Joannes Paul II
Ioannes Paulus PP. II
Dives in misericordia
Über das göttliche Erbarmen
Segen
Verehrte Brüder, liebe Söhne und Töchter!
Gruß und Apostolischen Segen
I. WER MICH SIEHT, SIEHT
DEN VATER (vgl. Joh 14, 9)
1. Die Offenbarung des Erbarmens
»GOTT..., DER VOLL ERBARMEN IST«,1
wurde uns von Jesus Christus als Vater geoffenbart: sein Sohn selbst hat
ihn uns in sich kundgetan und kennengelehrt.2
Denkwürdig ist die Szene, da Philippus, einer der zwölf Apostel, sich an
Jesus wandte mit der Bitte: »Herr, zeig uns den Vater, das genügt uns«,
und die Antwort bekam: »Schon so lange bin ich bei euch, und du hast
mich nicht erkannt...? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«.3
Diese Worte wurden während der Abschiedsreden gesprochen, am Ende des
Ostermahles, dem dann die Ereignisse jener heiligen Tage folgten, in
denen es sich ein für allemal erwiesen hat, daß »Gott..., der voll
Erbarmen ist, ... uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in
seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus
wieder lebendig gemacht hat«.4
Im Anschluß an die Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils und im
Blick auf die besonderen Erfordernisse unserer Zeit habe ich die
Enzyklika Redemptor Hominis der Wahrheit über den Menschen
gewidmet, die uns in ihrer Fülle und Tiefe in Christus offenbar wird.
Ein nicht weniger gewichtiges Erfordernis unserer ernsten und keineswegs
leichten Zeit drängt mich dazu, mich noch einmal in das Geheimnis
Christi zu versenken, um in ihm das Antlitz des Vaters zu entdecken, der
der »Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes«5
ist. In der Konstitution Gaudium et Spes lesen wir: »Christus,
der neue Adam, macht... dem Menschen den Menschen selbst voll kund und
erschließt ihm seine höchste Berufung«, und er tut dies eben »in der
Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe«.6
Diese Worte bezeugen sehr klar, daß der Mensch in der vollen Würde
seiner Natur nicht dargestellt werden kann ohne einen - nicht nur
theoretischen, sondern ganzheitlich existentiellen - Bezug auf Gott. Der
Mensch und seine höchste Berufung werden in Christus durch die
Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe offenbar.
Sich diesem Geheimnis zuzuwenden, wird von vielfachen Erfahrungen der
Kirche und des zeitgenössischen Menschen nahegelegt; es wird auch von
den notvollen Rufen so vieler Menschenherzen, von ihren Leiden und
Hoffnungen, ihren Ängsten und Erwartungen gefordert. Wenn es zutrifft,
daß in gewissem Sinne jeder Mensch der Weg der Kirche ist - wie ich es
in der Enzyklika Redemptor Hominis ausgesprochen habe - , dann
sagen uns das Evangelium und die gesamte Tradition zugleich, daß wir
diesen Weg mit jedem Menschen so gehen müssen, wie
Christus ihn vorgezeichnet hat, indem er in sich selbst den Vater
und dessen Liebe offenbarte.7
In Jesus Christus ist jeder Weg zum Menschen - der Kirche ein für
allemal im wechselvollen Bild der Zeiten aufgegeben - gleichzeitig ein
Weg, der zum Vater und zu seiner Liebe führt. Das Zweite Vatikanische
Konzil hat diese Wahrheit auf unsere Zeit hin neu bekräftigt.
Je mehr sich die Sendung der Kirche auf den Menschen konzentriert, je
mehr sie sozusagen anthropozentrisch ist, desto mehr muß sie sich als
theozentrisch erweisen und es in Wirklichkeit sein, sich also in Jesus
Christus auf den Vater ausrichten. Während verschiedene
Geistesströmungen in der Vergangenheit und der Gegenwart dazu neigten
und neigen, Theozentrik und Anthropozentrik voneinander zu trennen und
sogar in Gegensatz zueinander zu bringen, bemüht sich die Kirche, darin
Christus folgend, deren organische, tiefe Verbindung in die Geschichte
des Menschen einzubringen. Das ist auch ein Grundgedanke, vielleicht
sogar der wichtigste in der Lehre des letzten Konzils. Wenn wir also in
der gegenwärtigen Phase der Kirchengeschichte unsere erste Aufgabe darin
sehen, die Lehre des großen Konzils zu verwirklichen, so müssen
wir uns diesem Grundgedanken mit Glauben, offenem Geist und mit dem
Herzen zuwenden. Schon in meiner vorhin erwähnten Enzyklika habe ich
versucht hervorzuheben, daß die Vertiefung und vielfache Bereicherung
des Wissens um die Kirche - eine Frucht des Konzils - unseren Geist und
unser Herz für Christus selbst weiter auftun müssen. Heute möchte ich
sagen, daß diese Öffnung auf Christus hin - der als Erlöser der Welt dem
Menschen den Menschen voll offenbart - sich nur vollziehen kann in einer
immer reiferen Beziehung zum Vater und zu seiner Liebe.
2. Die Inkarnation des Erbarmens
Gott, »der in unzugänglichem Licht wohnt«,8
spricht zugleich zum Menschen durch die Sprache des Universums: »Seit
Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken
der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und
Gottheit«.9
Diese indirekte und unvollkommene Erkenntnis - ein Werk des Verstandes,
der Gott durch Vermittlung der Geschöpfe sucht, ausgehend von der
sichtbaren Welt - ist noch kein »Sehen des Vaters«. »Niemand hat Gott je
gesehen«, schreibt der heilige Johannes, um jener Wahrheit besonderen
Nachdruck zu verleihen, daß »Er, der Einzige, der Gott ist und am Herzen
des Vaters ruht, (ihn) kundgemacht hat«.10
Diese »Kundmachung« offenbart Gott im unauslotbaren Geheimnis seines
einen und dreifaltigen Seins, das von »unzugänglichem Licht«11
umgeben ist. Doch erkennen wir Gott durch die »Kundmachung« Christi vor
allem in seiner liebenden Zuwendung zum Menschen, in seiner »Menschen -
Freundlichkeit«.12
Gerade hier wird seine »unsichtbare Wirklichkeit« auf besondere Weise
»sichtbar« in unvergleichlich höherem Maß als durch all seine anderen
»Werke«: sie wird sichtbar in Christus und durch Christus, durch
seine Taten und seine Worte und schließlich durch seinen Kreuzestod und
seine Auferstehung.
Auf diese Weise - in Christus und durch Christus - wird Gott auch in
seinem Erbarmen besonders sichtbar, das heißt: jene göttliche
Eigenschaft tritt hervor, die schon das Alte Testament - in
verschiedenen Bildern und Ausdrucksweisen - als »Erbarmen«
beschrieben hat. Christus gibt der gesamten alttestamentlichen Tradition
vom göttlichen Erbarmen eine endgültige Bedeutung. Er spricht nicht nur
vom Erbarmen und erklärt es mit Hilfe von Gleichnissen und Parabeln, er
ist vor allem selbst eine Verkörperung des Erbarmens, stellt es in
seiner Person dar. Er selbst ist in gewissem Sinne das Erbarmen.
Für den, der es in ihm sieht - und in ihm findet - , wird Gott in
besonderer Weise »sichtbar« als Vater, »der voll Erbarmen ist«.13
Die Mentalität von heute scheint sich vielleicht mehr als die der
Vergangenheit gegen einen Gott des Erbarmens zu sträuben und neigt dazu,
schon die Idee des Erbarmens aus dem Leben und aus den Herzen zu
verdrängen. Das Wort und der Begriff »Erbarmen« scheinen den Menschen zu
befremden, der dank eines in der Geschichte vorher nie gekannten
wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts Herrscher geworden
ist und sich die Erde untertan gemacht und unterjocht hat.14
Dieses Herrschen über die Erde, das zuweilen einseitig und oberflächlich
verstanden wird, scheint für das Erbarmen keinen Raum zu lassen. Es ist
in diesem Zusammenhang lohnend, auf das Bild von der »Situation des
Menschen in der heutigen Welt« zurückzugreifen, wie es am Beginn der
Konstitution Gaudium et Spes umrissen wird. Unter anderem lesen
wir dort die folgenden Sätze: »So zeigt sich die moderne Welt zugleich
stark und schwach, zum Besten befähigt und zum Schlimmsten bereit. Sie
hat die Wahl zwischen Freiheit und Sklaverei, Fortschritt und
Rückschritt, Brüderlichkeit und Haß. Zudem weiß nun der Mensch, daß es
seine Aufgabe ist, jene Kräfte, die er selbst geweckt hat und die ihn
zermalmen oder ihm dienen können, richtig zu lenken«.15
Die Lage der Welt von heute weist nicht nur Umwandlungen auf, die zur
Hoffnung auf eine bessere Zukunft des Menschen auf dieser Erde
berechtigen, sondern auch vielfache Bedrohungen, welche über die
bisher gekannten weit hinausgehen. Die Kirche muß auf diese Bedrohungen
bei entsprechenden Gelegenheiten weiterhin aufmerksam machen (wie in den
Ansprachen vor der UNO, der UNESCO, der FAO und anderswo), sie aber auch
im Lichte der von Gott empfangenen Wahrheit durchdenken.
In Christus geoffenbart, erlaubt uns die Wahrheit über Gott, den
»Vater des Erbarmens«,16
ihn dem Menschen besonders nahe zu »sehen«, und zwar vor allem dann,
wenn der Mensch leidet, wenn er im Kern seiner Existenz und seiner Würde
bedroht ist. Das ist der Grund, warum sich in der heutigen Situation der
Kirche und der Welt viele Menschen und viele Gemeinschaften, von einem
lebendigen Glaubenssinn geführt, sozusagen spontan an Gottes Erbarmen
wenden. Sie werden dazu sicher von Christus selbst gedrängt, der durch
seinen Geist in den Herzen der Menschen am Werk ist. Das von ihm
geoffenbarte Geheimnis Gottes als des »Vaters des Erbarmens« wird vor
dem Hintergrund der heutigen Bedrohung des Menschen gleichsam ein
einzigartiger Appell an die Kirche.
Mit dieser Enzyklika möchte ich auf diesen Appell eingehen; ich
möchte aus der zeitlosen, in ihrer Einfachheit und zugleich Tiefe
unvergleichlichen Sprache der Offenbarung und des Glaubens schöpfen, um
in ihr noch einmal die großen Besorgnisse unserer Zeit vor Gott und den
Menschen auszusprechen.
Offenbarung und Glaube lehren uns ja nicht so sehr, abstrakt über das
Geheimnis Gottes als des »Vaters des Erbarmens« nachzusinnen, sondern zu
diesem Erbarmen unsere Zuflucht zu nehmen, im Namen Christi und in
Einheit mit ihm. Hat er etwa nicht gesagt, daß unser Vater, »der auch
das Verborgene sieht«,17
sozusagen unablässig darauf wartet, daß wir ihn in jeder Not anrufen und
so immer sein Geheimnis ermessen: das Geheimnis des Vaters und seiner
Liebe?18
So ist es mein Wunsch, daß die Überlegungen dieser Enzyklika das
Geheimnis der väterlich-erbarmenden Liebe Gottes allen näher bringen und
zugleich zu einem inständigen Gebet der Kirche um Erbarmen werden, das
der Mensch und die Welt von heute so sehr brauchen - und sie brauchen
es, auch wenn sie sich dessen oft nicht bewußt sind.
II. DIE MESSIANISCHE
BOTSCHAFT
3. Als Christus zu wirken und zu lehren begann
Vor seinen Landsleuten in Nazaret bezieht sich Christus auf die Worte
des Propheten Jesaja: »Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr
hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute
Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und
den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit
setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe«.19
Diese Sätze sind bei Lukas Jesu erste Messias - Offenbarung, der
dann die Taten und Worte folgen, die wir aus dem Evangelium kennen.
Durch diese Taten und Worte macht Christus den Vater unter den Menschen
gegenwärtig. Es ist ungemein bezeichnend, daß diese Menschen vor allem
die Armen sind, denen es an Lebensunterhalt fehlt; die, welche ihrer
Freiheit beraubt sind; die Blinden, welche die Schönheit der Schöpfung
nicht sehen können; die, welche in Trauer und Sorge leben oder unter
sozialen Ungerechtigkeiten leiden; und schließlich die Sünder. Vor allem
für die Letztgenannten wird der Messias ein besonders verstehbares
Zeichen Gottes, der Liebe ist, ein Zeichen des Vaters. In diesem
sichtbaren Zeichen können die Menschen von heute ebenso wie die Menschen
von damals den Vater sehen.
Es ist aufschlußreich, daß Jesus den von Johannes dem Täufer
gesandten Boten auf ihre Frage: »Bist du der, der kommen soll, oder
müssen wir auf einen anderen warten?«,20
mit dem gleichen Zeugnis antwortet, mit dem er in Nazaret seine
Lehrtätigkeit begonnen hatte: »Geht und berichtet Johannes, was ihr
gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen, und
Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird
das Evangelium verkündet«, und daß er abschließend hinzufügt: »Selig
ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt«.21
Jesus offenbarte insbesondere durch seinen Lebensstil und seine
Taten, wie die Liebe, die wirkende Liebe, die Liebe, die sich dem
Menschen zuwendet und alles umfängt, was sein Menschsein ausmacht, in
unserer Welt gegenwärtig ist. Diese Liebe tritt besonders dort in
Erscheinung, wo sie mit Leid, Ungerechtigkeit und Armut in Berührung
kommt, mit der konkreten conditio humana, der geschichtlichen
Befindlichkeit des Menschen, die auf verschiedene Weise von der
physischen und moralischen Begrenztheit und Gebrechlichkeit des Menschen
geprägt ist. Gerade wegen der Art und des Bereichs, in denen sich die
Liebe kundtut, wird sie in der Sprache der Bibel auch als »Erbarmen«
bezeichnet.
Christus offenbart Gott, der Vater ist, der »Liebe ist«, wie sich der
heilige Johannes in seinem ersten Brief ausdrücken wird;22
er offenbart Gott, der »voll Erbarmen« ist, wie wir beim heiligen Paulus
lesen.23
Diese Wahrheit ist nicht so sehr Gegenstand einer Belehrung, sondern in
erster Linie eine Wirklichkeit, die uns durch Christus gegenwärtig wird.
Den Vater als Liebe und Erbarmen gegenwärtig zu machen, ist für
ihn die grundlegende Verwirklichung seiner Sendung als Messias; das
bestätigen die Worte, die er in der Synagoge von Nazaret gesprochen hat
und dann vor seinen Jüngern und vor den Boten Johannes' des Täufers.
Im Rahmen dieser Bekundung der Gegenwart Gottes als Vater, Liebe und
Erbarmen macht Jesus das Erbarmen zu einem der Hauptthemen seiner
Lehrtätigkeit. Wie gewöhnlich, spricht er auch hier vor allem »in
Gleichnissen«, da diese das eigentliche Wesen der Dinge besser zum
Ausdruck bringen. Es genügt, in diesem Zusammenhang an die Gleichnisse
vom verlorenen Sohn24
oder vom barmherzigen Samariter25
oder auch - als Gegensatz dazu - an das Gleichnis vom unbarmherzigen
Diener26
zu erinnern. Zahlreich sind die Abschnitte in der Unterweisung Christi,
welche die erbarmende Liebe unter immer neuen Gesichtspunkten schildern.
Halten wir uns nur den guten Hirten vor Augen auf der Suche nach seinem
verlorenen Schaf27
oder die Frau, welche das ganze Haus durchkehrt, um die verlorene
Drachme zu finden.28
Diese Themen der Lehre Christi werden besonders vom Evangelisten Lukas
behandelt, dessen Evangelium den Ehrennamen »Evangelium des Erbarmens«
bekam.
Bei dieser unserer Betrachtung der Verkündigung Jesu tut sich ein
entscheidendes Problem auf: die Bedeutung der Ausdrücke und der Inhalt
der Begriffe, vor allem der Begriffsinhalt von »Erbarmen« (im
Verhältnis zu dem von »Liebe«). Das Erfassen dieser Inhalte ist der
Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit des Erbarmens. Und gerade
darauf kommt es uns am meisten an. Bevor wir uns allerdings im folgenden
Abschnitt unserer Erwägungen diesem Punkt zuwenden und die einzelnen
Wortbedeutungen und schließlich den Begriffsinhalt von »Erbarmen« zu
klären suchen, ist noch eine Feststellung notwendig: nämlich daß
Christus beim Offenbaren der erbarmenden Liebe Gottes gleichzeitig
von den Menschen forderte, sich in ihrem Leben ebenfalls von Liebe
und Erbarmen leiten zu lassen. Diese Forderung gehört wesenhaft zur
messianischen Botschaft und stellt den Kern des evangelischen Ethos
dar. Der Meister bringt sie zum Ausdruck sowohl in der Form des Gebotes,
das er als »das wichtigste und erste«29
bezeichnet, wie auch in der Form einer Seligpreisung, wenn er in der
Bergpredigt ausruft: »Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen
finden«.30
Der messianischen Botschaft über das Erbarmen eignet somit eine
besondere göttlich - menschliche Dimension. Christus wird in Erfüllung
der messianischen Prophetien die Inkarnation jener Liebe, welche mit
besonderer Eindringlichkeit in ihrer Zuwendung zu den Leidenden, den
Unglücklichen und den Sündern sichtbar wird; er macht so den Vater, den
Gott »voll Erbarmen«, gegenwärtig und in größerer Fülle offenbar. Dabei
wird er für die Menschen zugleich Modell der erbarmenden Liebe zum
Nächsten und verkündet so durch die Taten noch mehr als durch seine
Worte den Aufruf zum Erbarmen, der eines der wesentlichen Elemente des
evangelischen Ethos ist. Es geht hier nicht nur um die Befolgung eines
Gebotes oder einer sittlichen Norm, sondern um die Erfüllung einer
Grundvoraussetzung dafür, daß Gott dem Menschen sein Erbarmen erweisen
kann: »Die Barmherzigen... werden Erbarmen finden«.
III. DAS ALTE TESTAMENT
4. Der Begriff »Erbarmen« hat im Alten Testament seine lange und
reiche Geschichte. Wir müssen auf sie zurückgreifen, damit das von
Christus geoffenbarte Erbarmen in größerer Fülle aufleuchten kann. Als
er dieses Erbarmen durch Wort und Tat offenbarte, wandte er sich an
Menschen, die nicht nur das Wort Erbarmen kannten, sondern auch als
Gottesvolk des Alten Bundes im Lauf einer mehrhundertjährigen
Geschichte das Erbarmen Gottes auf besondere Weise erfahren hatten.
Diese Erfahrung war sowohl sozial und gemeinschaftlich als auch
individuell und innerlich.
Israel war ja das Volk des Bundes mit Gott - eines oft gebrochenen
Bundes. Wenn es sich seiner Untreue bewußt wurde - im Lauf der
Geschichte Israels fehlte es nicht an Propheten und anderen, welche
dieses Bewußtsein weckten - , rief es das Erbarmen an. Die Bücher des
Alten Testamentes bringen uns dafür Zeugnisse zur Genüge. Als besonders
wichtige Tatsachen und Texte seien angeführt: der Beginn der Geschichte
der Richter,31
das Gebet Salomos bei der Einweihung des Tempels,32
ein Teil der Weissagungen Michas,33
die trostvollen Zusicherungen bei Jesaja,34
das flehende Gebet der Juden in der Verbannung,35
die Erneuerung des Bundes nach der Rückkehr aus dem Exil.36
Es ist bedeutsam, daß die Propheten in ihrer Verkündigung das
Erbarmen, auf das sie wegen der Sünden des Volkes oft zu sprechen
kommen, mit dem eindrucksvollen Bild der Liebe Gottes in Verbindung
bringen. Der Herr liebt Israel mit der Liebe einer besonderen Erwählung,
ähnlich der Liebe eines Bräutigams;37
deshalb verzeiht er immer wieder seine Schuld, ja seinen Treubruch und
Verrat. Findet er Buße und echte Bekehrung, nimmt er sein Volk wieder
neu in Gnaden an.38
Bei den Propheten bedeutet Erbarmen eine besondere Kraft der Liebe,
die stärker ist als die Sünde und Untreue des auserwählten Volkes.
In diesem weitgespannten »sozialen« Zusammenhang tritt das Erbarmen
als entsprechendes Gegenüber der inneren Erfahrung der einzelnen
Personen auf, die sich in Schuld verstrickt haben oder Leiden und
Unglück aller Art ausgesetzt sind. Sowohl das physische als auch das
moralische Übel oder die Sünde veranlassen die Söhne und Töchter
Israels, sich an den Herrn zu wenden und sein Erbarmen anzurufen. In
solcher Weise - im Wissen um die Schwere seiner Schuld - wendet sich
David in ihn.39
An ihn wendet sich nach seinem Aufbegehren auch Ijob in seinem
entsetzlichen Unglück;40
an ihn wendet sich Ester im Bewußtsein der tödlichen Gefahr, die ihr
Volk bedroht.41
In den Büchern des Alten Testaments finden wir noch weitere Beispiele
dieser Art.42
Am Anfang dieser mannigfaltigen gemeinschaftlichen und persönlichen
Überzeugung, wie sie vom ganzen Alten Testament im Laufe der
Jahrhunderte bestätig wird, steht die grundlegende Erfahrung des
auserwählten Volkes in der Zeit des Exodus: der Herr sah das Elend des
versklavten Volkes, hörte seine Schreie, erkannte seine Bedrängnis und
beschloß, es zu befreien.43
In dieser Rettung durch den Herrn sieht der Prophet dessen Liebe und
Mitleid am Werk.44
Hier hat die Sicherheit ihre Wurzeln, mit der das auserwählte Volk und
jedes seiner Glieder auf Gottes Erbarmen baut, das man in jeder
Bedrängnis anrufen kann.
Dazu kommt die Tatsache, daß das Elend des Menschen, seine
»Erbärmlichkeit«, auch in seiner Sünde besteht. Das Bundesvolk kannte
dieses Elend schon von den Zeiten des Exodus an, als es das goldene Kalb
aufstellte. Über diesen Akt des Bundesbruches hat der Herr triumphiert,
als er sich dem Mose feierlich als »ein barmherziger und gnädiger Gott,
langmütig, reich an Güte und Treue« kundtat.45
In dieser zentralen Offenbarung wird das auserwählte Volk und jedes
seiner Mitglieder nach jedem Fall in Schuld immer wieder die Kraft und
den Beweggrund finden, sich an den Herrn zu wenden, um ihn an das zu
erinnern, was er selbst über sich geoffenbart hat,46
und seine Vergebung zu erflehen.
So hat der Herr in seinen Taten und Worten seinem erwählten Volk
schon von der Schwelle seiner Geschichte an handelnd und sprechend sein
Erbarmen geoffenbart, und dieses Volk hat sich im weiteren Verlauf
seiner Geschichte im Unglück wie beim Bewußtwerden seiner Schuld immer
wieder dem Gott der Erbarmungen anvertraut. Alle Färbungen der Liebe
zeigen sich im Erbarmen des Herrn gegen die Seinen: er ist ihr Vater,47
weshalb Israel sein erstgeborener Sohn ist;48
er ist auch der Bräutigam jener, der vom Propheten ein neuer Name
verkündet wird: ruhama, »Wohlgeliebte«, weil ihr Erbarmen
widerfahren soll.49
Auch wenn der Herr, durch die Treulosigkeit seines Volkes erbittert,
beschließt, es fallen zu lassen, ist seine Zärtlichkeit und seine
großherzige Liebe zu den Seinen immer noch stark genug, um ihn seinen
Zorn vergessen zu lassen.50
So ist es verständlich, daß dann die Psalmisten, sobald sie das höchste
Loblied auf den Herrn anstimmen wollen, den Gott der Liebe besingen, den
Gott der Zärtlichkeit, des Erbarmens und der Treue.51
Aus all dem folgt, daß das Erbarmen nicht nur zum Gottesbegriff
gehört, sondern das Leben des ganzen Volkes Israel und seiner einzelnen
Söhne und Töchter kennzeichnet; es ist der Inhalt der innigen
Beziehung zu ihrem Herrn, der Inhalt ihres Gesprächs mit ihm. Gerade
in dieser Hinsicht wird das Erbarmen in den einzelnen Büchern des Alten
Testaments mit einer Fülle von Ausdrücken beschrieben. Es wäre
vielleicht schwierig, in diesen Büchern eine rein theoretische Antwort
auf die Frage zu suchen, was das Erbarmen als solches ist.
Nichtsdestoweniger sagt die in ihnen verwendete Terminologie schon sehr
viel darüber aus.52
Das Alte Testament bedient sich beim Preis des göttlichen Erbarmens
vieler bedeutungsverwandter Ausdrücke; sie unterscheiden sich durch die
Eigenheit ihres jeweiligen Inhaltes, streben jedoch sozusagen von
verschiedenen Richtungen aus einem einzigen Grundinhalt zu, um
dessen übersteigenden Reichtum zum Ausdruck und dem Menschen unter
verschiedenen Gesichtspunkten näher zu bringen. Das Alte Testament
ermutigt die von Unglück Betroffenen, vor allem die Schuldbeladenen -
wie auch das ganze Volk Israel, das den Bund mit Gott geschlossen hatte
- , das Erbarmen anzurufen und mit ihm zu rechnen; es wird in
Zeiten des Falls und der Mutlosigkeit ins Bewußtsein gerufen. Und sooft
es sich im Leben des Volkes oder des einzelnen zeigt und verwirklicht,
wird es dann Gegenstand von Dank und Lobpreis.
Auf diese Weise wird das Erbarmen in gewisser Hinsicht der göttlichen
Gerechtigkeit gegenübergestellt und erweist sich in vielen Fällen nicht
nur als stärker, sondern auch als tiefer. Schon in der Lehre des Alten
Testamentes ist die Gerechtigkeit zwar eine echte Tugend im Menschen und
in Gott die transzendente Vollkommenheit, wird jedoch von der »Größe«
der Liebe überragt, insofern diese ursprünglicher und grundlegender ist.
Die Liebe motiviert sozusagen die Gerechtigkeit, und die Gerechtigkeit
dient letztlich der Liebe. Der Vorrang und die Erhabenheit der Liebe
gegenüber der Gerechtigkeit (das ist bezeichnend für die ganze
Offenbarung) kommen gerade im Erbarmen zum Ausdruck. Das war den
Psalmisten und Propheten so klar, daß sogar das Wort Gerechtigkeit
selbst allmählich das vom Herrn gewirkte Heil und sein Erbarmen
bedeutete.53
Das Erbarmen unterscheidet sich von der Gerechtigkeit, steht jedoch
nicht im Widerspruch zu ihr, wenn wir, wie es eben das Alte
Testament tut, in der Geschichte des Menschen die Gegenwart Gottes
anerkennen, der sich schon als Schöpfer seinem Geschöpf in besonderer
Liebe verbunden hat. Die Liebe schließt von ihrem Wesen her Haß und
Übelwünschen dem gegenüber aus, dem sie sich einmal zum Geschenk gemacht
hat: Nihil odisti eorum quae fecisti, »du... verabscheust nichts
von dem, was du gemacht hast«.54
Diese Worte weisen auf das tiefe Fundament der Beziehung zwischen
Gerechtigkeit und Erbarmen in Gott - in seiner Zuwendung zum Menschen
und zur Welt. Sie bedeuten, daß wir die belebenden Wurzeln und die
innigsten Motive dieses Verhältnisses suchen und zum »Anfang«, auf
das Schöpfungsgeheimnis selbst zurückgehen müssen. Schon im Alten
Bund verheißen diese Worte die volle Offenbarung Gottes, der »Liebe
ist«.55
Mit dem Geheimnis der Schöpfung ist das Geheimnis der Erwählung
verbunden, das in besonderer Weise die Geschichte jenes Volkes geprägt
hat, dessen geistlicher Vater Abraham kraft seines Glaubens ist. Durch
dieses Volk, dessen Weg entlang der Geschichte des Alten sowie des Neuen
Bundes führt, richtet sich das Geheimnis der Erwählung an jeden
Menschen, an die ganze Menschheitsfamilie. »Mit ewiger Liebe habe ich
dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt«.56
»Auch wenn die Berge von ihrem Platz weichen... - meine Gnade wird nie
von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken«.57
Diese Wahrheit, einst Israel verkündet, trägt in sich die Perspektive
der ganzen Geschichte des Menschen: eine Perspektive, die
zugleich zeitlich und endzeitlich ist.58
Christus offenbart den Vater in der gleichen Perspektive einer schon
vorbereiteten Hörerschaft, wie die Schriften des Alten Testaments an
vielen Stellen beweisen. Beim Abschluß dieses Offenbarens am Vorabend
seines Todes spricht er zum Apostel Philippus die denkwürdigen Worte:
»Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt...? Wer
mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«.59
IV. DAS GLEICHNIS VOM
VERLORENEN SOHN
5. Der Vergleich
Schon an der Schwelle zum Neuen Testament wird im Evangelium des
heiligen Lukas eine einzigartige Entsprechung zwischen zwei
Beschreibungen des göttlichen Erbarmens hörbar, in der die gesamte
Tradition des Alten Testamentes machtvoll widerhallt. Hier finden die
semantischen Inhalte der differenzierten Terminologie der
alttestamentlichen Bücher ihren Niederschlag. Wir sehen Maria,
die das Haus des Zacharias betritt und aus ganzer Seele den Herrn
preist für »sein Erbarmen von Geschlecht zu Geschlecht über
denen, die ihn fürchten«. Gleich darauf erwähnt sie Gottes Huld für
Israel und rühmt die Erwählung Israels, »das Erbarmen«, an das
er, sein Erwähler, eh und je »denkt«.60
Später, im selben Haus, lobpreist bei der Geburt Johannes' des Täufers
dessen Vater Zacharias den Gott Israels und verherrlicht sein
»Erbarmen mit unseren Vätern«, und daß er »seines heiligen Bundes
gedachte«.61
In der Lehre Christi wird das vom Alten Testament übernommene
Bild vereinfacht und zugleich vertieft. Das zeigt sich
vielleicht am deutlichsten in der Parabel vom verlorenen Sohn,62
wo das Wesen des göttlichen Erbarmens besonders deutlich aufleuchtet
(wenn auch das Wort »Erbarmen« im Urtext nicht vorkommt). Dazu trägt
nicht so sehr, wie in den alttestamentlichen Büchern, die Terminologie
bei, sondern vielmehr die Analogie, der Vergleich, der es möglich macht,
das Geheimnis des Erbarmens vollständiger zu erfassen, das sich wie ein
tiefes Drama zwischen der Liebe des Vaters und der Verlorenheit und
Sünde des Sohnes ereignet.
Dieser Sohn, der vom Vater das ihm zustehende Erbteil erhält und von
zuhause weggeht, um es in einem fernen Land mit seinem »zügellosen
Leben« zu verschleudern, ist in gewisser Hinsicht der Mensch aller
Zeiten, angefangen von dem, der als erster das Erbteil der Gnade und der
Gerechtigkeit des Urstandes verlor. Die Analogie ist hier sehr
weitgespannt. Die Parabel bezieht sich indirekt auf jeden Bruch des
Liebesbundes, auf jeden Verlust der Gnade, auf jede Sünde. In dieser
Analogie wird weniger die Untreue des Volkes Israel hervorgehoben, als
dies in der Tradition der Propheten der Fall war, obwohl auch sie
mitgemeint sein kann. Als dieser Sohn »alles durchgebracht hatte, ging
es ihm sehr schlecht«, um so mehr als »in dem Land«, in das er sich nach
Verlassen des väterlichen Hauses begeben hatte, »eine große Hungersnot
ausgebrochen war«. In dieser Lage »hätte er gerne seinen Hunger
gestillt«, ganz gleich womit, sogar »mit den Futterschoten, die die
Schweine fraßen«, welche er für »einen Bürger des Landes« auf dem Feld
hütete. Aber selbst das wurde ihm verweigert.
Die Analogie verlagert sich eindeutig auf das Innere des Menschen.
Das Vermögen, welches der Sohn vom Vater empfangen hatte, war eine
Quelle materieller Güter; aber wichtiger als diese Güter war seine
Würde als Sohn im Haus des Vaters. Die Lage, in der er sich nach dem
Verlust der materiellen Güter vorfand, mußte ihm den Verlust dieser
Würde zum Bewußtsein bringen. Früher, als er vom Vater sein Erbteil
verlangte, um fortzugehen, hatte er daran nicht gedacht. Anscheinend
denkt er auch jetzt noch nicht daran, wenn er zu sich selbst sagt:
»Wieviele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen, und
ich komme hier vor Hunger um«. Er mißt sich mit dem Maß der Güter, die
er verloren hat, die er nicht mehr »besitzt«, während die Tagelöhner im
Haus seines Vaters sie »besitzen«. Aus seinen Worten spricht vor allem
seine Ausrichtung auf die materiellen Güter. Nichtsdestoweniger verbirgt
sich unter ihrer Oberfläche das Drama der verlorenen Würde, das Wissen
um die leichtsinnig zerstörte Sohnschaft.
So faßt er denn den Entschluß: »Ich will aufbrechen und zu meinem
Vater gehen und ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und
gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu
sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner«.63
Diese Worte rücken das Kernproblem vollends ins Licht. Der materielle
Engpaß, in den der verlorene Sohn durch seine Leichtfertigkeit und seine
Sünde geraten war, hatte in ihm den Sinn für seine - jetzt verlorene -
Würde zum Reifen gebracht. Sein Entschluß, in das väterliche Haus
zurückzukehren und den Vater um Aufnahme zu bitten - nicht aufgrund der
Rechte eines Sohnes, sondern als Tagelöhner - , scheint äußerlich durch
den Hunger und das Elend veranlaßt, in die er gefallen war; diesen
Beweggrund durchdringt jedoch das Wissen um einen viel tieferen Verlust:
ein Tagelöhner im Haus des eigenen Vaters zu sein, ist sicher eine
große Demütigung und Schande. Dennoch ist der verlorene Sohn bereit,
diese Demütigung und Schande auf sich zu nehmen. Er ist sich klar
darüber, daß er kein anderes Recht mehr hat als das, im Haus des Vaters
Tagelöhner zu sein. Er faßt seinen Entschluß im vollen Bewußtsein
dessen, was er verdient hat und worauf er nach den Normen der
Gerechtigkeit noch Anspruch erheben kann. Gerade diese Überlegung
beweist, daß in der Tiefe des Gewissens des verlorenen Sohnes der Sinn
für die verlorene Würde auftaucht, für jene Würde, die dem Verhältnis
des Sohnes zum Vater entspringt. Mit diesem Entschluß macht er sich auf
den Weg.
In der Parabel vom verlorenen Sohn wird kein einziges Mal das Wort
»Gerechtigkeit« verwendet; gleiches gilt - im Urtext - für das Wort
»Erbarmen«. Aber das Verhältnis der Gerechtigkeit zur Liebe, die sich
als Erbarmen kundtut, ist dem Inhalt der evangelischen Parabel in
großer Genauigkeit eingeschrieben. Sie macht deutlich, daß die Liebe zum
Erbarmen wird, wenn es gilt, die - genaue und oft zu enge - Norm der
Gerechtigkeit zu überschreiten. Nachdem der verlorene Sohn das vom Vater
erhaltene Vermögen aufgebraucht hat und ins väterliche Haus
zurückgekehrt ist, kann er nur beanspruchen, sich seinen Lebensunterhalt
als Tagelöhner verdienen zu dürfen und eventuell nach und nach zu einem
gewissen materiellen Besitz zu kommen, der in seiner Größe aber
vielleicht nie mehr an den heranreichen wird, den er verschleudert hat.
Mehr kann er nicht beanspruchen in der Ordnung der Gerechtigkeit, umso
weniger, als er nicht nur den ihm zustehenden Vermögensanteil vergeudet,
sondern durch sein ganzes Verhalten auch den Vater verletzt und
beleidigt hat. Dieses Verhalten, das ihn nach seinem eigenen Urteil
die Würde eines Sohnes gekostet hat, konnte ja dem Vater nicht
gleichgültig sein; es mußte ihm Schmerz bereiten und ihn in gewisser
Hinsicht auch mit hineinziehen. Und doch, letzten Endes ging es um den
eigenen Sohn, und diese Beziehung konnte durch keinerlei Verhalten
gestört oder getroffen werden. Der verlorene Sohn ist sich dessen
bewußt, und gerade dieses Wissen läßt ihn den Verlust seiner Würde klar
erkennen und den Platz richtig einschätzen, der ihm im Haus des Vaters
noch zustehen konnte.
6. Die Betonung der menschlichen Würde
Dieses klar gezeichnete Bild von der inneren Verfassung des
verlorenen Sohnes erlaubt es uns, genau zu erfassen, worin das göttliche
Erbarmen besteht. Zweifellos enthüllt uns die Gestalt des Vaters in
dieser einfachen, aber eindringlichen Analogie Gott als Vater. Das
Verhalten des Vaters im Gleichnis, seine ganze Handlungsweise, in der
seine innere Haltung sichtbar wird, läßt uns die einzelnen Linien der
alttestamentlichen Sicht des Erbarmens in einer völlig neuen, ganz
einfachen und tiefen Synthese wiederfinden. Der Vater des verlorenen
Sohnes ist seiner Vaterschaft treu, ist der Liebe treu, mit der
er seit jeher seinen Sohn beschenkt hat. Diese Treue kommt im Gleichnis
nicht nur in der sofortigen Bereitschaft zum Ausdruck, mit der er den
heimkehrenden Sohn, der das Vermögen verschleudert hat, aufnimmt; sie
kommt noch mehr in der überströmenden, großzügigen Freude über den
heimgekehrten Verschwender zum Ausdruck, deren Ausmaß sogar den
Widerspruch und Neid des älteren Bruders hervorruft, der sich nie vom
Vater abgewendet und sein Haus nicht verlassen hatte.
Die Treue des Vaters zu sich selbst - ein von dem alttestamentlichen
Ausdruck »hesed« her bereits bekannter Wesenszug - wird in
ergreifender Wärme beschrieben: »Der Vater sah ihn schon von weitem
kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen,
fiel ihm um den Hals und küßte ihn«.64
Dieses Tun ist sicher von einer tiefen Zuneigung bestimmt, die auch
seine dem Sohn erwiesene Großzügigkeit erklärt, über die der ältere dann
so in Zorn gerät. Die Gründe für diesen bewegten Empfang liegen jedoch
tiefer: der Vater weiß sehr wohl, daß ein grundlegendes Gut gerettet ist
- das Mensch-sein seines Sohnes. Mag dieser auch das Vermögen
verschleudert haben, sein Mensch-sein ist heil geblieben. Ja, es
wurde sozusagen wiedergefunden. Das bezeugen die Worte des Vaters
an den älteren Sohn: »Jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest
feiern, denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und
ist wiedergefunden worden«.65
Im selben 15. Kapitel des Lukasevangeliums lesen wir das Gleichnis vom
verlorenen Schaf66
und anschließend von der verlorenen Drachme.67
Jedesmal wird die gleiche Freude hervorgehoben, die wir beim verlorenen
Sohn finden. Die Treue des Vaters zu sich selbst ist voll und ganz auf
das Mensch - sein, auf die Würde des verlorenen Sohnes ausgerichtet. So
erklärt sich vor allem seine bewegte Freude im Augenblick der Heimkehr.
Man kann also sagen, daß die Liebe zum Sohn, die Liebe, die aus dem
Wesen der Vaterschaft fließt, den Vater in einem bestimmten Sinn dazu
verpflichtet, sich um die Würde des Sohnes zu sorgen. Diese Sorge ist
der Maßstab seiner Liebe, wie der heilige Paulus schreibt: »Die Liebe
ist langmütig, die Liebe ist gütig... Sie sucht nicht ihren Vorteil,
läßt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach... Sie freut
sich an der Wahrheit. ... Sie hofft alles, hält allem stand« und »hört
niemals auf«.68
Das Erbarmen - wie es Christus im Gleichnis vom verlorenen Sohn
darstellt - hat die innere Form jener Liebe, die im Neuen
Testament agápe genannt wird. Solche Liebe ist fähig, sich über
jeden verlorenen Sohn zu beugen, über jedes menschliche Elend, vor allem
über das moralische Elend: die Sünde. Wenn das geschieht, fühlt sich
der, dem das Erbarmen zuteil wird, nicht gedemütigt, sondern gleichsam
wiedergefunden und »aufgewertet«. Der Vater läßt ihn in erster Linie
spüren, wie groß seine Freude ist, daß er »wiedergefunden wurde« und
»wieder lebt«. Diese Freude weist auf ein unverletztes Gut hin: ein Sohn
hört nie auf, in Wahrheit Sohn seines Vaters zu sein, selbst dann nicht,
wenn er sich von ihm trennt; sie weist darüber hinaus auf ein
wiedergefundenes Gut hin: im Fall des verlorenen Sohnes die Rückkehr zur
Wahrheit über sich selbst.
Was sich im Verhältnis des Vaters zum Sohn im Gleichnis Christi
ereignet, läßt sich nicht »von außen her« werten. Unsere Vorurteile in
bezug auf das Erbarmen sind größtenteils das Ergebnis einer rein
äußerlichen Wertung. Entsprechend einer solchen Wertung sehen wir
manchmal im Erbarmen vor allem ein Verhältnis der Ungleichheit
zwischen dem, der es schenkt, und dem, der es empfängt. Infolgedessen
sind wir bereit, den Schluß zu ziehen, das Erbarmen demütige den, der es
empfängt, es verletze die Würde des Menschen. Das Gleichnis vom
verlorenen Sohn beweist uns, daß es in Wirklichkeit anders ist: die
Beziehung des Erbarmens beruht auf der gemeinsamen Erfahrung jenes
Gutes, das der Mensch ist, auf der gemeinsamen Erfahrung der ihm eigenen
Würde. Diese gemeinsame Erfahrung führt dazu, daß der verlorene Sohn
sich und seine Taten in der vollen Wahrheit zu sehen beginnt (dieses
Sehen in Wahrheit ist echte Demut) und seinem Vater gerade dadurch
besonderers lieb wird, der in so leuchtender Klarheit das Gute sieht,
das dank einer geheimnisvollen Ausstrahlung der Wahrheit und der Liebe
geschehen ist, daß er alle Schandtaten des Sohnes gleichsam vergißt.
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn bringt auf einfache, aber tiefe
Weise die Wirklichkeit der Bekehrung zum Ausdruck. Sie ist das
konkreteste Zeugnis für das Wirken der Liebe und die Gegenwart des
Erbarmens in der Welt des Menschen. Die wahre und eigentliche Bedeutung
von Erbarmen beschränkt sich nicht auf den - noch so tiefgehenden und
mitfühlenden - Blick auf das moralische, physische oder materielle Übel:
das Erbarmen zeigt sich wahrhaft und eigentlich, wenn es wieder
aufwertet, fördert und aus allen Formen des Übels in der Welt und im
Menschen das Gute zieht. So betrachtet, stellt es den Grundinhalt
der messianischen Botschaft Christi dar und den eigentlichen Impuls
seiner Mission. So wurde es auch von seinen Jüngern und Anhängern
verstanden und geübt. In ihren Herzen und in ihrem Wirken offenbarte es
sich unaufhörlich als ein besonders schöpferischer Erweis der Liebe, die
»sich vom Bösen nicht besiegen läßt, sondern das Böse durch das Gute
besiegt«.69
Das wahre Antlitz des Erbarmens muß sich immer neu enthüllen. Unsere
Zeit bedarf seiner, trotz vielfacher Vorurteile, ganz besonders.
V. DAS PASCHAMYSTERIUM
7. Das Erbarmen wird in Kreuz und Auferstehung offenbar
Die messianische Verkündigung Christi und sein Wirken unter den
Menschen finden ihren Abschluß in Kreuz und Auferstehung. Wir müssen
tief in dieses letzte Geschehen eindringen - das vor allem in der
Sprache des Konzils das Paschamysterium genannt wird - , wenn wir
der Wahrheit vom Erbarmen, wie sie in der Geschichte unseres Heils
geoffenbart wurde, entsprechen wollen. An diesem Punkt unserer
Überlegungen ist es angebracht, uns noch eingehender dem Inhalt der
Enzyklika Redemptor Hominis zuzuwenden. Denn wenn auch die
Wirklichkeit der Erlösung in ihrer menschlichen Dimension die unerhörte
Größe des Menschen enthüllt, qui talem ac tantum meruit habere
Redemptorem,70
so erlaubt uns doch die göttliche Dimension der Erlösung, auf
eine sozusagen unüberbietbar empirische und »historische« Weise zugleich
die Tiefe jener Liebe zu enthüllen, die nicht einmal vor dem
außerordentlichen Opfer des Sohnes zurückweicht, um der Treue des
Schöpfers und Vaters zu den Menschen gerecht zu werden, die nach seinem
Bild geschaffen und vom »Anfang« an in diesem Sohn zur Gnade und
Herrlichkeit berufen sind.
Die Ereignisse des Karfreitags und noch vorher das Gebet in Getsemani
stellen im Verlauf der Offenbarung der Liebe und des Erbarmens in der
messianischen Sendung Christi einen radikalen Umschwung dar. Er, der
»umherzog, Gutes zu tun«71
und »alle Krankheiten und Leiden zu heilen«,72
scheint jetzt selbst das größte Erbarmen zu verdienen und das
Erbarmen anzurufen, während er gefangengenommen, beschimpft,
verurteilt, gegeißelt, mit Dornen gekrönt und ans Kreuz genagelt wird,
wo er unter unbeschreiblichen Qualen seinen Geist aufgibt.73
Gerade in diesen Stunden würde er ganz besonders das Erbarmen der
Menschen, denen er Gutes erwiesen hat, verdienen, und es wird ihm nicht
zuteil. Nicht einmal jenen, die ihm am nächsten sind, gelingt es, ihn zu
beschützen und den Händen seiner Verfolger zu entreißen. In diesem
letzten Abschnitt seines messianischen Dienstes erfüllen sich an
Christus die Worte der Propheten, vor allem die Weissagungen Jesajas
über den Gottesknecht: »Durch seine Wunden sind wir geheilt«74
Christus wendet sich als Mensch, der im Ölgarten und auf Golgota
wirklich und auf entsetzliche Art leidet, an den Vater, an jenen Vater,
dessen Liebe er den Menschen verkündet und dessen Erbarmen er mit all
seinem Tun bezeugt hat. Gerade ihm bleibt jedoch das furchtbare Erleiden
des Todes am Kreuz nicht erspart: »Den, der keine Sünde kannte, hat
(Gott) für uns zur Sünde gemacht«,75
wird später der heilige Paulus schreiben und so die ganze Tiefe des
Kreuzesgeheimnisses und die göttliche Dimension der
Erlösungswirklichkeit in wenigen Worten zusammenfassen. Gerade diese
Erlösung ist die letzte und endgültige Offenbarung der Heiligkeit
Gottes, der die absolute Fülle der Vollkommenheit ist: Fülle der
Gerechtigkeit und der Liebe, weil die Gerechtigkeit auf der Liebe
gründet, von ihr ausgeht und ihr zustrebt. Im Leiden und Tod Christi -
in der Tatsache, daß der Vater seinen Sohn nicht verschonte, sondern ihn
»für uns zur Sünde gemacht hat«76
- kommt die absolute Gerechtigkeit zum Ausdruck, insofern wegen der
Sünden der Menschheit Christus Leiden und Kreuz erduldet. Das ist
geradezu ein »Übermaß« der Gerechtigkeit, denn die Sünde des Menschen
wird »aufgewogen« durch das Opfer des Gott - Menschen. Diese
Gerechtigkeit wahrhaft göttlichen »Maßes« entspringt ganz der Liebe, der
Liebe des Vaters und des Sohnes, und bringt von ihrem Wesen her Früchte
in der Liebe. Diese göttliche Gerechtigkeit, wie sie das Kreuz Christi
offenbart, ist eben insofern »nach dem Maße« Gottes, als sie Ursprung
und Erfüllung in der Liebe hat und Früchte des Heils hervorbringt.
Die göttliche Dimension der Ertösung beschränkt sich nicht
auf das Gericht über die Sünde, sondern sie erneuert in der Liebe jene
schöpferische Kraft im Menschen, die ihm wieder die von Gott kommende
Fülle des Lebens und der Heiligkeit zugänglich macht. Auf diese Weise
beinhaltet die Erlösung die Offenbarung des Erbarmens in seiner
Vollendung.
Das Paschamysterium ist der Gipfelpunkt der Offenbarung und
Verwirklichung des Erbarmens, das den Menschen zu rechtfertigen und die
Gerechtigkeit wiederherzustellen vermag im Sinne der Heilsordnung, die
Gott vom Anbeginn her im Menschen und durch ihn in der Welt wollte. Der
leidende Christus spricht den Menschen, und nicht nur den Gläubigen,
besonders an. Auch der Ungläubige kann in ihm die überzeugende
Solidarität mit dem Schicksal des Menschen sowie die harmonische
Vollendung einer selbstlosen Hingabe an die Sache des Menschen, an die
Wahrheit und Liebe entdecken. Die göttliche Dimension des
Paschageheimnisses reicht jedoch noch tiefer. Das auf Golgota errichtete
Kreuz, an dem Christus sein letztes Zwiegespräch mit dem Vater
führt, erwächst aus dem innersten Kern jener Liebe, die dem nach
Gottes Bild und Gleichnis geschaffenen Menschen gemäß dem ewigen Plan
Gottes geschenkt worden ist. Gott, wie Christus ihn geoffenbart hat,
bleibt nicht nur als Schöpfer und letzter Seinsgrund in enger Verbindung
mit der Welt. Er ist auch Vater: mit dem Menschen, den er in der
sichtbaren Welt ins Dasein gerufen hat, verbinden ihn Bande, welche die
des Erschaffens an Tiefe übertreffen. Es sind dies die Bande der Liebe,
die nicht nur das Gute hervorbringt, sondern am Leben Gottes selbst, des
Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, teilhaben läßt. Wer liebt,
den drängt es ja, sich selbst zum Geschenk zu machen.
Das Kreuz Christi auf Golgota steht am Weg jenes admirabile
commercium, jener wunderbaren Selbstmitteilung Gottes an den Menschen,
die zugleich die Einladung an den Menschen in sich schließt, sich
und mit sich die ganze sichtbare Welt Gott hinzugeben und so an seinem
Leben teilzuhaben; als angenommener Sohn der Wahrheit und Liebe in Gott
und aus Gott teilhaft zu werden. Am Weg der ewigen Erwählung des
Menschen zur Würde eines angenommenen Sohnes Gottes steht in der
Geschichte das Kreuz Christi, des eingeborenen Sohnes, der als »Licht
vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott«77
gekommen ist, um ein letztes Zeugnis abzulegen für den wunderbaren
Bund Gottes mit der Menschheit, Gottes mit dem Menschen - mit jedem
Menschen. Dieser Bund, der so alt ist wie der Mensch und auf das
Geheimnis der Erschaffung selbst zurückgeht, der mehrmals mit dem einen
auserwählten Volk erneuert wurde, ist gleichermaßen der neue und
endgültige Bund, der auf Golgota geschlossen wurde und nicht auf ein
einziges Volk, auf Israel, beschränkt ist, sondern allen und einem jeden
offensteht.
Was sagt uns also das Kreuz Christi, welches in einem bestimmten Sinn
das letzte Wort seiner Botschaft und Mission als Messias ist? Und doch
ist es nicht das letzte Wort des Bundes - Gottes dieses wird im
Morgengrauen jenes Tages gesprochen, an dem zunächst die Frauen und dann
die Apostel zum Grab des gekreuzigten Herrn kommen, es leer vorfinden
und zum ersten Mal vernehmen: »Er ist auferstanden!«. Sie werden es
weitersagen und Zeugen des Auferstandenen sein. Dennoch ist auch in
dieser Verherrlichung des Sohnes Gottes das Kreuz weiterhin gegenwärtig,
welches - durch das gesamte messianische Zeugnis des Menschen-Sohnes,
der an ihm den Tod erlitten hat - unaufhörlich vom göttlichen Vater
spricht, der seiner ewigen Liebe zum Menschen unverbrüchlich treu
bleibt, der »die Welt so sehr geliebt hat« - und somit den Menschen
in ihr - , »daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn
glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat«.78
An den gekreuzigten Sohn glauben, heißt »den Vater sehen«,79
heißt glauben, daß die Liebe in der Welt gegenwärtig ist und daß sie
mächtiger ist als jedwedes Übel, in das der Mensch, die Menschheit, die
Welt verstrickt sind. An diese Liebe glauben, heißt, an das Erbarmen
glauben. Dieses ist ja die unerläßliche Dimension der Liebe, ist
sozusagen ihr zweiter Name und zugleich die spezifische Art, wie sie
sich zeigt und vollzieht angesichts der Wirklichkeit des Übels in der
Welt, das den Menschen trifft und bedrängt, sich auch in sein Herz
einschleicht und ihn »ins Verderben der Hölle stürzen kann«.80
8. Die Liebe ist stärker als Tod und Sünde
Das Kreuz Christi auf Golgota bezeugt auch die Kraft des Bösen dem
Sohn Gottes gegenüber, also dem gegenüber, der als einziger unter den
Menschenkindern von Natur aus absolut unschuldig und frei von Sünde war
und auf dessen Kommen in die Welt nicht der Ungehorsam Adams und die
Erbschuld lasteten. Und gerade in diesem Christus wird nun um den Preis
seines Opfers, seines Gehorsams »bis zum Tod«81
die Sünde gerichtet. Er, der ohne Sünde war, wurde »für uns zur Sünde
gemacht«.82
Gerichtet wird auch der Tod, der sich seit den Anfängen der
Menschheitsgeschichte mit der Sünde verbündet hat. Er wird gerichtet im
Tod dessen, der ohne Sünde war und als einziger - durch seinen Tod - dem
Tod den Todesstreich versetzen konnte.83
Auf diese Weise ist das Kreuz Christi, an welchem der dem Vater
wesensgleiche Sohn Gott die gerechte Sühne darbringt, auch eine
radikale Offenbarung des Erbarmens, das heißt der Liebe, die gegen
die Wurzel allen Übels in der Geschichte des Menschen angeht - gegen
Sünde und Tod.
Im Kreuz neigt sich Gott am tiefsten zum Menschen herab und zu allem,
was der Mensch insbesondere in schwierigen und schmerzlichen
Augenblicken als sein unglückliches Schicksal bezeichnet. Im Kreuz
werden gleichsam von einem heilenden Hauch der ewigen Liebe die
schmerzlichsten Wunden der irdischen Existenz des Menschen berührt; es
ist die letzte Vollendung des messianischen Programmes, das Christus
einst in der Synagoge von Nazaret formulierte84
und dann vor den Abgesandten Johannes' des Täufers wiederholte.85
Dieses Programm bestand - wie von Jesaja prophezeit86
- in der Offenbarung der barmherzigen Liebe zu den Armen, den Leidenden
und Gefangenen, zu den Blinden, den Unterdrückten und den Sündern. Im
Paschageheimnis wird die Schranke des vielfachen Übels, in das der
Mensch in seiner irdischen Existenz verstrickt ist, überschritten: das
Kreuz Christi läßt uns die tiefsten Wurzeln des Übels verstehen, die in
die Sünde und den Tod hinabreichen, und wird so auch zu einem
eschatologischen Zeichen. Erst in der endzeitlichen Erfüllung und in der
endgültigen Erneuerung der Welt wird die Liebe in allen Auserwählten
die tiefsten Quellen des Übels besiegen und als vollreife Frucht das
Reich des Lebens, der Heiligkeit und der seligen Unsterblichkeit
hervorbringen. Das Fundament dieser endzeitlichen Vollendung ist bereits
im Kreuz Christi und in seinem Tod gelegt. Die Tatsache, daß »Christus
am dritten Tag auferweckt worden ist«,87
stellt das endgültige Zeichen der messianischen Mission dar, die Krönung
der ganzen Offenbarung der erbarmenden Liebe in einer vom Übel geprägten
Welt. Sie ist auch ein Zeichen, das »einen neuen Himmel und eine neue
Erde«88
ankündigt, wo Gott »alle Tränen von ihren Augen abwischen wird; der Tod
wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn das,
was früher war, ist vergangen«.89
In der endzeitlichen Vollendung wird sich das Erbarmen als Liebe
offenbaren; in der Zeitlichkeit, in der menschlichen Geschichte, einer
Geschichte von Sünde und Tod, muß sich die Liebe vor allem als Erbarmen
offenbaren und vollziehen. Das messianische Programm Christi, sein
Programm des Erbarmens, wird zum Programm seines Volkes, der Kirche. Im
Mittelpunkt dieses Programms steht immer das Kreuz; denn in ihm erreicht
die Offenbarung der erbarmenden Liebe ihren Höhepunkt. Solange »das
Frühere« nicht vergangen sein wird,90
wird das Kreuz der »Ort« bleiben, auf den sich die folgenden Worte der
Offenbarung des Johannes beziehen lassen: »Ich stehe vor der Tür und
klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich
eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir«.91
Eine besondere Offenbarung seines Erbarmens ist es, wenn Gott seinen
gekreuzigten Sohn dem Erbarmen des Menschen anempfiehlt.
Christus ist als Gekreuzigter das Wort, das nicht vergeht,92
derjenige, der an der Tür steht und an das Herz jedes Menschen klopft,93
der dabei nicht über dessen Freiheit verfügt, sondern die Freiheit zur
Liebe zu wecken sucht - nicht nur im Sinne einer Solidarität mit dem
leidenden Menschensohn, sondern in bestimmtem Sinn auch als »Erbarmen«,
das wir ihm ganz persönlich bezeugen. Konnte im Rahmen des messianischen
Programmes Christi, im Lauf der Offenbarung des Erbarmens durch das
Kreuz die Würde des Menschen mehr geachtet und erhoben werden als
dadurch, daß er, der Erbarmen findet, zugleich »Erbarmen schenken« darf?
Nimmt nicht Christus letzten Endes dem Menschen gegenüber diese
Haltung ein, wenn er sagt: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder
getan habt, das habt ihr mir getan«?94
Sind nicht die Worte der Bergpredigt: »Selig die Barmherzigen, denn sie
werden Erbarmen finden«,95
in gewissem Sinn eine Synthese der ganzen Frohbotschaft, des ganzen
»wunderbaren Austausches« (admirabile commercium), den sie in
sich schließt und der als einfaches, kraftvolles und zugleich »sanftes«
Gesetz die Heilsordnung selber prägt? Offenbaren diese
Worte der Bergpredigt, die zunächst auf die Möglichkeiten des
»Menschenherzens« hinweisen (nämlich »barmherzig« zu sein), nicht in
derselben Richtung zugleich das tiefe Geheimnis Gottes, jene
unauslotbare Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist, in der die
Liebe, der Gerechtigkeit Einhalt gebietend, dem Erbarmen Raum gibt, das
seinerseits die Gerechtigkeit in ihrer Vollendung offenbar macht?
Das Paschageheimnis ist Christus am Höhepunkt der Offenbarung
des unerforschlichen Geheimnisses Gottes. Gerade hier bewahrheiten sich
voll und ganz die im Abendmahlssaal gesprochenen Worte: »Wer mich
gesehen hat, hat den Vater gesehen«.96
Denn Christus, den der Vater zugunsten des Menschen »nicht verschonte«97
und dem in seinem Leiden und in der Qual des Kreuzes menschliches
Erbarmen nicht zuteil wurde, hat in seiner Auferstehung die Fülle der
Liebe des Vaters zu ihm und in ihm zu allen Menschen geoffenbart. »Er
ist doch nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden«.98
In seiner Auferstehung hat Christus gerade insofern den Gott der
erbarmenden Liebe geoffenbart, als er das Kreuz als Weg zur Auferstehung
auf sich genommen hat. Deshalb konzentrieren sich, wenn wir des
Kreuzes Christi, seines Leidens und seines Todes gedenken, unser Glaube
und unsere Hoffnung auf den Auferstandenen - der »am Abend dieses ersten
Tages der Woche« im Abendmahlssaal, wo die Jünger versammelt waren, »in
ihre Mitte trat... sie anhauchte und zu ihnen sprach: Empfangt den
Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem
ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert«.99
So hat also der Sohn Gottes in seiner Auferstehung in radikaler Weise
selbst das Erbarmen erfahren, das heißt die Liebe des Vaters, die
stärker ist als der Tod. Derselbe Gottessohn offenbart am Ende - in
gewisser Hinsicht schon jenseits des Endes - seiner messianischen
Mission sich selbst als unerschöpfliche Quelle des Erbarmens, derselben
Liebe, die in der weiteren Perspektive der Heilsgeschichte in der Kirche
sich ständig stärker als die Sünde erweisen wird. Der österliche
Christus ist die endgültige Inkarnation des Erbarmens, dessen
lebendiges, heilsgeschichtliches und zugleich endzeitliches Zeichen. In
diesem Geist legt uns die Liturgie der Osterzeit den Psalmvers auf die
Lippen: »Die Erbarmungen des Herrn will ich ewig besingen«.100
9. Die Mutter des Erbarmens
In diesen österlichen Worten der Kirche klingen - in der Fülle ihres
prophetischen Gehaltes - die Worte Marias nach, die sie bei der
Begegnung mit Elisabet, der Frau des Zacharias, gesprochen hatte: »Er
erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht«.101
Sie eröffnen schon beim Morgenrot der Menschwerdung eine neue
Perspektive der Heilsgeschichte. Nach der Auferstehung Christi wird
diese Perspektive - geschichtlich und endzeitlich gesehen - neu
lebendig. Seither lösen in immer größeren Dimensionen immer neue
Geschlechter der riesigen Menschheitsfamilie einander ab; und auch im
Volk Gottes folgen einander neue Geschlechter, welche die Male des
Kreuzes und der Auferstehung tragen, das »Siegel«102
des Paschageheimnisses Christi, der absoluten Offenbarung jenes
Erbarmens, das Maria auf der Schwelle des Hauses ihrer Verwandten pries:
»Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht«.103
Maria hat auch auf besondere und außerordentliche Weise - wie sonst
niemand - das Erbarmen Gottes erfahren und ebenso auf außerordentliche
Weise mit dem Opfer des Herzens ihr Teilnehmen an der Offenbarung des
göttlichen Erbarmens möglich gemacht. Dieses Opfer lebt ganz aus der
Kraft des Kreuzes, unter das sie als Mutter gestellt war; es ist eine
einzigartige Teilnahme an der Selbstoffenbarung des Erbarmens, das heißt
an der absoluten Treue Gottes zu seiner Liebe, zu seinem Bund mit dem
Menschen, dem Volk und der Menschheit, den er von Ewigkeit her wollte
und den er in der Zeit geschlossen hat; es ist die Teilnahme an jener
Offenbarung, die im Kreuz ihren Höhepunkt gefunden hat. Niemand hat
so wie die Mutter des Gekreuzigten das Geheimnis des Kreuzes erfahren,
diese erschütternde Begegnung der transzendenten göttlichen
Gerechtigkeit mit der Liebe, diesen »Kuß« zwischen Erbarmen und
Gerechtigkeit.104
Niemand hat wie Maria dieses Geheimnis mit dem Herzen aufgenommen: die
wahrhaft göttliche Dimension der Erlösung, die sich vollzog durch den
Tod des Gottessohnes auf Golgota zusammen mit dem Herzensopfer seiner
Mutter, zusammen mit ihrem endgültigen »Fiat«.
Maria also kennt am tiefsten das Geheimnis des göttlichen
Erbarmens. Sie kennt seinen Preis und weiß, wie hoch er ist. In
diesem Sinn nennen wir sie auch Mutter der Barmherzigkeit, Unsere
Liebe Frau vom Erbarmen oder Mutter des göttlichen Erbarmens. Diese
Namen haben einen tiefen theologischen Gehalt; denn Maria besaß die
besondere Fähigkeit der Seele und der ganzen Persönlichkeit, in den
verworrenen Ereignissen der Geschichte Israels und dann des Menschen und
der ganzen Menschheit jenes Erbarmen wahrzunehmen, das uns nach dem
ewigen Plan der heiligsten Dreifaltigkeit »von Geschlecht zu Geschlecht«105
geschenkt wird.
Vor allem aber meinen die genannten Namen Maria als die Mutter des
Gekreuzigten und Auferstandenen; denn nachdem sie in
außergewöhnlicher Weise das Erbarmen erfahren hatte, ist sie in
gleicher Weise »erbarmenswürdig« geworden - während ihres ganzen
irdischen Lebens und vor allem unter dem Kreuz ihres Sohnes; und sie
wurde schließlich durch die verborgene und zugleich einzigartige
Teilnahme an der messianischen Aufgabe ihres Sohnes ganz besonders dazu
berufen, den Menschen die Liebe nahezubringen, die zu offenbaren er
gekommen war und die am konkretesten den Leidenden, den Armen, den
Unfreien, den Blinden, den Unterdrückten und den Sündern gegenüber
sichtbar wird - wie sie Jesus mit der Prophezeiung Jesajas beschrieben
hat, in der Synagoge von Nazaret zuerst106
und dann als Antwort auf die Frage der Abgesandten Johannes' des
Täufers.107
Gerade an dieser »sich erbarmenden« Liebe, die vor allem bei der
Begegnung mit dem moralischen und physischen Übel wirksam wird, hatte
das Herz derer, die dem Gekreuzigten und Auferstandenen Mutter war, in
außergewöhnlicher Weise Anteil. In ihr und durch sie offenbart sich die
erbarmende Liebe weiterhin in der Geschichte der Kirche und der
Menschheit. Diese Offenbarung ist deshalb besonders fruchtbar, weil sie
sich in Maria auf das einzigartige Taktgefühl ihres mütterlichen Herzens
gründet, auf ihre besondere Empfindsamkeit und die Fähigkeit, alle
Menschen zu erreichen, welche die erbarmende Liebe leichter von
seiten einer Mutter annehmen. Das ist eines der großen und
lebenspendenden Geheimnisse des Christentums, dem Geheimnis der
Menschwerdung innig verbunden.
»Diese Mutterschaft Mariens in der Gnadenökonomie dauert unaufhörlich
an, von der Zustimmung, die sie bei der Verkündigung gläubig gab und
unter dem Kreuz ohne Zögern festhielt, bis zur ewigen Vollendung aller
Auserwählten. In den Himmel aufgenommen, hat sie diese heilbringende
Aufgabe nicht niedergelegt, sondern fährt durch ihre vielfältige
Fürbitte fort, uns die Gaben des ewigen Heils zu erwirken. In ihrer
mütterlichen Liebe trägt sie Sorge für die Brüder ihres Sohnes, die noch
auf der Pilgerschaft sind und in Gefahren und Bedrängnissen weilen, bis
sie zum seligen Vaterland gelangen«.108
VI. »ERBARMEN ... VON
GESCHLECHT ZU GESCHLECHT«
10. Das Bild »unseres Geschlechtes, unserer Generation«
Wir dürfen mit vollem Recht glauben, daß auch unsere Generation in
den Worten der Gottesmutter inbegriffen war, als sie das Erbarmen pries,
welches »von Geschlecht zu Geschlecht«, von Generation zu Generation
jenen zuteil wird, die sich von der Gottesfurcht leiten lassen. Das
Magnifikat Marias hat einen prophetischen Inhalt; dieser bezieht
sich nicht nur auf die Vergangenheit Israels, sondern auch auf die ganze
Zukunft des Gottesvolkes auf Erden. Wir alle, die heute auf dieser Erde
leben, sind das »Geschlecht«, welches um das Herannahen
des dritten Jahrtausends weiß und zutiefst die geschichtliche Wende
fühlt, die im Gange ist.
Die gegenwärtige Generation weiß sich bevorzugt; denn der Fortschritt
bietet ihr so viele Möglichkeiten, wie man sie vor nur wenigen
Jahrzehnten nicht ahnen konnte. Die schöpferische Tätigkeit des
Menschen, seine Intelligenz und seine Arbeit haben tiefreichende
Veränderungen sowohl auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik wie
auch im sozialen und kulturellen Leben hervorgerufen. Der Mensch hat
seine Macht über die Natur ausgedehnt; er hat eine vertiefte Kenntnis
von den Gesetzen seines Sozialverhaltens bekommen. Er hat erlebt, wie
die Hindernisse und Abstände, die Menschen und Nationen voneinander
trennen, verschwanden oder kleiner wurden, und dies durch einen
wachsenden Sinn für das Ganze, durch ein klareres Bewußtsein der Einheit
des Menschengeschlechtes, durch die Bejahung der gegenseitigen
Abhängigkeit bei echter Solidarität und schließlich durch das Verlangen
- und die Möglichkeit - , mit den Brüdern und Schwestern jenseits der
künstlichen Aufteilungen der Geographie oder der nationalen oder
rassischen Grenzen in Verbindung zu treten. Vor allem die Jugend von
heute weiß, daß der Fortschritt von Wissenschaft und Technik es möglich
macht, nicht nur neue materielle Güter zu erlangen, sondern auch eine
breitere Teilhabe am Wissen der Menschheit. Der Aufschwung der
Informatik zum Beispiel vervielfacht die schöpferischen Fähigkeiten des
Menschen und eröffnet den Zugang zu den intellektuellen wie kulturellen
Reichtümern anderer Völker. Die neuen Techniken der Kommunikation
erleichtern eine stärkere Teilnahme am Weltgeschehen und einen
wachsenden Austausch der Ideen. Die Errungenschaften der Biologie,
Psychologie und der Sozialwissenschaft helfen dem Menschen, die
Reichtümer seines eigenen Seins besser zu verstehen. Wenn es auch
stimmt, daß ein solcher Fortschritt noch zu oft das Privileg der
industrialisierten Länder bleibt, so läßt sich doch nicht leugnen, daß
die Möglichkeit, alle Völker und alle Länder daran teilhaben zu lassen,
nicht mehr länger eine schlichte Utopie ist, sofern ein echter
politischer Wille hierfür besteht.
Aber neben all diesen Entwicklungen - oder besser gesagt, in
ihnen - gibt es gleichzeitig jene Schwierigkeiten, die sich bei jedem
Wachstum zeigen. Es gibt Sorgen und Schwächen, die eine grundlegende
Antwort erfordern, die der Mensch, wie er wohl weiß, geben muß. Das Bild
der heutigen Welt zeigt auch Schatten und nicht immer nur oberflächliche
Störungen des Gleichgewichts. Die Pastoralkonstitution des Zweiten
Vatikaniscken Konzils, Gaudium et Spes, ist sicher nicht das
einzige Dokument, das vom Leben der heutigen Generation handelt, sie hat
jedoch besondere Bedeutung. »In Wahrheit hängen die Störungen des
Gleichgewichts, an denen die moderne Welt leidet«, so lesen wir dort,
»mit jener tieferen Störung des Gleichgewichts zusammen, welche im
Herzen des Menschen liegt. Im Menschen selbst bekämpfen ja viele
Elemente einander. Während er sich nämlich einerseits als Geschöpf
vielfach begrenzt erfährt, fühlt er andererseits in seiner Sehnsucht,
daß er zu einem grenzenlosen und höheren Leben berufen ist. Von
mancherlei Seiten angefordert, muß er das eine wählen, auf das andere
verzichten. Als schwacher, sündiger Mensch tut er oft das, was er nicht
will, und was er will, das tut er nicht. So leidet er an einem inneren
Zwiespalt, und daraus entstehen so viele und schwere Zerwürfnisse auch
in der Gesellschaft«.109
Gegen Ende der Einführung lesen wir: »Dennoch wächst angesichts der
heutigen Weltentwicklung die Zahl derer mehr und mehr, die die
Grundfragen erheben oder mit neuer Schärfe spüren: Was ist der Mensch?
Was ist der Sinn des Schmerzes, des Bösen, des Todes - alles
Dinge, die trotz allem Fortschritt noch immer weiterbestehen? Was
bedeuten jene Siege, die mit solchem Preis erkauft sind?«.110
Ist in den eineinhalb Jahrzehnten seit der Beendigung des Zweiten
Vatikanischen Konzils dieses Bild typischer Spannungen und Bedrohungen,
wie es unserer Zeit eigen ist, vielleicht weniger beunruhigend geworden?
Offenbar nicht. Ganz im Gegenteil, die Spannungen und Bedrohungen, die
sich im Konzilsdokument erst abzeichneten und damals die ganze Gefahr,
welche sie in sich bargen, noch nicht voll erkennen ließen, sind im Lauf
dieser Jahre weiter offenbar geworden, haben die Gefahr vielfach
bestätigt und erlauben es nicht länger, sich den Illusionen von einst zu
überlassen.
11. Quellen der Unruhe
Unsere Welt fühlt sich also immer mehr bedroht. Die existentielle
Angst nimmt zu, vor allem - wie ich bereits in der Enzyklika
Redemptor Hominis erwähnte - im Hinblick auf die Möglichkeit eines
Konflikts, der angesichts des heute vorhandenen Vorrats an Atomwaffen
eine teilweise Selbstzerstörung der Menschheit bedeuten könnte. Die
Bedrohung kommt jedoch nicht nur von dem, was die Menschen durch
militärische Technik einander antun können; sie erwächst auch aus vielen
anderen Folgen einer materialistischen Zivilisation, welche - trotz
»humanistischer« Erklärungen - dem Vorrang der Sachen über die Person
huldigt. Der zeitgenössische Mensch fürchtet also, daß durch die von
dieser Zivilisation erfundenen Mittel die Einzelpersonen und auch
die verschiedenen Lebensbereiche, die Gemeinschaften, die Gesellschaften
und die Nationen Opfer der Willkür anderer Einzelpersonen,
Lebensbereiche und Gesellschaften werden könnten. Die Geschichte unseres
Jahrhunderts bietet dafür Beispiele zur Genüge. Trotz aller Erklärungen
über die Rechte des Menschen in seiner Ganzheit, das heißt in seiner
leiblichen und geistigen Existenz, können wir nicht sagen, daß diese
Beispiele nur der Vergangenheit angehören.
Der Mensch fürchtet mit Recht, Opfer einer Unterdrückung zu werden,
die ihn der inneren Freiheit und der Möglichkeit beraubt, die Wahrheit
auszusprechen, von der er überzeugt ist; die ihm seinen Glauben nehmen
möchte und die Möglichkeit, den rechten Weg zu gehen, den ihm die Stimme
des Gewissens weist. Die technischen Mittel, über welche die heutige
Zivilisation verfügt, bergen ja nicht nur die Möglichkeit einer
Selbstvernichtung als Folge eines militärischen Koniflikts in sich,
sondern auch die einer »friedlichen« Unterwerfung der
Einzelpersonen, der Lebensbereiche, ganzer Gesellschaftsgruppen und
Nationen, die aus irgendeinem Grund denen unbequem werden, die
solche technische Mittel in der Hand haben und zu ihrem Einsatz
bedenkenlos bereit sind. Man denke in diesem Zusammenhang auch an die
Folter in der heutigen Welt als systematisch eingesetztes Herrschafts-
und Unterdrückungsmittel der Machthaber, als unbestrafte Praxis der
untergeordneten Stellen.
So wächst neben dem Wissen um die Bedrohung des physischen Lebens das
Wissen um eine andere Bedrohung, um eine noch größere Gefahr für das,
was wesentlich menschlich ist, was mit der Würde der Person und ihrem
Recht auf Wahrheit und Freiheit in engem Zusammenhang steht.
All das vollzieht sich vor dem Hintergrund schwerster innerer
Vorwürfe, deren Ursache darin liegt, daß es neben den Menschen und
Gesellschaftsgruppen, die in Wohlstand, Sattheit und Überfluß leben und
sich dem Konsumismus und der Genußsucht unterworfen haben, in der
gleichen Menschheitsfamilie nicht an einzelnen noch an
Gesellschaftsgruppen fehlt, die Hunger leiden. Es gibt Kinder,
die vor den Augen ihrer Mütter den Hungertod sterben. Es gibt in
verschiedenen Teilen der Welt, in verschiedenen sozio-ökonomischen
Systemen ganze Zonen des Elends, der Not und der Unterentwicklung. Diese
Tatsachen sind allgemein bekannt. Der Zustand der Ungleichheit
unter Menschen und Völkern dauert nicht nur an, er nimmt zu. Noch immer
finden wir neben begüterten Menschen, die im Überfluß leben, andere,
bedürftige, die unter dem Elend leiden und oft sogar an Hunger sterben;
ihre Zahl beläuft sich auf Dutzende, ja auf Hunderte von Millionen.
Deshalb wird sich die moralische Unruhe zusehends vertiefen. Es ist
unleugbar, daß die heutige Wirtschaftsordnung und die materialistische
Zivilisation auf Grundlagen aufgebaut sind, die eine fundamentale
Unzulänglichkeit oder vielmehr einen ganzen Komplex von
Unzulänglichkeiten, ja, einen unzulänglich funktionierenden Mechanismus
aufweisen; eine solche Wirtschaftsordnung und Zivilisation machen es der
menschlichen Gesellschaft unmöglich, über so radikal ungerechte
Situationen hinauszuwachsen.
Das Bild der Welt von heute, in der es so viel physisches und
moralisches Übel gibt, daß sie sich in Widersprüche und Spannungen
verstrickt und gleichzeitig die menschliche Freiheit, das Gewissen und
die Religion bedroht, erklärt die Unruhe, unter der der zeitgenössische
Mensch leidet. Diese Unruhe spüren nicht nur die Benachteiligten und die
Unterdrückten, sondern auch jene, die das Privileg des Reichtums, des
Fortschritts und der Macht genießen. Obwohl es nicht an Menschen fehlt,
welche die Ursachen dieser Unruhe aufzudecken oder mit den Mitteln der
Technik, des Reichtums oder der Macht provisorisch zu bekämpfen suchen,
so läßt sich doch in der Tiefe des menschlichen Herzens die Unruhe
durch diese Maßnahmen nicht beschwichtigen. Sie bezieht sich - wie
die Untersuchungen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu Recht
festgestellt haben - auf die fundamentalen Probleme der gesamten
menschlichen Existenz; sie steht im Zusammenhang mit dem Sinn der
Existenz des Menschen in der Welt überhaupt und sorgt sich um die
Zukunft des Menschen und der ganzen Menschheit; sie fordert grundlegende
Entscheidungen, welchen das Menschengeschlecht nun offenbar nicht mehr
ausweichen kann.
12. Genügt die Gerechtigkeit
Es ist nicht schwer festzustellen, daß in der heutigen Welt wieder
ein Sinn für Gerechtigkeit erwacht ist; er ist weit verbreitet und
rückt zweifellos all das ins Bewußtsein, was im Widerspruch zur
Gerechtigkeit steht: sei es im Verhältnis zwischen den Menschen, den
sozialen Gruppierungen oder den »Klassen«, sei es zwischen den einzelnen
Völkern und Staaten, sei es schließlich zwischen politischen Systemen
als solchen, ja zwischen sogenannten »Welten«. Diese tiefgreifende und
vielfältige Tendenz, an deren Basis das menschliche Bewußtsein unserer
Zeit die Gerechtigkeit gestellt hat, bezeugt den ethischen Charakter der
Spannungen und Kämpfe, die sich über die Erde ziehen.
Die Kirche teilt mit den Menschen unserer Zeit diesen tiefen,
brennenden Wunsch nach einem in jeder Hinsicht gerechten Leben und
versäumt es nicht, die verschiedenen Aspekte der Gerechtigkeit, wie sie
das Leben der Menschen und der Gesellschaftsgruppen fordert, zu
durchdenken. Das bestätigt der Bereich der katholischen Soziallehre, die
sich im Lauf der letzten hundert Jahre machtvoll entwickelt hat. Nach
den Prinzipien dieser Lehre richten sich sowohl die Erziehung und die
Bildung des menschlichen Gewissens im Geist der Gerechtigkeit als auch
die einzelnen Initiativen, insbesondere auf dem Gebiet des
Laienapostolats, die sich ebenfalls in diesem Geist entfalten.
Man kann jedoch schwerlich darüber hinwegsehen, daß die Programme,
die von der Idee der Gerechtigkeit ausgehen und deren
Verwirklichung im Zusammenleben der Menschen, der menschlichen Gruppen
und Gesellschaften dienen sollen, in der Praxis oft arg entstellt
werden. Obwohl sie sich dann weiter auf die Idee der Gerechtigkeit
berufen, gewinnen - so lehrt die Erfahrung - negative Kräfte, wie etwa
Groll, Haß oder gar Grausamkeit die Oberhand. In diesem Fall wird das
Verlangen, den Feind zu vernichten, seine Freiheit einzuschränken oder
ihm eine vollständige Abhängigkeit aufzuerlegen, zum eigentlichen
Beweggrund des Handelns; dies widerspricht dem Ursinn von Gerechtigkeit,
die ihrem Wesen nach darauf abzielt, Gleichheit und Gleichstellung
zwischen den streitenden Parteien zu erreichen. Diese Art Mißbrauch der
Gerechtigkeitsidee und die praktische Verfälschung der Gerechtigkeit
beweisen, wie weit sich das menschliche Handeln von der
Gerechtigkeit entfernen kann, selbst wenn es in ihrem Namen begonnen
wurde. Nicht umsonst beanstandete Jesus bei seinen Zuhörern, die den
Lehren des Alten Testaments treu waren, die Haltung, die in dem Spruch
zum Ausdruck kommt: »Auge für Auge und Zahn für Zahn«.111
Das war die damalige Form, die Gerechtigkeit zu verfälschen, und die
heutigen haben sie zum Modell. Es ist ja offensichtlich, daß im Namen
einer sogenannten Gerechtigkeit (z.B. einer geschichtlichen oder
Klassengerechtigkeit) manchmal der Nächste vernichtet, getötet, seiner
Freiheit oder der elementarsten Menschenrechte beraubt wird. Die
Erfahrung der Vergangenheit und auch unserer Zeit lehrt, daß die
Gerechtigkeit allein nicht genügt, ja, zur Verneinung und Vernichtung
ihrer selbst führen kann, wenn nicht einer tieferen Kraft - der Liebe
- die Möglichkeit geboten wird, das menschliche Leben in seinen
verschiedenen Bereichen zu prägen. Gerade die geschichtliche Erfahrung
hat, unter anderem, zur Formulierung der Aussage geführt: summum ius,
summa iniuria - höchstes Recht, höchstes Unrecht. Diese
Behauptung entwertet die Gerechtigkeit nicht, noch verringert sie die
Bedeutung der Ordnung, die sich auf sie aufbaut; sie weist nur unter
einem anderen Aspekt auf die Notwendigkeit hin, aus jenen noch tieferen
Quellen des Geistes zu schöpfen, denen sich die Ordnung der
Gerechtigkeit selber verdankt.
Das Bild der Generation, der wir angehören, vor Augen, teilt die
Kirche die Unruhe so vieler Zeitgenossen. Besorgniserregend ist
außerdem das Verblassen vieler fundamentaler Werte, die ein
unbestreitbares Gut nicht nur der christlichen, sondern ganz einfach der
menschlichen Moral, der moralischen Kultur darstellen, wie etwa
die Achtung des menschlichen Lebens vom Augenblick der Empfängnis an,
die Achtung der Ehe in ihrer unauflöslichen Einheit, die Achtung des
Dauercharakters der Familie. Die sittliche Freizügigkeit verletzt vor
allem diesen empfindlichsten Bereich des menschlichen Lebens und
Zusammenlebens. Auf der gleichen Linie liegen die Krise der Wahrheit in
den zwischenmenschlichen Beziehungen, der Mangel an
Verantwortungsbewußtsein im Reden, die nur auf Nützlichkeit
ausgerichtete Beziehung von Mensch zu Mensch, das Fehlen des Sinnes für
echtes Gemeinwohl und die Leichtigkeit, mit der dieses seinem Zweck
entfremdet wird. Schließlich ist noch die Verdrängung des Sakralen zu
nennen, die oft zur Verdrängung des Menschlichen wird: der Mensch und
die Gesellschaft, denen nichts »heilig« ist, sind - allem Anschein zum
Trotz - dem moralischen Verfall preisgegeben.
VII. DAS ERBARMEN GOTTES
IN DER SENDUNG DER KIRCHE
Im Zusammenhang mit diesem Bild unserer Generation, das unvermeidlich
tiefe Unruhe hervorruft, erinnern wir uns der Worte, die aus Anlaß der
Menschwerdung des Gottessohnes im Magnifikat Marias erklangen und
das Erbarmen »von Geschlecht zu Geschlecht« preisen. Die Kirche unserer
Zeit muß sich, indem sie die Ausdruckskraft dieser inspirierten Worte
stets im Herzen bewahrt und sie auf die Erfahrungen und Leiden der
großen Menschheitsfamilie anwendet, der Notwendigkeit tiefer und
eingehender bewußt werden, in ihrer ganzen Sendung, auf den Spuren der
Tradition des Neuen und des Alten Bundes und vor allem auf den Spuren
Jesu Christi und seiner AposteI, für das Erbarmen Gottes Zeugnis
abzulegen. Die Kirche muß für das Erbarmen Gottes, das Christus in
seiner gesamten messianischen Sendung offenbart hat, Zeugnis ablegen,
indem sie es zunächst als heilbringende Glaubenswahrheit bekennt,
die zugleich für ein Leben notwendig ist, das mit dem Glauben
übereinstimmen soll, und dann sucht, dieses Erbarmen sowohl in
das Leben ihrer Gläubigen als auch nach Möglichkeit in das aller
Menschen guten Willens einzuführen und dort Fleisch werden zu lassen.
Schließlich hat die Kirche, indem sie dieses Erbarmen bekennt und ihm
allzeit treu bleibt, das Recht und die Pflicht, sich auf das Erbarmen
Gottes zu berufen und es angesichts aller Erscheinungsformen von
physischem und moralischem Übel, angesichts aller Bedrohungen, die über
dem gesamten Horizont des Lebens der heutigen Menschheit lasten, zu
ergehen.
13. Die Kirche bekennt und verkündet das Erbarmen Gottes
Die Kirche muß das göttliche Erbarmen in all seiner Wahrheit,
wie sie uns die Offenbarung überliefert hat, bekennen und verkünden.
Auf den vorhergehenden Seiten dieses Dokumentes haben wir versucht,
diese Wahrheit, die die gesamte Heilige Schrift und die Tradition der
Kirche so vielfältig bezeugen, wenigstens in großen Linien darzulegen.
Im täglichen Leben der Kirche klingt die Wahrheit vom Erbarmen Gottes,
wie sie in der Bibel zum Ausdruck kommt, ständig in zahlreichen Lesungen
der heiligen Liturgie an. Das echte Glaubensbewußtsein des Volkes Gottes
nimmt sie wahr, wie verschiedene Formen der persönlichen und der
gemeinschaftlichen Frömmigkeit bezeugen. Es wäre sicher schwierig, sie
alle hier aufzuzählen und zusammenzufassen, sind sie doch zum größten
Teil im Innersten der Herzen und Gedanken der Menschen lebendig
eingeprägt. Wenn einige Theologen sagen, daß das Erbarmen unter den
Attributen und Vollkommenheiten Gottes das wichtigste ist, so liefern
dafür die Bibel, die Tradition und das ganze Glaubensleben des Volkes
Gottes ihre besonderen Zeugnisse. Es handelt sich hierbei nicht um die
Vollkommenheit des unerforschlichen Wesens Gottes im Geheimnis der
Gottheit als solcher, sondern um die Vollkommenheit und das Attribut,
durch das der Mensch in der tiefsten Wahrheit seiner Existenz dem
lebendigen Gott besonders oft und nahe begegnet. Nach den Worten Christi
an Philippus112
findet die Anschauung des Vaters - eine Schau Gottes im Glauben - gerade
in der Begegnung mit seinem Erbarmen eine einzigartige Gestalt innerer
Einfachheit und Wahrheit, jener ähnlich, die wir im Gleichnis vom
verlorenen Sohn finden.
»Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«.113
Die Kirche bekennt das Erbarmen Gottes, sie lebt davon in ihrer reichen
Glaubenserfahrung und auch in ihrer Lehre, indem sie unablässig Christus
betrachtet und sich auf ihn ausrichtet, auf sein Leben und sein
Evangelium, auf sein Kreuz und seine Auferstehung, auf sein Geheimnis
insgesamt. Alles was zur »Anschauung« Christi im lebendigen Glauben und
in der Lehre der Kirche gehört, bringt uns der »Anschauung des Vaters«
in der Heiligkeit seines Erbarmens näher. Die Kirche bekennt und verehrt
das Erbarmen Gottes, so will es scheinen, auf besondere Weise, indem sie
sich an Christi Herz wendet. Tatsächlich erlaubt uns gerade die
Hinwendung zu Christus im Geheimnis seines Herzens, bei diesem Thema der
Offenbarung, der erbarmenden Liebe des Vaters, zu verweilen, das den
innersten Kern der messianischen Sendung des menschgewordenen
Gottessohnes ausmacht: ein zentraler Punkt und gleichzeitig der dem
Menschen am leichtesten zugängliche.
Die Kirche lebt ein authentisches Leben, wenn sie das
Erbarmen bekennt und verkündet - das am meisten überraschende
Attribut des Schöpfers und des Erlösers - und wenn sie die Menschen zu
den Quellen des Erbarmens des Heilandes führt, welche sie hütet und aus
denen sie austeilt. Große Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der
ständigen Betrachtung des Wortes Gottes zu und vor allem der bewußten,
mit innerer Reife vollzogenen Feier der Eucharistie und des
Sakraments der Buße oder Versöhnung. Die Eucharistie nähert uns ja
immer mehr jener Liebe, die mächtiger ist als der Tod: »Sooft wir
von diesem Brot essen und aus diesem Kelch trinken«, verkünden wir nicht
nur den Tod des Erlösers, sondern auch seine Auferstehung, »bis er
kommt« in Herrlichkeit.114
Die gleiche Eucharistiefeier, die zum Gedächtnis dessen gefeiert wird,
der uns in seiner messianischen Sendung durch sein Wort und sein Kreuz
den Vater geoffenbart hat, beweist die unerschöpfliche Liebe,
durch die er immer danach strebt, sich mit uns zu verbinden und mit uns
einszuwerden, indem er allen Menschenherzen entgegenkommt. Das Sakrament
der Buße oder Versöhnung ebnet dabei den Weg zu jedem Menschen selbst
dann, wenn er mit schwerer Schuld beladen ist. In diesem Sakrament kann
jeder Mensch auf einzigartige Weise das Erbarmen erfahren, das heißt die
Liebe, die mächtiger ist als die Sünde. Darüber wurde bereits in der
Enzyklika Redemptor Hominis gesprochen; es ist jedoch sinnvoll,
noch einmal auf dieses grundlegende Thema einzugehen.
Gerade weil es die Sünde in der Welt gibt, die »Gott so sehr geliebt
hat, daß er seinen einzigen Sohn hingab«,115
kann Gott, der »die Liebe«116
ist, sich nicht anders denn als Erbarmen offenbaren.
Dieses Erbarmen entspricht nicht nur der tiefsten Wahrheit jener Liebe,
die Gott ist, sondern auch der ganzen inneren Wahrheit des Menschen und
der Welt, seiner derzeitigen Heimat.
Das Erbarmen als solches ist als Vollkommenheit des unendlichen
Gottes auch selbst unendlich. Unendlich und unerschöpflich ist daher die
Bereitschaft des Vaters, die verlorenen Söhne aufzunehmen, die zu seinem
Hause zurückkehren. Unendlich sind die Bereitschaft und die Macht der
Vergebung, die unablässig aus dem wunderbaren Wert des Opfers des
Sohnes hervorgehen. Keine menschliche Sünde kann diese Macht bezwingen
oder auch nur einschränken. Von seiten des Menschen kann sie nur der
Mangel an gutem Willen, der Mangel an Bereitschaft zur Bekehrung und zur
Buße, also die hartnäckige Verstockung einschränken, die sich der Gnade
und der Wahrheit widersetzt, besonders vor dem Zeugnis des Kreuzes und
der Auferstehung Christi.
Die Kirche bekennt und verkündet also die Bekehrung. Die Bekehrung zu
Gott ist immer ein Entdecken seines Erbarmens, jener Liebe also,
die nach dem Maßstab des Schöpfers und Vaters langmütig und wohlwollend117
ist: jener Liebe, der »der Gott und Vater Jesu Christi, unseres Herrn«,118
in der Geschichte des Bundes mit dem Menschen treu ist bis zum
Äußersten, bis zum Kreuz, zum Tod und zur Auferstehung seines Sohnes.
Die Bekehrung zu Gott ist immer Frucht des »Wiederfindens« dieses
Vaters, der voll des Erbarmens ist.
Die wahre Kenntnis Gottes in seinem Erbarmen und seiner wohlwollenden
Liebe ist eine ununterbrochene und nie versiegende Quelle der Bekehrung,
die nicht als nur vorübergehender innerer Akt zu verstehen ist, sondern
als ständige Haltung, als Zustand der Seele. Denn wer Gott auf diese
Weise kennenlernt, ihn so »sieht«, kann nicht anders, als in
fortwährender Bekehrung zu ihm zu leben. Er lebt also in statu
conversionis, im Zustand der Bekehrung; gerade diese Haltung stellt
das tiefste Element der Pilgerfahrt jedes Menschen auf dieser Erde in
statu viatoris, im Zustand des Unterwegs-seins, dar
Selbstverständlich bekennt die Kirche das Erbarmen Gottes, das im
gekreuzigten und auferstandenen Christus geoffenbart wurde, nicht nur
mit den Worten ihrer Lehre, sondern vor allem mit dem lebendigen
Pulsschlag des ganzen Volkes Gottes. Durch dieses Lebenszeugnis erfüllt
die Kirche die dem Volk Gottes eigene Mission, die an der messianischen
Sendung Christi teilhat und diese in gewissem Sinne fortsetzt.
Die Kirche von heute ist sich voll bewußt, daß sie nur dann die aus
der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils entstehenden Aufgaben
verwirklichen kann, wenn sie sich auf das Erbarmen Gottes stützt; das
gilt in erster Linie von der ökumenischen Aufgabe, welche die Einheit
aller anstrebt, die sich zu Christus bekennen. Indem die Kirche
zahlreiche Bemühungen in diesem Sinn unternimmt, bekennt sie demütig,
daß nur die Liebe, die mächtiger ist als die Schwäche der
menschlichen Uneinigkeit, jene Einheit endgültig verwirklichen kann,
um die Christus den Vater anflehte und die der Heilige Geist unablässig
»mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können«,119
erbittet.
14. Die Kirche sucht das Erbarmen zu verwirklichen
Jesus Christus hat gelehrt, daß der Mensch das Erbarmen Gottes nicht
nur empfängt und erfährt, sondern auch berufen ist, an seinen
Mitmenschen »Erbarmen zu üben«: »Selig die Barmherzigen, denn sie werden
Erbarmen finden«.120
Die Kirche sieht in diesen Worten einen Aufruf zum Handeln und bemüht
sich, Erbarmen zu üben. Obwohl alle Seligpreisungen der Bergpredigt den
Weg der Bekehrung und der Lebensänderung weisen, ist die von den
Barmherzigen hierin besonders sprechend. Der Mensch hat Zugang zur
erbarmenden Liebe Gottes, zu seinem Erbarmen, im Maß und insofern er
sich selbst innerlich von diesem Geist der Liebe zum Nächsten umwandeln
läßt.
Dieser wahrhaft evangelische Prozeß ist mehr als eine ein für allemal
verwirklichte geistliche Umkehr; er ist ein Lebensstil, ein wesentliches
und immerwährendes Kennzeichen der christlichen Berufung. Er besteht in
der ständigen Entdeckung und ausdauernden Verwirklichung der Liebe
als einigender und zugleich erhebender Kraft - allen psychologisch
oder sozial bedingten Schwierigkeiten zum Trotz; es handelt sich um eine
erbarmende Liebe, die ihrem Wesen nach schöpferisch ist. Die
erbarmende Liebe ist in den zwischenmenschlichen Beziehungen nie ein
einseitiger Akt oder Prozeß. Selbst dort, wo allem Anschein nach nur ein
Teil gibt und hingibt und der andere nur empfängt und nimmt (z.B. im
Fall des Arztes, der behandelt; des Lehrers, der unterrichtet; der
Eltern, die die Kinder ernähren und erziehen; des Wohltäters, der die
Bedürftigen unterstützt), wird tatsächlich auch der Geber immer zum
Beschenkten. Auch kann er leicht selbst in die Lage dessen kommen, der
empfängt, dem eine Wohltat zuteil wird, der die erbarmende Liebe
erfährt, der Gegenstand von Erbarmen wird.
Der gekreuzigte Christus ist uns hierin im Höchstmaß Beispiel,
Anregung und Aufruf. Auf dieses ergreifende Vorbild schauend,
können wir in aller Demut den anderen Erbarmen erweisen, wohl wissend,
daß Christus es als ihm selbst erwiesen annimmt.121
Dieses Vorbild ins Auge fassend, müssen wir auch ständig all jene
Handlungen und Absichten läutern, in denen wir das Erbarmen nur in einer
Richtung, nur als Wohltat für den anderen auffassen und üben, während
ein echter Akt erbarmender Liebe die Überzeugung in uns voraussetzt, daß
wir zugleich von denen Erbarmen empfangen, denen wir es erweisen. Fehlt
diese Gegenseitigkeit, dann sind weder unsere Handlungen echte Akte des
Erbarmens, noch hat sich in uns die Bekehrung restlos vollzogen, deren
Weg uns Christus mit seinem Wort und Beispiel bis zum Kreuz gewiesen
hat, noch haben wir schon vollen Anteil an dem wunderbaren Quell der
erbarmenden Liebe, den er uns erschlossen hat.
So ist also der Weg, den Christus uns in der Bergpredigt mit der
Seligpreisung der Barmherzigen gewiesen hat, viel reicher, als es manche
allgemein übliche Ansichten über das Erbarmen wahrhaben wollen. Diese
Ansichten sehen im Erbarmen einen Akt oder Vorgang, der nur in eine
Richtung geht und zwischen dem, der es übt, und dem, der damit beschenkt
wird, zwischen dem, der das Gute tut, und dem, der empfängt, einen
Abstand voraussetzt und aufrecht erhält. Aus dieser Sicht ergibt sich
die Anmaßung, die zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen vom
Erbarmen zu befreien und ausschließlich auf die Gerechtigkeit zu
gründen. Solchem Denken über das Erbarmen entgeht das fundamentale Band
zwischen Erbarmen und Gerechtigkeit, von dem die ganze biblische
Tradition und noch mehr die messianische Sendung Jesu Christi spricht.
Das echte Erbarmen ist sozusagen die tiefste Quelle der Gerechtigkeit.
Ist es der letzteren gegeben, zwischen den Menschen nach Gebühr »Recht
zu sprechen«, wenn sie die Sachgüter verteilen und tauschen, so ist die
Liebe und nur die Liebe (auch jene gütige Liebe, die wir als »Erbarmen«
bezeichnen) fähig, den Menschen sich selbst zurückzugeben.
Das wahrhaft christliche Erbarmen ist in gewisser
Hinsicht auch die vollkommenste Inkarnation der »Gleichheit«
unter den Menschen und daher auch die vollkommenste Inkarnation der
Gerechtigkeit, insofern auch diese in ihrem Bereich das gleiche
Ergebnis anstrebt. Die von der Gerechtigkeit bewirkte Gleichheit
beschränkt sich jedoch auf den Bereich der äußeren, der Sachgüter,
während Liebe und Erbarmen die Menschen dazu bringen, einander in dem
Wert zu begegnen, den der Mensch selbst in der ihm eigenen Würde
darstellt. Auch löscht die von der »langmütigen« und »gütigen«122
Liebe geschaffene Gleichheit unter den Menschen die Unterschiede
keineswegs aus: wer gibt, wird hochherziger, wenn er sich gleichzeitig
von dem beschenkt fühlt, der seine Gabe empfängt; umgekehrt leistet der
Empfänger, der die Gabe in dem Bewußtsein anzunehmen weiß, daß er mit
diesem Annehmen etwas Gutes tut, seinerseits einen Beitrag in dem großen
Anliegen der personalen Würde und hilft so, die Menschen in tiefere
Verbindung zueinander zu bringen.
Mithin wird das Erbarmen zu einem unerläßlichen Element, sollen die
Beziehungen der Menschen zueinander vom Geist höchster Achtung des
wahrhaft Menschlichen und gegenseitiger Brüderlichkeit geprägt
werden. Es ist unmöglich, dieses Band unter den Menschen zu knüpfen,
wenn ihre Beziehungen zueinander keinen anderen Maßstab kennen als den
der Gerechtigkeit. Diese muß in allen Bereichen zwischenmenschlicher
Beziehung sozusagen eine tiefgreitende »Korrektur« erfahren:
durch die Liebe, welche nach dem Hohen Lied des heiligen Paulus
»langmütig« und »gütig« ist oder, anders ausgedrückt, die für das
Evangelium und das Christentum so wesentlichen Züge des Erbarmens
trägt. Wir wollen darüber hinaus daran erinnern, daß die erbarmende
Liebe auch jene herzliche Zärtlichkeit und Empfindsamkeit in
sich schließt, die uns im Gleichnis vom verlorenenen Sohn so
eindrucksvoll vor Augen geführt wird123
oder auch in denen vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Drachme.124
Am wenigsten darf die erbarmende Liebe zwischen denen fehlen, die
einander am nächsten sind: Ehegatten, Eltern und Kinder, Freunde;
unerläßlich ist sie auch im Erziehungswesen und in der Seelsorge.
Ihre Ausstrahlung reicht aber weiter. Wenn Paul VI. mehrmals von der
»Kultur der Liebe«125
als dem Ziel gesprochen hat, auf das alle Anstrengungen auf sozialem und
kulturellem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet ausgerichtet sein
müssen, so ist hier hinzuzufügen, daß dieses Ziel unerreichbar bleibt,
solange wir in den weiten und verflochtenen Bereichen des menschlichen
Zusammenlebens mit unseren Entwürfen und Maßnahmen haltmachen bei »Auge
für Auge und Zahn für Zahn«126
und nicht darum bestrebt sind, diesen Grundsatz umzuformen, zu ergänzen
durch einen neuen Geist. In diese Richtung weist zweifellos auch das
Zweite Vatikanische Konzil, wenn es wiederholt von der Notwendigkeit
spricht, die Welt menschlicher zu machen,127
und die Mission der Kirche in der heutigen Welt eben in der
Verwirklichung dieser Aufgabe sieht. Die Welt der Menschen kann nur dann
immer menschlicher werden, wenn wir in den vielgestaltigen Bereich der
zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen zugleich mit der
Gerechtigkeit jene »erbarmende Liebe« hineintragen, welche die
messianische Botschaft des Evangeliums ausmacht.
Die Welt der Menschen kann nur dann »immer menschlicher« werden, wenn
wir in alle gegenseitigen Beziehungen, die ihr geistiges Antlitz prägen,
das Element des Verzeihens einbringen, welches für das Evangelium so
wesentlich ist. Das Verzeihen bezeugt, daß in der Welt eine Liebe
gegenwärtig ist, die stärker ist als die Sünde. Es ist darüber
hinaus die Grundbedingung für die Versöhnung, nicht nur in den
Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen, sondern auch in den
gegenseitigen Beziehungen zwischen den Menschen. Eine Welt ohne
Verzeihen wäre eine Welt kalter und ehrfurchtsloser Gerechtigkeit, in
deren Namen jeder dem anderen gegenüber nur seine Rechte einfordert; so
könnten die verschiedenen Formen des Egoismus, die im Menschen
schlummern, das Leben und Zusammenleben der Menschen in ein System der
Unterdrückung der Schwächeren durch die Stärkeren oder in einen
Schauplatz ständigen Kampfes der einen gegen die anderen verwandeln.
Die Kirche muß es daher in jedem geschicht lichen Zeitalter, aber
besonders in unserem als eine ihrer wichtigsten Aufgaben betrachten, das
Geheimnis des Erbarmens, das uns in Christus aufstrahlt, zu verkünden
und ins Leben hineinzutragen. Dieses Geheimnis ist nicht nur für die
Kirche selbst als Gemeinschaft der Glaubenden, sondern in gewissem Sinn
für alle Menschen Quelle eines Lebens, das grundverschieden ist
von dem, welches der Mensch, seiner dreifachen Begehrlichkeit128
überlassen, aufbauen könnte. Im Namen dieses Geheimnisses lehrt uns
Christus, immer zu verzeihen. Wie oft wiederholen wir in dem Gebet, das
er selbst uns gelehrt hat, die Bitte: »Vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«, das heißt jenen, die
uns gegenüber schuldig geworden sind!129
Es ist wirklich schwer, den tiefen Wert der Haltung auszudrücken, welche
diese Worte bezeichnen und uns ins Bewußtsein einprägen wollen. Wieviel
sagen sie jedem Menschen über seinen Mitmenschen und auch über sich
selbst! Das Wissen um die Tatsache, daß einer des anderen Schuldner ist,
geht Hand in Hand mit der Berufung zur brüderlichen Solidarität, die der
heilige PauIus in der prägnanten Einladung formuliert: »Ertragt einander
in Liebe«.130
Welches Programm der Demut gegenüber dem Menschen lehren uns diese Worte
- sowohl dem Nächsten als auch sich selbst gegenüber! Welche Schule des
guten Willens für das tägliche Zusammenleben in den verschiedenen
Umständen unseres Daseins sind sie! Was bleibt von allen
»humanistischen« Lebens- und Erziehungsprogrammen, wenn wir diese Lehre
unbeachtet lassen?
Christus legt auf die Notwendigkeit, den anderen zu verzeihen, so
großen Nachdruck, daß er Petrus auf die Frage, wie oft er dem Nächsten
verzeihen müsse, die symbolische Zahl »siebenundsiebzigmal«131
nennt und hiermit die Antwort gibt, daß er jedem und jedesmal verzeihen
muß. Selbstverständlich hebt die Forderung, hochherzig zu
verzeihen, die objektiven Forderungen der Gerechtigkeit nicht auf.
Die richtig verstandene Gerechtigkeit ist sozusagen der Zweck des
Verzeihens. An keiner Stelle der Frohen Botschaft bedeutet das
Verzeihen, noch seine Quelle, das Erbarmen, ein Kapitulieren vor dem
Bösen, dem Ärgernis, vor der erlittenen Schädigung oder Beleidigung. In
jedem Fall sind Wiedergutmachung des Bösen und des Ärgenisses, Behebung
des Schadens, Genugtuung für die Beleidigung Bedingungen der Vergebung.
So braucht also das Erbarmen als grundlegende Struktur immer die
Gerechtigkeit. Aber es hat die Kraft, der Gerechtigkeit einen neuen
Inhalt zu geben. Dieser findet seinen einfachsten und vollsten Ausdruck
im Verzeihen. Es macht uns deutlich, daß es außer »Wiedergutmachung« und
»Waffenstillstand« - Forderungen der Gerechtigkeit - auch die Liebe
geben muß, wenn der Mensch Mensch bleiben soll. Daß die Forderungen der
Gerechtigkeit erfüllt werden, ist eine Hauptbedingung dafür, daß das
Antlitz der Liebe aufleuchten kann. Schon beim Betrachten des
Gleichnisses vom verlorenen Sohn haben wir die Aufmerksamkeit auf die
Tatsache gelenkt, daß der, der verzeiht, und der, dem verziehen wird,
einander in einem wesentlichen Punkt begegnen: in der Würde, im Ur-Wert
des Menschseins, der nicht zerstört werden kann und dessen Entfaltung
beziehungsweise Wiederfindung Quelle größter Freude ist.132
Die Kirche betrachtet es mit Recht als ihre Pflicht, als Ziel ihrer
Sendung, die Echtheit des Verzeihens zu bewahren, sowohl im Leben
und Verhalten als auch in der Erziehung und Seelsorge. Sie tut das,
indem sie seine Quelle bewahrt, das heißt das Geheimnis des in
Jesus Christus offenbaren göttlichen Erbarmens.
Der Sendung der Kirche in all den Gebieten, auf die zahlreiche
Aussagen des letzten Konzils und eine mehrhundertjährige Erfahrung im
Apostolat verweisen, liegt nichts anderes zugrunde als das »Schöpfen aus
den Quellen des Heilands«.133
Dieses Schöpfen schenkt vielfache Orientierung für die Sendung der
Kirche im Leben der einzelnen Christen, der einzelnen Gemeinschaften und
auch der ganzen Gemeinschaft des Volkes Gottes; ein »Schöpfen aus den
Quellen des Heilandes« kann einzig und allein im Geist jener Armut
verwirklicht werden, zu welcher der Herr uns mit Wort und Beispiel
aufruft: »Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben«.134
So wird durch die evangelische Armut der Träger von Amt und Verwaltung
sowie des ganzen Volkes, das »die großen Werke« seines Herrn bezeugt,
überall im Leben und Wirken der Kirche noch klarer sichtbar, daß Gott
»reich an Erbarmen« ist.
VIII. GEBET DER KIRCHE
IN UNSERER ZEIT
15. Die Kirche ruft das göttliche Erbarmen an
Die Kirche bekennt die Wahrheit von Gottes Erbarmen, die im
Gekreuzigten und Auferstandenen offenbar wurde, und verkündet sie auf
verschiedene Weise. Darüber hinaus ist sie bestrebt, durch Menschen das
Erbarmen mit dem Menschen Wirklichkeit werden zu lassen; sie sieht darin
eine unerläßliche Voraussetzung der Bemühung um eine bessere und
menschlichere Welt für heute und morgen. Dennoch darf die Kirche nie, in
keinem Augenblick und keinem Abschnitt der Geschichte - insbesondere
nicht in einer so kritischen Epoche wie der gegenwärtigen - den
Aufschrei zu Gottes Erbarmen vergessen gegen die vielen Formen des
Übels, welche drohend über der Menschheit lasten. Gerade das ist von
ihrem Stifter her das fundamentale Recht und die fundamentale Pflicht
der Kirche: Recht und Pflicht vor Gott und den Menschen. Je mehr das
menschliche Bewußtsein der Säkularisierung erliegt und so den Sinn sogar
für die Wortbedeutung von »Erbarmen« verliert, je mehr es sich von Gott
entfernt und somit auch vom Geheimnis des Erbarmens, desto mehr hat
die Kirche das Recht und die Pflicht, »mit lautem Schreien«135
den Gott des Erbarmens anzurufen. Dieses »laute Schreien« muß gerade die
Kirche unserer Zeit kennzeichnen; sie muß Gott anrufen um sein Erbarmen,
dessen Offenbarwerden in Kreuz und Auferstehung, also im
Paschamysterium, sie bekennt und verkündet. Dieses Geheimnis schließt
die vollständigste Offenbarung des Erbarmens in sich, also jener Liebe,
die stärker ist als der Tod stärker als die Sünde und jedes Übel; jener
Liebe, die den Menschen auch aus dem tiefsten Fall erhebt, auch von den
schlimmsten Drohungen befreit.
Der zeitgenössische Mensch fühlt diese Drohungen. Das hierüber oben
Gesagte ist nur eine Andeutung. Der Mensch von heute stellt sich oft die
angsterfüllte Frage nach der Lösung der entsetzlichen Spannungen, die
sich über der Welt zusammengeballt haben und das Leben der Menschen
durchziehen. Und wenn er manchmal nicht den Mut hat, das Wort
»Erbarmen« auszusprechen, oder in einem areligiösen Bewußtsein auch
kein entsprechendes findet, muß es die Kirche um so nachdrücklicher
aussprechen, nicht nur in ihrem eigenen Namen, sondern auch im Namen
aller Menschen von heute.
Es ist also notwendig, daß alles, was ich in diesem Dokument über das
Erbarmen sagte, ununterbrochen zu einem inbrünstigen Gebet wird,
zu einem Aufschrei, der das göttliche Erbarmen anfleht entsprechend den
Notwendigkeiten des Menschen in der Welt von heute. Dieser Schrei muß
die ganze Fülle der Wahrheit über das Erbarmen in sich tragen,
welche in der Heiligen Schrift und in der Tradition sowie im
authentischen Glaubensleben so vieler Generationen des Volkes Gottes so
reichen Ausdruck gefunden hat. Mit diesem Schrei wenden wir uns, wie die
Beter des Alten Bundes, an Gott, der nichts von dem, was er geschaffen
hat, verachten kann,136
der sich selbst, seinem Vater-sein und seiner Liebe treu ist. Wie die
Propheten bestürmen wir diese Liebe, die mütterliche Züge trägt und wie
eine Mutter jedem ihrer Kinder, jedem verirrten Schäflein nachgeht,
selbst wenn es Millionen solcher Verirrungen gäbe, selbst wenn das
Unrecht in der Welt überhandnähme gegenüber dem Recht, selbst wenn die
Menschheit von heute für ihre Sünden eine neue »Sintflut« verdiente, so
wie einst die Generation Noachs eine Sintflut verdient hat. Nehmen wir
unsere Zuflucht zu jener väterlichen Liebe, die uns von Christus in
seiner messianischen Sendung offenbart wurde und die in seinem Kreuz,
seinem Tod und seiner Auferstehung ihren Höhepunkt erreichte! Nehmen wir
unsere Zuflucht durch Christus zu Gott, eingedenk der Worte Marias im
Magnifikat, die das Erbarmen »von Geschlecht zu Geschlecht«
verkünden. Erflehen wir das göttliche Erbarmen für das »Geschlecht« von
heute! Die Kirche, die sich bemüht, nach dem Vorbild Marias den Menschen
in Gott Mutter zu sein bringt mit diesem Gebet ihre mütterliche Sorge
und zuversichtliche Liebe zum Ausdruck, die ja das drängendste Motiv zum
Beten sind.
Erheben wir unser flehendes Gebet, geleitet vom Glauben, von der
Hoffnung und der Liebe, die Christus unseren Herzen eingepflanzt
hat. Diese Haltung ist gleichermaßen Liebe zu Gott, den der
zeitgenössische Mensch oft weit von sich entfernt und sich entfremdet
hat, den er in verschiedener Weise als für ihn »überflüssig« bezeichnet;
Liebe zu Gott, deren verletzende Ablehnung durch den heutigen
Menschen wir tief empfinden, wobei es uns drängt, mit Christus am Kreuze
auszurufen: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«.137
Diese Haltung der Fürbitte ist gleichzeitig Liebe zu den Menschen,
zu allen Menschen ohne jede Ausnahme und ohne den geringsten
Unterschied: ohne Unterschied nach Rasse, Kultur, Sprache und
Weltanschauung, ohne Unterscheidung zwischen Freunden und Feinden; eine
Liebe zu den Menschen, die das wahrhaft Gute für jeden einzelnen von
ihnen wünscht und für jede menschliche Gemeinschaft, für jede Familie,
jede Nation, jede Gesellschaftsgruppe, für die Jugendlichen, die
Erwachsenen, die Eltern, die Greise, die Kranken: Liebe zu allen ohne
Ausnahme. Das ist Liebe, eifrige Sorge, einem jeden jedes wahrhaft Gute
zu sichern und jegliches Übel hinwegzunehmen und zu verhindern.
Und wenn so mancher Zeitgenosse den Glauben und die Hoffnung nicht
teilt, die mich als Diener Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes138
veranlassen, in dieser Stunde unserer Geschichte Gottes Erbarmen auf die
Menschheit herabzurufen, suche er zumindest, den Grund für diese
meine Sorge zu verstehen. Sie ist von der Liebe zum Menschen
eingegeben, zu allem, was menschlich ist und was nach der Ahnung
vieler unserer Zeitgenossen von einer Gefahr schrecklichen Ausmaßes
bedroht ist. Dasselbe Geheimnis Christi, das uns die erhabene Berufung
des Menschen enthüllt und das mich dazu gedrängt hat, in der Enzyklika
Redemptor Hominis die unvergleichliche Würde des Menschen zu
bekräftigen, verpflichtet mich gleichzeitig, das Erbarmen Gottes zu
verkünden, seine im Geheimnis Christi geoffenbarte barmherzige Liebe.
Ebendieses Geheimnis veranlaßt mich auch, in dieser schwierigen und
kritischen Phase der Geschichte der Kirche und der Welt - gegen Ende des
zweiten Jahrtausends - mich an dieses Erbarmen zu wenden und es
herabzuflehen.
In Namen Jesu Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, im Geist
seiner messianischen Sendung, die in der Geschichte der Menschheit
fortdauert, erheben wir unsere Stimme und bitten, daß sich in
diesem Abschnitt der Geschichte jene Liebe, die im Vater ist, noch
einmal offenbare und durch das Wirken des Sohnes und des Heiligen
Geistes ihre Anwesenheit in der Welt von heute deutlich mache und sich
stärker als jedes Übel erweise: stärker als die Sünde und der Tod. Darum
bitten wir durch die Fürsprache jener, die das »Erbarmen von Geschlecht
zu Geschlecht« unaufhörlich verkündet, und auch all jener, an denen sich
die Worte der Bergpredigt bis zur Vollendung verwirklicht haben: »Selig
die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden«.139
Bei der weiteren Erfüllung der großen Aufgabe, das Zweite
Vatikanische Konzil in die Tat umzusetzen - in welchem wir mit Recht
eine neue Phase der Selbstverwirklichung der Kirche erblicken, dem
Zeitalter angemessen, in dem es uns zu leben bestimmt ist - , muß die
Kirche selbst von der vollen Überzeugung geleitet sein, daß sie bei
diesem Werk auf keinen Fall nur an sich denken darf. Ihr ganzer Sinn
ist es ja, Gott zu offenbaren, jenen Vater, der sich uns in
Christus »sichtbar« macht.140
Selbst wenn der Widerstand der menschlichen Geschichte noch so
nachhaltig, die Uneinheitlichkeit der zeitgenössischen Zivilisation noch
so ausgeprägt, die Verneinung Gottes in der Welt der Menschen noch so
verbreitet ist, muß die Nähe zu jenem Geheimnis, das von Ewigkeit her in
Gott verborgen war und an dem der Mensch durch Christus wirklichen
Anteil in der Zeit erhielt, um so größer sein.
Mit meinem Apostolischen Segen.
Gegeben in Rom, zu St. Peter, am 30. November 1980, dem ersten
Sonntag im Advent, im dritten Jahr meines Pontifikates.
1 Eph 2, 4.
2 Vgl. Joh 1, 18;
Hebr 1, 1 f.
3 Joh 14, 8 f.
4 Eph 2, 4 f.
5 2 Kor 1, 3.
6 Pastoralkonstitution über
die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 22; AAS
58 (1966), S. 1042.
7 Vgl. ebd.
8 1 Tim 6, 16.
9 Röm 1, 20.
10 Joh 1, 18.
11 1 Tim 6, 16.
12 «Phil-antropía»: Tit
3, 4.
13 Eph 2, 4.
14 Vgl. Gen 1, 28.
15 Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 9; AAS
58 (1966), S. 1032.
16 2 Kor 1, 3.
17 Mt 6, 4. 6. 18.
18 Vgl. Eph 3, 18;
außerdem Lk 11, 5-13
19 Lk 4, 18 f.
20 Lk 7, 19.
21 Lk 7, 22 f.
22 1 Jo 4, 8. 16
23 Eph 2, 4.
24 Lk 15, 11-32.
25 Lk 10, 30-37.
26 Mt 18, 23-35.
27 Mt 18, 12-14;
Lk 15, 3-7.
28 Lk 15, 8-10.
29 Mt 22, 38.
30 Mt 5, 7.
31 Vgl. Ri 3, 7-9.
32 Vgl 1 Kön 8,
22-53.
33 Vgl. Mich 7, 18
20.
34 Vgl. Jes 1, 18;
51, 4-16.
35 Vgl. Bar 2, 11-3,
8.
36 Vgl. Neh 9.
37 Vgl. z. B. Hos 2,
21-25 und 15; Jes 54, 6-8.
38 Vgl. Jer 31, 20;
Ez 39, 25-29.
39 Vgl. 2 Sam 11;
12; 24, 10.
40 Ijob passirn.
41 Est 4, 17k ff.
42 Vgl. z.B. Neh 9,
30-32; Tob 3, 2 f. 11 f.; 8, 16f.; 1 Makk 4, 24.
43 Vgl. Ex 3, 7f.
44 Vgl. Jes 63, 9.
45 Ex 34, 6.
46 Vgl. Num 14, 18;
2 Chr 30, 9; Neh 9, 17; Ps 86 (85), 15; Weish
15, 1; Sir 2, 11; Joël 2, 13.
47 Vgl. Jes 63, 16.
48 Vgl. Ex 4, 22.
49 Vgl. Hos 2, 3.
50 Vgl. Hos 11, 7-9;
Jer 31, 20; Jes 54, 7f.
51 Ps 103(102) und
145(144).
52 Die Bücher des Alten
Testaments bedienen sich, um den Begriff »Erbarmen« auszudrücken, vor
allem zweier Wörter, die verschiedene semantische Nuancen aufweisen. Da
ist vor allem das Wort hesed, das eine tief verwurzelte Haltung
von Güte bezeichnet. Wenn sich diese zwischen zwei Menschen entwickelt,
sind sie nicht nur einander wohlwollend gesinnt, sondern auch einander
treu, und zwar aufgrund einer inneren Verpflichtung, also auch
aufgrund einer Treue zu sich selbst. Wenn hesed auch »Gnade«
oder »Liebe« bedeutet, dann eben aufgrund dieser Treue. Die
Tatsache, daß die besagte Verpflichtung nicht nur moralischer, sondern
fast rechtlicher Art ist ändert daran nichts. Wenn im Alten Testament
der Ausdruck hesed auf den Herrn bezogen wird, geschieht das
immer im Zusammenhang mit dem Bund, den Gott mit Israel geschlossen hat.
Dieser Bund war von seiten Gottes eine Gabe und ein Gnadenerweis für
Israel. Dennoch bekam hesed - weil sich Gott um des geschlossenen
Bundes willen verpflichtet hatte diesen einzuhalten - in gewissem Sinn
rechtlichen Charakter. Die rechtliche Verpflichtung von seiten Gottes
trat außer Kraft wenn Israel den Bund brach und dessen Bedingungen
mißachtete. Doch gerade dann enthüllte hesed, nun keine
rechtliche Verpflichtung mehr, seinen tiefsten Sinn in seiner
anfänglichen Bedeutung: Liebe, die schenkt; Liebe, die stärker ist als
der Verrat; Gnade, die stärker ist als die Sünde.
Diese Treue zur untreuen »Tochter meines Volkes« (vgl. Klgl 4,
3. 6) ist letzten Endes von seiten Gottes Treue zu sich selbst.
Das ergibt sich klar vor allem aus der häufigen Wiederkehr des
Wortpaares hesed we'emet (= Gnade und Treue), das man als
Hendiadyoin betrachten könnte (vgl. z. B. Ex 34, 6; 2 Sam
2, 6; 15, 20; Ps 25(24), 10; 40(39), 11 f.- 85(84), 11; 138
(137), 2; Mich 7, 20).
»Nicht euretwegen handle ich, Haus Israel sondern um meines heiligen
Namens willen« (Ez 36, 22). Wenngleich also auch Israel,
schuldbeladen durch den Bundesbruch, auf Gottes hesed keinen
rechtlichen Anspruch hat, so darf und muß es doch weiter hin darauf
hoffen und vertrauen, da der Gott des Bundes wahrhaft »seiner Liebe
verantwortlich« ist. Frucht einer solchen Liebe sind die Verzeihung, die
Wiederaufnahme in die Beziehung der Huld und Gnade und die Erneuerung
des inneren Bundes.
Das zweite Wort, das in der Terminologie des Alten Testaments
zur Bezeichnung des Erbarmens dient, ist rahamim. Es hat eine
andere Nuance als hesed. Während letzteres die Treue zu sich
selbst und die »Verantwortung der eigenen Liebe gegenüber« (in gewisser
Hinsicht männliche Charakterzüge) hervorhebt, läßt rahamim schon
von der Wortwurzel her die Mutterliebe anklingen (rehem =
Mutterschoß). Der tiefsten und ursprünglichsten Verbundenheit, ja
Einheit der Mutter mit dem Kind entspringt eine besondere Beziehung zu
ihm, eine besondere Liebe. Diese Liebe kann man als völlig ungeschuldet
bezeichnen, ist sie doch nicht Lohn für ein Verdienst; insofern stellt
sie eine innere Notwendigkeit dar, einen »Zwang« des Herzens. Sie ist
eine gleichsam »weibliche« Variante der männlichen Treue zu sich selbst,
wie sie in hesed anklingt. Auf diesem psychologischen Hintergrund
entfaltet sich rahamim in eine ganze Reihe von Gefühlen, so etwa
Güte und Zärtlichkeit, Geduld und Verständnis, das heißt Bereitschaft
zur Verzeihung.
Das Alte Testament schreibt dem Herrn eben diese Charakterzüge zu,
wenn es auf ihn den Ausdruck rahamim anwendet. So lesen wir bei
Jesaja: »Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen, eine Mutter ihren
eigenen Sohn? Und selbst, wenn sie ihr Kind vergessen würde: Ich
vergesse dich nicht« (Jes 49, 15). Diese Liebe, die dank der
geheimnisvollen Kraft der Mutterschaft treu und unüberwindlich ist, wird
in den alttestamentlichen Texten verschiedenartig ausgedrückt: als
Rettung aus Gefahren, insbesonders von Feinden, als Vergebung der Sünden
- der Einzelnen und des ganzen Volkes Israel - und schließlich als die
Entschlossenheit, die (endzeitliche) Verheißung und Hoffnung trotz aller
menschlichen Untreue zu erfüllen, wie wir bei Hosea lesen: »Ich will
ihre Untreue heilen und sie in Großmut wieder lieben« (Hos 14,
5).
In der Terminologie des Alten Testamentes finden wir noch andere
Ausdrücke, die sich in verschiedener Weise auf den selben Grundinhalt
beziehen. Die beiden vorhin erwähnten verdienen jedoch besondere
Aufmerksamkeit. In ihnen tritt klar der ursprüngliche anthropomorphe
Aspekt hervor: die Verfasser der biblischen Schriften verwenden, um das
göttliche Erbarmen zu beschreiben, Ausdrücke, die dem Bewußtsein und der
Erfahrung ihrer Zeitgenossen entsprechen. Die griechische Terminologie
der Septuaginta-Ubersetzung ist weniger reich als die hebräische und
bietet daher nicht alle semantischen Nuancen, die den Originaltext
kennzeichnen. Auf jeden Fall baut das Neue Testament auf dem Reichtum
und der Tiefe auf, die bereits dem Alten eigen waren.
Auf diese Weise erben wir vom Alten Testament - gleichsam in einer
besonderen Synthese - nicht nur den Reichtum der Ausdrücke dieser Bücher
zur Beschreibung des göttlichen Erbarmens, sondern auch eine
spezifische, selbstverständlich anthropomorphe »Psychologie« Gottes:
das Bild seiner sich sorgenden Liebe, die sich angesichts des Übels
- insbesondere der Sünde des Menschen und des Volkes - als Erbarmen
kundtut. Dieses Bild besteht aus dem eher allgemeinen Inhalt des
Verbums hanan, aber auch aus dem von hesed und von
rahamim. Das Wort hanan drückt etwas Umfassenderes aus: den
Erweis der Gnade, worin gleichsam eine ständige Bereitschaft zu
Hochherzigkeit, Güte und Milde eingeschlossen ist.
Außer diesen grundlegenden semantischen Elementen schließt der
Begriff des Erbarmens im Alten Testament auch den Bedeutungsgehalt des
Wortes hamal ein, das wörtlich »(den besiegten Feind) verschonen«
bedeutet, aber auch »Verzeihen und Mitleid bezeugen«, und infolgedessen
Vergebung und Nachlaß der Schuld. Auch das Wort hus drückt
Verzeihen und Mitleid aus, aber vor allem in gefühlsmäßigem Sinn. Diese
Ausdrücke treten in den biblischen Texten seltener zur Bezeichnung des
Erbarmens auf. Außerdem ist das bereits erwähnte Wort 'emet
hervorzuheben das in erster Linie »Solidität, Sicherheit« bedeutet (im
Griechischen der Septuaginta: »Wahrheit«) und dann »Treue«, so daß es
sich mit dem semantischen Inhalt des Wortes hesed zu verbinden
scheint.
53 Ps 40, 11, 98,
2f.; Jes 45, 21; 51, 5.8; 56, 1.
54 Weish 11, 24.
55 1 Joh 4, 8.16.
56 Jer 31, 3.
57 Jes 54, 10.
58 Jon 4, 2. 11;
Ps 145, 9; Sir 18, 8-14; Weish 11, 23-12, 1.
59 Joh 14, 9.
60 In beiden Fällen handelt
es sich um hesed, also um die Treue Gottes zur eigenen Liebe
gegenüber seinem Volk, um die Treue zu den Verheißungen, die eben in der
Mutterschaft der Gottesmutter ihre endgültige Erfüllung finden werden
(vgl. Lk 1, 49-54).
61 Vgl. Lk 1, 72. -
Auch in diesem Fall handelt es sich um Erbarmen im Sinn von hesed,
während in den folgenden Sätzen, in denen Zacharias von der
»barmherzigen Liebe unseres Gottes« spricht, eindeutig die zweite
Bedeutung, die von rahamim (lateinische Übersetzung: viscera
misericordiae), zum Ausdruck gebracht wird, welche das göttliche
Erbarmen eher mit der mütterlichen Liebe identifiziert.
62 Vgl. Lk 15,
11-32.
63 Lk 15, 18 f.
64 Lk 15, 20.
65 Lk 15, 32.
66 Vgl. Lk 15, 3-6.
67 Vgl. Lk 15, 8 f.
68 1 Kor 13, 4-8.
69 Vgl. Röm 12, 21.
70 ..., »dem ein solcher,
so großer Erlöser beschieden war«. Vgl Liturgie der Osternacht:
»Exsultet«.
71 Apg 10, 38.
72 Mt 9, 35.
73 Vgl. Mk 15, 37;
Joh 19, 30.
74 Jes 53, 5.
75 2 Kor 5, 21.
76 Ebd.
77
Nizänisch-konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis.
78 Joh 3, 16.
79 Vgl. Joh 14, 9.
80 Mt 10, 28.
81 Phil 2, 8.
82 2 Kor 5, 21.
83 Vgl. 1 Kor 15,
54f.
84 Vgl. Lk 4, 18-21.
85 Vgl. Lk 7, 20-23.
86 Vgl. Jes 35, 5;
61, 1-3.
87 1 Kor 15, 4.
88 Offb 21, 1.
89 Offb 21, 4.
90 Vgl. ebd.
91 Offb 3, 20.
92 Vgl. Mt 24, 35
93 Vgl. Offb 3, 20.
94 Mt 25, 40.
95 Mt 5, 7.
96 Joh 14, 9.
97 Röm 8, 32.
98 Mk 12, 27.
99 Joh 20, 19-23
100 Vgl. Ps 89(88),
2
101 Lk 1, 50
102 Vgl. 2 Kor 1, 21
f.
103 Lk 1, 50.
104 Vgl. Ps 85(84),
11.
105 Lk 1, 50.
106 Vgl. Lk 4, 18.
107 Vgl. Lk 7, 22.
108 Dogmatische
Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, 62; AAS 57
(1965), S. 63.
109 Pastoralkonstitution
über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 10; AAS
58 (1966), S. 1032.
110 Ebd.
111 Mt 5, 38.
112 Vgl. Job 14, 9f.
113 Ebd.
114 Vgl. 1 Kor 11,
26; Anrufung im »Missale Romanum«.
115 Joh 3, 16.
116 1 Joh 4, 8.
117 Vgl. 1 Kor 13,
4.
118 2 Kor 1, 3.
119 Röm 8, 16.
120 Mt 5, 7.
121 Vgl. Mt 25,
34-40.
122 Vgl 1 Kor 13, 4.
123 Vgl. Lk 15,
11-32.
124 Vgl. Lk 15,
1-10.
125 Vgl. z. B.
Insegnamenti di Paolo VI, XXIII (1975), S. 1568 (Schlußwort zum
Heiligen Jahr, 25.12.1975).
126 Mt 5, 38.
127 Vgl.
Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et
Spes, 40; AAS 58 (1966), S. 1057-1059; PAUL VI.,
Apostolisches Schreiben Paterna cum benevolentia, bes. Nr. 1 und
6; AAS 67 (1975), S. 7-9, 17-23.
128 Vgl. 1 Joh 2,
16.
129 Mt 6, 12.
130 Eph 4, 2; vgl.
Gal 6, 2.
131 Mt 18, 22.
132 Vgl. Lk 15, 32.
133 Vgl. Jes 12, 3.
134 Mt 10, 8.
135 Vgl. Hebr 5, 7.
136 Vgl. Weish 11,
24; Ps 145(144), 9, Gen 1, 31.
137 Lk 23, 24.
138 Vgl. Kor 4, 1.
139 Mt 5, 7.
140 Vgl.
Jo 14, 9.
© Copyright 1980 - Libreria Editrice Vaticana
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