.‘
Mache dich auf, o Herr, zu deiner Ruhstatt, und mit dir deine machtvolle Lade! (Maria versteht und bricht in Weinen aus).
Deine Priester sollen sich in Gerechtigkeit kleiden, deine Heiligen sollen frohlocken.
Um Davids, deines Knechtes, willen verschmähe nicht das Antlitz deines Gesalbten.
Einen Eid hat der Herr David geschworen, von dem er nicht abgeht: ‚Einen Sproß aus deinem Geschlechte will ich erheben auf deinen Thron.‘
Der Herr hat ihn erwählt zu seiner Wohnstatt . . .
Dem David errichte ich ein Zeichen der Macht, eine Leuchte bereite ich seinem Gesalbten.“
Danke, mein Vater, für mich und die Mutter! Du warst mir ein gerechter Vater, und der Ewige hat dich zum Beschützer seines Christus und seiner Bundeslade gemacht. Du warst die für ihn brennende Fackel, und an der Frucht des heiligen Leibes hast du die Nächstenliebe geübt. Geh in Frieden, Vater! Deine Witwe wird nicht ohne Hilfe sein. Der Herr hat vorgesorgt, daß sie nicht allein sei. Geh freudig ein in deine Ruhe! Ich sage es dir.«
Maria weint in die Decken, die über Josef gebreitet sind, der fröstelt.
Jesus tröstet sie, da der Atem immer schwerer wird und der Blick sich verschleiert [Ps 112]. »„Selig der Mann, der fürchtet den Herrn und Freude hat an seinen Geboten . . .
Seine Gerechtigkeit währt von Jahrhundert zu Jahrhundert.
Den Guten erstrahlt er als Licht in der Finsternis.
Milde ist er, gerecht und barmherzig . . .
Das Andenken des Gerechten währt in Ewigkeit . . .
Seine Macht wird sich erheben bis zur Herrlichkeit . . . “
Du wirst sie haben, diese Herrlichkeit, Vater. Bald werde ich kommen, um dich emporzuziehen in die Herrlichkeit, die dich erwartet, mit den Patriarchen, die dir vorausgegangen sind. Dein Geist möge aufjubeln bei meinem Wort.
„Wer unter dem Schutz des Höchsten ruht, lebt beschirmt vom Gott des Himmels.“ [Ps 91]
Da bist du angelangt, mein Vater . . .
„Denn er errettete dich aus der Schlinge des Jägers, vor Tod und Verderben.
Mit seinen Flügeln beschirmt er dich, unter seinen Fittichen bist du geborgen, seine Treue ist dir ein schützender Schild . . .
Es wird dir kein Unheil begegnen . . .
Denn er entbietet für dich seine Engel, dich zu behüten auf all deinen Wegen.
Sie sollen auf den Händen dich tragen, daß dein Fuß nicht an einem Stein sich stoße.
Du wirst gehen über Nattern und Schlangen, wirst zertreten Löwen und Drachen.
Denn du hast auf den Herrn gehofft; er sagt dir, o Vater, daß er dich befreien und beschützen wird.
Du hast zu ihm deine Stimme erhoben, er wird dich erhören. Er wird mit dir sein in deiner letzten Trübsal und dich verherrlichen nach diesem Leben, in dem du bereits sein Heil geschaut.“ Ins andere Leben läßt er dich eingehen durch das Heil, das dich nunmehr tröstet und das bald, ja bald kommen wird, ich wiederhole es, dich mit göttlicher Umarmung zu gürten und dich mit sich zu führen an der Spitze aller Patriarchen dorthin, wo die Stätte für dich, den Gerechten Gottes, der mir ein gesegneter Vater war, schon bereitet ist.
Geh mir voraus, den Patriarchen zu melden, daß auf der Welt das Heil erschienen ist und ihnen bald das Himmelreich erschließen wird. Geh, Vater! Mein Segen möge dich begleiten!«
Jesu Stimme hat sich gehoben, um den Geist Josefs zu erreichen, der schon vom Nebel des Todes umfangen ist. Das Ende steht bevor.
Maria liebkost ihn. Jesus sitzt am Rand des Bettes und hält den Sterbenden umschlungen, der nun zusammensinkt und das Leben sanft aufgibt.
Die Szene ist voll feierlichen Friedens. Jesus bettet den Patriarchen zurück und nimmt Maria in seine Arme, die sich ihm genähert hatte, als der Schmerz sie überwältigte.

71 »Maria hat beim Tod Josefs tief gelitten«

Jesus spricht:
»Allen Frauen, die vom Schmerz gequält werden, empfehle ich, Maria in ihrer Witwenschaft nachzuahmen: sich mit Jesus zu vereinigen.
Alle, die glauben, daß Maria nicht gelitten habe, irren sich. Meine Mutter hat gelitten. Ihr sollt dies wissen. Sie hat heiligmäßig gelitten, da alles an ihr heilig war; aber sie hat sehr gelitten.
Alle, die glauben, Maria hätte ihren Bräutigam nur mit lauer Liebe geliebt, da er ihr Bräutigam im Geist und nicht im Fleisch war, sind ebenfalls im Irrtum. Maria liebte Josef, dem sie dreißig Jahre ihres Lebens gewidmet hatte, tief. Josef ist ihr Vater, Bräutigam, Bruder, Freund und Beschützer gewesen.
Nun fühlte sie sich einsam wie der Rebzweig, der vom Baum, an dem er gelebt hatte, abgesägt wurde. Ihr Haus war wie vom Blitz getroffen. Es war nun geteilt. Zuerst bildete es eine Einheit, in der die Mitglieder sich gegenseitig stützten. Nun fehlte gleichsam die Grundmauer: der erste Schlag für diese Familie und ein Anzeichen des baldigen Wegganges ihres geliebten Jesu. Der Wille des Ewigen wollte sie als Gattin und Mutter; er verlangt von ihr jetzt die Witwenschaft und den Verlust ihres Kindes. Maria sagt unter Tränen eines ihrer erhabenen „Ja“. „Ja, Herr, mir geschehe nach deinem Worte!“
Und um in dieser Stunde Kraft zu haben, klammert sie sich an mich. Maria ist immer mit Gott verbunden, ganz besonders in den schwersten Stunden ihres Lebens: im Tempel, als sie zur Vermählung und in Nazaret, als sie zur Mutterschaft berufen wurde; wiederum in Nazaret, wo ihr unter Tränen die Witwenschaft auferlegt wurde; in Nazaret, im Schmerz der Loslösung von Jesus; auf dem Kalvarienberg in Qual, mich sterben zu sehen.
Lernt von ihr, die ihr weint, und lernt, ihr Sterbenden! Lernt, ihr, die ihr lebt, um zu sterben. Bemüht euch, die Trostworte zu verdienen, die ich Josef sagte. Sie werden euer Friede im Todeskampf sein. Lernt, ihr, die ihr sterben müßt, damit ihr würdig werdet, Jesus als euren Trost in der Nähe zu haben. Auch wenn ihr es nicht verdient habt, wagt es doch, mich in eure Nähe zu rufen; ich werde kommen, die Hände voller Gnaden und Tröstungen, das Herz voller Vergebung und Liebe, auf den Lippen Worte des Verzeihens und der Ermutigung.
Der Tod verliert jede Bitterkeit, wenn er in meinen Armen erfolgt.
Glaubt es! Ich kann den Tod nicht verhindern, aber ich kann all denen das Sterben erleichtern, die im Vertrauen auf mich sterben.
Christus hat für euch alle am Kreuz gesagt: „Herr, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.“ Er hat es in seinem Todeskampf im Gedanken an euren Todeskampf gesagt und dabei an euren Schrecken, an eure Irrtümer, an eure Ängste, an eure Bitten um Verzeihung gedacht.
Er hat es gesagt mit zerrissenem Herzen, einmal wegen des Lanzenstiches und dann wegen des mehr geistigen als physischen Schmerzes, damit der Todeskampf aller, die im Sterben an mich denken, vom Herrn gemildert werde, und der Geist durch den Tod ins Leben und durch den Schmerz in die Ewige Freude eingehe.
Dies, kleiner Johannes, ist die heutige Belehrung. Sei gut und fürchte dich nicht!
Mein Friede möge sich immer in dich ergießen im Wort und in der Betrachtung!
Komm, stelle dich an Josefs Platz, der als Kissen die Brust Jesu hatte und als Krankenpflegerin Maria. Ruhe dich aus zwischen uns wie ein Kind in der Wiege!«

72 Zum Abschluß des verborgenen Lebens Jesu

Maria sagt:
»Bevor du diese Hefte aushändigst, will ich meinen Segen anbringen. Nun könnt ihr mit noch ein wenig Geduld eine vollständige Vorstellung des häuslichen Lebens meines Jesu haben. Von der Verkündigung in Nazaret bis zum Beginn seines öffentlichen Wirkens habt ihr nicht nur die Lehrdiktate, sondern auch die Darstellung der Begebenheiten, die das Leben Jesu in der Familie begleiteten.
Die Kindheit, das Heranwachsen und die Jugendzeit meines Sohnes sind im großen Buch seines Lebens, dem Evangelium, nur kurz angedeutet. Dort ist er der Meister, hier ist er Mensch. Er ist Gott, der sich verdemütigt aus Liebe zu den Menschen, und der trotz seiner Selbstverleugnung in einem gewöhnlichen Leben Wunder wirkt.
Er wirkt sie in mir, die ich meine Seele in der Berührung mit meinem Sohn, der in mir wächst, zur Vollkommenheit gezogen fühle.
Er bewirkt im Haus des Zacharias die Heiligung des Johannes, erleichtert die Beschwerden Elisabets, gibt Zacharias die Sprache und den Glauben zurück. Er wirkt sie in Josef, indem er ihm den Geist öffnet für das Licht einer so erhabenen Wahrheit, daß er sie aus sich selbst, als Gerechter, nicht verstehen hätte können. Und nach mir ist Josef der am höchsten mit diesem Regen der göttlichen Gnade Gesegnete.
Beachte, welch langen geistigen Weg er von der Ankunft in meinem Haus bis zum Augenblick der Flucht nach Ägypten zurücklegen mußte!
Am Anfang war er einfach ein gerechter Mann seiner Zeit. Er erwirbt sich, von Stufe zu Stufe, den Glauben an Christus und überläßt sich diesem sicheren Glauben so sehr, daß er Gott völlig vertraut.
Vor der Reise von Nazaret nach Betlehem sagt er noch: „Was wird mit uns geschehen?“ Diese Frage, in welcher der ganze Mensch sich mit seinen menschlichen Ängsten und menschlichen Sorgen enthüllt, geht in Hoffnung über. Im Stall sagt er vor der Geburt: „Morgen wird es bestimmt besser gehen.“ Jesus, der sich nähert, bestärkt in ihm schon diese Hoffnung, die unter den Gaben Gottes eine der schönsten ist. Und aus dieser Hoffnung geht er zum Mut über, als die Berührung mit Jesus ihn heiligt. Er hat sich immer von mir leiten lassen aus der Ehrfurcht, die er mir bezeugte. Nun leitet er die materiellen und die höheren Angelegenheiten; er entscheidet als Familienhaupt, wenn es etwas zu entscheiden gibt. Nicht nur dies: in der schmerzlichen Stunde der Flucht nach Monaten des Zusammenlebens mit dem göttlichen Sohn, der ihn mit Heiligkeit gesättigt hat, ist er es, der mich in meinem Schmerz tröstet und zu mir sagt: „Wenn wir auch nichts mehr besäßen, so hätten wir dennoch alles, weil wir Ihn haben.“
Mein Jesus wirkt mit seinen Wundern der Gnade auch unter den Hirten. Der Engel geht zum Hirten hin, den die flüchtige Begegnung mit mir auf die Gnade vorbereitet hat und bringt ihn zur Gnade, damit sie ihn für die Ewigkeit rette. Jesus wirkt Wunder, wo er vorübergeht, sei es im Exil, sei es nach der Heimkehr in sein kleines Nazaret. Denn da, wo er ist, breitet sich die Heiligkeit aus, wie Öl auf einem Linnen, und die Luft ist voller Blumenduft. Wenn er sich nähert, wenn er berührt (sofern es nicht ein Dämon ist), geht von ihm ein Kraftstrom mit einer großen Sehnsucht nach Heiligkeit aus.
Wo diese Sehnsucht nach Heiligkeit vorhanden ist, ist auch die Wurzel des ewigen Lebens vorhanden; denn wer gut sein will, wird es auch, und Gutsein führt ins Reich Gottes.
Nun habt ihr aufgrund von Einzelheiten, die verschiedene Begebenheiten beleuchten, eine Darstellung der heiligen Menschheit meines Sohnes, von seiner Kindheit bis zu seinem Tod. Wenn Pater M. glaubt, aus allen Texten eine geordnete, lückenlose Gesamtdarstellung herstellen zu können, soll er es, sofern er es für nützlich hält, tun. Wir hätten dies ebenfalls tun können. Aber die Vorsehung fand es besser, so vorzugehen, wie es geschehen ist. Für dich, meine Seele: In jedem Diktat haben wir dir das Medikament für die Wunden, die dir zugefügt werden mußten, gegeben. Wir haben es dir im voraus gegeben, um dich vorzubereiten.
Man meint, daß während eines Hagelunwetters uns nichts schützen könne. Aber es ist nicht so. Unwetter wecken die Menschlichkeit auf, die unter den seelischen Wassern schläft; aber sie bringen auch die Edelsteine der übernatürlichen Lehre an die Oberfläche, die in euer Herz gefallen waren und gerade auf die Stunde des Sturmes warteten, um aufzuwachen und euch zu sagen: „Wir sind auch noch da.
Denkt an uns!“
Außer der Vorsehung, meine teure Seele, (das betrifft die Ordnung der Abfolge der Visionen) ist auch unser Wohlwollen dir gegenüber ein Grund. Wie hättest du, in der gegenwärtigen Niedergeschlagenheit, gewisse Visionen und Diktate sehen und anhören können? Sie hätten dich derart verletzt, daß du kaum mehr fähig gewesen wärest, deine Aufgabe als „Sprachrohr“ zu erfüllen. Wir haben dir diese Mitteilungen als erste gegeben, um dein Herz nicht zu brechen; wir taten es aus Güte. Wir haben zu vermeiden versucht, dir Visionen und Texte zu geben, die sich mit deinem Leiden schlecht vertragen hätten; deine Qualen wären bis zur Unerträglichkeit angewachsen. Wir sind nicht grausam, kleine Maria. Und immer handeln wir so, daß ihr von uns getröstet und nicht entmutigt werdet; daß euer Leiden sich nicht vermehrt. Es genügt, daß ihr uns vertraut. Es genügt, wenn ihr mit Josef sagt: „Wenn mir Jesus bleibt, bleibt mir alles!“ Dann kommen wir mit den himmlischen Gaben, um euren Geist zu trösten. Ich verspreche dir keine menschlichen Gaben und Tröstungen. Ich verspreche dir die gleichen Gaben, die Josef erhalten hat: übernatürlichen Trost. Jedermann soll es wissen.
Die Gaben der Weisen waren, zumal bei der Not, die den armen Flüchtlingen am Hals saß, schnell wie der Blitz verausgabt für die Anschaffung eines Hauses und eines Minimums an Ausstattung, sowie für die lebensnotwendigen Nahrungsmittel; sie waren die einzigen uns zur Verfügung stehenden Mittel, bis wir Arbeit gefunden hatten.
Die Jüdische Gemeinde hat sich gegenseitig stets ausgeholfen.
Doch die Gemeinschaft in Ägypten bestand fast nur aus Flüchtlingen, war also arm wie wir. Ein Teil der Schätze, den wir für unseren erwachsenen Jesus aufbewahren wollten, da er nach den Ausgaben für die Einrichtung in Ägypten übriggeblieben war, reichte knapp, um nach unserer Rückkehr das Haus und die Werkstatt in Nazaret wieder instand zu setzen. Die Zeiten ändern sich, aber die menschliche Habsucht bleibt immer dieselbe und bedient sich der Not des Nächsten, um ihn schamlos auszubeuten.
Nein! Jesus bei uns zu haben, brachte uns keinen materiellen Vorteil.
Viele unter euch nehmen dies an, wenn sie auch nur wenig mit Jesus verbunden sind. Sie vergessen, daß er gesagt hat: „Sucht zuerst das Reich Gottes!“ [Mt 6,25–34]. Alles andere wird euch hinzugegeben.
Gott sorgt für die Nahrung, bei den Tieren und auch bei den Menschen; denn er weiß, daß ihr der Nahrung bedürft, da das Fleisch die Rüstung der Seele ist. Doch bittet zuerst um seine Gnade! Bittet zuerst um den rechten Geist! Das übrige wird euch dazugegeben werden. Josef hatte in seiner Gemeinschaft mit Jesus, menschlich gesprochen, nur Sorgen, Mühe, Verfolgungen und Hunger.
Er hatte nichts anderes. Doch, weil er nur nach Jesus verlangte, verwandelte sich ihm alles in Frieden und übernatürliche Freude.
Ich möchte euch zu dem Punkt bringen, zu dem mein Bräutigam vorgedrungen war, als er sagte: „Auch wenn wir sonst nichts mehr besäßen, würden wir dennoch immer alles besitzen, weil wir Jesus haben.“
Ich weiß: es zerreißt das Herz! Ich weiß: der Geist ist düster. Ich weiß: das Leben vergeht. Aber, Maria (Valtorta), gehörst du nicht Jesus? Willst du ihm gehören?
Wo und wie ist Jesus gestorben? Mein teures Kind, weine, doch bleibe stark! Das Martyrium liegt nicht in der Art des Leidens. Es liegt in der Ausdauer, mit welcher der Märtyrer es erträgt. Das Martyrium kann durch eine Waffe erfolgen, aber auch durch seelische Leiden; wenn es nur im gleichen Sinn ertragen wird. Du erträgst es aus Liebe zu meinem Sohn. Wenn du es für andere Menschen erträgst, ist es immer für Jesus, der euch alle retten will. Daher ist auch das deinige ein echtes Martyrium. Harre aus in ihm! Suche nicht, allein damit fertig zu werden! Die Lage ist zu hart für dich, als daß du die Kraft haben könntest, dich selbst zu leiten und deine Natur zu beherrschen und ihr das Weinen zu verbieten. Es genügt, wenn du dich dem Schmerz ohne Auflehnung überläßt. Es genügt, wenn du Jesus sagst: „Hilf mir!“ Das, was du nicht tun kannst, wird er in dir tun. Bleibe in ihm! Immer in ihm! Versuche nicht, von ihm wegzugehen! Wenn du nicht willst, dann gehst du nicht von ihm, auch wenn der Schmerz so groß ist, daß er dich daran hindert zu sehen, wo du bist; du wirst immer in Jesus sein.
Ich segne dich. Sag mit mir: „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist!“ Dies sei immer dein Ruf, bis du es im Himmel sagst! Die Gnade des Herrn sei immer mit dir!«

 

73. DER ABSCHIED VON DER MUTTER UND DER AUFBRUCH VON NAZARETH

(Während der heiligen Kommunion begonnen)

Ich sehe einen Raum, wohl das Wohnzimmer, in dem die Familie die Mahlzeiten zu sich nimmt und sich in den freien Stunden aufhält. Es handelt sich um einen ziemlich kleinen Raum mit einem einfachen, rechteckigen Tisch und davor eine Art Sitztruhe an der Wand. An den anderen Wänden stehen ein Webstuhl mit einem Hocker, zwei weitere Hocker und ein Regal, auf dem sich einige Öllampen und andere Gegenstände befinden. Eine offene Tür führt in einen Garten. Es muß gegen Abend sein, da nur noch eine Erinnerung an die Sonne auf der Spitze eines Baumes spielt, der gerade seine ersten Blätter grünen läßt.

Am Tisch sitzt Jesus. Er ißt, und Maria bedient ihn. Sie kommt und geht durch eine Tür, die anscheinend zu einem Raum führt, in dem sich der Herd befindet; denn durch die halbgeöffnete Tür dringt ein Feuerschein.

Jesus fordert Maria mehrmals auf, sie möge sich niedersetzen und mit ihm essen. Doch sie weigert sich, schüttelt traurig lächelnd den Kopf und fährt fort, Speisen aufzutragen. Nach dem gekochten Gemüse, das, wie mir scheint, die Suppe ersetzen soll, bringt sie gebratenen Fisch und schließlich einen weichen Käse, wohl frischen Schafkäse. Letzterer hat eine runde Form, wie gewisse Steine, die von den Flüssen mitgeführt und abgeschliffen werden. Auch kleine, dunkle Oliven sind da. Die runden, flachen Brote (von der Größe eines normalen Tellers) stehen bereits auf dem Tisch. Sie sind dunkel, und wie mir scheint, wurde die Kleie nicht entfernt. Vor Jesus stehen ein Krug mit Wasser und ein Becher. Er nimmt die Mahlzeit schweigend ein und betrachtet dabei seine Mutter mit leidvollem, aber liebevollem Blick.

Maria leidet sichtlich. Sie kommt und geht, um sich besser beherrschen zu können. Trotz der ausreichenden Beleuchtung zündet sie eine Lampe an und stellt sie vor Jesus hin. Beim Ausstrecken des Armes streichelt sie flüchtig das Haupt ihres Sohnes. Dann nimmt sie eine Tasche und langt hinein. Diese Tasche scheint mir aus brauner Wolle, handgewoben und deshalb wasserdicht zu sein. Nun geht Maria in das Gärtchen hinaus, durchschreitet es und tritt in eine Art Vorratskammer ein, aus der sie mit einigen schon recht runzligen Äpfeln zurückkehrt. Sicherlich sind sie vom

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Jahr zuvor aufbewahrt worden. Sie legt die Äpfel in den Sack und fügt noch Brot und Käse hinzu, obgleich Jesus ablehnen möchte und sagt, er habe schon genug.

Maria tritt wiederum an den Tisch, an dessen Schmalseite, und sieht Jesus beim Essen zu. Sie betrachtet ihn mit Sorge und Verehrung. Ihr Antlitz ist noch bleicher als gewöhnlich, und der Schmerz läßt sie älter erscheinen, als sie ist. Ihre Augen sind von Schatten gezeichnet, die Zeugen vergossener Tränen sind. Sie scheinen aber auch heller als sonst, als seien sie von den Tränen gewaschen worden. Zwei müde und schmerzende Augen.

Jesus ißt langsam und offensichtlich gegen seinen Willen, nur um die Mutter zufriedenzustellen. Er ist sehr nachdenklich, hebt das Haupt und blickt sie an. Ihre Augen sind voller Tränen. Um ihnen freien Lauf zu lassen, neigt Jesus wiederum sein Haupt und begnügt sich damit, die zarte Hand zu ergreifen, die Maria auf den Rand des Tisches gelegt hat. Er nimmt sie mit der Linken und führt sie zu seiner Wange, wo er sie einen Augenblick läßt, um die Liebkosung dieses armen zitternden Händchens zu spüren; dann küßt er den Handrücken mit großer Liebe und Verehrung.

Ich sehe, daß Maria ihre freie Hand zum Mund führt, als wolle sie einen Seufzer unterdrücken. Schließlich wischt sie mit den Fingern eine große Träne ab, die unter der Wimper hervorgequollen ist und über die Wange rollt. Jesus beginnt wieder zu essen, und Maria eilt rasch in den Garten hinaus, in dem bereits ein Dämmerlicht herrscht, und verschwindet.

Jesus stützt seinen linken Ellbogen auf den Tisch, legt seine Stirn in die Hand und versinkt in seine Gedanken, wobei er aufhört zu essen. Plötzlich lauscht er und erhebt sich.

Nun geht auch er in den Garten hinaus, und nachdem er sich umgesehen hat, wendet er sich nach rechts, zu einem Spalt in der Felsmauer. Durch diesen tritt er in einen Raum ein, den ich als die Zimmermannswerkstatt wiedererkenne. Doch diesmal ist alles aufgeräumt: keine Bretter und Hobelspäne liegen herum und kein Feuer brennt. Ich sehe die Bank und die Werkzeuge; alles ist an seinem Platz.

Maria ist auf die Werkbank gebeugt und weint, wie ein Kind. Ihr Haupt ist auf den linken Arm gestützt, und sie weint lautlos, in großem Schmerz. Jesus tritt leise ein und nähert sich ihr so still, daß Maria seiner erst gewahr wird, als er seine Hand auf ihr geneigtes Haupt legt und «Mama!» zu ihr sagt. In seiner Stimme schwingt ein liebevoller Tadel mit.

Maria erhebt den Kopf und sieht Jesus durch einen Schleier von Tränen an. Dann lehnt sie sich mit gefalteten Händen an seinen rechten Arm. Jesus trocknet mit einem Zipfel seines weiten Ärmels ihre Tränen ab, drückt sie an sein Herz und küßt sie auf die Stirn. Er hat ein hoheitliches Aussehen, erscheint männlicher als gewöhnlich, und Maria sieht wie ein Mädchen aus, mit Ausnahme des vom Schmerz gezeichneten Gesichtes.

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«Komm, Mama», sagt Jesus, umfaßt sie mit dem rechten Arm und kehrt mit ihr in den Garten zurück, wo sie sich auf eine an der Hauswand stehende Bank setzen.

Im Garten ist es still und bereits dunkel. Nur ein schöner Mondschein und das Feuer des Herdes erhellen ihn. Die Nacht ist klar. Jesus spricht zu Maria. Ich kann die ersten geflüsterten Worte nicht verstehen, denen Maria mit Kopfnicken zustimmt.

Dann höre ich: «Laß die Verwandten zu dir kommen, bleib nicht allein! So werde ich beruhigter sein, Mutter, und du weißt, daß ich, um meine Mission erfüllen zu können, keine Sorge um dich haben darf. Meine Liebe wird dir nie fehlen. Ich werde dich oft besuchen und dich auch wissen lassen, wenn ich in Galiläa weile und nicht nach Hause kommen kann. Dann wirst du zu mir kommen, Mutter. Diese Stunde mußte kommen. Hier hat es begonnen, als der Engel dir erschien. Nun ist es soweit, und wir müssen es durchleben, nicht wahr, Mama? Nach der bestandenen Prüfung wird Friede und Freude sein. Doch zuerst müssen wir durch diese Wüste, wie unsere Vorväter, um in das verheißene Land zu gelangen. Gott, der Herr, wird uns helfen, wie er auch ihnen geholfen hat. Er wird uns seine Hilfe zuteil werden lassen, als geistiges Manna, um unsere Seele im Höhepunkt der Prüfung zu stärken. Beten wir zusammen zu unserem Vater.»

Jesus erhebt sich, und Maria mit ihm, und sie blicken zum Himmel auf. Sie gleichen zwei lebendigen Hostien, die im Dunkeln leuchten. Jesus spricht langsam, aber mit klarer Stimme und jedes Wort betonend, das Gebet des Herrn. Bei den Worten «Dein Reich komme!» verweilt er länger und macht eine Pause, bevor er mit dem «Dein Wille geschehe!» fortfährt. Beim Beten hat er die Arme ausgebreitet; nicht gerade wie am Kreuz, sondern wie der Priester, wenn er «Dominus vobiscum» sagt. Maria hat die Hände gefaltet.

Nach dem Gebet kehren sie ins Haus zurück, und Jesus, den ich noch nie Wein trinken sah, geht zum Regal und gießt aus einem Krug Weißwein in einen Becher, den er zum Tisch trägt. Dann nimmt er Maria bei der Hand und bittet sie, neben ihm Platz zu nehmen. Er taucht ein Stückchen Brot in den Wein und fordert die Mutter auf zu essen und zu trinken. Und seine Bitte ist so eindringlich, daß Maria nachgibt. Jesus trinkt den Rest des Weines aus. Dann drückt er die Mutter mit dem linken Arm an die Seite seines Herzens. Jesus und Maria nehmen ihre Mahlzeit nicht liegend ein, sondern sitzen bei Tisch, wie es bei uns Brauch ist. Beide schweigen jetzt und warten. Maria streichelt Jesu rechte Hand und seine Knie. Jesus fährt ihr mit der linken Hand liebkosend über den Arm und den Kopf.

Dann erhebt er sich und mit ihm Maria, und sie umarmen und küssen sich mehrmals liebevoll. Es sieht so aus, als wollten sie sich trennen; aber die Mutter drückt ihr Kind immer wieder an sich. Sie ist die Muttergottes...

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doch letztlich auch eine Mutter, die sich von ihrem Sohn losreißen muß und weiß, wohin diese Trennung führt. Sagt bitte ja nie mehr, Maria habe nicht gelitten! Früher war auch ich mir nicht ganz sicher; nun aber habe ich keine Zweifel mehr.

Jesus nimmt jetzt seinen dunkelblauen Mantel, wirft ihn sich über die Schultern und bedeckt sich damit den Kopf wie mit einer Kapuze. Dann hängt er die Hirtentasche um, so daß sie ihm beim Gehen nicht hinderlich ist. Maria hilft ihm, glättet ihm ohne Unterlaß das Kleid, den Mantel und die Kapuze und streichelt ihn immer wieder.

Jesus geht zur Tür, nachdem er über den Raum das Zeichen des Segens gemacht hat. Maria folgt ihm, und unter der offenen Tür küssen sie sich noch einmal.

Die Straße liegt still und einsam im weißen Mondschein. Jesus macht sich auf den Weg. Er wendet sich noch zweimal um, um die Mutter anzuschauen, die sich an den Türpfosten gestützt hat. Ihr Gesicht ist bleicher als der Mondschein und glänzt von lautlos geweinten Tränen. Jesus entfernt sich immer mehr auf dem weißen Gäßlein. Maria läßt ihren Tränen freien Lauf. Jesus verschwindet an einer Straßenbiegung.

Der Weg der Verkündigung der Frohen Botschaft hat begonnen – sein Ende wird Golgatha sein. Maria schließt weinend die Tür. Auch für sie beginnt nun der Weg, der sie nach Golgatha führen wird. Und ebenso für uns...

74. «SIE WEINTE, WEIL SIE DIE MITERLÖSERIN WAR»

Jesus spricht:

«Dieses ist der vierte Schmerz Marias, der Mutter Gottes.

Der erste war die Darstellung im Tempel; der zweite die Flucht nach Ägypten; der dritte der Tod Josephs; der vierte meine Trennung von ihr.

Da mir der Wunsch des Paters bekannt ist, sagte ich dir gestern abend, ich wolle mich beeilen, "unsere" Schmerzen zu beschreiben, damit man sie verkünde. Doch waren, wie du siehst, jene meiner Mutter schon beschrieben. Ich hatte vor der Darstellung die Flucht erklärt, da dies an jenem Tag besser angebracht war. Du wirst dies verstehen und dem Pater mündlich erklären.

Ich möchte deine Betrachtungen und meine darauf folgenden Erklärungen mit echten Diktaten abwechseln lassen, um dich und deinen Geist zu erheben, um dir die Glückseligkeit des Schauens zu geben, und auch, weil dadurch der stilistische Unterschied zwischen deiner Beschreibung und meiner Darstellung offenbar wird. Überdies ist es mein Wunsch, denen, die an mich glauben, ein wahres Bild meines irdischen Daseins zu geben. In vielen Büchern spricht man von mir; da aber jeder Verfasser das Seine dazutut, willkürlich Änderungen vornimmt und Neues hinzudichtet, enthalten diese Texte viel Unwirklichkeit.

Meine Person wird durch diese deine Aufzeichnungen nicht beeinträchtigt werden. Vielmehr werde ich größer daraus hervorgehen in meiner Demut, die zum Brot für euch wird,

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damit auch ihr demütig und mir ähnlich werdet, der ich Mensch war wie ihr und in meiner menschlichen Gestalt die Vollkommenheit eines Gottes trug. Ich muß euer Vorbild sein, und Vorbilder müssen immer vollkommen sein.

Bei den Betrachtungen werde ich nicht eine chronologische Ordnung einhalten, die mit der der Evangelien übereinstimmt. Ich werde die Themen nehmen, die ich jeweils an dem betreffenden Tag für nützlich erachte – sei es für dich oder für andere – und damit eine meiner Regeln der gütigen Unterweisung einhalten.

Die Belehrung aus der Betrachtung über die Loslösung von der Mutter gilt besonders den Eltern und den Kindern, die von Gott zum gegenseitigen Verzicht berufen sind, um einer höheren Liebe willen. An zweiter Stelle gilt sie all denen, die sich mit einem schmerzlichen Verzicht abfinden müssen.

Wieviel solcher begegnet ihr in eurem Leben! Es sind die Dornen auf dieser Erde, die das Herz durchbohren – ich weiß es. Doch die, die sie mit Ergebung annehmen – merkt auf, ich sage nicht: "die sie wünschen und mit Freuden annehmen", das wäre schon Vollkommenheit; ich sage: "mit Ergebung" – für die verwandeln sie sich in ewige Rosen. Doch nur wenige nehmen sie ergeben an. Wie widerspenstige Esel wehrt ihr euch gegen den Willen des Vaters, wenn ihr ihn nicht gar mit geistigen Stößen und Verletzungen, d.h., mit Auflehnung und Lästerung, den guten Gott zu treffen sucht.

Sagt nicht: "Ich hatte nichts als dieses Gut, und Gott hat es mir genommen. Ich hatte nur diese Liebe, und Gott hat sie mir entrissen." Auch Maria, die zarte Frau, die vollkommen in der Liebe war, weil in der "Gnadenvollen" auch die Formen des Affekts und des Gefühls vollkommen waren, auch sie hatte nur ein Gut und eine Liebe auf Erden: ihren Sohn. Es war ihr nichts anderes geblieben als er. Ihre Eltern waren schon lange tot, Joseph seit einigen Jahren. Nur ich war da, sie zu lieben und ihr das Gefühl zu geben, daß sie nicht allein sei. Die Verwandten, die meinen göttlichen Ursprung nicht kannten, hatten meinetwegen meiner Mutter gegenüber eine ablehnende Haltung, da sie meinten, sie werde mit dem Sohn nicht fertig. Sie verhielten sich wie zu einer Mutter, deren Sohn aus der Reihe gerät und eine geplante passende Heirat ablehnt, die der Familie zur Ehre und auch zur Hilfe gereichen könnte.

Die Verwandten, als Stimme der allgemeinen Meinung – ihr nennt es gesunden Menschenverstand, doch das ist nur menschliche Denkweise, d.h., Egoismus – wollten ihre Methoden auf mein Leben anwenden. Im Hintergrund stand immer die Furcht, eines Tages meinetwegen Unannehmlichkeiten zu haben, da ich bereits begonnen hatte, meine für sie zu idealistischen Ideen zu vertreten, die die Synagoge hätten beleidigen können. Die Geschichte der Hebräer ist ja voll von Berichten über das Los der Propheten. Die Aufgabe des Propheten war nie eine leichte, führte oft zum Tod desselben und brachte auch über die Verwandtschaft Leid. Im

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Hintergrund war ferner der Gedanke an die Verpflichtung, eines Tages für meine Mutter sorgen zu müssen.

Daß meine Mutter nichts unternahm, mich in meinem Tun zu hindern, und daß sie ununterbrochen ihren Sohn anzubeten schien, mißfiel ihnen sehr.

Dieser Verdruß wäre in den drei Jahren meines öffentlichen Lebens noch angewachsen und wäre im Ausbruch offenen Tadels geendet, wenn sie mich inmitten des Volkes aufsuchten und sich meiner schämten, der ich ihrer Meinung nach die Manie hatte, die Mächtigen herauszufordern.

Ein harter Vorwurf für mich und für sie, die arme Mutter!

Auch Maria kannte den Unmut der Verwandten – denn nicht alle waren wie Jakob, Judas und Simon oder deren Mutter, die Maria Kleophä – und sie sah auch den zukünftigen Verdruß voraus. Maria wußte, welches ihr Los während der drei Jahre sein werde und sie wußte um das Ende, das mich und sie erwartete. Doch sie wehrte sich nicht dagegen, wie ihr es tut. Sie weinte nur. Und wer hätte nicht weinen sollen bei der Trennung von einem Sohn, der sie so liebte, wie ich sie liebte; bei der Vorstellung der langen Tage, da ich fern sein mußte, sie jedoch im einsamen Haus die Zukunft des Sohnes voraussah, der dazu bestimmt war, die Bosheit der Schuldigen anzuprangern. Das Bewußtsein ihrer Schuld führte bei ihnen zu einem Verlangen nach Rache, das bis zum Wunsch ging, den Unschuldigen zu töten.

Sie weinte, weil sie die Miterlöserin und die Mutter des in Gott wiedergeborenen Menschengeschlechtes war; und sie mußte weinen für alle Mütter, die nicht imstande sind, aus ihrem Mutterschmerz eine Krone ewiger Herrlichkeit zu machen.

Wie viele Mütter gibt es auf der Welt, denen der Tod ein Kind aus den Armen reißt! Wie viele Mütter opfern ihr Kind einem übernatürlichen Ruf! Maria weinte für alle ihre Töchter als Mutter der Christen, für alle ihre Schwestern in ihrem Schmerz als beraubte Mutter. Ebenso hat sie für alle von einer Frau geborenen Kinder geweint, die dazu berufen sind, Apostel oder Märtyrer aus Liebe und Treue zu Gott oder Opfer menschlicher Roheit zu werden.

Mein Blut und die Tränen meiner Mutter sind das Labsal, das diese Berufenen in ihrem heroischen Schicksal stärkt und in ihnen die kleinste Unvollkommenheit wie auch die durch menschliche Schwäche begangenen Sünden auslöscht. Es schenkt ihnen während dem Martyrium den Frieden Gottes, und wenn sie es von Gott erbeten haben, die Freude des Himmels.

Für die Missionare ist es die wärmende Flamme in den Gebieten des ewigen Eises und der Tau dort, wo immerwährend die Sonne brennt. Die Tränen Marias entspringen aus ihrer Liebe und quellen aus einem lilienreinen Herzen. Sie haben also das Feuer einer mit der jungfräulichen Hingabe vermählten Liebe und die aus der jungfräulichen Reinheit stammende

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duftende Frische, gleich dem Wasser, weiches sich in einer taufrischen Nacht in einem Lilienkelch ansammelt.

Diese Erquickung finden die Gottgeweihten in der Wüste eines recht verstandenen klösterlichen Lebens; einer Wüste, in der nur die Vereinigung mit Gott gedeiht und jede andere Zuneigung sich in übernatürliche Nächstenliebe verwandelt: zu den Eltern, den Freunden, den Vorgesetzten und Untergebenen.

Auch die Gottgeweihten, die in der Welt leben, erfahren diese Erquickung – in einer Welt, die sie nicht verstehen und daher auch nicht lieben kann und die somit einer Wüste gleicht, in welcher diese Seelen isoliert leben, da sie unverstanden sind und verspottet werden wegen ihrer Liebe zu mir.

Diese Erquickung finden auch meine teuren "Sühneseelen" ' deren erste Maria aus Liebe zu Jesus gewesen ist. Allen, die ihr nachfolgen, schenkt sie als Mutter und als Arzt ihre Tränen, die Kraft spenden und zu den größten Opfern anspornen. Heilige Tränen meiner Mutter!

Maria betet. Sie weigert sich nicht zu beten, weil Gott ihr ein Leid auferlegt hat. Vergeßt dies nicht! Sie betet mit Jesus. Sie betet zum Vater, zu unserem und eurem!

Das erste "Vaterunser" wurde im Garten von Nazareth gebetet, um Maria in ihrem Schmerz zu trösten; um dem Ewigen unseren Willen aufzuopfern im Augenblick, in dem dieser Wille einer immer größeren Selbstverleugnung entgegenging, die für mich im Verzicht auf das Leben und für Maria im Sterben ihres Sohnes ihren Höhepunkt erreichte.

Obwohl wir nichts hatten, was der Verzeihung des Vaters bedurft hätte – wir, die Makellosen – haben wir dennoch für jeden unserer Seufzer die Verzeihung des Vaters erbeten, um unserer Mission würdig entgegengehen zu können. Dies soll euch zeigen, daß unsere Sendung um so segensreicher und fruchtbringender ist, je mehr wir in der Gnade Gottes leben und euch die Ehrfurcht vor Gott und die Demut lehren. Vor Gott dem Vater haben wir uns trotz unserer Vollkommenheit als ein Nichts erachtet und um Verzeihung gebeten, wie auch um das "tägliche Brot" '

Was war unser Brot? Oh! Nicht jenes, das die reinen Hände Marias geknetet und gebacken haben und wofür ich so oft die Späne und das Holz bereitet habe. Auch dies ist notwendig, solange man auf Erden lebt. Doch unser tägliches Brot war Tag für Tag unser Anteil an der auferlegten Sendung. Wir baten darum, daß Gott ihn uns Tag für Tag geben möge; denn den Willen Gottes zu erfüllen ist die Freude unseres Tages, nicht wahr, kleiner Johannes? (Dieser Kosename, mit dem Maria Valtorta gemeint ist, kehrt öfters in ihren Schriften wieder.) Sagst nicht auch du, daß dir ein Tag leer vorkommt, wenn die Güte Gottes dich einen Tag lang ohne deine Mission des Leidens läßt?

Maria betet zusammen mit Jesus. Jesus ist es, der euch rechtfertigt,

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meine Kinder. Ich bin es, der eure Gebete beim Vater annehmbar und wirksam werden läßt. Ich habe gesagt: "Alles, worum ihr meinen Vater in meinem Namen bittet, wird euch gegeben werden" (Joh 16,23), und die Kirche verleiht ihren Gebeten Kraft, mit den Worten: "durch Jesus Christus unseren Herrn."

Wenn ihr betet, vereinigt euch immer, immer, immer mit mir! Ich werde mit erhobener Stimme für euch beten und eure menschliche Stimme mit meiner gottmenschlichen überdecken. Ich werde auf meinen durchbohrten Händen eure Gebete zu Gott emporheben. So werden sie zu einer unendlich wertvollen Hostie. Meine Stimme wird mit eurer Stimme vereint gleich einem kindlichen Kuß zum Vater emporsteigen, und der Purpur meiner Wunden wird eure Gebete kostbar machen. Bleibt in mir, wenn ihr wollt, daß der Vater in euch, mit euch und für euch sei...

Du hast deinen Bericht mit den Worten beendet: "und für uns" und wolltest damit sagen: "für uns, die wir so undankbar sind den beiden gegenüber, die unseretwegen den Kalvarienberg hinaufgestiegen sind." Du hast gut daran getan, diese Worte zu setzen. Tue es jedesmal, wenn ich dir eines unserer Leiden zu schauen gebe. Sie sollen wie eine Glocke sein, die zur Betrachtung und zur Reue aufruft.

Genug für jetzt. Ruhe dich aus! Der Friede sei mit dir!»

75. DIE TAUFE JESU AM JORDAN

Jesus sagt zu mir:

«Was du am 30. Januar geschrieben hast, könnte für die Mißtrauischen ein Anlaß sein, ihre "Wenn und Aber" vorzubringen. Daher antworte ich für dich. Du hast geschrieben: "Wenn ich so schaue, dann zerstreuen sich sozusagen meine körperlichen Kräfte und besonders meine Herztätigkeit." Da gibt es sicher die "Gelehrten des Unmöglichen", die nun sagen werden: "Hier ist der Beweis dafür, daß die Vorgänge auf natürliche Weise zu erklären sind, da das Übernatürliche immer Kraft verleiht und nie schwächt." Sie sollen mir nun erklären, warum die großen Mystiker nach Beendigung der Ekstase – während der die menschlichen Grenzen überschritten sind und folglich der Schmerz beseitigt ist, und trotz innerer Verwundungen sie eine Glückseligkeit empfinden – in einem Zustand bleiben, der sie zeigt, als hätte die Seele den Körper verlassen. Sie sollen mir auch erklären, warum diese Ekstatiker nach wenigen Stunden des schrecklichsten Todeskampfes, der nur eine Wiederholung meines Todeskampfes ist, wie dies bei meiner Dienerin Therese (Therese Neumann – damals noch lebend) der Fall ist und bei meiner heiligen Gemma (Gemma Galgani) zutraf, sowie bei vielen anderen Seelen, die durch meine Liebe und ihre Liebe würdig wurden, meine Passion zu erleben, ihre Kraft und ein körperliches Gleichgewicht zurückbekommen oder – bekamen, so wie es die gesündesten Menschen nicht haben.

Ich bin der Herr über Leben und Tod, über Gesundheit und Krankheit. Ich bediene mich meiner Diener auf meine Art: so wie ich einen weichen Faden in meiner Hand zum Zeitvertreib benützen würde. Das Wunder in dir, eines der Wunder, besteht darin, daß du in deinem körperlichen Zustand, der in wunderbarer Weise andauert, zu jener Glückseligkeit gelangen

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kannst, ohne dabei sterben zu müssen, und dies, während du in einem Zustand darniederliegst, der bei anderen auch die einfachsten Gedanken unmöglich machen würde. Das Wunder liegt in der Belebung, die in solchen Stunden in dich strömt so wie sie in dich geströmt ist in den Stunden, da du meine Diktate oder die anderer Geister, die dir eine himmlische Botschaft übermitteln, niedergeschrieben hast. Das Wunder besteht in der schlagartigen Rückkehr der Kräfte, nachdem die Freude in dir auch die zum Schreiben notwendige Kraft verbraucht hat. Doch diese Vitalität bekommst du von mir. Sie ist wie Blut, das von mir in deine erschöpften Adern einfließt, und wie eine Flut, die über die Ufer dringt und alles tränkt, solange die Strömung anhält. Dann trocknet alles wieder bis zur nächsten Flut. Es ist wie bei einer Operation, bei der dir mein Blut entzogen wird, um dir dann bei der nächsten Transfusion wieder zugeführt zu werden.

Du bist aus dir selbst nichts. Du bist ein sterbendes Wesen, das nur lebt, weil ich es für meine Zwecke so will; du bist ein armes Geschöpf, das nur allein durch seine Liebe einen Wert hat. Andere Verdienste hast du nicht. Liebe und Verlangen, daß durch dich andere Menschen zur Gottesliebe gelangen, was wiederum Liebe ist. Dies rechtfertigt dein Sein und meine Güte, dich am Leben zu erhalten, während du, menschlich gesehen, schon längst tot sein müßtest. Dein Gefühl, wieder ein "Lumpen" zu sein, wie du es nennst, wenn ich aufgehört habe, dich in die Gefilde der Beschauung mitzunehmen oder mit dir zu sprechen, ist der Beweis, den ich dir und anderen erbringe, daß alles einzig durch meinen Willen geschieht. Und wenn jemand menschlicherweise denkt, daß du durch diesen meinen Willen und meine Liebe geheilt werden könntest und daß dies der beste Beweis meiner Liebe und Macht wäre, so antworte ich ihm, daß ich das Leben meiner Diener stets erhalten habe, solange ihre Mission gemäß meinem Entscheid fortdauern sollte. Doch nie habe ich ihnen ein nach Menschlichen Begriffen glückliches Leben gewährt; denn die von mir gestellten Aufgaben werden im Schmerz und durch den Schmerz erfüllt. Andererseits haben meine Diener gleich mir nur den einen Wunsch: zu leiden, um zu erlösen... Sage also nicht: "Verlust an Kraft" – sage: "nachdem die Güte Jesu nach seinem Plan und mir zur Freude in mir den Zustand der Gebrechlichkeit ausgelöscht hat, werde ich wieder das, was seine Liebe mir zu sein gewährt hat: eine Gekreuzigte seiner Liebe und für seine Liebe."

Nun fahre fort, in Gehorsam und in Liebe!»

Am gleichen Tag, abends:

Ich sehe eine menschenleere, unbebaute und unbepflanzte Landschaft. Keine Äcker, nur vereinzelt da und dort eine Gruppe von zusammengedrängten Pflanzen – wie eine Familie, dort, wo der Boden und sein Grund weniger ausgedörrt sind. Nehmen Sie an (für den ganzen Band gilt die Bemerkung, daß die Schreiberin sich oft an ihren geistlichen Vater wendet), daß dieses öde und brache Land sich zu meiner Rechten befindet, da ich dem Norden den Rücken zukehre, und daß sich das Gebiet, von mir aus gesehen, nach Süden ausdehnt.

Auf der linken Seite hingegen sehe ich einen Fluß mit niedrigen Ufern, der von Norden kommend langsam nach Süden fließt. Die langsame Bewegung des Wassers läßt mich darauf schließen, daß das Flußbett kein starkes Gefälle hat und daß der Fluß, der durch eine so flache Ebene dahingleitet, sich dank dem Druck seines eigenen Wassers fortbewegt. Die Fortbewegung ist gerade genügend, daß das Wasser nicht als Sumpf stagniert. Das Wasser ist nicht sehr tief, so daß man auf den Grund sehen kann. Ich nehme an, daß es ungefähr einen Meter tief ist, höchstens anderthalb.

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Das Flußbett hat die Breite des Arno bei San Miniato-Empoli, etwa zwanzig Meter. Aber ich kann nicht gut schätzen. Das Wasser hat eine blaugrüne Farbe, und das feuchte Ufer ist wie ein grünes Band, das die von der steinigen und sandigen Wüste ermüdeten Augen erfrischt. Die innere Stimme, die, wie ich zu erklären versucht habe, mir anzeigt, was ich zu beachten habe, meldet mir, daß ich das Jordantal sehe. Ich nenne es Tal, weil man so sagt, wenn man von einem Flußlauf spricht. Doch hier ist die Bezeichnung nicht angebracht; denn ein Tal setzt Berge voraus, hier aber sind solche nirgends zu sehen.

Ich befinde mich also am Jordan, und die verlassene Gegend auf meiner rechten Seite ist die Wüste Juda.

Ob man von Wüste sprechen kann, um damit einen Ort zu bezeichnen, an dem es keine Häuser und keine arbeitenden Menschen gibt? Nach unseren Begriffen sicher nicht. Hier sind keine vom Wind gewellten Sandflächen; nur nackte Erde, mit Steinen und Geröll übersät, wie bei einem Überschwemmungsgebiet nach überstandenem Hochwasser.

In der Ferne liegen Hügel. Hier am Jordan herrscht ein tiefer Friede, ein gewisses Etwas, das über alles Gewöhnliche hinausgeht, wie man es auch am Trasimenischen See erleben kann. Es ist eine Gegend, die an Engelsflug und himmlische Stimmen erinnert. Ich kann nicht ausdrücken, was ich empfinde. Doch ich fühle mich an einem Ort, der zur Seele spricht.

Während ich dies beobachte, bemerke ich, daß die Szene sich bevölkert. Längs des rechten Ufers des Jordan (von mir aus gesehen) haben sich viele Männer in verschiedenartiger Kleidung eingefunden. Die einen machen einen volkstümlichen Eindruck, andere scheinen reich zu sein; es fehlen auch nicht etliche Pharisäer, die an ihren mit Fransen besetzten Gewändern zu erkennen sind. In ihrer Mitte, auf einem Felsblock stehend, befindet sich ein Mann, den ich, obwohl ich ihn zum ersten Mal sehe, als den Täufer erkenne. Er spricht zum Volk, und ich kann euch versichern, es ist keine sanfte Predigt. Jesus nannte Jakob und Johannes "Donnersöhne". Wie soll ich nun diesen gewaltigen Redner nennen? Johannes der Täufer verdient die Namen: Blitz, Lawine, Erdbeben... so eindrucksvoll und machtvoll ist seine Sprache und sein Gebaren. Er verkündet den Messias und fordert auf, die Herzen für seine Ankunft vorzubereiten, alles Hinderliche aus dem Weg zu räumen und die Gedanken geradeaus zu richten. Es ist eine harte und rauhe Rede. Der Vorläufer hat nicht die leichte Hand Jesu für die Wunden der Herzen. Jesus ist wie ein Arzt – auch Johannes, doch einer, der entblößt, wühlt und erbarmungslos schneidet. Während ich zuhöre – ich wiederhole die Worte nicht, denn es sind dieselben, die uns von den Evangelisten überliefert worden sind – sehe ich auf einem Sträßlein, das dem bewachsenen und schattigen Verlauf des Jordan folgt, meinen Jesus. Dieser rauhe Weg, mehr ein Pfad, scheint von den Karawanen und ihren Begleitern seit Jahren und Jahrhunderten ausgetreten

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worden zu sein. Er führt zu einer Stelle, an der der Fluß wegen des erhöhten Grundes leichter zu durchwaten ist. Der Pfad führt auf der anderen Seite des Flusses weiter und verliert sich dann im Grün des Ufers.

Jesus ist allein. Er geht langsam auf Johannes zu, der ihn nicht kommen sieht, da er ihm den Rücken zuwendet. Jesus nähert sich unauffällig, als sei auch er einer der vielen, die Johannes aufsuchen, um sich taufen zu lassen, um sich vorzubereiten und gereinigt zu sein bei der Ankunft des Messias. Nichts unterscheidet ihn von den anderen; er ist dem Gewand nach ein Landmann, dem schönen Aussehen und der Haltung nach ein Herr; doch keinerlei göttliches Merkmal hebt ihn von der Menge ab.

Es scheint, als ob Johannes eine besondere geistige Ausstrahlung empfinde. Er wendet sich um und errät sofort die Quelle dieser Ausstrahlung. Mit Ungestüm verläßt er den Felsblock, der ihm als Kanzel gedient hat, und geht eilig auf Jesus zu, der sich einige Meter von der Menge entfernt an einen Baumstamm gelehnt hat.

Jesus und Johannes schauen sich einen Augenblick fest in die Augen. Jesus mit dem sanften Blick seiner blauen Augen; Johannes mit seinen ernsten, schwarzen, blitzenden Augen. Die beiden, wie sie so nebeneinander stehen, bilden einen krassen Gegensatz. Hochgewachsen sind sie beide, dies ist die einzige Ähnlichkeit; doch in allem übrigen sind sie grundverschieden.

Jesus hat ordentliche, lange, blonde Haare, eine elfenbeinfarbene Gesichtshaut, blaue Augen und trägt ein einfaches, doch vornehm wirkendes Gewand.

Johannes ist verwildert. Die schwarzen, glatten Haare von ungleichmäßiger Länge hängen ihm auf die Schultern herab, während der schwarze Bart, der das ganze Gesicht umrandet, nicht verhindern kann, daß man die vom Fasten eingefallenen Wangen bemerkt. Die Augen sind schwarz und fieberglänzend. Die Haut ist von der Sonne und vom Wetter gebräunt und dicht behaart; er ist halbnackt und trägt ein Kamelfell, das in der Taille mit einem Lederriemen gegürtet ist und auf den Seiten Schlitze hat, durch die man die mageren Beine sehen kann. So sieht es aus, als ob ein Wilder neben einem Engel stehe.

Johannes heftet seinen durchdringenden Blick auf Jesus und ruft dann aus: «Seht, das Lamm Gottes! Wie geschieht mir, daß mein Herr zu mir kommt?»

Jesus antwortet ruhig: «Um den Ritus der Buße zu vollziehen.»

«Nie, Herr. Ich muß zu Dir gehen, um geheiligt zu werden; und nun kommst Du zu mir?»

Jesus legt Johannes, der gebeugt vor ihm steht, die Hand aufs Haupt und antwortet: «Laß es nach meinem Willen geschehen, damit alle Gerechtigkeit erfüllt und deine Handlung zum Anfang eines höheren

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Geheimnisses werde; damit den Menschen verkündet werde, daß sich das Sühneopfer auf dieser Welt befindet!»

Johannes betrachtet Jesus, und eine Träne läßt seinen Blick sanfter erscheinen; dann geht er voraus ans Ufer, wo Jesus den Mantel und die Tunika ablegt. Mit einer Art Beinkleider steigt er ins Wasser, wo Johannes schon auf ihn wartet. Er tauft ihn nun, und gießt ihm Wasser des Flusses über das Haupt mit einem Gefäß, das er am Gürtel hängen hatte und das, wie mir scheint, eine Muschel oder eine halbe, ausgehöhlte und getrocknete Kürbisschale ist.

Jesus ist wahrlich das Lamm. Das Lamm in der Reinheit des Fleisches, in der Bescheidenheit des Ausdrucks und in der Sanftmut des Blickes. Nachdem Johannes Jesus das Wasser über das Haupt gegossen hat, steigt Jesus aus dem Fluß und legt seine Kleider wieder an. Dann sammelt er sich zum Gebet. Währenddessen hat Johannes den Leuten versichert und bezeugt, daß er IHN erkannt habe an einem Zeichen, das ihm der Geist Gottes als unfehlbares Erkennungsmerkmal des Erlösers geoffenbart habe (die göttliche Taube und die göttliche Stimme).

Ich aber bin in den Anblick des betenden Jesus versunken, und in mir bleibt nichts als diese lichtvolle Gestalt vor dem grünen Hintergrund.

76. «JOHANNES BENÖTIGTE KEIN BESONDERES ZEICHEN»

Jesus sagt:

«Johannes hatte es nicht nötig, mich an einem besonderen Zeichen zu erkennen. Sein schon im Mutterleib vorgeheiligter Geist besaß die übernatürliche Einsicht, die alle Menschen besitzen könnten, wenn Adam nicht gesündigt hätte.

Wenn der Mensch im Zustand der Gnade, in der Unschuld und in Treue seinem Schöpfer gegenüber geblieben wäre, dann hätte er Gott durch die äußeren Erscheinungsformen hindurch erkannt. In der Genesis wird gesagt, daß Gott, der Herr, in vertrauter Weise mit dem unschuldigen Menschen sprach, und daß der Mensch keine Furcht vor seiner Stimme hatte und sie mit keiner anderen verwechselte. Die Bestimmung des Menschen war: Gott zu sehen und zu verstehen wie ein Kind seinen Vater sehen und verstehen kann. Nach dem Sündenfall hat der Mensch es nicht mehr gewagt, Gott anzuschauen. Er war nicht mehr fähig, ihn zu sehen und zu verstehen. Und er vermag es immer weniger!

Doch Johannes, mein Vetter, wurde von der Schuld gereinigt, als die Gnadenvolle sich liebevoll über die ehemals unfruchtbare und dann schwangere Elisabeth beugte und sie umarmte. Das Kind in ihrem Leib hüpfte auf vor Freude, als es die Schuld von seiner Seele fallen fühlte, wie

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ein Schorf, der sich von einer heilenden Wunde löst. Der Heilige Geist, durch den Maria die Mutter des Erlösers wurde, hat sein Erlösungswerk durch Maria, die lebende Monstranz des menschgewordenen Heiles, an diesem noch ungeborenen Kind begonnen, das dazu bestimmt war, mit mir verbunden zu sein, und dies nicht so sehr durch das Blut, als durch die Sendung, die aus uns gleichsam Lippen und Wort machte.

Johannes die Lippen – ich das Wort.

Johannes war der Vorläufer im Evangelium und im Los des Martyriums. Ich verlieh meine göttliche Vollkommenheit dem von Johannes eingeleiteten Evangelium und seinem Martyrium, das der Verteidigung des Gesetzes Gottes diente.

Johannes benötigte kein besonderes Erkennungszeichen. Doch für die Ungläubigkeit der anderen war ein Zeichen notwendig. Worauf hätte Johannes seine Behauptung stützen sollen? Ein unleugbarer Beweis für die geistig blinden Augen und schwerhörigen Ohren der Zweifler war notwendig.

Ich bedurfte auch keiner Taufe. Doch die Weisheit Gottes hatte diesen Augenblick und diese Art der Einführung für gut befunden. Sie rief Johannes aus seiner Höhle und mich aus dem Haus von Nazareth, da wir uns in dieser Stunde begegnen sollten. Gott öffnete den Himmel, um als göttliche Taube über den herabzusteigen, der die Menschen mit dieser Taube (dem Heiligen Geist) taufen sollte und den er gleichzeitig mit den Worten ankündigte: "Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe." Diese Verkündigung war mächtiger als die des Engels bei meiner Empfängnis. Und alles geschah nur, damit die Menschen keine Entschuldigungen oder Zweifel hätten, mir nachzufolgen oder nicht.

Offenbarungen Jesu Christi hat es viele gegeben. Die erste gleich nach meiner Geburt, nämlich die der Weisen aus dem Morgenland; die zweite im Tempel; die dritte an den Ufern des Jordan. Dann kamen noch viele andere, die ich dir zu erkennen geben werde; denn meine Wunder, die bis zur Auferstehung und Himmelfahrt reichen, sind Äußerungen meiner göttlichen Natur.

Meine Heimat erhielt in reichlichem Maß meine Offenbarungen. Wie Samen, der in die vier Himmelsrichtungen gestreut wird, erreichten sie alle Schichten und Lebensbereiche: die Hirten, die Mächtigen, die Gelehrten, die Ungläubigen, die Sünder, die Priester, die Herrscher, die Kinder, die Soldaten, die Juden und die Heiden.

Auch heute wiederholen sie sich. Doch wie einst wollen die Menschen nichts davon wissen. Sie wollen die heutigen Wunder nicht anerkennen und vergessen gerne die früheren. Ich werde jedoch nicht müde, mich zu offenbaren, um die Menschen zu retten und sie zum Glauben an mich hinzuführen.

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Weißt du Maria, was du tust, was vielmehr ich tue, indem ich dir das Evangelium erkläre? Es handelt sich um einen verstärkten Versuch, die Menschen mir näherzubringen. Du hast dies mit glühenden Gebeten zu erreichen gewünscht. Ich beschränke mich nicht mehr auf Worte; denn sie ermüden die Menschen und bewirken, daß sie sich abwenden. Das ist eine Sünde, doch so verhält es sich. Ich bediene mich nun der Vision und der Erklärung des Evangeliums, um es deutlicher und anziehender zu machen.

Dir schenke ich die Freude des Schauens. Allen gebe ich die Möglichkeit des Verlangens, mich zu erkennen. Wenn dies noch nicht genug ist und die Menschen wie grausame Kinder das Geschenk zerstören, ohne dessen Wert zu erkennen, so bleibt dir doch meine Gabe, denen aber mein Mißfallen. Ich kann dann noch einmal den alten Vorwurf erheben: "Wir musizierten, ihr wolltet nicht tanzen; wir stimmten Klagelieder an, und ihr habt nicht geweint." (Luk 7,32).

Doch das ist nun so. Lassen wir jene, die sich nicht bekehren, auf ihren Häuptern glühende Kohlen ansammeln und wenden wir uns den Schafen zu, die ihren Hirten erkennen! Ich bin der Hirt und du bist der Stab, der sie zu mir leitet.»

77. JESUS WIRD IN DER WÜSTE VOM TEUFEL VERSUCHT

Ich sehe die steinige Öde zu meiner Linken, die ich schon bei der Taufe Jesu am Jordan gesehen habe. Doch muß ich sehr weit in die Wüste vorgedrungen sein; denn ich kann den schönen, blauen, langsam fließenden Fluß nicht mehr sehen; ebensowenig das grüne Band an seinen Ufern, das von ihm das lebensnotwendige Wasser erhält. Hier ist nur Öde, Gestein und trockene Erde, die zu einem gelben Sand zerfallen ist, den der Wind immer wieder mit seinem heißen Atem in die Höhe weht. Dieser Staub dringt in die Nasenhöhlen und in die Augen. Ab und zu sieht man einen kleinen stachligen Strauch und man muß sich wundern, wie er in dieser Öde leben kann. Er sieht aus wie ein Büschel übrig gebliebener Haare auf einem Kahlkopf. Oben ein erbarmungslos blauer Himmel, darunter der ausgetrocknete Boden. Rundum nichts als Steine und Stille. Dies ist der Anblick der Natur, der sich mir bietet.

In einer Felsenhöhle, die die Form einer Muschel hat, sehe ich Jesus. Er schützt sich gegen die sengenden Strahlen der Sonne. Mein inneres Gefühl sagt mir, daß der Stein, auf dem er sitzt, ihm auch als Knieschemel und als Kopfpolster dient, wenn er sich in der kühlen Nacht beim Schein der Sterne in seinen Mantel hüllt und etwas ruht.

Tatsächlich sehe ich in seiner Nähe die Hirtentasche, das einzige Hab und Gut, das er von zu Hause mitgenommen hat. Nun ist die Tasche ganz flach, und ich schließe daraus, daß der karge, von Maria so liebevoll eingepackte Vorrat schon aufgebraucht ist.

Jesus ist sehr mager und bleich. Er sitzt vornübergebeugt, seine Hände gefaltet, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Er ist in Betrachtung versunken. Von Zeit zu Zeit erhebt er den Blick, läßt ihn umherschweifen und

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schaut zur Sonne, die jetzt fast senkrecht über ihm am blauen Himmel steht. Manchmal, besonders nachdem er seinen Blick umherschweifen lassen oder ihn zur Sonne erhoben hat, schließt er die Augen und lehnt sich wie vom Schwindel erfaßt an den schützenden Stein.

Nun sehe ich den widerlichen Gauner Satan auftauchen. Er sieht ganz anders aus, als er von den Menschen dargestellt wird: mit Hörnern, Schwanz usw. usw. Er sieht eher wie ein in seinen langen weiten Mantel gehüllter Beduine aus, oder wie ein maskierter Domino. Auf dem Haupt hat er einen Turban, der hinten über die Schultern herabfällt und dessen beide Enden an den Seiten des Gesichtes herunterhängen. So sieht man vom Gesicht nur ein dunkelbraunes Dreieck, mit dünnen Lippen und eingefallenen Augenhöhlen, aus denen tiefschwarze Augen magnetische Funken sprühen. Zwei Pupillen, die im Grund des Herzens zu lesen scheinen, in denen jedoch nichts zu lesen ist als: Geheimnis. Jesu Augen sind das gerade Gegenteil. Sie sind anziehend und faszinierend und lesen in den Herzen; doch sie verraten auch, daß in seinem Herzen Liebe und Güte für alle ist. Das Auge Jesu ist ein Wohltat für die Seele. Satans Auge ist wie eine doppelte Waffe, die zugleich durchbohrt und brennt.

Nun nähert sich Satan Jesus. «Du bist allein?»

Jesus blickt auf und schweigt.

«Wie bist du hierhergekommen? Hast du dich verirrt?»

Jesus betrachtet Satan wiederum und schweigt.

«Hätte ich Wasser in meiner Flasche, dann würde ich es dir anbieten; doch auch mein Vorrat ist erschöpft. Mein Pferd ist eingegangen, und so muß ich zu Fuß bis zur nächsten Herberge gehen. Dort will ich essen und trinken. Ich kenne den Weg. Komm mit mir, ich werde dich führen.»

Jesus sieht nicht einmal mehr auf.

«Du willst mir nicht antworten? Weißt du, daß du sterben wirst, wenn du hier bleibst? Der Wind erhebt sich bereits, und es wird bald einen Sturm geben. Komm mit mir!»

Jesus faltet die Hände in stillem Gebet.

«Ah, du bist es also? ... Lange schon suche ich dich und nun beobachte ich dich schon eine ganze Weile; seit du dich taufen ließest. Rufst du den Ewigen an? Der ist jetzt weit weg. Du bist auf der Erde und unter den Menschen. Und unter den Menschen herrsche ich. Doch du tust mir leid, und ich möchte dir helfen, denn du bist gekommen, um dich unnötig zu opfern. Die Menschen hassen dich deiner Güte wegen. Für sie gilt nur Geld, Essen und Ausschweifung. Opfer, Schmerz und Gehorsam sind Worte, die für sie leerer sind als das Land, das uns umgibt, und sie selbst sind noch trockener und gefühlloser als dieser Wüstensand. Nur die Schlange kann sich hier noch verbergen, um den Menschen aufzulauern, und der Schakal, um ihn zu zerfleischen. Komm weg von hier! Es hat keinen Wert, für die Menschen zu leiden. Ich kenne die Menschen besser als du!»

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Satan hat sich Jesus gegenüber niedergesetzt und erforscht ihn mit seinem schrecklichen Blick. Er lächelt mit seinem Schlangenmaul, und Jesus schweigt und betet in seinem Innern.

«Du mißtraust mir und tust nicht gut daran. Ich bin die Weisheit dieser Welt. Ich kann dir Meister sein und dich lehren, wie du vorgehen mußt, um zu triumphieren. Sieh, das Wichtigste ist zu herrschen. Hat man sich einmal durchgesetzt, dann ist es leicht, die Menschen dorthin zu führen, wo man will. Zuerst aber muß man alles tun, um ihnen zu gefallen. Man muß sein wie sie. Man muß sie verführen, damit sie glauben, daß sie von uns bewundert werden und daß wir ihren Gedankengängen folgen.

Du bist jung und schön. Fang mit dem Weib an! Es ist immer das Weib, das man zuerst für sich gewinnen muß. Ich habe einen Fehler gemacht, als ich das Weib zum Ungehorsam verführt habe. Ich hätte es auf eine andere Art belehren sollen. Ich hätte ein besseres Werkzeug aus ihr machen sollen und hätte Gott damit besiegen können. Ich hatte es jedoch zu eilig.

Aber du! Ich werde dich belehren; denn einst durfte ich dich mit engelhafter Freude bewundern, und ein kleiner Rest dieser Liebe ist in mir verblieben. Höre also auf mich und bediene dich meiner Erfahrung! (Der schlangenhafte Charakter Satans enthüllt sich hier voll und ganz. Jedes Wort ist eine Lüge und möchte verführen. Auch die Aussage, daß in ihm noch ein Rest von Liebe sei, während der Haß und nur der Haß gegen Gott und den Menschen ihn zu diesem Versuch treibt, die Frucht der Menschwerdung zu zerstören. Der Haß ist so groß, daß er zur Dummheit wird; zur Dummheit, die glaubt, Christus zur Sünde verleiten zu können.) Nimm dir eine Gefährtin! Was dir nicht gelingt, sie wird es fertigbringen. Du bist der neue Adam, und du mußt deine Eva haben.

Ferner, wie willst du die Krankheiten der Sinne heilen, wenn du die Sinnlichkeit selbst nicht kennst? Weißt du nicht, daß die Frau die Wurzel ist, aus der die Habsucht und die Herrschsucht entspringen? Warum will der Mensch herrschen? Warum will der Mensch reich und mächtig sein? Nur damit er das Weib besitzen kann. Das Weib ist wie die Lerche. Es wird vom Schein und Glanz angezogen. Geld und Macht sind die beiden Seiten des Spiegels, die die Weiber verführen und so Ursache allen Übels in der Welt sind. Schau: unter tausend Verbrechen verschiedenster Art haben mindestens neunhundert ihre Wurzel in der Gier der Frau nach Besitz oder in irgendeinem glühenden Verlangen in ihr, das vom Mann nicht oder nicht mehr erfüllt werden kann.

Wenn du wissen willst, was leben heißt, dann geh zur Frau. Dann erst wirst du imstande sein, die Leiden der Menschheit zu behandeln und zu heilen.

Sie ist schön, die Frau, weißt du? Es gibt nichts Schöneres auf der Welt. Der Mann besitzt den Intellekt und die Kraft. Aber die Frau! Ihre Gedanken sind ein Wohlgeruch, ihre Berührung wie die Liebkosung einer Blume,

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ihre Anmut berauschender Wein, ihre Schwäche eine Seidensträhne oder die Locke eines Kindes in der Hand des Mannes. Ihre Umarmung ist eine Kraft, die unsere Kraft ruiniert und verbrennt. Der Schmerz schwindet, die Mühe und das Leid vergehen, wenn man bei einer Frau sein kann und sie wie ein Bündel Blumen in unseren Armen liegt.

Doch wie töricht bin ich. Du bist ausgehungert, und ich rede vom Weib. Deine Kräfte sind erschöpft. Daher scheint diese Lieblichkeit der Erde, diese Blume des Schöpfers, diese liebeschaffende Frucht dir ohne Wert. Schau diese Steine an! Wie schön rund und glatt sind sie und wie goldfarbig im Schein der untergehenden Sonne! Sehen sie nicht aus wie Brote? Du, Sohn Gottes, brauchst nur zu sagen: "Ich will", damit diese Steine knusprige Brote werden, wie sie die Hausfrau vor dem Nachtmahl aus dem Ofen zieht. Sieh diese dürren Akazien hier! Wenn du nur willst, können sie mit saftigen Äpfeln und süßen Feigen beladen sein. Stille deinen Hunger, o Sohn Gottes! Du bist der Herr der Welt. Sie neigt sich vor dir, um sich dir zu Füßen zu legen und deinen Hunger zu stillen.

Du siehst, du wirst bleich und wankst schon beim bloßen Nennen des Brotes! Armer Jesus! Du bist so schwach geworden, daß du nicht einmal mehr ein Wunder vollbringen kannst. Willst du, daß ich es für dich tue? Ich bin dir zwar nicht ebenbürtig, aber etwas kann ich doch. Ich will für ein Jahr ohne Kraft sein, um diese nun zusammenzufassen und dir zu dienen, weil du gut bist, und ich nicht vergessen kann, daß du auch mein Gott bist; selbst jetzt, da ich nicht mehr würdig bin, dich so zu nennen. Hilf mir mit deinem Gebet, daß ich dir helfen kann...»

«Schweige! ... Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, sondern von jedem Wort, das von Gott kommt!»

Satan bekommt einen Wutanfall. Er knirscht mit den Zähnen und ballt die Fäuste. Doch er beherrscht sich und verzieht seine Fratze zu einem Lächeln.

«Ich verstehe. Du stehst über den Notwendigkeiten des Lebens und es ekelt dich, von mir bedient zu werden. Ich habe es verdient. Doch komm und sieh, sieh dir an, was im Haus Gottes vor sich geht. Sieh, auch die Priester lehnen es nicht ab, Geist und Fleisch in gleicher Weise zu ihrem Recht kommen zu lassen. Denn auch sie sind nur Menschen und keine Engel. Wirke ein geistiges Wunder. Ich werde dich auf die Zinnen des Tempels tragen. Dort wirst du dich mit Schönheit umhüllen und die Engel herbeirufen, daß sie mit ihren Flügeln einen Teppich unter deinen Füßen bilden und dich sanft hinabgleiten lassen zum Haupteingang. Dann werden dich alle sehen und sich daran erinnern, daß es einen Gott gibt.

Von Zeit zu Zeit ist es notwendig, sich zu offenbaren; denn der Mensch hat ein sehr schwaches Gedächtnis, besonders was die geistigen Dinge betrifft. Wie glücklich werden sich die Engel schätzen, wenn sie deinen Füßen ein Schutz und dir Stufen zur Erde sein dürfen!»

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«Es steht geschrieben: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen!" (Dt 6,16).»

«Ich verstehe, daß dein Erscheinen die Menschen nicht ändern und der Tempel weiterhin Marktplatz und Lasterstätte bleiben würde. Deine göttliche Weisheit erkennt, daß die Herzen der Tempeldiener ein Nest von Vipern sind; sie krümmen und winden sich, nur um die Vorherrschaft zu erringen. Nur menschliche Macht kann sie bezähmen.

So komme nun und bete mich an! Ich will dir die Erde geben. Alexander, Cyrus, Caesar, alle die großen Herrscher, die waren und noch sind: im Vergleich zu dir sind sie nur gewöhnliche Führer von Karawanen; denn du wirst alle Reiche der Welt unter deinem Zepter haben. Und mit den Ländern alle Schätze, alle Schönheiten der Erde, Frauen und Reittiere, Heere und Tempel. Überall wirst du deine Standarte errichten können, wenn du der König der Könige und der Herr der Welt bist. Alle werden dir gehorchen und dich verehren, das Volk wie auch die Priester. Alle Rassen werden dich ehren und dir dienen, weil du der Mächtige, der Einzige, der Herr sein wirst.

Bete mich nur einen Augenblick lang an! Stille diesen meinen Durst, angebetet zu werden! Diese Gier hat mich vernichtet; aber sie brennt weiterhin in mir. Im Vergleich zum Brand in meinem Innern sind die Dünste der Hölle wie frischer Morgenwind. Dieser Durst ist meine Hölle. Einen Augenblick, nur einen Augenblick, o Christus! Du bist so gut! Gewähre mir, dem ewig Verdammten, nur einen Augenblick der Freude! Laß mich fühlen, wie es ist, Gott zu sein, und ich werde mich unterwerfen für immer und für alles. Nur einen Augenblick! Einen einzigen Augenblick, und ich werde dich nicht mehr quälen.» Satan wirft sich bettelnd vor Jesus nieder.

Jesus hat sich jedoch erhoben. Da er durch das Fasten in den letzten Tagen sehr abgenommen hat, scheint er noch größer. Sein Antlitz ist schrecklich ernst und majestätisch. Seine Augen sind zwei brennende Saphire. Seine Stimme ist wie ein Donner, der in der Wölbung des Felsens wiederhallt und über die Steinwüste tönt, als er sagt: «Weiche, Satan! Es steht geschrieben: "Du sollst den Herrn deinen Gott anbeten und ihm allein dienen." (Dt 6,13).»

Mit einem Schrei der Verzweiflung und unbeschreiblichen Hasses springt Satan auf; er sieht furchtbar aus in seiner wutentbrannten Haltung. Mit einem Schrei des Fluches verschwindet er.

Jesus setzt sich müde nieder und lehnt sein Haupt an den Felsen. Er scheint erschöpft zu sein; schwitzt. Doch engelhafte Gestalten fächeln mit ihren Flügeln kühle Luft in die Schwüle der Höhle. Die Luft wird rein und frisch. Jesus öffnet die Augen und lächelt. Ich sehe ihn nicht essen. Aber ich habe das Gefühl, daß er sich vom Duft des Paradieses nährt und dadurch gestärkt wird.

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Die Sonne neigt sich zum Untergang. Jesus nimmt die leere Hirtentasche und macht sich auf den Weg in Richtung Nordost. Die Engel begleiten ihn und ihr Schein erhellt die plötzlich hereingebrochene Nacht. Jesus hat wieder seinen gütigen Ausdruck und schreitet sicheren Schrittes dahin. Als Erinnerung an das lange Fasten bleiben ihm, außer dem schmal gewordenen, bleichen Antlitz, ein asketisches Aussehen und die verklärten Augen, die eine Freude offenbaren, die nicht von dieser Welt ist.

78. «SATAN ZEIGT SICH IMMER WOHLWOLLEND»

Jesus sagt:

«Gestern warst du ohne die Kraft, die von meinem Willen abhängt und somit lebtest du nur halb. Ich habe dich ausruhen und dich auf die Art fasten lassen" die dir am schwersten fällt: das Fehlen meines Wortes. Arme Maria! Es war für dich ein Aschermittwoch. In allem mußtest du die Asche spüren, denn du warst ohne deinen Meister. Ich ließ mich nicht erspüren und doch war ich bei dir.

Heute morgen, da unsere Sehnsucht gegenseitig ist, habe ich dir in deinem Halbschlaf zugeflüstert: "Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem!" Ich habe es dich oft wiederholen lassen, und auch ich habe es ebensooft wiederholt. Du glaubtest, ich würde darüber sprechen. Nein. Zuerst werde ich auf das dir vorher Gezeigte zurückkommen und es dir erklären. Heute abend werde ich dann auf das andere näher eingehen.

Wie du sehen konntest, zeigt sich Satan immer in wohlwollender Gestalt. Sein Aussehen hat nichts Auffallendes an sich. Wenn die Seelen aufmerksam sind und besonders wenn sie in Verbindung mit Gott stehen, merken sie dies sofort, sind wachsam und bereit, den dämonischen Nachstellungen zu begegnen. Wenn die Seelen jedoch nicht auf die göttlichen Einsprechungen achten, von der Sinnlichkeit, die taub macht und nicht vom Gebet unterstützt werden, das mit Gott verbindet und seine Kraft wie durch einen Kanal in das Menschenherz leitet, dann bemerken sie kaum die verborgene Schlinge unter dem unschuldigen Aussehen und unterliegen. Sich danach aus ihr zu befreien ist sehr, sehr schwer.

Die zwei Wege, die Satan gewöhnlich einschlägt, um zu den Seelen zu gelangen, sind die Sinnlichkeit und die Gaumenlust. Es fängt immer beim Körperlichen an. Ist dieses wehrlos und hörig geworden, dann beginnt der Angriff auf den höheren Teil.

Zuerst auf die Sittlichkeit: die Gedankenwelt mit ihrer Hoffart und ihren Begierden. Dann auf den Geist: Satan beraubt ihn nicht nur der Liebe, die schon nicht mehr vorhanden ist, sobald der Mensch die göttliche Liebe mit den menschlichen Leidenschaften vertauscht, sondern auch der Gottesfurcht. Und nun überläßt sich der Mensch mit Leib und Seele Satan, um soviel als möglich genießen zu können.

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Wie ich mich dabei verhalten habe, hast du gesehen: Schweigen und Gebet. Wenn Satan seine Arbeit als Verführer beginnt und in unsere Nähe kommt, darf man ihm nicht mit dummer Ungeduld und einfältiger Angst entgegentreten, man muß seiner Gegenwart und seinen Versuchungen mit Gebet entgegenwirken.

Es ist zwecklos, mit Satan diskutieren zu wollen. Er würde siegen; denn er ist ein Meister in seiner Überredungskunst. Nur Gott besiegt ihn. Daher muß man sich an Gott wenden, damit er für uns und durch uns spreche. Zeige Satan den Namen Gottes und das Zeichen des Kreuzes, weniger auf ein Blatt Papier geschrieben oder in Holz geschnitzt, als ins Herz geprägt und eingegraben. Mein Name, mein Zeichen!

Satan soll man nur dann widersprechen, wenn er vorgibt, wie Gott zu sein – widersprechen mit dem Wort Gottes. Das verträgt er nicht.

Auf den Kampf folgt der Sieg; und die Engel kommen, dem Sieger zu dienen und ihn vor dem Haß Satans zu schützen. Sie erquicken ihn mit dem Tau des Himmels und mit der Gnade, die sie mit vollen Händen in das Herz des getreuen Kindes ergießen, und mit einem Segen, der die Seele erfrischt.

Daher muß man den festen Willen haben, Satan zu besiegen, einen festen Glauben an Gott und ein unerschütterliches Vertrauen auf seine Hilfe. Man muß felsenfest an die Macht des Gebetes und an die Güte Gottes glauben. Dann ist Satan machtlos.

Geh in Frieden! Heute abend werde ich dich mit dem übrigen erfreuen.»

79. BEGEGNUNG MIT JOHANNES UND JAKOBUS

Ich sehe Jesus auf dem schmalen grünen Pfad längs des Jordan dahinschreiten. Er ist in der Nähe des Ortes, wo er getauft worden ist, und zwar beim Flußübergang, der sehr bekannt zu sein scheint und von vielen zum Überqueren benützt wird. Doch der Ort, den ich noch vor kurzem voller Leute gesehen habe, erscheint nun menschenleer. Nur einige Wanderer, zu Fuß oder auf einem Reittier, sind zu sehen.

Jesus scheint in Gedanken versunken und schreitet nach Norden weiter. Bei der Furt angekommen, begegnet er einer Gruppe von Männern verschiedenen Alters, die eifrig miteinander diskutieren und sich dann trennen, die einen schreiten in nördlicher, die anderen in südlicher Richtung weiter. Unter denen, welche sich nach Norden wenden, sehe ich Johannes und Jakobus. Johannes bemerkt Jesus zuerst und macht seinen Bruder auf ihn aufmerksam. Sie reden noch etwas miteinander, dann beeilt sich Johannes, Jesus einzuholen. Jakobus folgt langsam. Die anderen achten nicht darauf und gehen diskutierend weiter.

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Als Johannes Jesus bis auf zwei oder drei Meter eingeholt hat, ruft er: «Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt!»

Jesus wendet sich um und schaut ihn an. Sie stehen sich nun gegenüber und betrachten sich. Jesus tut dies ernst und eindringlich; Johannes mit reinen Augen und einem Lächeln im kindlichen Gesicht, das beinahe mädchenhaft wirkt. Er dürfte ungefähr 2O Jahre alt sein, und auf den rosigen Wangen ist nur ein leichter, blonder Flaum, der wie ein goldener Schleier aussieht.

Jesus fragt: «Wen suchst du?» «Dich, Meister.» «Woher weißt du, daß ich Meister bin?» «Der Täufer hat es mir gesagt.»«Warum nennst du mich Lamm?»

«Ich hörte Johannes dich so nennen. Es war vor ungefähr einem Monat, als du hierhergekommen bist.»

«Was willst du von mir?»«Daß du uns Worte des ewigen Lebens verkündest und uns tröstest.» «Wer bist du?»

«Ich bin Johannes, Sohn des Zebedäus, und dies ist mein Bruder, Jakobus. Wir sind aus Galiläa und Fischer. Wir sind jedoch auch Jünger des Johannes des Täufers. Er verkündete uns Worte des Lebens, und wir nahmen sie in unser Herz auf, da wir Gott folgen wollen und unsere Herzen durch Buße auf die Ankunft des Messias vorbereiten, um Vergebung zu erlangen. Du bist der Messias. Johannes hat es uns gesagt; denn er hat das Zeichen der Taube gesehen, die sich auf dich niedergelassen hat. Er sagte zu uns: "Seht das Lamm Gottes!" Ich bitte dich, Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt, gib uns den Frieden! Wir haben nämlich niemanden mehr, der uns leitet, und unsere Seele ist betrübt.»

«Wo ist Johannes?»

«Herodes hat ihn gefangennehmen lassen. Nun befindet er sich im Gefängnis. Seine Getreuen haben versucht, ihn zu befreien. Doch es ist unmöglich. Wir kommen gerade von dort. Laß uns mit dir gehen, Meister, zeige uns, wo du wohnst!»

«Kommt mit! Doch wißt ihr, um was ihr bittet? Wer mir nachfolgen will, muß auf alles verzichten: auf Haus, Verwandte, seine Art zu denken und selbst das Leben. Ich werde euch zu meinen Jüngern und Freunden machen, wenn ihr wollt. Doch habe ich keine Reichtümer oder Gönner. Ich bin arm und werde noch ärmer werden, bis ich nichts mehr habe, um mein Haupt darauf zu legen. Und ich werde verfolgt werden, mehr als ein verirrtes Lamm von hungrigen Wölfen verfolgt wird. Meine Lehre ist noch strenger als die Lehre des Täufers, da sie sogar verbietet, nachtragend zu sein. Meine Lehre richtet sich mehr an die Seele als an das Äußere. Ihr müßt wiedergeboren werden, wenn ihr mir gehören wollt. Wollt ihr das?»

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«Ja, Meister, denn du allein hast Worte, die uns Licht geben. Sie erleuchten uns, und wo zuerst finstere Trostlosigkeit herrschte, weil wir ohne Führung waren, erfüllen sie uns mit Sonnenlicht.»

«Kommt also, und gehen wir! Unterwegs werde ich euch belehren.»

80. «ICH LIEBTE JOHANNES WEGEN SEINER REINHEIT»

Jesus spricht:

«Die Gruppe, der ich begegnete, war nicht klein; doch nur einer davon erkannte mich, weil seine Seele, sein Geist und Leib frei von Makel waren.

Ich bestehe auf dem Wert der Reinheit. Die Keuschheit ist immer die Quelle der Reinheit der Gedanken. Die Jungfräulichkeit veredelt und bewahrt das geistige und affektive Empfindungsvermögen in so vollkommener Weise, die nur ein jungfräulicher Mensch erfährt.

Jungfräulich sein ist auf verschiedene Art möglich.

Gezwungenermaßen sind es die Frauen, die nicht zur Ehe gewählt worden sind. Für die Männer müßte es ebenso sein. Doch es ist nicht so. Und das ist schlecht, denn aus einer Jugend, die vorzeitig durch Unzucht beschmutzt wird, kann nur ein geistig und seelisch und oft auch körperlich kranker Familienvater hervorgehen.

Gewollte Jungfräulichkeit üben die, die sich Gott mit der ganzen Hingabe ihres Herzens weihen. Wunderbare Jungfräulichkeit! Ein Gott wohlgefälliges Opfer! Doch nicht alle verbleiben in dieser Reinheit der Lilie, die aufrecht auf ihrem Stengel steht, der zum Himmel strebt, ungeachtet eines schmutzigen Erdreiches, und sich öffnet zum Kuß der Sonne Gottes mit ihrem himmlischen Tau.

Viele bleiben nur äußerlich treu; in Gedanken sind sie untreu, weil sie bedauern und zurücknehmen möchten, was sie geopfert haben. Diese sind nur zur Hälfte jungfräulich. Wenn auch das Fleisch unberührt ist, das Herz ist es nicht. Dieses Herz gärt, rebelliert, versprüht Sinnlichkeit, die um so raffinierter und schlimmer ist, als sie fortwährend Vorstellungen nährt, die für jemand, der ungebunden ist, verboten und um so verwerflicher für solche sind, die Gott ein Gelübde abgelegt haben.

Es kommt zur Heuchelei des Gelübdes. Der Schein ist vorhanden, doch die Substanz fehlt. Wahrlich, ich sage euch, ich nenne "jungfräulich" jemanden, der zu mir kommt mit einer durch brutale Vergewaltigung verwüsteten Lilie, aber nicht solche, deren Lilie körperlich intakt ist, jedoch beschmutzt durch Sinnlichkeit in einsamen Stunden. Dem ersteren gebe ich den Kranz der Jungfräulichkeit und die Krone des Martyriums wegen des infolge einer von ihm nicht gewollten Verstümmelung verwundeten Fleisches und gemarterten Herzens.

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Der Wert der Reinheit ist so hoch, daß, wie du gesehen hast, Satan sich zuerst bemüht, zur Unkeuschheit zu verführen. Er weiß ganz gut, daß die sinnliche Sünde die Seele wehrlos und williger für andere Sünden macht. Der Eifer Satans hat sich auf diesen wesentlichen Punkt gerichtet, um mich zu besiegen.

Das Brot und der Hunger sind die materiellen Formen, um die Begierlichkeit darzustellen; die Gelüste, die Satan für seine Zwecke ausnützen will. Anders war die Nahrung, die er mir anbot, um mich wie berauscht zu seinen Füßen niederfallen zu sehen!

Nach dem Gaumen wäre das Geld, die Macht, der Götzendienst, der Fluch, der Abfall vom göttlichen Gesetz gekommen. Doch der erste Schritt, den er mir vorschlug, war der letztgenannte, den er schon anwendete, um Adam zu treffen.

Die Welt verachtet die Reinen, und die Unkeuschen quälen sie. Johannes der Täufer ist das Opfer der Unzucht zweier Unzüchtiger. Aber wenn die Welt noch ein wenig Licht hat, so verdankt sie dies den Reinen. Sie sind die Diener Gottes und können Gott verstehen und Gottes Worte wiedergeben. Ich habe gesagt: "Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen." Auch auf der Erde können sie Gott sehen, ihn hören, ihm nachfolgen und ihn den anderen zeigen, da ihre Gedanken nicht durch den Nebel der Sinne getrübt sind.

Johannes, Sohn des Zebedäus, ist ein Reiner – der Reine unter meinen Jüngern. Welch blütenreine Seele in einem engelhaften Körper! Er ruft mich mit den Worten seines ersten Lehrers und bittet mich, ihm meinen Frieden zu schenken. Doch er hat den Frieden in sich durch sein reines Leben. Und ich habe ihn geliebt dieser seiner Reinheit wegen, und daher habe ich ihm meine Lehren, meine Geheimnisse und das Geschöpf, das mir am teuersten war, anvertraut.

Er war mein erster Jünger, mein Lieblingsjünger vom ersten Augenblick unserer Begegnung an. Seine Seele hat sich mit der meinigen vereinigt vom Tag an, da er mich am Ufer des Jordan kommen sah, und er hatte mich schon gesehen, als der Täufer auf mich gewiesen hatte. Auch wenn er mich bei meiner Rückkehr aus der Wüste nicht getroffen hätte, er hätte nicht geruht, bis er mich gefunden hätte; denn wer rein ist, ist demütig und bestrebt, die Wissenschaft Gottes kennenzulernen, und wendet sich, wie das Wasser zum Meer, den Lehrern der himmlischen Weisheit zu.»

Jesus sagt weiter:

«Ich wollte nicht, daß du über die sinnliche Versuchung deines Jesus sprichst. Auch wenn

deine innere Stimme dir den Grund Satans zu verstehen gegeben hat, mich zu versuchen, hielt ich es für besser, es dir selbst zu erklären. Denke nicht weiter darüber nach! Es war nötig, davon zu sprechen. Also mutig vorwärts! Laß die Blumen Satans auf dem Sand verdorren! Folge Jesus nach, wie Johannes es getan hat! Du wirst auf Dornen gehen müssen; aber

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als Rosen wirst du die Blutstropfen dessen finden, der sie deinetwegen vergossen hat, damit auch in dir das Fleisch besiegt werde.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, noch eine Bemerkung: Johannes sagt in seinem Evangelium bei der Beschreibung der Begegnung mit mir: "Am folgenden Tag". Es scheint daher, als ob der Täufer am Tag nach der Taufe auf mich hingewiesen hätte, worauf Johannes und Jakob mir dann sofort nachgefolgt wären. Dies widerspricht dem, was die anderen Evangelisten in bezug auf die 4O Tage in der Wüste sagen. Ihr müßt aber so lesen: "Als mich (nach der nunmehr erfolgten Verhaftung des Johannes) tags darauf die beiden Jünger des Täufers wiedersahen, denen er bezeugt hatte: 'Hier ist das Lamm Gottes, riefen sie mich und folgten mir" (Joh 1,35-37) nach meiner Rückkehr aus der Wüste.

Zusammen kehrten wir zu den Ufern des Sees Genesareth zurück, wo ich Unterkunft gefunden hatte und von wo aus ich meine Heilsverkündigung beginnen wollte. Die beiden sprachen über mich mit den anderen Fischern – nämlich worüber sie auf dem Weg und nachher im gastlichen Haus eines Freundes mit mir gesprochen hatten. Doch Johannes hatte den Anfang gemacht. Seine Seele wurde durch seinen Willen zur Buße, obwohl schon rein durch seine Keuschheit, ein Meisterwerk der Reinheit, in welchem sich die Wahrheit klar spiegelte. Dieser Wille zur Buße verlieh ihm auch die Ausdauer der Reinen und Großmütigen, die sich nie fürchten, vorwärtszuschreiten, wenn sie erkennen, wo Gott, die Wahrheit und die Lehre über den Weg Gottes sind. Wie sehr liebte ich Johannes wegen dieses einfachen und heroischen Charakters!»

81. JOHANNES UND JAKOBUS BERICHTEN PETRUS VOM MESSIAS

Die Sonne geht friedvoll über dem galiläischen Meer auf. Himmel und Wasser haben rötliche Reflexe, ähnlich jenen, die sanft auf den Mauern kleiner Gärten eines verborgenen Dörfleins spielen; verborgen unter den reichen Kronen der die Mauern überragenden Obstbäume.

Das Dörflein ist gerade am Erwachen. Ab und zu geht eine Frau zum Brunnen oder mit einem Korb voller Wäsche zum Waschtrog; einige Fischer, ihren Fang in den Körben, feilschen mit von auswärts gekommenen Händlern oder tragen ihre Fische nach Hause. Ich sage Dörflein. Doch so klein ist es gar nicht. Es ist bescheiden auf der Seite, die ich sehen kann; doch weitläufig und am Ufer dahingestreckt.

Johannes kommt aus einer Seitengasse und geht eilends zum See. Jakobus folgt ihm, doch viel bedächtiger. Johannes betrachtet die bereits am Seeufer angelangten Boote, kann jedoch das gesuchte nicht finden. Schließlich entdeckt er es noch ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt auf dem See. Er legt die Hände an den Mund und ruft ein langezogenes «Oh – hee», was anscheinend der gebräuchliche Ruf ist. Und als er sieht, daß er gehört worden ist, gibt er mit den Armen ein Zeichen: «Kommt, kommt!» Die Männer im Boot – wer weiß, was sie denken – legen sich in die Ruder, und das Boot fährt schneller; vielleicht auch, weil die Segel eingezogen worden sind. Als es ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt

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ist, wartet Johannes nicht länger. Er legt den Mantel und das lange Kleid ab und wirft beides auf den kiesigen Strand, zieht die Sandalen aus, hebt das lange Unterkleid bis über die Knie und geht im Wasser den Ankommenden entgegen.

«Warum seid ihr zwei nicht gekommen?» fragt Andreas. Petrus ist schlecht gelaunt und sagt nichts.

«Und du, warum bist du nicht mit mir und Jakobus gegangen?» antwortet Johannes dem Andreas.

«Ich bin zum Fischen gegangen. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Du hingegen bist mit diesem Mann verschwunden.»

«Ich hatte dir doch ein Zeichen gegeben, daß auch du kommen sollst. Er ist es wirklich. Wenn du seine Worte hörst!... Wir waren den ganzen Tag lang bis spät in die Nacht hinein mit ihm zusammen. Nun sind wir hier, um euch zu sagen: "Kommt!"»

«Ist er es wirklich? Bist du sicher? Wir haben ihn kaum gesehen, als der Täufer uns auf ihn aufmerksam machte.»

«Er ist es. Er selbst hat es nicht verneint.»

«Jeder kann sagen, was ihm gefällt, um sich bei den Leichtgläubigen durchzusetzen. Es wäre nicht das erste Mal», murrt Petrus unzufrieden.

«Oh, Simon! Sprich nicht so! Es ist der Messias. Er weiß alles! Er hört dich!»

Johannes ist betroffen und betrübt ob der Worte des Petrus.

«Natürlich! Der Messias! Und er soll sich ausgerechnet dir, Jakobus und Andreas zeigen? Drei armen Unwissenden? Der Messias? Er will doch andere! Hör mich an! Armer Junge! Die erste Frühlingssonne hat dir wohl zugesetzt. Komm, an die Arbeit! Das wird besser sein. Laß die Märchen!»

«Es ist der Messias. Ich sage es dir. Johannes der Täufer sprach von heiligen Dingen; doch dieser spricht als Gott. Wäre er nicht Christus, so könnte er nicht in dieser Weise sprechen.»

«Simon, ich bin kein kleiner Junge mehr. Ich habe mein Alter und bin ruhig und bedächtig. Du weißt es. Wenig habe ich gesprochen, doch viel habe ich hören dürfen in diesen Stunden, in denen ich mit dem Lamm Gottes zusammen war; und ich muß es dir sagen, er kann nur der Messias sein. Warum willst du es nicht glauben? Vielleicht, weil du ihn nicht gehört hast. Aber ich glaube es. Wir sind zwar arme und unwissende Menschen. Aber er sagt, daß er gekommen sei, die Frohe Botschaft vom Reich Gottes den Armen, den Demütigen und den Kleinen, noch vor den Großen, zu verkünden. Er hat gesagt: "Die Großen haben schon ihre Freuden. Sie sind aber nicht beneidenswert im Vergleich zu denen, die ich euch bringe. Die Großen können allein dank ihrer Bildung zur Einsicht gelangen. Ich aber komme zu den Kleinen Israels und der Welt, zu denen, die weinen und hoffen, die das Licht suchen und nach dem wahren Manna

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hungern. Von den Gelehrten erhalten sie weder Licht noch Nahrung, nur Bürden, Finsternis, Ketten und Verachtung. Ich rufe die 'Kleinen'. Ich bin gekommen, die Welt auf den Kopf zu stellen; denn ich werde erniedrigen, was jetzt hoch steht, und erhöhen, was jetzt verachtet wird. Wer die Wahrheit und den Frieden wünscht, der komme zu mir! Wer das Licht liebt, der komme! Ich bin das Licht der Welt." Hat er nicht so gesagt, Johannes?»Jakobus hat ruhig, aber mit innerer Ergriffenheit gesprochen.

«Ja, und er hat gesagt: "Die Welt wird mich nicht lieben, die vornehme Welt, denn sie ist verdorben und voller Laster und gotteslästerlichem Wandel. Die Welt will mich nicht, da die Finsternis das Licht scheut. Doch die Welt besteht nicht nur aus der Welt der Vornehmen. In ihr gibt es auch andere, die, obwohl sie in der Welt leben, doch nicht von dieser Welt sind. Es gibt solche, die in der Welt wie Fische im Netz gefangen sind." Ja, so hat er gesagt; denn wir befanden uns gerade am Ufer des Sees, und er wies auf die mit Fischen gefüllten Netze, die ans Ufer geschleppt wurden. Er hat noch gesagt: "Schaut, keiner dieser Fische wollte ins Netz geraten. Auch die Menschen haben nicht die Absicht, sich von Satan beherrschen zu lassen. Nicht einmal die schlimmsten Verbrecher; denn sie glauben wegen des Hochmuts, der sie blendet, nicht, daß sie zu ihrem Tun nicht berechtigt seien. Ihre große Sünde ist der Hochmut. Aus dieser Wurzel gedeihen alle anderen Übel. Die aber nicht vollends Schlechten möchten noch weniger von Dämonen beherrscht werden. Doch sie verfallen ihm aus Leichtsinn und durch eine Last, die sie zu Boden drückt und die Adam verschuldet hat. Ich bin gekommen, diese Schuld hinwegzunehmen und in Erwartung der Erlösung allen, die an mich glauben, eine solche Kraft zu schenken, daß sie fähig werden, sich von der Fessel zu befreien und mir, dem Licht der Welt, nachzufolgen."»

«Wenn er wirklich so gesagt hat, dann müssen wir sofort zu ihm gehen!» Petrus, in seiner impulsiven Art, die mir gut gefällt, hat sich sofort entschieden und beeilt sich nun, die Arbeit des Ausladens zu Ende zu bringen; denn das Boot ist inzwischen am Ufer angelangt und die Hilfskräfte haben es aufs Trockene gezogen und entnehmen ihm nun Netze, Seile und Segel.

«Und du, törichter Andreas, warum bist du nicht mit ihnen gegangen?»

«Aber Simon... du hast mich gerügt, weil es mir nicht gelungen war, diese beiden zu überreden, mit mir zu kommen... Die ganze Nacht hast du deswegen gemurrt, und nun tadelst du mich, weil ich nicht mit ihnen gegangen bin ...»

«Du hast recht... Doch ich habe ihn noch nicht gesehen... du schon... und es hätte dir schon auffallen müssen, daß er nicht einer ist wie wir. Irgend etwas Schöneres wird er doch an sich haben! ...»

«O ja!», sagt Johannes. «Sein Antlitz! Seine Augen! Nicht wahr,

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Jakobus, welche Augen! Und erst die Stimme! Oh, welche Stimme! Wenn er spricht, glaubst du, vom Paradies zu träumen.»

«Macht schnell, schnell! Gehen wir zu ihm! Ihr (Petrus wendet sich an die Gehilfen) bringt alles zu Zebedäus und sagt ihm, er soll sich darum kümmern. Wir werden heute abend zum Fischen wieder da sein.»

Sie kleiden sich an und gehen. Doch Petrus bleibt nach einigen Metern stehen, packt Johannes am Arm und fragt ihn: «Hast du nicht gesagt, daß er alles weiß und alles hört? ...»

«Ja. Denk einmal, als wir den Mond aufgehen sahen, fragten wir uns: "Wer weiß, was Petrus nun macht?" Da sagte er: "Er wirft die Netze aus und ist unzufrieden darüber, daß er alles allein machen muß, weil ihr nicht mit dem zweiten Boot ausgefahren seid an einem Abend mit so gutem Fischfang... Er weiß noch nicht, daß er bald nur noch mit anderen Netzen fischen und andere Beute machen wird."»

«Um Gottes willen! Das ist wahr! Dann wird er auch gehört haben, daß ich ihn fast als einen Lügner bezeichnet habe. Ich kann nicht zu ihm gehen...»

«Oh, er ist so gut. Natürlich weiß er, was du gedacht hast. Er wußte es sofort. Denn als wir ihn verließen und ihm sagten, daß wir zu dir gingen, sagte er: "Geht, doch laßt euch nicht von seinen ersten mißbilligenden Worten einschüchtern! Wer mir nachfolgen will, muß verstehen und darf sich nicht vom Spott der Welt und Verboten der Verwandten zurückhalten lassen. Denn ich stehe über den Banden des Blutes und der Gesellschaft, und ich werde über beide triumphieren! Und wer mit mir ist, wird in Ewigkeit frohlocken." Und dann hat er noch gesagt: "Sprecht ohne Angst! Wenn er euch hört, wird er kommen, denn er ist ein Mensch voll guten Willens."»

«Hat er das gesagt? Dann komme ich. Sprich, erzähle weiter von ihm, während wir gehen! Wo ist er jetzt?»

«In einem armen Haus; es müssen Freunde seiner Familie sein.»

«Ist er denn arm?»

«Ein Arbeiter aus Nazareth. Er sagte es selbst.»

«Wovon lebt er jetzt, wenn er nicht mehr arbeitet?»

«Wir haben nicht gefragt; vielleicht helfen ihm seine Verwandten.»

«Dann wird es gut sein, wenn wir Brot, Fische, Früchte und einige andere Dinge mitbringen. Gehen wir zu einem Rabbi und befragen wir ihn; denn er ist wie ein Rabbi... ja mehr noch..., und mit leeren Händen! Unsere Rabbis lieben dies nicht! ...»

«Aber er will es so. Jakobus und ich hatten nur zwanzig Denare bei uns, und, wie es Brauch ist mit Rabbis, haben wir ihm das Geld angeboten. Doch er hat es nicht angenommen. Als wir ihn drängten, sagte er: "Gott möge es euch vergelten mit dem Segen der Armen! Kommt mit mir!" Und sogleich hat er die Gabe den Ärmsten gebracht; denn er wußte, wo diese

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wohnen. Und uns hat er auf die Frage, ob er denn für sich selbst nichts behalte, geantwortet: "Die Freude, den Willen Gottes zu tun, und seiner Ehre zu dienen." Wir haben auch gesagt: "Du rufst uns; doch wir sind alle arm. Was sollen wir dir bringen?" Er hat mit einem Lächeln, welches das Paradies ahnen läßt, geantwortet: "Einen großen Schatz verlange ich von euch." Und wir: "Aber wir besitzen doch nichts." Darauf er: "Einen Schatz mit sieben Namen, den auch der Geringste haben und der reichste König nicht haben kann: ihr habt ihn, und ich will ihn. Hört seine Namen: Liebe, Glaube, guter Wille, redliche Absicht, Enthaltsamkeit, Aufrichtigkeit und Opferbereitschaft. Das verlange ich von denen, die mir nachzufolgen bereit sind. Dies allein, und ihr habt es. Es schläft noch wie der Same im Winter in der Erdscholle; doch die Sonne meines Frühlings wird den Samen zur siebenfachen Ähre heranwachsen lassen." So hat er gesprochen.»

«Das ist mir Beweis genug, daß er der wahre Rabbi, der verheißene Messias ist. Er ist nicht hart gegen die Armen, er verlangt kein Geld. Dies genügt, ihn den Heiligen des Herrn zu nennen. Wir haben nichts zu befürchten.»

Hier endet die Vision.

82. ERSTE BEGEGNUNG DES PETRUS MIT DEM MESSIAS

Viele Dinge bedrücken meine Seele; ich bete um Erleuchtung. Ich werde zum 12. Kapitel der Epistel an die Hebräer geführt, und meine geistigen Kräfte kehren zurück. Unter dem Druck so vieler Dinge sträube ich mich nämlich, zu "hören", und denke: «Ich will nicht mehr. Nur noch ein gewöhnliches Leben führen, um jeden Preis ein ganz gewöhnliches Leben.» Doch wie ich den bittenden, liebevollen Blick desjenigen, der zu mir spricht – ich weiß, wer es ist – auf mir ruhen sehe, bin ich nicht mehr fähig zu sagen: «Ich will nicht.»

Wahrlich, Gott ist ein Feuer, das unsere menschlichen Neigungen verzehrt, wenn wir uns ihm anheimgegeben haben; ihm, der sagt: «Ich werde dich nicht im Stich lassen.» Voll Vertrauen will ich noch einmal wiederholen: «Du bist meine Hilfe, ich fürchte die Menschen nicht. Laß meine Hoffnung nicht zuschanden werden, mein Gott!»

Um 14 Uhr sehe ich folgendes:

Jesus kommt auf einem Feldweg daher. Er ist allein. Johannes kommt von einer anderen Seite durch die Felder und erreicht Jesus, als er durch die Lücke in einer Hecke schlüpft.

Johannes ist wie immer ein Jüngling; ein seit kurzem erwachsener Mann mit einem rosigen Antlitz, blonden Haaren und einem Anflug von Bart auf den Wangen, mit roten Lippen, einem lächelnden Mund und strahlenden Augen, die nicht allein wegen ihrer blauen Farbe klar sind, sondern besonders wegen der jungfräulichen Seele, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Die langen, weichen und dunkelblonden Haare wehen beim raschen Laufen. Als er durch die Hecke schlüpft, ruft er: «Meister!»

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Jesus bleibt stehen und wendet sich lächelnd um.

«Meister, ich habe mich so sehr nach dir gesehnt. Im Haus hat man mir gesagt, daß du auf die Felder gegangen bist, aber nicht, in welche Richtung. Ich fürchtete schon, dich nicht zu treffen.»

Respektvoll neigt sich Johannes beim Sprechen. Und doch ist seine Haltung voller Vertrauen und Liebe und auch der Blick, den er auf Jesus richtet.

«Ich sah, daß du mich suchtest, und bin dir entgegengegangen.»

«Du hast mich gesehen, Meister? Wo warst du?»

«Ich war dort», sagt Jesus und zeigt auf eine Gruppe von Bäumen, die weit entfernt sind und nach der Farbe der Blätter Olivenbäume sein müssen. «Dort war ich. Ich betete und überlegte, was ich heute abend in der Synagoge sagen würde. Doch, dann sah ich dich und bin dir entgegengegangen.»

«Wie konntest du mich sehen, da ich die durch diese Böschung versteckte Stelle kaum zu sehen vermag?»

«Du sahst, ich kam dir entgegen, weil ich dich gesehen hatte. Was das Auge nicht vermag, vermag die Liebe.»

«Ja, die Liebe kann es. Du liebst mich also, Meister?»

«Und du, Johannes, Sohn des Zebedäus, liebst du mich?»

«Sehr, Meister. Mir scheint, als ob ich dich schon immer geliebt hätte; schon bevor ich dich kennengelernt habe. Meine Seele hatte dich gesucht, und als ich dich sah, sagte sie: "Dieser ist es, den du suchst!" Ich glaube, daß ich dich gefunden habe, weil meine Seele dich fühlte.»

«Du sagst es, Johannes, und du hast recht. Auch meine Seele hat dich gefühlt, und so bin ich dir entgegengegangen. Wie lange willst du mich lieben?»

«Für immer, Meister. Ich will außer dir niemand anderen mehr lieben.»

«Du hast Vater und Mutter, Brüder, Schwestern, das ganze Leben liegt vor dir, und mit dem Leben die Liebe und die Frau. Wie wirst du meinetwegen auf alles verzichten können?»

«Meister ... ich weiß nicht... aber ich glaube... sofern es nicht Stolz ist, so zu sagen ... deine Liebe wird mir Vater und Mutter, Brüder und Schwestern und auch die Frau ersetzen. Wenn du mich liebst, dann bin ich glücklich!»

«Und wenn meine Liebe dir Schmerzen und Verfolgung bringt?»

«Das tut nichts, Meister, wenn du mich liebst.»

«Und wenn ich eines Tages sterben sollte?»

«Nein! Du bist noch jung, Meister... warum sterben?»

«Weil der Messias gekommen ist, das Gesetz in seiner Reinheit zu predigen und die Erlösung zu vollziehen. Die Welt verachtet das Gesetz und will keine Erlösung. Daher verfolgt man die Boten Gottes.»

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«Oh, das darf nicht sein! Sag nicht dem, der dich liebt, deinen Tod voraus ... Selbst wenn du sterben solltest, würde ich weiterhin nur dich lieben. Laß mich dich lieben!» Johannes hat bittende Augen. Gesenkten Hauptes geht er an der Seite Jesu und sieht so aus, als bäte er um Liebe. Jesus bleibt stehen und betrachtet ihn mit seinem tiefen, durchdringenden Blick; dann legt er ihm die Hand auf das geneigte Haupt und sagt: «Ich will, daß du mich liebst.»

«Oh, Meister!» ruft Johannes überglücklich aus.

Wenn auch seine Augen von Tränen glänzen, sein junger Mund lacht; er nimmt die Hand Jesu, küßt den Handrücken und drückt sie dann an sein Herz. Sie gehen weiter.

«Du sagtest, daß du mich gesucht hast?»

«Ja, um dir zu sagen, daß meine Freunde dich kennenlernen möchten ... und auch, weil ich mich sehnte, mit dir zusammenzusein. Erst vor einigen Stunden habe ich dich verlassen... aber schon hielt ich es nicht mehr aus, fern von dir zu sein.»

«So warst du also ein guter Verkünder des Wortes?»

«Aber auch Jakobus hat von dir gesprochen, Meister, in seiner überzeugenden Art.»

«So ist nun auch einer, der mißtrauisch war – es ist nicht seine Schuld, denn Klugheit war der Grund seiner Zurückhaltung – überzeugt. Gehen wir, um ihn vollends zu überzeugen.»

«Er hatte ein wenig Angst...»

«Aber nein, Angst vor mir? Ich bin für die Guten gekommen und noch mehr für die Irrenden. Ich will retten, nicht verdammen. Mit den Gutwilligen werde ich ganz Barmherzigkeit sein.»

«Und mit den Sündern?»

«Ebenfalls. Als unaufrichtige Menschen bezeichne ich solche, deren Seele nicht ehrlich ist und die nur zum Schein so tun, als seien sie gut, während sie doch schlechte Werke verrichten und bei diesem Tun noch möglichst viel Profit herauszuschlagen versuchen. Mit diesen werde ich sehr streng sein.»

«Oh, dann kann Simon unbesorgt sein. Kein anderer ist so ehrlich wie er.»

«Das habe ich gerne, und ich wünsche, daß ihr alle so seid.»

«Simon möchte dir vieles sagen.»

«Ich werde ihn anhören, nachdem ich in der Synagoge gesprochen habe. Ich habe Arme und Kranke, Reiche und Gesunde benachrichtigen lassen; denn sie alle bedürfen der "Frohen Botschaft".»

Sie kommen ins Dorf. Die Kinder spielen auf der Straße, und eines springt gegen die Füße Jesu und wäre beinahe gefallen, wenn er nicht sofort zugegriffen hätte. Das Kind weint trotzdem, als ob es sich weh getan hätte, so daß Jesus es in seine Arme nimmt und mitleidig fragt: «Ein

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Israelit, der weint? Was hätten denn die vielen tausend Kinder tun sollen, die hinter Moses durch die Wüste ziehen mußten und dabei zu Männern wurden? Und doch, gerade für sie, mehr noch als für die anderen, hat der Allerhöchste das süße Manna regnen lassen; denn er liebt die Unschuldigen; er sorgt für diese kleinen Engel der Erde, für diese flügellosen Vögelein, so wie er für die Sperlinge in den Wäldern und auf den Dächern sorgt. Schmeckt dir der Honig? Ja? So wirst du, wenn du brav bleibst, einmal Honig essen, der süßer als der Honig der Bienen ist.»

«Wo denn und wann?»

«Wenn du nach einem Leben voller Treue zu Gott zu ihm gehen wirst.»

«Ich weiß, daß ich nicht zu ihm gehe, wenn der Messias nicht kommt. Meine Mutter sagt, wir hier in Israel sind wie viele "Moses" und wir werden in der Hoffnung auf das verheißene Land sterben. Sie sagt, wir stehen davor und warten auf den Einlaß, den uns nur der Messias verschaffen kann.»

«Du bist aber ein braver kleiner Israelit. Ich sage dir, wenn du stirbst, wirst du sofort in das Paradies eingehen; denn dann wird der Messias schon die Pforten des Himmels geöffnet haben. Doch du mußt gut sein!»

«Mama, Mama!» Der kleine Junge windet sich aus den Armen Jesu und springt auf eine junge Frau zu, die gerade mit einem kupfernen Krug vorbeikommt.

«Mama, der neue Lehrer hat mir gesagt, daß ich gleich ins Paradies komme, wenn ich sterbe, und daß ich dann viel Honig essen darf... wenn Ich gut bin. Ich werde gut sein.»

«Gebe es Gott! Entschuldige, Meister, falls er dich belästigt hat. Er ist so lebhaft.»

«Die Unschuld belästigt nie, Frau. Gott möge dich segnen, denn du bist eine Frau, die ihre Kinder in der Kenntnis der Gebote erzieht.»

Die Frau errötet ob des Lobes und antwortet: «Auch dich segne Gott.»Dann entfernt sie sich mit ihrem Kind.

«Liebst du die Kinder, Meister?»

«Ja, denn sie sind rein, ehrlich und liebevoll.»

«Hast du Neffen und Nichten, Meister?»

«Ich habe nur eine Mutter... In ihr aber ist die Reinheit, die Wahrheit und die Liebe der heiligsten Kinder, vereint mit der Weisheit, der Gerechtigkeit und der Stärke der Erwachsenen. Meine Mutter ist mein ganzer Besitz, Johannes.»

«Und du hast sie verlassen?»

«Gott steht über der heiligsten aller Mütter!»

«Werde ich sie kennenlernen?»

«Du wirst sie kennenlernen.»

«Wird sie mich lieben?»

«Sie wird dich lieben, denn sie liebt alle, die ihren Jesus lieben.»

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«Hast du keine Geschwister?»

«Ich habe Vettern von seiten des Gemahls meiner Mutter. Doch jeder Mensch ist mir Bruder, und ich bin für alle gekommen. Da sind wir vor der Synagoge. Ich werde hineingehen, und du wirst mit deinen Freunden nachkommen.»

Johannes entfernt sich; Jesus begibt sich in einen quadratischen Raum, der mit den üblichen Leuchtern in der Form eines Dreiecks und den Pulten mit den Pergamentrollen ausgestattet ist. Es erwartet ihn schon eine betende Menge. Auch Jesus betet. Die Leute flüstern und machen Bemerkungen hinter seinem Rücken, als er den Vorsteher mit einer Verneigung begrüßt und sich dann eine Schriftrolle reichen läßt.

Jesus beginnt mit seiner Belehrung.

Er sagt: «Der Heilige Geist gebietet mir, euch dieses vorzulesen. Im siebten Kapitel des Buches Jeremias steht geschrieben: "So spricht der Herr der Heerscharen, der Gott Israels: Bessert euren Wandel und eure Werke, dann werde ich bei euch wohnen! Wiegt euch nicht in eitlen Worten, die ihr wiederholt: Hier ist der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn... Wenn ihr eure Sitten und Neigungen bessert und Gerechtigkeit übt, wenn ihr den Fremdling nicht bedrängt und die Witwen und Waisen nicht unterdrückt, wenn ihr an dieser Stätte nicht das Blut Unschuldiger vergießt, wenn ihr nicht fremde Götter anbetet zu eurem eigenen Verderben, dann werde ich bei euch an dieser Stätte wohnen, im Land, das ich euren Vätern für alle Zeiten gegeben habe."

Hört, ihr Leute von Israel! Ich bin gekommen, um euch die Worte des Lichtes zu erklären, welche eure verdunkelten Seelen nicht mehr sehen und verstehen können. Hört! Viel Wehklagen kommt über das Land des Volkes Gottes, und die Alten weinen vergangener Herrlichkeit nach; die Erwachsenen seufzen unter dem Joch und die Kinder klagen, weil ihre Zukunft trübe ist. Doch alle Schönheiten der Erde sind nichts im Vergleich zu der Herrlichkeit, die euch kein Unterdrücker, außer dem bösen Willen und dem Mammon, zu entreißen vermag.

Warum weint ihr? Warum hat der Höchste, der immer gut zu seinem Volk war, seinen Blick von ihm abgewandt und sein Antlitz vor seinen Kindern verborgen? Ist er nicht mehr der Gott, der das Meer geteilt hat, um Israel trockenen Fußes durchziehen zu lassen, und der sein Volk durch die Wüste führte und es nährte und gegen die Feinde verteidigte und, damit sein Volk nicht den Weg zum Himmel verfehle, sich in der Wolke verbarg und die Seelen mit dem Gesetz beschenkte? Ist es nicht der Gott, der die Wasser süß werden und den Erschöpften das Manna zukommen ließ? Ist es nicht der Gott, dessen Wunsch es war, daß ihr in diesem Land euren Wohnsitz aufschlagt, und der mit euch, wie ein Vater mit seinen Kindern, ein Bündnis schloß? Warum hat euch der Fremde unterdrückt? Viele

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unter euch murren: "Und doch ist hier der Tempel!" Es genügt nicht, einen Tempel zu haben und einzutreten, um Gott anzubeten.

Der eigentliche Tempel ist das Herz eines jeden Menschen, der ein heiliges Gebet spricht. Doch es kann nicht heilig sein, wenn sich das Herz nicht bessert, wenn sich mit dem Herzen nicht zugleich auch die Sitten und Neigungen bessern, wenn sich außerdem nicht auch die Maßstäbe der Gerechtigkeit den Armen, den Untergebenen, den Angehörigen und Gott gegenüber bessern.

Nun, gebt acht! Ich sehe reiche Menschen mit einem harten Herzen, die zwar dem Tempel reiche Opfergaben bringen, aber nicht imstande sind, zu einem Bettler zu sagen: "Bruder, hier hast du Brot und einen Denar. Nimm es an, es kommt von Herzen! Meine Hilfe soll dich nicht beschämen, wie sie auch für mich kein Grund zum Stolz sein darf." Ich sehe hier Betende, die sich bei Gott beklagen, weil er zögert, ihre Gebete zu erhören, die aber den Armen, der blutenden Herzens bettelt, von ihnen wenigstens angehört zu werden, mit einem schroffen "Nein" abweisen. Ich sehe euch weinen, weil der fremde Herrscher eure Geldbeutel leert. Doch ihr vergießt das Blut des Gehaßten, und schreckt nicht davor zurück, einen Menschen zu töten.

O ihr, Menschen von Israel! Die Zeit der Erlösung ist gekommen. Bereitet euch innerlich mit gutem Willen vor. Seid redlich, gütig und liebt einander!

Ihr Reichen, verachtet nicht! Ihr Händler, betrügt nicht! Ihr Armen, beneidet nicht! Ihr seid alle eines Blutes und eines Gottes. Alle seid ihr berufen zu selbem Ziel. Verschließt euch nicht selbst mit euren Sünden den Himmel, den der Messias euch öffnen wird! Habt ihr bis jetzt geirrt? Nun Schluß damit! Jeder Irrtum falle dahin.

Einfach, gut und leicht ist das Gesetz, das sich auf die Zehn Gebote gründet und nun ins Licht der Liebe getaucht wird. Kommt, ich offenbare euch, wie sie heißen: Liebe, Liebe, Liebe. Die Liebe Gottes zu euch, eure Liebe zu Gott. Liebe zum Nächsten – immer nur Liebe, da Gott die Liebe ist. Kinder des Vaters sind alle, die die Liebe zu leben verstehen. Ich bin für alle da, um allen das Licht Gottes zu geben. Dies ist das Wort des Vaters, das in euch zur Nahrung wird. Kommt und kostet! Reinigt das Blut des Geistes mit dieser Nahrung! Jegliches Gift soll verschwinden, jedes Laster verschwinde!

Eine neue Herrlichkeit erschließt sich euch: die ewige Herrlichkeit. Zu ihr werden die gelangen, die das Gesetz Gottes zum wahren Streben ihres Herzens machen. Beginnt mit der Liebe! Es gibt nichts Größeres. Wenn ihr zu lieben versteht, dann wißt ihr schon alles, und Gott wird euch lieben, und die Liebe Gottes ist euch eine Hilfe gegen alle Versuchungen.

Der Segen Gottes ruhe über allen, deren Herz sich voll guten Willens zu Gott hinwendet!»

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Jesus schweigt. Die Leute tuscheln. Die Versammlung löst sich nach psalmartigen Lobgesängen auf.

Jesus geht zum Vorplatz bei der Pforte. Dort stehen Johannes und Jakobus mit Petrus und Andreas.

Jesus grüßt: «Der Friede sei mit euch!» und fügt hinzu: «Da ist der Mann, der, um gerecht zu sein, nicht urteilen darf, bevor er erkannt hat. Doch er ist gerecht genug, um sein Unrecht einzusehen. Simon, du wolltest mich sehen? Hier bin ich! Und du, Andreas, warum bist du nicht eher gekommen?»

Die beiden Brüder sehen sich verlegen an. Andreas flüstert: «Ich wagte es nicht.»

Petrus, der ganz rot geworden ist, sagt nichts. Doch als er hört, wie Jesus zu seinem Bruder sagt: «Hättest du schlecht gehandelt, wenn du gekommen wärest? Nur das Böse darf man nicht wagen!», unterbricht er ihn, aufrichtig: «Es war meine Schuld. Er wollte mich sofort zu dir mitnehmen. Doch ich habe gesagt... ich habe gesagt: "Ich glaube euch nicht", und wollte nicht gehen. Oh, jetzt habe ich mich eines Besseren besonnen ...»

Jesus lächelt und sagt: «Deiner Aufrichtigkeit wegen sage ich dir, daß ich dich liebe.»

«Aber ich bin nicht gut. Ich bin nicht fähig zu tun, was du in der Synagoge gepredigt hast. Ich bin rachsüchtig, und wenn mich jemand beleidigt, dann... Ich bin geizig und liebe es, Geld zu haben... und bei meinem Handel mit Fischen war ich nicht immer ehrlich. Ich bin unwissend. Um dir folgen und lernen zu können, habe ich zu wenig Zeit. Was soll ich tun? Ich möchte so werden, wie du sagst, aber ...»

«Es ist nicht schwer, Simon. Kennst du ein wenig die Schrift? Ja? Dann denke an den Propheten Michäas. Gott verlangt von dir, was Michäas sagt. Er verlangt nicht von dir, daß du dein Herz marterst, und auch nicht, daß du die heiligsten Gefühle opferst. Vorerst verlange ich dies nicht von dir. Eines Tages, und ohne daß Gott dich darum bittet, wirst du dich selbst Gott opfern. Doch Gott wartet, bis die Sonne und der Tau aus dir, der du ein Grashalm bist, eine kräftige, schöne Palme gemacht haben. Jetzt verlangt er nur von dir: sei gerecht, barmherzig und bemühe dich, Gott zu gehorchen! Bemühe dich, dies alles zu tun, und die Vergangenheit des Simon wird ausgelöscht, und du wirst ein neuer Mensch werden, ein Freund Gottes und seines Christus. Nicht mehr Simon wirst du sein, sondern Kephas, der sichere Fels, auf den ich mich stütze.»

«Das gefällt mir, das begreife ich. Das Gesetz ist so... ist so... ich meine, was die Rabbis aus ihm gemacht haben, kann ich nicht mehr tun... Doch so, wie du es auslegst... Es wird mir gelingen, und du wirst mir helfen. Wohnst du hier? Ich kenne deinen Hauswirt.»

«Noch bin ich hier; doch werde ich nach Jerusalem gehen und dann in

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Palästina predigen. Deswegen bin ich gekommen. Doch ich werde oft hierher zurückkehren.»

«Und ich werde kommen, dich zu hören. Ich möchte dein Jünger sein. Ein wenig Licht wird bestimmt auch in meinen Kopf dringen.»

«Vor allem in das Herz, Simon – das Herz! Doch du, Andreas, hast du nichts zu sagen?»

«Ich höre zu, Meister.»

«Mein Bruder ist scheu.»

«Er wird ein Löwe werden. Der Abend sinkt hernieder. Gott möge euch segnen und euch einen guten Fischfang schenken! Geht nun!»

«Der Friede sei mit dir!»

Sie gehen. Kaum draußen, sagt Petrus: «Was meinte er eigentlich, als er damals sagte, ich würde mit anderen Netzen andere Fische fangen?»

«Warum hast du ihn nicht gefragt? Du wolltest so vieles fragen und dann hast du so wenig gesagt.»

«Ich schämte mich. Er ist so ganz anders als unsere Rabbis.»

«Und nun geht er nach Jerusalem.» Johannes sagt dies voll Verlangen und Sehnsucht nach ihm. «Ich wollte ihm sagen, daß ich mit ihm gehen will... aber ich habe es nicht gewagt.»

«Lauf, Junge, und frage ihn!» sagt Petrus. «Wir sind von ihm weggegangen... ohne ein einziges liebes Wort... Er soll wenigstens wissen, daß wir ihn lieben. Geh, geh, deinem Vater werde ich es sagen.»

«Soll ich gehen, Jakobus?»

«Geh!»

Johannes läuft eilends davon und kehrt ebenso schnell voller Freude zurück: «Ich habe ihn gefragt: "Willst du mich nach Jerusalem mitnehmen?" und er hat geantwortet: "Komm, mein Freund!" Er hat Freund gesagt! Morgen um diese Zeit werde ich hierher kommen. Oh, nach Jerusalem mit ihm! ...»

Die Vision ist zu Ende.

83. «JOHANNES WAR GROSS AUCH IN DER DEMUT»

In Anbetracht dieser Vision sprach Jesus heute morgen zu mir:

«Ich wünsche, daß du und alle diese Haltung von Johannes beachten. Etwas an ihm wird immer übersehen. Ihr bewundert ihn, weil er rein, liebevoll und treu ist. Doch es entgeht euch, daß er groß in seiner Demut ist.

Er, der den ersten Anstoß gab, daß Petrus zu mir kam, verschweigt bescheiden diese Tatsache. Der Apostel des Petrus und daher der erste meiner Apostel war Johannes. Der erste, der mich erkannte, der erste, der zu mir sprach, der erste, der mir folgte, der erste, der von mir predigte. Und

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trotz allem, was sagt er? Er schreibt: "Andreas, der Bruder Simons, war einer der beiden, die die Worte des Johannes (des Täufers) gehört hatten und dann Jesus gefolgt waren. Der erste, mit dem er sich unterhielt, war sein Bruder Simon, zu dem er sagte: 'Wir haben den Messias gefunden', und er führte ihn zu Jesus" (Joh 1,40-42).

Da er ebenso gerecht wie gut ist, weiß Johannes, daß Andreas betrübt ist wegen seines verschlossenen und schüchternen Charakters; Andreas möchte vieles tun, bringt es jedoch nicht fertig; Johannes möchte, daß im Gedächtnis der kommenden Generationen der gute Wille des Andreas anerkannt werde. Johannes möchte, daß Andreas als erster Apostel Christi bei Simon erscheine, ungeachtet dessen, daß seine Schüchternheit und die Abhängigkeit von seinem Bruder ihm Nachteile im Apostolat brachten.

Wer unter denen, die etwas für mich tun, vermag Johannes nachzuahmen, ohne sich selbst als unübertroffenen Apostel zu bezeichnen? Sie bedenken nicht, daß ihr Erfolg von vielen Dingen abhängt, nicht nur von persönlicher Heiligkeit, sondern auch von menschlicher Ausdauer, von Gelegenheiten und gelegentlicher Hilfe von seiten solcher, die weniger ausdauernd und erfolgreich, aber heiliger als sie selbst sind? Wenn euch etwas Gutes gelingt, lobt euch nicht selbst, als ob es euer Verdienst wäre! Gebt Gott die Ehre, dem Herrn über die apostolisch Wirkenden, und bewahrt euch ein klares Auge und ein reines Herz, um zu urteilen und jedem das Lob zu spenden, das er verdient! Ein klares Auge, um die Apostel zu erkennen, die große Opfer bringen und den anderen den ersten Ansporn zur Arbeit geben! Nur Gott sieht sie, die Bescheidenen, die angeblich nichts leisten, jedoch dem Himmel das Feuer entreißen, das die Mutigen beseelt. Aufrichtige Herzen sagen: "Ich arbeite, doch dieser liebt mehr als ich, betet besser als ich, opfert sich, wie ich es nicht kann und tut wie Jesus gesagt hat: 'In deinem eigenen verschlossenen Kämmerlein bete im Verborgenem!' Ich kenne seine demütige und heilige Tugend und möchte sie bekanntmachen und sagen: 'Ich bin das handelnde Werkzeug, er ist die Kraft, die mich anspornt: denn da er eins mit Gott ist, erhalte ich durch seinen Kanal die Kraft von oben'."

Der Segen des Vaters, der herabkommt, als Belohnung des Demütigen, der sich schweigend opfert, um den Aposteln Kraft zu verleihen, wird auch über den Apostel herabkommen, der ehrlich die übernatürliche und lautlose Hilfe anerkennt, die ihm durch den Demütigen zuteil wird, und das Verdienst dieses Demütigen, den die oberflächlichen Menschen nicht bemerken. Lernt alle daraus. Ist Johannes mein Lieblingsjünger? Ja! Hat er nicht Ähnlichkeiten mit mir? Rein, liebevoll, gehorsam und demütig ist er. Ich spiegelte mich in ihm und sah in ihm meine Tugenden. Ich liebte ihn wie ein zweites Ich. Ich sah über ihm den Blick des Vaters, der in ihm einen kleinen Christus sah. Und meine Mutter sagte zu mir: "In ihm habe

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ich einen zweiten Sohn. Mir scheint, dich in ihm zu sehen, dein Abbild in einem Menschen!"

Oh, die "Weisheitsvolle", wie hat sie dich erkannt, mein Lieblingsjünger! Die beiden Himmel eurer reinen Herzen haben sich zu einem Schleier der schützenden Liebe verwoben; und eine einzige Liebe sind sie geworden, noch bevor ich der Mutter den Johannes und dem Johannes die Mutter gegeben habe. Sie liebten sich, da sie erkannten, wie ähnlich sie waren: Kinder des Vaters und Brüder des Sohnes!»

84. JESUS BEGEGNET IM HAUS DES PETRUS ZU BETHSAIDA PHILIPPUS UND NATHANAEL

Johannes klopft an die Tür des Hauses, in dem Jesus zu Gast ist. Eine Frau erscheint, und da sie Johannes erkennt, ruft sie Jesus herbei.

Jesus begrüßt Johannes mit dem Friedensgruß. Dann sagt er:

«Du bist früh gekommen, Johannes.»

«Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß Simon Petrus dich bittet, nach Bethsaida zu kommen. Er hat zu vielen über dich gesprochen. Wir haben diese Nacht nicht gefischt. Wir haben gebetet, so gut wir konnten, und haben auf den Verdienst verzichtet, da der Sabbat noch nicht zu Ende war. Und diesen Morgen sind wir auf die Straßen gegangen und haben von dir gesprochen. Nun möchten dich die Menschen sehen... Komm, Meister!»

«Ich komme. Übrigens muß ich nach Nazareth gehen, bevor ich nach Jerusalem aufbreche.»

«Petrus wird dich mit seinem Boot von Bethsaida nach Tiberias bringen; das geht rascher.»

«Dann gehen wir!»

Jesus nimmt Mantel und Tasche. Doch Johannes nimmt ihm die Tasche ab. Sie verabschieden sich von der Hausbesitzerin und gehen.

Die Vision zeigt mir den Ausgang des Dorfes und den Anfang der Reise nach Bethsaida. Ich höre keine Gespräche, die Vision wird unterbrochen und beginnt erst wieder bei der Ankunft der beiden in Bethsaida. Ich verstehe, daß es diese Stadt ist, denn ich sehe Petrus, Andreas und Jakobus und mit ihnen Frauen, die Jesus beim Eingang eines Hauses erwarten.

«Der Friede sei mit euch! Hier bin ich.»

«Danke, Meister, unsererseits und im Namen derer, die dich erwarten! Es ist zwar nicht Sabbat; doch sprichst du nicht zu allen, die dich hören wollen?»

«Ja, Petrus; ich werde in deinem Haus sprechen.»

Petrus ist selig. «Komm herein! Dies ist meine Frau, und dies hier die

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Mutter des Johannes, diese deren Freundinnen. Jedoch auch andere erwarten dich: Verwandte und Freunde.»

«Sage ihnen, daß ich heute abend abreise, aber vorher mit ihnen sprechen werde.»

Ich vergaß zu sagen, daß sie am Vorabend von Kapharnaum aufgebrochen waren und ich sie am anderen Morgen hier in Bethsaida ankommen sah. Vielleicht verbrachte Jesus die Nacht gewohnheitsgemäß im Gebet.

«Meister, ich bitte dich, bleibe eine Nacht in meinem Haus. Der Weg nach Jerusalem ist weit, auch wenn ich ihn dir abkürze und dich mit dem Boot nach Tiberias bringe. Mein Haus ist arm, doch ehrbar und freundlich. Bleibe bei uns diese Nacht!»

Jesus schaut umher, die anderen sind erwartungsvoll – sein Blick prüft sie. Dann lächelt er und sagt: «Ja.»

Neue Freude für Petrus.

Leute stehen an der Tür und sind neugierig. Ein Mann ruft nach Jakobus und spricht leise mit ihm, indem er mit dem Finger auf Jesus deutet. Jakobus nickt, und der Mann geht, um sich mit den anderen auf der Straße zu unterhalten.

Sie treten ins Haus des Petrus ein, in eine große, rauchige Küche. In einer Ecke Netze, Hanf und Fischkörbe. In der Mitte die Feuerstelle, breit und niedrig, doch ohne Feuer. Durch die beiden gegenüberliegenden Türen sieht man die Straße und den Garten mit den Weinreben und dem Feigenbaum. Jenseits der Straße der himmelblaue See. Der Garten wird von der dunklen Mauer eines Nachbarhauses abgegrenzt.

«Ich biete dir, was ich habe, Meister, und gebe mich, wie ich bin.»

«Besseres und mehr könntest du nicht geben, denn du bietest es mir mit Liebe an.»

Sie geben Jesus nun Wasser zur Erfrischung; dann bieten sie Brot und Oliven an. Er kostet davon ein wenig, um zu zeigen, daß er es annimmt; dann aber lehnt er dankend ab.

Kinder blicken vom Garten und von der Straße herein. Ich weiß jedoch nicht, ob es Kinder des Petrus sind. Ich sehe nur, daß er ihnen warnende Blicke zuwirft, um die Neugierigen zurückzuhalten. Jesus lächelt und sagt: «Laß sie nur gewähren!»

«Meister, möchtest du dich ausruhen? Hier ist mein Raum, dort der des Andreas. Du kannst wählen. Wir werden keinen Lärm machen, während du ruhst.»

«Du hast bestimmt auch eine Terrasse.»

«Ja, und auch eine Laube. Die Reben haben zwar noch wenig Blätter, doch etwas Schatten geben sie schon.»

«Begleite mich dorthin! Ich möchte mich dort ausruhen, nachdenken und beten.»

«Wie du willst. Komm!»

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Vom Gärtchen führt eine Stiege auf das Dach, das eine von einer niederen Mauer umgebene Terrasse bildet. Auch hier Netze und Körbe; doch wieviel Himmelslicht und Bläue vom See! Jesus setzt sich auf einen Hocker mit dem Rücken gegen die Mauer. Petrus hantiert mit einem Segel, das er aufspannt, um die Sonne abzuschirmen. Hier ist Luft und Stille. Jesus freut sich sichtlich darüber.

«Ich gehe, Meister.»

«Geh! Du und Johannes, ihr könnt gehen und sagen, daß ich hier gegen Abend sprechen werde.»

Jesus bleibt allein und betet lange. Außer zwei Tauben, die hin und her zu ihrem Nest fliegen, und einem Gezwitscher von Spatzen ist kein Geräusch oder Lebenszeichen um den betenden Jesus zu hören.

Die Stunden vergehen ruhig und friedlich. Nun erhebt sich Jesus, geht auf der Terrasse umher, schaut auf den See, blickt auf die Kinder, die auf der Straße spielen und ihn nun entdecken, und lächelt ihnen zu. Dann schaut er auf die Straße in Richtung des Platzes, der etwa hundert Meter vom Haus entfernt ist. Er geht hinunter, blickt in die Küche und sagt: «Frau, ich gehe etwas am Ufer spazieren.»

Er verläßt das Haus und geht zum Ufer, zu den spielenden Kindern. Er fragt sie: «Was macht ihr?»

«Wir wollten Krieg spielen; doch der da will nicht; so spielen wir eben Fischfang.»

"Der da" ' der nicht wollte, ist ein zarter Junge mit einem schönen Antlitz. Vielleicht weiß er, zart wie er ist, daß er beim Kriegsspiel nur verlieren würde, und überredet daher zum Frieden.

Doch Jesus schickt sich an, mit diesen Kindern zu sprechen.

«Er hat recht, der Krieg ist eine Strafe Gottes für die Menschen und ein Zeichen dafür, daß der Mensch nicht mehr ein wahres Kind Gottes ist. Als der Allmächtige die Welt erschuf, machte er alles: Die Sonne, das Meer, die Sterne, die Flüsse, die Pflanzen, die Tiere, aber keine Waffen. Er schuf den Menschen und gab ihm Augen, damit er Blicke der Liebe habe, einen Mund, um Worte der Liebe zu sagen, Gehör, um sie zu hören, Hände zum Helfen und Liebhaben, Füße, um rasch dem notleidenden Bruder zu Hilfe eilen zu können, und ein Herz, das fähig ist zu lieben. Er gab dem Menschen den Verstand, die Sprache, die Gefühle, den Geschmack. Doch er gab ihm nicht den Haß. Warum? Weil der Mensch als Geschöpf Gottes Liebe sein sollte, wie Gott die Liebe ist. Wäre der Mensch so geblieben, wie Gott ihn erschaffen hat, dann wäre er in der Liebe geblieben, und die Menschen hätten Krieg und Tod nie kennenlernen müssen.»

«Aber er will nicht Krieg spielen, weil er immer verliert.» (So hatte ich also recht geraten.)

Jesus lächelt und sagt: «Man soll etwas nicht nur deshalb vermeiden,

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weil es uns schadet. Man soll etwas auch nicht tun, wenn es den anderen schadet. Wenn einer sagt, ich will dies nicht tun, weil ich verliere, dann ist er ein Egoist. Das gute Kind Gottes sagt: "Brüder, ich weiß, daß ich gewinnen kann; doch lassen wir es sein, weil es euch schaden könnte." Dieser hätte dann wahrlich das Hauptgebot verstanden. Wer kann es mir nennen?»

Im Chor sagen elf Stimmen auf: «Du sollst den Herrn deinen Gott lieben mit deinem ganzen Sein und den Nächsten wie dich selbst.»

«Ihr seid aber tüchtige Kinder. Geht ihr alle schon zur Schule?»

«Ja ...»

«Wer ist der Tüchtigste?»

«Der da» – es ist der schmächtige Junge, der nicht Krieg spielen will.

«Wie heißt du?»

«Joel.»

«Das ist ein bedeutungsvoller Name. Joel bedeutet: "... der Schwache sage: Ich bin stark!" Doch worin stark? Im Gesetz des wahren Gottes, um unter denen zu sein, die er im Tal des Gerichts als seine Heiligen bezeichnen wird. Das Gericht ist schon nahe. Nicht im Tal des Gerichts, sondern auf dem Berg der Erlösung. Dort, zwischen Sonne und Mond, die durch den Schrecken verdunkelt sind, und den Sternen, die zittern bei den Klagen um Barmherzigkeit, werden die Kinder des Lichtes von den Kindern der Finsternis getrennt. Und ganz Israel wird dann wissen, daß sein Gott gekommen ist. Glücklich, wer ihn erkannt hat! Milch und Honig und reines Wasser werden sein Herz erquicken, und die Dornen werden sich in ewige Rosen verwandeln. Wer unter euch möchte zu denen gehören, die von Gott als heilig befunden werden?»

«Ich! Ich! Ich!»

«So liebt ihr also den Messias?»

«Ja, ja... wir lieben dich. Wir wissen, wer du bist. Simon und Jakobus und unsere Mütter haben es uns gesagt. Nimm uns mit!»

«Ich werde euch in Wahrheit annehmen, wenn ihr brav seid. Aber ja keine bösen Worte mehr, keinen Eigensinn, keine Widerrede, keine unartigen Antworten den Eltern gegenüber! Gebet, Studium, Arbeit, Gehorsam; dann werde ich euch lieben und mit euch sein.»

Die Kinder bilden um Jesus herum einen Kreis. Es sieht aus wie ein vielfarbiger Kranz um einen dunkelblauen Blütenkelch.

Ein älterer Mann ist neugierig nähergekommen. Jesus wendet sich gerade um, ein Kind zu streicheln, das ihn am Gewand gezupft hat, als er den Mann sieht. Er blickt ihn eindringlich an. Jener grüßt errötend, sagt aber nichts.

«Komm und folge mir!»

«Ja, Meister...»

Jesus segnet die Kinder und kehrt an der Seite des Philippus (er nennt ihn beim Namen) ins Haus zurück. Sie setzen sich im Garten.

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«Willst du mein Jünger sein?»

«Ich möchte schon, wage aber nicht zu hoffen, es zu werden...»

«Ich habe dich gerufen!»

«Hier bin ich!»

«Wußtest du von mir?»

«Andreas hat mir von dir erzählt und gesagt: "Der, den du erhofft hast, ist gekommen", denn Andreas wußte, wie sehr ich auf den Messias warte.»

«Dein Warten ist belohnt. Er steht vor dir.»

«Mein Herr und mein Gott!»

«Du bist ein Israelit mit redlicher Gesinnung. Daher zeige ich mich dir. Ein anderer deiner Freunde wartet – auch er ist ein aufrichtiger Israelit. Geh und sage ihm: "Wir haben Jesus von Nazareth, den Sohn des Joseph aus dem Geschlecht Davids, gefunden, ihn, von dem Moses und die Propheten gesprochen haben." Geh nun!»

Jesus bleibt allein, bis Philippus mit Nathanael-Bartholomäus zurückkommt.

«Sieh, ein wahrer Israelit, an dem kein Falsch ist! Der Friede sei mit dir, Nathanael!»

«Woher kennst du mich?»

«Bevor Philippus dich rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen.»

«Meister, du bist der Sohn Gottes, der König Israels!»

«Glaubst du deswegen, weil ich sagte, daß ich dich gesehen habe, während du unter dem Feigenbaum nachdachtest? Du wirst noch größere Dinge erleben als dieses.

Wahrlich, ich sage euch, die Himmel werden sich öffnen, und durch euren Glauben werdet ihr die Engel niedersteigen sehen, um sich über dem Menschensohn niederzulassen: über mir, der ich zu dir spreche.»

«Meister, ich bin nicht würdig, so viel Gunst zu erfahren!»

«Glaube an mich, und du wirst des Himmels würdig sein! Willst du glauben?»

«Ich will, Meister!»

Die Vision wird unterbrochen... und beginnt wieder auf der Terrasse, auf welcher sich viele Menschen versammelt haben. Noch mehr Menschen befinden sich im Garten des Petrus.

Jesus spricht: «Friede den Menschen, die guten Willens sind! Friede und Segen ihren Häusern, ihren Frauen, ihren Kindern! Gottes Gnade und sein Licht sei mit ihnen und in ihren Herzen!

Ihr habt danach verlangt, mich zu hören. Das Wort spricht. Es spricht zu den Ehrbaren mit Freude, zu den Ehrlosen mit Schmerz, zu den Heiligen und Reinen mit Liebe und zu den Sündern mit Erbarmen. Es entzieht sich euch nicht. Es ist gekommen, um sich wie ein Strom auszubreiten, um

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die nach Wasser lechzende Erde zu tränken und sie zu erfrischen und zu nähren.

Ihr wollt wissen, was notwendig ist, um Jünger des Wortes Gottes zu werden, des Messias, der kommt, um Israel zu vereinigen, damit es die Worte des heiligen und unveränderlichen Dekalogs wieder höre und sich in ihnen reinige, um rein zu sein – soweit der Mensch dazu fähig ist – für die Stunde der Erlösung und des Reiches Gottes?

Ich sage den Tauben, den Blinden, den Stummen, den Aussätzigen, den Lahmen, den Toten: "Steht auf, seid geheilt! Erhebt euch und geht! Es sollen sich in euch die Ströme des Lichtes, der Töne und des Wortes öffnen, damit ihr sehen, hören und von mir sprechen könnt." Doch mehr als an eure Leiber wende ich mich an eure Seelen. Ihr Menschen guten Willens, kommt ohne Furcht zu mir! Wenn euer Geist schwach ist, ich werde ihn kräftigen. Wer krank ist, den werde ich heilen. Wer tot ist, den werde ich auferwecken. Ich verlange nur euren guten Willen!

Ist es schwer, was ich von euch verlange? Nein. Ich belaste euch nicht mit Hunderten von Gesetzen, wie die Rabbis es tun. Ich sage euch: folgt den Zehn Geboten! Sie sind das unveränderliche Gesetz. Viele Jahrhunderte sind vergangen seit der Stunde, da es euch schön, rein und frisch gegeben wurde; wie eine frisch erblühte Rose. Es ist einfach, klar und leicht zu befolgen. Im Lauf der Jahrhunderte haben Schuld und Bosheit es kompliziert gemacht mit Gesetzen und Gesetzlein, mit Belastungen und Verkürzungen, mit zu vielen schwerfälligen Klauseln. Ich bringe euch das Gesetz zurück, so wie der Allerhöchste es euch gegeben hat. Doch ich bitte euch um eurer selbst willen: nehmt es aufrichtigen Herzens an, wie die echten Israeliten von damals!

Ihr murrt mehr in euren Herzen als mit den Lippen darüber, daß die Schuld nicht so sehr bei euch Kleinen als bei den Großen liegt. Ich weiß es. Im Deuteronomium wird alles gesagt, was zu tun ist, mehr ist nicht nötig. Doch verurteilt nicht jene, die alles auf die anderen beziehen, nicht aber selbst tun. Tut das, was Gott sagt! Vor allem, bemüht euch, vollkommen zu sein in den beiden Hauptgeboten! Wenn ihr Gott mit all euren Kräften liebt, dann könnt ihr nicht sündigen; denn die Sünde ist ein Gott zugefügter Schmerz. Wer liebt, will keinen Schmerz bereiten. Wenn ihr den Nächsten liebt wie euch selbst, dann seid ihr gehorsame Kinder eurer Eltern, treue Ehegatten, ehrbare Händler, friedfertig gegen Feinde, aufrichtig beim Reden, ohne Neid gegen den Wohlhabenden und ohne Verlangen nach dem Weib eines anderen. Dann wollt ihr den anderen nicht antun, was ihr selbst nicht wollt, daß es euch angetan werde. Ihr werdet nicht stehlen, nicht morden, nicht verleumden und werdet nicht wie ein Kuckuck in das Nest eines anderen gehen. Doch ich sage euch: Bemüht euch um Vollkommenheit in der Beachtung der beiden Gebote der Liebe und liebt auch eure Feinde!

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Oh, wie wird euch der Allmächtige lieben, der die Menschen so sehr liebt, die ihm durch die Erbsünde und die persönlichen Sünden zu Feinden geworden sind! Er sendet ihnen den Erlöser, das Lamm, das sein eigener Sohn ist; mich, der zu euch spricht; den verheißenenen Messias, der euch von jeder Schuld erlösen will, wenn ihr so zu lieben versteht wie er. Liebt also, und die Liebe wird die Leiter sein, auf der ihr gleich Engeln bis zum Himmel emporsteigen könnt, wie Jakob dies gesehen hat; und ihr werdet den Vater zu jedem von euch sagen hören:

"Ich werde dich beschützen, wohin du auch gehst, und dich in dieses Land zurückführen: in den Himmel, das ewige Reich."

Der Friede sei mit euch!»

Die Leute stimmen bewegt zu und entfernen sich langsam. Petrus, Andreas, Jakobus, Johannes, Philippus und Bartholomäus bleiben.

«Willst du morgen abreisen, Meister?»

«Morgen beim Morgengrauen, wenn es dir recht ist.»

«Ich bedaure, daß du gehst. Doch die Zeit ist mir recht, sogar willkommen.»

«Wirst du fischen?»

«Heute nacht beim Mondschein.»

«Du tatest gut daran, letzte Nacht nicht zu fischen. Der Sabbat war noch nicht zu Ende. Nehemias verlangte in seiner Reform, daß in Juda der Sabbat respektiert werde. Zu viele Menschen dreschen am Sabbat, tragen Lasten, befördern Wein und Obst, kaufen und verkaufen Fische und Lämmer. Sechs Tage habt ihr für die Arbeit, der Sabbat gehört dem Herrn. Nur eines ist auch am Sabbat erlaubt: gut zum Nächsten zu sein! Doch es darf dabei absolut kein Gewinn erzielt werden. Wer um des Gewinnes willen den Sabbat schändet, verdient die Strafe Gottes. Ist das nützlich? Er wird den Gewinn in den nächsten sechs Tagen wieder verlieren. Überdies hat er unnütz seinen Körper ermüdet und ihm nicht die Ruhe gewährt, welche die Weisheit vorgesehen hatte; dazu kommt noch, daß er im Geist zornig darüber ist, unnütz gearbeitet zu haben. Der Tag des Herrn muß verbracht werden im Gebet, in der Liebe und in Vereinigung mit Gott! Man muß in allem treu sein!»

«Aber... die Schriftgelehrten und Pharisäer, die so streng mit uns sind... sie arbeiten am Sabbat nicht und geben nicht einmal einem Hungernden ein Stück Brot, um sich nicht zu ermüden, wenn sie es ihm reichen... doch Wucher treiben sie auch am Sabbat. Darf man dies denn auch am Sabbat, da es sich um keine materielle Arbeit handelt?»

«Nein, niemals! Weder am Sabbat noch an einem anderen Tag. Wer Wucher treibt, ist unredlich und grausam.»

«Die Schriftgelehrten und Pharisäer sind also ...»

«Simon, nicht richten... du sollst es nicht tun!»

«Aber ich habe Augen, um zu sehen.»

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«Gibt es nur das Böse zu sehen, Simon?»

«Nein, Meister.»

«Warum blickst du nur nach dem Bösen?»

«Du hast recht, Meister.» «Ich werde also beim Morgengrauen mit Johannes abreisen.» «Meister!»«Was ist, Simon?»«Meister, willst du wirklich nach Jerusalem gehen?» «Du weißt es.» «Auch ich werde an Ostern hingehen, mit Andreas und Jakobus.»

«Und? ... Willst du damit sagen, daß du mit mir kommen willst? Und der Fischfang? Und der Verdienst? Du sagtest doch zu mir, daß du es liebst, Geld zu verdienen; und ich werde lange abwesend sein. Zuerst gehe ich zur Mutter und auf dem Rückweg ebenfalls. Ich werde mich dort aufhalten, um zu predigen. Was willst du tun?»

Petrus ist unschlüssig, er kämpft mit sich. Dann entscheidet er: «Was mich betrifft, ich komme! Ich ziehe dich dem Geld vor.»

«Auch ich komme.»

«Auch ich.»

«Auch wir, nicht wahr, Philippus?»«So kommt also; ihr werdet mir helfen.»

«Oh!»... Petrus ist begeistert von der Idee, Jesus eine Hilfe zu sein. «Aber wie werden wir dir helfen können?»

«Ich werde es euch sagen; ihr habt nur zu tun, was ich euch sagen werde, um gut zu handeln. Der Gehorsame macht es immer richtig. Nun wollen wir beten, dann geht ihr alle nach Hause.»

«Was wirst du tun, Meister?»

«Ich werde nochmals beten. Ich bin das Licht der Welt, aber auch der Menschensohn. Ich muß also immer im Licht bleiben, um der Mensch sein zu können, welcher die Menschen erlöst. Laßt uns beten!»

Jesus betet einen Psalm, den, der so beginnt: «Wer im Schutz des Allerhöchsten wohnt, lebt im Schutz Gottes, der im Himmel ist. Er sagt zum Herrn: "Du bist mein Helfer und meine Zuflucht. Du bist mein Gott, in dir liegt meine Hoffnung. Er befreit mich aus der Schlinge der Jäger..."»

Die Vision endet damit.

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85. JUDAS THADDÄUS KOMMT NACH BETHSAIDA, UM JESUS ZUR HOCHZEIT VON KANA EINZULADEN

Ich sehe die Küche des Hauses Petri. Außer Jesus und Petrus sind noch dessen Frau, Jakobus und Johannes anwesend. Es scheint, daß sie eben das Abendbrot beendet haben und sich nun unterhalten. Jesus zeigt Interesse am Fischfang.

Da tritt Andreas ein und sagt: «Meister, hier ist der Mann, bei dem du wohnst; er hat einen bei sich, der sagt, er sei dein Vetter.»

Jesus steht auf, geht zur Tür und sagt: «Kommt herein!» Beim Schein des Öllämpchens und der Flamme des Herdfeuers erkennt er Judas Thaddäus und ruft freudig aus: «Du, Judas!»

«Ja, ich, Jesus.» Sie umarmen sich.

Judas Thaddäus ist ein schöner Mann im besten Alter. Hochgewachsen – wenn auch nicht gerade wie Jesus – gut proportioniert in seiner Gestalt, mit braunem Haar, wie der heilige Joseph in seiner Jugend, olivgrüner Haut, und Augen, die etwas mit den Augen Jesu gemein haben, da sie blau sind. Er hat einen viereckig geschnittenen, dunklen Bart; die offenen Haare sind nicht so lockig wie die von Jesus.

«Ich komme von Kapharnaum. Ich bin in einem Boot dorthin gefahren und dann hierhergekommen, um rascher dazusein. Es schickt mich deine Mutter. Sie läßt dir sagen: "Susanna heiratet morgen. Mein Sohn, ich bitte dich, komm zur Hochzeit!" Maria wird auch dort sein mit meiner Mutter und den Brüdern. Alle Verwandten sind eingeladen, du allein würdest fehlen. So bitten dich die Verwandten, die Brautleute zufriedenzustellen.»

Jesus neigt sich etwas, hebt leicht seine Arme und sagt: «Der Wunsch meiner Mutter ist für mich Gesetz. Doch auch Susannas und der Verwandten wegen will ich kommen. Nur... es tut mir leid für euch...» er betrachtet dabei Petrus und die anderen. «Es sind meine Freunde», erklärt Jesus dem Vetter und stellt sie ihm, bei Petrus beginnend, vor. Zuletzt sagt er: «Dies ist Johannes», und spricht dies auf besondere Art aus, so daß Judas Thaddäus aufmerksam wird und Johannes errötet. Jesus beendet das Vorstellen und sagt: «Freunde, dies ist Judas, der Sohn des Alphäus, meines Bruder-Vetters nach der üblichen Ausdrucksweise der Welt; denn er ist der Sohn des Bruders des Gemahls meiner Mutter. Ein guter Arbeitskamerad von mir und ein Freund fürs Leben.»

«Mein Haus steht dir offen, wie dem Meister. Setze dich!» Dann wendet sich Petrus an Jesus: «Und nun? So können wir nicht mehr mit dir nach Jerusalem gehen?»

«Natürlich werdet ihr kommen. Ich werde gleich nach der Hochzeit aufbrechen und mich nicht mehr in Nazareth aufhalten.»

«So ist es gut, Jesus, denn deine Mutter ist für einige Tage bei mir zu

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Gast; so ist es abgemacht, und sie wird auch nach der Hochzeit wieder zu uns zurückkehren.» Das sagt der Mann aus Kapharnaum.

«Einverstanden! Mit dem Boot des Judas fahre ich nach Tiberias, von dort aus werde ich nach Kana gehen, und mit derselben Barke kehre ich dann mit der Mutter und dir nach Kapharnaum zurück. Am Tag nach dem kommenden Sabbat wirst du, Simon, kommen, wenn du noch willst, und wir werden zum Osterfest nach Jerusalem ziehen.»

«Natürlich will ich! Ich werde sogar schon am Sabbat kommen, um dich in der Synagoge reden zu hören.»

«Lehrst du schon, Jesus?» fragt Thaddäus.

«Ja, Vetter.»

«Und was für Worte! Solche hört man nicht von den Lippen der anderen.»

Judas seufzt. Mit dem Kopf auf die Hand gestützt und dem Ellbogen auf dem Knie, schaut er Jesus an und seufzt. Er scheint sprechen zu wollen, wagt es aber nicht.

Jesus fragt ihn: «Was hast du, Judas? Warum betrachtest du mich so traurig?»

«Es ist nichts.»

«Nein, das stimmt nicht. Bin ich nicht mehr der Jesus, den du liebst und vor dem du kein Geheimnis hast?»

«Natürlich bist du es. Und wie du mir fehlst, du Meister deines älteren Vetters!»

«Also sprich!»

«Ich möchte dir sagen... Jesus... sei vorsichtig... du hast eine Mutter, die außer dir niemand hat. Du willst ein Lehrer sein, anders als die anderen, und du weißt besser als ich, daß dir die allmächtigen Kasten nichts erlauben werden, was von ihren festgelegten Gebräuchen abweicht. Ich kenne deine Art zu denken, sie ist heilig; doch die Welt ist nicht heilig... und sie unterdrückt die Heiligen. Jesus, du kennst das Schicksal deines Vetters, des Täufers... Er ist im Gefängnis, und wenn er noch nicht getötet worden ist, dann nur, weil dieser ehebrecherische Vierfürst Angst vor dem Volk und vor dem Zorn Gottes hat. Mißtrauisch und abergläubisch, grausam und sittenlos ist er. Was wirst du tun? Welchem Schicksal willst du entgegengehen?»

«Judas, du fragst mich das, obgleich du meine Gedanken gut kennst? Sprichst du aus dir selbst? Nein, leugne nicht! Sie haben dich zu mir gesandt – sicher nicht meine Mutter – damit du mir dies sagst ...»

Judas senkt das Haupt und schweigt.

«Sprich, Vetter!»

«Mein Vater... und mit ihm Joseph und die Seinen... weißt du ... deinetwegen und aus Liebe zu dir und Maria... sehen sie es nicht gern, was du zu tun dir vorgenommen hast und... und möchten, daß du an deine Mutter denkst.»

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«Und was denkst du?»

«Ich... ich ...»

«Du bist hin- und hergeworfen, ob du den Stimmen aus der Höhe oder jenen der Erde – ich sage nicht der Tiefe – Gehör schenken sollst. Auch Jakobus ist es, mehr noch als du. Doch ich sage euch, daß über der Erde der Himmel ist, und über den Interessen der Welt die Sache Gottes steht. Ihr müßt eure Denkart ändern; wenn euch dies gelingt, werdet ihr vollkommen sein!»

«Aber deine Mutter?!»

«Judas, niemand als sie hätte das Recht, mich an meine Sohnespflichten zu erinnern, so wie sie von der Welt gesehen werden... das heißt, für sie zu arbeiten, um sie in ihren materiellen Bedürfnissen zu unterstützen, in ihrer Nähe zu sein und für sie zu sorgen. Sie jedoch verlangt dies alles nicht von mir. Seit sie mich bekam, wußte sie, daß sie mich verlieren müsse, um mich in einem weit höheren Raum als dem der Familie wiederzufinden; von Anfang an war sie darauf vorbereitet.

Ihrer Verwandtschaft ist diese absolute Hingabe an Gott nicht neu. Ihre Mutter hat sie bereits im Tempel aufgeopfert, bevor sie dem Licht entgegenlächelte. Sie selbst hat es mir unzählige Male gesagt, als sie mich an ihrem Herzen hielt in den langen Winterstunden oder in den sternklaren Sommernächten. Sie hat mir von ihrer heiligen Kindheit erzählt – und sie selbst hat sich schon im ersten Morgenschein ihres Lebens Gott geschenkt, und mehr noch nach meiner Geburt, um dort zu sein, wo ich bin, auf dem Weg der Sendung, die mir Gott zugewiesen hat.

Wenn die Stunde kommt, werdet ihr alle mich verlassen, nicht nur für einige Minuten, denn die Feigheit wird euch alle überfallen und ihr werdet denken, daß es für eure eigene Sicherheit besser wäre, wenn ihr mich nie kennengelernt hättet. Doch Maria hat verstanden und sie weiß, daß sie immer mit mir sein wird. Ihr werdet durch sie wieder zu mir zurückkehren. Mit der Kraft ihres Glaubens und ihrem liebenden Vertrauen wird sie euch mit sich vereinen und somit mit mir; denn ich bin in meiner Mutter, wie sie in mir, und wir zusammen sind in Gott.

Ich wünsche, daß ihr dies versteht, ihr alle, Verwandte der irdischen Ordnung nach, Freunde und Kinder vom übernatürlichen Standpunkt aus. Du und auch die anderen, ihr wißt nicht, wer meine Mutter ist. Wenn ihr es wüßtet, dann würdet ihr in euren Herzen nicht urteilen, daß ich ihr nicht untertan bin; ihr würdet verstehen und sie verehren als die innigste Freundin Gottes; als die Mächtigste, die alles vermag im Herzen des Ewigen Vaters und des Sohnes ihres Herzens. Ich werde bestimmt nach Kana gehen. Ich will ihr Freude machen. Ihr werdet es nach dieser Stunde besser begreifen.» Jesu Stimme hat einen eindrücklichen, überzeugenden Ton.

Judas betrachtet ihn aufmerksam, denkt nach und sagt dann: «Natürlich komme ich mit dir; zusammen mit diesen da, wenn du mich haben

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willst... Denn ich spüre, daß du recht hast. Verzeih meiner Blindheit und der meiner Brüder! Du bist so viel heiliger als wir.»

«Ich bin nicht denen böse, die mich nicht kennen; nicht einmal denen, die mich hassen. Doch leide ich darunter, wegen des Unheils, das sie sich selbst zufügen. Was hast du in dieser Tasche?»

«Das Gewand, das deine Mutter dir schickt. Es wird morgen ein großes Fest stattfinden. Sie meinte, ihr Jesus hätte es nötig, um unter den anderen Eingeladenen nicht aufzufallen. Sie hat ununterbrochen gearbeitet, alle Tage vom ersten bis zum letzten Tageslicht, um dir das Gewand anzufertigen. Der Mantel ist nicht fertig geworden. Es fehlen ihm noch die Fransen, und sie ist traurig darüber.»

«Es ist nicht nötig. Ich werde mit diesem gehen und den neuen für Jerusalem aufbewahren; denn der Tempel steht über einer Hochzeitsfeier.»

«Sie wird glücklich darüber sein.»

«Wenn ihr beim Morgengrauen auf dem Weg nach Kana sein wollt, dann müßt ihr gleich aufbrechen. Der Mond steigt auf, und es wird gute Überfahrt geben», sagt Petrus.

«Gehen wir also! Komm, Johannes, ich nehme dich mit mir! Simon Petrus, Jakobus, Andreas lebt wohl! Am Abend des kommenden Sabbat erwarte ich euch in Kapharnaum. Leb wohl, Frau! Der Friede sei mit dir und mit deinem Haus!»

Jesus verläßt mit Judas und Johannes das Haus. Petrus begleitet sie bis zum Ufer und hilft bei der Abfahrt des Bootes.

Die Vision ist zu Ende.

86. JESUS AN DER HOCHZEIT VON KANA

Ich sehe ein Haus, ein typisch orientalisches Haus: ein weißer Würfel, mehr breit als hoch, mit schmalen Öffnungen. Die Terrasse, die zugleich das Hausdach bildet, ist von einem Mäuerchen umgeben, das ungefähr einen Meter hoch ist und von einer Weinlaube beschattet wird, die sich bis dort hinaufwindet und ihre Zweige über eine Hälfte der sonnenbeschienenen Terrasse ausbreitet. Eine Außentreppe führt längs der Fassade zu einer Tür. Darunter sind ebenerdig niedere, schmale Türen – nicht mehr als zwei auf jeder Seite – die in dunkle, niedere Räume führen. Das Haus steht auf einer Art Rasen, in dessen Mitte sich ein Brunnen befindet. Es wachsen hier Feigen- und Apfelbäume. Das Haus steht zur Straße, liegt jedoch nicht direkt an der Straße. Ein kleiner Weg führt durch das Gras zur Straße, die allem Anschein nach eine Hauptstraße ist.

Man kann sagen, daß sich das Haus am Rand von Kana befindet: ein

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Haus von Bauern, die inmitten ihres kleinen Guts wohnen. Hinter dem Haus breiten sich die grünen Felder aus, die sich in einem friedlichen Horizont verlieren. Die Sonne strahlt, und der klare Himmel ist tiefblau. Anfangs sehe ich nichts anderes. Das Haus scheint verlassen...

Dann aber bemerke ich zwei Frauen mit langen Kleidern und einem Mantel, der zugleich als Schleier dient. Sie kommen von der Straße auf dem Fußweg daher. Eine ist älter, etwa fünfzigjährig, und dunkel gekleidet: ein meliertes Braun naturbelassener Wolle. Die andere ist heller gekleidet: das Kleid ist hellgelb, der Mantel blau, und sie sieht wie eine Fünfunddreißigjährige aus. Sie ist sehr schön, schlank und hat eine würdevolle Haltung, obgleich sie sehr höflich und demütig ist. Als sie näherkommt, bemerke ich die bleiche Gesichtsfarbe, die blauen Augen und die blonden Haare, die unter dem Schleier an der Stirn sichtbar sind. In ihr erkenne ich die allerheiligste Mutter. Wer die andere, die dunkel gekleidet und älter ist, weiß ich nicht. 1)

Die Frauen sprechen miteinander, und die Muttergottes lächelt. Als sie beim Haus angelangt sind, gibt jemand, der sicher zur Wache aufgestellt worden ist, ein Zeichen, und den beiden kommen festlich gekleidete Männer und Frauen entgegen, die sie herzlich begrüßen, besonders die allerheiligste Jungfrau.

Es scheint Morgen zu sein, ich würde sagen gegen 9 Uhr oder früher; denn das Land hat noch das frische Aussehen der ersten Tagesstunden, mit dem Tau, der das Gras in der noch staubfreien Luft grüner erscheinen läßt. Ich vermute, daß es Frühling ist; denn die Wiesen sind noch nicht ausgetrocknet wie im Sommer, und auf den Feldern ist das Getreide noch sehr jung, grün und ohne Ähren. Die Blätter des Feigen- und des Apfelbaumes sind noch sehr zart, wie auch die des Weinstockes. Doch ich sehe keine Blüten, weder am Apfelbaum noch am Feigenbaum, noch am Weinstock. Wahrscheinlich hat der Apfelbaum erst vor kurzem geblüht, und die Früchte sind noch winzig klein.

Maria wird herzlich empfangen und dann von einem älteren Mann, der anscheinend der Hausherr ist, begleitet. Sie gehen die äußere Treppe hinauf und treten in einen großen Saal, der das ganze Obergeschoß oder wenigstens einen großen Teil davon einnimmt.

Ich habe den Eindruck, daß die ebenerdigen Räume bewohnt und daß dort auch Vorratskammer und Keller untergebracht sind, während das Obergeschoß für besondere Anlässe reserviert ist, wie außerordentliche Feste, oder auch für Arbeiten, die viel Platz beanspruchen; vielleicht wird

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1) Spätere Eintragung: Die ältere ist die Maria des Alphäus. Das Gewand aus braunbeiger, natürlicher Wolle hüllt sie ganz ein. Die Mutter, die nicht mehr als fünfunddreißig Jahre zu zählen scheint, muß natürlich älter sein. Doch die Jahre lassen ihre würdige, zarte und demütige Schönheit unberührt.

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es auch als Lebensmittelspeicher benützt. Bei Festen wird es dann ausgeräumt und schön geschmückt, wie z. B. heute, mit grünen Zweigen, Teppichen und gedeckten Tischen.

In der Mitte des Saales steht eine reichhaltige Tafel, auf der bereits Krüge und Schalen voller Früchte stehen. An der rechten Wand – von mir aus gesehen – befindet sich ein anderer, weniger reichhaltiger Tisch. An der linken Seite steht eine lange Anrichte mit Tellern voller Käse und anderen Speisen, die wie mit Honig bestrichene Kuchen aussehen. Außerdem sehe ich vielerlei Süßwaren. Auf der Erde, immer an dieser Wand, stehen weitere Krüge und sechs sehr große Gefäße, die die Form von Kupferkannen haben, jedoch aus Ton sind.

Maria hört geduldig zu, was ihr von allen Seiten gesagt wird; dann legt sie ihren Mantel ab und hilft bei den Vorbereitungen an der Tafel mit. Ich sehe sie kommen und gehen, die Sitzbetten herrichten, die Blumengirlanden ordnen, die Fruchtschalen netter schmücken und bei den Öllampen nachprüfen, ob auch Öl darin ist. Sie lächelt, spricht sehr wenig und wenn sie etwas sagt, so tut sie es mit leiser Stimme. Sie hört jedoch aufmerksam zu und zeigt sich sehr geduldig dabei.

Ein starker Lärm von Musikinstrumenten (wahrlich nicht gerade harmonische Klänge) dringt von der Straße herauf. Alle, außer Maria, eilen hinaus. Es tritt nun die festlich geschmückte und sehr glücklich aussehende Braut ein, umringt von den Verwandten und Freunden, die den Bräutigam begleitet haben, der als erster der Braut entgegengeeilt ist.

Hier wechselt die Vision. Ich sehe anstelle des Hauses ein Dorf. Ich weiß nicht, ob es Kana ist oder ob es sich um ein anderes Dorf in der Umgebung handelt. Ich sehe Jesus mit Johannes und einem anderen Mann, der Judas Thaddäus zu sein scheint; doch könnte ich mich täuschen. Bei Johannes bin ich mir sicher. Jesus ist weiß gekleidet und trägt einen blauen Mantel. Als man die Musik hört, wendet sich der Begleiter Jesu an einen Dorfbewohner, um etwas zu fragen, und teilt dann Jesus die Antwort mit. «So laßt uns gehen und meiner Mutter Freude bereiten!», sagt Jesus und lächelt. Und er geht mit den beiden Gefährten durch die Felder (um den Weg abzukürzen) auf das Haus zu.

Ich vergaß zu sagen, daß ich den Eindruck hatte, daß Maria verwandt oder befreundet mit den Eltern des Bräutigams sei; denn sie sind sehr vertraulich zueinander.

Als Jesus nun ankommt, meldet es der zur Wache Aufgestellte den anderen. Der Hausherr geht mit seinem Sohn (dem Bräutigam) und Maria hinunter, um Jesus ehrerbietig zu begrüßen. Auch die anderen tun es ehrfurchtsvoll. Doch was mir ganz besonders gefällt, ist die ehrfürchtige und liebevolle Begrüßung zwischen Maria und Jesus. Keine Überschwenglichkeit, aber welch ein Blick begleitet den Gruß Jesu an sie: «Der Friede sei mit dir!», und welch ein Lächeln, das hundert Umarmungen und hundert

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Küsse wert ist. Der Kuß zittert auf den Lippen Marias, doch er wird nicht gegeben. Sie legt nur ihre weiße, kleine Hand auf die Schultern Jesu und berührt zart eine Locke seiner langen Haare... eine Liebkosung voll zarter Scheu...

Jesus geht an der Seite der Mutter nach oben, die Jünger und die Gastgeber folgen. Sie gehen in den Saal, wo die Frauen damit beschäftigt sind, Sitzgelegenheiten und Geschirr für die drei Gäste herbeizuschaffen, die nicht erwartet waren, wie mir scheint. Man hat den Eindruck, daß das Kommen Jesu ungewiß, das seiner Gefährten aber absolut unvorhergesehen war.

Ich höre die schöne, männliche und warme Stimme des Meisters beim Betreten des Saales sagen: «Der Friede sei in diesem Haus, und der Segen Gottes über euch allen!» Ein Gruß an alle, voller Erhabenheit.

Jesus überragt durch sein Aussehen und seine Gestalt alle anderen. Er ist zwar zufälliger Gast; dennoch scheint er der König des Festmahls zu sein, mehr als der Bräutigam oder der Hausherr. So sehr er auch demütig und entgegenkommend ist, er übertrifft alle.

Jesus nimmt an der mittleren Tafel Platz zusammen mit dem Bräutigam, der Braut, den Eltern des Bräutigams und den einflußreicheren Freunden. Die Jünger werden aus Rücksicht auf den Meister an denselben Tisch gesetzt.

Jesus sitzt mit dem Rücken zu der Wand, an welcher die Krüge aufgestellt sind und die Anrichte sich befindet. Ich sehe sie jedoch nicht; auch nicht die Geschäftigkeit des Tafelmeisters, der mit den Platten voller Braten beschäftigt ist, die durch eine kleine Tür bei der Anrichte gereicht werden.

Mir fällt auf, daß außer den Müttern der Brautleute und Maria keine andere Frau an diesem Tisch Platz genommen hat. Alle Frauen sitzen an dem anderen Tisch, bei der Wand, und machen Lärm für hundert. Sie werden erst nach den Brautleuten und den vornehmen Gästen bedient. Jesus sitzt neben dem Hausherrn, Maria gegenüber, die neben der Braut sitzt.

Die Mahlzeit beginnt. Ich kann euch versichern, der Appetit und auch der Durst fehlen nicht. Die einzigen, die wenig essen und trinken, sind Jesus und Maria; letztere spricht auch sehr wenig, Jesus etwas mehr. Wenn er auch wortkarg ist, so ist er doch nicht abweisend oder stolz. Er ist ein höflicher Mensch, doch kein Schmeichler. Auf Fragen antwortet er; wenn mit ihm geredet wird, zeigt er Interesse und gibt seine Meinung kund; doch dann zieht er sich in sich selbst zurück, wie jemand, der gewohnt ist, zu meditieren. Er lächelt, doch lacht er nie. Und wenn er einen etwas gewagten Scherz hört, dann tut er, als hätte er ihn nicht gehört. Maria "nährt" sich vom Anblick ihres Jesus, und ebenso Johannes, der am Ende der Tafel sitzt und an den Lippen seines Meisters hängt.

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Maria bemerkt, daß die Diener mit dem Tafelmeister tuscheln und daß letzterer sehr verlegen ist. Sie erfaßt die peinliche Situation. «Sohn», sagt sie leise und sucht auf diese Weise die Aufmerksamkeit Jesu auf sich zu lenken. «Sohn, sie haben keinen Wein mehr.»

«Frau, was habe ich nunmehr mit dir zu schaffen?» Jesus lächelt Maria bei diesen Worten noch liebevoller, und Maria lächelt zurück, wie zwei, die eine Wahrheit kennen, die ihr freudvolles Geheimnis ist und die sonst niemand kennt.

Maria sagt zu den Dienern: «Tut, was er euch sagen wird!» In den Augen des Sohnes hat sie die Zusage gelesen, doch verschleiert – eine große Lehre für alle "Berufenen".

Jesus sagt zu den Dienern: «Füllt die Krüge mit Wasser!»

Ich sehe, wie die Diener die Krüge mit Wasser aus dem Brunnen füllen. Ich höre das Rasseln der Kette, mittels der die triefenden Wassereimer heraufgezogen und dann wieder hinuntergelassen werden. Ich sehe, wie der Tafelmeister ein wenig von dieser Flüssigkeit schöpft, sie mit erstaunten Augen betrachtet, dann mit noch größerer Verwunderung davon kostet und schließlich mit dem Hausherrn und dem Bräutigam (die in der Nähe sind) spricht.

Maria schaut den Sohn noch einmal lächelnd an; dann fängt sie ein Lächeln von ihm auf, neigt das Haupt und errötet leicht. Sie ist glücklich.

Ein Raunen geht durch den Saal. Die Köpfe wenden sich alle Jesus und Maria zu. Einige stehen auf, um besser sehen zu können; andere begeben sich zu den Krügen. Zuerst herrscht ein großes Schweigen, dann ertönt ein Chor des Lobes für Jesus.

Er erhebt sich und sagt nur: «Bedankt euch bei Maria!» und entzieht sich hierauf dem Festmahl. Die Jünger folgen ihm. Auf der Schwelle wiederholt er: «Friede sei diesem Haus und der Segen Gottes über euch!» Und fügt hinzu: «Mutter, leb wohl!»

Die Vision ist zu Ende.

87. «FRAU, WAS HABE ICH NUNMEHR

MIT DIR ZU SCHAFFEN?»

Jesus erklärt mir den Sinn dieses Satzes.

«Dieses "nunmehr", das viele Übersetzer auslassen, ist der Schlüssel und erklärt den Satz in seiner wahren Bedeutung.

Ich war der Mutter als Sohn untertan bis zu dem Augenblick, da der Wille des Vaters erkennen ließ, daß für mich die Stunde gekommen sei, der Meister zu sein. Vom Augenblick an, da meine Mission begann, war ich nicht mehr der Sohn, der der Mutter untertan sein soll, sondern der

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Diener Gottes. Die moralischen Bande zwischen meiner Mutter und mir waren zerrissen. Sie hatten sich in höhere verwandelt; sie hatten sich alle in den Geist geflüchtet. Dieser nannte Maria, meine Heilige, stets Mutter. Die Liebe kannte deshalb weder Stillstand noch Abschwächung; im Gegenteil, sie war nie so vollkommen wie bei unserer Trennung, als sie mich sozusagen in einer zweiten Geburt zur Welt brachte: für die Welt als den Messias, als den Verkünder der Frohen Botschaft.

Ihre dritte, erhabene, mystische Mutterschaft erfolgte auf Golgatha, als sie mich im tiefsten Schmerz am Kreuz gebar, und aus dieser Mutterschaft ging ich als Erlöser hervor.

"Was habe ich nunmehr mit dir zu schaffen?" Erst gehörte ich dir, einzig und allein dir. Du befahlst mir, ich gehorchte dir. Ich war dir "untertan". Nun gehöre ich meiner Sendung.

Habe ich nicht gesagt: "Wer die Hand an den Pflug legt und sich umwendet zu den Zurückbleibenden, ist des Reiches Gottes nicht wert?" (Luk 9,61-62). Ich hatte die Hand an den Pflug gelegt, nicht um mit der Pflugschar die Erdschollen zu öffnen, sondern die Herzen und in sie das Wort Gottes zu säen.

Ich habe die Hand erst weggenommen, als man sie mir entriß, um sie ans Kreuz zu schlagen und um mit dem Nagel der Pein das Herz meines Vaters aufzuschließen, damit die Vergebung für die Menschheit daraus hervorsprieße.

Dieses "nunmehr", das von vielen vergessen wird, bedeutet folgendes: "Du warst mir alles, Mutter, solange ich nur der Jesus von Nazareth war, und du bist mir alles in meinem Geist. Aber seitdem ich der erschnte Messias bin, gehöre ich meinem Vater. Warte noch ein wenig; wenn die Sendung beendet ist, werde ich aufs neue ganz dein sein; du wirst mich wieder in den Armen halten, wie einst, da ich ein Kleinkind war, und niemand wird mich dir mehr entreißen, mich, deinen Sohn, der als eine Schande der Menschheit angesehen wird. Man wird dir seine sterbliche Hülle zuwerfen, um auch dich mit der Schmach zu bedecken, die Mutter eines Übeltäters zu sein. Hernach wirst du mich als Triumphierenden wieder haben, bis du selbst als die Triumphierende mich für immer im Himmel besitzen wirst. Doch jetzt gehöre ich allen Menschen und dem Vater, der mich zu ihnen gesandt hat."

Siehst du nun, was dieses kleine Wort "nunmehr" sagen will?»

Jesus unterweist mich folgendermaßen:

«Als ich zu den Jüngern sagte: "Gehen wir, um meiner Mutter Freude zu machen", hatte ich diesem Satz einen höheren Sinn verliehen, als es den Anschein hatte. Gemeint war nicht das Glück, mich zu sehen, sondern die Urheberin meines Wunderwirkens zu sein und dadurch zur ersten Wohltäterin der Menschheit zu werden.

Denkt immer daran: Mein erstes Wunder veranlaßte Maria. Es ist ein

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Sinnbild dafür, daß Maria der Schlüssel zum Wunder ist. Ich verweigere meiner Mutter nichts, und auf Grund ihrer Bitten beschleunige ich sogar die Zeit der Gnade.

Ich kenne meine Mutter. Sie kommt in der Güte gleich nach Gott. Ich weiß, daß sie glücklich ist, euch eine Gunst zu erweisen; denn sie ist die ganz Liebevolle. Daher sagte ich: "Gehen wir, ihr Freude zu bereiten!"

Überdies wollte ich der Welt ihre Macht zeigen, zusammen mit der meinigen. Sie war dazu bestimmt, mit mir im Fleisch verbunden zu sein – wir waren ein Leib: ich in ihr, sie um mich herum wie die Blütenblätter der Lilie um den duftenden, lebensvollen Stempel – vereint aber auch im Schmerz, denn wir waren beide am Kreuz: ich körperlich, sie geistig. Und so wie die ganze Lilie duftet, so war es auch richtig, daß sie mit mir vereint war in der Macht, die sich der Welt offenbarte.

So sage ich auch zu euch, was ich zu den Geladenen sagte: "Dankt Maria!" Durch sie habt ihr den Herrn des Wunders, meine Gnaden und besonders die der Vergebung.

Ruhe dich aus im Frieden! Wir sind mit dir.»

88. JESUS VERTREIBT DIE HÄNDLER AUS DEM TEMPEL

Ich sehe Jesus, der mit Petrus, Andreas, Johannes und Jakobus, mit Philippus und Bartholomäus in den Innenhof des Tempels tritt. Sowohl drinnen als auch draußen herrscht ein großes Gedränge. Eine Menge von Pilgern, die aus allen Teilen der Stadt kommen.

Von der Anhöhe, auf der der Tempel erbaut wurde, sieht man die engen und gewundenen Straßen der Stadt, die von Menschen wimmeln. Es scheint so, als schlängle sich durch das rohe Weiß der Häuser ein vielfarbiges Band. In der Tat sieht die Stadt wie ein eigenartiges Spielzeug aus, und diese Bänder, die von zwei weißen Reihen umsäumt sind, streben alle dem gleichen Ziel zu, dem Haus des Herrn mit seinen glänzenden Kuppeln.

Im Innern herrscht ein richtiger Jahrmarkt. Jede Andacht und Sammlung ist an diesem heiligen Ort unmöglich: die einen rennen, die anderen rufen, andere handeln mit Lämmern und schreien und streiten wegen des hohen Preises; wieder andere treiben die armen blökenden Tiere in die Pferche. (Es sind nur mit Stangen und Stricken abgegrenzte Flächen, bei denen ein Händler oder der Eigentümer, vermutlich in Erwartung eines Käufers, steht.) Prügel, Rufe, Flüche, Forderungen, Beleidigungen den Hüterjungen gegenüber, die keine Erfahrung im Viehtreiben oder im Zusammenhalten der Tiere haben, und auch den Käufern gegenüber, die wegen des Preises zögern und weggehen. Noch größere Beschimpfung trifft die, die vorsorglich ihr eigenes Lamm mitgebracht haben.

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Rund um die Bänke der Geldwechsler herrscht ein weiteres Geschrei. Man versteht – ich weiß nicht, ob es immer so ist oder nur zur Osterzeit – daß der Tempel als Börse oder als Schwarzmarkt benützt wurde. Der Wert der Münzen war nicht festgelegt. Da gab es den legalen Wert, gewiß, doch den Wechselkurs bestimmten andere, die nach eigenem Gutdünken Profit aus diesem Geschäft zogen. Ich versichere euch, die scherzten nicht bei ihrem betrügerischen Handeln. Manch einer war arm und kam von weither, um so mehr wurde er betrogen. Die Alten mehr noch als die Jungen, und die von außerhalb Palästinas Kommenden mehr als die Einheimischen.

Arme Greise betrachteten und prüften immer wieder ihre kleine Barschaft, die sie mit vielen Entbehrungen während des Jahres auf die Seite gelegt hatten; immer wieder nahmen sie das Geld aus der Brusttasche, zählten es, um es dann vorsichtig wieder einzustecken und weiter nach einem ehrlichen Geldwechsler zu suchen. Doch solche gab es nicht, und wenn sie zu einem kamen, bei dem sie schon gewesen waren, dann erhöhte dieser sicher noch den Preis, um sich für das vorangegangene Mißtrauen zu rächen, und die großen Geldstücke wanderten in die Hände des grinsenden Wucherers unter den Seufzern des Besitzers, der dafür nur wenige kleine Münzen erhielt. Erneute Tragödien und Seufzer bei der Auswahl und den Forderungen der Tierhändler, die den halbblinden Alten die schlechtesten Lämmer für teures Geld verkauften.

Ich sehe ein hinfälliges Paar, das ein armes Lämmlein vor sich hertreibt, welches dann von den Priestern, die den Opferhandlungen vorstehen, als fehlerhaft abgelehnt wird. Weinen, Bitten, Unhöflichkeit, Schimpfworte kreuzen sich, ohne daß der Händler sich erweichen läßt.

«Für das, was ihr bezahlen wollt, ihr Galiläer, ist das, was ich euch gegeben habe, gut genug. Macht, daß ihr weiter kommt! Oder legt noch fünf Denare dazu für ein schöneres.»

«Im Namen Gottes, wir sind arm und alt! Willst du uns hindern, Ostern zu feiern, die für uns vielleicht die letzten sind? Genügt dir nicht, was du für ein kleines Lamm verlangt hast?»

«Geht weg, ihr Luder! Da kommt auf mich Joseph der Älteste zu. Er erweist mir die Ehre seiner Bevorzugung. Gott sei mit dir; komm nur und wähle aus.»

Er, der Joseph der Älteste genannt wird, ist von Arimathäa. Er tritt in einen Verschlag und nimmt ein prachtvolles Lamm. Er geht gut gekleidet und stolz einher, ohne die jammernden Armen am Eingang der Umzäunung zu beachten. Er stößt sie beinahe um, als er mit einem fetten, blökenden Lamm zurückkommt.

Auch Jesus ist nun in der Nähe. Auch er hat einen Kauf getätigt, und Petrus, der wahrscheinlich dafür gezahlt hat, zieht ein einigermaßen gutes Lamm hinter sich her. Petrus möchte sofort zur Opferstätte gehen, doch

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Jesus geht nach rechts, zu den beiden betrübten Alten, die immer noch unschlüssig sind und weinen, weil sie von der Menge gestoßen und von den Händlern beleidigt werden. Jesus ist so hochgewachsen, daß die beiden Alten ihm nur bis an die Brust reichen. Er legt seine Hand auf die Schulter der Frau und fragt: «Warum weinst du, Frau?»

Die Alte dreht sich um und sieht diesen hochgewachsenen, jungen Mann, der in seinem schönen weißen Gewand und seinem schneeweißen, funkelnagelneuen Mantel feierlich aussieht. Sie hält ihn wohl für einen Gesetzeslehrer wegen der Kleidung oder wegen des Aussehens, und ist erstaunt; denn Gesetzeslehrer und Priester kümmern sich nicht um die Leute und schützen auch die Armen nicht vor der Habgier der Händler.

Jesus wendet sich an den Lammhändler: «Tausche diesen Gläubigen das Lamm aus! Es ist des Altares nicht würdig, wie es auch nicht recht ist, daß du diese beiden greisen Leute ausbeutest, weil sie schwach und wehrlos sind.»

«Wer bist denn du?»

«Ein Gerechter!»

«Deine Sprache und die deiner Gefährten besagt, daß ihr Galiläer seid. Kann denn ein Galiläer ein Gerechter sein?»

«Tu, was ich sage, und sei gerecht!»

«Hört, hört, ein Galiläer als Verteidiger von seinesgleichen! Uns vom Tempel will er belehren.» Der Mann lacht und macht sich über ihn lustig, indem er die galiläische Sprechweise nachahmt, die viel melodiöser und weicher klingt als die jüdische; so kommt es mir wenigstens vor.

Menschen bleiben stehen, und andere Händler und Wechsler ergreifen Partei für ihren Kollegen. Unter den Anwesenden sind auch zwei oder drei ironische Rabbis. Einer stellt die Frage: «Bist du etwa ein Gelehrter?», und zwar auf eine Art und Weise, die sogar einem Job den Geduldsfaden reißen lassen würde.

«Du sagst es.»

«Was lehrst du denn?»

«Dies lehre ich: Macht das Haus Gottes nicht zu einem Haus des Wuchers und des Handels, sondern zu einem Ort der Anbetung! Das ist es, was ich lehre.»

Er gleicht dem Erzengel an der Schwelle des verlorenen Paradieses. Er hat kein flammendes Schwert in der Hand, aber Flammen in den Augen, die wie Blitze die Spötter und die Tempelschänder treffen. Er hat nichts in den Händen. Nur heiliger Zorn erfüllt ihn. Mit diesem schreitet er eilig von einem Tisch zum anderen, auf denen die Münzen sorgfältig nach ihrem Wert geordnet sind. Er wirft die Tische und Bänke um, und unter den Schreien der Wut, der Bestürzung und auch des Beifalls, hört man das Klingen der zu Boden fallenden Münzen und Tische. Dann reißt Jesus den Stallknechten die Stricke aus den Händen, befreit die darangebundenen

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Ochsen, Schafe und Lämmer, macht aus dem Seil eine Geißel mit Knoten, schwingt sie in der Luft und schlägt schonungslos damit auf die Schuldigen nieder. Ja, ich versichere, schonungslos!

Der unerwartete Hagel prasselt auf Köpfe und Schultern. Die Gläubigen bewundern die Szene, während die Schuldigen, bis zur äußeren Umfriedungsmauer verfolgt, das Weite suchen. Zurück lassen sie Geld, Tiere und Kleintiere... ein Durcheinander von Beinen, Hörnern und Flügeln. Hier rennen sie, dort fliegen sie davon; sie muhen und blöken; ein Gurren der Tauben und Turteltauben, vermischt mit dem Geschrei der Wucherer und dem Gelächter der Gläubigen, die den flüchtenden Gaunern nachschreien und sogar den jammernden Chor der Lämmer übertönen, die in einem anderen Hof geschlachtet werden.

Priester eilen mit Rabbis und Pharisäern herbei. Jesus kommt von seiner Verfolgung zurück und steht mitten im Hof, die Geißel noch in der Hand.

«Wer bist du? Wie kannst du dir erlauben, so etwas zu tun und die vorgeschriebenen Zeremonien zu stören? Von welcher Schule kommst du? Wir kennen dich nicht und wissen nicht, wer du bist.»

«Ich bin der, der kann, der alles vermag. Zerstört diesen wahren Tempel, und ich werde ihn zur Ehre Gottes wieder aufbauen. Nicht ich störe die Heiligkeit des Hauses Gottes und der Zeremonien, sondern ihr, die ihr gestattet, daß das Haus Gottes zur Stätte der Wucherer und der Händler werde. Meine Schule ist die Schule Gottes. Die gleiche, die ganz Israel durch den Mund des Ewigen hatte, der zu Moses sprach. Kennt ihr mich nicht? Ihr werdet mich kennenlernen. Ihr wißt nicht, woher ich komme? Ihr werdet es erfahren.»

Und sich zum Volk wendend, ohne sich weiter um die Priester zu kümmern, groß in seinem weißen Gewand, mit offenem und über dem Rücken hängenden Mantel, weit geöffneten Armen, wie ein Redner in seiner lebhaftesten Rede, spricht er:

«Hört, ihr aus Israel! Im Deuteronomium (16,18-20) steht geschrieben: "Du wirst Richter und Aufseher an allen Türen aufstellen, und sie werden das Volk mit Gerechtigkeit richten, ohne Unterschied. Du sollst keine persönliche Bevorzugung kennen und keine Gaben annehmen; denn Geschenke blenden die Augen der Weisen und verdrehen die Worte der Gerechten. Mit Gerechtigkeit sollst du dem Recht folgen, um zu leben und das Land zu besitzen, das der Herr, dein Gott, dir geben wird. "

Hört, ihr von Israel! Im Deuteronomium (18,1-2) steht geschrieben: "Die Priester und Leviten und alle aus dem Geschlecht Levis sollen keinen Anteil und kein Erbe vom übrigen Israel haben, denn sie sollen vom Opfer des Herrn und von den Opfern leben, die ihm dargebracht werden. Sie sollen kein Eigentum haben, denn der Herr ist ihr Erbe."

Hört, ihr von Israel! Im Deuteronomium (23,19-20) steht geschrieben:

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"Leihe nicht gegen Zins deinem Bruder Geld, Getreide oder andere Dinge! Du kannst gegen Zins dem Fremden leihen; deinem Bruder jedoch sollst du zinslos leihen, was er nötig hat."

Dies hat der Herr gesagt.

Jetzt aber seht ihr, daß es in Israel keine Gerechtigkeit für die Armen gibt. Nicht vom Gerechten, sondern vom Starken ist man abhängig, und arm sein, Volk sein, heißt: unterdrückt sein! Wie kann das Volk sagen: "Der uns richtet, ist gerecht", wenn es sehen muß, daß nur die Mächtigen geachtet und geehrt werden, während den Armen niemand zuhört? Wie kann das Volk den Herrn achten, wenn es sehen muß, daß jene es nicht tun, die allen voran dem Herrn Ehrfurcht bezeugen müßten? Ist es Achtung vor dem Herrn, wenn seine Gebote übertreten werden? Warum haben die Priester in Israel Besitz und nehmen Geschenke an von den Zöllnern und Sündern? Diese geben, um sich die Priester wohlgesinnt zu machen, und jene nehmen, um ihre Geldtruhen zu füllen.

Gott ist das Erbe seiner Priester. Er ist für sie der Vater Israels. Er ist in allem Vater und sorgt für die Nahrung, wie es recht ist. Doch nicht mehr als nötig und gerecht ist. Er hat den Dienern seines Heiligtums nicht Börse und Besitz versprochen. In alle Ewigkeit werden sie wie Moses und Elias, wie Jakob und Abraham um ihrer Gerechtigkeit willen den Himmel haben. Doch auf dieser Erde dürfen sie nur Gewänder aus Leinen und eine Krone aus unvergänglichem Gold tragen: Reinheit und Liebe. Der Leib muß der Knecht des Geistes, und dieser Diener des wahren Gottes sein; und der Körper darf nicht Herr über den Geist und dieser nicht gegen Gott sein.

Ich wurde gefragt, mit welcher Berechtigung ich so handle. Und sie, mit welchem Recht mißbrauchen sie die Gebote Gottes und erlauben, daß im Schatten der heiligen Mauern Wucher getrieben wird zum Schaden der Brüder Israels, die gekommen sind, um dem göttlichen Gebot zu gehorchen?

Ich bin gefragt worden, von welcher Schule ich komme, und ich habe geantwortet: "Aus der Schule Gottes." Ja, Israel, ich komme und ich bringe dich zurück zu dieser heiligen und unveränderlichen Schule.

Wer das Licht, die Wahrheit, das Leben kennenlernen will, wer wieder die Stimme Gottes hören will, die zu seinem Volk spricht, der komme zu mir!

Ihr seid Moses durch die Wüste gefolgt, ihr aus Israel! Folgt mir; denn ich führe euch durch eine viel traurigere Wüste in das wahre, glückliche Land. Durch das Meer, das sich auf Gottes Geheiß öffnet, führe ich euch in dieses Land. Mit meinem Zeichen heile ich euch von allem Übel.

Die Stunde der Gnade ist gekommen. Die Patriarchen haben sie erwartet und sind gestorben. Die Propheten haben sie vorhergesagt und sind in dieser Hoffnung gestorben. Die Gerechten haben davon geträumt und sind gestorben im Trost dieses Traumes. Nun ist die Stunde gekommen.

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Kommt, "der Herr richtet sein Volk und erweist seinen Dienern Barmherzigkeit" wie er es durch den Mund des Moses versprochen hat!»

Die Menschen, die sich um Jesus geschart haben, hören diese Rede staunend an. Dann diskutieren sie untereinander, kommentieren die Worte des neuen Rabbi und befragen seine Gefährten.

Jesus geht in einen anderen Hof, der durch eine Türe von diesem getrennt ist. Die Freunde folgen ihm, und die Vision ist zu Ende.

89. BEGEGNUNG MIT JUDAS ISKARIOT UND THOMAS; WUNDER AN SIMON, DEM ZELOTEN

Jesus ist beisammen mit seinen sechs Jüngern. Wie gestern, so sehe ich auch heute Judas Thaddäus nicht, obwohl er gesagt hatte, daß er mit Jesus nach Jerusalem kommen werde.

Allem Anschein nach dauern die österlichen Feste noch an, denn es sind viele Menschen in der Stadt.

Es ist gegen Abend, und viele beeilen sich, nach Hause zu kommen. Auch Jesus geht zum Haus, wo er zu Gast ist. Es ist nicht das Haus des Abendmahles. Jenes liegt in der Stadt, wenn auch ziemlich am Rand. Dieses hier ist ein richtiges Landhaus zwischen dichten Olivenbäumen. Von dem Vorplatz des Hauses sieht man, wie sich die Bäume bis zu einem kleinen, wasserarmen Bach ausdehnen, der sich zwischen zwei Hügeln dahinschlängelt. Auf dem einen Hügel steht ein Tempel, auf dem anderen nur viele Olivenbäume. Jesus befindet sich am Fuß dieses Hügels, der langsam ansteigt und mit seinen Bäumen etwas Friedvolles ausstrahlt.

«Johannes, hier sind zwei Männer, die deinen Freund erwarten», sagt ein älterer Mann, wohl der Pächter oder Eigentümer des Olivenhains. Es scheint, daß Johannes ihn kennt.

«Woher sind sie und wer sind sie?»

«Ich weiß es nicht. Einer ist gewiß Jude. Der andere... ich weiß es nicht, ich habe ihn nicht gefragt.»

«Wo sind sie?»

«Sie warten in der Küche... und... ja... es ist auch einer da, der mit Wunden bedeckt ist ... Ich ließ ihn dort stehen, denn ich möchte nicht... wenn er aussätzig ist ... Er sagt, er wolle den Propheten sehen, der im Tempel gesprochen hat.»

Jesus, der bis zu diesem Augenblick geschwiegen hat, sagt: «Gehen wir zuerst zu diesem! Sage den anderen, sie können kommen, wenn sie wollen. Ich werde hier im Olivenhain mit ihnen sprechen», und er begibt sich zum Ort, den der Alte ihm gezeigt hat.

«Und wir, was machen wir?» fragt Petrus.

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«Ihr könnt kommen, wenn ihr wollt.»

Ein ganz vermummter Mann lehnt an einer kleinen Mauer, die außerhalb des Gutes liegt. Er muß auf einem wenig begangenen Feldweg längs des kleinen Baches hergekommen sein. Als er Jesus sieht, ruft er: «Zurück, zurück, doch habt Erbarmen!» Und läßt dabei seinen Oberkörper sehen, indem er die Hülle fallen läßt.

Wenn schon das Gesicht mit Krusten und Narben bedeckt ist, dann ist der Oberkörper ein Mosaik von Wunden. Viele sind bereits tiefe Löcher, andere nur wie rote Brandstellen, wieder andere hell und schimmernd, als ob ein weißes Glas darüber liegen würde.

«Du bist aussätzig, was willst du von mir?»

«Verwünsche mich nicht, steinige mich nicht! Man sagte mir gestern, daß du dich als die Stimme Gottes und als Gnadenbringer gezeigt hattest. Man sagte mir, daß du versichert hast, daß du durch dein Zeichen jedes Übel heilst. Mache es über mich! Ich komme von den Höhlen... dort, ich bin gekrochen wie eine Schlange unter dem Gebüsch am Bache, um ungesehen bis hierher zu kommen. Ich habe aber den Abend abgewartet, denn in der Dämmerung kann man wenigstens nicht erkennen, wer ich bin. Ich habe es gewagt, ich habe den gefunden, dem das Haus gehört. Er ist gut, er hat mich nicht getötet. Er hat mir nur gesagt: "Warte dort bei der Mauer!" Habe auch du Erbarmen mit mir!»

Als Jesus sich ihm nähert, er allein, weil die sechs Jünger und der Besitzer mit den beiden Unbekannten fernbleiben und offen ihren Abscheu zur Schau tragen, sagt der Aussätzige noch einmal: «Nicht näher, nicht näher. Ich bin verseucht!»

Doch Jesus geht weiter. Er betrachtet ihn voller Mitleid, so daß der Mann zu weinen beginnt, niederkniet, mit dem Antlitz beinahe die Erde berührt und jammert: «Dein Zeichen, dein Zeichen!»

«Es soll aufgerichtet werden, wenn es Zeit dafür ist. Doch ich sage dir: steh auf, sei geheilt! Ich will es. Und sei für mich ein Zeichen in dieser Stadt, die mich kennenlernen soll. Steh auf, sage ich! Sündige nicht mehr, aus Dankbarkeit gegen Gott!»

Der Mann steht ganz langsam, langsam auf. Es sieht fast so aus, als ob er sich inmitten des hohen Grases und der Blumen wie aus einem Leichentuch erheben würde. Er ist geheilt! Er betrachtet sich beim letzten Tageslicht. Ja, er ist geheilt und ruft aus: «Ich bin rein! Was soll ich nun für dich tun?»

«Gehorche dem Gesetz! Suche den Priester auf! Wandle fortan in der Gerechtigkeit. Geh!»

Der Mann macht eine Bewegung, als wolle er sich Jesus zu Füßen werfen; doch er erinnert sich, daß er nach dem Gesetz noch unrein ist, und hält sich zurück (Lev 13 und 14). Er küßt also seine eigene Hand und wirft Jesus diesen Handkuß zu. Er weint vor Freude.

Die anderen stehen wie versteinert da. Jesus wendet sich vom Aussätzigen

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ab und lächelt ihnen aufmunternd zu. «Freunde, dies war nur Aussatz des Fleisches. Doch ihr werdet den Aussatz von den Seelen fallen sehen. Seid ihr es, die ihr nach mir gefragt habt?» sagt er zu den beiden Unbekannten. «Hier bin ich. Wer seid ihr?»

«Wir haben dich vor einigen Tagen im Tempel gehört. In der ganzen Stadt haben wir dich gesucht. Einer, der von sich sagt, daß er mit dir verwandt sei, teilte uns mit, daß du hier wohnst.»

«Warum sucht ihr mich?»

«Um dir nachzufolgen, wenn du uns haben willst; denn du hast Worte der Wahrheit!»

«Mir nachzufolgen? Aber wißt ihr auch, wohin mein Weg führt?»

«Nein, Meister, aber ganz bestimmt zur Herrlichkeit.»

«Ja, zu einer Herrlichkeit, die nicht von dieser Welt ist. Zu einer Herrlichkeit, deren Platz im Himmel ist und die man mit Tugend und Opfer erreicht. Warum wollt ihr mir nachfolgen?» fragt Jesus nochmals.

«Um an deiner Herrlichkeit teilzuhaben.»

«An der himmlischen?»

«Ja, an der himmlischen.»

«Nicht alle erreichen das Ziel. Denn der Dämon versucht alle, die nach dem Himmel streben, mehr als die anderen. Und nur, wer einen ganz festen Willen hat, hält durch. Warum mir nachfolgen, wenn mir nachfolgen heißt, ununterbrochen gegen den Feind kämpfen, der in uns ist, gegen die feindliche Welt und gegen den Feind, der Satan ist?»

«So will es unser Geist, der von dir in Besitz genommen ist. Du bist heilig und mächtig. Wir wollen deine Freunde sein.»

«Freunde!!!» Jesus seufzt und schweigt. Dann schaut er den Mann fest an, der bisher gesprochen hat und der nun seinen Mantel vom Haupt fallen läßt, so daß er baren Hauptes dasteht. Es ist Judas Iskariot.

«Wer bist du, der du besser sprichst als ein Mann aus dem Volk?»

«Ich bin Judas, des Simon von Kerioth. Doch ich gehöre zum Tempel. Ich erwarte den König der Juden und träume von ihm. Ich habe dich in deinen Worten als König erkannt, als König habe ich dich in deinen Bewegungen gesehen. Nimm mich mit!»

«Dich mitnehmen? Jetzt? Sofort? Nein!»

«Warum, Meister?»

«Es ist besser, sich zu prüfen, bevor man sich auf unwegsame Wege begibt.»

«Glaubst du nicht an meine Ehrlichkeit?»

«Du sagst es. Ich glaube an deinen Impuls; doch glaube ich nicht an deine Ausdauer, Judas. Denke nach darüber. Ich werde jetzt weggehen und zu Pfingsten wiederkommen. Wenn du im Tempel bist, wirst du mich sehen. Prüfe dich also selbst! ... Und wer bist du?» fragt Jesus den zweiten Unbekannten.

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«Ein anderer, der dich gesehen hat. Ich möchte bei dir sein. Doch nun habe ich Zweifel.»

«Nein. Die Überheblichkeit führt zum Ruin. Die Furcht kann Hindernis sein; wenn sie jedoch aus der Demut kommt, dann ist sie eine Hilfe. Fürchte dich nicht! Auch du wirst nachdenken, und wenn ich zurückkomme...»

«Meister, du bist so heilig. Ich fürchte nur, deiner nicht würdig zu sein. Nichts anderes. Was meine Liebe betrifft, befürchte ich nichts.»

«Wie heißt du?»«Thomas, Didimus genannt.» «Ich werde mir deinen Namen merken. Geh in Frieden!»

Jesus verabschiedet sich und zieht sich zum Abendbrot in das gastliche Haus zurück. Die sechs Männer bei ihm wollen vieles wissen.

«Meister, warum hast du zwischen den beiden einen Unterschied gemacht, da beide das gleiche innere Bedürfnis hatten?» fragt Johannes.

«Freund, auch der gleiche Wunsch kann einen verschiedenen Ursprung haben und eine verschiedene Auswirkung. Natürlich haben beide den gleichen Wunsch; doch der eine ist vom anderen grundverschieden. Der, der unvollkommener zu sein scheint, ist der vollkommenere, denn er strebt nicht nach irdischer Herrlichkeit; er liebt mich, weil er mich liebt!»

«Auch ich!» «Auch ich, gewiß!»«Und ich!»«Und ich!»«Und ich!»«Und ich!» «Ich weiß; ich kenne euch und weiß, wie ihr seid.»«So sind wir also vollkommen?»

«O nein! Doch wie Thomas werdet auch ihr es werden, wenn ihr in eurem guten Willen zu lieben verharrt... Vollkommen?! Oh, Freunde! Wer ist vollkommen außer Gott?»

«Du bist es.»

«Wahrlich, ich sage euch, daß ich nicht aus mir vollkommen bin, wenn ihr glaubt, daß ich ein Prophet bin. Kein Mensch ist vollkommen. Doch ich bin vollkommen, da der, der zu euch spricht, das Wort des Vaters ist. Teil Gottes, sein Gedanke, der WORT wird. Ich habe die Vollkommenheit in mir. Das müßt ihr glauben, wenn ihr glaubt, daß ich das Wort des Vaters bin. Doch seht, Freunde, ich will der Menschensohn genannt werden, da ich mich selbst verleugne und alle menschlichen Schwächen auf mich nehme, um sie zu tragen als meine erste Last. Ich werde sie, nachdem ich sie getragen habe, ohne Anteil an ihnen zu haben, vernichten. Welche Last, Freunde! Doch ich trage sie mit Freuden; es ist mir eine Freude, sie zu tragen; als Sohn der Menschheit werde

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ich sie zum Kind Gottes machen; die Menschheit wird sein wie am ersten Tag!»

Jesus spricht in seiner gütigen Art, während er an einem armen Tisch sitzt und seine Worte mit den Gesten seiner Hände unterstreicht. Das Haupt ist leicht geneigt und das Gesicht von unten her durch das Öllämpchen beleuchtet, das auf dem Tisch steht. Er lächelt, denn er ist Meister in der Beherrschung und liebevoll im Umgang. Die Jünger hören ihm aufmerksam zu.

«Meister, warum ist dein Vetter, obwohl er wußte, wo du wohnst, nicht gekommen?»

«Mein Petrus... du wirst einer meiner Felsen sein, der erste. Nicht alle Steine sind leicht zu gebrauchen. Hast du den Marmor des prätorischen Palastes gesehen? Mit Mühe wurden diese Blöcke dem Schoß des Berges abgerungen, und nun bilden sie einen Teil des Prätoriums. Betrachte aber jene Steine, die dort inmitten des Kedrons im Mondschein glänzen. Mit der Flut sind sie gekommen, und wenn einer sie haben will, kann er sie ohne weiteres mitnehmen. Mein Vetter ist wie die ersten Steine, von denen ich spreche... Der Schoß des Berges, d.h., die Familie, macht ihn mir streitig.»

«Doch ich möchte sein wie die Kieselsteine des Baches. Deinetwegen bin ich bereit, alles zu verlassen: Haus, Weib, Fischfang und Brüder. Alles, Meister, für dich.»

«Ich weiß es, Petrus; daher liebe ich dich. Aber auch Judas wird kommen.»

«Wer? Judas von Kerioth? Ich halte nichts von ihm. Er ist ein nettes Herrchen, doch ich ziehe... mich selbst ihm vor ...»

Alle lachen über den Schlußsatz des Petrus.

«Da gibt es nichts zu lachen. Ich will damit nur sagen, daß ich einen einfachen Galiläer... ungehobelt ... Fischer, doch ohne Falsch ... den Städtern vorziehe, die, ich weiß nicht ... der Meister versteht schon, was ich sagen will.»

«O ja, ich verstehe. Doch urteile nicht! Wir brauchen die einen und die anderen auf der Welt, und die Guten sind unter den Bösen wie die Blumen auf dem Felde... der Schierling wächst neben der heilsamen Malve ...»

«Ich möchte etwas fragen.»

«Was, Andreas?»

«Johannes hat mir vom Wunder in Kana erzählt... Wir waren voller Hoffnung, daß du auch in Kapharnaum ein Wunder wirken würdest... doch du hast gesagt, daß du keine Wunder wirken wirst, bevor du das Gesetz erfüllt hast. Warum also in Kana? Und weshalb hier und nicht in deiner Heimat?»

«Jeder Gehorsam dem Gesetz gegenüber ist Vereinigung mit Gott und bedeutet daher eine Steigerung unserer eigenen Fähigkeiten. Das Wunder

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ist ein Beweis der Verbundenheit mit Gott, der wohlwollenden und zustimmenden Gegenwart Gottes. Daher wollte ich erst meine Pflicht als Israelit tun, bevor ich Wunder zu wirken begann.»

«Aber du bist doch dem Gesetz nicht unterworfen?»

«Warum? Als Sohn Gottes nicht, als Sohn des Gesetzes, ja. Israel kennt mich jetzt nur als solchen... und auch nachher wird beinahe ganz Israel mich als solchen anerkennen, ja sogar als noch weniger. Ich will aber Israel kein Ärgernis geben und gehorche dem Gesetz.»

«Du bist heilig.»

«Die Heiligkeit schließt den Gehorsam nicht aus. Im Gegenteil, sie vervollkommnet ihn. Da ist ein gutes Beispiel zu geben, mehr als in allem anderen. Was würdest du von einem Vater, einem größeren Bruder, einem Lehrer, einem Priester sagen, die kein gutes Beispiel gäben?»

«Aber warum dann Kana!»

«Kana diente dazu, meiner Mutter Freude zu bereiten. Kana ist das durch die Bitte meiner Mutter vorverlegte, ihr geschuldete Wunder. Um ihretwillen wird die Zeit der Gnade vorverlegt. Hier in Jerusalem erweise ich der heiligen Stadt die Ehre und mache sie öffentlich zur Bahnbrecherin meiner Macht als Messias. In Kana hingegen bezeugte ich die Ehre der Heiligen Gottes, der ganz Heiligen. Durch sie hat mich die Welt erhalten. Und es ist daher gerecht, daß mein erstes Wunder auf der Welt ihr galt 1»

Man klopft an der Tür. Es ist Thomas, der zurückkommt. Er wirft sich Jesus zu Füßen. «Meister, ich kann deine Rückkehr nicht erwarten. Laß mich bei dir sein! Ich bin zwar voller Fehler, doch ich habe eine große Liebe, eine wahre Liebe zu dir, der du mein höchstes Gut bist. Laß mich, Meister....»

Jesus legt ihm die Hand aufs Haupt.

«Bleibe, Didimus, folge mir nach! Selig, die im Wollen ausdauernd und aufrichtig sind. Gesegnet seid ihr. Ihr seid mehr als Verwandte für mich; denn ihr seid mir Söhne und Brüder, nicht dem Fleisch nach, das stirbt, sondern dem Willen Gottes und eurem geistigen Wollen nach. Jetzt sage ich euch, ich habe keine anderen Verwandten als die, die den Willen meines Vaters tun, und ihr tut ihn, denn ihr wollt das Gute.»

Die Vision endet.

Es ist 16 Uhr, und schon senken sich die Schatten der Müdigkeit, eine logische Folge der schmerzlichen Stunde von gestern, auf mich hernieder... Doch auch am 24. Oktober ging es mir sehr schlecht; so schlecht, daß ich nach dem Ende der Vision, die ich mit meinem meningitisähnlichen Kopfschmerzen geschrieben habe, nicht mehr den Mut hatte, anzufügen, daß ich endlich Jesus so bekleidet gesehen habe, wie er mir erscheint, wenn er ganz für mich da ist: mit einem weichen, weißen Wollkleid, leicht elfenbeinfarbig, und einem dazu passenden Mantel und dem Gewand, das er bei seinem ersten Auftreten als Messias in Jerusalem trug.

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90. THOMAS WIRD JÜNGER JESU

Wir sind noch in derselben Umgebung, in der breiten, niederen Küche mit ihren verrußten Wänden, nur spärlich beleuchtet von dem Flämmchen der kleinen Öllampe, die auf dem rohen, langen und schmalen Tisch steht, an dem acht Personen sitzen: Jesus und die sechs Jünger sowie der Hausherr.

Jesus sitzt auf einem dreibeinigen Hocker ohne Lehne – wie sie auf dem Land üblich sind – und wendet sich Thomas zu, der vor ihm kniet.

Die Hand Jesu, zuvor auf dem Haupt des Thomas, liegt nun auf dessen Schulter. Jesus sagt: «Steh auf, Freund! Hast du schon zu Abend gegessen ?»

«Nein, Herr. Ich bin nur einige Meter weit mit dem anderen gegangen, mit dem ich hierhergekommen war; dann habe ich ihn allein gelassen mit der Ausrede, daß ich mit dem geheilten Aussätzigen sprechen wolle. Ich sagte so zu ihm, weil ich dachte, daß er sich ekeln würde vor einem, der unrein war. Und ich hatte recht. Ich aber habe dich gesucht. Ich möchte dir sagen: nimm mich an! Ich bin im Ölgarten auf und ab gegangen, bis ein Jüngling mich fragte, was ich dort täte. Er muß mich für einen Übeltäter gehalten haben... er stand dort beim Markstein, wo das Gut beginnt ...»

Der Hausherr lächelt. «Das ist mein Sohn», erklärt er und fügt hinzu: «Er ist zur Bewachung der Speicher aufgestellt. Wir haben in den Höhlen noch beinahe die ganze letzte Ernte. Sie war sehr gut und wird viel Öl bringen, und in Zeiten, wo viele Menschen kommen, mischen sich auch Diebe ein, die unbewachte Räume ausrauben. Vor acht Jahren, genau an Ostern, wurde uns alles gestohlen. Seitdem halten wir abwechselnd Wache. Die Mutter hat ihm gerade das Abendessen gebracht!»

«Er sagte zu mir: "Was willst du?" und er sagte dies in einem Ton, daß ich, um meinen Rücken vor dem Stock abzusichern, rasch antwortete: "Ich suche den Meister, der hier wohnt." Da sagte er: "Wenn es wahr ist, was du sagst, dann komm ins Haus" und er hat mich bis hierher begleitet. Er hat angeklopft und ist nicht eher weggegangen, als bis er die ersten Worte gehört hat.»

«Wohnst du weit von hier?»

«Ich wohne am anderen Ende der Stadt, bei der Ostpforte.»

«Bist du allein?»

«Ich war mit meinen Verwandten zusammen, doch diese haben sich anderen Verwandten auf der Straße nach Bethlehem angeschlossen. Ich bin zurückgeblieben und habe dich Tag und Nacht gesucht, bis ich dich gefunden habe.»

Jesus lächelt und sagt: «So erwartet dich also niemand?»

«Nein, Meister.»

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«Der Weg ist weit, die Nacht ist dunkel, die römischen Patrouillen streifen durch die Stadt. Ich sage dir, wenn du willst, bleibe bei uns!»

«Oh, Meister!» Thomas ist glücklich.

«Macht Platz, ihr anderen, und gebt alle dem Bruder etwas!»

Jesus gibt ihm seinen Käse, der noch unberührt ist. Er erklärt Thomas: «Wir sind arm, und das Abendessen ist bereits beendet. Doch wer gibt, tut es aus ganzem Herzen», und Jesus sagt zu Johannes, der an seiner Seite sitzt: «Überlaß dem Freund deinen Platz.»

Johannes erhebt sich sofort und setzt sich an die Ecke des Tisches, nahe dem Hausherrn.

«Setze dich, Thomas, und iß!» Und dann zu allen: «Handelt immer so, Freunde, aus echter Nächstenliebe! Der Pilger ist schon beschützt durch das Gesetz Gottes (Ex 23,9). Doch jetzt müßt ihr ihn in meinem Namen noch mehr lieben. Wenn euch jemand im Namen Gottes um Brot, einen Schluck Wasser oder ein Obdach bittet, sollt ihr es ihm gleichfalls im Namen Gottes geben. Gott wird es euch vergelten. Ihr sollt es mit allen so halten. Auch mit den Feinden. So lautet das neue Gebot. Bis jetzt ist zu euch gesagt worden: "Liebt, die euch lieben, und haßt eure Feinde!" (Lev 19,18; Matth 5,43). Doch ich sage euch: "Liebt auch die, die euch hassen!" (Matth 5,44; Luk 6,27). Oh, wenn ihr wüßtet, wie sehr ihr von Gott geliebt werdet, wenn ihr liebt, wie ich es euch sage! Und wenn dann einer spricht: "Ich will dein Gefährte sein im Dienst des wahren Gottes und seinem Lamm nachfolgen", dann soll er euch noch teurer als ein Blutsbruder sein; denn ein ewiges Band wird euch verbinden: das Band Christi.»

«Wenn wir aber an einen Unaufrichtigen geraten? Zu sagen: "Ich will dies oder das tun", ist einfach; doch nicht immer ist das Wort ehrlich gemeint», sagt Petrus aufgeregt. Ich weiß nicht, er hat nicht seine sonstige, freundliche Art.

«Petrus, höre zu! Du sprichst vernünftig und richtig. Doch sieh, besser ist es, aus Güte und Vertrauen zu fehlen als aus Mißtrauen und Härte. Wenn du einem Unwürdigen Gutes erweist, welches Übel kann dir daraus erwachsen? Keines! Im Gegenteil! Die Belohnung Gottes ist dir sicher, während ihm die Strafe sicher ist, wenn er dein Vertrauen mißbraucht.»

«Kein Übel? Aber oft ist es doch so, daß der Unwürdige über die Undankbarkeiten hinaus auch noch unserem guten Ruf schadet, dem Besitz und selbst dem Leben!»

«Das ist schon wahr. Doch mindert dies dein Verdienst? Nein! Selbst wenn die ganze Welt den Verleumdungen glaubte, auch wenn du ärmer würdest als Job, auch wenn der Grausame dir das Leben nehmen würde, was würde das in den Augen Gottes ändern? Nichts! Im Gegenteil; ja, eine Änderung gäbe es wohl, doch zu deinen Gunsten. Gott würde zum Verdienst deiner Güte auch das Verdienst der geistigen, materiellen und körperlichen Leiden hinzurechnen.»

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«Gut, gut, so wird es sein.» Petrus schweigt. Schmollend stützt er sein Haupt in die Hand.

Jesus wendet sich Thomas zu: «Freund, ich habe dir zuvor im Ölgarten gesagt: "Wenn ich wieder in diese Gegend komme und du noch willst, dann sollst du mein Jünger sein." Nun frage ich dich: Bist du geneigt, Jesus einen Gefallen zu tun?»

«Ohne Zweifel.»

«Doch wenn dieser Gefallen für dich ein Opfer wird?»

«Dir dienen, wird kein Opfer für mich sein. Was willst du!»

«Ich wollte dir sagen... daß du Geschäfte haben wirst, Verpflichtungen...»

«Nichts, nichts, ich habe dich! Sprich also.»

«Höre! Morgen beim ersten Tageslicht wird der Aussätzige von den Höhlen aufbrechen, um jemanden zu finden, der den Priester benachrichtigt. Du sollst zu den Grotten gehen, aus Nächstenliebe... und du sollst laut sagen: "Du, der du gestern rein geworden bist, komm heraus! Jesus von Nazareth, der Messias Israels, schickt mich zu dir; er hat dich geheilt." Mache es so, daß die Weit der "lebenden Toten" meinen Namen erfährt und voller Hoffnung wird, und wer zur Hoffnung den Glauben gesellt, der komme zu mir, damit ich ihn heile. Das ist die erste Art der Reinigung, der Auferstehung, die ich bringe und deren Gebieter ich bin. Eines Tages werde ich eine wesentlichere Reinheit geben... Eines Tages werden die versiegelten Grabstätten ihre wahren Toten wieder ausspeien; sie werden sich frohlockend zeigen mit ihren leeren Augenhöhlen und den geöffneten Kiefern für den Jubel von fern her, der aber gehört wird von den Skeletten und den in den Limben wartenden Geistern, die frohlockend und bebend die Befreiung begrüßen, denn sie wissen, wem sie sie zu verdanken haben. Du aber geh hin! Er wird zu dir kommen. Tue alles, was er dir aufträgt. Helfe ihm bei allem, als wäre er dein Bruder. Und sage ihm noch: "Wenn du ganz rein bist, gehen wir zusammen zur Flußstraße jenseits von Doko und Ephraim. Dort erwartet dich der Meister, Jesus; er erwartet auch mich, um uns zu sagen, wie wir ihm dienen sollen."»

«Ich will es tun. Und der andere?»

«Wer? Iskariot?»

«Ja, Meister.»

«Für ihn gilt weiterhin mein Rat. Laß ihn von sich aus entscheiden und lange überlegen. Am besten vermeidest du, ihm zu begegnen.»

«Ich werde beim Aussätzigen bleiben. Im Tal der Grotten sind nur Unreine oder solche, die Erbarmen mit ihnen haben.»

Petrus brummt etwas vor sich hin. Jesus hört ihn.

«Petrus, was hast du? Entweder schweigst du oder du murrst. Du bist unzufrieden, warum?»

«Ja, ich bin es. Wir sind die ersten, und du schenkst uns kein Wunder.

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Wir sind die ersten, und du läßt einen Fremden sich neben dich setzen. Wir sind die ersten, und du gibst ihm die Aufträge und nicht uns. Wir sind die ersten... ja... es scheint aber, als ob wir die letzten wären. Warum erwartest du sie am Weg zum Fluß? Sicher, um ihnen einen Auftrag zu geben. Warum ihnen und nicht uns?...»

Jesus betrachtet ihn. Er ist nicht unwillig. Im Gegenteil, er lächelt Petrus zu wie einem Kind. Jesus steht auf und geht langsam zu Petrus hin, legt ihm die Hand auf die Schulter und sagt lächelnd: «Petrus! Petrus! Du bist ein großes, altes Kind?» Und zu Andreas, der neben dem Bruder sitzt, sagt er: «Geh an meinen Platz!» und setzt sich an die Seite Petri. Er legt einen Arm auf seine Schultern und spricht zu ihm: «Petrus, dir scheint, daß ich ungerecht bin; doch es ist keine Ungerechtigkeit. Es ist im Gegenteil ein Beweis dafür, daß ich weiß, wieviel ihr wert seid! Schau, wer braucht Beweise? Nur wer noch nicht sicher ist. Ich aber wußte euch ganz sicher, so daß ich keine Notwendigkeit sah, euch meine Macht zu beweisen. Hier in Jerusalem jedoch sind Beweise vonnöten; hier, wo Laster, Unglaube, Politik und andere weltliche Dinge die Geister verdunkeln, so daß sie das Licht, das vorüberzieht, nicht mehr sehen können. Doch dort, an unserem schönen See, so rein unter einem klaren Himmel, dort bei den rechtschaffenen Menschen, die voll guten Willens sind, braucht es keine Beweise. Ihr werdet Wunder haben. In Strömen werden über euch die Gnaden gegossen werden. Aber schaut, wie ich euch eingeschätzt habe; ich habe euch mitgenommen, ohne Beweise von euch zu verlangen und ohne die Notwendigkeit zu sehen, euch solche zu geben; denn so wie ihr seid, seid ihr mir teuer, die ihr an mich glaubt!»

Petrus beruhigt sich. «Verzeih mir, Jesus!»

«Ja, ich verzeihe dir; denn dein Beleidigtsein ist Liebe. Doch du darfst nicht eifersüchtig sein, Simon des Jonas! Weißt du, was das Herz deines Jesus ist? Hast du noch nie das Meer gesehen, das wirkliche Meer? Nun, mein Herz ist weit größer als das größte Meer! Und es hat Platz für alle. Für die gesamte Menschheit. Der Kleinste und der Größte haben darin Platz. Der Sünder wie der Unschuldige finden hier Liebe. Diesen gebe ich einen Auftrag. Gewiß! Willst du mir es verbieten? Ich habe euch auserwählt, nicht ihr mich. Ich kann daher frei entscheiden, wie ich euch verwenden will. Und wenn ich diesen mit einem Auftrag hier lasse – es kann auch eine Prüfung sein oder eine Barmherzigkeit, wenn Iskariot eine Zeitspanne gelassen wird – kannst du mir deswegen einen Vorwurf machen? Weißt du, daß dir eine größere Aufgabe vorbehalten ist? Ist es nicht das Schönste, wenn du von mir hören darfst: "Du wirst mir nachfolgen"?»

«Wirklich und wahrhaftig, ich bin ein Esel... verzeih mir, bitte!»

«Ja, alles, alles sei dir verziehen, o Petrus! Doch ich bitte euch alle: streitet euch nie um die Plätze und die Verdienste! Ich hätte als König geboren werden können; doch ich bin arm und in einem Stall geboren. Ich

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hätte reich sein können; doch ich lebte bis jetzt von meiner Arbeit und bin nun auf die barmherzige Nächstenliebe angewiesen. Und doch, glaubt mir, Freunde, es gibt keinen Größeren als mich in den Augen Gottes... als mich, der ich hier bin, um den Menschen zu dienen.»

«Diener, du? ... Niemals!»

«Warum, Petrus?»

«Weil ich dir dienen will!»

«Selbst wenn du mir dienen würdest, wie eine Mutter das Kind bedient, ich bin gekommen, um dem Menschen zu dienen. Ich werde sein Erlöser sein. Gibt es einen Dienst, der diesem gleichkommt?»

«Oh, Meister, du erklärst alles, und was dunkel scheint, wird sofort hell.»

«Bist du nun zufrieden, Petrus? Laß mich nun mit Thomas weiterreden! Thomas, bist du sicher, den Aussätzigen wiederzuerkennen? Nur er ist geheilt. Doch es könnte sein, daß er schon beim Sternenschein weggegangen ist, um einen nötigen Begleiter zu finden. Und ein anderer, der rasch in die Stadt kommen will, um die Angehörigen zu sehen, könnte seinen Platz einnehmen. Höre gut zu: er sieht so aus... ich war ihm sehr nahe... und im Halbdunkel habe ich ihn gut gesehen. Er ist hochgewachsen und mager. Von dunkler Hautfarbe, wie ein Mischling, hat tiefliegende und rabenschwarze Augen unter weißen Wimpern, seine Haare sind weiß wie Linnen und dicht, seine Nase ist lang und zur Spitze hin gebogen, wie die der Libyer, und er hat dicke und vorstehende Lippen, besonders die untere. Seine Hautfarbe ist olivgrün, so daß die Lippen violett scheinen. Auf der Stirne hat er eine alte Narbe, die ihm geblieben ist. Und dies wird das einzige Merkmal sein, nun da er von den Krusten und vom Schmutz gereinigt ist.»

«So ist es ein Greis, wenn er ganz weiß ist?»

«Nein, Philipp. Es scheint so, aber er ist es nicht. Die Krankheit hat sein Haar gebleicht.»

«Was ist er? Ein Mischling?»

«Vielleicht, Petrus. Er gleicht den Völkern Afrikas.»

«Ist er Israelit?»

«Wir werden es erfahren. Doch wenn er es nicht wäre?»

«Wenn er es nicht wäre, könnte er weggehen. Es ist schon viel für ihn getan, daß du ihn geheilt hast.»

«Nein, Petrus. Auch wenn er ein Heide wäre, würde ich ihn nicht fortjagen. Jesus ist für alle gekommen. Wahrlich, ich sage dir, die Völker der Finsternis werden die Kinder des Volkes des Lichtes übertreffen.»

Jesus seufzt; dann steht er auf, spricht das Dankgebet und erteilt den Segen.

Die Vision endet damit.

(Ich möchte anfügen, daß meine innere Stimme seit gestern abend, als ich den Aussätzigen sah, sagt: «Es ist Simon, der Apostel. Du wirst ihn mit Thaddäus zum Meister kommensehen.» Heute morgen (Freitag), nach der heiligen Kommunion, öffne ich das Missale und sehe, daß gerade heute die Vigil des Festes des heiligen Simon und des heiligen Judas ist, und das Evangelium von morgen spricht über die Nächstenliebe, beinahe mit denselben von mir in der Vision gehörten Worten. Judas Thaddäus jedoch habe ich bis jetzt noch nicht gesehen.)

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91. JUDAS DES ALPHÄUS, THOMAS UND SIMON WERDEN AM JORDAN ANGENOMMEN

Ihr seid schön, ihr Ufer des Jordan, so wie ihr zu den Zeiten Jesu wart. Ich betrachte euch und erfreue mich an eurem herrlichen, grünblauen, friedlichen Wasser, dem Rauschen und dem Wellenschlag mit seinem melodischen Rhythmus.

Ich befinde mich auf einer ziemlich breiten und einigermaßen gut erhaltenen Straße. Es muß eine Hauptstraße sein, besser noch, eine Militärstraße, die von den Römern angelegt wurde, um die verschiedenen Gebiete mit der Hauptstadt zu verbinden. Sie verläuft parallel zum Fluß, doch nicht längs des Flusses. Sie ist von diesem durch eine Gebüschzone getrennt, die, wie ich annehme, die Aufgabe hat, die Ufer zu verstärken und das Wasser in Hochwasserzeiten einzudämmen. Auf der anderen Straßenseite setzt sich diese Baumzone fort, so daß die Straße wie unter einem natürlichen Dach verläuft, da sich über ihr die grünen Zweige verflechten.

Der Fluß und auch die Straße machen an dem Punkt, an dem ich mich befinde, einen leichten Bogen, was mir erlaubt, eine Art grüne Mauer zu sehen, die ein ruhiges Wasserbecken umschließt. Man könnte fast an einen See in einem herrschaftlichen Park denken; doch das Wasser ist nicht unbewegt wie das der Seen, sondern fließt dahin, wenn auch langsam, Man gewahrt dies am Rascheln der dem Wasser nächstgelegenen Schilfhalme, wie auch an den wellenförmigen Bewegungen ihrer über dem Wasserspiegel hängenden, bänderartigen Blätter. Auch eine Weidengruppe mit ihren biegsamen Ruten läßt ihre grünen Wipfel bis auf den Fluß niederhängen gleich Haaren, die von den Wellen anmutig gekämmt werden.

Schweigen und Frieden in dieser Morgenstunde! Nur Gezwitscher und Lockrufe der Vögel, das Murmeln des Wassers und das Rauschen des Blattwerks. Wundervoll glänzt der Tau auf dem grünen, hohen Gras zwischen den Stauden, das noch nicht vertrocknet und vergilbt ist in der Sommersonne, sondern zart und frisch erscheint nach dem frühlingsbedingten Anschwellen des Wassers, das die Erde bis in die Tiefe mit Feuchtigkeit und guten Säften versorgt hat.

Drei Wanderer stehen gerade in der Mitte dieser Straßenbiegung.

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Sie blicken hinauf und hinab; nach Süden, wo Jerusalem liegt – nach Norden, wo sich Samaria befindet. Sie blicken forschend durch die Baumreihen, um zu sehen, ob nicht jemand, den sie erwarten, daherkommt. Es sind Thomas, Judas Thaddäus und der geheilte Aussätzige. Sie unterhalten sich.

«Siehst du nichts?»

«Nein.»

«Ich auch nicht.»

«Doch dies ist die Stelle.»

«Bist du sicher?»

«Bestimmt, Simon. Einer der sechs (Jünger) sagte zu mir, während der Meister sich nach dem Wunder der Heilung eines lahmen Bettlers am Fischtor unter dem Beifall der Menge entfernte: "Wir verlassen nun Jerusalem. Erwartet uns am fünften Meilenstein zwischen Jericho und Doko, an der Biegung des Flusses auf der Baumstraße!" Er hat auch gesagt: "Wir werden in drei Tagen beim Sonnenaufgang dort sein." Heute ist der dritte Tag.»

«Wird er kommen? Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir ihm von Jerusalem aus gefolgt wären.»

«Du konntest doch noch nicht unter die Menschenmenge gehen, Simon.»

«Wenn mein Vetter gesagt hat, daß wir hierherkommen sollen, dann wird er kommen. Er hält immer, was er verspricht. Man muß nur warten können.»

«Bist du immer mit ihm zusammen gewesen?»

«Immer. Seit er nach Nazareth zurückgekehrt ist, war er immer mein guter Gefährte. Wir waren stets zusammen. Wir sind im gleichen Alter, ich bin nur ein wenig älter. Und dann war ich der Liebling seines Vaters, meines Vaters Bruder. Auch seine Mutter war immer gut zu mir. Ich war mehr bei ihr als bei meiner eigenen Mutter.»

«Sie liebte dich... und nun liebt sie dich nicht mehr?»

«Aber ja; doch wir haben uns getrennt, seit er ein Prophet geworden ist. Meine Verwandten sahen es nicht gerne.»

«Welche Verwandten?»

«Mein Vater und die beiden ältesten Brüder; der andere ist wankelmütig... Mein Vater ist sehr alt, und ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn zu verletzen. Doch jetzt... jetzt nicht mehr. Jetzt gehe ich hin, wo Herz und Geist mich hinziehen. Ich gehe zu Jesus. Ich glaube nicht, daß ich dadurch gegen das Gesetz verstoße. Und wenn... wenn es nicht recht wäre, was ich zu tun beabsichtige, dann würde Jesus es mir sagen. Ich werde tun, was er sagt. Ist es einem Vater erlaubt, seinen Sohn im Guten zu behindern? Wenn ich spüre, daß dort das Heil ist, warum mir verwehren, es zu besitzen? Warum können Väter zuweilen unsere Feinde sein?»

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Simon seufzt wie in traurigen Erinnerungen und neigt das Haupt, doch er schweigt. Thomas sagt: «Ich habe das Hindernis schon überwunden. Mein Vater hat mich angehört und verstanden. Er hat mich gesegnet und gesagt: "Geh, dieses Osterfest möge für dich die Befreiung aus den Fesseln einer Sehnsucht sein! Glücklich bist du, da du glauben kannst. Ich will warten. Doch wenn es wirklich ER ist und du dir dessen sicher bist und ihm nachfolgst, dann komm zu deinem alten Vater und sage ihm: Komm! Israel hat den Ersehnten!"»

«Du bist besser daran als ich. Und dabei sind wir an seiner Seite groß geworden! Und wir glauben nicht, wir aus der gleichen Familie; wir sagen, oder vielmehr sie sagen: "Er ist von Sinnen."»

«Seht, seht, eine Menschengruppe», ruft Simon. «Er ist es, ich erkenne sein blondes Haupt. Oh, kommt, eilen wir ihm entgegen!»

Raschen Schrittes begeben sie sich nach Süden. Die Bäume verdecken den Rest der Straße, so daß die beiden Gruppen zusammentreffen, als sie am wenigsten darauf gefaßt sind. Es sieht aus, als ob Jesus aus dem Fluß steigen würde; denn er befindet sich zwischen den Bäumen des Ufers.

«Meister!»

«Jesus!»

«Herr!»

Die drei Rufe des Jüngers, des Vetters und des Geheilten klingen anbetend und feierlich.

«Der Friede sei mit euch!» Hier ist sie wieder, die schöne, unverwechselbare Stimme, volltönend, gemessen, ausdrucksvoll, rein, männlich, sanft und eindringlich.

«Auch du, Judas, mein Vetter?»

Sie umarmen sich, und Judas weint.

«Warum diese Tränen?»

«Oh, Jesus! Ich will bei dir sein.»

«Ich habe immer auf dich gewartet; warum bist du nicht eher gekommen?»

Judas neigt das Haupt und schweigt.

«Sie haben es nicht gewollt. Und jetzt?»

«Jesus ... ich ... kann ihnen nicht gehorchen... Ich will nur dir allein gehorchen.»

«Aber ich habe dir nichts befohlen.»

«Nein, du nicht. Doch deine Sendung gebietet. Und er, der dich gesandt hat, spricht hier im Innern meines Herzens und sagt zu mir: "Geh zu ihm!" Und sie, die dich geboren hat, war mir eine gütige Lehrerin, die mit ihrem Taubenblick auch ohne Worte sagte: "Du gehörst zu Jesus!" Soll ich diese Stimme unberücksichtigt lassen, diese herrliche Stimme, die mein Herz so sehr erfüllt? Diese Bitte der Heiligen, die mich zu meinem Wohl bestürmt? Nur weil ich dein Vetter von der Seite Josephs bin, soll

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ich dich nicht als den erkennen, der du bist... während der Täufer, der dich nie gesehen hatte, dich am Ufer dieses Flusses erkannte und mit den Worten begrüßte: "Lamm Gottes"? Und ich, ich, der ich mit dir aufgewachsen bin; ich, der ich gut geworden bin, weil ich dir folgte; ich, der ich durch das Verdienst deiner Mutter Sohn des Gesetzes geworden bin und durch sie nicht nur die sechshundertdreizehn Vorschriften der Rabbis, die Heilige Schrift und Gebete in mich aufgenommen habe, sondern vielmehr deren Geist: ich soll zu nichts fähig sein?»

«Und dein Vater?»

«Mein Vater? Ihm fehlt weder Brot noch Fürsorge; und dann... Du gibst mir selbst das Beispiel. Du hast mehr an das Wohl des Volkes als an das kleine Glück deiner Mutter gedacht. Und sie ist allein. Sage mir, mein Meister, ist es nicht erlaubt, einem Vater zu sagen, ohne gegen die Ehrfurcht zu verstoßen: "Vater, ich liebe dich. Doch über dir ist Gott, und ihm will ich folgen."?»

«Judas, mein Verwandter und Freund, ich sage dir: du bist schon sehr weit auf dem Weg des Lichtes fortgeschritten. Komm! Es ist erlaubt, so zum Vater zu sprechen, wenn es Gott ist, der ruft. Nichts steht über Gott. Sogar die Gesetze des Blutes fallen dahin, oder sie vergeistigen und verklären sich; denn mit unseren Tränen geben wir den Vätern und Müttern unsere größte Hilfe und darüber hinaus ewige Dinge, die über den Alltag der Welt hinausgehen. Wenn wir sie mit uns zum Himmel ziehen, dann geschieht das über den Weg des Opfers der Gefühle. Bleibe also, Judas! Ich habe dich erwartet und ich bin glücklich, dich wieder zu haben, Freund meines Lebens in Nazareth.»

Judas ist gerührt.

Jesus wendet sich nun an Thomas: «Du hast treu gehorcht. Das ist die Haupttugend des Jüngers.»

«Ich bin gekommen, um dir treu zu sein.»

«Du wirst es sein. Ich sage es dir. Komm her, der du so verschämt im Schatten stehst, fürchte dich nicht!»

«Mein Herr!» Der ehemalige Aussätzige fällt Jesus zu Füßen.

«Steh auf, wie heißt du?»

«Simon.»

«Deine Familie?»

«Herr, sie war mächtig... auch ich war einflußreich... doch Neid der Sekten und Jugendfehler haben ihre Macht beeinträchtigt. Mein Vater... Oh, ich muß gegen ihn reden, denn er hat mich bittere Tränen gekostet! Du hast es gesehen, was er mir angetan hatte!»

«War er denn aussätzig?»

«Nicht aussätzig, wie auch ich es nicht war, doch erkrankt an einer Seuche mit anderem Namen, die wir hier in Israel dem Aussatz gleichstellen. Er – damals herrschte noch seine Kaste – er lebte und starb reich in

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seinem Haus. Ich... wenn du mich nicht geheilt hättest, ich wäre in den Höhlen gestorben.»

«Bist du allein?»

«Allein. Ich habe einen treuen Diener, der verwaltet, was mir geblieben ist. Ich habe ihn benachrichtigen lassen.»

«Deine Mutter?»

«Sie ist tot ...» Der Mann scheint verlegen zu werden.

Jesus beobachtet ihn aufmerksam: «Simon, du hast zu mir gesagt: "Was kann ich für dich tun?" Nun sage ich dir: Folge mir!»

«Sofort, Herr... doch... doch lasse mich dir etwas sagen! Ich bin... ich werde der "Zelot" genannt wegen der Kaste und der "Kananiter" meiner Mutter wegen. Du siehst, ich bin dunkel. Ich habe Sklavenblut in mir. Mein Vater hatte keinen Sohn von seiner Frau, er hatte mich von der Sklavin. Seine Frau war gut und hielt mich wie einen Sohn; sie pflegte mich in meinen vielen Krankheiten, bis sie starb.»

«In den Augen Gottes gibt es keine Sklaven oder Freie. In seinen Augen gibt es nur ein Sklaventum: die Sünde. Und ich bin gekommen, euch davon zu befreien. Ich rufe euch alle; denn das Reich Gottes ist für alle. Bist du gebildet?»

«Ich bin gebildet. Ich hatte auch meinen Platz bei den Großen, solange die Kleider das Übel bedecken konnten. Doch als es mir ins Gesicht stieg... da war es den Feinden gerade willkommen, mich unter die "Toten" zu verbannen; obwohl ein römischer Arzt, den ich konsultierte, mir sagte, daß meine Krankheit kein Aussatz im eigentlichen Sinn sei, sondern eine Erbkrankheit, und daß es genüge, keine Kinder zu zeugen, um sie nicht weiter zu verbreiten. Soll ich meinen Vater nicht verfluchen?»

«Du darfst ihn nicht verfluchen. Er war für dich Ursache vieler Leiden und Übel...»

«O ja! Sein Vermögen hat er verschwendet; er war lasterhaft, grausam, ohne Herz und Liebe. Er hat mir Gesundheit, Liebe und Frieden versagt. Er hat mich mit einem Namen gebrandmarkt, mit einer Krankheit, die ein Zeichen der Schmach ist... Er hat alles an sich gerissen... auch die Zukunft seines Sohnes. Er hat mir alles genommen, auch die Freude, Vater zu sein.»

«Deswegen sage ich dir, folge mir! An meiner Seite, in meiner Nachfolge wirst du Vater und Söhne finden. Erhebe den Blick, Simon! Dort oben ist der wahre Vater, der dir zulächelt. Blicke in die Weite der Welt, in die Erdteile, über die Landstriche! Söhne um Söhne sind da: Kinder der Seele für Kinderlose. Sie erwarteten dich, und viele wie du warten ebenfalls. Unter meinem Zeichen gibt es keine Verachteten mehr. In meinem Zeichen gibt es keine Einsamkeit oder Unterschiede mehr. Es ist das Zeichen der Liebe, und es schenkt Liebe. Komm, Simon, der du keine Söhne hast! Komm, Judas, der du den Vater verloren hast aus Liebe zu mir! Ich vereinige euch in der gleichen Berufung.»

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Jesus hat sie beide neben sich. Er legt jedem eine Hand auf die Schulter, wie um von ihnen Besitz zu ergreifen, wie um ihnen ein Joch aufzuerlegen.

Dann sagt er: «Ich vereinige euch; aber vorerst werde ich euch trennen. Du, Simon, wirst mit Thomas hier bleiben. Mit ihm wirst du den Weg meiner Rückkehr bereiten. Bald werde ich zurückkehren, und ich will, daß viel Volk mich erwarte. Sagt es den Kranken, daß der kommt, der heilt! Sagt den Wartenden, daß der Meister unter seinem Volk ist. Sagt den Sündern, daß da einer ist, der verzeiht, um Kraft zu geben, sich zu erheben ...»

«Werden wir dies können?»

«Ja, ihr braucht nur zu sagen: "Er ist da! Er ruft! Er erwartet euch! Er kommt, um euch Gnade zu erweisen. Seid ihr bereit, ihn zu sehen?" Und fügt diesen Worten all das bei, was ihr erlebt habt! Und du, Judas, mein Vetter, komm mit mir und mit diesen! Du aber wirst in Nazareth bleiben.»

«Warum, Jesus?»

«Weil du mir den Weg in der Heimat bereiten mußt. Glaubst du, daß es eine kleine Aufgabe ist? Wahrlich, es gibt keine schwierigere.» Jesus seufzt.

«Werde ich es schaffen?»

«Ja und nein; doch wird alles genügen, um gerechtfertigt zu sein.»

«Weswegen und bei wem?»

«Bei Gott, bei der Heimat, bei der Familie. Sie sollen uns nicht vorwerfen können, daß wir ihnen das Heil nicht angeboten haben. Und wenn das Vaterland und die Familie es nicht würdigen, so ist es nicht unsere Schuld, wenn sie verlorengehen.»

«Und wir?»

«Ihr, Petrus? Ihr geht zu euren Netzen zurück.»

«Warum?»

«Weil ich euch langsam unterweisen muß und euch erst rufen lasse, wenn ich euch bereit finde.»

«Aber wir werden dich dann sehen?»

«Natürlich. Ich werde oft zu euch kommen oder euch rufen lassen, wenn ich in Kapharnaum bin. Verabschiedet euch nun, Freunde, und gehen wir. Ich segne euch, die ihr zurückbleiben müßt. Mein Friede sei mit euch!»

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92. NACH OSTERN, RÜCKKEHR MIT DEN SECHS JÜNGERN

NACH NAZARETH

Jesus erreicht mit seinem Vetter und den sechs Jüngern die Umgebung von Nazareth. Von der Höhe aus sehen sie das Städtchen, das sich, weiß inmitten der grünen Wiesen, an die Hänge schmiegt, auf denen es erbaut ist.

«Wir sind da, Freunde. Hier ist mein Haus. Meine Mutter ist zu Hause, denn Rauch steigt aus dem Kamin. Vielleicht bäckt sie gerade Brot. Ich will euch nicht zum Bleiben einladen, da ich annehme, daß auch ihr es eilig habt, nach Hause zu kommen. Doch wenn ihr mit mir das Brot brechen wollt und sie kennenlernen möchtet, die Johannes schon kennt, dann sage ich euch: kommt!»

Die sechs, die im Gedanken an die bevorstehende Trennung schon recht traurig waren, werden sichtlich froh und nehmen dankbar an.

«Dann gehen wir also!»

Sie eilen rasch den Hügel hinunter und gehen weiter auf die Hauptstraße. Es ist gegen Abend und noch heiß, doch die Schatten legen sich schon über die Felder, auf denen die Ähren zu reifen beginnen. Sie betreten das Städtchen. Frauen gehen zum Brunnen oder kehren von dort zurück; Männer stehen auf den Schwellen der kleinen Werkstätten oder arbeiten im Hausgärtchen. Sie begrüßen Jesus und Judas. Die Kinder scharen sich um Jesus.

«Bist du zurückgekommen? Bleibst du nun wieder hier?»

«Mein Rädchen am Wägelchen ist wieder entzweigebrochen.»

«Weißt du, Jesus, ich habe ein Schwesterchen bekommen; man hat ihm den Namen Maria gegeben.»

«Der Lehrer hat mir gesagt, daß ich nun alles gelernt habe und ein wahrer Sohn des Gesetzes bin.»

«Sara ist nicht hier, weil ihre Mutter sehr krank ist. Sie weint, weil sie Angst hat.»

«Mein Bruder Jakob hat geheiratet. Es war ein großes Fest.»

Jesus hört zu, liebkost, ermutigt und verspricht Hilfe. So erreichen sie das Haus. An der Schwelle wartet schon Maria, die von einem eifrigen Jungen benachrichtigt worden ist.

«Mein Sohn!»

«Mama!»

Die beiden fallen sich in die Arme. Maria, viel kleiner als Jesus, legt ihr Haupt an die Brust des Sohnes und fühlt sich geborgen, umschlossen um seinen Armen. Jesus küßt sie auf die blonden Haare; dann betreten sie das Haus.

Die Jünger, auch Judas, bleiben draußen, um die beiden in der ersten Rührung nicht zu stören.

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«Jesus, mein Sohn! Sie haben mir erzählt... Im Tempel waren auch Galiläer und Nazarener an jenem Tag... Sie sind schon zurück... und haben alles berichtet. Oh, Sohn! ...»

«Du siehst, Mama, es geht mir gut. Es ist mir nichts zugestoßen; Gott ist in seinem Haus nur Ehre erwiesen worden.»

«Ja, ich weiß, Sohn meines Herzens. Ich weiß, daß es wie der Schall war, der die Schlafenden erwachen läßt. Und um der Ehre Gottes willen bin ich zufrieden... Glücklich, daß dieses mein Volk aufwacht für Gott. Ich rüge dich nicht; ich hindere dich nicht; ich verstehe dich und ich bin glücklich... Aber ich, ich habe dich geboren, mein Sohn!»

Maria, immer noch von den Armen Jesu umfangen, blickt mit tränenverschleierten Augen zu ihm auf, während ihre offenen Hände auf seiner Brust ruhen. Nun schweigt sie, den Kopf wieder an seine Brust geschmiegt. In ihren grauen Kleidern sieht sie einer grauen Turteltaube gleich, die zwischen zwei großen, hellen Flügeln Schutz sucht; denn Jesus trägt immer noch das weiße Gewand und den weißen Mantel.

«Mama, arme Mama, liebste Mama! ...» Jesus küßt sie nochmals; dann sagt er: «Nun, siehst du? Ich bin hier, doch nicht allein. Ich habe meine ersten Jünger bei mir. Weitere sind noch in Judäa. Auch Vetter Judas ist hier, und er wird mir folgen.»

«Judas?»

«Ja, Judas... ich weiß, warum du dich wunderst. Sicherlich waren unter denen, die über die Vorkommnisse gesprochen haben, auch Alphäus und seine Söhne, und ich irre mich nicht, wenn ich sage, daß sie mich kritisiert haben. Doch habe keine Angst! Heute ist es so, morgen anders. Der Mensch muß bearbeitet werden wie das Erdreich, und wo zuvor Leid war, erblühen Rosen. Judas, den du liebst, ist schon bei mir.»

«Wo ist er jetzt?»

«Draußen mit den anderen. Hast du genügend Brot für alle?»

«Ja, Sohn. Maria des Alphäus ist gerade beim Backofen und holt Brot heraus. Sie ist sehr gut zu mir, Maria. Jetzt ganz besonders.»

«Gott wird ihr dafür die Herrlichkeit geben!» Er geht zur Tür und sagt: «Judas, deine Mutter ist hier. Kommt, Freunde!»

Sie treten alle ein und grüßen. Judas küßt Maria, dann sucht er eiligst seine Mutter.

Jesus stellt die fünf mit Namen vor: Petrus, Andreas, Jakobus, Nathanael, Philippus. Johannes ist Maria schon bekannt; er begrüßte sie gleich nach Judas und verneigte sich, um ihren Segen zu erhalten.

Als Hausherrin bemüht sich Maria nun um ihre Gäste, obwohl ihr Blick in anbetender Verehrung immer wieder bei Jesus weilt und mit ihm gleichsam geistige Zwiesprache hält. Sie möchte Wasser bringen, damit sie sich erfrischen können, doch Petrus springt auf: «Nein, Frau, das kann ich nicht erlauben. Du mußt dich zu deinem Sohn setzen, heilige

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Mutter. Ich gehe – wir alle gehen in den Garten, um uns dort zu erfrischen!»

Maria des Alphäus kommt herein. Sie ist ganz erhitzt und mit Mehl bestäubt, und sie grüßt Jesus, der sie segnet; dann begleitet sie die sechs Jünger in den Garten zum Brunnen und kehrt glücklich zurück. «Oh, Maria», sagt sie zur Jungfrau, «Judas hat mir erzählt. Wie bin ich froh, für Judas und für dich, liebe Schwägerin. Ich weiß, daß die anderen mich schimpfen werden; doch das macht nichts. Ich werde glücklich sein an dem Tag, an dem alle von Jesus wissen. Wir Mütter wissen immer... wir spüren, was für die Kinder gut ist. Und ich fühle, daß Jesus das Heil für meine Kinder ist.»

Jesus streicht ihr zärtlich mit der Hand übers Haupt und lächelt.

Die Jünger kehren zurück, und Maria des Alphäus bringt frisches, knuspriges Brot, Oliven und Käse, aber auch eine Karaffe leichten Rotweins, den Jesus seinen Jüngern einschenkt. Es ist immer Jesus, der anbietet und austeilt. Zuerst sind die Jünger etwas scheu; doch sie werden bald sicherer und berichten von ihren Häusern, der Reise nach Jerusalem, den Wundern. Sie sind voller Eifer und Liebe, und Petrus bemüht sich, in Maria eine Verbündete zu gewinnen, um sofort von Jesus angenommen zu werden, ohne erst in Bethsaida warten zu müssen.

«Tut, was er euch sagt!» mahnt sie mit einem sanften Lächeln. «Dieses Warten wird euch nützlicher sein als eine sofortige Annahme. Alles, was Jesus tut, ist wohlgetan.»

Die Hoffnung des Petrus schwindet. Doch er fügt sich gutmütig und fragt nur noch: «Wird das Warten lange dauern?»

Jesus betrachtet ihn mit einem Lächeln, doch er sagt nichts weiter. Maria deutet dieses Lächeln als ein wohlwollendes Zeichen und sagt: «Simon des Jonas, er lächelt... ich sage dir, rasch wie ein Schwalbenflug über dem See vergeht die Zeit deines folgsamen Wartens.»

«Danke, Frau.»

«Du sagst nichts, Judas? Und du, Johannes?»

«Ich schaue auf dich, Maria.»

«Und auch ich.»

«Auch ich betrachte euch... und wißt ihr, ich erinnere mich an eine längst vergangene Stunde. Auch damals ruhten drei liebevolle Augenpaare auf meinem Gesicht. Erinnerst du dich, Maria, meiner drei Schüler?»

«Und wie ich mich erinnere! ... Es ist wahr, auch heute sind es drei beinahe Gleichaltrige, die dich mit ihrer ganzen Liebe betrachten. Und dieser hier, Johannes, gleicht Jesus von damals: so blond und rosig und jünger als die anderen.»

Die anderen möchten nun Näheres darüber erfahren. Im Erzählen ziehen dann Erinnerungen und Vorkommnisse an ihnen vorbei. Die Zeit vergeht, und es ist Abend geworden.

«Freunde, ich habe im Haus keine Zimmer. Doch dort ist die Werk-

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statt, in der ich gearbeitet habe; wenn sie euch gut genug ist... doch es gibt dort nur Bänke.»

«Ein bequemes Bett für Fischer, die auf engen Brettern zu schlafen gewohnt sind. Danke, Meister! Unter deinem Dach schlafen zu dürfen, bedeutet Ehre und Heiligung.»

Sie ziehen sich grüßend zurück. Judas geht mit seiner Mutter nach Hause.

Zurück bleiben Jesus und Maria. Sie sitzen auf der Truhe beim schwachen Schein des Öllämpchens, ein jedes den Arm um die Schulter des anderen gelegt. Jesus erzählt, Maria hört zu, glücklich, zitternd, selig...

Die Vision endet damit.

93. DIE HEILUNG DES BLINDEN IN KAPHARNAUM

Jesus spricht, und sofort kommt Ruhe über mich, und die Freude dieser leuchtenden Ruhe macht mein Herz leicht: «Sieh, es gefallen dir die Episoden mit den Blinden so sehr. Ich erzähle dir also eine weitere.»

Und ich sehe:

Vor mir spielt sich ein schöner, sommerlicher Sonnenuntergang ab. Der ganze Westen ist ein Flammenmeer, und der See von Genesareth ist wie ein riesiger, leuchtender Spiegel unter dem brennenden Himmel.

Die Straßen von Kapharnaum beginnen sich zu bevölkern. Die Frauen gehen zum Brunnen; Männer, Fischer bereiten die Netze und die Boote für den nächtlichen Fischfang; Kinder spielen auf der Straße, und Männer mit ihren mit Körben ausgerüsteten Eseln gehen zu den Feldern, vielleicht um dort Grünzeug zu holen.

Jesus zeigt sich an einem Pförtchen, das zu einem kleinen Vorplatz führt, der von einem Weinstock und einem Feigenbaum beschattet wird. Vor diesem Vorplatz führt ein steiniger Weg am See entlang. Es muß das Haus des Petrus sein, denn er steht mit Andreas am Ufer. Er bereitet im Boot die Körbe und die Netze für die Fische vor, verteilt Sitzpolster und Seilrollen; nun, alles was man zum Fischfang braucht. Andreas hilft ihm dabei; er geht zwischen dem Haus und dem Boot hin und her und schafft notwendige Ge