Kirche Weitental

†  Gott ist die Liebe - Er liebt dich  †

 Gott ist der beste und liebste Vater, immer bereit zu verzeihen, Er sehnt sich nach dir, wende dich an Ihn
nähere dich deinem Vater, der nichts als Liebe ist. Bei Ihm findest du wahren und echten Frieden, der alles Irdische überstrahlt

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Maria Valtorta - Der Gottmensch

Band 10

 

Dieses Werk ist eine Gnade unseres lieben Herrn, man lernt hier Jesus und seine Worte in der richtigen Art und Weise kennen, seine Liebe, seinen Gehorsam, seine klaren und wahren Worte, nicht verdrehte, nicht unverständliche oder hoch theologische, nein, einfache Worte. Er erklärt für jeden verständlich die Gleichnisse. Glaube ist kein Studium, es ist Demut, Hingabe, Geduld, Vertrauen, nicht mein Wille muss an erster Stelle stehen, sondern den Willen Gottes gilt es zu suchen, die Gebote gilt es zu halten und hier erlangt man ein Verständnis hierfür. Zudem stimmen die Worte Jesu mit seinem Leben überein, voller Hingabe an den Willen seines und unseren Vaters. Nimm dir Zeit es aufmerksam zu lesen, du wirst es nicht bereuen.

Das Werk kann man hier in Buchform erwerben:

Parvis-Verlag, Route de l'Eglise 71, 1648 Hauteville, Schweiz, Tel. +41 26 915 93 93, buchhandlung@parvis.ch, www.parvis.ch

Aus rechtlichen Gründen dürfen nur Auszüge daraus veröffentlicht werden!
 



Nur zu Testzwecken!

Inhalt
 

BanBand X:
Vorbereitung auf die Passion

595. Die Juden im Haus des Lazarus. S. 9
596. Die Juden bei Martha und Maria. S. 11
597. Martha lässt den Meister benachrichtigen. S. 17
598. Der Tod des Lazarus. S. 22
599. Die Benachrichtigung Jesu. S. 33
600. Beim Begräbnis des Lazarus. S. 39
601. «Lasst uns zu unserem Freund Lazarus gehen, der schläft». S. 48
602. Die Auferweckung des Lazarus. S. 55
603 Gedanken über die Auferweckung des Lazarus. S. 72
604. In der Stadt Jerusalem und im Tempel nach der Auferstehung des Lazarus. S. 75
605. Jesus in Bethanien. S. 88
606. Auf dem Weg nach Ephraim. S. 101
607. Der erste Tag in Ephraim. S. 110
608. Wenn das Sabbatgebot auch wichtig ist, so ist doch das Gebot der Liebe das wichtigste. S. 115
609. Am anderen Tag. S. 121
610. In der Nacht desselben Tages. S. 133
611. An einem Sabbat in Ephraim. S. 142
612. Die Verwandten der Kinder und die Leute von Sichem. S. 150
613. Die geheime Unterweisung. S. 156
614. Was in der Dekapolis und in Judäa geschieht. S. 161
615. Was in Judäa und besonders in Jerusalem geschieht. S. 166
616. Der Sopherim Samuel, ehemaliger Jünger des Jonathan ben Uziel und dann Jünger Jesu. S. 175
617. Was in Galiläa und besonders in Nazareth geschieht. S. 187
618. Was in Samaria und bei den Römerinnen geschieht. S. 190
619. Jesus und der Mann von Jbnia. S. 196
620. Jesus, Samuel, Judas und Johannes. S. 206
621. Die Ankunft der Mutter und der Jüngerinnen in Ephraim. S. 217
622. Judas von Kerioth ist ein Dieb. S. 238
623. Die Reise durch Samaria vor dem Passahfest; Von Ephraim Nach Silo. S. 261
624. In Silo; Die schlecht Beratenen. S. 267
625. In Libona; Die schlecht Beratenen; Noch einmal über den Wert der Ratschläge. S. 271
626. In Sichem. S. 279
627. Der Wert den der Gerechte den Ratschlägen gibt. S. 282
628. Jesus geht nach Ennon. S. 286
629. In Ennon; Der Jüngling Benjamin. S. 290
630. Jesus wird von den Samaritern abgelehnt. S. 300
631. Die Begegnung mit dem reichen Jüngling. S. 314
632. Dritte Ankündigung des Leidens; Die Mutter der Söhne des Zebedäus. S. 320
633. In Jericho vor dem Besuch in Bethanien. S. 329
634. Jesus spricht zu unbekannten Jüngern. S. 333
635. Die beiden Blinden von Jericho. S. 339
636. Jesus kommt nach Bethanien. S. 346
637. Der Freitag vor dem Einzug in Jerusalem; I. Jesus und Judas von Kerioth. S. 353
638. Der Freitag vor dem Einzug in Jerusalem; II. Jesus und die Jüngerinnen. S. 364
639. Der Sabbat vor dem Einzug in Jerusalem; I. Das Wunder an Methusalem oder Schalem. S. 382
640. Der Sabbat vor dem Einzug in Jerusalem; II. Pilger und Juden in Bethanien. S. 393
641. Der Sabbat vor dem Einzug in Jerusalem; III. Das Gastmahl in Bethanien. S. 398

 

 

595. DIE JUDEN IM HAUS DES LAZARUS

Eine zahlreiche Gruppe Juden zieht auf edlen Pferden mit großem Pomp in Bethanien ein. Es sind Schriftgelehrte und Pharisäer, sowie einige Sadduzäer und Herodianer, die ich schon früher einmal gesehen habe, wenn ich nicht irre beim Festmahl im Haus des Chuza, als sie Jesus versuchen wollten, sich zum König ausrufen zu lassen. Diener folgen der Gruppe zu Fuß.

Die Reiter durchqueren langsam das Städtchen, und die auf dem harten Boden klappernden Hufe, das Klirren der Geschirre und die Stimmen der Männer locken die Bewohner aus ihren Häusern. Sie blicken sichtlich erstaunt auf die Vorbeireitenden, verneigen sich tief zum Gruß und richten sich dann wieder auf, um flüsternde Gruppen zu bilden.

«Habt ihr gesehen?»

«Alle Synedristen von Jerusalem!»

«Nein, Joseph vom Ältestenrat, Nikodemus und andere waren nicht dabei!»

«Und die bekanntesten Pharisäer.»

«Und die Schriftgelehrten.»

«Und wer war jener auf dem Pferd?»

«Gewiß gehen sie zu Lazarus.»

«Er muß im Sterben liegen.»

«Ich kann nicht verstehen, warum der Meister nicht hier ist.»

«Was willst du, die von Jerusalem versuchen ihn doch umzubringen!»

«Du hast recht. Sicher kommen diese Schlangen, die gerade vorbeigeritten sind, nachsehen, ob der Rabbi dort ist.»

«Gott sei gepriesen, daß er nicht da ist!»

«Weißt du, was sie auf dem Markt von Jerusalem meinem Mann gesagt haben? Wir sollten uns bereithalten, da er sich bald zum König ausrufen lassen wird und wir ihm dann alle helfen müssen... Wie haben sie gesagt? Ach! Ein Wort, das soviel bedeutet, als wenn ich sagen würde, daß ich alle aus dem Haus jage und mich selbst zur Herrin mache...»

«Ein Komplott... ? Eine Verschwörung ... ? Ein Aufstand ... ?» fragen und mutmaßen sie.

Ein Mann sagt: «Ja, das haben sie auch mir gesagt. Aber ich glaube nicht daran.»

«Immerhin, es sind Jünger des Rabbi, die das sagen... !»

«Hm... Daß der Rabbi Gewalt anwendet und den Tetrarchen absetzt,

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daß er einen Thron an sich reißt, der, ob rechtens oder nicht, den Herodianern gehört, das glaube ich nicht. Du tätest gut daran, Joachim zu sagen, daß er nicht alles glauben soll, was er hört ...»

«Aber weißt du, daß alle, die ihm helfen, auf Erden und im Himmel belohnt werden? Ich wäre sehr glücklich, wenn mein Mann unter ihnen wäre. Ich habe viele Kinder, und das Leben ist schwer. Wenn er ein Diener des Königs von Israel werden könnte...»

«Höre, Rachel, ich halte es für besser, mich um meinen Garten und meine Datteln zu kümmern. Wenn er selbst es mir sagen würde... oh, dann würde ich alles zurücklassen und ihm folgen. Aber solange es andere sagen...»

«Aber es sind doch seine Jünger.»

«Ich habe sie nie bei ihm gesehen, und außerdem... Nein. Sie spielen sich als Lämmer auf, haben aber Spitzbubengesichter, die mich gar nicht überzeugen.»

«Das ist wahr. Seit einiger Zeit geschehen eigenartige Dinge, und immer heißt es, daß es die Jünger des Rabbi seien, die da handeln. Am Vortag des vergangenen Sabbat mißhandelten einige von diesen eine Frau, die Eier auf den Markt brachte, und sagten zu ihr: "Wir wollen deine Eier im Namen des galiläischen Rabbi!"»

«Und du glaubst, daß er so etwas verlangen könnte? Er, der nur gibt und nicht nimmt? Er, der unter den Reichen leben könnte und es vorzieht, bei den Armen zu sein? Er, der seinen Mantel hergibt, wie es die geheilte Aussätzige allen erzählt hat, der Jakobus begegnet ist?»

Ein anderer Mann, der sich zu der Gruppe gesellt und zugehört hat, sagt: «Du hast recht. Und diese andere Sache, die man auch noch erzählt? Daß der Rabbi großes Unheil über uns bringen wird, weil die Römer uns alle bestrafen werden wegen des Aufruhrs, den er unter den Leuten stiftet? Glaubt ihr daran? Ich sage – und ich irre mich sicher nicht, denn ich bin alt und kenne mich in der Welt aus – ich glaube, daß sowohl die, die uns armen Leuten weismachen wollen, daß der Rabbi mit Gewalt den Thron an sich reißen und dann auch die Römer verjagen will – ach, wenn es nur so wäre... ! wenn es möglich wäre, dies zu tun – als auch die, die in seinem Namen Gewalt anwenden und uns aufwiegeln durch Versprechen künftigen Gewinns, ebenso wie die, die uns dazu bringen wollen, den Meister zu hassen als einen gefährlichen Menschen, der Unglück über uns bringen wird; ich meine, daß sie alle Feinde des Meisters sind, die ihm schaden wollen, um selbst herrschen zu können. Glaubt ihnen nicht! Glaubt nicht den falschen Freunden der armen Leute! Habt ihr gesehen, wie hochmütig sie vorübergeritten sind? Mich hätten sie beinahe verprügelt, weil ich Mühe hatte, die Schafe, die ihnen den Weg versperrten, in das Gehege zu treiben... Und diese sollen unsere Freunde sein? Niemals! Sie saugen uns das Blut aus und – Gott möge es verhüten – auch ihm.»

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«Du wohnst doch bei den Feldern des Lazarus. Weißt du vielleicht, ob er schon gestorben ist?»

«Nein, er ist noch nicht gestorben. Er schwebt zwischen Leben und Tod... Ich habe mich bei Sara erkundigt, die Kräuter für die Waschungen gesammelt hat.»

«Aber weshalb sind sie dann gekommen?»

«Hm... Sie haben sich das Haus von allen Seiten angeschaut, von hinten, von der Seite, sind auch um das Haus des Aussätzigen herumgegangen und dann in Richtung Bethlehem weitergeritten.»

«Ich habe es doch gesagt! Sie wollten sehen, ob der Rabbi da ist; um ihm Böses anzutun. Weißt du, was es für sie bedeutet, ihm etwas Böses antun zu können? Und noch dazu im Haus des Lazarus? Sag, Nathan... Dieser Herodianer, war er nicht früher der Liebhaber von Maria des Theophilus?»

«Er war es. Vielleicht wollte er sich auf diese Weise an Maria rächen...»

Ein Knabe kommt gerannt. Er schreit: «Wie viele Leute im Haus des Lazarus! Ich kam soeben mit Levi, Markus und Isaias vom Bach, und wir haben sie gesehen. Die Diener haben ihnen das Tor geöffnet und die Reittiere abgenommen. Und Maximinus ist den Juden entgegengeeilt, und auch andere sind mit tiefen Verbeugungen herbeigelaufen. Dann sind Martha und Maria mit ihren Dienerinnen zur Begrüßung aus dem Haus gekommen. Wir hätten gern noch mehr gesehen, aber da haben sie das Tor geschlossen, und alle sind ins Haus gegangen...»

Der Junge ist ganz erregt über die Nachricht, die er bringt, über das, was er gesehen hat...

Die Leute machen ihre Bemerkungen.

596. DIE JUDEN BEI MARTHA UND MARIA

Wenngleich durch Schmerz und Anstrengung erschöpft, ist Martha doch immer die Frau, die es versteht, zu empfangen, zu bewirten und Ehre zu erweisen mit jener vollkommenen Vornehmheit einer wahren Dame. So erteilt sie jetzt, nachdem sie die Gesellschaft in einen der Säle geleitet hat, Anweisungen, damit den Gästen die üblichen Erfrischungen angeboten und sie mit allem versorgt werden, was ihnen zur Erquickung dienen kann.

Die Diener gehen umher, schenken warme Getränke oder vortrefflichen Wein ein und bieten herrliche Früchte an, gelbe Datteln wie Topase, getrocknete Weinbeeren von wundervollen, makellosen Trauben, die an unsere Rosinen erinnern, und flüssigen Honig, alles in Amphoren, Kelchen, Tellern und kostbaren Schüsseln. Und Martha wacht aufmerksam

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über alles, damit auch niemand vernachlässigt wird. Vielmehr läßt sie die Diener die Speisen entsprechend dem Alter und vielleicht auch entsprechend den individuellen Wünschen jedes Einzelnen, die ihr wohl bekannt sind, anbieten. So hält sie einen Diener zurück, der sich soeben Elchias mit einem gefüllten Weinkrug und einem Kelch nähert: «Tobias, keinen Wein, sondern Honigwasser und Dattelsaft.» Und zu einem anderen sagt sie: «Johannes zieht gewiß den Wein vor. Biete ihm den weißen von der Spätlese an.» Und ganz persönlich bringt sie dem alten Schriftgelehrten Chananias heiße Milch, die sie reichlich mit goldgelbem Honig süßt, während sie sagt: «Dies wird deinen Husten lindern! Du hast dir an diesem kalten Tag die Mühe gemacht, hierher zu kommen, obwohl du leidend bist. Ich bin gerührt, euch so eifrig zu sehen.»

«Es ist unsere Pflicht, Martha. Eucheria stammte aus unserem Geschlecht. Eine echte Jüdin, die uns allen Ehre machte.»

«Dein Gedenken an meine geliebte Mutter ehrt und rührt mich zutiefst. Ich werde Lazarus diese Worte wiederholen.»

«Aber wir wollen ihn selbst grüßen. Einen so guten Freund!» sagt falsch wie immer Elchias, der hinzugekommen ist.

«Ihn grüßen? Das ist nicht möglich. Er ist zu sehr erschöpft.»

«Oh, wir werden ihn nicht stören. Nicht wahr, ihr alle? Es genügt uns ein Lebewohl von der Schwelle seines Zimmers aus...» sagt Felix.

«Ich kann nicht, ich kann wirklich nicht. Nikomedes hat jede Anstrengung und Aufregung verboten.»

«Ein Blick auf den sterbenden Freund kann ihn nicht töten, Martha», sagt Callascebona. «Zu sehr würde es uns schmerzen, ihn nicht gegrüßt zu haben.»

Martha ist erregt und zögert. Sie schaut zur Tür, ob nicht vielleicht Maria ihr zu Hilfe kommt. Aber Maria ist nicht da.

Die Juden bemerken diese Erregung, und Sadok, der Schriftgelehrte, sagt zu Martha: «Man könnte meinen, daß unser Kommen dich beunruhigt hat, Frau...»

«Nein, nein, gewiß nicht. Aber habt Verständnis für meinen Schmerz. Seit Monaten lebe ich an der Seite eines Sterbenden und... ich kann nicht... Ich kann mich nicht mehr wie früher bei den Festen benehmen...»

«Oh, dies ist kein Fest! Wir wollten nicht einmal, daß du uns mit solchen Ehren empfängst! Aber vielleicht... vielleicht willst du uns etwas verbergen und läßt uns deshalb Lazarus nicht sehen, läßt uns nicht in sein Zimmer. Ja, ja, wer weiß! Aber hab keine Angst! Das Zimmer eines Kranken ist eine heilige Zufluchtsstätte für wen auch immer, glaube mir ...» sagt Elchias.

«Es gibt im Zimmer meines Bruders nichts zu verbergen. Nichts ist dort versteckt. Das Zimmer beherbergt nur einen Sterbenden, dem man aus Mitleid jede quälende Erinnerung ersparen sollte», sagt mit ihrer

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herrlichen, dem Klang einer Orgel gleichenden Stimme Maria, die auf der Schwelle erscheint und den Purpurvorhang mit der Hand beiseite schiebt. «Und du, Elchias, und ihr alle seid quälende Erinnerungen für Lazarus!»

«Maria!» seufzt Martha bittend, um sie zum Schweigen zu bringen.

«Nichts, Schwester. Laß mich reden...» Sie wendet sich den anderen zu: «Und um euch jeden Zweifel zu nehmen, soll einer von euch – so wird es nur eine schmerzvolle Erinnerung an die Vergangenheit, die zurückkehrt, sein – mit mir kommen, wenn der Anblick und der Geruch eines Sterbenden ihn nicht abstößt und der Gestank des verfallenden Fleisches ihm nicht Übelkeit bereitet.»

«Und du... bist du nicht selbst eine schmerzliche Erinnerung?» fragt spöttisch der Herodianer, den ich schon einmal, ich weiß nicht wo, gesehen habe, wobei er aus seiner Ecke kommt und sich vor Maria stellt.

Martha stöhnt. Maria hat den Blick eines erregten Adlers. Ihre Augen blitzen. Sie richtet sich stolz auf, vergißt die Müdigkeit und den Schmerz, die sie gebeugt haben, und sagt mit dem Ausdruck einer gekränkten Königin: «Ja, auch ich bin eine Erinnerung. Aber keine schmerzliche, wie du sagst. Ich bin die Erinnerung an Gottes Barmherzigkeit... Und bei meinem Anblick stirbt Lazarus in Frieden, denn er weiß, daß er seinen Geist in die Hände der unendlichen Barmherzigkeit zurückgibt.»

«Ha, ha, ha! So hast du nicht gesprochen in alten Zeiten! Deine Tugend! Die kannst du nur jemandem vor Augen stellen, der dich nicht kennt ...»

«Aber nicht dir, nicht wahr? Gerade dir stelle ich sie vor Augen, um dir zu zeigen, daß man so wird wie die, mit denen man verkehrt. Früher bin ich zu meinem Unglück mit dir verkehrt und war so wie du. Nun verkehre ich mit dem Heiligen und werde ehrbar ...»

«Trümmer kann man nicht wiederherstellen, Maria.»

«In der Tat, die Vergangenheit: du, ihr alle, ihr könnt sie nicht wiederherstellen. Ihr könnt nicht wiederherstellen, was ihr zerstört habt. Du nicht, den ich verabscheue. Ihr nicht, die ihr in der Zeit des Schmerzes meinen Bruder beleidigt habt und euch jetzt in übler Absicht als seine Freunde ausgebt.»

«Oh, du bist kühn, Frau! Der Rabbi mag dir viele Teufel ausgetrieben haben, aber sanftmütig hat er dich nicht gemacht!» sagt ein etwa Vierzigjähriger.

«Nein, Jonathan ben Annas. Er hat mich nicht schwach gemacht, sondern stärker. Er hat mir die Kühnheit eines ehrbaren Menschen gegeben, der wieder ehrbar werden wollte und alle Bindungen an die Vergangenheit gelöst hat, um sich ein neues Leben aufzubauen. Auf! Wer kommt mit zu Lazarus?» Sie ist gebieterisch wie eine Königin und beherrscht sie alle mit ihrer Offenheit, die auch kein Selbstmitleid kennt. Martha hingegen ist verängstigt. Mit Tränen in den Augen blickt sie flehentlich Maria an, um sie zum Schweigen zu bringen.

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«Ich werde kommen», sagt mit dem Seufzer eines Opfers Elchias, der immer falsch wie eine Schlange ist.

Sie gehen zusammen hinaus. Die anderen wenden sich Martha zu: «Deine Schwester... ! Immer derselbe Charakter. Sie sollte nicht so sein. Für so vieles müßte sie um Verzeihung bitten», sagt Uriel, der Rabbi, den ich in Gischala gesehen habe und der dort Steine auf Jesus geworfen hat.

Marthas Kräfte kehren bei dem Peitschenhieb dieser Worte zurück und sie entgegnet: «Gott hat ihr verziehen, und jede andere Verzeihung hat nach der seinen keine Bedeutung mehr. Ihr jetziges Leben ist ein Beispiel für die Welt...» Doch der Mut verläßt Martha gleich wieder, und sie schluchzt unter Tränen: «Ihr seid grausam! Gegen sie... und gegen mich... Ihr habt kein Mitleid, weder mit unserem vergangenen noch mit unserem gegenwärtigen Schmerz. Warum seid ihr gekommen? Um zu beleidigen und zu verletzen?»

«Nein, Frau. Nein. Einzig und allein, um den großen Juden zu grüßen, der im Sterben liegt. Aus keinem anderen Grund. Keinem anderen. Du darfst unsere guten Absichten nicht mißverstehen. Wir haben durch Joseph und Nikodemus von der Verschlechterung seines Zustandes erfahren und sind gekommen... wie sie, die beiden guten Freunde des Rabbi und des Lazarus. Warum wollt ihr uns anders behandeln, uns, die wir wie sie den Rabbi und Lazarus lieben? Ihr seid ungerecht. Willst du etwa behaupten, daß sie, und auch Johannes, Eleazar, Philippus, Josua und Joachim nicht gekommen sind, um sich nach Lazarus zu erkundigen, und daß auch Manaen nicht gekommen ist... ?»

«Ich behaupte gar nichts. Ich staune nur, daß ihr alles so genau wißt. Ich dachte nicht, daß ihr auch das Innere der Häuser überwacht. Ich wußte nicht, daß es außer den sechshundertdreizehn Vorschriften noch eine neue gibt, die besagt, die privaten Angelegenheiten der Familien auszuforschen und auszuspionieren... Oh, verzeiht! Ich beleidige euch. Der Schmerz beraubt mich der Sinne, und ihr vergrößert ihn noch.»

«Oh, wir verstehen dich, Frau! Und da wir angenommen haben, daß ihr wie von Sinnen seid, sind wir gekommen, um euch einen guten Rat zu geben. Laßt den Meister holen. Auch gestern sind wieder sieben Aussätzige gekommen, um den Herrn zu preisen, da der Rabbi sie geheilt hat. Ruft ihn doch auch für Lazarus!»

«Mein Bruder ist nicht aussätzig», schreit Martha außer sich. «Deshalb wolltet ihr ihn sehen? Dazu seid ihr gekommen? Nein, er ist nicht aussätzig! Seht meine Hände an. Seit Jahren pflege ich ihn und habe keinen Aussatz an mir. Meine Haut ist gerötet von den Essenzen, aber ich habe keinen Aussatz. Ich habe nicht ...»

«Friede! Beruhige dich, Frau. Wer behauptet denn, daß Lazarus aussätzig ist? Und wer verdächtigt euch einer so schrecklichen Sünde wie der, einen Aussätzigen zu verbergen? Glaubst du denn, daß wir euch

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ungeachtet eurer Macht nicht bestraft hätten, wenn ihr gesündigt hättet? Wir achten weder des Vaters noch der Mutter, weder der Gattin noch der Kinder, wenn es gilt, den Vorschriften Gehorsam zu verschaffen. Das versichere ich dir. Ich, Jonathan des Uziel.»

«Aber gewiß! So ist es! Und jetzt sagen wir dir, weil wir es gut mit dir meinen und weil wir deine Mutter geliebt haben und Lazarus lieben: Laßt den Meister rufen. Du schüttelst den Kopf? Willst du damit sagen, daß es schon zu spät ist? Wie? Hast du kein Vertrauen zu ihm, du, Martha, die treue Jüngerin? Das ist schlimm! Beginnst auch du schon an ihm zu zweifeln?» sagt Archelaos.

«Du lästerst, Schriftgelehrter! Ich glaube an den Meister als an den wahren Gott!»

«Warum willst du es dann nicht versuchen? Er hat Tote auferweckt... Man sagt wenigstens so... Vielleicht weißt du nicht, wo er ist? Wenn du willst, suchen wir ihn für dich, helfen wir dir...» schlägt Felix vor.

«Aber nein! Im Haus des Lazarus weiß man gewiß, wo der Rabbi ist. Sage es offen, Frau, und wir brechen sofort auf, suchen ihn und bringen ihn zu dir. Und dann werden wir alle Zeugen des Wunders sein und uns mit dir, mit euch allen freuen», sagt der Versucher Sadok.

Martha ist unsicher geworden und erliegt beinahe der Versuchung nachzugeben. Die anderen drängen, während sie sagt: «Wo er ist, weiß ich nicht... wirklich nicht... Er ist vor einigen Tagen aufgebrochen und hat sich verabschiedet wie einer, der für lange Zeit fortgeht. Es wäre mir ein großer Trost, wenn ich wüßte, wo er ist... Wenn ich es wenigstens wüßte... Aber ich weiß es wirklich nicht...»

«Arme Frau! Aber wir werden dir helfen ... Wir werden ihn zu dir bringen», sagt Cornelius.

«Nein, das ist nicht nötig! Der Meister ... Ihr sprecht doch von ihm, nicht wahr? Der Meister hat gesagt, wir sollen hoffen wider alle Hoffnung, und auf Gott allein. Und wir tun es ...» ruft Maria aus, die gerade mit Elchias zurückkehrt. Dieser läßt sie sofort stehen und unterhält sich gebeugt mit drei Pharisäern.

«Aber er stirbt doch, wie ich höre!» sagt einer von ihnen, nämlich Doras.

«Und? Soll er sterben! Ich werde mich dem Beschluß Gottes nicht widersetzen und dem Rabbi gehorsam sein.»

«Worauf willst du nach dem Tod noch hoffen? Du bist völlig von Sinnen!» spottet der Herodianer.

«Worauf? Auf das Leben!» Die Stimme ist ein Schrei bedingungslosen Glaubens.

«Auf das Leben? Ha, ha! Sei ehrlich. Du weißt, daß vor einem echten Toten seine Macht nichtig ist, und in deiner törichten Liebe zu ihm willst du das verbergen.»

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«Hinaus mit euch allen! Es wäre Marthas Aufgabe, euch hinauszuwerfen, aber sie fürchtet euch. Ich fürchte nur, Gott zu beleidigen, der mir verziehen hat. Daher tue ich es an Marthas Stelle. Geht alle! Es ist kein Platz in diesem Haus für solche, die Jesus Christus hassen. Hinaus! Kehrt in eure finsteren Höhlen zurück! Alle hinaus! Oder ich lasse euch durch die Diener hinauswerfen wie einen Haufen schmutziger Landstreicher.»

Sie ist großartig in ihrem Zorn. Die Juden machen sich aus dem Staub, und ihre ganze Feigheit zeigt sich hier, vor dieser Frau. Dieser Frau, die aber auch wirklich einem zürnenden Erzengel gleicht...

Der Saal leert sich, und der Blick Marias ist für jeden der an ihr Vorübergehenden ein caudinisches Joch 1), unter das sich der Hochmut der besiegten Juden beugen muß, während einer nach dem anderen die Schwelle überschreitet. Endlich ist der Saal leer.

Martha sinkt auf den Teppich und bricht in Tränen aus.

«Warum weinst du, Schwester? Ich sehe keinen Grund dazu...»

«Oh, du hast sie beleidigt... und sie haben dich... sie haben uns beleidigt... und jetzt werden sie sich rächen... und...»

«So schweig doch, du dummes Frauenzimmer! An wem sollen sie sich denn rächen? An Lazarus? Erst müssen sie sich beraten, und bevor sie etwas beschlossen haben... Oh! An einem Gulal rächt man sich nicht! Und an uns? ... Haben wir denn ihr Brot zum Leben nötig? Unseren Besitz werden sie nicht anrühren. Rom hält seine Hand schützend darüber. Wie also? Und wenn sie es auch tun könnten, sind wir beide denn nicht jung und kräftig? Können wir nicht arbeiten? Ist Jesus vielleicht nicht arm? Ist unser Jesus denn nicht selbst ein Arbeiter gewesen? Würden wir ihm nicht ähnlicher sein, wenn wir arm wären und arbeiten würden? Freue dich doch, arm zu werden! Hoffe darauf! Bitte Gott darum!»

«Aber was sie zu dir gesagt haben ...»

«Ha, ha! Was sie zu mir gesagt haben, ist die reine Wahrheit. Ich selbst sage sie. Ich bin eine Unreine gewesen. Doch nun bin ich das Lamm des Hirten! Und die Vergangenheit ist tot. Auf, gehen wir zu Lazarus.»

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1) 321 vor Christus besiegten die Samniten die Römer bei der Stadt Caudium. Die Truppen Roms wurden durch das Joch, ein aus drei Lanzen gebildetes niedriges Tor, geschickt. Das bedeutete eine Entehrung.

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597. MARTHA LÄSST DEN MEISTER BENACHRICHTIGEN

Ich befinde mich noch im Haus des Lazarus und sehe, daß Martha und Maria einen schon etwas älteren Mann sehr würdevollen Aussehens in den Garten begleiten, der, ich würde sagen, kein Hebräer ist, da sein Gesicht glattrasiert ist wie bei den Römern.

In einiger Entfernung vom Haus fragt ihn Maria: «Nun, Nikomedes? Was sagst du zu unserem Bruder? Wir halten ihn für sehr... krank... Sprich.»

Der Mann breitet in einer Geste des Bedauerns die Arme aus, gleichsam als Bestätigung der Hoffnungslosigkeit des Falles, bleibt stehen und sagt: «Er ist schwer krank. Ich habe euch nie darüber im unklaren gelassen, seit ich ihn in Behandlung genommen habe. Ich habe alles versucht, ihr wißt es, aber es hat nichts genützt. Ich habe gehofft... ja, ich habe gehofft, daß er wenigstens am Leben bleiben und der Entkräftung durch die Krankheit widerstehen würde durch die gute Ernährung und die Herzmittel, die ich zubereitet habe. Ich habe es auch mit Giften versucht, die das Blut vor der Zersetzung bewahren und seine Kräfte erhalten sollten, entsprechend der alten Schule der großen Meister der Medizin. Aber das Übel ist stärker als die zu seiner Heilung zur Verfügung stehenden Mittel. Diese Krankheiten sind eine Art Zersetzung. Und wenn sie äußerlich sichtbar werden, ist das Knochenmark schon zerstört. Wie der Saft in einem Baum von der Wurzel bis zum Gipfel steigt, so hat sich hier die Krankheit von den Füßen aus in den ganzen Körper ausgebreitet.»

«Aber es sind doch nur seine Füße krank...» jammert Martha.

«Ja, aber das Fieber zerstört dort, wo ihr glaubt, daß alles gesund sei. Seht dieses vom Baum gefallene Zweiglein. Es scheint nur an der Bruchstelle wurmstichig zu sein. Aber seht... (Er zerbröselt es zwischen den Fingern.) Seht ihr? Unter der noch glatten Rinde ist die Fäulnis bis nach oben gedrungen, wo das Ästchen noch gesund zu sein scheint, weil Blätter daran sind. Lazarus... liegt nun im Sterben, bedauernswerte Schwestern! Der Gott eurer Väter und die Halbgötter unserer Medizin konnten oder wollten nichts tun. Ich spreche von eurem Gott... Und daher... Ja, ich sehe, daß der Tod sich nähert, da auch das Fieber steigt, ein Symptom des Verfalls, der das Blut ergriffen hat; ich sehe es an den unregelmäßigen Herzschlägen und dem Fehlen jeglicher Reaktion des Kranken und seiner Organe auf irgendwelche Reize. Ihr seht... Er kann nicht mehr essen. Er kann nicht mehr das Wenige behalten, das er zu sich nimmt, und was in seinem Magen bleibt, wird nicht verdaut. Es geht dem Ende zu... Und – glaubt einem Arzt, der euch zu Dank verpflichtet ist im Gedenken an euren Vater – das Wünschenswerteste wäre nunmehr der Tod... Es handelt sich um eine schreckliche Krankheit. Seit Tausenden von Jahren zerstört sie den Menschen, und der Mensch ist nicht imstande, mit ihr

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fertigzuwerden. Nur die Götter könnten helfen, wenn ...» Er hält inne, sieht die Schwestern an und reibt sich mit den Fingern das rasierte Kinn. Er denkt nach. Dann sagt er: «Warum ruft ihr nicht den Galiläer? Er ist euer Freund. Er kann... denn er vermag alles. Ich habe Leute untersucht, die unheilbar waren und nun gesund sind. Eine eigenartige Kraft geht von ihm aus. Ein geheimnisvolles Fluidum, das belebt, die ungeordneten Abläufe im Körper ordnet und sie zwingt, gesunden zu wollen... Ich verstehe es nicht, aber ich weiß es... denn ich bin ihm gefolgt, habe mich unter das Volk gemischt und wunderbare Dinge gesehen... Ruft ihn. Ich bin ein Heide. Aber ich verehre den geheimnisvollen Wundertäter eures Volkes. Und ich wäre glücklich, wenn er zustande brächte, wozu ich nicht fähig gewesen bin.»

«Er ist Gott, Nikomedes. Daher kann er es. Die Kraft, die du Fluidum nennst, ist sein göttlicher Wille», sagt Maria.

«Ich lache nicht über euren Glauben. Vielmehr will ich euch ermutigen, ihn ins Unendliche anwachsen zu lassen. Übrigens... liest man, daß die Götter schon andere Male zur Erde herabgestiegen sind. Ich... wollte das nie glauben. Aber nach bestem Wissen und Gewissen als Mensch und Arzt muß ich sagen, daß es so ist, denn der Galiläer wirkt Heilungen, die nur ein Gott wirken kann.»

«Nicht ein Gott, Nikomedes. Der wahre Gott», berichtigt Maria.

«Gut, wie du willst. Ich will an ihn glauben und sein Jünger werden, wenn ich sehe, daß Lazarus aufersteht... Denn nun muß man mehr von Auferstehung als von Heilung sprechen. Ruft ihn also, und schnellstens... denn wenn ich mich nicht täusche, wird Lazarus spätestens am dritten Tag nach dem heutigen sterben. Ich habe gesagt "spätestens"... Es könnte aber auch früher geschehen, jetzt.»

«Oh, könnten wir doch! Aber wir wissen nicht, wo er ist...» sagt Martha.

«Ich weiß es. Einer seiner Jünger hat es mir gesagt. Er war auf dem Weg zu ihm, zusammen mit einigen Kranken, von denen zwei zu meinen Patienten gehören. Er ist am anderen Ufer des Jordan, bei der Furt. So hat er gesagt. Ihr kennt den Ort vielleicht besser.»

«Ah, er ist sicher im Haus des Salomon!» sagt Maria.

«Ist es sehr weit?»

«Nein, Nikomedes.»

«Dann schickt sofort einen Diener zu ihm und laßt ihm ausrichten, daß er kommen soll. Ich werde später wiederkommen und hierbleiben, um sein Wunder an Lazarus mitzuerleben. Salve, domine. Und vergeßt nicht, euch gegenseitig Mut zu machen.» Er verneigt sich vor ihnen und geht auf den Ausgang zu, wo ihn ein Diener mit seinem Pferd erwartet und ihm das Tor aufhält.

«Was sollen wir tun, Maria?» fragt Martha, nachdem sie den Arzt hat fortreiten sehen.

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«Wir gehorchen dem Meister. Er hat befohlen, ihn nach dem Tod des Lazarus rufen zu lassen. Und das werden wir tun...»

«Aber wenn er tot ist... was nützt dann der Meister noch hier? Für unser Herz wird es ein Trost sein, das schon. Aber für Lazarus ... ? Ich schicke einen Diener und lasse ihn rufen.»

«Nein, du würdest das Wunder vereiteln. Er hat gesagt, wir sollen hoffen und glauben, auch wenn die Situation hoffnungslos erscheint. Und wenn wir dies tun, werden wir das Wunder erleben, dessen bin ich sicher. Wenn wir aber nicht glauben können, dann wird Gott uns unserer Anmaßung, es besser machen zu wollen als er, überlassen und uns nichts gewähren.»

«Aber siehst du denn nicht, wie sehr Lazarus leidet? Hörst du denn nicht, wie er in den Augenblicken, in denen er bei Bewußtsein ist, nach dem Meister verlangt? Hast du denn kein Herz, daß du unserem armen Bruder eine letzte Freude versagen willst? Unser armer Bruder! Bald werden wir keinen Bruder mehr haben! Keinen Vater, keine Mutter und keinen Bruder mehr! Das Haus zerstört, und wir beide allein, wie zwei Palmen in der Wüste.» Martha wird vom Schmerz übermannt und gerät in eine, ich würde sagen, typisch orientalische Nervenkrise: sie wirft sich hin und her, schlägt sich ins Gesicht und rauft sich die Haare.

Maria packt sie und befiehlt ihr: «Schweig! Schweig, sage ich dir! Er kann es hören. Ich liebe ihn mehr als du und kann mich beherrschen. Du gleichst einer kranken Frau. Schweig, sage ich dir! Mit solchen Ausbrüchen ändert man das Schicksal nicht und rührt nicht einmal die Herzen. Und wenn du es tust, um meines umzustimmen, so hast du dich geirrt. Mir bricht das Herz im Gehorsam, aber ich harre in ihm aus.»

Martha ergibt sich der Kraft der Schwester und ihren Worten. Sie beruhigt sich einigermaßen und ruft aber in ihrem Schmerz nun jammernd nach der Mutter: «Mutter, o meine Mutter, tröste du mich! Kein Friede ist mehr in mir, seit du tot bist. Wenn du doch hier wärest, Mutter! Wenn die Schmerzen dich nicht getötet hätten! Wenn du hier wärest, dann würdest du uns sagen, was wir tun sollen, und wir würden dir gehorchen zum Wohl aller... Oh... !»

Maria wechselt die Gesichtsfarbe, weint lautlos mit angstvollem Gesicht und ringt schweigend die Hände.

Martha betrachtet sie und sagt: «Als unsere Mutter im Sterben lag, mußte ich ihr versprechen, daß ich zeitlebens für Lazarus eine Mutter sein würde. Wenn sie hier wäre...»

«Dann würde sie dem Meister gehorchen, denn sie war eine gerechte Frau. Umsonst bemühst du dich, mich umzustimmen. Sage mir nur, daß ich die Mörderin meiner Mutter gewesen bin durch das Leid, das ich ihr zugefügt habe. Ich werde dir sagen: "Du hast recht." Aber wenn du mich dazu bringen willst zu sagen, daß du recht tust, den Meister zu rufen, so

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sage ich dir: "Nein." Und ich werde immer "Nein" sagen. Ich bin sicher, daß die Mutter mir vom Schoß Abrahams aus recht gibt und mich segnet. Gehen wir ins Haus.»

«Ich sage nichts mehr! Ich sage nichts mehr!»

«Alles, alles sollst du sagen! Du hörst dem Meister zu und scheinst aufmerksam zu sein, während er spricht, aber dann erinnerst du dich nicht mehr an seine Worte. Hat er denn nicht immer gesagt, daß Lieben und Gehorchen uns zu Kindern Gottes und Erben seines Reiches macht? Wie kannst du dann sagen, daß uns nichts mehr bleibt, wenn wir Gott und sein Reich für unsere Treue besitzen werden? Oh! Wahrlich, man muß wie ich schrankenlos gewesen sein im Bösen, um es auch im Guten, im Gehorsam, in der Hoffnung, im Glauben und in der Liebe zu sein, es sein zu können und sein zu wollen... !»

«Du läßt es zu, daß die Juden den Meister verspotten und anklagen. Hast du sie vorgestern nicht gehört?»

«Denkst du immer noch an das Gekrächze dieser Raben, an das Kreischen dieser Geier? Laß sie doch ausspucken, was in ihnen ist! Was kümmert dich die Welt? Was ist die Welt im Vergleich zu Gott? Schau: weniger als diese lästige Fliege, die erstarrt oder vergiftet ist, weil sie Schmutz gefressen hat, und die ich jetzt zertrete.» Und sie tritt energisch mit dem Absatz auf eine Bremse, die langsam über den Kies des Weges kriecht. Dann nimmt sie Martha beim Arm und sagt: «Auf. Komm ins Haus und...»

«Lassen wir es den Meister doch wenigstens wissen. Schicken wir jemanden zu ihm, der ihm sagt, daß Lazarus im Sterben liegt, mehr nicht...»

«Als ob er es nötig hätte, das von uns zu erfahren. Nein, habe ich gesagt. Es ist nutzlos. Er hat gesagt: "Wenn er tot ist, dann laßt es mich wissen." Das werden wir tun. Vorher nicht.»

«Niemand, aber auch gar niemand hat Mitleid mit meinem Schmerz! Du am allerwenigsten...»

«Höre auf, so zu weinen. Ich kann es nicht ertragen...» In ihrem Schmerz beißt sie sich in die Lippen, um der Schwester Mut zu machen und nicht selbst zu weinen.

Marcella kommt aus dem Haus gerannt, gefolgt von Maximinus. «Martha, Maria, lauft! Schnell! Lazarus geht es schlecht. Er antwortet nicht mehr...»

Die beiden Schwestern eilen ins Haus... und bald darauf hört man die laute Stimme Marias Anweisungen für die nötigen Hilfeleistungen geben. Diener laufen mit Herzmitteln und dampfenden Kesseln mit kochendem Wasser vorbei, man hört sie flüstern und sieht ihre Gesten des Schmerzes...

Langsam kehrt nach so viel Aufregung die Ruhe wieder. Man sieht die Diener miteinander reden, nicht mehr so erregt, aber sichtlich ratlos und betrübt, wie ihren Gesprächen zu entnehmen ist. Die einen schütteln den

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Kopf. Andere heben den Blick zum Himmel und breiten die Arme aus, als wollten sie sagen: «So ist es nun einmal.» Andere weinen, und wieder andere hoffen immer noch auf ein Wunder.

Nun kommt Martha wieder, leichenblaß. Sie schaut hinter sich, um zu sehen, ob ihr jemand folgt. Sie blickt auf die Diener, die sie ängstlich umringen. Noch einmal dreht sie sich um, ob jemand aus dem Haus kommt und ihr folgt. Dann sagt sie zu einem der Diener: «Du, komm mit mir!»

Der Diener löst sich aus der Gruppe und folgt ihr in die Jasminlaube. Martha spricht, den Blick immer auf das Haus gerichtet, das man durch das dichte Geflecht der Zweige sehen kann. «Höre gut zu. Wenn alle Diener wieder hineingegangen sind und ich ihnen Anweisungen gegeben habe, damit sie im Haus beschäftigt sind, dann begib dich in den Stall, nimm eines der schnellsten Pferde und sattle es... Sollte dich jemand dabei beobachten, dann sage, daß du den Arzt holen mußt... Du lügst nicht, und ich lehre dich nicht zu lügen, denn ich schicke dich wahrlich zu dem gesegneten Arzt... Nimm Futter für das Tier und Nahrung für dich selbst mit. Hier hast du auch eine Börse für alles, was du vielleicht brauchst. Geh zum kleinen Tor hinaus und reite über die gepflügten Felder, damit man das Klappern der Hufe nicht hört. Dann schlage den Weg nach Jericho ein und reite im Galopp, ohne je anzuhalten, nicht einmal in der Nacht! Hast du verstanden? Ohne auch nur einen einzigen Halt! Der neue Mond wird dir den Weg erhellen, falls du noch nicht am Ziel bist, wenn es Nacht wird. Bedenke, daß das Leben deines Herrn in deinen Händen liegt und von deiner Schnelligkeit abhängt. Ich verlasse mich auf dich.»

«Herrin, ich will dir dienen wie ein treuer Sklave.»

«Geh zur Furt von Bethabara. Überquere sie und reite zum Dorf hinter Bethanien jenseits des Jordan. Weißt du, welches ich meine? Dort, wo Johannes anfangs getauft hat.»

«Ich weiß. Auch ich bin damals hingegangen, um mich zu reinigen.»

«In diesem Dorf ist der Meister. Alle werden dir das Haus zeigen können, in dem er sich aufhält. Aber wenn du statt der Hauptstraße dem Fluß folgst, ist es besser. Du wirst so weniger gesehen und kannst das Haus allein finden. Es ist das erste an der einzigen Straße des Ortes, die von den Feldern zum Fluß führt. Du kannst es nicht verfehlen. Ein niedriges Haus ohne Terrasse oder oberes Zimmer, mit einem Garten, der vom Fluß aus gesehen vor dem Haus liegt. Es ist ein Garten mit einem Gartentor aus Holz und einer Weißdornhecke, glaube ich... auf jeden Fall mit einer Hecke. Hast du verstanden? Dann wiederhole.»

Der Diener wiederholt alles geduldig.

«So ist es recht. Du bittest, mit ihm sprechen zu dürfen, mit ihm allein, und sagst ihm, daß deine Herrinnen dich schicken, daß Lazarus sehr krank ist und im Sterben liegt, daß wir es nicht länger ertragen und daß

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Lazarus nach ihm verlangt. Er möge sofort kommen, sofort, um Gotteswillen! Hast du verstanden?»

«Ich habe verstanden, Herrin.»

«Danach kehrst du sogleich zurück, damit hier niemand deine Abwesenheit bemerkt. Nimm eine Fackel mit für die dunklen Stunden. Geh, lauf, galoppiere, gib dem Pferd die Sporen, aber komm bald mit der Antwort des Meisters zurück!»

«Ich werde es tun, Herrin.»

«Geh, geh! Siehst du? Sie sind schon alle im Haus. Geh sofort. Niemand wird dich bei den Vorbereitungen sehen. Ich selbst werde dir etwas zu essen bringen. Geh! Ich werde es auf die Schwelle des kleinen Tores legen. Geh! Und Gott sei mit dir... Geh!»

Sie drängt ihn voller Unruhe und läuft dann eiligst, aber sehr vorsichtig ins Haus. Bald darauf verläßt sie es durch eine Hintertür an der Südseite mit einer kleinen Tasche in der Hand, geht an einer Hecke entlang bis zur ersten Öffnung, biegt dort ab und verschwindet...

598. DER TOD DES LAZARUS

Alle Türen und Fenster im Zimmer des Lazarus stehen weit offen, um ihm das Atmen zu erleichtern. Um ihn herum, der im Koma liegt – einem tiefen Koma, das sich vom Tod nur durch die schwache Atembewegung unterscheidet – stehen die beiden Schwestern, Maximinus, Marcella und Noemi, und achten auf jede geringste Bewegung des Sterbenden.

Jedesmal, wenn ein Krampf den Mund verzieht und es aussieht, als ob er sprechen wolle, oder wenn die Lider sich einen Spalt öffnen, neigen sich die beiden Schwestern über ihn, um ein Wort oder einen Blick zu erhaschen... Doch es ist vergebliche Mühe. Es sind nur unkontrollierte Bewegungen, unabhängig von Willen und Verstand, die beide nun erstorben sind; Bewegungen, die von den Schmerzen des Fleisches herrühren, ebenso wie der auf dem Antlitz des Sterbenden glänzende Schweiß und das Zittern, das von Zeit zu Zeit die abgemagerten Finger befällt und sie zu Krallen verkrampft. Die beiden Schwestern rufen ihn immer wieder beim Namen und legen ihre ganze Liebe in ihre Stimme. Aber der Name und die Liebe prallen ab an seinem Unvermögen, etwas wahrzunehmen, und Grabesstille ist die einzige Antwort auf ihr Rufen.

Noemi fährt unter Tränen fort, an die sicherlich eiskalten Füße in Wollstreifen gewickelte angewärmte Ziegelsteine zu legen. Marcella hält einen Becher in der Hand, dem sie ein feines Leinenstückchen entnimmt, das Martha benützt, um die trockenen Lippen des Bruders anzufeuchten. Maria trocknet mit einem anderen Linnen den starken Schweiß, der in

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Strömen über das abgemagerte Antlitz und die Hände des Sterbenden rinnt. Maximinus hat sich neben dem Bett an einen hohen, dunklen Schrank gelehnt und betrachtet, hinter dem Rücken der über den Bruder gebeugten Maria stehend, den Sterbenden.

Sonst ist niemand anwesend. Tiefstes Schweigen herrscht, wie in einem leeren Haus oder an einem verlassenen Ort. Die Dienerinnen, die die heißen Ziegelsteine bringen, gehen barfuß und erzeugen auf dem Marmorboden keinerlei Geräusch. Sie gleichen Spukgestalten.

Plötzlich sagt Maria: «Mir scheint, die Hände werden wieder warm. Schau, Martha, seine Lippen sind nicht mehr so blutleer.»

«Ja, auch der Atem geht freier. Ich beobachte ihn schon eine Weile», bemerkt Maximinus.

Martha neigt sich über den Bruder und ruft leise, aber mit Nachdruck: «Lazarus! Lazarus! Oh! Schau, Maria, er hat ein wenig gelächelt und die Lider bewegt. Es geht ihm besser, Maria! Es geht ihm besser! Wie spät ist es?»

«Die Vesper ist schon vorbei.»

«Ah!» Martha richtet sich auf, faltet die Hände über der Brust und hebt den Blick zum Himmel, eine Geste stillen, aber vertrauensvollen Gebetes. Ein Lächeln erhellt ihr Gesicht.

Die anderen schauen sie erstaunt an, und Maria sagt zu ihr: «Ich verstehe nicht, warum du so glücklich bist, daß die Vesper schon vorbei ist.»Dabei forscht sie argwöhnisch und ängstlich im Gesicht der Schwester.

Doch Martha antwortet nicht und nimmt wieder die vorige Stellung ein.

Eine Dienerin tritt ein mit Ziegelsteinen, die sie Noemi übergibt. Maria befiehlt ihr: «Bring zwei Lampen! Es wird dunkel, und ich will ihn sehen.» Die Dienerin geht leise hinaus und kehrt kurz darauf mit zwei brennenden Lampen zurück. Eine von ihnen stellt sie auf den Schrank, an den sich Maximinus gelehnt hat, und die andere auf ein Tischchen voller Binden und kleinen Krügen auf der anderen Seite des Bettes.

«Oh, Maria! Maria! Schau, er ist tatsächlich nicht mehr so bleich.»

«Er sieht auch nicht mehr so erschöpft aus. Er kommt wieder zu sich!»sagt Marcella.

«Gebt ihm noch ein paar Tropfen von dem Gewürzwein, den Sara zubereitet hat. Er hat ihm gutgetan», schlägt Maximinus vor.

Maria nimmt von dem Schrank einen kleinen Schnabelkrug mit sehr schlankem Hals und träufelt vorsichtig einige Tropfen Wein zwischen die halbgeöffneten Lippen.

«Langsam, Maria, damit er nicht erstickt!» rät Noemi.

«Oh, er schluckt! Er verlangt danach! Schau, Martha! Schau! Er sucht mit der Zunge danach...»

Alle beugen sich über ihn, um besser sehen zu können, und Noemi ruft

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ihm zu: «Mein Kleinod! Sieh deine Amme an, heilige Seele!» und sie tritt näher, um ihn zu küssen.

«Schau! Schau, Noemi, er trinkt deine Tränen. Sie sind auf seine Lippen gefallen, und er hat sie gespürt und geschluckt.»

«Oh, du meine Freude! Hätte ich doch Milch wie einst! Ich würde sie dir Tropfen für Tropfen in den Mund träufeln, mein Lämmlein, und wenn ich mein Herz ausquetschen und dann sterben müßte.» Ich nehme an, daß Noemi, die Amme Marias, auch die Nährmutter des Lazarus gewesen ist.

«Herrinnen, Nikomedes ist zurückgekehrt», sagt ein auf der Schwelle erscheinender Diener.

«Er soll hereinkommen! Er soll hereinkommen! Er wird uns helfen, ihm Linderung zu verschaffen.»

«Schaut! Schaut! Er öffnet die Augen und bewegt die Lippen», sagt Maximinus.

«Er drückt meine Hand mit der seinen!» schreit Maria und beugt sich nieder und sagt: «Lazarus, hörst du mich? Wer bin ich?»

Lazarus öffnet tatsächlich die Augen und schaut. Es ist ein unsicherer, verschleierter Blick, aber immerhin ein Blick. Er bewegt auch mühsam die Lippen und sagt: «Mama!»

«Ich bin Maria. Maria, deine Schwester!»

«Mama!»

«Er erkennt dich nicht. Er ruft seine Mutter. Die Sterbenden tun es immer», sagt Noemi mit tränenüberströmtem Antlitz.

«Aber er spricht! Nach so langer Zeit spricht er endlich. Das ist schon viel... Bald wird es ihm besser gehen. Oh, mein Herr, belohne deine Dienerin!» sagt Martha, wiederum in der Haltung innigen und vertrauensvollen Gebetes.

«Aber was hast du denn? Hast du etwa den Meister gesehen? Ist er dir erschienen? Antworte mir, Martha! Nimm mir die Angst!» sagt Maria.

Das Eintreten des Nikomedes verhindert die Antwort. Alle wenden sich ihm zu und erzählen ihm, wie sich der Zustand des Lazarus nach seinem Weggang immer mehr verschlechterte bis zu dem Punkt, da sie ihn schon tot glaubten, und wie sie ihn dann mit allen möglichen Mitteln wenigstens wieder zum Atmen brachten. Und wie er seit kurzem, nachdem eine der Frauen einen Gewürzwein zubereitet hatte, wieder warm geworden sei und geschluckt und zu trinken versucht habe, wie er sogar die Augen geöffnet und gesprochen habe...

Alle reden sie gleichzeitig in ihrer wieder auflebenden Hoffnung auf den Arzt ein, der sie mit skeptischer Ruhe und ohne ein Wort zu sagen reden läßt.

Endlich sind sie fertig, so daß er zu Wort kommt: «Nun gut. Laßt mich einmal sehen.» Und er geht um sie herum zu dem Lager, wobei er anordnet, daß die Lampen nähergebracht und die Fenster geschlossen werden,

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da er den Kranken aufdecken will. Er neigt sich über ihn, ruft ihn, stellt ihm Fragen und bewegt die Lampe hin und her vor dem Gesicht des Lazarus, der nun mit offenen Augen daliegt und anscheinend erstaunt um sich blickt; dann nimmt er die Decke weg, prüft den Atem, den Puls, die Temperatur und die Steifheit seiner Glieder... Alle warten sehnsüchtig auf ein Wort von ihm. Nikomedes deckt den Kranken wieder zu, sieht ihn nochmals an und denkt nach. Dann wendet er sich um, schaut die Anwesenden an und sagt: «Man kann nicht leugnen, daß er wieder etwas zu Kräften gekommen ist. Momentan geht es ihm besser als bei meinem letzten Besuch. Aber macht euch keine falschen Hoffnungen. Es ist nur die scheinbare Besserung vor dem Tod. Ich bin dessen ebenso sicher, wie ich sicher war, daß es dem Ende zugeht. Denn ihr seht, daß ich sofort wiedergekommen bin, nachdem ich meine anderen Pflichten erfüllt hatte, um ihm den Tod weniger schmerzlich zu machen, soweit dies in meiner Macht steht... Oder um das Wunder zu sehen, wenn... Habt ihr vorgesorgt?»

«Ja, ja, Nikomedes!» unterbricht ihn Martha. Und um ihn am Weiterreden zu hindern, sagt sie rasch: «Aber hast du nicht gesagt, daß er innerhalb von drei Tagen... Ich...» Sie weint.

«Ich habe es gesagt. Ich bin Arzt. Ich lebe zwischen Tod und Tränen. Aber der gewohnte Anblick des Schmerzes hat mein Herz noch nicht verhärtet. Und heute... habe ich euch vorbereitet... und euch eine ziemlich lange... und ungewisse Frist genannt. Aber meine Wissenschaft sagte mir, daß das Ende näher bevorstünde, und mein Herz ließ mich euch aus Mitleid täuschen... Auf! Seid stark... Geht hinaus... Man kann nie wissen, wieviel die Sterbenden verstehen...» Der Arzt schickt die tränenüberströmten Frauen hinaus und wiederholt: «Seid stark! Seid stark!»

Maximinus bleibt bei dem Sterbenden zurück. Auch der Arzt entfernt sich, um Arzneien zu bereiten, die den Todeskampf mildern sollen, der nach seinen Worten «sehr schmerzlich sein wird».

«Erhalte ihn am Leben! Erhalte ihn am Leben, wenigstens bis morgen! Es ist schon fast Nacht, du siehst es, Nikomedes. Was ist es schon für deine Wissenschaft, ein Leben um weniger als einen Tag zu verlängern? Erhalte ihn am Leben!»

«Domina, ich tue, was ich kann. Aber wenn der Docht zu Ende ist, kann nichts mehr die Flamme erhalten!» antwortet der Arzt und geht.

Die beiden Schwestern umarmen sich und weinen untröstlich, und wer nun stärker weint, ist Maria. Die andere hat ihre Hoffnung im Herzen...

Die Stimme des Lazarus dringt aus dem Zimmer. Sie ist kräftig, herrisch und erschreckt, denn sie kommt völlig unerwartet nach so viel Schwäche. Lazarus ruft: «Martha! Maria! Wo seid ihr? Ich will aufstehen! Mich anziehen! Ich will dem Meister sagen, daß ich gesund bin! Ich muß zum Meister gehen. Einen Wagen! Rasch! Und ein schnelles Pferd. Ganz gewiß ist er es, der mich geheilt hat.» Er spricht schnell und rhythmisch.

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Fieberglühend sitzt er im Bett und versucht herauszuspringen. Er wird von Maximinus daran gehindert, der zu den herbeieilenden Frauen sagt: «Er redet im Delirium.»

«Nein! Laß ihn gehen! Das Wunder! Das Wunder! Oh, ich bin glücklich, der Anlaß zu sein! Gleich nachdem Jesus es erfahren hat! Gott der Väter, sei gelobt und gepriesen für deine Macht und deinen Messias...»Martha ist auf die Knie gesunken und trunken vor Freude...

Lazarus, der immer heftiger fiebert – was aber Martha nicht als die Ursache der ganzen Szene erkennt – spricht inzwischen weiter: «Er ist so oft zu mir gekommen, während ich krank war. Es ist nur recht, daß ich zu ihm gehe und ihm sage: "Ich bin geheilt" Ich bin geheilt! Ich habe keine Schmerzen mehr! Ich bin stark. Ich will aufstehen und gehen... Gott wollte meine Ergebung prüfen. Man wird mich den neuen Job nennen!»Er spricht in feierlichem Ton und unterstreicht seine Worte mit ausladenden Gesten: «"Gott ließ sich rühren durch die Bußgesinnung des Job... und gab ihm doppelt so viel von allem, was er besessen hatte. Und der Herr segnete die letzten Jahre des Job mehr als die ersten... und er lebte bis zu..." Aber nein, ich bin nicht Job! Ich war in den Flammen, und er hat mich herausgeholt, ich war im Bauch des Ungeheuers und kehre ans Licht zurück. Also bin ich Jonas, und die drei Jünglinge des Daniel...»

Der von irgend jemandem gerufene Arzt erscheint. Er betrachtet ihn und sagt: «Das ist das Delirium. Ich habe es erwartet. Die Zersetzung des Blutes erhitzt das Gehirn.» Er drückt Lazarus wieder auf das Bett und ordnet an, daß man ihn festhalte. Dann geht er hinaus zu seinen Arzneien.

Lazarus ist etwas beunruhigt, weil man ihn festhält, und weint dann wieder ein bißchen wie ein Kind.

«Er ist wirklich im Delirium», jammert Maria.

«Nein. Ihr versteht alle nichts. Ihr wißt nicht, was glauben heißt! Nun ja, ihr wißt eben nicht... Um diese Stunde hat der Meister schon erfahren, daß Lazarus im Sterben liegt. Ja, Maria, ich habe es getan. Ich habe es getan und dir nichts davon gesagt...»

«Oh, du Unselige! Das hast das Wunder verwirkt!» schreit Maria.

«Aber nein! Du siehst doch, sein Zustand begann sich in dem Augenblick zu bessern, als Jonas beim Meister eintraf. Er redet irre... sicher... Er ist schwach, und sein Gehirn ist immer noch vom Tod, der schon von ihm Besitz ergriffen hatte, umnebelt. Aber er redet nicht so irre, wie der Arzt meint. Höre nur! Sind dies Worte eines Deliriums?»

Tatsächlich sagt Lazarus: «Ich habe mich dem Todesurteil gebeugt und erfahren, wie bitter das Sterben ist. Und seht. Gott war zufriedengestellt durch meine Ergebung und gibt mich dem Leben und den Schwestern zurück. Ich werde nun weiterhin dem Herrn dienen und mich mit Martha und Maria heiligen können... Mit Maria! Was ist Maria? Maria ist das Geschenk Jesu an den armen Lazarus. Er hatte es mir gesagt... Wie lange

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ist es schon her. "Eure Vergebung wird am meisten bewirken. Sie wird mir helfen." Er hatte es mir versprochen: "Sie wird deine Freude sein." Und an jenem Tag, als ich mich erregte, weil sie ihre Schande hierher, zum Heiligen, brachte, welche Worte, um sie zur Rückkehr einzuladen! Die Weisheit und die Liebe hatten sich verbündet, um ihr Herz zu rühren... Und das andere Mal, als ich beschloß, mich für sie, für ihre Rettung als Opfer anzubieten? ... Ich will leben, um mich an ihr, der Geretteten, zu erfreuen! Ich will mit ihr den Herrn preisen!

Ströme von Tränen, Beleidigungen, Schande, Bitterkeit... Alles habe ich ihretwegen ertragen, und es hat mein Leben zerstört. Das Feuer, das Feuer des Schmelzofens! Es kehrt zurück mit der Erinnerung... Maria des Theophilus und der Eucheria, meine Schwester: die Dirne! Königin hätte sie sein können und ist in den Schmutz hinabgestiegen, in dem sich die Schweine wälzen. Und meine Mutter ist darüber gestorben... Und dann, nicht mehr unter die Leute gehen zu können, ohne ihrem Spott ausgesetzt zu sein. Ihretwegen! Wo bist du, Unselige! Hat dir etwa das Brot gefehlt, daß du dich verkaufen mußtest, wie du es getan hast? Was hast du aus der Brust der Amme gesogen? Was hat dich deine Mutter gelehrt? Vielleicht Unzucht die eine und Sünde die andere? Fort mit dir, du Schande unseres Hauses!»

Die letzten Worte schreit er hinaus. Er scheint verrückt geworden. Marcella und Noemi beeilen sich, die Türen fest zu verschließen und die schweren Vorhänge zuzuziehen, um den Widerhall zu dämpfen, während der Arzt, der ins Zimmer zurückgekehrt ist, sich vergebens bemüht, das Delirium einzudämmen, das sich immer noch steigert.

Maria liegt völlig vernichtet am Boden und schluchzt unter den unbarmherzigen Anklagen des Sterbenden, der fortfährt: «Einen, zwei, zehn Liebhaber... Die Schande Israels wanderte von Arm zu Arm... Ihre Mutter starb... Sie frönte weiter ihren schmutzigen Liebschaften. Bestie! Vampir! Du hast das Leben aus deiner Mutter gesogen! Du hast unsere Freude zerstört. Martha ist dein Opfer geworden. Niemand heiratet die Schwester einer Dirne. Ich... Ach! Ich... Der angesehene Lazarus, der Sohn des Theophilus... Mich haben die Straßenjungen von Ophel bespien! "Seht den Komplizen einer Ehebrecherin und Schamlosen", sagten die Schriftgelehrten und die Pharisäer und schüttelten ihre Kleider ab, um dadurch zu zeigen, daß sie nichts zu tun haben wollten mit der Sünde, die mich durch den Kontakt mit dir befleckte. "Seht den Sünder! Wer die Schuldige nicht bestrafen will, ist ebenso schuldig wie sie", schrien die Rabbis, wenn ich zum Tempel hinaufging, und das Funkeln der Augen der Priester trieb mir den Schweiß aus allen Poren... Das Feuer! Du! Du hast das Feuer ausgespieen, das in dir brannte. Denn du bist ein Dämon, Maria! Unrat bist du! Ein Fluch! Dein Feuer hat alle erfaßt, denn dein Feuer bestand aus vielen Feuern für die Unzüchtigen, die sich wie Fische in

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deinen Netzen verfingen, wenn du vorbeigingst ... Warum habe ich dich nicht umgebracht? Ich werde in der Gehenna brennen müssen, weil ich dich am Leben gelassen und so beigetragen habe, viele Familien zu verderben und Tausenden Ärgernis zu geben! Wer sagt: "Wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis kommt"? Wer sagt dies? Ach, der Meister! Ich will den Meister! Ich will ihn, damit er mir verzeiht. Ich will ihm sagen, daß ich sie nicht töten konnte, weil ich sie liebte... Maria war die Sonne unseres Hauses... Ich will den Meister! Warum ist er nicht hier? Ich will nicht leben! Ich will nur seine Verzeihung für das Ärgernis, das ich gegeben habe, weil ich das Ärgernis habe leben lassen. Ich bin schon in den Flammen. Es ist das Feuer Marias! Es hat mich erfaßt, alle hat es erfaßt; um Wollust für sie zu entflammen und Haß auf uns, um mein Fleisch zu verbrennen. Weg mit diesen Decken! Fort mit allem! Ich bin im Feuer! Mein Fleisch und meinen Verstand hat es ergriffen. Ich bin ihretwegen verloren. Meister! Meister! Deine Verzeihung! Er kommt nicht! Er kann nicht in das Haus des Lazarus kommen. Es ist eine Mistgrube ihretwegen. Dann... will ich vergessen. Alles. Ich bin nicht mehr Lazarus. Gebt mir Wein! Salomon sagt: "Gebt Wein denen, deren Herz zerrissen ist, daß sie trinken und ihr Elend vergessen und ihres Schmerzes nicht mehr gedenken." Ich will nicht mehr daran denken. Alle sagen: "Lazarus ist reich. Er ist der reichste Mann von Judäa." Das ist nicht wahr! Alles ist nur Stroh, nicht Gold. Und die Häuser? Sie sind Wolken. Und die Weinberge, die Oasen, die Gärten, die Olivenhaine? Nichts. Täuschungen. Ich bin Job. Ich besitze nichts mehr. Ich hatte eine Perle. Sie war schön und von unschätzbarem Wert. Sie war mein Stolz. Sie hieß Maria. Ich habe sie nicht mehr. Ich bin arm. Der Ärmste von allen. Der mehr als alle anderen Getäuschte... Auch Jesus hat mich getäuscht, denn er hatte mir versprochen, daß er sie mir wiedergeben würde... Doch sie... Wo ist sie? Seht sie dort. Sie gleicht einer heidnischen Hetäre, die Frau aus Israel, die Tochter einer Heiligen! Halbnackt, betrunken, von Sinnen... und umgeben von der Meute ihrer Liebhaber, die den nackten Körper meiner Schwester mit den Augen verschlingen... Und sie lacht darüber, so bewundert und verehrt zu werden. Ich will mein Verbrechen sühnen. Ich will durch Israel wandern und sagen: "Geht nicht zum Haus meiner Schwester. Ihr Haus ist der Weg zur Hölle und führt in die Abgründe des Todes." Und dann will ich zu ihr gehen und sie zertreten, denn es steht geschrieben: "Jede unzüchtige Frau soll wie Unrat auf dem Weg zertreten werden." Oh, hast du den Mut, vor mir zu erscheinen, der ich, durch dich vernichtet und entehrt, nun sterbe? Vor mir, der ich mein Leben als Opfer angeboten habe, um deine Seele zu retten, und ohne Erfolg? Wie ich dich gewollt hätte, fragst du? Wie ich dich gewollt hätte, um nicht so sterben zu müssen? So hätte ich dich gewünscht: Wie Susanna, die Keusche! Du sagst, sie hätten dich verführt? Hattest du nicht einen Bruder, um dich zu verteidigen? Susanna war

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allein, aber sie antwortete: "Es ist besser für mich, in eure Hände zu fallen, als vor dem Angesicht des Herrn zu sündigen." Und Gott ließ ihre Reinheit erstrahlen. Ich hätte mit deinen Verführern gesprochen und dich verteidigt. Aber du! Du bist davongelaufen. Judith war Witwe. Sie lebte abgeschieden, den Bußgürtel um die Hüften, und fastete; und sie stand in hohem Ansehen bei allen, denn sie fürchtete den Herrn. Von ihr wird gesungen: "Du bist der Ruhm Jerusalems, die Freude Israels, die Ehre unseres Volkes, denn du bist mannhaft und dein Herz ist stark, du hast die Keuschheit geliebt und nach deiner Ehe keinen anderen Mann mehr gekannt. Daher hat die Hand des Herrn dich stark gemacht, und du wirst in Ewigkeit gepriesen werden." Wäre Maria wie Judith gewesen, hätte der Herr mich geheilt. Aber er konnte es ihretwegen nicht. Deshalb bat ich auch nicht um Heilung. Wo sie ist, kann kein Wunder stattfinden... Aber der Tod... die Leiden bedeuten mir nichts. Zehnmal und hundertmal so viel will ich leiden und nicht nur einmal sterben, wenn sie dadurch gerettet wird. Oh, höchster Herr! Alle Todesarten! Alle Schmerzen! Aber rette Maria! Nur eine Stunde, nur eine einzige Stunde möchte ich mich an ihr erfreuen! An ihr, die wieder heilig geworden ist, rein wie in der Kindheit! Eine Stunde nur diese Freude! Mich ihrer rühmen zu können, der goldenen Blume meines Hauses, der lieblichen Gazelle mit den sanften Augen, der Nachtigall am Abend, der liebevollen Taube... Ich verlange nach dem Meister, um ihm zu sagen, daß ich dies will: Maria! Maria! Komm, Maria! Wie sehr muß dein Bruder leiden, Maria! Aber wenn du kommst, wenn du dich bekehrst, dann wird mein Schmerz süß werden. Sucht Maria! Ich bin am Ende! Ich sterbe! Maria! Macht Licht! Luft... Ich... ersticke! Oh, was fühle ich... !»

Der Arzt macht eine Handbewegung und sagt: «Das ist das Ende. Nach dem Delirium folgt die Erschöpfung, und dann der Tod. Aber das Bewußtsein kann zurückkehren. Kommt näher. Besonders du. Er wird sich freuen.» Und nachdem er Lazarus, der nach so viel Erregung völlig erschöpft ist, zurückgebettet hat, geht er zu Maria, die bis jetzt am Boden geweint und gestöhnt hat: «Bringt ihn zum Schweigen!» Er richtet sie auf und führt sie an das Bett.

Lazarus hat die Augen geschlossen. Er scheint furchtbar zu leiden und ist von Zittern und Krämpfen befallen. Der Arzt versucht, ihm mit Arzneien Erleichterung zu verschaffen... So vergeht einige Zeit.

Lazarus öffnet die Augen. Er scheint alles vergessen zu haben, was geschehen ist, doch er ist bei Bewußtsein. Er lächelt den Schwestern zu und sucht ihre Hände zu fassen und ihre Küsse zu erwidern. Dann wird er totenbleich. Er klagt: «Ich friere...» und klappert mit den Zähnen, während er versucht, sich bis zum Mund zuzudecken. Dann stöhnt er: «Nikomedes, ich kann die Schmerzen nicht länger ertragen. Die Wölfe zerfleisehen meine Beine und fressen mein Herz. Welch ein Schmerz! Und wenn

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der Todeskampf schon so ist, wie wird dann erst der Tod sein? Wie werde ich ihn ertragen? Oh, wenn der Meister hier wäre! Warum habt ihr ihn nicht rufen lassen? Ich wäre selig an seiner Brust gestorben...» Lazarus weint.

Martha sieht Maria streng an. Maria versteht diesen Blick und, noch erschüttert vom Delirium des Bruders, wird sie von Gewissensbissen gepackt. Am Bett kniend neigt sie sich, um die Hand des Bruders zu küssen, und schluchzt: «Ich bin die Schuldige. Martha wollte es schon vor zwei Tagen tun. Ich habe es nicht gewollt. Denn er hatte uns gesagt, wir sollten ihn erst nach deinem Tod benachrichtigen. Verzeih mir! An jedem Schmerz deines Lebens bin ich schuldig... Und doch habe ich dich geliebt und liebe ich dich, Bruder! Nach dem Meister liebe ich dich am meisten... Und Gott weiß, daß ich nicht lüge. Sage mir, daß du mir meine Vergangenheit verzeihst. Gib mir Frieden...»

«Domina!» mahnt der Arzt. «Der Kranke kann keine Aufregungen brauchen.»

«Das ist wahr... Sag nur, daß du mir verzeihst, Jesus von dir ferngehalten zu haben...»

«Maria! Deinetwegen ist Jesus hierhergekommen... und deinetwegen kommt er wieder, denn du verstehst zu lieben... mehr als alle anderen. Mich hast du vor allen anderen geliebt... Ein Leben... der Freude hätte mir nicht... hätte mir nicht... die Freude gegeben... die ich durch dich gehabt habe. Ich segne dich... Ich sage dir... daß du recht daran getan hast... Jesus zu gehorchen... Ich habe es nicht gewußt ... Nun weiß ich... Ich sage ... es ist gut so ... Helft mir sterben! ... Noemi ... dir gelang es früher ... mich in den Schlaf zu wiegen... Gesegnete Martha ... mein Friede... Maximinus... mit Jesus. Auch für mich... Meinen Anteil... den Armen... Jesus... für die Armen... Und verzeiht... allen... Ach, welche Beklemmung... ! Luft... ! Licht! Alles zittert... Ihr seid von einem Schein umgeben, der mich blendet... wenn ich euch ansehe... Sprecht... laut ...» Er hat seine Linke auf das Haupt Marias gelegt und seine Rechte den Händen Marthas überlassen. Er keucht...

Sie richten ihn vorsichtig auf und schieben ihm noch einige Kissen unter, während Nikomedes ihm erneut ein paar Tropfen seiner Medizin einflößt. Das arme Haupt schwankt und sinkt zurück in einer tödlichen Ohnmacht. Das ganze Leben konzentriert sich auf den Atem. Doch er öffnet wiederum die Augen und blickt Maria an, die seinen Kopf stützt. Er lächelt ihr zu und sagt: «Die Mama! Sie ist zurückgekehrt... Mama! Sprich! Deine Stimme... Du kennst... das Geheimnis... Gottes... Habe ich... dem Herrn gedient?»

Maria flüstert mit vor Schmerz brüchiger Stimme: «Der Herr sagt dir: "Komm mit mir, du guter und getreuer Knecht, denn du hast jedes meiner Worte befolgt und das Wort geliebt, das ich gesandt habe!"»

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«Ich verstehe nicht... Lauter... !»

Maria wiederholt lauter...

«Es ist wirklich die Mama!» sagt Lazarus glücklich und läßt sein Haupt an die Schulter der Schwester sinken...

Dann sagt er nichts mehr. Nur noch Stöhnen und krampfhaftes Zittern, Schweiß und Röcheln... Er empfindet nun die Welt nicht mehr, die Gefühle, und versinkt in der immer vollkommeneren Finsternis des Todes. Die Lider sinken über die glasigen Augen, in denen eine letzte Träne glänzt.

«Nikomedes! Er wird schwerer! Er wird kälter... !» sagt Maria.

«Domina, der Tod ist eine Erlösung für ihn!»

«Erhalte ihn am Leben! Morgen wird Jesus hier sein. Er wird sofort aufgebrochen sein. Vielleicht hat er das Pferd des Dieners oder ein anderes Reittier genommen», sagt Martha. Und zur Schwester gewandt: «Oh, hättest du mir erlaubt, ihn eher zu schicken!» Dann wieder verzweifelt zum Arzt: «Erhalte ihn am Leben!»

Der Arzt breitet die Arme aus. Er versucht es mit Herzmitteln. Doch Lazarus kann nicht mehr schlucken...»

Das Röcheln nimmt zu... Es ist herzzerreißend.

«Oh, man kann es nicht mehr mitanhören!» stöhnt Noemi.

«Ja, er hat einen langen Todeskampf ...» bestätigt der Arzt.

Aber er hat noch nicht ausgeredet, als Lazarus nach einem letzten Sich-aufbäumen seines ganzes Körpers zurücksinkt und sein Leben aushaucht.

Die Schwestern schreien auf, als sie diese letzte Todeszuckung sehen, und noch einmal beim Zurücksinken des Sterbenden. Maria ruft den Bruder und küßt ihn. Martha klammert sich an den Arzt, der sich über den Toten beugt, und sagt: «Er ist verschieden. Nun ist es zu spät, auf ein Wunder zu warten. Es gibt kein Warten mehr. Es ist zu spät... ! Ich ziehe mich zurück, domine. Ich habe keinen Anlaß mehr, zu bleiben. Beeilt euch mit der Beisetzung, denn er geht schon in Verwesung über.» Der Arzt schließt dem Toten die Augen und sagt noch einmal: «Es tut mir leid, er war ein tugendhafter und kluger Mann. Er hätte nicht sterben dürfen!» Dann wendet er sich den Schwestern zu, verneigt sich, grüßt sie: «Domine! Salve!» und geht.

Die Klagen erfüllen den Raum. Maria verlassen nun die Kräfte. Sie wirft sich über den Leib des Bruders, ruft ihm ihre Reue zu und bettelt um seine Vergebung. Martha weint in den Armen Noemis.

Dann ruft Maria aus: «Du hast keinen Glauben gehabt. Du bist nicht gehorsam gewesen. Ich habe ihn zuerst getötet, du jetzt! Ich mit meiner Sündhaftigkeit, du mit deinem Ungehorsam.» Sie ist wie von Sinnen. Martha hebt sie auf, umarmt sie, entschuldigt sich... Maximinus, Noemi und Marcella bemühen sich, beide zur Vernunft und Ergebung zu bringen.

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Und es gelingt ihnen, indem sie an Jesus erinnern... Die Schwestern fassen sich und werden hinausgeführt, um anderswo ihren Schmerz auszuweinen, während der Raum sich mit klagenden Dienern füllt und bald auch die eintreten, die den Leichnam für die Bestattung herrichten sollen.

Maximinus, der die Schwestern hinausführt, sagt: «Er ist am Ende der zweiten Nachtwache verschieden.»

Und Noemi sagt: «Und morgen muß er beigesetzt werden, und schnell, vor Sonnenuntergang, denn dann beginnt der Sabbat. Ihr habt gesagt, daß der Meister große Feierlichkeiten will ...»

«Ja, Maximinus. Kümmere du dich um alles. Ich bin ungeschickt», sagt Martha.

«Ich werde Diener zu allen nahen und fernen Freunden schicken und alles andere anordnen», sagt Maximinus und zieht sich zurück.

Die beiden Schwestern halten sich weinend in den Armen. Sie werfen sich gegenseitig nichts mehr vor. Sie weinen nur noch und versuchen, einander zu trösten.

Die Zeit vergeht. Der Tote wird in seinem Zimmer vorbereitet. Eine lange, in Binden gewickelte Gestalt unter dem Schweißtuch.

«Warum ist er denn schon so eingewickelt?» ruft Martha tadelnd aus.

«Herrin, er roch schon stark aus der Nase, und bei jeder Bewegung floß verdorbenes Blut aus seinem Mund», entschuldigt sich ein alter Diener.

Die Schwestern weinen laut. Lazarus ist unter diesen Binden schon weit fort... Ein Schritt mehr in die Ferne des Todes. Sie wachen und weinen bei ihm bis zum Morgengrauen, bis zur Rückkehr des Dieners von der anderen Seite des Jordan. Der Diener ist bestürzt, doch er berichtet von seinem eiligen Ritt, um die Antwort Jesu zu überbringen.

«Hat er gesagt, daß er kommen wird? Hat er mich nicht getadelt?» fragt Martha.

«Nein, Herrin. Er hat gesagt: "Ich werde kommen. Sage ihnen, daß ich kommen werde und daß sie Glauben haben sollen." Und zuvor hatte er gesagt: "Sage ihnen, sie sollen beruhigt sein. Dies ist keine Krankheit, die zum Tod führt. Es handelt sich um die Ehre Gottes, und seine Macht soll in seinem Sohn verherrlicht werden."»

«Hat er das gesagt? Bist du dessen sicher?» fragt Maria.

«Herrin, auf dem ganzen Weg habe ich mir diese Worte wiederholt.»

«Geh, geh. Du bist müde. Du hast alles gut gemacht. Aber nun ist es zu spät... !» seufzt Martha. Und sie bricht in lautes Wehklagen aus, sobald sie wieder mit der Schwester allein ist.

«Martha, warum?»

«Oh! Nach dem Tod nun auch die Enttäuschung! Maria! Maria! Merkst du nicht, daß sich der Meister diesmal geirrt hat? Schau dir Lazarus an. Er ist tot! Wir haben gegen alle Vernunft bis zuletzt gehofft, und es hat nichts genützt. Als ich nach ihm geschickt habe – ich werde damit

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wohl gefehlt haben – war er schon mehr tot als lebendig. Und unser Glaube war umsonst und ist nicht belohnt worden. Nun läßt uns der Meister sagen, daß es keine Krankheit sei, die zum Tod führt. Ist der Meister also nicht mehr die Wahrheit? Er ist sie nicht mehr... Oh! Alles, alles! Alles ist nun zu Ende!»

Maria ringt die Hände. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Die Wirklichkeit ist die Wirklichkeit... Aber sie sagt nichts. Sie sagt kein Wort gegen ihren Jesus. Sie weint. Sie ist wirklich am Ende ihrer Kräfte.

Martha macht sich fortwährend den Vorwurf, zu lange gewartet zu haben. «Durch deine Schuld», klagt sie an. «Er wollte unseren Glauben prüfen. Gehorchen sollten wir, ja. Aber auch im Glauben ungehorsam sein, um unsere Überzeugung zu beweisen, daß nur er das Wunder wirken kann und muß. Mein armer Bruder! Er hat so sehr nach ihm verlangt. Wenn er ihn wenigstens gesehen hätte! Unser armer Lazarus! Der Arme! Der Arme!» Und das Weinen verwandelt sich in lautes Klagen, in das nach orientalischem Brauch auch die Mägde und Diener hinter der Tür einstimmen.

599. DIE BENACHRICHTIGUNG JESU

Es wird schon dunkel, als der von Martha gesandte Diener die bewaldete Böschung des Flusses heraufkommt und seinem vor Schweiß triefenden Pferd die Sporen gibt, um den Höhenunterschied zwischen dem Fluß und der Dorfstraße zu überwinden. Die Flanken des armen Tieres zittern nach dem langen, schnellen Ritt. Die dunkle Decke ist ganz von Schweiß durchtränkt, und der Schaum der Nüstern bedeckt seine Brust. Das Tier schnaubt, krümmt den Hals und schüttelt den Kopf.

Nun sind sie schon auf der Straße. Das Haus ist bald erreicht. Der Diener springt herunter, bindet das Pferd an die Hecke und ruft.

Petrus streckt seinen Kopf aus dem Haus und fragt mit seiner etwas rauhen Stimme: «Wer ruft da? Der Meister ist müde. Seit vielen Stunden läßt man ihn nicht in Ruhe. Es ist beinahe Nacht. Kommt morgen wieder.»

«Ich selbst will nichts vom Meister. Ich bin gesund und muß ihm nur eine Nachricht überbringen.»

Petrus kommt näher und fragt: «Und von wem, wenn ich fragen darf? Ohne ein sicheres Erkennungszeichen lasse ich niemanden herein, besonders, wenn er nach Jerusalem stinkt wie du.» Er hat sich langsam genähert, und mehr als der Mann erweckt die Schönheit des reich aufgezäumten Rappen sein Mißtrauen. Doch als sie sich gegenüberstehen, fragt er überrascht: «Du? ... Bist du denn nicht ein Diener des Lazarus?»

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Der Diener weiß nicht, was er sagen soll. Die Herrin hat ihm aufgetragen, nur mit dem Meister zu reden. Aber der Apostel scheint fest entschlossen, ihn nicht weiterzulassen. Lazarus, das weiß er, ist bei den Aposteln hoch angesehen. So entschließt er sich zu sagen: «Ja, ich bin Jonas, der Diener des Lazarus. Ich muß mit dem Meister sprechen.»

«Geht es Lazarus schlecht? Hat er dich gesandt?»

«Es geht ihm schlecht, ja. Aber laß mich keine Zeit verlieren. Ich muß so rasch als möglich zurückkehren.» Und um den letzten Widerstand des Petrus zu überwinden, sagt er: «Die Synedristen sind in Bethanien gewesen ...»

«Die Synedristen! Komm herein! Komm herein!» Und Petrus öffnet das Tor mit den Worten: «Bring das Pferd herein. Wenn du willst, werden wir ihm Wasser und Heu geben.»

«Ich habe Futter. Aber ein wenig Heu wird ihm guttun. Das Wasser dann später; jetzt würde es ihm schaden.»

Sie gehen in den Raum, in dem die Lager stehen, und binden das Tier in einer Ecke an, um es vor Zugluft zu schützen. Der Diener bedeckt es mit einer Decke, die an den Sattel gebunden war, und gibt ihm Hafer und das Heu, das Petrus irgendwo hergeholt hat. Dann gehen sie wieder hinaus, und Petrus führt den Diener in die Küche und gibt ihm eine Schale heiße Milch aus einem Topf, der auf dem offenen Feuer steht, anstelle des Wassers, um das der Diener gebeten hatte. Während der Diener trinkt und sich am Feuer erholt, sagt Petrus, der sich in heroischer Weise beherrscht und keine neugierigen Fragen stellt: «Die Milch ist besser als das Wasser, das du wolltest. Und wenn wir sie nun schon einmal haben! Bist du ohne Unterbrechung bis hierher geritten?»

«Ohne Unterbrechung. Und so werde ich es auch auf dem Rückweg machen.»

«Du wirst müde sein. Wird das Pferd es schaffen?»

«Ich hoffe. Und dann werde ich auf dem Rückweg nicht so galoppieren wie diesmal.»

«Aber bald bricht die Nacht herein. Der Mond geht schon auf... Wie wirst du es am Fluß machen?»

«Ich hoffe, noch vor dem Untergang des Mondes dort zu sein. Sonst muß ich bis zum Morgengrauen im Wald warten... Doch ich werde vorher ankommen!»

«Und dann? Der Weg vom Fluß nach Bethanien ist lang. Und der Mond geht früh unter. Er steht im ersten Viertel.»

«Ich habe eine gute Lampe. Ich werde sie anzünden und langsam reiten. Auch wenn ich nur langsam vorankomme, nähere ich mich dem Haus.»

«Willst du Brot und Käse? Wir haben etwas da. Und auch Fisch. Ich habe ihn gefangen, denn heute bin ich dageblieben, Thomas und ich. Aber nun ist Thomas Brot holen gegangen bei einer Frau, die uns hilft.»

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«Nein, ich möchte euch nichts wegnehmen. Ich habe unterwegs gegessen und hatte nur Durst und etwas Warmes nötig. Nun fühle ich mich besser. Aber willst du nicht zum Meister gehen? Ist er zu Hause?»

«Ja, ja! Wenn er nicht hier wäre, hätte ich es dir gleich gesagt. Er ist im anderen Zimmer und ruht sich aus, denn es kommen viele Menschen hierher... Ich habe schon Angst, daß man zu viel darüber redet und die Pharisäer kommen und uns stören. Nimm doch noch etwas Milch. Du mußt sowieso das Pferd fressen lassen... und auch ausruhen. Seine Flanken haben wie ein schlecht gespanntes Segel geflattert...»

«Nein, die Milch habt ihr selber nötig. Ihr seid viele.»

«Ja. Aber mit Ausnahme des Meisters, der so viel redet, daß er davon todmüde und geschwächt ist, und der Älteren, essen wir, die Kräftigen, alle Dinge die den Zähnen etwas zu tun geben. Nimm. Es ist Milch von den Schafen, die der Alte hinterlassen hat. Wenn wir hier sind, bringt die Frau sie uns. Und wenn sie nicht reicht, dann geben uns auch alle anderen Milch. Sie haben uns gern hier und helfen uns. Und... sag einmal: waren es viele Synedristen?»

«Oh, beinahe alle, und mit ihnen kamen noch andere: Sadduzäer, Schriftgelehrte, Pharisäer, Juden höheren Ranges, einige Herodianer...»

«Und was haben diese Leute in Bethanien zu suchen gehabt? War Joseph auch dabei? Und Nikodemus, war er da?»

«Nein, die sind einige Tage früher gekommen. Auch Manaen war schon da. Die letzteren gehörten nicht zu denen, die den Herrn lieben.»

«Ja, das glaube ich! Es gibt so wenige im Synedrium, die ihn lieben. Aber was haben sie eigentlich gewollt?»

«Lazarus grüßen... So sagten sie wenigstens beim Hineingehen...»

«Hm, was für eine eigenartige Liebe! Sie haben ihn immer gemieden, aus vielerlei Gründen... ! Gut... ! Wir wollen ihnen glauben... Sind sie lange geblieben?»

«Einige Zeit. Und sie sind aufgeregt weggegangen. Ich bin kein Hausdiener und habe daher nicht bei Tisch bedient. Aber die anderen, die drinnen bedient haben, sagen, daß sie mit den Herrinnen gesprochen haben und Lazarus sehen wollten. Dann ist Elchias zu Lazarus gegangen und ...»

«Guter Gott... !» murmelt Petrus in seinen Bart.

«Was hast du gesagt?»

«Nichts, nichts! Erzähle weiter. Und hat er mit Lazarus gesprochen?»

«Ich glaube schon. Er ist mit Maria zu ihm gegangen. Aber dann... ich weiß nicht warum, ist Maria ungeduldig geworden, und die Diener, die in den angrenzenden Zimmern dienstbereit waren, sagen, daß sie die Besucher wie Hunde fortgejagt hat...»

«Hoch soll sie leben! So ist es richtig! Und sie haben dich geschickt, um dies zu berichten?»

«Laß mich nicht noch mehr Zeit verlieren, Simon des Jonas.»

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«Du hast recht. So komm.»

Petrus führt ihn an eine Tür. Er klopft an und sagt: «Meister, ein Diener des Lazarus ist hier. Er will mit dir sprechen.»

«Er soll hereinkommen», sagt Jesus.

Petrus öffnet die Tür, läßt den Diener eintreten, macht sie wieder zu und zieht sich dann zurück ans Feuer, um Verdienste zu erwerben und seine Neugier abzutöten.

Jesus sitzt auf dem Rand seines Lagers in dem kleinen Raum, in dem gerade Platz für das Bett und den Bewohner ist. Gewiß war es zuvor eine Vorratskammer, denn an den Wänden sind noch Haken und Bretter auf Holzpflöcken. Jesus sieht den Diener, der niedergekniet ist, lächelnd an und grüßt ihn: «Der Friede sei mit dir.» Dann fügt er hinzu: «Was bringst du mir für Neuigkeiten? Steh auf und sprich.»

«Meine Herrinnen schicken mich, um dir zu sagen, daß du sofort zu ihnen kommen sollst, denn Lazarus ist sehr krank, und der Arzt meint, daß er im Sterben liegt. Martha und Maria flehen dich an und lassen dir durch mich ausrichten: "Komm, denn du allein kannst ihn gesund machen."»

«Sage ihnen, sie sollen beruhigt sein. Das ist keine Krankheit, die zum Tod führt, sondern sie gereicht Gott zur Ehre, auf daß seine Macht in seinem Sohn verherrlicht werde.»

«Aber Lazarus ist schwer krank, Meister. Sein Fleisch wird brandig, und er kann nichts mehr essen. Ich habe dem Pferd die Sporen gegeben, um rascher hier zu sein ...»

«Das war nicht nötig. Es ist so, wie ich sage.»

«Aber wirst du kommen?»

«Ich werde kommen. Sage ihnen, daß ich kommen werde und daß sie Glauben haben sollen. Daß sie Glauben haben sollen. Einen bedingungslosen Glauben! Hast du verstanden? Geh. Der Friede sei mit dir und mit denen, die dich gesandt haben. Ich wiederhole dir: Sie sollen einen bedingungslosen Glauben haben. Geh!»

Der Diener grüßt und zieht sich zurück. Petrus eilt ihm entgegen: «Du hast einen kurzen Bericht erstattet. Ich habe mit einer längeren Unterredung gerechnet...» Er schaut ihn an, lange... Der brennende Wunsch, etwas zu erfahren, steht ihm im Gesicht geschrieben. Aber er beherrscht sich...

«Ich gehe. Willst du mir Wasser für das Pferd geben? Dann breche ich auf.»

«Komm, hier ist Wasser! Wir können dir einen ganzen Fluß geben, außer unserem Brunnen», und Petrus geht mit einer Lampe voran und holt das erbetene Wasser.

Sie lassen das Pferd trinken. Der Diener nimmt die Decke ab und untersucht die Hufeisen, den Gurt, die Zügel und die Steigbügel. Er erklärt: «Ich bin so schnell geritten. Aber es ist alles in Ordnung. Leb wohl, Simon Petrus, und bete für uns.»

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Der Diener hält das Pferd am Zügel und führt es hinaus auf die Straße. Dann setzt er einen Fuß in den Steigbügel, um sich in den Sattel zu schwingen. Petrus hält ihn zurück, indem er ihm eine Hand auf den Arm legt und sagt: «Ich will nur eines wissen: Ist es gefährlich für den Meister, hier zu bleiben? Haben sie gedroht? Wollten sie von den Schwestern erfahren, wo wir uns aufhalten? Sag es in Gottes Namen!»

«Nein, Simon. Davon war nicht die Rede. Sie sind wegen Lazarus gekommen... Unter uns haben wir den Verdacht, daß sie sehen wollten, ob der Meister bei uns ist und ob Lazarus an Aussatz leidet, denn Martha hat laut geschrien, daß er nicht aussätzig ist, und dann geweint... Leb wohl, Simon. Der Friede sei mit dir!»

«Und mit dir und deinen Herrinnen. Gott möge dich auf dem Heimweg begleiten...» Petrus sieht dem Reiter nach, der bald am Ende des Weges verschwindet, da er es wohl vorzieht, die vom Mondlicht erhellte Hauptstraße zu nehmen, statt des dunklen Waldwegs längs des Flusses. Dann schließt er nachdenklich das Tor und kehrt ins Haus zurück. Er geht zu Jesus, der immer noch auf seinem Bettrand sitzt, die Hände aufgestützt und in Gedanken versunken. Doch als er Petrus bemerkt, der ihn fragend anblickt, kehrt er aus seiner Versenkung zurück und lächelt ihm zu.

«Du lächelst, Meister?»

«Ich lächle dir zu, Simon des Jonas. Setz dich hier an meine Seite. Sind die anderen schon zurück?»

«Nein, Meister. Nicht einmal Thomas. Er wird jemanden zum Plaudern gefunden haben.»

«Das ist gut.»

«Es ist gut, daß er plaudert und daß die anderen sich verspäten? Er redet immer zu viel. Er ist immer frohen Mutes! Und die anderen? Ich bin immer unruhig, bis sie wieder zurück sind. Ich habe immer Angst.»

«Wovor denn, mein Simon? Vorerst wird uns nichts Böses zustoßen, glaube mir. Beruhige dich und mache es wie Thomas, der immer heiter ist. Du dagegen bist seit einiger Zeit sehr traurig.»

«Ich mißtraue jedem, der sagt, daß er dich liebt. Ich bin schon alt und denke mehr nach als die Jungen. Auch sie lieben dich, aber sie sind jung und denken nicht so viel nach... Wenn du mich lieber heiter siehst, dann werde ich es sein... Ich werde mich bemühen, es zu sein. Aber gib mir wenigstens einen Anlaß, froh zu sein. Sag mir die Wahrheit, mein Herr, ich bitte dich auf den Knien (und Petrus rutscht tatsächlich auf die Knie): Was hat dir der Diener des Lazarus erzählt? Suchen sie dich? Wollen sie dir schaden? Wollen ... ?»

Jesus legt seine Hand auf das Haupt des Petrus: «Aber nein, Simon! Nichts dergleichen. Er ist gekommen, um mir zu sagen, daß der Zustand des Lazarus sich sehr verschlechtert hat, und wir haben nur über Lazarus gesprochen.»

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«Nur? Wirklich nur?»

«Wirklich nur, Simon. Und ich habe geantwortet, daß sie Glauben haben sollen.»

«Aber die vom Synedrium sind doch in Bethanien gewesen! Weißt du das?»

«Das ist ganz natürlich. Das Haus des Lazarus ist ein großes Haus. Und unsere Sitte verlangt diese Ehrung eines Mächtigen, der im Sterben liegt. Rege dich nicht auf, Simon!»

«Aber glaubst du wirklich, daß sie dies nicht als Vorwand gebraucht haben, um...»

«Um nachzusehen, ob ich dort bin? Nun gut, sie haben mich nicht gefunden. Auf, sei nicht so erschrocken, als ob sie mich schon gefangengenommen hätten. Komm wieder an meine Seite, armer Simon, der sich absolut nicht davon überzeugen lassen will, daß mir nichts Böses zustoßen kann bis zu dem von Gott bestimmten Augenblick, und daß mich dann... nichts mehr vor dem Bösen wird bewahren können...»

Petrus fällt Jesus um den Hals, verschließt ihm den Mund mit einem Kuß und sagt: «Schweig, schweig! Sag mir nicht solche Dinge! Ich will sie nicht hören!»

Jesus gelingt es, sich so weit zu befreien, daß er wenigstens sprechen kann, und er flüstert: «Du willst sie nicht hören! Das ist der Fehler! Aber ich habe Mitleid mit dir... Höre, Simon. Da nur du hier gewesen bist, dürfen nur ich und du allein wissen, was vorgefallen ist. 'Verstehst du mich?»

«Ja, Meister. Ich werde mit keinem der Gefährten darüber reden!»

«Wie viele Opfer, nicht wahr, Simon?»

«Opfer? Welche? Hier geht es uns gut. Wir haben, was wir brauchen.»

«Die Opfer, keine Fragen zu stellen, nicht zu reden, Judas zu ertragen, weit weg von deinem See zu sein... Aber alles wird Gott dir vergelten.»

«Oh, wenn du das meinst... ! Anstelle des Sees habe ich den Fluß, und der genügt mir. Für Judas... entschädigst du mich in vollem Maß... Und was die anderen Dinge betrifft... Nichtigkeiten, die mir noch dazu helfen, etwas weniger grob und dir ähnlicher zu werden. Wie glücklich bin ich, hier bei dir sein zu dürfen. In deinen Armen! Der Palast des Caesar käme mir nicht schöner vor als dieses Haus, wenn ich immer so in deinen Armen liegen könnte!»

«Was weißt du denn vom Palast des Caesar? Hast du ihn je gesehen?»

«Nein, und ich werde ihn niemals sehen. Aber ich lege auch keinen Wert darauf. Ich stelle mir vor, daß er groß, schön und voll schöner Dinge ist... und voller Unrat. Wie ganz Rom, denke ich. Ich würde dort nicht hingehen, und selbst wenn man mich mit Gold überhäufen wollte!»

«Wohin? In den Palast des Caesar oder nach Rom?»

«An beide Orte! Verflucht seien sie!»

«Aber gerade weil sie so sind, müssen sie die Frohe Botschaft hören.»

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«Was willst du in Rom tun?! Es ist ein großes Bordell! Da ist nichts zu machen, sofern du nicht selbst hingehst. Dann ja... !»

«Ich werde hingehen. Rom ist das Haupt der Welt. Wenn Rom erobert ist, ist die ganze Welt erobert.»

«Gehen wir nach Rom? Du läßt dich zum König ausrufen, dort? Barmherzigkeit und Macht Gottes! Das ist ein Wunder!»

Petrus ist aufgestanden und steht mit erhobenen Armen vor Jesus, der lächelt und antwortet: «Ich werde in meinen Aposteln dorthin gehen. Ihr werdet es für mich erobern. Und ich werde mit euch sein. Aber drüben ist jemand. Laß uns gehen, Petrus.»

600. BEIM BEGRÄBNIS DES LAZARUS

Die Nachricht vom Tod des Lazarus muß gewirkt haben wie ein Stöckchen, mit dem man in einem Bienenstock herumstochert. Ganz Jerusalem spricht davon. Die Vornehmen, die Händler, das einfache Volk, die Armen, die Bewohner der Stadt und der nahen Ländereien, Fremde, die auf der Durchreise, aber nicht ortsfremd sind, und solche, die zum ersten Mal da sind und sich erkundigen, wer der ist, dessen Tod so große Erregung verursacht; Römer, Legionäre, Verwaltungsangestellte, Leviten und Priester, alle versammeln und zerstreuen sich fortwährend und rennen da- und dorthin... Grüppchen von Leuten, die mit den unterschiedlichsten Worten und Mienen über die Tatsache sprechen. Die einen loben, die anderen weinen, die einen fühlen sich nun noch ärmer, weil der Wohltäter tot ist, die anderen jammern: «Nie, niemals mehr werde ich einen so guten Herrn haben.» Einige zählen seine Verdienste auf, sprechen von seiner Abstammung, seiner Verwandtschaft, den Pflichten und Würden des Vaters, der Schönheit und dem Reichtum der Mutter und ihrer Geburt als «Königin», und andere spielen leider auch auf Familienangelegenheiten an, über die man lieber den Schleier des Schweigens breiten sollte, besonders, da es sich um einen Toten handelt, der darunter gelitten hat...

Die verschiedensten Nachrichten über die Ursache des Todes, den Ort des Begräbnisses und die Abwesenheit des Messias vom Haus seines guten Freundes und Beschützers gerade in seiner schwersten Stunde liefern den Grüppchen Redestoff. Und die vorherrschenden Meinungen sind zwei: Die einen behaupten, dies alles sei so gekommen durch die feindselige Haltung der Juden, der Synedristen, der Pharisäer und ihresgleichen gegenüber dem Meister. Die anderen sagen, daß der Meister sich angesichts dieser wirklich tödlichen Krankheit davongemacht habe, da er hier mit seinen Betrügereien ganz sicher keinen Erfolg gehabt hätte. Auch ohne besonderen Scharfsinn ist nicht schwer zu erraten, aus welcher Quelle

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diese Behauptung kommt, die viele ärgert und heftig erwidern läßt: «Bist auch du ein Pharisäer? Wenn du einer bist, dann gib acht, denn in unserer Anwesenheit lästert man den Heiligen nicht! Verfluchte Vipern, hervorgegangen aus der Verbindung von Hyänen mit dem Leviathan! Wer zahlt euch dafür, daß ihr den Messias lästert?» Streitereien, Beleidigungen, auch einige Püffe und gesalzene Schmähungen gegen die verkommenen Pharisäer und Schriftgelehrten, die stolz wie Götter vorbeischreiten, ohne das Volk eines Blickes zu würdigen, das für und gegen sie redet, für und gegen den Meister, so daß es in den Straßen widerhallt. Und Anschuldigungen! Wie viele Anschuldigungen!

«Der dort sagt, der Meister sei ein Betrüger. Sicherlich hat er sich einen solchen Bauch zugelegt mit dem Geld dieser Schlangen, die gerade vorbeigekommen sind.»

«Mit ihrem Geld? Mit unserem Geld, mußt du sagen! Sie quetschen uns für diese schönen Zwecke aus! Aber wo ist er denn? Ich möchte sehen, ob er einer von denen ist, die gestern zu mir gesagt haben...»

«Er ist davongelaufen. Aber, großer Gott! Wir müssen uns zusammenschließen und handeln. Sie sind zu schamlos!»

Eine andere Unterhaltung: «Ich habe dich gehört und ich kenne dich. Ich werde den Zuständigen sagen, wie du über das Höchste Gericht redest.»

«Ich gehöre Christus, und der Geifer der Dämonen schadet mir nicht. Du kannst es auch Annas und Kaiphas sagen, wenn du willst, und möge es dazu dienen, sie gerechter zu machen!»

Und weiter vorn: «Mich klagst du an, ein Meineidiger und Gotteslästerer zu sein, weil ich dem lebendigen Gott folge? Du bist der Meineidige und Lästerer, weil du ihn beleidigst und verfolgst. Ich kenne dich, weißt du! Ich habe dich gesehen und gehört. Spion! Verkaufter! Lauft und ergreift ihn...» und er fängt an, ihm derartige Ohrfeigen zu verabreichen, daß das knöcherne, grünliche Gesicht des Juden ganz rot wird.

«Cornelius, Simeon, schaut, sie mißhandeln mich ...» sagt ein anderer weiter drüben zu einer Gruppe von Synedristen.

«Ertrage es für den Glauben und beschmutze nicht deine Lippen und deine Hände am Vortag eines Sabbat», antwortet einer der Angesprochenen, ohne sich auch nur umzudrehen und den Elenden anzusehen, mit dem das Volk kurzen Prozeß macht...

Die Frauen kreischen und bitten ihre Ehemänner, zurückzukommen und sich nicht zu kompromittieren.

Die Legionäre patrouillieren die Straßen, schaffen sich mit ihren Speerschäften Platz und drohen mit Strafen und Arrest.

Der Tod des Lazarus, das Hauptereignis, ist die Gelegenheit, sich noch über andere Dinge auszulassen und die schon lange bestehende innere Spannung abzureagieren.

Die Synedristen, die Ältesten, die Schriftgelehrten, die Sadduzäer, die

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mächtigen Juden, sie alle gehen gleichgültig und duckmäuserisch vorüber, als ob alle diese kleinen Ausbrüche von Haß, von persönlicher Rachsucht und Nervosität nicht auf sie zurückzuführen wären. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr geraten sie in Wallung und erhitzen sich die Gemüter.

«Diese hier behaupten, hört nur, daß Christus die Kranken nicht heilen kann. Ich war aussätzig, und nun bin ich gesund. Kennt ihr die dort? Ich bin nicht aus Jerusalem, aber ich habe sie in den letzten zwei Jahren nie bei den Jüngern des Christus gesehen.»

«Die dort? Laß sehen, der in der Mitte! Dieser elende Schurke! Es ist der, der im vergangenen Monat zu mir gekommen ist und mir im Namen des Messias Geld angeboten hat. Er sagte, daß Jesus Männer anwerbe, um sich Palästinas zu bemächtigen. Und nun sagt er... Aber warum hast du ihn entkommen lassen?»

«Ich habe verstanden! Was für Gauner! Und beinahe wäre ich auf sie hereingefallen. Mein Schwiegervater hatte recht. Da kommt Joseph, der Älteste, mit Johannes und Josua. Wir wollen zu ihnen gehen und sie fragen, ob es wahr ist, daß der Meister ein Heer aufstellen will. Sie sind gerecht und müssen es wissen!» Eine große Menge läuft zu den drei Synedristen und stellt ihnen die Frage.

«Geht nach Hause, Männer! Auf der Straße sündigt man und schadet sich. Fragt nicht so viel. Beunruhigt euch nicht. Kümmert euch um eure Angelegenheiten und um eure Familien. Hört nicht auf die, die die Leichtgläubigen aufwiegeln, und laßt euch nicht täuschen. Der Meister ist ein Lehrer und kein Krieger. Ihr kennt ihn doch. Und was er denkt, sagt er. Er hätte euch nicht andere Leute geschickt, um euch sagen zu lassen, daß ihr ihm als Krieger folgen sollt, wenn er dies gewollt hätte. Schadet ihm und auch euch selbst nicht. Schadet nicht dem Vaterland. Geht nach Hause, ihr Männer! Nach Hause! Sorgt dafür, daß dem jetzigen Unglück, dem Tod eines Gerechten, nicht noch mehr Unglück folgt. Geht nach Hause und betet für Lazarus, der allen nur Gutes getan hat», sagt der von Arimathäa, der vom Volk offensichtlich sehr geliebt und geachtet wird, da es ihn als Gerechten erkennt.

Auch Johannes (der ehemals Eifersüchtige) sagt: «Er ist ein Mann des Friedens, nicht des Krieges. Hört nicht auf die falschen Jünger. Denkt daran, wie verschieden die anderen waren, die sich Messias nannten. Erinnert euch, überlegt und vergleicht, und euer Gerechtigkeitssinn wird euch sagen, daß dieser Aufruf zur Gewalt nicht von ihm stammen kann. Fort! Nach Hause! Geht zu den Frauen, die weinen, und zu den Kindern, die sich fürchten. Es steht geschrieben: Wehe den Gewalttätigen und jenen, die den Streit schüren.»

Eine Gruppe Frauen nähert sich weinend den drei Synedristen, und eine von ihnen sagt: «Die Schriftgelehrten haben meinen Mann bedroht. Ich habe Angst. Joseph, sprich du mit ihnen.»

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«Ich werde es tun. Aber dein Mann muß schweigen können. Glaubt ihr, mit diesem Aufruhr dem Meister zu nützen und dem Toten Ehre zu erweisen? Ihr irrt euch. Ihr schadet dem einen wie dem anderen», antwortet Joseph und verläßt sie, um Nikodemus entgegenzugehen, der, gefolgt von seinen Dienern, aus einer Seitenstraße kommt. «Ich habe nicht erwartet, dich hier zu sehen, Nikodemus. Ich selbst weiß nicht, wie ich es geschafft habe. Der Diener des Lazarus kam nach dem Hahnenschrei, um mir von dem Unglück zu berichten.»

«Zu mir kam er noch später. Ich bin sofort abgereist. Weißt du, ob der Meister in Bethanien ist?»

«Nein, er ist nicht dort. Mein Verwalter von Bezetha war um die dritte Stunde dort und sagte mir, er habe ihn nicht angetroffen.»

«Ich verstehe nicht, weshalb... Allen hat er ein Wunder geschenkt, und ihm nicht!» ruft Johannes aus.

«Vielleicht, weil er dem Haus schon mehr geschenkt hat als eine Heilung. Er hat Maria gerettet und dem Haus Frieden und Ehre wiedergegeben...» sagt Joseph.

«Frieden und Ehre! Das Gute den Guten... Denn viele haben ihm keine Ehre erwiesen und tun es nicht einmal jetzt, da Maria... Ihr wißt es nicht... Vor drei Tagen waren Elchias und viele andere dort... und haben ihm keine Ehre erwiesen. Maria hat sie davongejagt. Sie erzählten es mir voll Zorn, und ich habe sie reden lassen, um mein Herz nicht zu entdecken...» sagt Josua.

«Und nun gehen sie zum Begräbnis?» fragt Nikodemus.

«Sie sind benachrichtigt worden und haben sich im Tempel zu einer Besprechung eingefunden. Oh, die Diener haben heute morgen bei Sonnenaufgang viel laufen müssen!»

«Warum haben sie es so eilig mit dem Begräbnis? Gleich nach der sechsten Stunde!»

«Weil Lazarus schon in Verwesung übergegangen war, als er starb. Mein Verwalter sagt mir, daß trotz der Harze, die in den Zimmern verbrannt werden, und trotz der duftenden Essenzen, mit denen man den Toten besprengt, der Leichengeruch schon an der Tür des Hauses zu bemerken war. Und außerdem beginnt bei Sonnenuntergang der Sabbat. Es gab also keine andere Möglichkeit.»

«Du sagst, daß sie sich im Tempel versammelt haben? Warum?»

«Nun... eigentlich war die Versammlung schon vorher geplant, um über Lazarus zu sprechen. Sie wollen behaupten, daß er aussätzig war...»sagt Josua.

«Das niemals. Lazarus hätte sich als erster in Befolgung des Gesetzes abgesondert», verteidigt Joseph den Toten. Und er fügt hinzu: «Ich habe mit ihrem Arzt gesprochen. Er hat es absolut ausgeschlossen. Lazarus litt an faulenden Geschwüren!»

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«Worüber haben sie dann diskutiert, da Lazarus doch schon gestorben war?» fragt Nikodemus.

«Ob sie zum Begräbnis gehen sollen oder nicht, nachdem Maria ihnen die Tür gewiesen hat. Die einen wollten, die anderen nicht. Aber die, die gehen wollten, waren in der Mehrzahl, und zwar aus drei Gründen. Sie wollten sehen, ob der Meister dort ist. Dies war der erste Grund, und alle waren damit einverstanden. Sie wollten auch sehen, ob er ein Wunder wirkt. Das ist der zweite Grund. Und der dritte: die Erinnerung an die Worte, die der Meister kürzlich am Jordan bei Jericho zu den Schriftgelehrten sagte», erklärt wiederum Josua.

«Ein Wunder! Welches, wenn er nun tot ist?» fragt Johannes achselzuckend und schließt mit den Worten: «Immer dieselben... Sie verlangen das Unmögliche!»

«Der Meister hat schon andere Tote erweckt», bemerkt Joseph.

«Das ist wahr. Aber wenn er gewollt hätte, daß er lebt, dann hätte er ihn nicht sterben lassen. Du hast vorher schon recht gehabt: Sie haben genug erhalten.»

«Ja. Aber Uziel und auch Sadok haben sich erinnert an eine Herausforderung vor vielen Monaten... Christus sagte damals, er werde den Beweis erbringen, daß er auch einen schon verwesten Leib auferstehen lassen könne. Und bei Lazarus ist dies der Fall. Und Sadok, der Schriftgelehrte, sagt weiter, daß der Rabbi am Jordan von sich aus behauptet habe, bei Neumond würde sich die Hälfte der Herausforderung erfüllen. Die von einem Toten, der wieder lebendig wird und weder Krankheit noch Auflösung mehr kennt. Sie haben gewonnen. Wenn dies geschieht, so sicher deshalb, weil der Meister da ist. Ferner: wenn dies geschieht, dann gibt es keinen Zweifel mehr an ihm.»

«Vorausgesetzt, daß es keine bösen Folgen hat...» murmelt Joseph.

«Böse Folgen? Warum? Die Schriftgelehrten und Pharisäer werden sich überzeugen ...»

«Oh, Johannes! Bist du denn ein Fremder, daß du so sprechen kannst? Kennst du deine Mitbürger so schlecht? Seit wann hat denn die Wahrheit sie zu Heiligen gemacht? Sagt es dir nichts, daß man in mein Haus keine Einladung zu der Versammlung gebracht hat?»

«Auch in meines nicht. Sie mißtrauen uns und schließen uns oft aus», sagt Nikodemus. Dann fragt er: «War Gamaliel dort?»

«Sein Sohn. Er wird auch anstelle seines Vaters kommen, der etwas krank in Gamala in Judäa ist.»

«Und was hat Simeon gesagt?»

«Nichts. Gar nichts. Er hat nur zugehört und ist dann fortgegangen. Vor kurzem ist er mit einigen Schülern seines Vaters auf dem Weg nach Bethanien hier vorbeigekommen.»

Sie sind nun fast am Tor zur Straße nach Bethanien. Und Johannes ruft

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aus: «Schaut, es ist bewacht! Warum wohl? Sie halten alle an, die hinausgehen.»

«Es ist Aufruhr in der Stadt...»

«Oh! So groß ist er nicht...»

Sie kommen zum Tor und werden wie alle anderen angehalten.

«Aus welchem Grund, Soldat? In der ganzen Antonia kennt man mich. Man kann mir nichts Schlechtes nachsagen. Ich achte euch und eure Gesetze», sagt Joseph von Arimathäa.

«Befehl des Centurio. Der Prokurator kommt in die Stadt, und wir wollen wissen, wer zu den Toren hinausgeht, besonders zu dem, das auf die Straße nach Jericho führt. Wir kennen dich. Aber wir kennen auch eure Stimmung uns gegenüber. Du und deine Begleiter, ihr könnt gehen. Und wenn ihr beim Volk etwas zu sagen habt, dann erklärt ihm, daß es besser ist, sich ruhig zu verhalten. Pontius ändert nicht gerne seine Gewohnheiten wegen der Unruhe seiner Untergebenen... und er könnte äußerst streng werden. Dies ist ein guter Rat für dich, der du gut bist.» Sie gehen weiter...

«Habt ihr gehört? Ich sehe schwere Tage kommen... Es wird nötiger sein, die anderen zu beraten als das Volk ...» sagt Joseph.

Die Straße nach Bethanien ist voller Menschen, die alle ein einziges Ziel haben: Bethanien. Alles Leute, die zur Beisetzung gehen. Man sieht Synedristen und Pharisäer, Schriftgelehrte und Sadduzäer, und zwischen diesen Bauern, Diener und Verwalter der verschiedenen Häuser und Güter, die Lazarus in der Stadt und auf dem Land besitzt. Und je näher man Bethanien kommt, desto mehr Menschen strömen von allen Seitenwegen und Sträßchen auf die Hauptstraße.

Da ist nun Bethanien. Bethanien in Trauer um den vornehmsten seiner Bürger. Alle seine Bewohner haben in ihren besten Kleidern schon die Häuser verlassen, die nun verschlossen sind, als ob niemand darin wäre. Aber sie sind noch nicht im Haus des Toten. Die Neugier hält sie an der Straße vor dem Tor zurück. Sie beobachten, wer von den Eingeladenen kommt, und tauschen Namen und Eindrücke aus.

«Da ist Nathanael ben Faba. Oh, der alte Mattathias, der Verwandte des Jakob! Der Sohn des Annas! Schau ihn dir an dort, zusammen mit Doras, Callascebona und Archelaos. Wie haben die Galiläer es nur fertiggebracht, rechtzeitig hier zu sein? Alle sind sie da. Schau: Eli, Jochanan, Ismael, Urias, Joachim, Elias, Joseph... Der alte Chananias mit Sadok und den Sadduzäern Zacharias und Jochanan. Auch Simeon, der Sohn des Gamaliel, ist da. Allein. Aber der Rabbi fehlt. Dort sind Elchias und Nahum, Felix und der Schriftgelehrte Annas, Zacharias und Jonathan des Uriel! Saul und Eleazar, Tryphon und Joazar. Die sind gut! Auch einer der Söhne des Annas. Der Jüngste. Er spricht mit Simon Camit. Und dort Philippus mit Johannes, dem Antipatriden, Alexander, Isaak

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und Jonas des Babaon. Und Sadok. Judas, der Nachkomme der Asidäer. Und die Verwalter der verschiedenen Paläste. Ich sehe aber die treuen Freunde nicht. Wie viele Leute!»

Wirklich, viele Leute! Alle in würdevoller Haltung, teils mit einem den Umständen angepaßten Gesichtsausdruck, teils mit dem Ausdruck echten Schmerzes in den Zügen. Das weit offenstehende Tor verschluckt sie alle. Und ich sehe alle wieder, die ich bei anderen Gelegenheiten wohlwollend oder feindlich gesinnt in der Umgebung des Meisters gesehen habe. Alle, außer Gamaliel und dem Synedristen Simon. Aber ich sehe auch andere, die ich noch nie gesehen habe, oder die ich vielleicht bei Streitgesprächen über Jesus gesehen habe, ohne ihre Namen zu kennen... Rabbis mit ihren Schülern kommen vorbei und Schriftgelehrte in geschlossenen Gruppen. Es kommen Juden, deren Reichtümer aufgezählt werden... Der Garten ist voller Menschen, die, nachdem sie den Schwestern ihre Anteilnahme ausgesprochen haben (diese sitzen, wohl nach dortigem Brauch, unter dem Portikus, also außerhalb des Hauses), sich in einem Kaleidoskop von Farben im Garten ergehen, wo das Begrüßen kein Ende nimmt.

Martha und Maria sind erschöpft. Sie halten sich an der Hand wie zwei Mädchen, die erschrocken sind über die Leere, die nun im Haus herrscht, über das Nichts, das ihren Tag füllt, seit Lazarus nicht mehr ihrer Pflege bedarf. Sie hören die Worte der Besucher an, weinen mit den wahren Freunden, mit den treuen Untergebenen, verneigen sich vor den kalten, stolzen, steifen Synedristen, die eher gekommen sind, um sich in Szene zu setzen, als um den Verstorbenen zu ehren, und antworten allen, die nach den letzten Augenblicken des Lazarus fragen, mit denselben müden Worten, die sie nun schon zum hundertsten Mal wiederholen müssen.

Joseph und Nikodemus, die treuesten Freunde, stellen sich an die Seite der Schwestern, mit wenigen Worten, aber einer Freundschaft, die mehr zu trösten vermag als Worte es können.

Elchias kommt wieder mit den Unversöhnlichsten, mit denen er lange gesprochen hat, und fragt: «Könnten wir den Toten nicht sehen?»

Martha fährt sich verzweifelt mit der Hand über die Stirn und fragt: «Seit wann ist so etwas Brauch in Israel? Er ist schon vorbereitet...» und langsam rinnen Tränen über ihr Gesicht.

«Es ist nicht Sitte, das ist wahr. Aber wir wünschen es. Die treuesten Freunde haben wohl das Recht, ein letztes Mal das Antlitz des Freundes zu sehen.»

«Auch wir Schwestern hätten ein Recht darauf gehabt. Aber es war notwendig, ihn sofort einzubalsamieren... Und als wir in das Zimmer des Lazarus zurückgekehrt sind, haben wir selbst nur die eingewickelte Gestalt gesehen.»

«Ihr hättet klare Anweisungen geben sollen. Könntet ihr nicht das Schweißtuch von seinem Antlitz entfernen?»

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«Oh, er ist schon verwest ... Und die Stunde des Begräbnisses ist gekommen.»

Joseph vermittelt: «Elchias, mir scheint, daß wir hier aus einem Übermaß an Liebe Schmerz bereiten. Lassen wir die Schwestern in Frieden...»

Simeon, der Sohn des Gamaliel, kommt näher und verhindert so die Antwort des Elchias: «Mein Vater wird kommen, sobald er kann. Ich vertrete ihn. Er hat Lazarus sehr geschätzt. Und ich ebenso.»

Martha verneigt sich und antwortet: «Gott möge dem Rabbi die Ehre vergelten, die er unserem Bruder erwiesen hat.»

Da der Sohn des Gamaliel gekommen ist, entfernt sich Elchias ohne weiter zu drängen. Er diskutiert mit den anderen, die ihn darauf aufmerksam machen: «Riechst du nicht den Gestank? Und du hast noch Zweifel? Wir werden ja sehen, ob sie das Grab verschließen. Ohne Luft kann man nicht leben.»

Eine weitere Gruppe von Pharisäern nähert sich den beiden Schwestern. Sie sind fast alle aus Galiläa. Martha kann, nachdem sie die Beileidsbezeugungen entgegengenommen hat, nicht umhin, ihr Erstaunen über ihre Anwesenheit zu bekunden.

«Frau, das Synedrium hat sich zu einer Versammlung von größter Wichtigkeit zusammengefunden, daher sind wir in der Stadt», erklärt Simon von Kapharnaum und betrachtet Maria, an deren Bekehrung er sich zweifellos erinnert. Doch er beschränkt sich darauf, sie anzustarren.

Nun kommen Jochanan, Doras, der Sohn des Doras, Ismael, Chananias, Sadok und andere, die ich nicht kenne. Ihre Wolfsgesichter sagen alles, noch bevor sie den Mund aufmachen. Aber sie warten, bis Joseph und Nikodemus sich entfernt haben, um mit drei Juden zu reden, und schlagen dann zu.

Es ist der alte Chananias, der den Schwestern mit seiner glucksenden Greisenstimme den ersten Dolchstoß versetzt: «Was sagst du dazu, Maria? Euer Meister ist der einzige von den vielen Freunden deines Bruders, der nicht hier ist. Seltsame Freundschaft! Viel Liebe, solange es Lazarus gut ging. Und Gleichgültigkeit, als die Zeit gekommen war, ihm Liebe zu erweisen! Für alle wirkt er Wunder. Aber hier geschieht kein Wunder. Was sagst du zu so etwas, Frau? Er hat dich sehr getäuscht, dieser schöne galiläische Meister. Ha, ha, ha! Hatte er nicht zu dir gesagt, du solltest hoffen wider alle Hoffnung? Hast du also nicht gehofft? Oder hat es keinen Sinn, auf ihn zu hoffen? Du hast auf das Leben gehofft, hast du gesagt. Ja... er nennt sich das "Leben". Ha, ha, ha! Aber da drinnen ist dein toter Bruder, und der Schlund des Grabes hat sich schon geöffnet. Und der Rabbi ist nicht da. Ha, ha, ha!»

«Er gibt den Tod, nicht das Leben», sagt Doras grinsend.

Martha verbirgt das Gesicht in den Händen und weint. Dies ist wahrhaftig die Wirklichkeit. Ihre Hoffnung ist enttäuscht worden. Der Rabbi

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ist nicht da. Er ist nicht einmal gekommen, um sie zu trösten. Und er könnte doch jetzt schon hier sein. Martha weint. Sie kann nur weinen.

Auch Maria weint. Auch sie hat die Wirklichkeit vor Augen. Sie hat geglaubt und gehofft über alle Hoffnung hinaus... Aber nichts hat sich ereignet, und die Diener haben den Stein von der Öffnung des Grabes entfernt, da die Sonne am Untergehen ist. Die Sonne geht im Winter schnell unter, und es ist Freitag, und alles muß rechtzeitig fertig sein, damit die Gäste nicht das Gesetz des Sabbats übertreten müssen, der bald beginnt. Sie hat so sehr gehofft, beständig gehofft, zu sehr gehofft. Sie hat ihre Kraft zu hoffen verbraucht, und nun ist sie enttäuscht.

Chananias gibt nicht nach: «Du antwortest mir nicht? Bist du nun davon überzeugt, daß er ein Schwindler ist, der euch ausgenützt und verhöhnt hat? Arme Frauen!» Und er schüttelt den Kopf. Die anderen tun es ihm nach und sagen ebenfalls: «Arme Frauen!»

Maximinus kommt herbei: «Es ist Zeit. Gebt die Anweisungen. Ihr müßt es tun.»

Martha sinkt zu Boden. Man eilt ihr zu Hilfe, und viele Arme tragen sie fort unter dem Wehklagen der Bediensteten, die verstanden haben, daß die Stunde der Beisetzung gekommen ist und sie die Totenklage anstimmen müssen.

Maria ringt die Hände und bettelt: «Noch eine kleine Weile! Noch eine kleine Weile! Schickt Diener auf die Straße nach Ensemes und zum Brunnen, auf alle Wege. Diener zu Pferd. Sie sollen schauen, ob er kommt...»

«Du Unglückselige, hoffst du denn immer noch? Was braucht es noch, um dich zu überzeugen, daß er euch verraten und enttäuscht hat? Gehaßt hat er euch und verspottet...»

Das ist zuviel! Mit tränennassem Gesicht, gequält und dennoch treu, erklärt Maria im Halbkreis der Gäste, die sich versammelt haben und auf das Erscheinen des Leichnams warten: «Wenn Jesus von Nazareth so handelt, dann ist es gut, und seine Liebe zu uns allen in Bethanien ist groß. Alles zur Ehre Gottes und zu seiner Ehre! Er hat gesagt, daß dies zur Ehre des Herrn gereichen wird, denn die Macht seines Wortes wird vollkommen erstrahlen. Tue deine Pflicht, Maximinus. Das Grab ist kein Hindernis für die Macht Gottes ...»

Sie geht zur Seite, gestützt von Noemi, die herbeigeeilt ist, und gibt ein Zeichen... Der Leichnam wird in seinen Binden aus dem Haus getragen, zwischen zwei Reihen von Menschen hindurch, die laut zu klagen beginnen. Maria möchte ihm folgen, doch sie wankt. Sie schließt sich an, als schon alle auf dem Weg zum Grab sind. Und sie kommt gerade rechtzeitig dort an, um die lange, reglose Gestalt im Dunkel des Grabes verschwinden zu sehen. Die von den Dienern in die Höhe gehaltenen Fackeln, die die Stufen für die Träger beleuchten, die mit dem Toten hinuntersteigen, tauchen alles in rötliches Licht. Denn das Grab des Lazarus

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ist unter der Erde, vielleicht, um die unterirdischen Gänge im Fels auszunützen.

Maria schreit ... Sie ist am Zusammenbrechen... Sie schreit ... und mit dem Namen des Bruders auch den Namen Jesu. Es ist, als würde man ihr das Herz aus der Brust reißen. Aber sie ruft nur diese beiden Namen und wiederholt sie, bis das dumpfe Geräusch des Steines, mit dem man das Grab verschließt, ihr sagt, daß nun nicht einmal mehr der Leib des Lazarus auf Erden weilt. Dann erst gibt sie auf und verliert das Bewußtsein. Sie fällt auf die, die sie stützen, und flüstert noch einmal, während sie in Bewußtlosigkeit versinkt: «Jesus, Jesus!» Man trägt sie fort.

Maximinus bleibt, um die Gäste zu verabschieden und ihnen im Namen der ganzen Verwandtschaft zu danken; um sich ihre Versicherungen anzuhören, daß sie täglich zur Beileidsbezeugung wiederkommen werden...

Langsam wird der Garten leerer. Die letzten, die gehen, sind Joseph, Nikodemus, Eleazar, Johannes, Joachim und Josua. Am Tor treffen sie Sadok und Uriel, die gehässig lachen und sagen: «Seine Herausforderung! Und wir haben sie gefürchtet!»

«Oh, es besteht kein Zweifel, daß er tot ist. Wie er gestunken hat, trotz der Essenzen. Es gibt keinen Grund zu zweifeln. Es war nicht nötig, das Schweißtuch zu entfernen. Ich glaube, er ist schon voller Würmer.» Sie sind glücklich.

Joseph schaut sie an, mit so strengem Blick, daß ihre Worte und ihr Gelächter verstummen.

Alle beeilen sich, zurück nach Hause zu kommen, um vor dem Ende des Sonnenunterganges in der Stadt zu sein.

601. «LASST UNS ZU UNSEREM FREUND LAZARUS GEHEN, DER SCHLÄFT»

Das Licht im Hausgärtchen des Salomon ist schon sehr schwach, und die Umrisse der Bäume und der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite und besonders am Ende der Straße, dort, wo diese an der Flußböschung verschwindet, verwischen sich immer stärker und verschmelzen mit den mehr oder weniger dunklen Schatten der stetig voranschreitenden Abenddämmerung. Die Dinge auf Erden sind jetzt mehr Laute als Farben. Kinderstimmen dringen aus den Häusern, Mütter rufen ihre Kleinen, Männer treiben ihre Schafe oder Esel an, ein letztes Quietschen des Brunnenrades, das Rauschen der Blätter im Abendwind und das Knacken der trockenen Äste im Wald, als ob man Hölzchen zusammenschlagen würde. In der Höhe flimmern noch unsicher die ersten Sterne, denn ein schwacher Widerschein des Lichtes ist geblieben,

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und der Mond beginnt schon mit seinem phosphoreszierenden Schimmer den Himmel zu erhellen.

«Alles übrige könnt ihr morgen sagen. Nun ist es genug. Es ist Nacht. Geht alle nach Hause. Der Friede sei mit euch. Der Friede sei mit euch. Ja... ja... Morgen! Wie? Was sagst du? Du hast Bedenken? Schlafe bis morgen, und wenn sie dich dann immer noch quälen, kannst du ja wiederkommen. Das wäre noch schöner! Auch noch Bedenken, um ihn noch mehr zu ermüden! Und diese Geldgierigen da! Und die Schwiegermütter, die vernünftigere Schwiegertöchter wollen, und die Schwiegertöchter, die weniger sauertöpfische Schwiegermütter möchten, während sowohl die einen wie auch die anderen es verdienen würden, daß man ihnen die Zunge ausreißt! Was gibt es noch? Du? Was hast du gesagt? Oh, das schon, du armer Kerl! Johannes, führe diesen Knaben zum Meister. Seine Mutter ist krank, und sie schickt ihn, um Jesus zu bitten, daß er für sie betet. Armes Kind. Es ist immer zurückgedrängt worden, weil es noch so klein ist. Und es kommt von weit her. Wie wird es nun nach Hause zurückkommen? Hallo! Ihr alle, anstatt hier herumzustehen und euch am Meister zu erfreuen, könntet ihr nicht in die Tat umsetzen, was er euch gesagt hat: daß ihr euch gegenseitig helfen sollt und daß die Stärkeren den Schwächeren behilflich sein sollen? Auf, wer bringt den Knaben nach Hause? Er könnte, was Gott verhüten möge, seine Mutter tot vorfinden... Aber er soll sie wenigstens noch einmal sehen. Esel habt ihr ja... Es ist schon Nacht, sagt ihr? Was gibt es Schöneres als die Nacht? Ich habe jahrelang beim Schein der Sterne geschuftet und bin gesund und kräftig. Du willst den Jungen nach Hause bringen? Gott segne dich, Ruben. Hier ist das Kind. Hat dich der Meister getröstet? Ja? Dann geh und freue dich. Aber man wird ihm zu essen geben müssen. Vielleicht hat er seit heute morgen nichts mehr gegessen!»

«Der Meister hat ihm heiße Milch, Brot und Obst gegeben. Er hat sie unter der Tunika», sagt Johannes.

«Dann geh mit diesem Mann. Er bringt dich auf seinem Esel nach Hause.»

Endlich sind die Leute alle weggegangen, und Petrus kann sich mit Jakobus, Judas, dem anderen Jakobus und Thomas ausruhen, die ihm geholfen haben, die Hartnäckigsten nach Hause zu schicken.

«Wir wollen zuschließen. Sonst überlegt es sich einer wieder anders und kommt zurück, wie die beiden dort. Auweh! Der Tag nach dem Sabbat ist ganz schön anstrengend!» sagt Petrus noch, während er die Küche betritt und die Türe schließt. «So, nun haben wir Ruhe.» Er blickt Jesus an, der am Tisch sitzt, einen Ellbogen aufgestützt und das Haupt in der Hand, nachdenklich, abwesend. Petrus geht zu ihm, legt ihm die Hand auf die Schulter und sagt: «Du bist müde, nicht? So viele Menschen! Von überall her kommen sie, trotz der Jahreszeit.»

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«Man könnte meinen, sie hätten Angst, uns bald zu verlieren», bemerkt Andreas, der gerade dabei ist, Fische auszunehmen. Die anderen sind damit beschäftigt, das Feuer zu schüren, auf dem die Fische geröstet werden sollen, oder in einem großen Kessel umzurühren, in dem Zichorie kocht. Ihre Schatten bewegen sich an der dunklen Wand, die mehr vom Feuer als von der Lampe erhellt wird.

Petrus sucht nach einer Tasse, um Jesus, der sehr müde zu sein scheint, Milch zu geben. Aber er findet die Milch nicht und zieht die anderen zur Rechenschaft.

«Das Kind hat die letzte Milch getrunken. Das übrige bekamen der alte Bettler und die Frau des kranken Mannes», erklärt Bartholomäus.

«Und der Meister ist leer ausgegangen! Ihr hättet nicht alles weggeben dürfen.»

«Er selbst hat es so gewollt ...»

«Oh, er möchte es immer so. Aber man darf ihn nicht machen lassen. Er gibt die Kleider weg, er gibt seine Milch her, er gibt sich selber hin und verzehrt sich...» Petrus ist unzufrieden.

«Schon gut, Petrus! Geben ist seliger als nehmen», sagt Jesus ruhig und kehrt aus seiner Geistesabwesenheit zurück.

«Ja, und du gibst und gibst und verbrauchst dich. Und je großzügiger du dich zeigst, desto mehr wirst du von den Menschen ausgenützt.» Nebenbei fegt Petrus mit dürren Blättern, die einen Duft von bitteren Mandeln und Chrysanthemen ausströmen, den Tisch, um ihn zu säubern und dann Brot und Wasser daraufzustellen. Dann stellt er einen Becher vor Jesus.

Jesus gießt sich sofort zu trinken ein, als ob er großen Durst hätte. Petrus stellt noch einen Becher auf die andere Seite des Tisches, neben einen Teller mit Oliven und wildem Fenchel. Er fügt auch eine Schüssel Salat hinzu, den Philippus schon angemacht hat, und holt mit den anderen einfache Hocker herbei, zusätzlich zu den vier Stühlen in der Küche, die zu wenig sind für dreizehn Personen. Andreas, der auf den über der Glut röstenden Fisch achtgegeben hat, legt diesen nun auf einen Teller und bringt ihn zusammen mit einigen Broten zum Tisch. Johannes holt die Lampe von ihrem Platz und stellt sie ebenfalls mitten darauf.

Während alle sich zu Tisch begeben, um das Abendessen einzunehmen, erhebt sich Jesus, betet mit lauter Stimme, opfert das Brot und segnet die Mahlzeit. Dann nimmt auch er wie die übrigen Platz und verteilt Brot und Fisch; d.h., er legt den Fisch auf die großen, flachen, teils frischen, teils schon altbackenen Brote, die jeder vor sich liegen hat. Dann nehmen die Apostel Salat und benützen dazu die Holzgabel, die in der Schüssel steckt. Auch für das Gemüse dient die Brotscheibe als Teller. Nur Jesus hat einen großen, etwas verbeulten Metallteller vor sich und zerlegt darauf den Fisch, von dem er bald dem einen, bald dem anderen einen

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köstlichen Bissen gibt. Er gleicht einem Vater inmitten seiner Söhne, wenngleich Nathanael, Simon der Zelote und Philippus seine Väter und Matthäus und Petrus seine älteren Brüder sein könnten.

Sie essen und reden über die Vorkommnisse des Tages, und Johannes muß herzlich lachen über die Entrüstung des Petrus über einen Hirten aus den Bergen von Galaad. Dieser hatte verlangt, daß Jesus zu seiner Herde hinaufsteigt und sie segnet, damit er viel Geld mit ihr verdienen und seiner Tochter eine beträchtliche Mitgift geben kann.

«Da gibt es nichts zu lachen. Solange er noch sagte: "Ich habe kranke Schafe, und wenn sie eingehen, bin ich ruiniert" ' hat er mir leid getan. Das wäre genauso, wie wenn wir Fischer den Holzwurm im Boot hätten. Dann könnte man nicht mehr fischen und hätte nichts zu essen. Und alle haben ein Recht auf Nahrung. Aber als er dann sagte: "Ich will gesunde Schafe, damit ich reich werde und vor dem ganzen Dorf prahlen kann mit der Aussteuer, die meine Esther bekommt, und mit dem Haus, das ich mir bauen werde", da hat mich die Wut gepackt, und ich habe ihm gesagt: "Deswegen hast du einen so weiten Weg zurückgelegt? Liegt dir nichts anderes am Herzen als die Mitgift, der Reichtum und die Schafe? Hast du denn keine Seele?" Darauf hat er geantwortet: "Für die bleibt noch genug Zeit. Jetzt sind die Schafe und die Hochzeit wichtiger, denn er ist eine gute Partie, und Esther fängt an, alt zu werden." Wenn ich mir nicht die Lehre Jesu vor Augen gehalten hätte, daß man mit allen barmherzig sein soll, wäre es dem Mann gewiß schlecht ergangen! Aber ich habe mit ihm geredet, daß ihm Hören und Sehen verging...»

«Und es hat ausgesehen, als ob du nicht mehr aufhören wolltest. Du warst ganz außer Atem und deine Halsadern waren dick angeschwollen», sagt Jakobus des Zebedäus.

«Der Schäfer war schon lange weggegangen, da hast du immer noch gepredigt. Und dann sagst du, du könntest nicht vor den Leuten reden!»fügt Thomas hinzu. Und er umarmt ihn mit den Worten: «Armer Simon, wie sehr bist du in Zorn geraten!»

«Hatte ich vielleicht nicht recht? Was ist der Meister? Der Glücksbringer für alle Dummköpfe Israels? Der Brautwerber für Heiratslustige?»

«Rege dich nicht auf, Simon. Der Fisch könnte dir schlecht bekommen, wenn du ihn zusammen mit dem Gift verschluckst», neckt ihn Matthäus gutmütig.

«Du hast recht. Ich spüre in allem den Geschmack, den die Gastmähler in den Häusern der Pharisäer haben, wenn ich Brot mit Angst und Fleisch mit Zorn esse.»

Alle lachen. Jesus lächelt und schweigt.

Die Mahlzeit ist beendet. Satt und zufrieden sitzen sie in der wohltuenden Wärme um den Tisch herum und werden müde. Sie reden immer

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weniger, und einige dösen vor sich hin. Thomas vergnügt sich damit, einen Blütenzweig mit dem Messer in die Tischplatte zu ritzen.

Die Stimme Jesu rüttelt sie auf. Er erhebt seine bisher verschränkten Arme von der Tischkante, breitet sie aus wie der Priester beim «Dominus vobiscum», und sagt: «Und doch müssen wir gehen.»

«Wohin, Meister? Zu dem mit den Schafen?» fragt Petrus.

«Nein, Simon. Zu Lazarus. Wir kehren nach Judäa zurück.»

«Meister, vergiß nicht, daß die Juden dich hassen!» meint Petrus.

«Es ist nicht lange her, daß sie dich sogar steinigen wollten!» sagt Jakobus des Alphäus.

«Aber Meister, das ist unvorsichtig!» meint Matthäus.

«Denkst du nicht an uns?» fragt Iskariot.

«Oh, Meister und mein Bruder, ich beschwöre dich im Namen deiner Mutter und auch im Namen der Gottheit, die in dir wohnt: laß nicht zu, daß die Teufel sich deiner bemächtigen und dein Wort ersticken. Du bist allein, zu sehr allein gegen eine ganze Welt, die dich haßt und hier auf Erden mächtig ist», sagt Thaddäus.

«Meister, schütze dein Leben! Was würde aus mir, aus uns allen werden, wenn wir dich nicht mehr hätten?» Johannes schaut ihn mit den weit aufgerissenen Augen eines erschrockenen und traurigen Kindes an.

Petrus hat sich nach dem ersten Ausruf umgedreht und redet aufgeregt mit den Älteren und mit Thomas und Jakobus des Zebedäus. Alle sind der Meinung, daß Jesus nicht in die Umgebung Jerusalems zurückkehren darf; wenigstens nicht, bevor die Osterzeit einen Aufenthalt dort sicherer macht, da die Anwesenheit einer großen Anzahl von Jüngern, die zum Fest aus allen Teilen Palästinas kommen, einen Schutz für den Meister darstellt. Keiner von denen, die ihn hassen, wird es wagen, ihn anzurühren, wenn ein ganzes Volk ihn mit seiner Liebe umgibt... Und sie sagen es ihm, besorgt und beinahe rechthaberisch... Die Liebe läßt sie so sprechen.

«Ruhe! Friede! Hat denn der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn einer am Tag wandert, strauchelt er nicht, denn er sieht das Licht dieser Welt. Wandert er aber in der Nacht, dann strauchelt er, denn er sieht nichts. Ich weiß, was ich tue, denn das Licht ist in mir. Laßt euch führen von dem, der sieht. Und außerdem müßt ihr wissen, daß, solange die Stunde der Finsternis nicht gekommen ist, nichts Finsteres geschehen kann. Wenn dann die Stunde gekommen ist, werden keine Entfernung und keine Macht, nicht einmal die Heere des Caesar, mich vor den Juden erretten können. Denn was geschrieben steht, muß sich erfüllen, und die Mächte des Bösen arbeiten schon im verborgenen, um ihr Werk zu vollbringen. Daher laßt mich wirken... und Gutes tun, solange ich frei bin, es zu tun. Die Stunde wird kommen, da ich keinen Finger mehr rühren und kein Wort mehr sprechen kann, um Wunder zu wirken. Meine Kraft wird die Welt verlassen. Eine schreckliche Stunde der Strafe für den Menschen wird es sein. Nicht

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für mich. Für den Menschen, der mich nicht lieben wollte. Eine Stunde, die sich wiederholen wird durch den Willen des Menschen, der die Gottheit so weit von sich gewiesen hat, daß aus ihm ein von Gott Verlassener, ein Anhänger Satans und seines verfluchten Sohnes geworden ist. 1) Eine Stunde, die kommen wird, wenn das Ende der Welt bevorsteht. Der herrschende Unglaube wird meine Wunderkraft versiegen lassen. Nicht, weil ich sie verlieren könnte, sondern weil das Wunder dort nicht gewährt werden kann, wo kein Glaube und kein Wille, es zu erlangen, vorhanden ist; dort, wo man das Wunder zum Gegenstand des Spottes und zum Werkzeug des Bösen machen und das erhaltene Gute dazu verwenden würde, noch größeres Unheil anzurichten. Noch kann ich Wunder wirken, und ich werde sie wirken zur höheren Ehre Gottes. Gehen wir also zu unserem Freund Lazarus, der schläft. Gehen wir, ihn aus diesem Schlaf zu erwecken, damit er wieder gesund und imstande sei, seinem Meister zu dienen.»

«Nun, wenn er schläft, ist es ja gut. Dann wird er gesund werden. Der Schlaf selbst ist schon ein Heilmittel. Warum ihn aufwecken?» fragen sie.

«Lazarus ist tot. Ich habe gewartet, bis er tot ist, um nach Bethanien zu gehen; nicht seiner Schwestern und seinetwegen, sondern euretwegen, damit ihr glaubt. Damit ihr im Glauben wachst. Gehen wir zu Lazarus.»

«Nun gut! Gehen wir also! So werden wir alle sterben, wie er gestorben ist und wie du sterben willst», sagt Thomas im Ton eines resignierten Fatalisten.

«Thomas, Thomas, und ihr alle, die ihr in eurem Inneren murrt und kritisiert! Wißt, wer mir nachfolgen will, darf sich um sein Leben nicht mehr sorgen, als der Vogel sich um die vorüberziehende Wolke sorgt. Er muß sie vorüberziehen lassen, wie auch immer der Wind wehen mag. Der Wind ist der Wille Gottes, der euch das Leben nach Gefallen geben oder nehmen kann, und ihr sollt euch nicht bekümmern, wie auch der Vogel sich nicht um die vorüberziehende Wolke kümmert, sondern fortfährt zu singen in der Gewißheit, daß der Himmel sich wieder aufheitern wird. Denn die Wolke ist ein Zwischenfall, der Himmel aber ist die Wirklichkeit. Der Himmel bleibt immer blau, auch wenn ihn die Wolken mit Grau zu überziehen scheinen. Er ist und bleibt blau über den Wolken. Und so ist es auch mit dem wahren Leben. Es ist und bleibt bestehen, auch wenn das menschliche Leben aufhört. Wer mir nachfolgen will, darf keine Angst vor dem Leben und um sein Leben haben. Ich werde euch zeigen, wie man den Himmel erobert. Aber wie könnt ihr mich nachahmen, wenn ihr Angst habt, mit nach Judäa zu kommen, ihr, denen vorerst nichts Böses angetan werden wird? Fürchtet ihr euch, mit mir gesehen zu werden? Ihr seid frei,

1) Gemeint ist der Sohn des Verderbens, der Lügenprophet, der Antichrist, der falsche Messias.

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mich zu verlassen. Aber wenn ihr bleiben wollt, dann müßt ihr lernen, der Welt mit ihrer Kritik, ihrer Bosheit, ihrem Spott und ihrem Leiden zu trotzen, um mein Reich zu erobern. Wir werden also gehen und Lazarus, der schon seit zwei Tagen im Grab ruht, dem Tod entreißen. Denn er ist am gleichen Abend gestorben, an dem der Diener aus Bethanien hierher kam. Morgen um die sechste Stunde, nachdem wir alle entlassen haben, die auf das Morgen warten, um von mir Hilfe und Belohnung für ihren Glauben zu erhalten, werden wir von hier fortgehen, den Fluß überqueren und im Haus der Nike übernachten. Bei Sonnenaufgang brechen wir dann auf und gehen auf der Straße über Ensemes nach Bethanien. Vor der sechsten Stunde werden wir in Bethanien sein. Viel Volk wird dort sein. Und die Herzen werden erschüttert werden. Ich habe es versprochen und ich halte mein Versprechen...»

«Wem hast du es versprochen, Herr?» fragt Jakobus des Alphäus beinahe ängstlich.

«Denen, die mich hassen, und denen, die mich lieben... Beiden auf unwiderrufliche Weise. Erinnert ihr euch nicht mehr an den Streit mit den Schriftgelehrten in Kedes? Sie nannten mich noch immer einen Betrüger, weil ich nur ein eben verstorbenes Mädchen und einen seit einem Tag toten Mann erweckt hatte. Sie sagten: "Bisher hast du noch keinen in Verwesung übergegangenen Menschen wieder lebendig gemacht." Tatsächlich kann nur Gott aus Staub einen Menschen bilden und aus der Verwesung einen gesunden, lebendigen Körper. Nun, ich werde es tun. Im Monat Kislew, am Ufer des Jordan, habe ich selbst die Schriftgelehrten an diese Herausforderung erinnert und gesagt: "Beim neuen Mond wird es sich erfüllen." Dies für jene, die mich hassen. Den Schwestern jedoch, die mich bedingungslos lieben, habe ich versprochen, ihren Glauben zu belohnen, wenn sie trotz der scheinbaren Hoffnungslosigkeit weiter hoffen. Ich habe sie schwer geprüft und sehr betrübt, und ich allein weiß um die Leiden ihrer Herzen in diesen Tagen und um ihre vollkommene Liebe. Wahrlich, ich sage euch, sie verdienen eine große Belohnung, denn mehr noch als den Bruder nicht auferweckt zu sehen, fürchten sie, daß ich verspottet werden könnte. Ich kam euch abwesend, müde und traurig vor. Ich war bei ihnen im Geist, und ich hörte ihre Klagen und zählte ihre Tränen. Arme Schwestern! Nun brenne ich darauf, der Welt einen Gerechten, den Schwestern einen Bruder und den Jüngern einen Jünger wiederzugeben. Du weinst, Simon? Ja, du und ich, wir sind die besten Freunde des Lazarus, und deine Tränen drücken den Schmerz Marthas und Marias und den Todeskampf des Freundes aus, aber auch die Freude, ihn bald unserer Liebe zurückgegeben zu wissen. Stehen wir auf, packen wir die Reisesäcke und gehen wir dann zur Ruhe, damit wir morgen bei Sonnenaufgang wach sind und hier alles aufräumen können... da eine Rückkehr nicht gewiß ist. Wir müssen an die Armen verteilen, was wir haben, und

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den Eifrigsten sagen, daß sie die Pilger davon abhalten sollen, mich zu suchen, bevor ich nicht an einem anderen sicheren Ort bin. Sie sollen auch die Jünger benachrichtigen, daß sie mich bei Lazarus finden können. So viel ist zu tun. Und all dies muß getan sein, bevor die Pilger kommen... Auf, löscht das Feuer und zündet die Lampen an. Jeder soll tun, was er zu tun hat, und dann zur Ruhe gehen. Der Friede sei mit euch allen.» Jesus erhebt sich, segnet sie und zieht sich in seine Kammer zurück...

«Er ist schon seit mehreren Tagen tot!» sagt der Zelote.

«Das wird ein Wunder sein!» ruft Thomas aus.

«Ich möchte sehen, was sie dann erfinden werden, um an ihm zu zweifeln!» sagt Andreas.

«Aber wann ist denn der Diener hier gewesen?» will Iskariot wissen.

«Am Vorabend des Freitags», antwortet Petrus.

«Ja? Und warum hast du es uns nicht gesagt?» fragt wiederum Iskariot.

«Weil der Meister mir aufgetragen hatte zu schweigen», entgegnet Petrus.

«Also... wenn wir dort ankommen... wird er schon vier Tage im Grab liegen.»

«Sicher! Freitagabend ein Tag, Sabbatabend zwei Tage, heute abend drei Tage, morgen vier Tage... Viereinhalb Tage also... Allmächtiger! Er muß sich ja schon aufgelöst haben!» sagt Matthäus.

«Er muß sich schon aufgelöst haben... Ich will auch dies sehen und dann...»

«Was dann, Simon Petrus?» fragt Jakobus des Alphäus.

«Wenn Israel sich dann nicht bekehrt, kann es nicht einmal Jahwe mit seinen Blitzen bekehren.»

Und während sie so reden, gehen sie auseinander.

602. DIE AUFERWECKUNG DES LAZARUS

Jesus kommt von Ensemes nach Bethanien. Sie müssen einen äußerst anstrengenden Weg zurückgelegt haben über die halsbrecherischen Pfade der Adummimberge. Die atemlosen Apostel haben Mühe, Jesus zu folgen, der so rasch dahinschreitet, als ob die Liebe ihn auf ihren feurigen Schwingen tragen würde. Ein strahlendes Lächeln liegt auf seinem Antlitz, während er allen mit erhobenem Haupt unter den Strahlen der warmen Mittagssonne vorangeht.

Noch bevor sie die ersten Häuser von Bethanien erreicht haben, sieht ihn ein barfüßiger Junge, der mit einer leeren Kupferkanne zum Brunnen geht. Er schreit auf, stellt die Kanne auf den Boden und rennt davon, so schnell ihn die Beine tragen, hinein ins Dorf.

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«Gewiß wird er ankündigen, daß du kommst», bemerkt Judas Thaddäus, nachdem er wie die anderen über den energischen Entschluß des Jungen gelächelt hat, der sogar seinen Krug zurückläßt als Beute für den Nächstbesten, der vorbeikommt.

Vom Brunnen aus, der etwas erhöht liegt, sieht die Ortschaft ruhig und wie verlassen aus. Nur der graue Rauch, der aus den Kaminen aufsteigt, zeigt an, daß in den Häusern die Frauen damit beschäftigt sind, das Mittagsmahl zuzubereiten, und einige laute Männerstimmen, die aus den weiten, stillen Olivenhainen und Obstgärten dringen, lassen erkennen, daß die Männer bei der Arbeit sind. Dennoch zieht Jesus es vor, einen schmalen Weg einzuschlagen, der hinter dem Ort vorbeiführt, um das Haus des Lazarus zu erreichen, ohne die Aufmerksamkeit der Bewohner zu erregen.

Sie sind ungefähr auf halbem Weg, als sie hinter sich den Jungen von zuvor hören, der sie eilig überholt und sich dann in die Mitte der Straße stellt und Jesus nachdenklich ansieht.

«Der Friede sei mit dir, kleiner Markus. Hast du Angst vor mir gehabt, daß du geflüchtet bist?» fragt Jesus und streichelt ihn.

«Ich? Nein, Herr, ich habe keine Angst gehabt. Aber da Martha und Maria seit mehreren Tagen Diener auf die Straßen schicken, die Ausschau nach dir halten sollen, bin ich losgerannt, sowie ich dich gesehen habe, um ihnen zu sagen, daß du kommst ...»

«Das hast du gut gemacht. Die Schwestern werden ihre Herzen auf meine Ankunft vorbereiten.»

«Nein, Herr. Die Schwestern werden sich nicht vorbereiten, denn sie wissen von nichts. Man hat mir nicht erlaubt, es ihnen zu sagen. Man hat mich beim Betreten des Gartens gepackt, als ich sagte: "Der Rabbi ist da." Und man hat mich hinausgejagt mit den Worten: "Du bist ein Lügner oder ein Dummkopf. Er kommt nicht mehr, denn jetzt ist es gewiß, daß er kein Wunder mehr wirken kann." Und weil ich gesagt habe, daß du es wirklich bist, haben sie mir zwei Ohrfeigen gegeben, wie ich noch nie welche bekommen habe... Sieh nur meine roten Backen. Sie brennen! Und sie haben mich hinausgeschoben und gesagt: "Dies ist zu deiner Reinigung, weil du einen Teufel gesehen hast." Und ich habe dich jetzt genau angeschaut, um zu sehen, ob du ein Teufel geworden bist. Aber ich merke nichts davon... Du bist immer noch mein Jesus und schön wie die Engel, von denen Mama mir erzählt.»

Jesus beugt sich nieder, um die geschlagenen Wangen zu küssen, und sagt: «So vergeht das Brennen. Es tut mir leid, daß du meinetwegen leiden mußtest.»

«Es macht nichts, Herr, denn die Ohrfeigen haben mir zwei Küsse von dir eingebracht.» Und der Junge hängt sich an Jesus in der Hoffnung auf weitere Liebkosungen.

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«Sag einmal, Markus! Wer ist es, der dich fortgejagt hat? Die Leute des Lazarus?» fragt Thaddäus.

«Nein, die Juden. Sie kommen alle Tage, um ihr Beileid zu bezeigen. Es sind so viele! Sie sind im Haus und im Garten, kommen früh und gehen spät und tun so, als ob sie die Herren des Hauses wären. Sie mißhandeln alle. Siehst du, niemand traut sich mehr auf die Straße. Die ersten Tage kamen die Leute und schauten... aber dann... Nun gehen nur noch wir Kinder hinaus, um... Oh, mein Krug! Die Mama wartet auf das Wasser... Nun wird auch sie mich schlagen... !»

Alle lächeln über seine Sorge wegen der voraussichtlichen weiteren Ohrfeigen, und Jesus sagt: «Also, dann geh schnell ...»

«Aber... ich wollte mit dir hineingehen und dich das Wunder wirken sehen ...» Und er fügt hinzu: «Ich wollte ihre Gesichter sehen... um mich für die Ohrfeigen zu rächen...»

«Das nicht. Du darfst nicht rachsüchtig sein. Du mußt brav sein und verzeihen können... Aber die Mama wartet auf das Wasser ...»

«Ich werde an seiner Stelle gehen, Meister. Ich weiß, wo Markus wohnt, und ich werde der Mutter alles erklären und dann zurückkommen ...» sagt Jakobus des Zebedäus und läuft fort.

Sie setzen langsam ihren Weg fort, und Jesus hält den jubelnden Knaben an der Hand...

Nun sind sie am Gitter des Gartens und gehen daran entlang. Viele Reittiere sind dort angebunden und werden von den Dienern der jeweiligen Eigentümer bewacht. Das Flüstern, das bei ihrer Ankunft einsetzt, zieht die Aufmerksamkeit einiger Juden auf sich. Und sie wenden sich genau in dem Augenblick dem geöffneten Tor zu, als Jesus den Garten betritt.

«Der Meister!» sagen die ersten, die ihn sehen, und das Wort eilt wie das Rauschen des Windes von Gruppe zu Gruppe und breitet sich aus wie eine Woge, die von weither kommt und am Ufer zerschellt, bis zu den Mauern des Hauses und dringt ins Innere. Gewiß überbringt es einer der vielen anwesenden Juden oder auch einer der da und dort herumstehenden Pharisäer, Rabbis, Schriftgelehrten und Sadduzäer.

Jesus geht sehr langsam weiter, während alle anderen, die von überall herbeieilen, den Weg säumen, auf dem er dahinschreitet. Und da ihn niemand grüßt, grüßt auch er niemanden, so als ob er nicht viele der dort Versammelten kennen würde. Diese betrachten ihn mit zorn- und haßerfüllten Blicken, mit Ausnahme der Wenigen, die heimliche Jünger oder wenigstens rechtschaffenen Herzens sind, auch wenn sie ihn nicht als Messias lieben, und ihn als einen Gerechten achten. Diese sind Joseph, Nikodemus, Johannes, Eleazar, der andere Johannes, der Schriftgelehrte, den ich bei der Brotvermehrung gesehen habe, und ein dritter Johannes, der die Leute nach der Bergpredigt mit Nahrung versorgt hat; außerdem Gamaliel mit seinem Sohn, Josua, Joachim, Manaen, der Schriftgelehrte

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Joel des Abija, dem ich bei der Episode mit Sabäa am Jordan begegnet bin, Joseph Barnabas, der Schüler des Gamaliel, und Chuza, der Jesus von weitem betrachtet, etwas schüchtern, da er ihn nun nach dem begangenen Fehler wiedersieht; oder vielleicht verbietet ihm auch die Achtung vor den anderen, sich Jesus als Freund zu nähern. Tatsache ist, daß weder die Freunde und wohlgesinnten Beobachter, noch die Feinde ihn grüßen. Und auch Jesus grüßt niemanden. Er hat sich darauf beschränkt, beim Betreten des Gartenweges eine allgemeine Verneigung zu machen. Dann ist er weitergegangen, als ob er der ganzen Menge, die ihn umgibt, fremd wäre. Der kleine Junge läuft in seinem bäuerlichen Gewand und mit den nackten Füßen eines armen Kindes neben ihm her. Doch sein Gesicht strahlt wie an einem Festtag und seine lebhaften, schwarzen Augen sehen alles... und blicken alle herausfordernd an.

Martha kommt aus dem Haus inmitten einer Gruppe jüdischer Besucher, darunter Elchias und Sadok. Sie beschattet mit der Hand ihre vom Weinen müden Augen, die das Licht schmerzt, und blickt sich nach Jesus um. Nun sieht sie ihn, verläßt ihre Begleiter und eilt auf den Meister zu, der sich bis auf einige Schritte dem Wasserbecken genähert hat, das im Sonnenlicht glitzert. Sie wirft sich nach einer ersten Verbeugung Jesus zu Füßen, küßt diese und sagt, während sie in Tränen ausbricht: «Der Friede sei mit dir, Meister.»

Auch Jesus sagt, sobald er sie erblickt hat: «Der Friede sei mit dir!»und erhebt die Hand, um sie zu segnen, wobei er die des Kindes losläßt. Bartholomäus nimmt nun das Kind bei der Hand und zieht es etwas nach hinten.

Martha fährt fort: «Für deine Dienerin gibt es keinen Frieden mehr!»Noch kniend erhebt sie das Antlitz zu Jesus und mit einem Schmerzensschrei, den man in dem entstandenen Schweigen sehr laut hört, ruft sie aus: «Lazarus ist tot! Wärest du hier gewesen, wäre er nicht gestorben. Warum bist du nicht früher gekommen, Meister?» In dieser Frage liegt ein ungewollter Vorwurf. Dann spricht sie weiter mit der matten Stimme eines Menschen, der keine Kraft mehr hat, Vorwürfe zu machen, und seinen einzigen Trost darin findet, sich an die letzten Augenblicke und Wünsche eines Angehörigen zu erinnern, dem man alle Wünsche zu erfüllen versucht hat, weshalb man sich auch keine Vorwürfe zu machen braucht: «Er hat so sehr nach dir verlangt, unser Bruder... ! Sieh! Nun leide ich, und Maria weint und kann keinen Frieden finden. Er ist nicht mehr unter uns. Und du weißt, wie sehr wir ihn geliebt haben! Wir hatten unsere ganze Hoffnung in dich gesetzt... !»

Ein Flüstern des Mitleids für die Frau und des Vorwurfs für Jesus, und Zustimmung zu dem unausgesprochenen Gedanken: «Du hättest uns erhören können, denn wir haben es verdient durch unsere Liebe zu dir, doch du hast uns enttäuscht!» läuft von einer Gruppe zur anderen, begleitet

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von Kopfschütteln und hämischen Blicken. Nur die wenigen geheimen Jünger in der Menge werfen Jesus, der bleich und traurig der schmerzerfüllten Frau zuhört, mitleidvolle Blicke zu. Gamaliel steht ein wenig abseits inmitten einer Gruppe von Jünglingen, unter denen sich auch sein Sohn und Joseph Barnabas befinden. Die Arme über der Brust gekreuzt, in seinem weiten, reichen Gewand aus feinster Wolle mit -blauen Fransen, schaut er Jesus fest an, ohne Haß und ohne Liebe.

Martha fährt fort, nachdem sie sich die Tränen abgetrocknet hat: «Aber auch jetzt hoffe ich noch, denn ich weiß, daß dir alles, was du vom Vater erbittest, gewährt wird.» Ein schmerzliches, heroisches Glaubensbekenntnis, das sie mit tränenerstickter Stimme ausspricht, während Angst in ihrem Blick zittert und die letzte Hoffnung ihr Herz erfüllt.

«Dein Bruder wird auferstehen. Erhebe dich, Martha!»

Martha steht auf, bleibt jedoch in verehrungsvoller, gebeugter Haltung vor Jesus stehen, dem sie antwortet: «Ich weiß, Meister. Er wird auferstehen am Jüngsten Tag.»

«Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er tot ist. Und wer glaubt und in mir lebt, wird in Ewigkeit nicht sterben! Glaubst du dies alles?» Jesus, der zuerst leise und nur zu Martha gesprochen hat, erhebt nun seine Stimme, um diese Worte zu sagen, mit denen er seine göttliche Macht bekundet, und der Wohlklang seiner Stimme hallt im weiten Garten wie der Schlag einer goldenen Glocke nach. Ein fast ängstlicher Schauder erfaßt die Umstehenden; dann aber fangen einige an, höhnisch zu lachen und die Köpfe zu schütteln.

Martha, der Jesus immer stärkere Hoffnung einflößen zu wollen scheint, indem er ihr eine Hand auf die Schulter legt, erhebt ihr Antlitz, das zu Boden geneigt war. Sie schaut zu Jesus auf, heftet ihren schmerzerfüllten Blick auf seine strahlenden Augen, preßt die Hände auf die Brust und antwortet nun in erneuter, aber anders gearteter Erregung: «Ja, Herr, ich glaube es. Ich glaube, daß du Christus, der Sohn des lebendigen Gottes bist, der in die Welt gekommen ist, und daß du alles kannst, was du willst. Ich glaube. Nun will ich Maria verständigen.» Und sie entfernt sich rasch und verschwindet im Haus.

Jesus bleibt, wo er ist. Das heißt, er macht ein paar Schritte vorwärts und bleibt bei dem Beet stehen, das das Becken umgibt. Der Sprühregen des Wasserstrahles, den ein leichter Wind auf diese Seite neigt und der einem silbernen Federbusch gleicht, bedeckt Blätter und Blüten mit kleinen, funkelnden Tröpfchen. Es hat den Anschein, daß Jesus sich in die Betrachtung der unter dem Schleier dieses klaren Wassers schnellenden Fische verliert, die mit ihren Spielen dem von der Sonne bewegten wäßrigen Kristall silberne Punkte und goldene Reflexe aufsetzen.

Die Juden beobachten ihn. Sie haben sich unbewußt in zwei sehr verschiedene Gruppen geteilt. Auf einer Seite, Jesus gegenüber, stehen alle,

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die ihm feindlich gesinnt sind. Für gewöhnlich gespalten in ihrer sektiererischen Gesinnung, sind sie nun vereint, um Jesus zu bekämpfen. Auf seiner Seite, hinter den Aposteln, zu denen sich wieder Jakobus des Zebedäus gesellt hat, stehen Joseph, Nikodemus und die anderen ihm Wohlgesinnten. Etwas weiter entfernt, immer am gleichen Platz und in derselben Haltung, sehe ich Gamaliel. Allein. Denn sein Sohn und seine Schüler haben ihn alleingelassen und sich auf die beiden großen Gruppen aufgeteilt, um näher bei Jesus zu sein.

Mit ihrem üblichen Ruf: «Rabbuni!» und ausgestreckten Armen eilt Maria aus dem Haus auf Jesus zu und wirft sich ihm zu Füßen. Sie küßt sie laut schluchzend, und einige Juden, die bei ihr im Haus waren und ihr gefolgt sind, vereinen ihre Klagen von zweifelhafter Aufrichtigkeit mit den ihren. Auch Maximinus, Marcella, Sara, Noemi und alle Diener sind Maria gefolgt, und ein lautes, schrilles Klagen erfüllt nun den Garten. Mir scheint, daß niemand mehr im Haus geblieben ist. Martha, die Maria so heftig weinen sieht, weint nun ebenso.

«Der Friede sei mit dir, Maria! Steh auf! Sieh mich an! Warum dieses trostlose Weinen, wie jemand, der keine Hoffnung hat?» Jesus beugt sich über sie, um leise diese Worte zu sagen, während er Maria in die Augen blickt. Sie hat sich, vor ihm kniend, auf die Fersen gesetzt, streckt ihm flehend die Hände entgegen und kann vor Schluchzen nicht sprechen. «Habe ich dir nicht gesagt, daß du hoffen sollst wider alle Hoffnung, um die Herrlichkeit Gottes zu sehen? Hat sich denn dein Meister geändert, daß du Grund zu solcher Verzweiflung hast?»

Aber Maria begreift die Worte nicht, die sie schon auf die große, zu große Freude vorbereiten wollen nach so viel Leid, und sie ruft, endlich wieder ihrer Stimme mächtig: «Oh, Herr! Warum bist du nicht früher gekommen? Warum bist du so weit fortgegangen? Du hast doch gewußt, daß Lazarus krank ist! Wenn du hier gewesen wärest, wäre mein Bruder nicht gestorben! Warum bist du nicht gekommen? Ich mußte ihm doch noch zeigen, daß ich ihn liebe. Und er hätte leben müssen. Ich mußte ihm doch noch beweisen, daß ich im Guten ausharre. Ich habe meinen Bruder so sehr gequält! Und nun? Nun, da ich ihn hätte glücklich machen können, ist er mir entrissen worden. Du hättest ihn mir lassen können. Du hättest der armen Maria die Freude machen können, ihn trösten zu dürfen, nachdem sie ihm so viel Schmerz bereitet hat. Oh, Jesus! Jesus! Mein Meister! Mein Erlöser! Meine Hoffnung!» Und sie läßt sich wieder zu Boden fallen, die Stirn auf den Füßen Jesu, die Marias Tränen noch einmal waschen, und klagt: «Warum hast du das getan, o Herr? Hast du nicht an jene gedacht, die dich hassen und sich nun über das Geschehene freuen... Warum hast du das getan, Jestis?» Aber es liegt kein Vorwurf in der Stimme Marias, wie es bei Martha der Fall war, nur der Schmerz der Schwester, die zudem noch die Not der

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Jüngerin erleidet, das Ansehen Jesu in den Herzen so vieler geschmälert zu sehen.

Jesus, der sich tief hinuntergebeugt hat, um diese Worte zu hören, die mit dem Gesicht zum Boden geflüstert worden sind, richtet sich nun auf und sagt laut: «Maria, weine nicht! Auch dein Meister ist betrübt, weil sein treuer Freund gestorben ist... weil er ihn sterben lassen mußte...»

Oh, welch ein Grinsen und welch gehässige Schadenfreude auf den Gesichtern der Feinde Jesu. Sie glauben ihn besiegt und freuen sich, während die Freunde immer trauriger werden.

Jesus sagt noch lauter: «Ich aber sage dir: Weine nicht! Steh auf! Sieh mich an! Glaubst du, daß ich, der ich dich so sehr geliebt habe, dies ohne guten Grund getan habe? Kannst du glauben, daß ich dir diesen Schmerz unnötig zugefügt habe? Komm, wir wollen zu Lazarus gehen. Wo habt ihr ihn hingelegt?»

Jesus fragt weniger Maria und Martha, die, von immer stärkerem Schluchzen überwältigt, nicht sprechen können, als alle anderen, besonders jene, die mit Maria aus dem Haus gekommen sind und am allertraurigsten zu sein scheinen. Vielleicht sind es ältere Verwandte, ich weiß es nicht. Sie antworten Jesus, der sichtlich betrübt ist: «Komm und sieh!»und gehen in Richtung des Grabes, das am Ende des Obstgartens liegt, dort, wo der Erdboden uneben wird und die Kalkfelsen hervortreten.

Martha geht an der Seite Jesu, der Maria zum Aufstehen gezwungen hat und sie nun führt, da das viele Weinen ihre Augen trübt. Sie weist Jesus mit der Hand die Stelle, an der Lazarus liegt. Und als sie angekommen sind, sagt sie noch: «Hier ist es, Meister, hier haben wir deinen Freund beigesetzt», und zeigt auf einen Stein, der schräg vor dem Eingang der Gruft liegt.

Jesus ist auf dem Weg dorthin, von allen gefolgt, an Gamaliel vorübergegangen. Doch weder er noch Gamaliel hat gegrüßt. Gamaliel hat sich dann zu den anderen gesellt und ist wie alle strengen Pharisäer einige Meter vom Grab entfernt stehengeblieben, während Jesus mit den Schwestern, Maximinus und denen, die anscheinend Verwandte sind, ganz nahe herangegangen ist. Jesus betrachtet den schweren Stein, der als Türe dient und ein ebenso schweres Hindernis bildet zwischen ihm und dem toten Freund. Er weint. Das Weinen der Schwestern und auch das der Nahestehenden und Angehörigen wird stärker.

«Entfernt diesen Stein!» ruft Jesus plötzlich, nachdem er seine Tränen getrocknet hat.

Eine Bewegung des Erstaunens und ein Flüstern geht durch die Menge, die sich noch um einige Bewohner Bethaniens vergrößert hat, die in den Garten zu den übrigen Besuchern gekommen sind. Ich sehe einige Pharisäer, die sich an die Stirn greifen und den Kopf schütteln, als ob sie sagen wollten: «Er ist verrückt!»

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Niemand befolgt den Befehl. Auch die Getreuesten schrecken zurück und zögern.

Jesus wiederholt seinen Befehl noch lauter und versetzt die Anwesenden in noch größere Bestürzung. Sie schwanken zwischen einander entgegengesetzten Gefühlen, einerseits dem Wunsch zu fliehen, und andererseits dem Wunsch, sich noch mehr zu nähern, um zu sehen, ungeachtet des Geruches, der aus dem Grab dringen wird, das Jesus zu öffnen gebietet.

«Meister, es ist nicht möglich», sagt Martha, die sich bemüht, die Tränen zurückzuhalten, um sprechen zu können. «Seit vier Tagen ist er schon unter der Erde, und du weißt, an welcher Krankheit er gestorben ist! Nur unsere Liebe konnte ihn pflegen... Nun riecht er gewiß schon viel stärker, trotz aller Salben... Was willst du sehen? Seinen verwesten Leib? ... Es geht nicht... auch wegen der Verunreinigung durch die Zersetzung und...»

«Habe ich dir nicht gesagt, daß du die Herrlichkeit Gottes sehen wirst, wenn du glaubst? Entfernt diesen Stein. Ich will es!»

Es ist eine laute Kundgebung göttlichen Willens... Und ein unterdrücktes «Oh!» kommt aus den Mündern aller. Die Gesichter erbleichen. Einige zittern, als ob eisige Todeskälte sie umweht hätte.

Martha gibt Maximinus ein Zeichen, und dieser gebietet den Dienern, Werkzeuge zu holen, mit denen man den Stein entfernen kann.

Die Diener eilen fort und kommen mit Pickeln und starken Brecheisen zurück. Sie schlagen die glänzenden Spitzen der Pickel zwischen den Fels und die Grabplatte, nehmen dann statt der Pickel die Brecheisen, heben bedächtig den Stein, schieben ihn zur Seite und lehnen ihn vorsichtig an den Fels. Ein pestartiger Gestank dringt aus der dunklen Höhle und läßt alle zurückweichen.

Martha fragt leise: «Meister, willst du hinuntersteigen? Wenn ja, dann lasse ich Fackeln holen ...» Aber sie erbebt bei dem Gedanken, dies tun zu müssen.

Jesus antwortet ihr nicht. Er erhebt die Augen zum Himmel, breitet die Arme in Kreuzform aus und betet mit lauter Stimme, jedes Wort betonend: «Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast! Ich wußte ja, daß du mich immer erhörst. Aber wegen der hier Anwesenden, wegen des ringsum stehenden Volkes habe ich es gesagt, damit sie glauben an dich, an mich und daran, daß du mich gesandt hast!»

Jesus verweilt noch einige Zeit in derselben Haltung. Er scheint in Ekstase zu sein, so verklärt ist er, während er lautlos noch andere geheime Worte des Gebetes oder der Verehrung spricht, ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, daß Jesus so übermenschlich erscheint, daß einem das Herz in der Brust erzittert, wenn man ihn ansieht. Es sieht aus, als ob sein Körper sich in Licht verwandeln, vergeistigen, größer werden und über der Erde

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schweben würde. Obwohl die Farben der Haare, der Augen, der Haut und der Kleider sich nicht verändern wie bei der Verklärung auf dem Tabor, als alles zu blendendem Licht und Glanz wurde, scheint Jesus Licht auszustrahlen und selbst Licht zu werden. Das Licht scheint ihn ganz einzuhüllen, besonders das zum Himmel erhobene, gewiß durch die Schauung des Vaters verzückte Antlitz.

Jesus steht eine Weile so da, dann kommt er wieder zu sich: der Mensch, aber nun angetan mit Macht und Majestät. Er begibt sich zur Schwelle des Grabes und streckt die Arme, die er bisher in Kreuzform und mit zum Himmel gekehrten Handflächen gehalten hat, nach vorne. Die Hände sind jetzt schon in der Höhle des Grabes und heben sich hell von deren Dunkel ab. Aus den Augen Jesu sprüht bläuliches Feuer, dessen wundertätiger Schein heute, in dieser stummen Schwärze, unerträglich ist, und mit mächtiger Stimme, mit einem noch lauteren Ruf als dem, mit welchem er auf dem See dem Sturm befahl, mit einer Stimme, wie ich sie bei keinem anderen Wunder gehört habe, ruft er: «Lazarus! Komm heraus!» Die Stimme hallt als Echo aus der Grabeshöhle wider und verbreitet sich dann durch den ganzen Garten, schallt von den Hügeln Bethaniens zurück, und ich meine, sie erreicht sogar die Hänge jenseits der Felder und kehrt von dort vielstimmig und nur etwas gedämpft wieder, wie ein unwiderruflicher Befehl. Von vielen Seiten hört man das Echo: «Heraus! Heraus! Heraus!»

Alle erschauern zutiefst, und wenn auch die Neugierde sie an ihre Plätze bannt, so sind doch die Gesichter bleich, die Augen weit offen, und die Münder öffnen sich unbewußt, während aus den Kehlen Rufe des Staunens dringen.

Martha, die etwas weiter hinten seitlich steht, schaut Jesus verzückt an. Maria fällt auf die Knie, sie, die nie von der Seite ihres Meisters gewichen ist, fällt am Eingang des Grabes auf die Knie. Eine Hand preßt sie aufs Herz, um sein heftiges Schlagen zu beruhigen, mit der anderen hält sie unbewußt und krampfhaft einen Zipfel des Mantels Jesu, und man merkt, daß sie zittert, denn eine leichte Erschütterung überträgt sich von der Hand auf den Mantel.

Etwas Weißes scheint aus der dunklen Tiefe der Höhle zu kommen. Erst ist es nur eine schmale geschweifte Linie, dann wird es ein Oval, und schließlich fügen sich dem Oval breitere und längere, immer länger werdende Linien an. Und der Tote in seinen Binden kommt langsam vorwärts, immer besser erkennbar, geisterhaft, beeindruckend.

Jesus weicht zurück, weiter zurück, fast unmerklich, doch fortwährend, je weiter Lazarus herauskommt, und so bleibt die Entfernung zwischen beiden immer dieselbe.

Maria ist gezwungen, den Zipfel des Mantels loszulassen, aber sie rührt sich nicht von der Stelle. Die Freude, die Erregung, alles zusammen hält sie an ihrem Platz fest.

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Ein immer deutlicheres «Oh!» dringt aus den zuvor in gespannter Erwartung wie zugeschnürten Kehlen, und aus dem kaum hörbaren Flüstern werden laute Stimmen, aus den Stimmen mächtige Schreie.

Lazarus hat nun die Schwelle erreicht und bleibt dort stehen, steif und stumm wie eine Gipsstatue, die eben aus der Form kommt... Ein unförmiges, langes Etwas, am Kopf und an den Beinen dünn, am Rumpf etwas breiter, grausig wie der Tod selbst, geisterhaft in den weißen Tüchern vor dem dunklen Hintergrund des Grabes. Im Licht der Sonne scheinen die Bandagen da und dort schon von Fäulnis durchtränkt.

Jesus ruft laut:«Befreit ihn von den Binden und laßt ihn gehen. Gebt ihm Kleider und zu essen!»

«Meister... !» sagt Martha, und sie würde vielleicht mehr sagen, aber Jesus sieht sie fest an, unterwirft sie mit seinem flammenden Blick und spricht: «Hier! Sofort! Bringt ein Gewand! Kleidet ihn in Gegenwart aller an und gebt ihm dann zu essen!» Jesus befiehlt und beachtet die neben und hinter ihm Stehenden nicht. Er blickt nur auf Lazarus, auf Maria, die neben dem Auferstandenen steht und sich nicht um den Ekel kümmert, den die fleckigen Binden bei allen hervorrufen, und auf Martha, die keucht, als ob ihr das Herz zerspringen wollte, und nicht weiß, ob sie vor Freude schreien oder weinen soll...

Die Diener beeilen sich, die Befehle Jesu auszuführen. Noemi eilt als erste fort und kommt auch als erste zurück mit den über den Arm geworfenen Gewändern. Einige lösen die Enden der Bandagen, nachdem sie sich die Ärmel aufgekrempelt und die Gewänder geschürzt haben, damit sie nicht mit der durchsickernden Fäulnis in Berührung kommen. Marcella und Sara kommen mit Gefäßen voll wohlriechender Salben. Diener folgen ihnen mit dampfend heißem Wasser in Becken und Krügen, Bechern mit Milch und Wein, mit Obst und Honigkuchen.

Die schmalen, sehr langen Binden, mir scheint aus Linnen, mit Borten an beiden Seiten und sicher eigens für diesen Gebrauch gewoben, werden wie Bänder von einer großen Spule abgerollt und fallen schwer zu Boden, da sie von Essenzen und Fäulnis durchtränkt sind. Die Diener schieben sie mit Stöcken beiseite. Sie haben am Kopf begonnen, und auch dort ist Fäulnis, die wohl aus Nase, Ohren und Mund kommt. Das über das Gesicht gebreitete Schweißtuch ist naß von diesem Ausfluß, und das Antlitz des Lazarus, mit der Salbe auf den geschlossenen Augen, mit den verklebten Haaren und dem spärlichen Bärtchen am Kinn ist ganz und gar nicht schön. Langsam fällt das Leichentuch, das Grabtuch, das um den Körper gewickelt war, so wie auch die Binden immer weiter fallen, allmählich den seit Tagen eng umwundenen Rumpf freigeben und dem, was bisher einer großen Larve ähnlich war, wieder menschliche Gestalt verleihen. Die knochigen Schultern, die zum Skelett abgemagerten Arme, die kaum von Haut bedeckten Hüften und der eingefallene Leib kommen nach und nach

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zum Vorschein. Und so wie die Binden fallen, bemühen sich die Schwestern, Maximinus und die Diener, die dicke Schicht von Fäulnis und Salben zu entfernen. Und sie tun es so lange, mit immer wieder erneuertem Wasser, dessen reinigende Wirkung man durch hinzugefügte Essenzen verstärkt hat, bis die Haut vollkommen sauber ist.

Kaum ist sein Gesicht ausgewickelt und gereinigt, so daß er sehen kann, und noch bevor er die Schwestern ansieht, richtet Lazarus mit einem Lächeln der Liebe auf den blassen Lippen und einem feuchten Schimmer in den tiefliegenden Augen seinen Blick auf Jesus. Alles andere, was um ihn herum vorgeht, übersieht er und beachtet es nicht. Auch Jesus lächelt ihm zu, und Tränen glänzen in seinen Augen. Dann weist er wortlos zum Himmel, und Lazarus begreift und bewegt die Lippen in lautlosem Gebet.

Martha glaubt, daß Lazarus etwas sagen will, aber noch nicht dazu fähig ist, und fragt: «Was willst du mir sagen, mein Lazarus ?»

«Nichts, Martha. Ich habe dem Allerhöchsten gedankt.» Seine Stimme ist klar und kräftig.

Das Volk stößt wieder ein erstauntes «Oh!» aus.

Nun haben sie Lazarus bis zu den Hüften ausgewickelt und gereinigt. Sie können ihm eine kurze Tunika überwerfen, eine Art Hemd, das über die Leisten hinabreicht und die Schenkel noch teilweise bedeckt.

Sie fordern ihn auf, sich zu setzen, um ihm die Beine auswickeln und waschen zu können. Als diese sichtbar werden, schreien Martha und Maria gleichzeitig auf und zeigen auf die Beine und die Binden. Auf den um die Beine gewickelten Binden und dem Linnen darunter sind die Absonderungen der Fäulnis so reichlich, daß sie kleine Rinnsale auf dem Stoff bilden, während die Beine vollkommen vernarbt zu sein scheinen. Nur die blaßroten Narben erinnern noch an die Geschwüre.

Alle Anwesenden schreien nun noch lauter vor Staunen. Jesus lächelt, und auch Lazarus, der einen Augenblick seine geheilten Beine betrachtet und sich dann wieder abwendet und Jesus ansieht, lächelt. Es scheint, als könne Lazarus sich nicht sattsehen an ihm. Die Juden, Pharisäer, Sadduzäer, Schriftgelehrten und Rabbis treten vor, aber sehr vorsichtig, um ihre Gewänder nicht zu verunreinigen. Sie betrachten Lazarus und auch Jesus aus allernächster Nähe. Doch weder Lazarus noch Jesus kümmern sich um sie. Sie blicken einander an, und alles andere ist bedeutungslos.

Nun legt man Lazarus die Sandalen an. Er steht gewandt und sicher auf, nimmt das Gewand, das Martha ihm reicht, wirft es sich selbst über, befestigt den Gürtel und ordnet die Falten. Da steht er, mager und bleich, doch ein Mensch wie alle anderen. Er wäscht sich nochmals die Hände und die Arme bis zu den Ellenbogen, nachdem er die Ärmel zurückgeschlagen hat. Dann, mit frischem Wasser, erneut das Gesicht und den Kopf, bis er sich ganz sauber fühlt. Er trocknet das Haar und das Gesicht,

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gibt dem Diener das Handtuch zurück und geht geradewegs zu Jesus, um sich vor ihm niederzuwerfen und ihm die Füße zu küssen.

Jesus neigt sich zu ihm, richtet ihn auf, drückt ihn an sein Herz und sagt: «Willkommen, mein Freund! Der Friede und die Freude seien mit dir. Du sollst leben, und dein glückliches Los soll sich erfüllen. Erhebe dein Antlitz, damit ich dir den Willkommenskuß geben kann.» Und er küßt Lazarus auf die Wangen und Lazarus küßt ihn.

Erst nachdem Lazarus den Meister verehrt und geküßt hat, spricht er mit den Schwestern und küßt auch sie. Dann küßt er Maximinus und Noemi, die vor Freude weinen, und einige von denen, die ich für Verwandte oder intime Freunde halte. Schließlich küßt er auch Joseph, Nikodemus, Simon den Zeloten und noch einige mehr.

Jesus geht persönlich zu einem Diener, der ein Tablett mit Speisen auf den Armen hält, und nimmt einen Honigkuchen, einen Apfel und einen Becher Wein, die er, nachdem er sie aufgeopfert und gesegnet hat, Lazarus anbietet, damit er sich stärken kann. Und Lazarus ißt mit dem gesunden Appetit eines Menschen, der sich wohlfühlt. Alle stoßen wiederum ein überraschtes «Oh!» aus.

Es scheint, als ob Jesus nur Lazarus sähe, doch in Wirklichkeit beobachtet er alles und alle. Und als er sieht, daß Sadok, Elchias, Chananias, Felix, Doras, Cornelius und andere Miene machen, sich mit zornigen Gebärden zu entfernen, sagt er laut: «Warte einen Augenblick, Sadok! Ich muß dir etwas sagen. Dir und Deinesgleichen!»

Sie bleiben stehen und machen Gesichter wie ertappte Verbrecher.

Joseph von Arimathäa ist sichtlich bestürzt und gibt dem Zeloten ein Zeichen, Jesus zurückzuhalten. Aber er geht schon auf die haßerfüllte Gruppe zu und sagt ebenso laut: «Genügt dir, was du gesehen hast, Sadok? Eines Tages hast du mir gesagt, um an mich glauben zu können, müßtest du – du und Deinesgleichen – sehen, wie ein schon verwester Toter wieder ganz und gesund wird. Hast du genug Verwesung gesehen? Bist du imstande zu bekennen, daß Lazarus tot war und nun lebendig ist, so lebendig und gesund, wie er es seit Jahren nicht mehr gewesen ist? Ich weiß, ihr seid gekommen, um diese hier zu versuchen und ihnen noch größeren Schmerz zu bereiten, ihre Zweifel noch zu verstärken. Ihr seid gekommen in der Hoffnung, mich im Zimmer des Sterbenden versteckt zu finden. Ihr seid gekommen, nicht aus dem Gefühl der Liebe und dem Wunsch, den Verstorbenen zu ehren, sondern um euch zu vergewissern, daß Lazarus wirklich tot war. Und ihr seid immer wieder gekommen und habt immer mehr gejubelt, je mehr Zeit vergangen ist. Wenn es so gegangen wäre, wie ihr es euch erhofft habt, wie ihr nun glaubtet, daß es gehen würde, dann hättet ihr allen Grund zum Jubeln gehabt. Der Freund, der alle heilt, aber seinen Freund nicht heilt. Der Meister, der jegliches Vertrauen belohnt, aber nicht das seiner Freunde in Bethanien. Der Meister,

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dessen Ohnmacht sich vor der Wirklichkeit des Todes offenbart. Das war es, worüber ihr gejubelt habt. Aber nun hat Gott euch geantwortet. Kein Prophet konnte je auferwecken, was nicht nur tot, sondern schon verwest war. Gott hat es getan. Hier ist das lebendige Zeugnis dafür, wer ich bin. Es gab einen Tag, da Gott Lehm nahm, einen Leib formte und ihm den Lebensodem einhauchte, und der Mensch war erschaffen. Und ich habe damals gesagt: "Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis." Denn ich bin das Wort des Vaters. Heute habe ich, das Wort, zu dem, was noch weniger war als Lehm, was Verwesung war, gesagt: "Lebe!" und die Verwesung wurde wieder zu Fleisch, zu gesundem Fleisch, das lebt und pulsiert. Und es sieht euch an. Und dem Fleisch habe ich den Geist zurückgegeben, der schon seit Tagen in Abrahams Schoß ruhte. Ich habe ihn zurückgerufen durch meinen Willen. Denn ich vermag alles. Ich, der Lebendige, der König der Könige, dem alle Geschöpfe und Dinge unterworfen sind. Was habt ihr mir nun zu sagen?»

Jesus steht vor ihnen, hochgewachsen, in strahlender Majestät, wahrhaft Richter und Gott. Sie antworten nicht.

Jesus fährt fort: «Genügt euch das noch nicht, um zu glauben und das Unleugbare anzunehmen?»

«Du hast nur einen Teil deines Versprechens gehalten. Dies ist nicht das Zeichen des Jonas...» sagt Sadok herb.

«Ihr werdet auch dieses bekommen. Ich habe es versprochen und werde es halten», sagt der Herr. «Und auch ein anderer, der hier anwesend ist und auf ein Zeichen wartet, wird es erhalten. Und da er ein Gerechter ist, wird er es anerkennen. Ihr nicht. Ihr werdet immer bleiben, was ihr seid.»

Jesus dreht sich halb um und sieht den Synedristen Simon, den Sohn des Heli-Anna an. Er schaut ihm fest, sehr fest in die Augen, kehrt den vorigen den Rücken, und als sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, sagt er mit leiser, aber schneidender Stimme: «Dein Glück, daß Lazarus keine Erinnerung an seinen Aufenthalt unter den Toten hat! Was hast du mit deinem Vater gemacht, du Kain?»

Simon flicht mit einem Angstschrei, der dann in einem Fluch endet: «Sei verflucht, du Nazarener!» worauf Jesus antwortet: «Dein Fluch steigt zum Himmel, und vom Himmel des Allerhöchsten fällt er auf dich zurück. Du bist mit dem Mal gezeichnet, Unseliger!»

Jesus kehrt zu den verblüfften, beinahe erschrockenen Gruppen zurück und begegnet Gamaliel, der sich gerade zur Straße begibt. Er sieht ihn an und Gamaliel ihn. Ohne stehenzubleiben sagt Jesus: «Halte dich bereit, Rabbi. Das Zeichen wird bald erscheinen. Ich lüge nie.»

Der Garten leert sich langsam. Die Juden können es noch immer nicht fassen, doch die meisten glühen vor Zorn. Wenn ihre Blicke töten könnten, wäre Jesus längst tot. Sie reden und diskutieren im Fortgehen miteinander und sind so sehr durch die erlittene Niederlage verwirrt, daß sie

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es nicht mehr fertigbringen, den Zweck ihrer Anwesenheit hier hinter einer Maske der Freundschaft zu verbergen. Sie gehen, ohne Lazarus und die Schwestern zu grüßen.

Einige, die der Herr durch sein Wunder für sich gewonnen hat, bleiben noch da. Unter diesen ist Joseph Barnabas, der sich vor Jesus niederwirft und ihm huldigt. Dasselbe tut der Schriftgelehrte Joel, der Sohn des Abija, bevor er seines Weges geht. Und noch andere, die ich nicht kenne, die aber einflußreiche Persönlichkeiten sein müssen.

Lazarus hat sich inzwischen, von seinen intimsten Freunden umringt, ins Haus zurückgezogen. Joseph, Nikodemus und die anderen Guten verabschieden sich von Jesus und gehen. Mit tiefen Verbeugungen verabschieden sich die Juden, die Martha und Maria beigestanden haben. Die Diener schließen das Tor. Im Haus herrscht wieder Friede.

Jesus schaut um sich. Er sieht Feuerschein und Rauch am Rand des Gartens, dort, wo das Grab liegt. Allein auf einem Weg zurückgeblieben, sagt er: «Die Fäulnis, die vom Feuer vernichtet wird... die Fäulnis des Todes... Aber jene der Herzen... dieser Herzen, kann kein Feuer vernichten... Nicht einmal das Feuer der Hölle. Sie wird ewig währen... Welch ein Greuel... ! Schlimmer als der Tod... Schlimmer als die Verwesung... Und... Aber wer wird dich retten, o Menschheit, wenn du es so sehr liebst, verdorben zu sein? Du willst verdorben sein. Und ich... Ich habe mit einem Wort einen Menschen dem Grab entrissen... Und mit unzähligen Worten... mit einem Meer von Schmerzen kann ich den Menschen, die Menschen, Millionen Menschen, nicht der Sünde entreißen.» Jesus setzt sich und bedeckt sein Gesicht mit den Händen; er ist zutiefst betrübt...

Ein vorübergehender Diener sieht ihn. Er eilt ins Haus, und kurz darauf kommt Maria heraus. Sie geht zu Jesus mit lautlosen Schritten, als ob sie den Erdboden nicht berühre, nähert sich ihm und sagt leise: «Rabbuni, du bist müde... Komm, mein Herr! Deine müden Apostel sind in das andere Haus gegangen, mit Ausnahme von Simon dem Zeloten. Du weinst, Meister? Warum... ?»

Sie kniet zu Füßen Jesu nieder... und beobachtet ihn... Jesus schaut sie an. Er antwortet nicht, steht auf und geht, von Maria gefolgt, ins Haus.

Sie betreten einen Saal. Weder Lazarus noch der Zelote sind da. Doch Martha ist da, glücklich und vor Freude strahlend. Sie wendet sich Jesus zu und erklärt: «Lazarus nimmt ein Bad, um sich nochmals zu reinigen. Oh, Meister! Meister! Was soll ich sagen!» Sie betet ihn an mit ihrem ganzen Wesen. Dann bemerkt sie die Traurigkeit Jesu und sagt: «Du bist traurig, Herr? Bist du nicht glücklich, daß Lazarus ...» Dann kommt ihr der Gedanke: «Oh, du bist meinetwegen so ernst! Ich habe gesündigt. Es ist wahr.»

«Wir haben gesündigt, Schwester», sagt Maria.

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«Nein, du nicht! Oh, Meister... Maria hat nicht gesündigt. Maria hat zu gehorchen verstanden. Ich allein bin ungehorsam gewesen. Ich habe den Knecht gesandt, um dich rufen zu lassen, denn... denn ich konnte es nicht mehr mitanhören, wie sie behaupteten, daß du nicht der Messias seiest, der Herr... Und ich konnte dieses Leid nicht länger mitansehen ... Lazarus hat so sehr nach dir verlangt. Er hat so oft nach dir gerufen ... Verzeih mir, Herr.»

«Und du, Maria, sagst nichts?» fragt Jesus.

«Meister... ich ... Ich habe nur als Frau gelitten. Ich habe gelitten, weil... Martha schwöre, schwöre hier vor dem Meister, daß du nie, niemals mit Lazarus über sein Delirium sprechen wirst... Mein Meister... In den letzten Stunden des Lazarus habe ich dich in deiner ganzen Größe erkannt, o göttliche Barmherzigkeit. Oh, mein Gott! Wie sehr hast du mich geliebt, du, der du mir vergeben hast, du, Gott, du, der Reine, du... wenn mein Bruder, der mich doch auch liebt, der aber ein Mensch, nur ein Mensch ist, mir im Grund seines Herzens nicht alles verziehen hat?! Nein, ich drücke mich schlecht aus. Meine Vergangenheit hat er nicht vergessen... Und als die Schwäche des Todes seine Güte, die ich für das Vergessen der Vergangenheit hielt, überwältigt hatte, schrie er seinen Schmerz und seine Verachtung für mich hinaus... Oh! ...» Maria weint.

«Weine nicht, Maria. Gott hat dir verziehen und hat vergessen. Die Seele des Lazarus hat auch verziehen und vergessen, wollte vergessen. Der Mensch konnte nicht alles vergessen. Und als das Fleisch in seinem letzten Aufbäumen den geschwächten Willen überwältigte, hat der Mensch gesprochen.»

«Ich bin ihm deshalb nicht böse, Herr. Es hat mir geholfen, dich noch mehr zu lieben und auch Lazarus noch mehr zu lieben. Von diesem Augenblick an aber habe auch ich nach dir verlangt... denn die Angst, Lazarus würde meinetwegen nicht in Frieden sterben, war zu groß... Und danach, danach, als ich sah, daß die Juden über dich spotteten... als ich sah, daß du nicht einmal nach seinem Tod kamst, nicht einmal nachdem ich dir gehorcht und gehofft hatte über alle Hoffnung hinaus, nachdem ich gehofft hatte, bis das Grab geöffnet wurde, um ihn aufzunehmen, da hat auch mein Geist gelitten. Herr, wenn ich zu sühnen hatte, und gewiß hatte ich dies, so habe ich gesühnt, Herr...»

«Arme Maria. Ich kenne dein Herz. Du hast das Wunder verdient, und dies möge dich im Glauben und in der Hoffnung festigen.»

«Mein Meister, ich werde nun immer glauben und hoffen. Ich werde nie mehr zweifeln, nie mehr, Herr. Ich werde im Glauben leben. Du hast mir die Fähigkeit gegeben, das Unglaubliche zu glauben.»

«Und du, Martha? Hast auch du es gelernt ... ? Nein, noch nicht. Du bist meine Martha, aber noch nicht meine vollkommene Anbeterin. Warum handelst du nur und betrachtest nicht? Das Betrachten ist heiliger.

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Siehst du? Deine Kraft, die sich zu sehr den irdischen Dingen zuwendet, hat dich im Stich gelassen angesichts der irdischen Tatsachen, für die es manchmal keine Hilfe zu geben scheint. Für die irdischen Probleme gibt es tatsächlich keine Hilfe, wenn Gott nicht eingreift. Das Geschöpf muß deshalb zu glauben und zu betrachten wissen. Es muß bis zum äußersten mit allen seinen menschlichen Kräften, mit den Gedanken, der Seele, dem Fleisch und dem Blut, zu lieben wissen. Ich wiederhole, mit allen Kräften, deren der Mensch fähig ist. Ich will dich stark, Martha. Ich will dich vollkommen. Du konntest nicht gehorchen, weil du es nicht verstanden hast, vollkommen zu glauben und zu hoffen; und du konntest nicht glauben und hoffen, weil du nicht vollkommen lieben konntest. Aber ich verzeihe dir. Ich spreche dich los, Martha. Ich habe heute Lazarus auferweckt. Nun gebe ich dir ein stärkeres Herz. Ihm habe ich das Leben wiedergegeben. Dir flöße ich die Kraft ein, in vollkommener Weise zu lieben, zu glauben und zu hoffen. Seid nun glücklich und im Frieden. Verzeiht allen, die euch in diesen Tagen gekränkt haben...

«Ja, Herr, hierin habe ich gefehlt. Vor kurzem sagte ich zu dem alten Chananias, der dich in den letzten Tagen verspottet hatte: "Wer hat nun gesiegt? Du oder Gott? Dein Spott oder mein Glaube? Christus ist der Lebendige und die Wahrheit. Ich wußte, daß seine Herrlichkeit noch wunderbarer erstrahlen würde. Und du, Alter, bessere und erneuere deine Seele, wenn du nicht den Tod kennenlernen willst."»

«Das hast du gut gesagt. Aber laß dich nicht mit den Bösewichtern ein, Maria. Verzeih, wenn du mich nachahmen willst... Da kommt Lazarus. Ich höre seine Stimme.»

In der Tat kommt Lazarus herein, in neuen Kleidern und die Wangen glatt rasiert, die Haare geordnet und duftend. Bei ihm sind Maximinus und der Zelote. «Meister!» Lazarus kniet wiederum in anbetender Haltung nieder.

Jesus legt ihm die Hand aufs Haupt und sagt lächelnd: «Die Prüfung ist bestanden, mein Freund. Für dich und die Schwestern. Seid nun glücklich und stark im Dienst des Herrn. An was erinnerst du dich von der Vergangenheit, mein Freund? Ich meine deine letzten Stunden...»

«Ich hatte großes Verlangen, dich zu sehen, und fand großen Frieden in der Liebe der Schwestern.»

«Und was hast du am meisten bedauert, auf Erden zurücklassen zu müssen?»

«Dich, Herr, und die Schwestern. Dich, weil ich dir nicht mehr dienen konnte, und sie, weil sie mir alles Glück geschenkt haben.»

«Oh, ich, Bruder!» seufzt Maria.

«Du mehr als Martha. Du hast mir Jesus geschenkt und den Maßstab für das, was Jesus ist. Und Jesus hat mir dich gegeben. Du bist ein Geschenk Gottes, Maria.»

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«Das hast du auch im Sterben gesagt...» sagt Maria und betrachtet prüfend das Gesicht des Bruders.

«Es ist mein steter Gedanke!»

«Aber ich habe dir so viel Schmerz bereitet...»

«Auch die Krankheit hat Schmerzen bereitet. Doch dadurch hoffe ich, die Sünden des alten Lazarus gesühnt zu haben und zu einem neuen Leben, gereinigt und Gottes würdig, erstanden zu sein. Du und ich: die beiden, die auferstanden sind, um dem Herrn zu dienen... Und zwischen uns Martha, sie, die immer der Friede des Hauses gewesen ist.»

«Hörst du, Maria? Lazarus spricht Worte der Weisheit und der Wahrheit. Nun will ich mich zurückziehen und euch eurer Freude überlassen...»

«Nein, Herr" du bleibst bei uns. Hier. Bleibe in Bethanien und in meinem Haus. Es wird schön sein ...»

«Ich werde bleiben. Ich will dich für alles entschädigen, was du gelitten hast. Martha, sei nicht traurig. Martha glaubt, sie hätte mich betrübt. Aber ich leide nicht euretwegen, sondern vielmehr deretwegen, die sich nicht bekehren wollen. Sie hassen immer mehr. Sie haben Gift im Herzen... Nun... wir wollen ihnen verzeihen.»

«Wir wollen ihnen verzeihen, Herr», sagt Lazarus mit seinem sanften Lächeln... und mit diesen Worten ist alles zu Ende.

Jesus sagt: «Im Johannesevangelium, so wie man es jetzt seit Jahrhunderten liest, steht: "Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen" (Joh 11,30). Um möglichen Einwänden zuvorzukommen, möchte ich bemerken, daß zwischen diesem Satz und dem des vorliegenden Werkes, in dem es heißt, daß ich Martha wenige Schritte vorn Wasserbecken im Garten des Lazarus entfernt traf, kein wirklicher Widerspruch besteht, sondern lediglich Übersetzung und Beschreibung unterschiedlich sind.

Bethanien gehörte zu drei Vierteln Lazarus, ebenso wie ein großer Teil Jerusalems ihm gehörte. Aber sprechen wir von Bethanien. Da es ihm zu drei Vierteln gehörte, konnte man sagen: Bethanien des Lazarus. Daher wäre der Text auch nicht falsch, selbst wenn ich Martha im Ort oder am Brunnen getroffen hätte, wie einige sagen wollen. Aber ich hatte tatsächlich das Dorf nicht betreten, um zu vermeiden, daß die Bewohner herbeieilen, die dem Synedrium alle feindlich gesinnt waren. Ich war hinten um das Dorf herumgegangen zum Haus des Lazarus, das genau am entgegengesetzten Ende liegt, wenn man von Ensemes nach Bethanien kommt.

Und deshalb sagt Johannes, daß Jesus den Ort noch nicht betreten hatte. Ebenso richtig sagt der kleine Johannes, daß ich am Wasserbecken stehengeblieben war (dem Brunnen für die Hebräer), das schon im Garten des Lazarus liegt, aber noch sehr weit entfernt vom Haus.

Ferner ist zu bedenken, daß die Schwestern während der Zeit der Trauer und der Unreinheit (der siebte Tag nach dem Tod war noch nicht gekommen) das Haus nicht verließen. Daher fand die Begegnung im Bereich ihres Besitzes statt.

Beachtet auch, daß der kleine Johannes berichtet, die Bewohner von Bethanien seien erst in den Garten gekommen, als ich schon anordnete, den Stein zu entfernen. Zuvor wußte man also in Bethanien nicht, daß ich dort war, und erst als die Nachricht sich verbreitete, kamen sie zu Lazarus.»

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603. GEDANKEN ÜBER DIE AUFERWECKUNG DES LAZARUS

Jesus sagt:

«Ich hätte rechtzeitig eingreifen können, um den Tod des Lazarus zu verhindern. Aber ich wollte es nicht. Ich wußte, daß diese Auferweckung ein zweischneidiges Schwert sein würde; daß die rechtschaffenen Juden sich bekehren und die Böswilligen noch verstockter werden würden; daß letztere mich wegen dieses endgültigen Beweises meiner Macht zum Tod verurteilen würden. Aber dazu war ich gekommen, und die Zeit war reif, daß sich alles erfüllte. Ich hätte auch sofort nach dem Tod kommen können. Doch ich wollte mit der Auferweckung eines schon weitgehend verwesten Leichnams auch die hartnäckigsten Ungläubigen überzeugen. Schließlich brauchten auch meine Apostel, die dazu bestimmt waren, meinen Glauben in die Welt zu tragen, einen Glauben, der durch Wunder dieser Größenordnung gefestigt war.

In den Aposteln war so viel Menschliches, wie ich schon gesagt habe. Es war dies kein unüberwindliches Hindernis, sondern eine logische Folge ihrer Berufung im reifen Mannesalter. Man kann einen Charakter, eine Mentalität nicht von heute auf morgen ändern. Andererseits wollte ich in meiner Weisheit nicht Kinder erwählen und erziehen und sie in meinem Geist aufwachsen lassen, um dann aus ihnen meine Apostel zu machen. Ich hätte es tun können. Ich wollte es nicht tun, denn dann hätte man mir vorgeworfen, jene zu verachten, die nicht unschuldig sind, und hätte als Vorwand und Entschuldigung gebraucht, daß ich selbst durch meine Wahl zu erkennen gegeben habe, daß ein Erwachsener nicht mehr zu ändern ist.

Nein, alles kann man ändern, wenn man nur will. Und ich habe in der Tat aus Kleinmütigen, Zornmütigen, Wucherern, Lasterhaften und Ungläubigen Märtyrer und Heilige, Verkünder des Evangeliums, gemacht. Nur wer nicht will, ändert sich nicht. Ich habe geliebt und liebe immer noch die Kleinen und die Schwachen – du bist ein Beispiel dafür – vorausgesetzt, daß sie den Willen haben, mich zu lieben und mir zu folgen. Aus diesen "Nichts" mache ich meine Bevorzugten, meine Freunde und meine Vertreter. Immer noch bediene ich mich ihrer, und es ist ein fortwährendes Wunder, das ich wirke, um dadurch die anderen dazu zu bringen, an mich zu glauben und die Möglichkeit des Wunders nicht auszuschließen. Wie wird doch heute diese Möglichkeit so wenig in Betracht gezogen! Gleich der Lampe, der es an Öl fehlt, wird sie schwach und erlischt, da der Glaube an den Gott des Wunders schwach oder gar nicht vorhanden ist.

Es gibt zwei Arten, ein Wunder zu verlangen. In einem Fall gewährt es Gott mit Liebe, im anderen kehrt er unwillig den Rücken. Im ersten Fall bittet man, wie ich zu bitten gelehrt habe, unermüdlich und vertrauensvoll.

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Man wird nie zugeben, daß Gott einen nicht erhören könnte, da Gott gut ist und die Guten erhört, denn Gott ist mächtig und vermag alles. Dies ist Liebe, und Gott gewährt dem alles, der liebt. Der andere Fall ist die Anmaßung der Rebellen, die fordern, daß Gott ihnen dient, sich zu ihren Bosheiten herabläßt und ihnen gibt, was sie selbst ihm verweigern: Liebe und Gehorsam. Diese Art ist eine Beleidigung, die Gott mit dem Entzug seiner Gnade bestraft.

Ihr beklagt euch, daß ich keine Massenwunder mehr wirke. Wie könnte ich sie wirken? Wo sind die Massen, die an mich glauben? Wo die wahren Gläubigen? Wie viele wahre Gläubige gibt es in einer Menschenmenge? Wie einige überlebende Blumen in einem vom Feuer zerstörten Wald, sehe ich ab und zu eine gläubige Seele. Alle anderen hat Satan mit seinen Lehren verbrannt. Und immer mehr wird er verbrennen.

Ich bitte euch, als übernatürlichen Leitsatz meine Antwort an Thomas zu betrachten. Man kann nicht mein wahrer Jünger sein, wenn man dem menschlichen Leben nicht den Wert beimißt, den es verdient; es ist kein Endzweck in sich selbst, sondern ein Mittel, um das wahre Leben zu erwerben. Wer sein Leben in dieser Welt retten will, wird das ewige Leben verlieren. Ich habe dies bereits gesagt, und ich wiederhole es. Was sind Prüfungen? Wolken, die vorüberziehen. Der Himmel bleibt und erwartet euch nach der Prüfung.

Ich habe durch meinen Heroismus für euch den Himmel erobert. Ihr müßt mich nachahmen. Der Heroismus ist nicht nur jenen vorbehalten, die ein Martyrium erleiden müssen. Das christliche Leben ist fortwährender Heroismus, denn es ist ein ständiger Kampf gegen die Welt, den Dämon und das Fleisch. Ich zwinge euch nicht, mir zu folgen. Ich lasse euch die Freiheit. Aber Scheinheilige will ich nicht. Entweder mit mir und wie ich oder gegen mich. Ihr könnt mich nicht betrügen. Ja, mich könnt ihr nicht betrügen. Und ich beteilige mich nicht an den Bündnissen mit dem Feind. Wenn ihr ihn mir vorzieht, dann dürft ihr nicht glauben, daß ihr mich gleichzeitig zum Freund habt. Entweder er oder ich. Wählt.

Der Schmerz Marthas ist anders als der Marias, wegen der unterschiedlichen Psyche und dem dadurch unterschiedlichen Verhalten der beiden. Glücklich jene, die so leben, daß sie nie bereuen müssen, jemanden betrübt zu haben, der nun tot ist und den man nicht mehr trösten kann in seinem Schmerz. Aber noch glücklicher jene, die sich nicht anklagen müssen, ihren Gott, mich, Jesus, betrübt zu haben, und sich vor der Begegnung mit mir nicht fürchten, sondern danach verlangen als nach einer das ganze Leben ungeduldig erwarteten und endlich erreichten Freude.

Ich bin euer Vater, Bruder und Freund. Warum verletzt ihr mich so oft? Wißt ihr denn, wieviel Zeit zu leben euch noch bleibt? Zu leben, um wiedergutzumachen? Ihr wißt es nicht. Daher handelt recht, Stunde um Stunde, Tag für Tag, immer. So macht ihr mich immer glücklich. Und

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wenn euch Leid trifft – denn der Schmerz ist Heiligung, ist die Myrrhe, die vor der Verwesung der Fleischlichkeit bewahrt – werdet ihr immer die Gewißheit haben, daß ich euch liebe, daß ich euch auch in dieser leidvollen Stunde liebe, und ihr werdet auch den Frieden haben, der aus meiner Liebe kommt. Du, kleiner Johannes, weißt, daß ich auch im größten Leid tröste.

In meinem Gebet zum Vater habe ich wiederholt, was ich am Anfang gesagt habe: Es war nötig, durch ein großes Wunder die Gleichgültigkeit der Juden und der ganzen Welt zu erschüttern. Und die Auferweckung eines seit vier Tagen begrabenen Menschen, der nach einer langen, chronischen, abstoßenden und bekannten Krankheit ins Grab gelegt worden war, konnte niemanden gleichgültig lassen und mußte alle Zweifel beseitigen. Hätte ich ihn geheilt, solange er noch lebte, oder ihm den Geist sofort nach seinem Tod zurückgegeben, hätte die Voreingenommenheit der Feinde Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Wunders aufkommen lassen können. Aber der Gestank der Leiche, die durch die Verbände gesickerte Fäulnis und das lange Verweilen im Grab ließen keine Zweifel zu. Zudem wollte ich – ein Wunder innerhalb des Wunders – daß Lazarus in Gegenwart aller von den Binden befreit und gesäubert würde, damit alle sehen, daß nicht nur das Leben, sondern auch die Gesundheit in die zuvor von Geschwüren bedeckten Glieder zurückgekehrt war, die das Blut mit Keimen des Todes verseucht hatten. Wenn ich Gnade schenke, schenke ich immer mehr, als ihr erbeten habt.

Ich habe am Grab des Lazarus geweint. Und diesen Tränen hat man viele Namen gegeben. Ihr müßt wissen, daß man Gnaden erhält, wenn man sein Leid mit einem festen Glauben an den Ewigen verbindet. Ich habe nicht so sehr über den Verlust des Freundes oder über den Schmerz der Schwestern geweint, als vielmehr, weil sich mir in jener Stunde lebhafter denn je drei Gedanken aufdrängten – wie ein aufgewirbelter Bodensatz der Seele – die schon immer wie drei Nägel ihre Spitzen in mein Herz gebohrt hatten.

Die Erkenntnis, welches Verderben Satan über den Menschen gebracht hat durch die Verführung zum Bösen. Ein Verderben, dessen irdische Strafe der Schmerz und der Tod ist. Der leibliche Tod, Sinnbild und Metapher des geistigen Todes, in den die Schuld die Seele führt; des geistigen Todes, der sie, die Königin, deren Bestimmung es ist, im Reich des Lichtes zu leben, in die Finsternis der Hölle stürzt.

Ferner die Gewißheit, daß nicht einmal dieses Wunder, sozusagen die Krönung der drei Jahre öffentlichen Wirkens, die jüdische Welt von der Wahrheit, deren Überbringer ich war, überzeugen würde. Und daß es kein Wunder gab, das die kommende Welt sicher zu Christus bekehren würde. Oh, welch ein Schmerz, so bald sterben zu müssen für so wenige!

Endlich die innere Schau meines bevorstehenden Todes. Ich war Gott.

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Aber ich war auch Mensch. Und um Erlöser zu werden, mußte ich die Last der Sühne fühlen. Daher auch den Schrecken des Todes, eines solchen Todes. Ich war lebendig und gesund und sagte mir: "Bald werde ich tot sein und wie Lazarus in einem Grab liegen. Bald wird der furchtbarste Todeskampf mein Gefährte sein. Ich muß sterben." Die Güte Gottes erspart euch das Wissen um die Zukunft. Doch mir ist es nicht erspart geblieben.

Oh, glaubt es, ihr, die ihr euch über euer Schicksal beklagt. Kein Los war trauriger als das meine, denn ich wußte immer im voraus, was mir geschehen würde, und mußte dies ertragen zusammen mit der Armut, den Entbehrungen und der Bitterkeit, die mich von der Geburt bis zum Tod begleiteten. Beklagt euch also nicht. Vertraut auf mich. Ich gebe euch meinen Frieden.»

604. IN DER STADT JERUSALEM UND IM TEMPEL NACH DER AUFERSTEHUNG DES LAZARUS

Hatte die Nachricht vom Tod des Lazarus Jerusalem und einen großen Teil Judäas bewegt und erschüttert, so hat nun die Kunde von seiner Auferstehung auch alle jene erschüttert und beeindruckt, die die Nachricht von seinem Tod gleichgültig aufgenommen haben.

Vielleicht haben die wenigen Pharisäer und Schriftgelehrten, d.h. die Synedristen, die bei der Auferstehung anwesend waren, dem Volk nichts erzählt. Ganz gewiß aber haben die Juden darüber gesprochen, und die Nachricht hat sich blitzartig verbreitet. Von Haus zu Haus, von Terrasse zu Terrasse haben es die Frauen einander mitgeteilt, während die Armen unten es unter großem Jubel über den Sieg des Christus und über Lazarus verkünden. Die Straßen sind wieder von Menschen bevölkert, die da- und dorthin eilen im Glauben, als erste die Nachricht zu überbringen, und dann enttäuscht sind, weil man sowohl in Ophel wie in Bezetha, auf dem Sion wie am Xystos schon davon erfahren hat. Man weiß es in den Synagogen und in den Geschäften, im Tempel und im Palast des Herodes. Man weiß es auch in der Burg Antonia, und von der Antonia, oder umgekehrt, gelangt die Nachricht zu den Wachtposten an den Toren. Sie erfüllt die Paläste wie die elenden Hütten: «Der Rabbi von Nazareth hat Lazarus von Bethanien auferweckt, der am Vorabend des Freitags gestorben und vor dem Beginn des Sabbats ins Grab gelegt worden war. Heute, um die sechste Stunde, ist er wieder auferstanden.»

Die hebräischen Beifallskundgebungen für Christus und den Allerhöchsten mischen sich unter die verschiedenen: «Beim Jupiter! Beim Pollux! Bei Libitina!» usw. usw. der Römer.

Die einzigen, die ich nicht in der in den Straßen schwatzenden Menge

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sehe, sind die Synedristen. Nicht einen einzigen sehe ich, während ich Manaen und Chuza aus einem vornehmen Palast kommen sehe und Chuza sagen höre: «Großartig! Großartig! Ich habe die Nachricht sofort Johanna überbringen lassen. Er ist wahrhaftig Gott!» Und Manaen antwortet ihm: «Herodes, der von Jericho gekommen ist, um den Statthalter Pontius Pilatus zu beehren, scheint in seiner Residenz verrückt geworden zu sein. Herodias ihrerseits ist außer sich und drängt ihn, den Befehl zur Festnahme des Christus zu geben. Sie zittert wegen seiner Macht. Er aus Schuldbewußtsein. Er klappert mit den Zähnen und bittet seine Vertrautesten, ihn zu verteidigen gegen die... Geister. Er hat sich betrunken, um sich Mut zu machen, und der Wein verwirrt ihm den Kopf und läßt ihn Gespenster sehen. Er schreit, daß Christus auch den Täufer auferweckt habe, der nun ständig in seiner Nähe sei und ihm den Fluch Gottes verkünde. Ich bin aus dieser Hölle geflohen. Ich habe mich darauf beschränkt, ihm zu sagen: "Lazarus ist auferstanden durch Jesus den Nazarener. Hüte dich, ihn anzurühren, denn er ist Gott." Er soll nur recht viel Angst haben, damit er nicht ihren mörderischen Gelüsten nachgibt.»

«Ich hingegen werde zu ihm gehen müssen. Ich muß zu ihm gehen. Doch zuerst wollte ich noch bei Eliel und Elkana vorbeischauen. Sie leben zwar zurückgezogen, doch ihr Wort hat immer noch Geltung in Israel. Johanna sieht es gern, wenn ich sie ehre. Und ich...»

«Sie sind ein guter Schutz für dich, das ist wahr. Doch kannst du ihn nicht mit der Liebe des Meisters vergleichen. Sie ist der einzige wirklich wirksame Schutz...»

Chuza widerspricht ihm nicht. Er denkt nach... Ich verliere sie aus den Augen.

Von Bezetha kommt nun Joseph von Arimathäa. Er hat es sichtlich eilig, doch eine Gruppe von Bürgern, die noch unsicher ist, ob man der Nachricht Glauben schenken kann, hält ihn an und fragt ihn.

«Es ist wahr. Es ist wahr. Lazarus ist auferstanden und auch geheilt. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.»

«Dann... ist er also wirklich der Messias!»

«Seine Werke sprechen dafür. Sein Leben ist vollkommen. Die Zeit ist reif. Satan bekämpft ihn. Jeder möge in seinem Herzen erwägen, wer der Nazarener ist», sagt Joseph, vorsichtig und gleichzeitig gerecht. Dann grüßt er und geht.

Sie überlegen und kommen zu dem Schluß: «Er ist wirklich der Messias.»

Eine Gruppe von Legionären unterhält sich: «Wenn möglich, gehe ich morgen nach Bethanien. Bei Venus und Mars, meinen Lieblingsgöttern! Ich kann die Erde von den glühenden Wüsten bis zu den eisigen germanischen Ländern bereisen, aber einem, der seit Tagen tot war und dann auferstanden ist, werde ich nicht mehr begegnen. Ich will sehen, wie einer

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aussieht, der von den Toten kommt. Der muß doch ganz schwarz sein von den Wellen der Flüsse des Jenseits...»

«Wenn er tugendhaft war, wird er bläulich sein, da er von den blauen Wellen der Elysischen Gefilde getrunken hat. Es gibt dort nicht nur den Styx ...»

«Dann wird er uns sagen können, wie die Asphodelenwiesen des Hades sind... Ich werde mit dir gehen...»

«Wenn Pontius nichts dagegen hat...»

«Oh, der hat nichts dagegen. Er hat sofort einen Boten zu Claudia gesandt, damit sie kommt. Claudia liebt diese Dinge. Ich habe sie schon mehr als einmal mit ihren Freundinnen und ihrer griechischen Freigelassenen über die Seele und die Unsterblichkeit diskutieren gehört.»

«Claudia glaubt an den Nazarener. Für sie ist er größer als jeder andere Mensch.»

«Ja. Aber für Valeria ist er mehr als ein Mensch. Für sie ist er Gott. Eine Art Jupiter und Apollo soll er sein in seiner Macht und Schönheit, und weiser als Minerva. Habt ihr ihn schon gesehen? Ich bin zum erstenmal mit Pontius hierher gekommen und weiß nicht...»

«Ich glaube, du bist zur rechten Zeit gekommen, um viele Dinge zu sehen. Vor einer Weile hat Pontius mit Stentorstimme geschrien: "Hier muß alles anders werden. Sie müssen endlich begreifen, daß Rom befiehlt und sie alle nur Sklaven sind. Und je höher sie stehen, desto mehr müssen sie gehorchen, weil sie gefährlicher sind." Mir scheint, daß es wegen des Schreibtäfelchens war, das ihm der Diener des Annas gebracht hatte ...»

«Ja, er will nicht auf sie hören... Und er wechselt uns regelmäßig aus, denn er will keine Freundschaften zwischen uns und ihnen.»

«Zwischen uns und ihnen? Ha, ha, ha! Mit diesen Höckernasen? Pontius bekommt wohl das viele Schweinefleisch nicht, das er ißt. Wenn überhaupt, dann die Freundschaft mit einer Dame, die den Kuß rasierter Gesichter nicht verachtet...» lacht einer spitzbübisch.

«Tatsache ist, daß er nach den Unruhen beim Laubhüttenfest den Austausch aller Soldaten verlangt und genehmigt erhalten hat und daß wir nun dran sind und gehen müssen...»

«Das ist wahr. Von Caesarea wurde schon die Ankunft der Galeere gemeldet, die Longinus und seine Centurie bringt. Neue Offiziere, neue Soldaten... und alles wegen dieser Reptilien im Tempel. Mir hat es hier gut gefallen.»

«Mir ist es in Brundisium besser gegangen... aber ich werde mich daran gewöhnen», sagt einer, der erst vor kurzem in Palästina angekommen ist.

Sie entfernen sich.

Tempelwächter kommen nun vorbei mit Wachstäfelchen, und die Leute beobachten sie und sagen: «Das Synedrium hat eine dringende Versammlung einberufen. Was haben sie im Sinn?»

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Einer antwortet: «Laßt uns zum Tempel hinaufgehen und sehen...» Sie schlagen den Weg ein, der zum Berg Moriah führt.

Die Sonne versinkt hinter den Häusern des Sion und den westlichen Bergen. Der Abend bricht herein, und bald sind die Straßen von Neugierigen leer. Die, die zum Tempel hinaufgegangen sind, kommen unruhig zurück, denn man hat sie sogar von den Toren verjagt, wo sie sich aufgestellt hatten, um die Synedristen vorbeigehen zu sehen.

Das Innere des Tempels ist menschenleer und verlassen. Im Mondlicht erscheint alles riesengroß. Die Synedristen versammeln sich allmählich im Saal des Hohen Rats. Alle sind sie da, wie bei der Verurteilung Jesu; es fehlen nur die, die damals als Schreiber tätig waren. Ich sehe nur Synedristen, teils an ihren üblichen Plätzen, teils in Gruppen an den Türen.

Kaiphas kommt herein, von Gesicht und Gestalt einer aufgeblasenen giftigen Kröte ähnlich, und begibt sich an seinen Platz.

Sie beginnen sofort über die Vorkommnisse zu diskutieren, und das Ganze erregt sie derart, daß die Sitzung bald sehr bewegt ist. Schließlich verlassen sie ihre Sitze und gehen gestikulierend und laut redend auf den freien Platz im Raum hinunter. Einige fordern zu Ruhe und Überlegung auf, bevor sie eine Entscheidung treffen.

Andere widersprechen: «Aber habt ihr nicht jene gehört, die nach der neunten Stunde gekommen sind? Wenn wir die einflußreichsten Juden verlieren, was nützt es uns dann, Anschuldigungen zu sammeln? Je länger er am Leben bleibt, desto weniger wird man unseren Beschuldigungen glauben.»

«Aber diese Tatsache können wir nicht leugnen. Wir können nicht zu der Volksmenge, die dort gewesen ist, sagen: "Ihr habt nicht recht gesehen. Es war alles Einbildung. Ihr wart betrunken." Der Tote war wirklich tot, verwest, aufgelöst. Er lag in einem verschlossenen Grab, und das Grab war gut zugemauert. Der Tote lag seit einigen Tagen unter Binden und Balsam. Er war eingewickelt, gebunden. Und doch hat er seinen Platz verlassen und ist allein, ohne gehen zu können, an die Öffnung des Grabes gekommen. Und als er befreit wurde, da war sein Körper nicht mehr tot. Er konnte atmen und die Fäulnis war verschwunden, während er als Lebender voller Geschwüre und als Toter schon ganz verwest war.»

«Habt ihr die einflußreichsten Juden gehört, die wir gedrängt hatten hinzugeben, um sie ganz für uns zu gewinnen? Sie sind gekommen, um uns zu sagen: "Für uns ist er der Messias." Fast alle sind sie gekommen! Und das Volk erst... !»

«Und diese verfluchten, abergläubischen Römer! Was sollen wir mit ihnen anfangen? Für sie ist er Jupiter Maximus. Und wenn sie bei dieser Ansicht bleiben! Sie haben ihre Geschichten unter uns bekannt gemacht, und diese sind uns zum Fluch geworden. Fluch über jene, die den Hellenismus bei uns einführen wollen und uns aus Schmeichelei durch Bräuche

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entweiht haben, die nicht die unseren sind! Aber dies dient auch dazu, uns die Augen zu öffnen. Wir wissen nun, daß der Römer schnell niederreißt, aber auch rasch wieder aufbaut durch Verschwörungen und Staatsstreiche. Wenn nun einer von diesen Verrückten hier sich für den Nazarener begeistert und ihn zum Caesar ausruft... und damit zum Gott macht, wer kann ihn dann noch anrühren?»

«Aber nein! Wer sollte dies denn tun? Sie lachen über ihn und uns. Wie unglaublich seine Werke auch sein mögen, für sie ist er immer ein "Hebräer". Also ein Minderwertiger. Die Angst läßt dich töricht werden, o Sohn des Annas!»

«Die Angst! Hast du gehört, wie Pontius auf die Einladung meines Vaters geantwortet hat? Er ist erschüttert, sage ich dir. Er ist beeindruckt von diesem letzten Ereignis und fürchtet den Nazarener. Wir sind zu bedauern! Dieser Mensch ist zu unserem Verderben gekommen!»

«Wären wir wenigstens nicht dorthin gegangen und hätten wir nur nicht den einflußreichsten Juden fast befohlen, auch hinzugeben! Wenn Lazarus wenigstens ohne Zeugen auferstanden wäre.»

«Nun und? Was hätte dies geändert? Wir hätten ihn doch nicht verschwinden lassen können, um glauben zu machen, daß er nach wie vor tot ist.»

«Das nicht. Aber wir hätten sagen können, daß es sich um einen Scheintod gehandelt hat. Bezahlte Zeugen für falsche Aussagen findet man immer.»

«Warum so viel Aufregung? Ich sehe keinen Grund dazu! Hat er etwa gegen das Synedrium und den Hohenpriester aufgewiegelt? Nein. Er hat sich darauf beschränkt, ein Wunder zu wirken.»

«Er hat sich darauf beschränkt?! Bist du denn töricht oder hast du dich ihm verkauft, Eleazar? Hat er nicht gegen das Synedrium und den Hohenpriester gehetzt? Auf was wartest du noch? Die Leute ...»

«Die Leute können sagen, was sie wollen, aber die Dinge stehen so, wie Eleazar gesagt hat. Der Nazarener hat nur ein Wunder gewirkt.»

«Noch einer, der ihn verteidigt! Du bist kein Gerechter mehr, Nikodemus! Dies ist ein Schlag gegen uns. Gegen uns, verstehst du? Nichts mehr wird das Volk überzeugen können. Oh, wir Unglücklichen! Ich bin heute von einigen Juden verspottet worden. Ich und verspottet! Ich!»

«Schweige, Doras! Du bist nur ein Mensch. Aber die Idee, unsere innersten Überzeugungen sind getroffen worden. Unsere Gesetze! Unsere Vorrechte!»

«Du hast recht, Simon. Wir müssen sie verteidigen.»

«Aber wie?»

«Indem wir seine Ideen bekämpfen und zunichte machen!»

«Das ist leicht gesagt, Sadok. Aber wie willst du sie vernichten, wenn du nicht einmal fähig bist, eine tote Fliege wieder lebendig zu machen?

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Hier braucht es ein größeres Wunder als das seine. Aber keiner von uns kann es wirken, weil...» Der, der gerade spricht, weiß nicht warum.

Joseph von Arimathäa beendet seinen Satz: «Weil wir Menschen sind, nur Menschen.»

Alle stürzen sich auf ihn und fragen: «Und er, wer ist er denn?»

Joseph antwortet bestimmt: «Er ist Gott. Wenn ich noch Zweifel gehabt hätte...»

«Aber du hast keine Zweifel gehabt. Wir wissen es, Joseph. Wir wissen es. Sage uns nur ganz offen, daß du ihn liebst!»

«Es ist nichts Schlimmes, wenn Joseph ihn liebt. Ich selbst anerkenne ihn als den größten Rabbi Israels.»

«Du? Du, Gamaliel, sagst das?»

«Ich sage es. Und es ehrt mich, von ihm... entthront worden zu sein. Denn bis jetzt habe ich die Tradition der großen Rabbis aufrechterhalten, deren letzter Hillel gewesen ist. Doch wußte ich nicht, wer nach mir die Weisheit der Jahrhunderte hätte fortsetzen können. Nun kann ich beruhigt gehen, denn ich weiß, daß die Weisheit nicht sterben wird; daß sie vielmehr zunehmen wird, vermehrt durch die seine, in der zweifellos der Geist Gottes gegenwärtig ist.»

«Was sagst du da, Gamaliel?»

«Die Wahrheit. Selbst wenn wir die Augen verschließen, können wir nicht verkennen, was wir in Wirklichkeit sind. Wir sind nicht mehr weise, denn der Anfang aller Weisheit ist die Furcht des Herrn. Und wir sind Sünder ohne Gottesfurcht. Wenn wir diese Furcht hätten, würden wir nicht den Gerechten unterdrücken und mit törichter Gier nach den Reichtümern der Welt verlangen. Gott gibt, und Gott nimmt, je nach den Verdiensten und den bösen Werken. Und wenn Gott uns jetzt nimmt, was er uns gegeben hatte, um es anderen zu geben, dann sei er gepriesen. Denn heilig ist der Herr, und heilig sind alle seine Werke.»

«Aber wir haben doch von den Wundern gesprochen und wollten sagen, daß keiner von uns sie wirken kann, weil Satan nicht mit uns ist.»

«Nein, weil Gott nicht mit uns ist. Moses teilte die Wasser und ließ eine Quelle aus dem Fels entspringen. Josua ließ die Sonne stillstehen. Elias erweckte den Knaben und ließ Regen fallen. Aber mit ihnen war Gott. Ich möchte euch daran erinnern, daß es sechs Dinge gibt, die Gott verhaßt sind, und das siebte ist seinem Herzen ein Abscheu: stolze Augen, falsche Zunge, Hände, die unschuldiges Blut vergießen, ein Herz, das Böses sinnt, Füße, die zum Bösen eilen, der falsche Zeuge und jener, der unter den Brüdern Unfrieden stiftet. Wir tun alle diese Dinge. Wir, sage ich. Aber nur ihr allein tut sie. Denn ich enthalte mich, "Hosanna" oder "Anathema" zu rufen. Ich warte ab.»

«Das Zeichen! Ja, du wartest auf das Zeichen! Aber welches Zeichen

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erwartest du von einem armen Irren, wenn wir ihm wirklich alles verzeihen wollen?»

Gamaliel erhebt die Hände, und mit vor sich ausgestreckten Armen, geschlossenen Augen, leicht geneigtem Haupt und ehrfurchtgebietend wie nie zuvor spricht er langsam mit einer Stimme, die von sehr weit herzukommen scheint: «Ich habe den Herrn inständig gebeten, mir die Wahrheit kundzutun, und er hat mir die Worte Jesu, des Sohnes des Sirach, erklärt: "Der Schöpfer aller Dinge sprach zu mir und gab mir seinen Befehl, und der mich schuf, ruhte in meinem Zelt und sagte zu mir: 'In Jakob sollst du wohnen. In Israel soll sein dein Erbbesitz. Fasse Wurzel unter meinen Auserwählten .... .. Und ferner hat er mir diese Worte erklärt, und ich habe sie verstanden: "Kommt her zu mir, die ihr mein begehrt, und an meinen Früchten sättigt euch, denn mein Geist ist süßer als Honig und mein Erbe süßer als Honigseim. Mein Andenken wird von Geschlecht zu Geschlecht durch die Jahrhunderte währen. Wer mich verkostet, der wird nach mir hungern, und wer mich trinkt, der wird nach mir dürsten. Wer auf mich hört, wird nicht zuschanden werden, und wer sich um mich bemüht, der sündigt nicht. Wer von mir spricht, wird das ewige Leben haben." Und Licht Gottes erleuchtete meinen Geist, während meine Augen diese Worte lasen: "Dies alles enthält das Buch des Lebens, das Testament des Allerhöchsten, die Lehre der Wahrheit... Gott versprach David, aus seinem Geschlecht den mächtigen König hervorgehen zu lassen, der auf ewig auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen wird. Er wird von Weisheit überfließen, wie der Pischon 1) und der Tigris in den Tagen der Erstlinge, wie der Euphrat strömt er von Bildung über und schwillt an wie der Jordan zur Zeit der Ernte. Er wird die Weisheit wie Licht ausstrahlen... Er hat sie als erster vollkommen erkannt." Das hat mich Gott begreifen lassen! Doch wehe, was sage ich! Die Weisheit, die unter uns weilt, ist zu groß, als daß man sie verstehen könnte, als daß man ihre Gedanken fassen könnte, die gewaltiger sind als die Meere, und ihren Rat, der tiefer ist als der große Abgrund. Und wir hören ihn rufen: "Ich bin wie ein wasserreicher Kanal aus dem Paradies geflutet und habe gesagt: 'Ich will meinen Garten bewässern.' Da ward der Graben mir zum Fluß und der Fluß zum Meer. So will ich weiter meine Lehre leuchten lassen gleich dem Frühlicht, und will sie strahlen lassen bis in die Fernen. In die tiefsten Tiefen werde ich eindringen, meinen Blick auf die Schlafenden richten und jene, die auf den Herrn hoffen, erleuchten. Noch weiter will ich Belehrung wie Prophetenbotschaft ausschütten und sie denen hinterlassen, die die Weisheit suchen. Und ich werde nicht aufhören, sie zu verkünden bis zum heiligen Jahrhundert. So habe ich nicht für mich allein mich gemüht, sondern für alle, die die Wahrheit

1) Einer der vier Flüsse, die aus dem Paradies strömen.

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suchen." Dies hat mich Jahwe, der Allerhöchste, lesen lassen.» Gamaliel läßt die Arme sinken und erhebt das Haupt.

«Dann ist er also für dich der Messias?! Sage es!»

«Es ist nicht der Messias.»

«Er ist es nicht? Was ist er dann für dich? Ein Dämon ist er nicht... ein Engel auch nicht ... der Messias auch nicht ...»

«Er ist der, der ist.»

«Du phantasierst! Gott ist er? Gott ist dieser Verrückte für dich?»

«Er ist der, der ist. Gott weiß, wer er ist. Wir sehen seine Werke. Gott sieht auch seine Gedanken. Aber er ist nicht der Messias, denn für uns bedeutet Messias König. Er ist nicht und wird auch nicht König sein. Aber er ist heilig. Und seine Werke sind heilig. Und wir können nicht unsere Hand gegen den Unschuldigen erheben, ohne eine Sünde zu begehen. Ich werde der Sünde nicht zustimmen.»

«Aber mit deinen Worten hast du doch fast gesagt, daß er der Erwartete ist.»

«Ich habe es gesagt. Solange das Licht des Allerhöchsten leuchtete, sah ich ihn als den Erwarteten. Dann... als mich die Hand des Herrn nicht mehr hoch oben in seinem Licht hielt, wurde ich wieder Mensch, der Mensch Israels, und die Worte waren nur noch Worte, denen der Mensch Israels, ich, ihr, die vor uns und – Gott möge es verhüten – die nach uns, ihren eigenen, unseren Sinn geben, und nicht den Sinn, den sie im ewigen Gedanken haben, der sie seinem Diener diktiert hat.»

«Wir reden, weichen vom Thema ab und verlieren Zeit. Und das Volk empört sich unterdessen», krächzt Chananias.

«Du hast ganz recht! Wir müssen etwas beschließen und handeln, um uns zu retten und zu siegen.»

«Ihr habt gesagt, daß Pilatus uns nicht anhören wollte, als wir ihn um seine Hilfe gegen den Nazarener gebeten haben. Aber wenn wir ihn wissen ließen... Ihr habt gerade gesagt, wenn sich die Soldaten für ihn begeistern, könnten sie ihn zum Caesar ausrufen... Hm, eine gute Idee. Laßt uns gehen und dem Prokonsul diese Gefahr vortragen. Wir werden dann als treue Diener Roms ausgezeichnet werden, und... wenn er gegen ihn einschreitet, sind wir den Rabbi los. Gehen wir! Gehen wir! Du, Eleazar des Annas, der du mehr als alle anderen mit ihm befreundet bist, führe uns an», lacht Elchias falsch wie eine Schlange.

Zuerst zögern sie etwas, doch dann geht die Gruppe der Fanatischsten hinaus, um sich zur Burg Antonia zu begeben. Kaiphas bleibt bei den übrigen zurück.

«Um diese Zeit! Man wird sie nicht empfangen», bemerkt jemand.

«Im Gegenteil! Das ist die beste Zeit. Pontius ist immer guter Laune, wenn er gegessen und getrunken hat, wie nur ein Heide essen und trinken kann...»

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Ich lasse sie bei ihren Diskussionen zurück und sehe die Szene in der Antonia.

Die kurze Strecke ist rasch und ohne Schwierigkeiten zurückgelegt, denn das Mondlicht wetteifert mit dem roten Licht der Lampen am Eingang zum Palast des Prätoriums.

Eleazar gelingt es, sich bei Pilatus anmelden zu lassen, und sie werden in einen großen, leeren, vollkommen leeren Saal geführt. Nur ein schwerer Sessel mit niedriger Lehne steht darin, der mit einem purpurroten Tuch bedeckt ist, das sich lebhaft von dem strahlenden Weiß des Saales abhebt. Die Synedristen stehen in einer Gruppe etwas ängstlich und fröstelnd auf dem herrlichen Marmorboden. Niemand kommt. Absolute Stille, die nur ab und zu von ferner Musik unterbrochen wird, herrscht im Saal.

«Pilatus ist bei Tisch. Gewiß mit Freunden. Diese Musik wird im Triclinium gespielt. Es wird Tänze zu Ehren der Gäste geben ...» sagt Eleazar des Annas.

«Verkommenes Volk! Morgen werde ich mich reinigen. Die Unzucht dringt durch diese Wände...» sagt Elchias mit Abscheu.

«Warum bist du dann gekommen? Du hast doch diesen Vorschlag gemacht!» entgegnet Eleazar.

«Zur Ehre Gottes und für das Wohl des Vaterlandes bin ich zu jedem Opfer bereit. Und dieses ist groß! Ich hatte mich eben gereinigt, weil ich mich Lazarus genähert hatte... und nun... Ein schrecklicher Tag heute...!»

Pilatus kommt nicht. Die Zeit vergeht. Eleazar, der sich auskennt, geht zu den Türen. Sie sind alle verschlossen. Die Angst übermannt die Anwesenden. Schreckliche Geschichten tauchen in ihrer Erinnerung auf, und alle bedauern es, gekommen zu sein. Sie fühlen sich schon verloren.

Endlich! An der ihnen gegenüberliegenden Seite – denn sie sind nahe der Tür stehengeblieben, durch die sie hereingekommen sind – also dort, wo der einzige Sessel steht, öffnet sich eine Tür und Pilatus kommt herein in einem Gewand, das weiß ist wie der Saal. Dabei unterhält er sich mit den Gästen und lacht. Dann wendet er sich an den Sklaven, der den Vorhang an der Tür hält, und befiehlt ihm, Essenzen in ein Kohlebecken zu schütten und dann parfümiertes Wasser zum Händewaschen zu bringen. Auch ein Sklave mit Spiegel und Kämmen soll kommen. Um die Hebräer kümmert er sich nicht, so als ob sie nicht existierten. Diese ärgern sich, wagen jedoch nicht, sich bemerkbar zu machen.

Drüben bringt man inzwischen Kohlebecken, streut Harze auf die Glut und gießt duftendes Wasser über die Hände der Römer. Ein Sklave ordnet mit erfahrenen Händen die Haare, entsprechend der Mode der reichen Römer. Und die Hebräer ärgern sich...

Die Römer lachen, machen Scherze und sehen hin und wieder zu der kleinen Gruppe hinüber, die dort im Hintergrund wartet. Einer spricht mit Pilatus, der sie noch nicht einmal angesehen hat. Doch Pilatus zuckt

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nur die Achseln, macht eine gelangweilte Geste und klatscht in die Hände, um einen Sklaven herbeizurufen, dem er mit lauter Stimme befiehlt, Süßigkeiten zu bringen und die Tänzerinnen hereinzuschicken. Die Hebräer beben vor Zorn und Empörung. Man stelle sich vor, ein Elchias ist gezwungen, Tänzerinnen zu sehen! Sein Gesicht ist ein Gedicht von Leiden und Haß.

Nun kommen die Sklaven mit Süßigkeiten in kostbaren Schalen, und hinter ihnen die blumenbekränzten Tänzerinnen, die kaum von den hauchfeinen schleierartigen Stoffen bedeckt sind. Die weißen Körper schimmern durch die feinen rosa und hellblauen Gewänder, wenn sie an den Kohlebecken und den vielen weiter hinten aufgestellten Lampen vorüberkommen. Die Römer bewundern die Anmut der Körper und der Bewegungen, und Pilatus verlangt die Wiederholung eines Tanzes, der ihm besonders gefallen hat. Elchias und sein Anhang wenden sich voll Verachtung zur Wand, um nicht sehen zu müssen, wie die Tänzerinnen gleich Schmetterlingen in ihren wehenden, in Unordnung geratenen Gewändern vorbeihuschen.

Nach dem kurzen Tanz entläßt Pilatus die Tänzerinnen, wobei er jeder die mit Süßigkeiten gefüllte Schale reicht, in die er noch achtlos ein Armband wirft. Endlich läßt er sich dazu herab, sich den Hebräern zuzuwenden, sie zu betrachten, und sagt zu seinen Freunden: «Und nun muß ich vom Traum zur Wirklichkeit zurückkehren... Von der Poesie zur... Hypokrisie... Von den anmutigen zu den belastenden Dingen des Lebens. Es ist ein Elend, Prokonsul zu sein... ! Salve, meine Freunde. Habt Mitleid mit mir.»

Pilatus ist allein geblieben und nähert sich nun ganz langsam den Hebräern. Er setzt sich, betrachtet seine wohlgepflegten Hände und entdeckt etwas, was nicht in Ordnung ist unter einem Fingernagel. Er ist ganz damit beschäftigt, kümmert sich sofort darum und zieht ein dünnes goldenes Stäbchen aus dem Gewand, mit dem er das große Unglück eines unvollkommenen Fingernagels beseitigt...

Dann wendet er in seiner Güte langsam das Haupt. Er grinst, als er die Hebräer noch immer in ihrer gebeugten servilen Haltung sieht, und sagt: «Ihr da! Kommt her! Faßt euch kurz! Ich kann meine Zeit nicht mit unnützen Dingen vergeuden.»

Die Hebräer nähern sich, noch immer in serviler Haltung, bis ein: «Halt, kommt mir nicht zu nahe!» sie am Boden festnagelt. «Sprecht! Und steht gerade, denn nur Tiere stehen auf allen Vieren», und er lacht.

Die Hebräer richten sich bei diesem Spott auf und stehen kerzengerade.

«Nun? Sprecht! Ihr wolltet unbedingt kommen. Jetzt, da ihr hier seid, redet.»

«Wir wollten dir sagen... Wir haben erfahren... Wir sind treue Diener Roms...»

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«Ha, ha, ha! Treue Diener Roms! Ich werde es den göttlichen Caesar wissen lassen, und er wird glücklich darüber sein! Wie glücklich er sein wird! Redet, ihr Narren. Aber rasch!»

Die Synedristen zittern vor Zorn, erwidern aber nichts. Elchias ergreift nun im Namen aller das Wort: «Du mußt wissen, o Pontius, daß heute in Bethanien ein Mensch vom Tod erweckt worden ist...»

«Ich weiß es! Seid ihr gekommen, um mir dies zu sagen? Ich weiß es schon seit vielen Stunden. Glücklich jener, der schon weiß, was der Tod ist und wie die andere Welt aussieht! Und was kann ich daran ändern, daß Lazarus des Theophilus vom Tod auferstanden ist? Hat er mir vielleicht eine Botschaft aus dem Hades mitgebracht?» spottet Pilatus.

«Nein. Aber seine Auferstehung ist eine Gefahr...»

«Für ihn? Gewiß! Er befindet sich nun in der Gefahr, noch einmal sterben zu müssen. Eine nicht gerade angenehme Beschäftigung. Nun, was kann ich da machen? Bin ich denn Jupiter?»

«Keine Gefahr für Lazarus... sondern für den Caesar.»

«Für? ... Domine! Vielleicht habe ich getrunken! Habt ihr gesagt: für den Caesar? Wie könnte Lazarus dem Caesar schaden? Vielleicht fürchtet ihr, daß der Gestank des Grabes die Luft verpesten könnte, die der Kaiser atmet? Beruhigt euch. Er ist zu weit weg!»

«Das nicht. Aber durch seine Auferstehung kann Lazarus den Kaiser entthronen.»

«Entthronen? Ha, ha, ha! Das ist das Tollste, was ich je gehört habe! Dann bin also nicht ich betrunken, sondern ihr seid es. Vielleicht hat der Schrecken euch um den Verstand gebracht. Jemanden auferstehen zu sehen... Ich glaube schon, daß so etwas verwirren kann. Geht, geht zu Bett. Angenehme Ruhe. Nehmt ein heißes Bad. Sehr heiß! Das ist gut gegen Fieberwahn.»

«Wir sprechen nicht im Wahn, Pontius. Wir möchten dir nur sagen, daß du schlimmen Zeiten entgegengehst, wenn du nicht vorsorgst. Ganz gewiß wirst du bestraft, wenn dich der Usurpator nicht gar noch tötet. In Kürze wird der Nazarener zum König ausgerufen werden, zum König der Welt! Verstehst du? Deine eigenen Legionäre werden es tun. Sie sind vom Nazarener verführt, und das heutige Ereignis hat sie begeistert. Was bist du für ein Diener Roms, wenn du dich nicht um den Frieden Roms kümmerst? Willst du erleben, wie das Imperium durch deine Untätigkeit erschüttert und geteilt wird? Willst du erleben, wie Rom besiegt, seine Insignien in den Schmutz getreten, der Kaiser getötet und alles zerstört wird?»

«Schluß! Jetzt rede ich. Und ich sage euch, ihr seid Idioten! Noch schlimmer, ihr seid Lügner. Bösewichter seid ihr! Ihr würdet den Tod verdienen. Hinaus mit euch, ihr infamen Diener eurer eigenen Interessen, eures Hasses, eurer Niederträchtigkeit! Knechte seid ihr. Ich nicht. Ich

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bin römischer Bürger, und römische Bürger sind niemandes Knechte. Ich bin kaiserlicher Beamter und ich arbeite für das Wohl des Vaterlandes. Ihr... ihr seid die Untertanen. Ihr... ihr seid die Unterworfenen. Ihr seid Galeerensträflinge, die an ihre Bänke gekettet sind, und euer Ärger ist nutzlos... Die Peitsche des Aufsehers droht euch. Der Nazarener! ... Ihr hättet gerne, daß ich den Nazarener töte? Ihr möchtet, daß ich ihn ins Gefängnis werfe? Beim Jupiter! Wenn ich zum Wohl Roms und des göttlichen Kaisers alle gefährlichen Subjekte einsperren oder töten müßte, hier, wo ich Statthalter bin, dann dürfte ich nur den Nazarener und seine Gefährten, und nur diese, frei und am Leben lassen. Geht. Verschwindet und kommt mir nicht mehr unter die Augen. Ihr Aufrührer! Ihr Aufwiegler! Ihr Diebe und Hehler! Keine einzige eurer Machenschaften ist mir verborgen. Das sollt ihr wissen. Und ihr sollt auch wissen, daß frische Waffen und neue Legionäre schon hinter eure Schliche gekommen sind und eure Werkzeuge kennen. Ihr schreit wegen der römischen Steuer? Aber wie teuer sind euch Melchias von Galaad, Jonas von Scythopolis, Philippus von Socho, Johannes von Bethaven, Joseph von Ramot und all die anderen, die wir bald erwischen werden, zu stehen gekommen? Geht nur nicht zu den Höhlen im Tal, denn dort sind mehr Soldaten als Steine, und das Gesetz und die Galeeren sind für alle gleich. Für alle! Versteht ihr? Für alle. Ich hoffe, den Tag zu erleben, da ihr alle in Ketten liegen werdet, Sklaven unter Sklaven, unter dem Stiefel Roms. Hinaus! Geht und berichtet euren Gesinnungsgenossen. Auch du, Eleazar des Annas, den ich nicht mehr in meinem Haus zu sehen wünsche. Berichtet, daß die Zeit der Nachsicht zu Ende ist und daß ich der Prokonsul bin und ihr die Untertanen seid. Die Untertanen! Und ich befehle im Namen Roms. Hinaus! Ihr nächtlichen Schlangen! Vampire! Und der Nazarener will euch erlösen? Wenn er Gott wäre, müßte er euch mit einem Blitz erschlagen! Dann wäre die Welt vom größten Schandfleck befreit. Hinaus! Und wagt es nicht, Verschwörungen anzuzetteln, sonst lernt ihr Schwert und Geißel kennen.»

Pilatus steht auf, geht weg und schlägt die Tür vor den erschrockenen Synedristen zu. Sie haben nicht einmal die Zeit, zu sich zu kommen, denn ein bewaffneter Trupp kommt herein und jagt sie wie Hunde aus dem Saal und aus dem Palast.

Sie kehren in den Saal des Synedriums zurück und berichten. Die Erregung ist auf dem Höhepunkt. Die Nachricht von der Gefangennahme vieler Räuber und dem Gefecht in den Höhlen beunruhigt die Zurückgebliebenen aufs äußerste. Denn viele sind, des Wartens müde, schon nach Hause gegangen.

«Und doch können wir ihn nicht am Leben lassen!» schreien einige Priester.

«Wir können ihn nicht weitermachen lassen. Er handelt, und wir tun

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nichts und verlieren täglich mehr an Einfluß. Wenn wir ihn weiter in Freiheit lassen, wird er fortfahren, Wunder zu wirken, und alle werden an ihn glauben. Die Römer werden am Ende noch gegen uns einschreiten und uns ganz vernichten. Pontius sagt es... Aber wenn die Volksmassen ihn zum König ausrufen würden, oh, dann hätte Pontius die Pflicht, uns alle zu bestrafen. Wir dürfen das nicht zulassen», schreit Sadok.

«Nun gut, aber wie? Der römische Rechtsweg hat nicht zum Ziel geführt. Pontius ist des Nazareners sicher. Unser Rechtsweg... ist unmöglich gemacht. Jesus sündigt nicht...» bemerkt einer.

«Man erfindet eine Schuld, wenn keine Schuld vorliegt», rät Kaiphas.

«Aber das wäre Sünde! Meineid! Einen Unschuldigen verurteilen lassen! Das geht zu weit!» sagen die meisten mit Abscheu. «Es ist ein Verbrechen, denn es wäre sein Tod!»

«Nun und? Erschreckt euch dies? Ihr seid töricht und versteht nichts. Nach dem, was vorgefallen ist, muß Jesus sterben. Begreift ihr denn nicht, daß es besser für uns ist, wenn ein Mensch stirbt, bevor viele Menschen sterben. Daher muß er sterben, damit sein Volk gerettet wird und nicht unsere ganze Nation zugrundegeht. Übrigens... sagt er ja selbst, daß er der Erlöser ist. Also soll er sich opfern, um alle anderen zu retten», sagt Kaiphas, abstoßend in seinem kalten, verschlagenen Haß.

«Aber Kaiphas! Überlege! Er ...»

«Ich habe gesprochen. Der Geist des Herrn ruht auf mir, dem Hohenpriester! Wehe denen, die den Hohenpriester Israels nicht achten! Die Blitze Gottes sollen sie treffen! Genug des Wartens! Genug der Ängste! Ich befehle und ordne an, daß jeder, der erfährt, wo sich der Nazarener aufhält, es uns sofort mitteilt. Verflucht sei, wer meinem Wort nicht gehorcht.»

«Aber Annas...» entgegnen einige.

«Annas hat zu mir gesagt: "Alles, was du tust, wird heilig sein." Wir wollen die Sitzung aufheben. Am Freitag zwischen der dritten und der sechsten Stunde treffen wir uns alle hier zur Beratung. Alle, habe ich gesagt! Laßt es die Abwesenden wissen. Ruft auch alle Oberhäupter der Familien und der Stände, alle Vornehmen Israels. Das Synedrium hat gesprochen. Geht.»

Und er zieht sich als erster dorthin zurück, von wo er gekommen ist, während die anderen nach allen Seiten auseinandergehen. Leise redend verlassen sie den Tempel und gehen nach Hause.

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605. JESUS IN BETHANIEN

Schön ist es, sich auszuruhen, umgeben von der Liebe der Freunde und in der Nähe des Meisters, an diesen sonnigen Tagen, die schon das erste Lächeln des Vorfrühlings ankündigen. Schön ist es, die Felder zu betrachten, aus deren Schollen das erste unschuldige Grün des Getreides sprießt; nach den Wiesen zu sehen, die das eintönige Grün des Winters mit den ersten vielfarbigen Blümchen besticken; die Hecken zu bewundern, die an sonnigen Stellen schon mit den ersten aufgebrochenen Knospen lächeln, und Mandelbäume zu entdecken, die am Gipfel eine Schaumkrone zarter Blüten tragen.

Jesus freut sich darüber, die Apostel genießen es, und ebenso die drei Freunde von Bethanien. Das Leid, der Schmerz, die Traurigkeit, die Krankheit, der Tod, der Haß, der Neid, kurz alles, was schmerzt, quält und auf der Welt Sorge bereitet, scheint so fern zu sein.

Die Apostel sind ohne Ausnahme überglücklich und sagen es auch. Oh, mit welch großer Gewißheit und Siegessicherheit bringen sie ihre Überzeugung zum Ausdruck, daß Jesus nun über alle Feinde triumphiert hat, daß er seine Aufgabe ungehindert erfüllen wird, und daß auch die hartnäckigsten Leugner ihn jetzt als Messias anerkennen werden. Sie reden, sind begeistert und wie verjüngt vor Glück, und sie machen Pläne für die Zukunft und träumen... träumen so viel... und allzu menschlich.

Der Übermütigste aufgrund seiner Veranlagung, die ihn immer zum Extremen treibt, ist Judas von Kerioth. Er beglückwünscht sich selbst, weil er es verstanden hat, abzuwarten und das Richtige zu tun, er beglückwünscht sich zu seinem standhaften Glauben an den Triumph des Meisters und weil er den Drohungen des Synedriums widerstanden hat... Er ist so begeistert, daß er am Ende sogar noch das sagt, was er bisher immer verborgen hat, sehr zur Verwunderung der Gefährten: «Ja, sie wollten mich bestechen. Sie wollten mich verführen mit Schmeicheleien, und als sie sahen, daß das nicht half, auch mit Drohungen. Wenn ihr wüßtet! Aber ich... ! Ich habe es ihnen mit gleicher Münze heimgezahlt. Ich habe ihnen Freundschaft vorgeschwindelt, so wie sie mir. Ich habe sie betrogen, wie sie mich betrogen haben, und ich habe sie verraten, wie sie mich verraten wollten... Denn das wollten sie. Sie wollten mich glauben machen, daß sie den Meister in guter Absicht auf die Probe stellen, um ihn dann feierlich als den Heiligen Gottes auszurufen. Aber ich kenne sie! Ich kenne sie. Und alles, was sie vorhatten, habe ich so gelenkt, daß die Heiligkeit Jesu strahlender als die Mittagssonne am wolkenlosen Himmel leuchtete... Es war ein gefährliches Spiel! Wenn sie es erkannt hätten! Doch ich war zu allem bereit, sogar zu sterben, um Gott in meinem Meister zu dienen. Und so habe ich alles erfahren... Nun, manchmal muß ich euch verrückt, böse lind widerspenstig vorgekommen sein. Wenn ihr

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gewußt hättet! Ich allein weiß, wie viele Nächte, wieviel Mühe es mich gekostet hat, Gutes zu tun, ohne dabei aufzufallen! Alle habt ihr mir ein wenig mißtraut. Ich weiß es. Aber ich bin euch deswegen nicht böse. Meine Art, mich zu benehmen... ja... sie konnte Mißtrauen erwecken. Doch der Zweck war gut, und ich dachte nur an diesen. Jesus weiß nichts davon. Das heißt, ich glaube, daß auch er mir mißtraut. Aber ich kann schweigen und erwarte kein Lob von ihm. Schweigt auch ihr. Einmal, in der ersten Zeit bei ihm – du, Simon Zelot, und du, Johannes des Zebedäus, ihr wart dabei – tadelte er mich, weil ich mich gerühmt hatte, einen praktischen Sinn zu besitzen. Seitdem... habe ich diese Eigenschaft nie mehr herausgekehrt, sondern sie nur zu seinem Besten eingesetzt. Ich habe es gemacht wie eine Mutter mit ihrem unerfahrenen Kind. Sie räumt ihm alle Hindernisse aus dem Weg, biegt ihm den Zweig ohne Dornen zur Seite und nimmt den weg, der es verletzen könnte. Mit Umsicht veranlaßt sie es zu tun, was es tun muß, und das Schädliche zu meiden, ohne daß sich das Kind dessen bewußt wird. Und das Kind glaubt, alles allein erreicht zu haben, allein gehen zu können ohne zu stolpern, um die schöne Blume für die Mutter zu pflücken und spontan dies und das zu tun. Ich habe es beim Meister genauso gemacht. Denn die Heiligkeit genügt nicht in einer Welt der Menschen und des Satans. Wir müssen mit gleichen Waffen kämpfen, wenigstens als Menschen... und manchmal... ist es auch nicht schlecht, eine Prise höllischer Schlauheit neben den anderen Waffen einzusetzen. Das ist meine Meinung. Aber Jesus will davon nichts hören... Er ist zu gut... Nun, ich verstehe alles und alle und entschuldige alle, die eine schlechte Meinung von mir gehabt haben könnten. Nun wißt ihr es. Und nun wollen wir uns als gute Kameraden lieben, alles für seine Liebe und zu seiner Ehre!» Und Judas deutet auf Jesus, der weit weg auf einem sonnenbeschienenen Weg spazierengeht und mit Lazarus redet, der ihm mit einem verklärten Lächeln auf dem Gesicht zuhört.

Die Apostel entfernen sich in Richtung des Hauses des Simon. Jesus hingegen nähert sich mit dem Freund. Ich höre ihnen zu. Lazarus sagt. «Ja, ich hatte verstanden, daß es einem wichtigen Zweck diente, und gewiß einem guten, mich sterben zu lassen. Ich dachte, es sollte mir erspart bleiben mitanzusehen, wie man dich verfolgt. Und – du weißt, daß ich die Wahrheit sage – ich war glücklich, zu sterben, um dies nicht erleben zu müssen. Es verbittert und beunruhigt mich. Siehst du, Meister, ich habe denen, die die Führer unseres Volkes sind, so vieles verziehen... Bis zum letzten Tag mußte ich verzeihen... Elchias... Aber der Tod und die Auferweckung haben ausgelöscht, was vorher war. Wozu mich an ihre letzten Taten erinnern, mit denen sie mir Leid antun wollten? Ich habe Maria alles verziehen. Sie scheint daran zu zweifeln. Ich weiß nicht warum, aber seit ich auferstanden bin, zeigt sie mir gegenüber ein Verhalten... ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Sie ist von einer Sanftmut und

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Unterwürfigkeit... die so fremd bei meiner Maria sind. Nicht einmal in der ersten Zeit, als sie, durch dich erlöst, hierher zurückkehrte, war sie so... Vielleicht weißt du etwas und kannst es mir erklären, denn Maria erzählt dir alles... Vielleicht haben jene, die hier gewesen sind, sie zu sehr beleidigt. Ich habe immer die Erinnerung an ihre Vergangenheit zu mildern versucht, wenn ich sah, wie sie darüber nachdachte und darunter litt. Sie kann keine Ruhe finden. Sie scheint so... über dem, was Demütigung ist, zu stehen. Und einige könnten sogar glauben, daß sie wenig bereut... Doch ich verstehe.... Ich weiß. Alles tut sie, um zu sühnen... Sie tut große Buße aller Art. Es würde mich nicht wundern, wenn sie unter dem Gewand einen Bußgürtel tragen und ihr Fleisch geißeln würde... Aber meine Bruderliebe, mit der ich ihr zu helfen versuche und den Schleier des Vergessens über die Vergangenheit breite, haben die anderen nicht... Weißt du, ob sie vielleicht von jemandem gekränkt worden ist, der nicht verzeihen kann... wo sie doch so sehr der Vergebung bedarf?»

«Ich weiß es nicht. Lazarus. Maria hat nicht davon gesprochen. Sie hat nur gesagt, daß sie sehr gelitten hat wegen der Behauptung der Pharisäer, ich sei nicht der Messias, weil ich dich nicht geheilt und nicht auferweckt habe.»

«Und hat sie dir nichts über mich gesagt? Weißt du... ich habe so gelitten... Ich erinnere mich, daß meine Mutter in ihren letzten Stunden Dinge geoffenbart hat, die weder ich noch Martha ahnten. Und bei den letzten Regungen ihres Herzens vor dem Tod war es, als ob der Grund ihrer Seele und ihrer Vergangenheit wieder an die Oberfläche käme. Ich möchte nicht... Mein Herz hat so viel um Maria gelitten... Und ich habe mich so bemüht, sie nie merken zu lassen, was ich für sie gelitten habe... Ich möchte nicht, daß ich sie jetzt verletzt habe, wo sie gut ist, während ich sie früher, erst aus Bruderliebe und dann aus Liebe zu dir, nie gekränkt habe in der schlimmen Zeit, da sie unsere Schande war. Was hat sie dir von mir gesagt, Meister?»

«Sie sprach von ihrem Schmerz, zu wenig Zeit gehabt zu haben, um dir ihre heilige Liebe als Schwester und Jüngerin zu schenken. Als sie dich verlor, erkannte sie in ihrem ganzen Ausmaß die Schätze der Liebe, die sie einst mit Füßen getreten hatte... Und nun ist sie glücklich, dir alle Liebe schenken zu können, die sie dir geben will, um dir zu zeigen, daß du für sie der heilige, geliebte Bruder bist.»

«So ist es also! Ich habe es geahnt! Und ich freue mich darüber. Ich fürchtete, sie beleidigt zu haben... Seit gestern denke ich nach, immer wieder... und bemühe mich, mich zu erinnern... Doch es will mir nicht gelingen ...»

«Aber warum willst du dich erinnern? Du hast die Zukunft vor dir. Die Vergangenheit ist im Grab zurückgeblieben. Nein, nicht einmal dort ist sie geblieben. Sie ist verbrannt worden mit den Leichenbinden. Aber wenn es

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dich beruhigt, wiederhole ich dir die letzten Worte, die du zu deinen Schwestern gesagt hast. Zu Maria insbesondere. Du hast gesagt, ich sei wegen Maria hierhergekommen und käme wieder, weil Maria mehr als alle anderen zu lieben versteht. Das ist wahr. Du hast gesagt, daß sie dich mehr als alle anderen geliebt hat. Auch das ist wahr, denn sie hat dich geliebt und sich aus Liebe zu Gott und zu dir geändert. Du hast richtig zu ihr gesagt, daß ein Leben voller Glück und Wonne dir nicht die Freude geschenkt hätte, die sie dir geschenkt hat. Und du hast sie gesegnet, wie ein Patriarch seine geliebten Kinder segnet. Du hast Martha ebenso gesegnet, die du deinen Frieden nanntest, wie Maria, die du deine Freude nanntest. Bist du nun beruhigt?»

«Jetzt schon, Meister. Jetzt bin ich beruhigt.»

«Und da der Friede barmherzig macht, verzeihe auch den Führern des Volkes, die mich verfolgen. Denn dies wolltest du sagen: daß du alles verzeihen kannst, nur nicht das Böse, das mir zugefügt wird.»

«So ist es, Meister.»

«Nein, Lazarus. Ich verzeihe ihnen. Und auch du mußt ihnen verzeihen, wenn du mir ähnlich sein willst.»

«Oh! Dir ähnlich sein! Das kann ich nicht. Ich bin ein einfacher Mensch.»

«Der Mensch ist dort unten geblieben. Der Mensch! Dein Geist... Du weißt, was beim Tod eines Menschen geschieht...»

«Nein, Herr. Ich kann mich an gar nichts erinnern, was mir geschehen ist», unterbricht ihn Lazarus entschieden.

Jesus lächelt und fährt fort: «Ich meine nicht dein persönliches Wissen, deine persönliche Erfahrung. Ich spreche von dem, was jeder Gläubige weiß... von dem, was geschieht, wenn man stirbt.»

«Ach so, das besondere Gericht. Ich weiß und ich glaube es. Die Seele erscheint vor Gott, und Gott richtet sie.»

«So ist es. Und das Urteil Gottes ist gerecht und unumstößlich. Und hat einen unendlichen Wert. Wenn auf der gerichteten Seele eine Todsünde lastet, wird sie verdammt. Wenn sie nur eine leichte Schuld befleckt, kommt sie ins Fegefeuer. Und wenn sie gerecht ist, kommt sie in den Frieden des Limbus und wartet darauf, daß ich die Pforten des Himmels öffne. Ich habe also deinen Geist zurückgerufen, nachdem er schon von Gott gerichtet war. Wärest du verdammt gewesen, hätte ich dich nicht ins Leben zurückrufen können, denn ich hätte dadurch das Urteil meines Vaters aufgehoben. Für die Verdammten gibt es keine Veränderung mehr. Sie sind auf ewig verurteilt. Also warst du bei denen, die nicht verdammt sind. Somit entweder bei der Gruppe der Seligen oder bei der Gruppe derer, die nach der Reinigung selig werden. Nun denke nach, mein Freund. Wenn der aufrichtige Wille zu bereuen, den der Mensch haben kann, solange er noch Mensch ist, also Leib und Seele, Reinigungswert

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hat; wenn der symbolische Ritus der Taufe im Wasser, vom Geist der Buße gewollt wegen der Verunreinigungen durch die Welt und das Fleisch, für uns Hebräer den Wert einer Reinigung hat; welchen Wert wird dann erst die Reue, die wahre und vollkommene, viel vollkommenere Reue einer vom Leib getrennten Seele haben, die sich dessen bewußt ist, was Gott ist, die erleuchtet ist über die Schwere ihrer Fehler und die die Größe der Freude erkennt, derer sie sich für Stunden, Jahre oder Jahrhunderte beraubt hat: der Freude im Frieden des Limbus, die bald die Freude des Besitzes Gottes sein wird. Sie wird die doppelte und dreifache Reinigung der vollkommenen Reue sein, der vollkommenen Liebe, des Bades in der Glut der von der Liebe Gottes und der Liebe der Seele entzündeten Flamme, in der und durch die die Seelen von jeder Unreinheit befreit werden und aus der sie schön wie Seraphim hervorgehen, gekrönt mit dem, was nicht einmal die Seraphim krönt: ihr diesseitiges und jenseitiges Martyrium gegen die Leidenschaften und aus Liebe. Was wird also diese Reue sein? Sag es, mein Freund!»

«Ich... ich weiß nicht... Eine Vervollkommnung. Besser... eine Wiedergeburt.»

«Das ist es. Du hast das richtige Wort gesagt. Die Seele ist wie neugeboren. Die Seele wird der eines kleinen Kindes ähnlich. Sie ist neu. Die ganze Vergangenheit existiert nicht mehr. Die Vergangenheit als Mensch. Und wenn die Schuld der Erbsünde getilgt ist, wird die von jedem Makel, jedem Schatten eines Makels befreite Seele erneuert und des Paradieses würdig. Ich habe deine Seele zurückgerufen, die sich schon erneuert hatte durch den Willen zum Guten, durch die Sühne der Leiden und des Todes, durch die vollkommene Reue und vollkommene Liebe, die du jenseits des Todes erlangt hast. Dir hast somit die ganz unschuldige Seele eines neugeborenen, wenige Stunden alten Kindes. Und wenn du ein neugeborenes Kind bist, warum willst du dann diese geistige Kindheit mit den rauhen, schweren Gewändern des erwachsenen Menschen bekleiden? Die Kinder haben Flügel und keine Ketten an ihrer heiteren Seele. Sie ahmen mich mit Leichtigkeit nach, denn sie haben noch keinerlei Persönlichkeit entwickelt. Sie sind so, wie ich bin, denn in ihre noch nicht geprägten Seelen können sich meine Gestalt und meine Lehre klar und deutlich einprägen. Ihre Seelen sind unberührt von menschlichen Erinnerungen, Enttäuschungen und Vorurteilen. Nichts ist in ihnen. Und so kann ich dort sein, vollkommen und unbeschränkt, wie im Himmel. Du bist wie wiedergeboren, ein neu Geborener, denn in deinem alten Fleisch ist eine neue Antriebskraft ohne Vergangenheit, rein und ohne Spuren dessen, was war. Du bist zurückgekehrt, um mir zu dienen. Nur dazu. Daher mußt du sein, wie ich bin, mehr als alle anderen. Sieh mich an. Sieh mich gut an. Spiegle dich in mir und widerspiegle mich in dir. Zwei Spiegel, die einander betrachten und einer im anderen die Gestalt dessen widerspiegeln, den sie lieben.

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Du bist Mann und bist Kind. Du bist Mann durch das Alter und Kind durch die Reinheit des Herzens. Du hast vor den Kindern den Vorteil, das Gute und das Böse schon zu kennen. Ja, du wußtest schon vor der Taufe in den Flammen der Liebe das Gute zu wählen. Nun, ich sage dir, dir, dem Menschen mit der reinen Seele, dessen Reinigung schon vollzogen ist: "Sei vollkommen wie unser Vater im Himmel, und wie ich es bin. Sei vollkommen, also mir ähnlich, der ich dich so sehr geliebt habe, daß ich entgegen allen Gesetzen des Lebens und des Todes, des Himmels und der Erde gehandelt habe, um auf Erden wieder einen Diener Gottes und wahren Freund und im Himmel einen Seligen, einen großen Seligen zu haben." Ich sage allen: "Seid vollkommen." Und sie, die meisten, haben nicht ein Herz wie deines, das eines Wunders würdig ist; und würdig auch, als Werkzeug zur Verherrlichung Gottes in seinem Sohn gebraucht zu werden. Und sie schulden Gott nicht so viel Liebe wie du... Ich kann es sagen. Ich kann es von dir fordern. Und als erstes verlange ich, daß du keine Rachegefühle hegst gegen die, die dich beleidigt haben und mich beleidigen. Verzeihe, verzeihe, Lazarus. Du warst eingetaucht in die von der Liebe entfachten Flammen. Du mußt "Liebe" sein und darfst nichts anderes mehr kennen als die Umarmung Gottes.»

«Wenn ich das tue, werde ich dann die Mission erfüllen, für die du mich auferweckt hast?»

«Ja, dann wirst du sie erfüllen.»

«Das genügt mir, Herr. Mehr brauche ich nicht zu fragen und zu wissen. Dir dienen zu dürfen, danach habe ich mich immer gesehnt. Wenn ich dir auch mit dem Nichts gedient habe, das ein Kranker und ein Toter geben kann, und wenn ich dir werde dienen können mit dem vielen, das ein Geheilter tun kann, so ist mein Wunsch erfüllt und ich verlange nichts mehr. Sei gepriesen, Jesus, mein Herr und Meister! Und mit dir der, der dich gesandt hat.»

«Gepriesen sei in alle Ewigkeit der Herr, der allmächtige Gott.»

Sie gehen nun auf das Haus zu, bleiben dabei ab und zu stehen und betrachten das Wiedererwachen der Bäume, und Jesus, der groß ist, streckt einen Arm aus und pflückt einen blühenden Mandelzweig, der sich an der Südseite des Hauses in der Sonne wärmt.

Maria kommt aus dem Haus, sieht die beiden und nähert sich ihnen, um zu hören, was Jesus sagt: «Siehst du, Lazarus ? Auch zu ihnen hat der Herr gesagt: "Kommt heraus." Und sie haben gehorcht, um dem Herrn zu dienen.»

«Welch ein Geheimnis ist doch das Keimen! Es scheint unmöglich, daß aus dem harten Stamm oder aus harten Samen so zarte Blüten und zerbrechliche Stengel hervorkommen und zu Früchten oder Bäumen werden. Ist es falsch zu sagen, Meister, daß der Saft oder der Keim die Seele der Pflanze oder des Samens ist?»

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«Es ist nicht falsch, denn es ist der lebendige Teil. Bei ihnen zwar nicht ewig, doch geschaffen für jede Art am ersten Tag, da Bäume und Pflanzen waren. Beim Menschen ewig, seinem Schöpfer ähnlich, geschaffen von Mal zu Mal für jeden neuen Menschen, der empfangen wird. Erst durch die Seele lebt die Materie. Und daher sage ich, daß der Mensch nur für die Seele lebt. Nicht nur hier lebt er, auch im Jenseits. Um seiner Seele willen lebt er. Wir Hebräer schmücken unsere Gräber nicht mit Bildern, wie es die Heiden tun. Aber wenn wir etwas abbilden wollten, dann dürfte es keine erloschene Fackel, keine leere Sanduhr oder sonst ein Symbol für das Ende sein, sondern ein in die Furche gestreuter Same, der sich zur Ähre entwickelt hat. Denn der Tod des Fleisches ist es, der die Seele von der Schale befreit und sie Frucht tragen läßt in den Gärten Gottes. Der Same, der lebendige Funke, den Gott in unseren Staub gelegt hat und der zur Ähre wird, wenn wir es verstehen, durch den Willen und auch den Schmerz die Scholle fruchtbar zu machen, die ihn umgibt. Der Same, das Symbol des Lebens, das sich fortpflanzt... Aber Maximinus ruft dich...»

«Ich gehe, Meister. Es werden Verwalter gekommen sein. In den letzten Monaten ist vieles unerledigt geblieben, und nun beeilen sie sich, mir Rechenschaft abzulegen.»

«Und du heißt ihr Tun schon im voraus gut, weil du ein guter Herr bist.»

«Und weil sie gute Diener sind.»

«Ein guter Herr macht auch die Diener gut.»

«Dann werde ich gewiß ein guter Diener, denn ich habe in dir einen vollkommenen Herrn.» Und Lazarus entfernt sich lächelnd und leichtfüßig, ganz anders als der arme Lazarus, der er viele Jahre lang gewesen ist.

Maria bleibt bei Jesus.

«Und du, Maria, wirst du eine gute Dienerin deines Herrn werden?»

«Das kannst nur du wissen, Rabbuni. Ich... ich weiß nur, daß ich eine große Sünderin gewesen bin.»

Jesus lächelt: «Hast du Lazarus gesehen? Auch er war schwer krank, und meinst du nicht, daß er nun ganz gesund ist?»

«So ist es, Rabbuni. Du hast ihn geheilt. Und was du tust, tust du immer ganz. Lazarus ist nie zuvor so kräftig und so heiter gewesen wie jetzt, da er aus dem Grab gestiegen ist.»

«Du hast recht, Maria. Was ich tue, tue ich immer ganz. Daher bist auch du gänzlich vom Bösen befreit, denn ich habe diese Befreiung bewirkt.»

«Das ist wahr, mein geliebter Erretter, Erlöser, König und Gott. Das ist wahr. Und wenn du es willst, werde auch ich eine gute Dienerin meines Herrn sein. Ich meinerseits will es, Herr. Ich weiß jedoch nicht, ob auch du es willst.»

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«Ich will es, Maria. Sei meine gute Dienerin. Heute mehr als gestern. Morgen mehr als heute. Bis ich zu dir sagen werde: "Genug, Maria. Nun ist die Stunde deiner Ruhe gekommen."»

«So sei es, Herr. Und ich möchte, daß du mich dann rufst. So wie du meinen Bruder aus dem Grab gerufen hast. Oh, rufe mich dann aus dem Leben!»

«Nein, nicht aus dem Leben. Ich werde dich zum Leben, zum wahren Leben rufen. Ich werde dich aus dem Grab des Fleisches und der Erde rufen. Ich werde dich zur Hochzeit deiner Seele mit deinem Herrn rufen.»

«Meine Hochzeit! Du liebst die Jungfrauen, Herr...»

«Ich liebe jene, die mich lieben, Maria.»

«Du bist göttlich gut, Rabbuni! Deshalb konnte ich keinen Frieden finden, als ich hören mußte, wie man dich böse nannte, weil du nicht gekommen warst. Es war, als ob alles zusammenbrechen würde. Welche Mühe, mir selbst zu sagen: "Nein, nein, du darfst dieses Offensichtliche nicht akzeptieren. Was dir offensichtlich erscheint, ist ein Traum. Die Wirklichkeit ist die Macht, die Güte, die Gottheit deines Herrn." Ach, was habe ich gelitten! Welcher Schmerz über den Tod des Lazarus und über seine Worte... Hat er dir nichts gesagt? Erinnert er sich nicht mehr? Sage mir die Wahrheit...»

«Ich lüge nie, Maria. Er fürchtet, gesprochen und gesagt zu haben, was der Schmerz seines Lebens gewesen ist. Aber ich habe ihn beruhigt, ohne zu lügen, und er ist nun ruhig.»

«Danke, Herr. Jene Worte... haben mir gut getan. Ja, so wie die Behandlung eines Arztes guttut, bei der die Wurzel des Übels freigelegt und ausgebrannt wird. Sie haben die alte Maria vollends vernichtet. Ich hatte immer noch eine zu gute Meinung von mir. Nun... ermesse ich den Abgrund meiner Verworfenheit und weiß, daß ich noch einen weiten Weg zurückzulegen habe, um wieder herauszukommen. Aber ich werde es schaffen, wenn du mir hilfst.»

«Ich werde dir helfen, Maria. Auch wenn ich nicht mehr unter den Menschen weile, werde ich dir helfen.»

«Wie, mein Herr?»

«Indem ich deine Liebe ins Unendliche vermehre. Für dich gibt es keinen anderen Weg als diesen.»

«Das wäre zu schön für mich, die noch so viel zu sühnen hat! Alle retten sich durch die Liebe. Alle erlangen damit den Himmel. Aber was für die Reinen, die Gerechten genügt, genügt nicht für die große Sünderin.»

«Es gibt keinen anderen Weg für dich, Maria. Welchen Weg du auch nehmen wirst, er wird immer Liebe sein. Liebe, wenn du in meinem Namen Gutes tust. Liebe, wenn du die Frohe Botschaft verkündest. Liebe, wenn du dich absonderst. Liebe, wenn du dich kasteist. Liebe, wenn du dich martern läßt. Du kannst nichts als lieben, Maria. Das ist deine Natur.

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Flammen können nur brennen. Sei es, daß sie am Boden kriechen und die Streu verbrennen, sei es, daß sie in leuchtender Umarmung emporstreben an einem Baum, einem Haus oder von einem Altar, um den Himmel zu erstürmen. Jeder entsprechend seiner Natur. Die Weisheit der Geisteslehrer besteht darin, auf den Neigungen des Menschen aufzubauen und ihn auf den Weg zu führen, auf dem er sich zum Guten entwickeln kann. Auch bei den Pflanzen und den Tieren gilt dieses Gesetz, und es wäre töricht zu verlangen, daß ein Obstbaum nur blüht oder Früchte trägt, die nicht seiner Art entsprechen; oder daß ein Tier eine Aufgabe erfüllt, für die ein anderes bestimmt ist. Könntest du von der Biene dort, deren Bestimmung es ist, Honig zu sammeln, verlangen, daß sie wie ein Vogel im Dickicht der Hecke singt? Oder könntest du verlangen, daß dieser blühende Mandelbaumzweig, den ich in der Hand halte, und der ganze Mandelbaum, von dem ich ihn gepflückt habe, dem Menschen anstelle der Mandeln duftendes Harz spendet? Die Biene arbeitet, der Vogel singt, der Mandelbaum trägt Früchte, ein anderer Baum spendet Wohlgeruch. Und alle erfüllen so ihre Aufgabe. Ebenso ist es bei den Seelen. Und deine Aufgabe ist es, zu lieben.»

«Dann entzünde mich, Herr. Ich bitte dich um diese Gnade.»

«Genügt dir nicht die Kraft der Liebe, die du schon besitzest?»

«Sie ist zu gering, Herr. Sie mag ausreichen, um die Menschen zu lieben, aber nicht für dich, der du der unendliche Herr bist.»

«Gerade weil ich es bin, wäre eine unendliche Liebe nötig ...»

«Ja, mein Herr, diese will ich. Schenke mir eine unendliche Liebe.»

«Maria, der Allerhöchste, der weiß, was Liebe ist, hat dem Menschen gesagt: "Du sollst mich lieben mit allen deinen Kräften." Mehr verlangt er nicht. Denn er weiß, daß es schon ein Martyrium ist, mit allen seinen Kräften zu lieben.»

«Das macht nichts, mein Herr. Gib mir eine unendliche Liebe, damit ich dich lieben kann, wie man dich lieben muß und wie ich noch niemanden geliebt habe.»

«Du bittest mich um ein Leiden, das dem des Scheiterhaufens gleicht, der brennt und verzehrt. Auf dem man verbrennt und langsam von den Flammen verzehrt wird... Überlege es dir gut.»

«Schon lange denke ich daran, mein Herr. Aber ich habe nie gewagt, dich darum zu bitten. Nun weiß ich, wie sehr du mich liebst. Erst jetzt kenne ich das ganze Ausmaß deiner Liebe und wage es, dich zu bitten. Gib mir diese unendliche Liebe, Herr!»

Jesus sieht sie an. Sie steht vor ihm, noch mager von den Nachtwachen und dem Schmerz, mit ihrem einfachen, bescheidenen Gewand und der schlichten Frisur, wie ein braves Mädchen. Mit ihrem blassen Antlitz, das sich vor Sehnsucht rötet, und ihren bittenden Augen, die vor Liebe leuchten, ist sie schon mehr ein Seraph als eine Frau. Sie ist wahrlich

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die Beschauliche, die das Martyrium der absoluten Kontemplation erfleht...

Jesus sagt ein einziges Wort, nachdem er sie lange angesehen hat, als wolle er ihren Willen abwägen: «Ja.»

«Ach, mein Herr! Welche Gnade, aus Liebe zu dir zu sterben!» Sie fällt auf die Knie und küßt die Füße Jesu.

«Steh auf, Maria. Nimm diese Blüten. Es sollen die Blumen deiner geistigen Vermählung sein. Sei sanft wie die Frucht des Mandelbaumes, rein wie seine Blüte, leuchtend wie das aus seiner Frucht gepreßte Öl, wenn es entzündet ist, und duftend wie dieses Öl, wenn es mit Essenzen gesättigt bei den Gastmählern versprüht oder auf die Häupter der Könige gegossen wird, duftend nach deinen Tugenden. Dann wirst du wahrlich über deinen Herrn den Balsam ausgießen, den er so unendlich liebt.»

Maria nimmt die Blumen, aber sie erhebt sich nicht, sondern schenkt schon im voraus den Balsam der Liebe mit ihren Küssen und den Tränen, die sie auf die Füße des Herrn vergießt.

Lazarus kommt ihnen entgegen: «Meister, eine Knabe ist da, der dich sprechen will. Er ist in das Haus des Simon gegangen, um dich dort zu suchen, und hat nur Johannes gefunden, der ihn hierher geführt hat. Aber er will nur mit dir reden.»

«Gut, bring ihn her. Ich werde in die Jasminlaube gehen.»

Maria kehrt mit Lazarus ins Haus zurück, und Jesus begibt sich zur Laube. Kurz darauf kommt Lazarus mit einem Knaben an der Hand, den ich im Haus des Joseph von Sephoris gesehen habe. Jesus erkennt ihn sofort wieder und grüßt ihn: «Du, Martial? Der Friede sei mit dir. Warum bist du hier?»

«Sie haben mich geschickt, damit ich dir etwas sage ...» Er schaut Lazarus an, der versteht und sich entfernen will.

«Bleibe, Lazarus. Dies ist mein Freund Lazarus. Du kannst vor ihm sprechen, Kind, denn ich habe keinen treueren Freund als ihn.»

Der Junge beruhigt sich und sagt: «Joseph der Älteste schickt mich, denn nun bin ich bei ihm. Ich soll dir sagen, daß du gleich nach Bethphage zum Haus des Kleon kommen sollst. Er muß sofort mir dir sprechen. Wirklich sofort. Und er hat gesagt, du sollst allein kommen, denn er muß mit dir ganz im geheimen reden.»

«Meister, was geht hier vor?» fragt Lazarus erregt.

«Ich weiß es nicht, Lazarus. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu gehen. Komm mit mir.»

«Sofort, Herr. Wir können mit dem Jungen gehen.»

«Nein, Herr. Ich gehe allein fort. Joseph hat es mir aufgetragen. Er hat gesagt: "Wenn du es allein und gut machst, werde ich dich wie ein Vater lieben." Und ich will von Joseph wie ein Sohn geliebt werden. Ich gehe sofort und laufe. Du kommst in einer Weile. Salve, Herr. Salve, Mann.»

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«Der Friede sei mit dir, Martial.»

Das Kind schwirrt davon wie eine Schwalbe.

«Gehen wir, Lazarus. Bring mir den Mantel. Ich gehe voraus, denn wie du siehst, gelingt es dem Jungen nicht, das Tor zu öffnen, und er wird niemanden rufen wollen.»

Jesus geht rasch zum Tor, und Lazarus rasch ins Haus. Jesus öffnet die eisernen Schlösser, und der Knabe eilt fort. Lazarus bringt Jesus den Mantel und geht an seiner Seite den Weg nach Bethphage.

«Was Joseph nur will? Daß er dir so heimlich ein Kind schickt ...»

«Ein Kind kann den Blicken der Spione entgehen», antwortet Jesus.

«Du glaubst, daß... Du hast einen Verdacht, daß... Du fühlst dich in Gefahr, Herr?»

«Ich bin es ganz gewiß, Freund.»

«Wie, auch jetzt? Aber einen stärkeren Beweis hättest du doch nicht erbringen können?»

«Der Haß wächst unter dem Stachel der Wirklichkeit.»

«Oh, meinetwegen also! Ich habe dir geschadet ... ! Mein Schmerz ist ohnegleichen», sagt Lazarus zutiefst betrübt.

«Nicht deinetwegen. Quäle dich nicht grundlos. Du warst das Mittel; der Grund aber war die Notwendigkeit, verstehst du, die Notwendigkeit, der Welt den Beweis meiner göttlichen Natur zu erbringen. Wenn du es nicht gewesen wärest, dann wäre es ein anderer gewesen; denn ich mußte der Welt beweisen, daß ich als Gott, der ich bin, alles kann, was ich will. Und einen seit Tagen Toten, der schon verwest ist, zum Leben zu erwecken, kann nur das Werk Gottes sein.»

«Ach, du willst mich nur trösten. Aber meine Freude, meine ganze Freude ist dahin... Ich leide, Herr.»

Jesus macht eine Bewegung, als wollte er sagen: «Was kann ich da tun?», dann schweigen beide.

Sie gehen schnell, und da die Entfernung von Bethanien nach Bethphage nicht groß ist, sind sie bald am Ziel.

Joseph geht am Eingang des Dorfes auf und ab. Er kehrt Jesus und Lazarus den Rücken, als die beiden auf einem hinter einer Hecke verborgenen Weg ankommen. Lazarus ruft ihn.

«Oh! Der Friede sei mit euch. Komm Meister. Ich habe dich hier erwartet, um dich gleich zu sehen; aber gehen wir in den Olivenhain. Ich will nicht, daß man uns sieht ...»

Er führt sie hinter den Häusern in einen Ölgarten, der mit seinem dichten Laub den Abhang bedeckt und ein guter Unterschlupf ist, in dem man sich unbemerkt unterhalten kann.

«Meister, ich habe das Kind geschickt, das flink und gehorsam ist und mich sehr liebt, da ich mit dir sprechen muß und wir nicht zusammen gesehen werden dürfen. Ich habe den Kedron überquert, um hierher zu

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kommen... Meister, du mußt diese Gegend sofort verlassen. Das Synedrium hat deine Gefangennahme beschlossen, und morgen wird dieser Beschluß in den Synagogen verkündet. Jeder, der weiß, wo du dich aufhältst, hat die Pflicht, dich anzuzeigen. Es erübrigt sich zu sagen, o Lazarus, daß dein Haus das erste sein wird, das man überwacht. Ich bin um die sechste Stunde aus dem Tempel gegangen und habe sofort gehandelt; denn während sie redeten, war mein Plan schon fertig. Ich ging nach Hause und holte das Kind. Dann ritt ich durch das Herodestor, so als würde ich die Stadt verlassen. Ich überquerte den Kedron und ritt an ihm entlang, ließ dann den Esel in Gethsemane zurück und schickte den Jungen eilends zu dir. Er kannte den Weg, denn er war schon einmal mit mir in Bethanien. Geh augenblicklich fort, Meister. Begib dich an einen sicheren Ort. Weißt du, wohin du gehen kannst? Wo man dich aufnimmt?»

«Würde es nicht genügen, wenn er von hier fortginge? Oder wenn er Judäa verließe?»

«Das genügt nicht, Lazarus. Sie sind wütend. Er muß an einen Ort gehen, an den sie nicht kommen ...»

«Aber sie kommen überallhin. Du willst doch nicht sagen, daß der Meister Palästina verlassen muß!» sagt Lazarus aufgeregt.

«Nun, was soll ich dir sagen... Das Synedrium will es...»

«Meinetwegen, nicht wahr? Sag es nur!»

«Nun ja, deinetwegen... d.h., weil alle sich zu ihm bekehren... und sie... wollen das nicht.»

«Aber das ist ein Verbrechen! Das ist Gotteslästerung... Das ist...»

Jesus, bleich aber ruhig, erhebt die Hand, gebietet Schweigen und sagt: «Schweig, Lazarus. Jeder tut, was er muß. Alles steht geschrieben. Ich danke dir, Joseph, und versichere dir, daß ich aufbrechen werde. Geh, geh, Joseph, damit sie deine Abwesenheit nicht bemerken... Gott segne dich. Durch Lazarus werde ich dich wissen lassen, wo ich mich aufhalte. Geh. Ich segne dich, Nikodemus und alle, die ein gerechtes Herz haben.»Er küßt ihn, und sie trennen sich. Jesus kehrt mir Lazarus durch den Ölgarten nach Bethanien zurück, während Joseph zur Stadt geht.

«Was wirst du tun, Meister?» fragt Lazarus besorgt.

«Ich weiß es nicht. In einigen Tagen kommen die Jüngerinnen mit meiner Mutter. Ich hätte gerne auf sie gewartet.»

«Wenn es nur das ist... Ich könnte sie in deinem Namen aufnehmen und zu dir führen. Aber du, wohin gehst du inzwischen? Das Haus des Salomon scheint mir nicht geeignet... Und auch die Häuser der bekannten Jünger nicht. Morgen... ! Du mußt sofort weggehen!»

«Ich wüßte einen Platz. Aber ich würde gerne auf meine Mutter warten. Ihre Angst würde zu früh beginnen, wenn sie mich nicht hier antrifft...»

«Wohin willst du gehen, Meister?»

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«Nach Ephraim.»

«Nach Samaria? »

«Nach Samaria. Die Samariter sind weniger Samariter als viele andere, und sie lieben mich. Ephraim liegt an der Grenze.»

«Oh, und um die Juden zu ärgern, werden sie dich ehren und verteidigen! Aber... warte! Deine Mutter kann nur auf der Straße von Samaria oder den Jordan entlang kommen. Ich werde mit Dienern zur einen und Maximinus mit anderen Dienern zur anderen Straße gehen, und so wird der eine oder der andere ihr begegnen. Wir werden nur mit ihr zurückkehren. Du weißt, daß niemand aus dem Haus des Lazarus dich verraten würde. Du gehst indessen nach Ephraim. Sofort. Ach, es war Schicksal, daß ich mich deiner nicht erfreuen durfte! Aber ich werde kommen. Über die Berge von Adummim. Nun bin ich ja gesund und kann tun, was ich will. Und... Ja, ich werde den Anschein erwecken, daß ich mich über Samaria nach Ptolemais begebe, um dort ein Schiff nach Antiochia zu nehmen. Alle wissen, daß ich dort Ländereien habe... Die Schwestern bleiben in Bethanien... Du... Ja, nun lasse ich zwei Wagen anspannen, und ihr fahrt damit nach Jericho. Von dort aus könnt ihr morgen bei Sonnenaufgang zu Fuß weitergehen. Oh, Meister! Mein Meister! Rette dich! Rette dich!» Nach der ersten Aufregung wird Lazarus traurig und weint. Jesus seufzt, sagt aber nichts. Was sollte er auch sagen ... ?

Nun sind sie beim Haus des Simon angelangt und trennen sich. Jesus geht ins Haus. Die Apostel, die sich schon gewundert haben, daß der Meister fortgegangen ist, ohne ein Wort zu sagen, umringen ihn und Jesus sagt: «Nehmt eure Kleider und packt eure Reisesäcke. Wir müssen sofort aufbrechen von hier. Beeilt euch und kommt dann ins Haus des Lazarus.»

«Auch die nassen Gewänder? Können wir die nicht auf dem Rückweg mitnehmen?» fragt Thomas.

«Wir kehren nicht zurück. Nehmt alles mit.»

Die Apostel entfernen sich und tauschen vielsagende Blicke aus. Jesus geht, um seine Sachen im Haus des Lazarus zu holen, und verabschiedet sich von den bestürzten Schwestern.

Die Wagen stehen bald bereit. Es sind schwere, bedeckte und von kräftigen Pferden gezogene Wagen. Jesus verabschiedet sich von Lazarus, Maximinus und den herbeigeeilten Dienern.

Sie besteigen die Wagen, die an einem Hinterausgang warten. Die Lenker treiben die Tiere an, und die Reise beginnt... auf dem gleichen Weg, auf dem Jesus vor wenigen Tagen gekommen ist, um Lazarus zu erwecken.

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606. AUF DEM WEG NACH EPHRAIM

In dieser frischen, klaren Morgenstunde sind die Felder rings um das Haus der Nike ein einziges Grünen jungen, erst einige Zentimeter hohen Getreides, dessen zarte Tönung an einen sehr hellen Smaragd erinnert. Der kahle Obstgarten in der Nähe des Hauses erscheint noch dunkler und massiver im Gegensatz zu der Zartheit der Halme und dem durchsichtigen Himmel in seiner paradiesischen Heiterkeit. Taubenflug krönt das weiße Haus in der ersten Morgensonne.

Nike ist bereits aufgestanden und eifrig damit beschäftigt, alles vorzubereiten, um es den Abreisenden unterwegs an nichts fehlen zu lassen. Sie entläßt zuerst die beiden Diener des Lazarus, die in ihrem Haus übernachtet haben. Nachdem sie sich gestärkt haben, fahren sie im Trab davon. Nike kehrt in die Küche zurück, wo Dienerinnen auf großen Feuern Milch und Speisen kochen. Sie gießt aus einem großen Gefäß Öl in zwei kleinere Krüge und füllt Wein in Lederbeutel. Sie treibt eine Dienerin an, die flache, fladenartige Brote formt, diese sofort in den schon vorgeheizten Backofen zu schieben. Sie wählt unter den auf großen Brettern in der Wärme der Küche trocknenden Käsen die schönsten aus und füllt Honig in kleine Flaschen mit sicherem Verschluß. Dann packt sie alle diese Lebensmittel ein. Eines der Pakete enthält ein ganzes Böcklein oder Lamm, das eine Dienerin von dem Spieß nimmt, an dem sie es geröstet hat. Ein anderes enthält korallenrote Äpfel, wieder ein anderes schon gebrauchsfertige Oliven, und ein drittes getrocknete Weintrauben. Auch ein Säckchen mit gereinigter Gerste ist dabei. Nike ist noch damit beschäftigt, dieses zu verschließen, als Jesus die Küche betritt und alle Anwesenden grüßt.

«Meister, der Friede sei mit dir. Du bist schon aufgestanden?»

«Ich hätte es schon früher tun sollen. Aber meine Jünger waren so müde, daß ich sie noch etwas schlafen lassen wollte. Was tust du da, Nike?»

«Ich bereite alles vor... Sie werden nicht zu schwer sein; siehst du, zwölf Pakete... und ich habe die Kraft derer, die sie tragen müssen, berücksichtigt.»

«Und ich?»

«Oh, Meister, du hast schon deine Last ...» und in Nikes Augen glänzen Tränen.

«Komm mit hinaus, Nike. Wir wollen ruhig miteinander sprechen.»

Sie gehen hinaus und entfernen sich vom Haus.

«Mein Herz weint, Meister ...»

«Ich weiß es. Aber man muß stark sein. Stark sein und daran denken, daß man mir keinen Schmerz zugefügt hat.»

«Oh, das möge niemals geschehen! Aber ich hatte geglaubt, ich könnte

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in deiner Nähe bleiben... deshalb bin ich nach Jerusalem gekommen. Sonst wäre ich hiergeblieben, wo ich meine Ländereien habe...»

«Auch Lazarus, Maria und Martha haben gehofft, mit mir zusammensein zu können. Und du siehst!»

«Ich sehe. Ja, ich sehe. Nach Jerusalem gehe ich nun nicht mehr, da du nicht dort bist. Ich werde näher bei dir sein, wenn ich hier bleibe, und ich kann dir helfen.»

«Du hast schon viel gegeben...»

«Nichts habe ich gegeben. Ich wollte, ich könnte dir überall, wohin du gehst, mein Haus nachtragen. Aber ich werde kommen, ganz gewiß werde ich kommen, um nachzusehen, was du brauchst. Nun werde ich erst einmal tun, was du mir aufgetragen hast. Ich werde hierbleiben, bis sie sich überzeugt haben, daß du nicht bei mir bist. Aber dann ...»

«Es ist ein langer und mühseliger Weg für eine Frau, und ein sehr unsicherer.»

«Oh, ich habe keine Angst. Ich bin zu alt, um als Frau noch zu gefallen, und ich habe keine Schätze bei mir, die mich als Beute begehrenswert machen könnten. Die Räuber sind besser als viele von denen, die sich für Heilige halten, während sie selbst Räuber sind, die dir den Frieden und die Freiheit rauben wollen...»

«Du darfst sie nicht hassen, Nike.»

«Das fällt mir schwerer als alles andere. Aber ich will mich bemühen, aus Liebe zu dir nicht zu hassen... Ich habe die ganze Nacht geweint, Herr!»

«Ich habe dich unermüdlich wie eine Biene kommen und gehen gehört. Und du schienst mir wie eine Mutter, die in Sorge um den verfolgten Sohn ist... Weine nicht. Weinen sollten die Schuldigen, nicht du. Gott ist gut mit seinem Messias. In den traurigsten Stunden läßt er mich immer den Trost eines mütterlichen Herzens finden ...»

«Und wie wirst du es mit deiner Mutter machen? Du hast mir gesagt, daß sie bald gekommen wäre ...»

«Sie wird nach Ephraim kommen... Lazarus sorgt dafür, daß sie benachrichtigt wird. Da sind Simon des Jonas und meine Brüder...»

«Wissen sie Bescheid?»

«Noch nicht, Nike. Ich werde es ihnen sagen, wenn wir weit weg sind.»

«Und ich werde dir, wenn ich komme, berichten, was hier und in Jerusalem geschieht...»

Sie gehen zu den Aposteln, die einer nach dem anderen aus dem Haus kommen, um Jesus zu suchen.

«Kommt, Brüder. Eßt noch etwas vor der Abreise. Es ist alles bereit.»

«Nike hat unseretwegen die ganze Nacht nicht geschlafen. Dankt der guten Jüngerin», sagt Jesus beim Betreten der geräumigen Küche, in der auf einem Tisch, der so groß ist wie der Tisch eines Refektoriums, Schalen

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Mit dampfender Milch stehen, und von dem der Duft der soeben aus dem Ofen gekommenen Brotfladen aufsteigt. Nike bestreicht sie großzügig mit Butter und Honig und erklärt, daß dies eine kräftigende Nahrung sei für alle, die in diesen noch frischen Morgenstunden einen weiten Weg zurücklegen müssen.

Die Mahlzeit ist bald beendet. Nike hat inzwischen die letzten Pakete gemacht mit dem knusprigen, frischen Brot, und jeder Apostel nimmt sein Bündel, das so gut zusammengeschnürt ist, daß man es bequem tragen kann.

Nun ist es Zeit zu gehen. Jesus grüßt und segnet. Die Apostel grüßen. Aber Nike will sie noch bis an die Grenze ihrer Felder begleiten; dann kehrt sie langsam zurück und weint in ihren Schleier, während Jesus sich mit den Seinen auf einer Nebenstraße entfernt, die Nike ihm gezeigt hat.

Die Gefilde sind noch verlassen. Der Weg führt über Felder mit jungem Getreide und durch kahle Weinberge. Daher fehlen auch die Hirten, denn sie führen ihre Herden nicht auf bearbeitetes Land. Die Sonne erwärmt ein wenig die Morgenluft. Die ersten Blümchen am Boden glitzern wie Juwelen unter dem Schleier des Taues, den die Sonne entzündet. Die Vögel zwitschern ihre ersten Liebeslieder. Die schöne Jahreszeit bricht an. Alles wird schöner und erneuert sich, alles ist Liebe... Und Jesus begibt sich in das Exil, das dem vom Haß gewollten Tod vorangeht.

Die Apostel reden nicht. Sie denken nach. Die rasche Abreise hat sie verwirrt. Sie waren so sicher, daß nun alles in Ordnung ist. Sie gehen gebeugter, als es unter dem relativ geringen Gewicht ihrer Reisesäcke und der Vorräte Nikes nötig wäre. Die Enttäuschung, die Erkenntnis dessen, was die Welt und die Menschen sind, drückt sie nieder.

Jesus hingegen lächelt zwar nicht, ist aber weder traurig noch niedergeschlagen. Er geht mit erhobenem Haupt allen voran, nicht gerade energisch, aber auch nicht ängstlich. Er geht wie einer, der weiß, wohin er gehen und was er tun muß. Er geht als der Starke, der Held, den nichts erschüttern und erschrecken kann.

Die Nebenstraße endet an der Hauptstraße. Jesus geht auf ihr in nördlicher Richtung weiter. Und die Apostel folgen ihm schweigend. Da es die Straße ist, die von Galiläa durch die Dekapolis und Samaria nach Judäa führt, sind schon Reisende unterwegs. Vor allem Karawanen von Kaufleuten.

Die Zeit vergeht, und die Sonne wärmt immer stärker. Da verläßt Jesus die Hauptstraße und schlägt wieder einen schmalen Weg ein, der durch Getreidefelder zu den ersten Hügeln führt.

Die Apostel sehen sich gegenseitig an. Vielleicht wird ihnen jetzt bewußt, daß sie nicht durch das Jordantal nach Galiläa gehen, sondern in Richtung Samaria. Aber sie sagen noch nichts.

Als sie bei den ersten Wäldern der Hügel angelangt sind, sagt Jesus:

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«Wir wollen anhalten, rasten und etwas essen. Die Sonne zeigt den Mittag an.»

Sie sind nun an einem Bach, der wenig Wasser führt, da es schon seit geraumer Zeit nicht mehr geregnet hat. Aber das spärliche Wasser fließt klar über den kiesbedeckten Boden, und am Ufer liegen große Steine, die als Tische und Sitze dienen können. Sie setzen sich, nachdem Jesus das Mahl gesegnet und geopfert hat, und essen nachdenklich und schweigend.

Jesus rüttelt sie auf und sagt: «Fragt ihr mich nicht, wohin wir gehen? Hat die Sorge um den morgigen Tag eure Zungen gelähmt, oder habt ihr das Gefühl, daß ich nicht mehr euer Meister bin?»

Die Zwölf heben das Haupt. Zwölf betrübte oder zumindest verwirrte Gesichter wenden sich dem ruhigen Antlitz Jesu zu, und ein einziges «Oh!» kommt aus den zwölf Mündern. Diesem allgemeinen Ausruf folgt die Antwort des Petrus, der für alle spricht: «Meister, du weißt, daß du es immer für uns bist. Doch seit gestern ist es, als hätten wir einen schweren Schlag auf den Kopf erhalten. Und es scheint uns alles nur ein Traum zu sein. Und du... Wir sehen und wir wissen, daß du es bist... doch du scheinst uns schon... irgendwie fern zu sein. Dieses Gefühl haben wir schon, seit du mit deinem Vater gesprochen hast, vor der Auferweckung des Lazarus; und seit du ihn da herausgeholt hast, so in seine Binden gewickelt, und nur durch deinen Willen, und ihn lebendig gemacht hast, nur durch die Stärke deiner Macht. Das macht uns fast Angst. Ich spreche für mich ... aber ich glaube, daß alle dasselbe empfunden haben ... Und nun ... Wir ... diese Abreise... so rasch und so geheimnisvoll!»

«Habt ihr jetzt doppelt Angst? Spürt ihr die Gefahr näherrücken? Habt ihr oder fühlt ihr nicht die Kraft in euch, euch den letzten Prüfungen zu stellen und sie zu bestehen? Sagt es mir frei heraus. Wir sind noch in Judäa, und es ist nicht weit zu den ebenen Straßen nach Galiläa. Jeder kann gehen, wenn er will, und rechtzeitig gehen, um nicht den Haß des Synedriums zu erfahren...»

Die Apostel werden sehr erregt bei diesen Worten. Wer sich in das von der Sonne erwärmte Gras gelegt hat, setzt sich auf, und wer gesessen ist, springt auf die Füße.

Jesus fährt fort: «Denn ab heute bin ich der vom Gesetz Verfolgte. Das sollt ihr wissen. Zu dieser Stunde wird in den fünfhundert und mehr Synagogen Jerusalems und der anderen Städte, die den gestern um die sechste Stunde ausgesprochenen Bann erhalten haben, verkündet, daß ich der große Sünder bin. Und jeder, der weiß, wo ich mich aufhalte, ist verpflichtet, mich beim Synedrium anzuzeigen, damit ich gefangengenommen werden kann.»

Die Apostel schreien auf, als ob sie ihn schon in Ketten sähen. Johannes wirft sich an Jesu Hals und klagt: «Ach, ich habe es schon immer vorausgesehen!» Und er schluchzt laut. Die einen beschimpfen das Synedrium,

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die anderen rufen die göttliche Gerechtigkeit an, einige weinen nur, und andere erstarren zur Statue.

«Schweigt und hört zu! Ich habe euch nie betrogen. Ich habe euch immer die Wahrheit gesagt. Wenn es mir möglich war, habe ich euch verteidigt und beschützt. Eure Nähe war mir lieb wie die von Söhnen. Ich habe euch auch meine letzte Stunde nicht verborgen... die Gefahren für mich... meine Leiden. Doch es waren meine Angelegenheiten, ausschließlich meine. Nun seid auch ihr in Gefahr, eure Sicherheit, eure Familien, und ihr müßt es euch überlegen. Ich bitte euch, es zu tun. Mit voller Freiheit. Seht dabei ab von eurer Liebe zu mir und von eurer Berufung durch mich. Ich entbinde euch jeglicher Verpflichtung gegen Gott und seinen Christus. Nehmt an, daß ihr mir hier und jetzt zum erstenmal begegnet seid und, nachdem ihr mich angehört habt, entscheiden müßt, ob es angebracht ist oder nicht, dem Unbekannten zu folgen, dessen Worte euch erschüttert haben. Nehmt an, ihr würdet mich zum erstenmal sehen und hören und ich würde euch sagen: "Nehmt euch in acht, denn ich werde verfolgt und gehaßt, und wer mich liebt und mir nachfolgt, wird verfolgt und gehaßt werden wie ich. Und er selbst, sein Besitz und seine Verwandten werden in Gefahr sein. Gebt acht, denn die Verfolgung kann auch zum Tod und zur Beschlagnahme des Familienbesitzes führen." Überlegt und entscheidet. Und ich werde euch noch ebenso lieben, auch wenn ihr mir sagen solltet: "Meister, ich kann nicht mehr mit dir gehen." Seid ihr nun traurig? Nein, das dürft ihr nicht sein. Wir sind gute Freunde, die in Frieden und Liebe überlegen, was zu tun ist, und Verständnis füreinander haben. Ich kann euch nicht der Zukunft entgegengehen lassen, ohne euch Gelegenheit zum Nachdenken zu geben. Ich schätze euch nicht gering. Ich liebe euch alle. Aber ich bin der Meister. Und der Meister kennt natürlich seine Jünger. Ich bin der Hirte, und der Hirte kennt seine Schafe genau. Ich weiß, daß meine Jünger, wenn sie ohne genügende Vorbereitung vor eine Prüfung gestellt werden, versagen oder zumindest nicht siegreich aus ihr hervorgehen könnten, wie ein Athlet im Stadion. Und zu eurer Vorbereitung ist nicht nur die Weisheit nötig, die vom Meister kommt und daher gut und vollkommen ist, sondern auch die Überlegung, die von eurer Seite kommen muß. Sich prüfen und abwägen ist eine weise Regel, immer. In kleinen und großen Dingen. Ich, der Hirte, muß zu meinen Schafen sagen: "Seht, ich gehe nun in das Gebiet der Wölfe und Mörder... Habt ihr die Kraft, mir dorthin zu folgen?" Ich könnte euch auch schon sagen, wer nicht die Kraft haben wird, standzuhalten in der Prüfung, und euch diesbezüglich beruhigen und versichern, daß keiner von euch durch die Hand der Mörder fallen wird, die das Lamm Gottes schlachten werden. Meine Gefangennahme ist für sie von solchem Wert, daß sie sich damit begnügen werden... Und doch sage ich euch: "Überlegt." Einmal sagte ich euch: "Fürchtet euch nicht vor denen, die töten." Ich sagte euch: "Wer

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die Hand an den Pflug gelegt hat und sich umwendet, um die Vergangenheit zu betrachten oder das, was er verlieren oder gewinnen könnte, ist für meine Mission nicht geeignet." Aber es waren Normen, um euch einen Maßstab zu geben für das, was ein Jünger ist. Normen für die kommenden Zeiten, wenn nicht mehr ich, sondern meine Getreuen Meister sein werden. Sie wurden gegeben, um eure Seelen stark zu machen. Aber auch die Stärke, die ihr unleugbar erlangt habt gegenüber dem Nichts, das ihr wart – ich spreche von eurem Geist – reicht nicht aus für die Schwere der Prüfung. Oh, denkt nicht in euren Herzen: "Der Meister nimmt Anstoß an uns." Ich nehme keinen Anstoß. Ja, ich sage euch vielmehr: Nicht einmal ihr dürft, jetzt und in der Zukunft, Anstoß nehmen an eurer Schwäche. In allen kommenden Zeiten wird es unter den Gliedern meiner Kirche, seien sie Schafe oder Hirten, Menschen geben, die der Größe ihrer Aufgabe nicht entsprechen. Es werden Zeiten kommen, da es mehr falsche als echte Gläubige und mehr falsche als echte Hirten geben wird. Zeiten der Finsternis für den Geist des Glaubens in der Welt. Aber eine Finsternis ist nicht der Tod eines Gestirnes. Sie ist nur eine zeitweilige, mehr oder weniger teilweise Verdunkelung. Und danach erstrahlt seine Schönheit nur noch leuchtender. So wird es auch bei meiner Herde sein. Ich sage euch: "Überlegt." Und ich sage euch dies als Meister, Hirte und Freund. Ich lasse euch volle Freiheit, miteinander darüber zu sprechen. Ich gehe in den Wald dort und bete. Einer nach dem anderen könnt ihr dann zu mir kommen und mir eure Gedanken mitteilen. Und ich werde eure Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit segnen, zu welchem Schluß auch immer sie euch führen mag. Und ich werde euch lieben für alles, was ihr mir bisher schon gegeben habt. Lebt wohl.» Jesus erhebt sich und geht.

Die Apostel sind erschüttert, verwirrt, gerührt. Zuerst bringt keiner ein Wort heraus. Dann sagt Petrus als erster: «Die Hölle soll mich verschlingen, wenn ich ihn verlasse! Ich bin meiner sicher. Selbst wenn alle Dämonen der Gehenna mir mit dem Leviathan an der Spitze entgegenkämen, würde ich mich nicht aus Angst von ihm trennen!»

«Ich auch nicht! Sollte ich meinen Töchtern nachstehen?» sagt Philippus.

«Ich weiß genau, daß sie ihm nichts antun werden. Das Synedrium droht; aber es handelt nur deshalb so, weil es sich überzeugen will, daß es noch existiert. Sie wissen ganz genau, daß sie nichts tun können, wenn Rom nicht will. Ihre Verurteilung! Nur Rom kann verurteilen!» sagt Iskariot selbstsicher.

«Aber für religiöse Angelegenheiten ist immer noch das Synedrium zuständig», bemerkt Andreas.

«Hast du etwa Angst, Bruder? Vergiß nicht, daß es in unserer Familie noch nie Feiglinge gegeben hat», ermahnt Petrus drohend. In seinem Herzen beginnt sich ein kriegerischer Geist zu rühren.

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«Ich habe keine Angst und hoffe es beweisen zu können. Ich möchte nur Judas meine Meinung sagen.»

«Du hast recht. Doch der Fehler des Synedriums liegt darin, daß es die Waffe der Politik gebrauchen will, da es nicht zugeben und auch nicht hören will, die Hand gegen den Christus erhoben zu haben. Ich weiß es gewiß. Sie möchten, oder vielmehr, sie hätten gerne den Christus zur Sünde verleitet, um ihn zum Gegenstand der Verachtung des Volkes zu machen. Aber ihn töten! Sie! O nein! Sie haben Angst! Eine menschlich nicht zu ermessende Angst, denn es ist eine Angst der Seele. Sie wissen ganz genau, daß er der Messias ist. Sie wissen es. Sie wissen es so gut, daß sie spüren, daß sie am Ende sind und eine neue Zeit anbricht. Und deshalb wollen sie ihn vernichten. Aber sie ihn vernichten?! Nein. Daher suchen sie einen politischen Grund, damit der Statthalter, damit Rom ihn vernichtet. Aber der Christus schadet Rom nicht, und Rom wird ihm nicht schaden. Und das Synedrium geifert vergebens.»

«Dann bleibst du also bei ihm?»

«Aber sicher. Sicherer als alle anderen!»

«Ich habe nichts zu gewinnen oder zu verlieren, ob ich nun bleibe oder gehe. Ich habe nur die Pflicht, ihn zu lieben. Und ich werde es tun», sagt der Zelote.

«Ich erkenne ihn als den Messias an, und deshalb folge ich ihm», sagt Nathanael.

«Auch ich. Ich habe an ihn geglaubt von dem Augenblick an, da Johannes der Täufer ihn mir als den Messias bezeichnet hat», sagt Jakobus des Zebedäus.

«Wir sind seine Brüder. Zum Glauben fügen wir unsere Liebe als Verwandte hinzu. Nicht wahr, Jakobus?» sagt Thaddäus.

«Er ist seit Jahren meine Sonne. Ich folge ihrem Lauf. Wenn er in den von den Feinden gegrabenen Abgrund stürzt, dann werde ich ihm folgen», antwortet Jakobus des Alphäus.

«Und ich? Könnte ich vergessen, daß er mich erlöst hat?» fragt Matthäus.

«Mein Vater würde mich siebenmal siebenmal verfluchen, wenn ich den Meister verlassen würde. Und im übrigen, selbst wenn es nur aus Liebe zu Maria wäre, ich würde mich nie von Jesus trennen», sagt Thomas.

Johannes sagt nichts. Er steht traurig und mit geneigtem Haupt da. Die anderen fassen sein Verhalten als Schwäche auf, und mehrere fragen ihn: «Und du? Du allein willst ihn verlassen?»

Johannes erhebt sein in Ausdruck und Blick so reines Antlitz. Er sieht die Fragenden mit seinen klaren, blauen Augen an und sagt: «Ich habe für uns alle gebetet. Denn wir wollen handeln und entscheiden und verlassen uns auf uns selbst, und wir merken nicht, daß wir dadurch an den Worten des Meisters zweifeln. Wenn er uns unvorbereitet nennt, dann

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beweist dies, daß wir es sind. Wenn es uns in drei Jahren nicht gelungen ist uns vorzubereiten, werden wir es in wenigen Monaten erst recht nicht schaffen...»

«Was sagst du? In wenigen Monaten? Was weißt du denn? Bist du etwa ein Prophet?» Sie bestürmen ihn beinahe in tadelndem Ton.

«Ich bin nichts.»

«Was weißt du dann? Hat er dir vielleicht etwas gesagt? Du kennst ja immer seine Geheimnisse ...» sagt Judas von Kerioth eifersüchtig.

«Hasse mich nicht, Freund, weil ich begreife, daß die glückliche Zeit vorüber ist. Wann es sein wird? Ich weiß es nicht. Ich weiß, daß es sein wird. Er selbst sagt es. Wie oft hat er es schon gesagt! Wir wollten es nur nicht glauben. Doch der Haß der anderen bestätigt seine Worte... Und daher bete ich. Denn man kann nichts anderes tun. Ich bitte Gott, daß er uns stärke. Hast du vergessen, Judas, daß er zum Vater betete, um Kraft in den Versuchungen zu erlangen? Alle Kraft kommt von Gott. Ich ahme meinen Meister nach, wie es sich gebührt...»

«Also, du bleibst?» fragt Petrus.

«Wo soll ich denn hingehen, wenn ich nicht bei ihm bleibe, der mein Leben und mein höchstes Gut ist? Aber da ich nur ein armer Junge bin, der geringste von allen, erbitte ich alles von Gott, dem Vater Jesu und unserem Vater.»

«Abgemacht, so bleiben wir also alle. Gehen wir zu ihm. Ganz gewiß ist er traurig. Unsere Treue wird ihn trösten», sagt Petrus.

Jesus hat sich zum Gebet niedergeworfen. Das Gesicht im Gras, fleht er gewiß den Vater an. Doch beim Geräusch der sich nähernden Schritte steht er auf und blickt seine Zwölf an. Er betrachtet sie mit etwas traurigem Ernst.

«Freue dich, Meister. Keiner von uns wird dich verlassen», sagt Petrus.

«Ihr habt euch zu rasch entschieden, und...»

«Stunden und Jahrhunderte werden unseren Beschluß nicht ändern», sagt Petrus.

«Noch Drohungen unsere Liebe zu dir», erklärt Iskariot.

Jesus betrachtet sie nun nicht mehr alle zusammen, sondern blickt einen nach dem anderen fest an. Lange Blicke, die alle ohne Furcht ertragen. Sein Blick verweilt besonders auf Iskariot, der ihn sicherer als alle anderen ansieht. Schließlich breitet er in einer ergebenen Geste die Arme aus und sagt: «Gehen wir. Ihr alle habt euer Schicksal besiegelt.» Er kehrt an seinen vorigen Platz zurück, nimmt seine Tasche und ordnet an: «Wir nehmen die Straße nach Ephraim, die, die man uns bezeichnet hat.»

«Nach Samaria?!» Das Staunen ist groß.

«Nach Samaria. An die Grenze wenigstens. Auch Johannes ging an diese Orte und lebte dort bis zu der Stunde, da er Christus predigen sollte.»

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«Aber er wurde trotzdem nicht gerettet!» entgegnet Jakobus des Zebedäus.

«Ich versuche nicht, mich zu retten, ich will retten. Und ich werde zur festgesetzten Stunde retten. Zu den unglücklichsten Schafen geht der verfolgte Hirte, damit sie, die Verlassenen, ihren Anteil an der Weisheit erhalten und auf die neue Zeit vorbereitet sind.»

Jesus schreitet nun schnell voran. Die Rast hat dazu gedient, Kräfte zu sammeln und das Sabbatgebot zu achten. Und er will am Ziel sein, bevor die Nacht das Weitergehen unmöglich macht.

Als sie den Bach erreichen, der von Ephraim kommt und zum Jordan fließt, ruft Jesus Petrus und Nathanael zu sich, gibt ihnen eine Börse und sagt: «Geht voraus und sucht Maria des Jakob auf. Ich erinnere mich, daß Malachias sie als die Ärmste des Ortes bezeichnet hat, trotz ihres großen Hauses, nun, da ihre Söhne und Töchter nicht mehr bei ihr sind. Wir werden bei ihr wohnen. Gebt ihr eine beträchtliche Summe, damit sie uns gleich aufnimmt, ohne mit tausend Leuten darüber zu reden. Ihr kennt das Haus. Das große, von vier Granatapfelbäumen beschattete, gleich bei der Brücke am Bergbach.»

«Wir kennen es, Meister. Wir werden tun, was du sagst.» Und sie entfernen sich eilends, während Jesus ihnen mit den anderen langsam folgt.

In der Mulde, die der Bach in zwei Halbkreise teilt, sieht man das weiße Dorf im letzten Tageslicht und im ersten Mondschein schimmern. Keine Seele ist mehr unterwegs, als sie zu dem schon ganz im Mondlicht getauchten Haus kommen. Nur das Rauschen des Baches ist in der abendlichen Stille zu hören. Dreht man sich um und betrachtet den Horizont, sieht man einen breiten Streifen sternenbesäten Himmels sich über einer Landschaft wölben, die sich der verlassenen Ebene in Richtung dem Jordan zu senkt. Tiefer Friede liegt über dem Land.

Sie klopfen an die Tür. Petrus öffnet: «Alles erledigt, Herr. Die Alte hat geweint, als sie sah, daß ich ihr Geld gab. Sie hatte keinen Heller mehr. Ich sagte ihr: "Weine nicht, Frau. Wo Jesus von Nazareth ist, da gibt es kein Leid mehr." Sie hat geantwortet: "Ich weiß es. Ich habe mein ganzes Leben gelitten, und nun hatte ich wahrhaft die Grenze des Erträglichen erreicht. Aber der Himmel hat sich über meinem Abend geöffnet und bringt mir den Stern Jakobs, um mir Frieden zu schenken." Nun ist sie dort drüben und richtet die seit langem verschlossenen Zimmer her. Obwohl es da wenig zu richten gibt... Aber die Frau scheint sehr gut zu sein. Da ist sie. Frau! Der Rabbi ist da!»

Eine dürre Greisin mit sanften, traurigen Augen nähert sich. Sie bleibt verwirrt und schüchtern einige Schritte vor Jesus stehen.

«Der Friede sei mit dir, Frau. Wir werden dich nicht viel stören.»

«Ich... wollte, ich wollte, du würdest über mein Herz schreiten, um dir

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den Eintritt in mein armes Haus angenehmer zu machen. Tritt ein, Herr, und Gott möge mit dir einkehren.» Unter dem leuchtenden Blick Jesu sind wieder Leben und Kraft in die arme Alte zurückgekehrt.

Sie gehen alle ins Haus und schließen die Tür. Das Haus ist geräumig wie eine Herberge und leer wie ein verlassenes Gebäude. Nur die Küche wirkt freundlich durch das Feuer, das auf dem Herd in der Mitte des Raumes brennt. Bartholomäus, der das Feuer schürt, wendet sich lächelnd um und sagt: «Meister, tröste die Frau. Sie ist traurig, weil sie dir nicht mehr Ehre erweisen kann.»

«Mir genügt dein Herz, Frau. Sorge dich um nichts. Morgen werden wir vorsehen. Auch ich bin arm. Bringt die Vorräte. Unter Armen teilt man Brot und Salz, ohne sich zu schämen und mit brüderlicher Liebe. Für dich ist es die Liebe eines Sohnes, Frau, denn du könntest mir Mutter sein, und ich will dich als Mutter ehren...»

Die betrübte alte Frau weint lautlose Tränen, trocknet die Augen mit dem Schleier und flüstert: «Ich habe drei Knaben und sieben Mädchen gehabt. Einen Knaben hat mir der Gießbach geraubt und einen das Fieber. Der dritte hat mich verlassen. Fünf Mädchen haben die Krankheit des Vaters geerbt und sind gestorben. Das sechste ist bei einer Geburt gestorben. Und das siebte... Ach, was mir der Tod nicht genommen hat, das hat die Sünde mir genommen. In meinem Alter ehren mich meine Kinder nicht, und das macht mich so... Im Dorf sind sie gut zu mir... aber gut zu der armen Frau. Du bist gut zu der Mutter...»

«Auch ich habe eine Mutter. Und in jeder Frau und Mutter ehre ich meine Mutter. Doch weine nicht. Gott ist gut. Habe Vertrauen. Die Kinder, die dir geblieben sind, können noch zu dir zurückkehren. Und die anderen sind im Frieden ...»

«Ich halte es aber für eine Strafe, weil ich von hier bin ...»

«Habe Vertrauen. Gott ist gerechter als die Menschen ...»

Die Apostel, die mit Petrus in die Zimmer gegangen sind, kommen nun zurück. Sie bringen die Vorräte, wärmen das geröstete Lamm Nikes über dem Feuer und bringen es dann zum Tisch. Jesus opfert und segnet und fordert die Alte auf, mit ihnen zu essen, anstatt in ihrem Winkel die mageren Wurzeln ihres Abendbrotes zu verzehren.

Das Exil an der Grenze Judäas hat begonnen.

607. DER ERSTE TAG IN EPHRAIM

«Der Friede sei mit dir, Meister», sagen Petrus und Jakobus des Zebedäus, die mit vollen Wasserkrügen ins Haus zurückkehren.

«Der Friede sei mit euch. Woher kommt ihr?»

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«Vom Bach. Wir haben Wasser geholt, und wir werden noch mehr holen, um uns zu waschen, da wir hier haltgemacht haben... Es ist nicht recht, daß sich die Alte unseretwegen abmüht. Sie macht drüben schon ein Riesenfeuer, um das Wasser zu wärmen. Mein Bruder ist in den Wald gegangen und holt Holz. Da es schon lange nicht mehr geregnet hat, brennt das Holz wie Stroh», erklärt Jakobus des Zebedäus.

«Ja, und man hat uns am Bach und im Wald schon gesehen, obwohl es eben erst Tag geworden ist. Wenn man bedenkt, daß ich extra zum Bach und nicht zum Brunnen gegangen bin...» sagt Petrus.

«Und warum, Simon des Jonas?»

«Weil am Brunnen immer Leute sind, die uns erkennen und vielleicht sofort hierher kommen...»

Während sie so reden, haben die beiden Söhne des Alphäus, Judas von Kerioth und Thomas den langen Korridor betreten, der das Haus in zwei Teile teilt, so daß sie die letzten Worte des Petrus und die Antwort Jesu hören: «Nun, was nicht heute in den ersten Stunden des Tages geschieht, geschieht gewiß später. Spätestens morgen, denn wir bleiben hier ...»

«Hier ... ? Aber... Ich habe geglaubt, daß wir nur kurz bleiben...» sagen mehrere.

«Es ist kein Aufenthalt, um uns nur auszuruhen. Wir bleiben... und gehen hier erst wieder fort, wenn wir zum Osterfest nach Jerusalem zurückkehren.»

«Oh, ich dachte, als du von der Gegend der Wölfe und Räuber sprachst, daß du diese Gegend meintest und sie durchqueren wolltest, wie du es schon öfters getan hast, um anderswohin zu gelangen, ohne auf den von Juden und Pharisäern benutzten Straßen zu wandern», sagt Philippus, der dazugekommen ist, und andere sagen: «Auch ich habe das geglaubt.»

«Dann habt ihr mich falsch verstanden. Dies hier ist nicht die Gegend der Wölfe und Räuber, obwohl es in den Bergen echte Wölfe gibt. Aber ich spreche nicht von den Tieren ...»

«Oh, das ist doch klar», ruft Judas von Kerioth etwas ironisch aus. «Für dich, der du dich das "Lamm" nennst, sind selbstverständlich die Menschen die Wölfe. Wir sind nicht ganz dumm.»

«Nein, das seid ihr nicht. Ihr seid nur in dem dumm, was ihr nicht begreifen wollt; also wenn es um mein wahres Wesen geht, um meine Aufgabe und den Schmerz, den ihr mir zufügt, weil ihr euch nicht eifrig bemüht, euch auf die Zukunft vorzubereiten. Zu eurem Wohl spreche ich zu euch und belehre euch durch Wort und Beispiel. Aber ihr lehnt ab, was den schwachen Menschen in euch beunruhigt, nämlich die Ankündigung von Schmerz und die Forderung, gegen euer Ich anzukämpfen. Hört mich an, bevor die Fremden kommen. Ich teile euch nun in zwei Gruppen von fünf, und ihr geht unter der Leitung des Führers jeder Gruppe in die Umgebung,

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wie in der ersten Zeit, als ich euch aussandte. Denkt an alles, was ich euch damals gesagt habe, und wendet es an. Der einzige Unterschied wird sein, daß ihr nun den Tag des Herrn als unmittelbar bevorstehend verkündet, auch den Samaritern, so daß auch sie bereit sind und ihr sie leichter zum einzigen Gott bekehren könnt. Seid liebevoll und klug, ohne Vorurteile. Ihr werdet sehen und immer besser sehen, daß uns hier vieles gewährt wird, was man uns anderenorts verweigert. Daher seid gut zu diesen, die unschuldig für die Sünden ihrer Väter büßen. Petrus wird das Haupt der Gruppe sein, zu der Judas des Alphäus, Thomas, Philippus und Matthäus gehören. Jakobus des Alphäus wird Andreas, Bartholomäus, Simon den Zeloten und Jakobus des Zebedäus anführen. Judas von Kerioth und Johannes bleiben bei mir. Morgen beginnt ihr. Heute wollen wir uns ausruhen und tun, was uns auf die Zukunft vorbereitet. Den Sabbat werden wir gemeinsam verbringen. Sorgt also dafür, daß ihr vor dem Sabbat zurück seid und danach wieder abreisen könnt. Der Sabbat soll der Tag unserer gegenseitigen Liebe sein, nachdem wir den Nächsten in der Herde geliebt haben, die den väterlichen Schafstall verlassen hat. Geht nun alle an eure Arbeit.»

Jesus bleibt allein und zieht sich in einen Raum am Ende des Ganges zurück.

Das Haus hallt wider von Schritten und Stimmen, obgleich alle in ihren Zimmern sind und man niemand außer der alten Frau sieht, die mehrmals den Gang überquert bei ihrer Arbeit. Eine davon ist bestimmt das Brotbacken, denn ihre Haare sind mit Mehl bestäubt und ihre Hände voller Teig.

Nach einer Weile kommt Jesus aus seinem Zimmer und begibt sich auf die Terrasse des Hauses. Er geht nachdenklich dort oben auf und ab und schaut sich hin und wieder um.

Nun gesellen sich Petrus und Judas von Kerioth zu ihm, die nicht gerade glücklich aussehen. Vielleicht tut es Petrus leid, sich von Jesus trennen zu müssen. Judas Iskariot tut es wohl leid, dies nicht zu können, da er nicht weggehen und sich in der Stadt wichtigmachen kann. Auf jeden Fall sind beide sehr ernst, als sie zur Terrasse hinaufsteigen.

«Kommt her. Seht, was für eine schöne Aussicht.» Und Jesus weist auf den so abwechslungsreichen Horizont, der im Nordwesten hohe, waldige Berge aufweist, ein Kamm, der sich von Norden nach Süden zieht. Ein Berg direkt hinter Ephraim ist wahrhaft ein grüner Riese, der alle anderen überragt. Im Nordosten und Südosten wellen sich sanfte Hügel. Das Dorf liegt in einer grünen, sich bis in weite Fernen erstreckenden Mulde zwischen den beiden Bergketten, der höheren und der niedrigeren, die wiederum von hier bis zur Jordanebene verlaufen. Durch einen Einschnitt in den niedrigeren Bergen kann man diese grüne Ebene und jenseits davon auch den blauen Jordan sehen. Mitten im Frühling muß es hier sehr schön

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sein, alles grün und fruchtbar. Doch jetzt unterbricht das dunkle Braun der Weinberge und Obstgärten noch das Grün der Getreidefelder, aus deren Schollen zarte Halme sprießen, und der fetten Weiden auf dem fruchtbaren Boden.

Wenn Johannes das, was hinter Ephraim liegt, Wüste nennt, so heißt das, daß die Wüste Judäas doch sehr angenehm war, zumindest in dieser Gegend; oder vielleicht wird sie nur deshalb so genannt, weil dort keine Dörfer, sondern nur Wälder und Weiden zwischen heiteren Bächlein zu finden sind. Ganz anders als im Gebiet um das Tote Meer, das man zu recht Wüste nennt, da es trocken ist und keinerlei Vegetation aufweist, wenn man von den niedrigen, dornigen, verkrüppelten und salzbedeckten Sträuchern absieht, und den wenigen Wüstenbäumen, die zwischen den Felsen und dem salzigen Strand wachsen. Diese sanfte Wüste jenseits von Ephraim hingegen zieren über weite Strecken Weinberge, Olivenhaine und Obstbäume, und um diese Zeit lächeln die Mandelbäume mit ihren rosa Blütenbüscheln der Sonne zu, während die Rebstöcke schon bald die Hügel mit den Girlanden ihres frischen Grüns schmücken werden.

«Es ist beinahe wie in meiner Stadt», sagt Judas.

«Auch Jutta gleicht diesem Ort. Nur ist dort der Bach unten und die Stadt auf einer Anhöhe. Hier scheint es, als liege die Ortschaft in einer weiten Muschel, und der Fluß fließt in der Mitte. Wie viele Weinberge! Es muß sehr schön und nutzbringend für den Eigentümer sein, hier Land zu besitzen», bemerkt Petrus.

«Es steht geschrieben: "Vom Herrn gesegnet sei sein Land mit dem Köstlichsten vom Himmel droben und den Quellen aus dem Abgrund, mit dem Köstlichsten, was die Sonne hervorbringt, und dem Köstlichsten, was die Monde sprießen lassen, mit dem Besten der uralten Berge und dem Köstlichsten der ewigen Hügel, dem Köstlichsten der Erde und ihrer Fülle." Und auf diese Worte des Pentateuch gründen sie ihren unerschütterlichen Stolz und ihren Glauben, den anderen überlegen zu sein. So ist es. Auch das Wort Gottes und seine Gaben werden zur Ursache des Verderbens, wenn sie hochmütigen Herzen zuteil werden. Sie selbst sind nicht schlecht, doch der Stolz verdirbt ihre guten Eigenschaften», sagt Jesus.

«Eben. Die Nachkommen des gerechten Joseph haben nur die Wut des Stieres und die Hartnäckigkeit des Nashorns geerbt. Ich mag nicht hier sein. Warum läßt du mich nicht mit den anderen gehen?» fragt Iskariot.

«Gefällt es dir nicht, bei mir zu sein?» fragt Jesus und betrachtet nun nicht mehr die Landschaft, sondern dreht sich um und sieht Judas an.

«Bei dir schon, aber nicht bei den Leuten von Ephraim.»

«Eine schöne Antwort! Und wir, die wir nach Samaria oder in die Dekapolis gehen wollen, da wir in der Zeit zwischen dem einen und dem anderen Sabbat nicht weiter kommen, werden wir es etwa mit Heiligen zu tun haben?» sagt Petrus vorwurfsvoll zu Judas, der nicht antwortet.

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«Was kümmert es dich, wer in deiner Nähe ist, wenn du durch mich alles zu lieben verstehst? Liebe mich in deinem Nächsten, dann wird jeder Ort gleich sein», sagt Jesus ruhig.

Judas antwortet auch ihm nicht.

«Wenn ich bedenke, daß ich gehen muß ... Und ich würde so gerne hierbleiben. So gerne... Ich bin doch so unfähig! Meister, ernenne wenigstens Philippus oder deinen Bruder zum Führer meiner Gruppe. Ich kann zwar sagen: "Tun wir dies oder jenes, laßt uns da- oder dorthin gehen", aber wenn ich zum Volk sprechen soll... ! Ich werde alles verderben ...»

«Der Gehorsam wird dir helfen, alles gut zu machen. Und ich werde Wohlgefallen haben an dem, was du tust.»

«Nun, wenn es dir gefällt, gefällt es auch mir. Mir genügt es, dich glücklich zu machen. Aber schau! Ich habe es doch gesagt! Da kommt schon die halbe Stadt... Sieh nur! Der Synagogenvorsteher... die Vornehmen... ihre Frauen... die Kinder und das ganze Volk... !»

«Gehen wir ihnen entgegen», gebietet Jesus und geht eilends die Treppe hinunter. Er ruft auch die anderen Apostel, damit sie ihn vor das Haus begleiten.

Die Bewohner Ephraims nähern sich mit größter Ehrerbietung. Nach der rituellen Begrüßung spricht einer, anscheinend der Synagogenvorsteher, für alle: «Gepriesen sei der Allerhöchste für diesen Tag. Und gepriesen sei sein Prophet, der zu uns gekommen ist, weil er alle Menschen im Namen des höchsten Gottes liebt. Gepriesen seist du, Meister und Herr, der du unser Herz und unsere Worte nicht vergessen hast und gekommen bist, um unter uns zu weilen. Wir öffnen dir unsere Herzen und unsere Häuser und bitten um dein Wort zu unserem Heil. Gepriesen sei dieser Tag, denn seinetwegen wird die Wüste blühen sehen, wer ihn im rechten Geist aufzunehmen weiß.»

«Das hast du gut gesagt, Malachias. Wer den im rechten Geist aufzunehmen weiß, der im Namen Gottes gekommen ist, wird seine Wüste fruchtbar werden und die kräftigen, aber wilden Pflanzen sich veredeln sehen. Ich werde bei euch bleiben und ihr werdet zu mir kommen als gute Freunde. Und diese werden all jenen mein Wort bringen, die es aufzunehmen wissen...»

«Wirst du uns nicht selbst belehren, Meister?» fragt Malachias etwas enttäuscht.

«Ich bin hierher gekommen, um mich zu sammeln und zu beten. Um mich auf große, künftige Dinge vorzubereiten. Mißfällt es euch, daß ich eure Gegend für meine Ruhe gewählt habe?»

«O nein. Schon allein, dich beten zu sehen, wird uns weiser machen. Ich danke dir, daß du uns gewählt hast. Wir werden dich bei deinen Gebeten nicht stören und nicht zulassen, daß deine Feinde dich stören. Denn es ist uns schon bekannt, was in Judäa geschehen ist und geschieht. Wir

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werden wachen und uns mit einem Wort von dir begnügen, wenn du Zeit hast. Nimm nun die Gaben unserer Gastfreundschaft entgegen.»

«Ich bin Jesus und weise niemanden ab. Und ich nehme an, was ihr mir schenkt, um euch zu zeigen, daß ich euch nicht zurückweise. Aber wenn ihr mich lieben wollt, so gebt von nun an das, was ihr mir geben würdet, den Armen im Dorf oder denen, die vorüberkommen. Ich brauche nur Frieden und Liebe.»

«Wir wissen es. Wir wissen alles. Und wir sind zuversichtlich, daß wir dir geben können, was du brauchst, damit du ausrufst: "Das Land, das für mich Ägypten, also Schmerz sein sollte, wurde für mich, wie einst für Joseph des Jakob, zum Land des Friedens und des Ruhmes."»

«Wenn ihr mich liebt und mein Wort annehmt, werde ich dies sagen.»

Die Leute reichen den Aposteln ihre Gaben und ziehen sich zurück, mit Ausnahme von Malachias und zwei anderen, die noch leise mit Jesus reden. Und auch die Kinder bleiben, wie immer, angezogen von dem Zauber, den Jesus auf die Kinder ausübt. Sie bleiben da und überhören die Stimmen der Mütter, die sie rufen; und sie gehen erst, als Jesus sie liebkost und gesegnet hat. Dann erst schwirren sie zwitschernd wie Schwalben davon. Die drei Männer folgen ihnen.

608. WENN DAS SABBATGEBOT AUCH WICHTIG IST, SO IST DOCH DAS GEBOT DER LIEBE DAS WICHTIGSTE

Die zehn Apostel kommen müde und verstaubt nach Hause. Als erstes fragen sie die Frau, die ihnen die Tür öffnet: «Wo ist der Meister?»

«Ich glaube, im Wald. Er wird wie immer beten. Heute morgen ist er schon sehr früh weggegangen und nicht zurückgekehrt.»

«Und niemand ist ihn suchen gegangen? Was treiben denn die beiden?!» schreit Petrus ganz aufgeregt.

«Mache dir keine Sorgen, Mann. Bei uns ist er sicher wie im Haus seiner Mutter.»

«Sicher! Sicher! Erinnert ihr euch an den Täufer? War er etwa sicher?»

«Er war es nicht, weil er nicht in den Herzen jener zu lesen wußte, die mit ihm sprachen. Aber wenn der Allerhöchste dies auch beim Täufer zugelassen hat, so wird er es doch gewiß bei seinem Messias nicht erlauben. Du mußt dies glauben, mehr noch als ich, die ich Frau und Samariterin bin...»

«Maria hat recht. Aber wo genau ist er hingegangen?»

«Ich weiß es nicht. Einmal geht er dahin, ein andermal dorthin. Manchmal allein, manchmal mit den Kindern, die ihn so gern haben. Er lehrt sie beten und in allen Dingen Gott sehen. Aber wahrscheinlich ist er

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heute allein, da er nicht um die sechste Stunde heimgekommen ist. Wenn er die Kinder mitnimmt, kommt er, denn Kinder sind wie Vöglein, die zur rechten Zeit gefüttert werden wollen...» sagt die Alte lächelnd. Vielleicht denkt sie an ihre eigenen zehn Kinder, denn sie seufzt... Und es gibt ja in allen Erinnerungen des Lebens Freude und Leid.

«Und wo sind Judas und Johannes?»

«Judas ist beim Brunnen, und Johannes spaltet Holz. Beides ist mir ausgegangen, denn ich habe alle eure Kleider gewaschen, um sie euch bei eurer Abreise sauber übergeben zu können.»

«Gott möge es dir vergelten, Mutter. Du hast viel Arbeit unseretwegen ...» sagt Thomas und legt eine Hand auf die magere, gebeugte Schulter, als wolle er sie liebkosen.

«Oh, das ist keine Mühe. Mir kommt es vor, als hätte ich meine Kinder wieder ...» lächelt die Greisin, und ein feuchter Glanz stiehlt sich in ihre tiefliegenden Augen.

Johannes kommt mit einem großen Holzbündel herein, und es scheint, als würde der ziemlich dunkle Gang heller bei seinem Eintreten. Ich habe immer dieses Hellerwerden bemerkt an Orten, an denen Johannes erscheint. Sein so sanftes und offenes Kinderlächeln, sein klares und lachendes Auge, das an einen schönen Aprilhimmel erinnert, seine fröhliche Stimme, wenn er liebevoll die Gefährten grüßt, alles an ihm ist wie ein Sonnenstrahl oder wie ein Regenbogen des Friedens. Alle lieben ihn, mit Ausnahme des Judas von Kerioth, von dem ich nicht weiß, ob er ihn liebt oder haßt; sicher ist, daß er ihn beneidet, sich öfters über ihn lustig macht und ihn auch manchmal beleidigt. Aber Judas ist jetzt nicht da.

Die Apostel helfen Johannes, seine Last abzulegen, und fragen ihn, wo Jesus sein könnte. Auch Johannes macht sich wegen der Verspätung Sorgen. Da er aber mehr Gottvertrauen hat als die anderen, sagt er: «Sein Vater wird ihn vor dem Bösen bewahren. Wir müssen dem Herrn vertrauen.» Und er fügt hinzu: «Doch kommt. Ihr seid müde und staubig. Wir haben euch ein Mahl und warmes Wasser bereitet. Kommt, kommt ...»

Nun kommt auch Judas mit seinen tropfenden Krügen. «Der Friede sei mit euch. Habt ihr eine gute Reise gehabt?» fragt er. Aber in seiner Stimme ist keine Güte. Sie klingt spöttisch und unzufrieden.

«Ja. Wir haben in der Dekapolis angefangen.»

«Aus Angst, gefangengenommen und gesteinigt zu werden oder euch zu verunreinigen?» fragt Iskariot ironisch.

«Weder das eine noch das andere. Nur aus Vorsicht, weil wir noch Anfänger sind. Und ich habe es vorgeschlagen, weil ich – und das soll kein Vorwurf für dich sein – über den Pergamenten ergraut bin ...» sagt Bartholomäus.

Judas entgegnet nichts. Er geht aus der Küche, in der sich die Angekommenen an den bereitgestellten Speisen stärken.

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Petrus blickt dem sich entfernenden Judas nach und schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. Thaddäus hingegen faßt Johannes am Ärmel und fragt ihn: «Wie hat er sich in diesen Tagen benommen? Ist er immer noch so unruhig? Sei aufrichtig...»

«Ich bin immer aufrichtig, Thaddäus. Aber ich kann dir versichern, daß er niemandem wehgetan hat. Der Meister ist fast immer allein. Ich bleibe bei der alten Mutter, die so gut ist, und höre denen zu, die kommen, um mit dem Meister zu sprechen; dann berichte ich ihm. Judas dagegen geht immer ins Dorf. Er hat dort Freundschaften geschlossen... Da kann man nichts machen. Er ist eben so... Er kann nicht ruhig bleiben, wie wir...»

«Meinetwegen soll er machen, was er will. Hauptsache, er stellt nichts an.»

«Nein, das nicht. Sicher langweilt er sich. Aber... Da kommt der Meister! Ich höre seine Stimme. Er spricht mit jemandem...»

Sie gehen rasch hinaus und sehen Jesus in der fallenden Dämmerung kommen. Er trägt zwei Kinder auf den Armen, und ein drittes hängt an seinem Gewand. Er tröstet sie, denn alle drei weinen.

«Gott segne dich, Meister! Woher kommst du denn so spät?»

Jesus betritt das Haus und antwortet: «Ich komme von den Räubern. Und auch ich habe Beute gemacht. Ich bin nach Sonnenuntergang noch unterwegs gewesen, doch der Vater wird mir verzeihen, denn ich habe ein Werk der Barmherzigkeit vollbracht... Nimm, Johannes, und du, Simon... Mir tun die Arme weh, und ich bin wirklich müde...» Jesus setzt sich neben dem Kamin auf einen Hocker. Er lächelt, müde aber glücklich.

«Von den Räubern? Aber wo bist du denn gewesen? Wem gehören diese Kinder? Hast du schon etwas gegessen? Wo warst du? Es ist unvorsichtig, im Dunkeln draußen zu bleiben, und so weit weg. Wir sind in Sorge gewesen. Warst du nicht im Wald?» Alle reden durcheinander.

«Ich war nicht im Wald. Ich bin in Richtung Jericho gegangen ...»

«Wie unvorsichtig! Auf diesen Wegen könntest du denen begegnen, die dich hassen!» tadelt ihn Thaddäus.

«Ich habe den Pfad genommen, den man uns gezeigt hat. Seit einigen Tagen schon wollte ich hingehen... Es sind Unglückliche dort, die ich retten mußte. Sie konnten mir nichts Böses antun. Und ich bin für diese Kinder gerade noch rechtzeitig gekommen. Gebt ihnen zu essen. Sie müssen hungrig sein, denn sie hatten Angst vor den Räubern. Und ich hatte nichts zu essen bei mir. Hätte ich wenigstens einen Hirten gefunden ... ! Doch da der Sabbat naht, waren alle Weiden schon verlassen...»

«Ja, nur wir beachten das Sabbatgebot seit einiger Zeit nicht mehr», bemerkt Judas von Kerioth bissig.

«Wie redest du denn? Was willst du damit sagen?» fragen ihn die anderen.

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«Ich will damit sagen, daß wir schon zweimal am Sabbat bis nach Sonnenuntergang gearbeitet haben.»

«Judas, du weißt, weshalb wir am letzten Sabbat wandern mußten. Die Sünde liegt nicht immer bei dem, der sie begeht, sondern auch bei dem, der dazu zwingt, sie zu begehen. Und heute... Ich weiß, du willst sagen, daß ich auch heute das Sabbatgebot übertreten habe. Ich antworte dir: Wenn das Gebot der Sabbatruhe auch wichtig ist, so ist doch das Gebot der Liebe das Allerwichtigste. Ich bin nicht verpflichtet, mich vor dir zu rechtfertigen. Aber ich will es tun, um dich die Sanftmut, die Demut und die große Wahrheit zu lehren, daß man angesichts einer heiligen Notwendigkeit bei der Anwendung des Gesetzes geistig beweglich sein muß. In unserer Geschichte haben wir mehrere Beispiele dafür. Ich bin bei Sonnenaufgang zu den Adummim-Bergen gegangen, denn ich weiß, daß dort Unglückliche leben, denen das Verbrechen wie Aussatz auf der Seele liegt. Ich hoffte, ihnen zu begegnen, mit ihnen sprechen zu können und vor Einbruch der Dunkelheit zurückzukehren. Ich habe sie gefunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen sprechen, wie es meine Absicht war, da es andere Dinge zu besprechen gab... Sie hatten diese drei kleinen Kinder weinend an der Schwelle eines armseligen Stalles in der Ebene gefunden, als sie in der Nacht vom Gebirge heruntergekommen waren, um die Lämmer zu stehlen und auch zu morden, wenn der Hirte sich zur Wehr setzen würde. Der Hunger ist grausam im Winter dort auf den Bergen... Und wenn grausame Herzen Hunger leiden, können Menschen wilder als Wölfe werden. Diese Kinder waren also dort, zusammen mit einem Hirtenknaben, der nur wenig größer und ebenso verschreckt war wie sie. Der Vater der Kinder war in der Nacht gestorben, ich weiß nicht, woran... Vielleicht hatte ihn ein Tier gebissen, oder sein Herz hatte versagt... Es war kalt auf dem Stroh bei den Schafen. Der größere Junge, der neben seinem Vater geschlafen hatte, bemerkte es zuerst. Anstatt ein Blutbad anzurichten, fanden die Räuber also einen Toten und vier weinende Kinder. Sie ließen den Toten liegen und trieben die Schafe mit dem Hirtenjungen vor sich her. Und da selbst in den schlimmsten Menschen immer noch ein Rest Mitleid sein kann, nahmen sie auch die Kinder mit. Ich habe sie getroffen, als sie gerade überlegten, was sie mit ihnen anfangen sollten. Die Grausamsten wollten den zehnjährigen Hirtenjungen töten, da er ein gefährlicher Zeuge ihres Raubes ist und ihre Zufluchtsstätte kennt. Die weniger Hartherzigen wollten ihn unter Drohungen zurückschicken und die Herde behalten. Alle wollten sie aber auch die kleinen Kinder bei sich behalten.»

«Was wollten sie mit ihnen anfangen? Haben sie denn keine Familie?»

«Die Mutter der Kinder ist tot. Daher hatte der Vater sie auf die winterlichen Weiden mitgenommen, und er wollte gerade wieder über dieses Gebirge in sein verlassenes Haus gehen... Hätte ich die Kinder bei den

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Räubern lassen sollen, damit sie werden wie sie? Ich habe mit ihnen gesprochen... Wahrlich, ich sage euch, sie haben mich besser verstanden als viele andere. Sie haben mich so gut verstanden, daß sie mir die Kinder überlassen haben und morgen den Hirtenknaben auf den Weg nach Sichern begleiten werden. Denn in dieser Gegend leben die Brüder seiner Mutter. Die kleinen Kinder habe ich inzwischen zu mir genommen, und wir werden sie hierbehalten, bis die Verwandten kommen.»

«Und du glaubst wirklich, daß die Räuber...» sagt Judas Iskariot und lacht...

«Ich bin gewiß, daß sie dem kleinen Hirten kein Haar krümmen werden. Es sind Unglückliche. Und wir sollen nicht urteilen, warum sie so sind. Wir müssen vielmehr versuchen, sie zu retten. Ein gutes Werk an ihnen kann der Anfang ihrer Rettung sein...» Jesus neigt sein Haupt, in wer weiß welche Gedanken versunken.

Die Apostel und das alte Mütterchen reden miteinander. Sie haben Mitleid mit den verängstigten Kindern und geben sich alle Mühe, sie zu trösten und aufzumuntern...

Jesus hebt das Haupt, als er den Kleinsten, ein dunkelhaariges, etwa drei Jahre altes Kind, weinen hört. Er sagt zu Jakobus, der sich erfolglos bemüht, dem Kind Milch zu geben: «Gib mir das Kind und geh meine Tasche holen.» Und Jesus lächelt, denn das Kind beruhigt sich auf seinen Knien und trinkt nun seine Milch so gierig, wie es sie zuvor zurückgewiesen hat. Die etwas größeren Kinder essen die Suppe, die man ihnen hingestellt hat, obwohl ihnen die Tränen die Wangen herunterrollen.

«Ach, wieviel Elend! Seht nur! Daß wir leiden ist gerecht. Aber die Unschuldigen... !» sagt Petrus, der es nicht sehen kann, wenn Kinder leiden müssen.

«Du bist ein Sünder, Simon. Du machst Gott Vorwürfe», bemerkt Judas Iskariot.

«Ich werde wohl ein Sünder sein. Aber ich mache Gott keine Vorwürfe. Ich sage nur... Meister, warum müssen Kinder leiden? Sie haben doch keine Sünden.»

«Alle haben Sünden, zumindest die Erbsünde», sagt Judas.

Petrus antwortet ihm nicht. Er wartet auf die Antwort Jesu. Und Jesus, der das nun satte und schläfrige Kind wiegt, antwortet: «Simon, der Schmerz ist die Folge der Sünde.»

«Nun gut. Dann... Wenn du also die Schuld von uns genommen hast, werden die Kinder nicht mehr leiden müssen.»

«Sie werden immer noch leiden. Nimm keinen Anstoß daran, Simon. Schmerz und Tod wird es immer auf Erden geben. Auch die Reinsten leiden und werden leiden. Gerade sie werden es sein, die für alle anderen leiden. Die Sühneseelen des Herrn.»

«Aber warum? Ich verstehe das nicht...»

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«Es gibt viele Dinge, die man auf Erden nicht begreift. Glaubt wenigstens, daß es Dinge sind, die von der vollkommenen Liebe gewollt sind. Und wenn die den Menschen wiedergeschenkte Gnade die Heiligsten unter ihnen zu kennen der verborgenen Wahrheiten gemacht hat, dann wird sich zeigen, daß gerade die Heiligsten Opfer sein wollen, da sie die Macht des Leidens verstanden haben... Das Kind ist nun eingeschlafen. Maria, willst du es zu dir nehmen?»

«Gewiß, Meister. Ein erschrecktes Kind, das nicht geschlafen und viel geweint hat, gleicht einem Vogel, der aus dem Nest gefallen ist, und braucht die Flügel der Mutter, sagt man bei uns. Mein Bett ist groß, da ich jetzt allein darin schlafe. Ich werde die Kinder zu mir nehmen und auf sie achtgeben. Im Schlaf werden auch sie ihren Schmerz vergessen. Kommt, wir wollen sie zu Bett bringen.»

Sie nimmt den Kleinsten vom Schoß Jesu und entfernt sich, gefolgt von Petrus und Philippus, während Jakobus des Zebedäus mit der Tasche Jesu kommt.

Jesus öffnet sie und sucht etwas, entnimmt ihr ein schweres Gewand, faltet es auseinander und prüft die Weite. Er ist nicht zufrieden und sucht den dunklen Mantel, der zum Gewand gehört. Dann legt er beides beiseite, macht die Tasche zu und gibt sie Jakobus zurück.

Petrus und Philippus kommen wieder. Die Greisin ist bei den drei Kindern geblieben, und Petrus sieht sofort die ausgebreiteten Kleidungsstücke liegen. Er sagt: «Meister, willst du dein Gewand wechseln? Müde wie du bist, würde dir ein warmes Bad guttun. Hier ist Wasser, und wir werden dir auch dein Gewand anwärmen. Dann wollen wir essen und zur Ruhe gehen. Diese Geschichte mit den armen Kindern hat mich sehr angegriffen...»

Jesus lächelt, entgegnet aber nichts. Er sagt nur: «Preisen wir den Herrn, der mich rechtzeitig dorthin geführt hat, um die Unschuldigen zu retten.» Dann schweigt er. Er ist müde...

Die Alte kommt mit den Kleidchen der Kinder herein. «Sie müßten gewechselt werden... Sie sind zerrissen und schmutzig... Aber ich habe die Kleider meiner Kinder nicht mehr und kann sie nicht ersetzen. Morgen werde ich sie waschen...»

«Nein, Mutter. Wenn der Sabbat vorüber ist, dann nähst du aus diesen meinen Gewändern drei kleine Kleider...»

«Aber Herr, weißt du, daß du jetzt nur noch drei Gewänder hast? Wenn du eines weggibst, was bleibt dir dann? Hier ist kein Lazarus, wie damals, als du der Aussätzigen den Mantel gegeben hast», sagt Petrus.

«Laß es gut sein. Zwei genügen und sind schon zu viel für den Menschensohn. Nimm, Maria. Morgen abend beginnst du mit deiner Arbeit, und der Verfolgte wird sich freuen, den Armen helfen zu können, denn er kennt ihre Nöte.»

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609. AM ANDEREN TAG

«Steht auf und laßt uns zum Bach gehen. Wie die Hebräer, die außerhalb ihres Vaterlandes und an Orten, an denen es keine Synagogen gibt, leben, werden auch wir den Sabbat unter uns feiern. Kommt, Kinder...» sagt Jesus zu den Aposteln, die müßig im Hausgarten umhersitzen, und streckt seine Hände den drei armen Kindern entgegen, die in einer Ecke stehen.

Mit schüchterner Freude auf den vorzeitig nachdenklichen Gesichtchen kommen die Kinder, die schon so viel Schweres mitgemacht haben, näher, und die beiden größeren geben Jesus ihre Händchen. Doch der Kleinste will von Jesus getragen werden. Jesus stellt ihn zufrieden und sagt zu dem Größten: «Du bleibst trotzdem an meiner Seite und hältst dich an meinem Gewand fest, so wie gestern. Isaak ist zu müde und zu klein, um allein gehen zu können...» Der Größere ist ganz glücklich über das Lächeln Jesu und bereit, wie ein kleiner Mann neben ihm herzugehen.

«Gib mir das Kind, Meister. Du mußt noch müde sein von gestern, und Ruben ist betrübt, weil er deine Hand nicht halten kann ...» sagt Bartholomäus und will ihm das Kind abnehmen, das sich an den Hals Jesu klammert.

«Es ist starrköpfig wie die ganze Rasse!» ruft Iskariot aus.

«Nein, es ist verängstigt. Du verstehst nichts von Kindern. Die Kleinen sind so. Wenn sie betrübt oder erschreckt sind, dann suchen sie Schutz beim ersten, der ihnen ein Lächeln und Trost geschenkt hat», entgegnet Bartholomäus; und da er den Kleinen nicht auf den Arm nehmen kann, gibt er dem Größeren die Hand, nachdem er ihm den Kopf gestreichelt und ihm väterlich zugelächelt hat.

Sie verlassen das Haus, in dem nur die Frau zurückbleibt, und gehen am Bach jenseits des Dorfes entlang. Schön sind seine Ufer mit dem jungen Gras und den bunten Wiesenblumen. Das Wasser ist klar, wenn auch spärlich, und plätschert mit Harfenklang über die größeren Steine auf dem Kiesgrund; oder aber es rauscht durch das Gestrüpp einiger winziger, mit Schilfrohr bewachsener Inseln. Aus dem Röhricht am Ufer fliegen Vögel mit freudigem Trillern auf. Andere ruhen sich in der Sonne auf einem Ast aus und singen ihre ersten Frühlingslieder oder hüpfen anmutig und lebhaft umher, um Insekten und Würmer vom Boden aufzupicken und am Ufer Wasser zu nippen. Zwei wilde Turteltauben nehmen in einer Biegung ein Bad und schnäbeln gurrend miteinander. Dann fliegen sie auf und davon mit einem Wollbäuschchen im Schnabel, das irgendein Schaf an der Weißdornhecke hinterlassen hat, die oben gerade zu blühen beginnt.

«Sie tun das, um ein Nest zu bauen...» sagt der größere Knabe. «Sie haben bestimmt Junge...» Das Kind neigt das Köpfchen tief und tiefer,

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und während es sich bei den ersten Worten noch bemüht hat zu lächeln, weint es jetzt lautlos und wischt sich mit der Hand die Tränen ab.

Bartholomäus nimmt es auf den Arm, denn er versteht, welche Wunde die beiden Tauben wieder aufgerissen haben. Und Bartholomäus, der das gute Herz eines guten Familienvaters hat, seufzt. Das Kind weint an seiner Schulter, das andere, das zweite, das diese Tränen sieht, fängt ebenfalls zu weinen an, gefolgt vom dritten, das eben erst sprechen gelernt hat und mit seinem zarten Stimmchen nach dem Vater ruft.

«Heute wird dies unsere Sabbat-Andacht sein! Wir hätten sie zu Hause lassen sollen! Eine Frau ist in solchen Fällen geeigneter als wir und...»bemerkt Iskariot.

«Aber wenn doch auch sie nichts anderes tut, als dauernd weinen? Im übrigen hätte auch ich große Lust dazu... denn es gibt Dinge... die zum Weinen sind», entgegnet Petrus und nimmt das zweite Kind auf den Arm.

«Ja, es gibt Dinge, die zum Weinen sind. Das ist wahr. Und Maria des Jakob, die arme, traurige Alte, ist nicht fähig zu trösten...» bestätigt der Zelote.

«Es scheint, daß wir auch nicht viel Erfolg haben. Der einzige, der trösten könnte, ist der Meister. Und er hat es nicht getan.»

«Er hat es nicht getan? Was hätte er mehr tun sollen? Er hat die Räuber überredet, ist meilenweit mit den Kindern auf dem Arm gewandert und hat dafür gesorgt, daß die Verwandten benachrichtigt werden.»

«Alles nebensächliche Dinge. Er, der auch dem Tod gebietet, hätte zum Schafstall hinuntergehen können, vielmehr müssen, und den Hirten auferwecken. Er hat es bei Lazarus getan, der doch niemandem nützlich ist. Hier aber sind es ein Vater, der zudem noch Witwer war, und seine Kinder, die nun allein zurückbleiben... Er hätte ihn unbedingt auferwecken müssen. Ich kann dich nicht verstehen, Meister...»

«Und wir verstehen nicht, wie du so respektlos sein kannst...»

«Friede! Friede! Judas versteht nicht. Er ist aber nicht der einzige, der die Absichten Gottes und die Folgen der Sünde nicht versteht. Auch du, Simon des Jonas, kannst nicht begreifen, weshalb die Unschuldigen leiden müssen. Daher sollt ihr Judas des Simon nicht verurteilen, der nicht versteht, warum ich den Mann nicht auferweckt habe. Wenn Judas nachdenkt, wird er, der mich immer tadelt, weil ich allein und weit weggehe, verstehen, daß ich mich nicht lang so weit entfernen konnte... Denn der Schafstall liegt in der Ebene von Jericho, aber auf der anderen Seite der Stadt, bei der Furt. Was hättet ihr gesagt, wenn ich drei Tage lang so weit weggewesen wäre?»

«Dein Geist hätte dem Toten befehlen können, daß er aufersteht.»

«Bist du denn schlimmer als die Pharisäer und Schriftgelehrten, die die Auferstehung eines schon verwesten Toten verlangt haben, um glauben zu können, daß ich wirklich Tote zum Leben erwecken kann?»

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«Sie wollten es, weil sie dich hassen. Ich möchte es, weil ich dich liebe und sehen will, daß du alle deine Feinde vernichtest.»

«Dein altes Ansinnen und deine ungeordnete Liebe. Du hast es noch nicht fertiggebracht, die alten Pflanzen aus deinem Herzen auszureißen und durch neue zu ersetzen; ja, die alten haben sich von dem Licht genährt, dem du dich genähert hast, und sind noch kräftiger geworden. Du machst den gleichen Fehler wie so viele in der Gegenwart und Zukunft. Trotz der Hilfe Gottes ändern sie sich nicht, weil sie nicht mit heroischem Willen auf die Hilfe Gottes antworten.»

«Haben vielleicht diese, die wie ich deine Jünger sind, die alten Pflanzen ausgerissen?»

«Sie haben sie wenigstens beschnitten und veredelt. Du hast es nicht getan. Du hast dich nicht einmal aufmerksam geprüft, ob sie beschnitten, veredelt oder ausgerissen werden müssen. Du bist ein nachlässiger Gärtner, Judas.»

«Aber nur, was meine Seele betrifft. Sonst verstehe ich es recht gut, im Garten zu arbeiten.»

«Du verstehst es. Du verstehst mit allen irdischen Dingen umzugehen. Ich möchte aber, daß du in den Dingen des Himmels ebensolche Fähigkeiten entwickelst.»

«Dein Licht müßte doch von sich aus alle Wunder in uns wirken! Ist es denn kein gutes Licht? Wenn es das Schlechte in uns fördert und stärkt, dann ist es nicht gut, und es liegt an ihm, wenn wir nicht gut werden.»

«Rede für dich allein, Freund. Ich finde nicht, daß der Meister meine bösen Neigungen gestärkt hat», sagt Thomas.

«Ich auch nicht.» «Und ich auch nicht», sagen Andreas und Jakobus des Zebedäus.

«Mich hat erst seine Macht von dem Übel befreit und erneuert. Warum sprichst du so? Überlegst du dir denn nicht, was du sagst?» fragt Matthäus.

Petrus will etwas sagen. Doch dann zieht er es vor, schnell wegzugehen; das Kind am Hals, beginnt er das Auf und Ab eines Bootes nachzumachen, um es zum Lachen zu bringen. Und im Vorbeigehen packt er Thaddäus am Arm und ruft: «Auf, gehen wir auf die Insel dort! Sie gleicht einem Korb voller Blumen. Kommt auch ihr, Nathanael, Philippus, Simon, Johannes... Ein Sprung, und man ist drüben. Der geteilte Bach besteht nur noch aus zwei kleinen Bächlein rechts und links der Insel...» Petrus springt als erster auf die sandige Anschwemmung, die nur einige Meter breit ist. Sie ist wie eine Wiese mit Gras bewachsen und wie ein Teppich mit den ersten Frühlingsblumen übersät, und in ihrer Mitte steht eine einzige hohe, schlanke Pappel, die ihren Wipfel im leichten Wind wiegt. Die Gerufenen kommen langsam nach, und auch die übrigen, die näher bei Jesus waren, der zurückgeblieben ist und mit Iskariot spricht, folgen bald.

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«Ist der denn immer noch nicht fertig?», fragt Petrus seinen Bruder. «Der Meister bearbeitet sein Herz», antwortet Andreas.

«Eher werden Feigen aus diesem Gewächs sprießen, als daß Judas im Herzen gerecht wird.»

«Und in seinem Verstand erst», fügt Andreas hinzu.

«Er ist nur töricht, weil er es sein will, und in den Dingen, in denen er es sein will», sagt Thaddäus.

«Er leidet, weil er nicht ausgewählt wurde, das Evangelium zu verkünden. Ich weiß es», erklärt Johannes.

«Oh, von mir aus... Wenn er an meiner Stelle gehen will... Ich lege absolut keinen Wert darauf herumzulaufen!» ruft Petrus aus.

«Keiner von uns legt Wert darauf. Nur er. Doch mein Bruder will ihn nicht gehen lassen. Heute morgen habe ich mit ihm darüber gesprochen, denn ich habe die Stimmung des Judas und die Gründe dafür verstanden. Doch Jesus hat gesagt: "Gerade, weil er ein so krankes Herz hat, behalte ich ihn bei mir. Die Kranken und die Schwachen bedürfen des Arztes und der Stütze."»

«So ist es... ! Genau so... ! Kommt, Kinder. Jetzt nehmen wir diese schönen Schilfrohre und machen Schiffchen daraus. Seht nur, wie schön! Und als Fischer setzen wir diese Blümchen hinein. Schaut, gleichen sie nicht Köpfchen mit einer weiß-roten Kopfbedeckung... ? Hier machen wir den Hafen und hierher setzen wir die Fischerhäuschen. Nun binden wir die Boote an diese feinen Gräser, und dann laßt ihr sie ins Wasser gleiten... Und nach dem Fischfang zieht ihr sie wieder ans Ufer ... Ihr könnt auch uni die Insel herumfahren... aber gebt acht auf die Felsen ... !» Petrus ist bewundernswert in seiner Geduld. Er hat mit dem Messer aus Rohrstückchen kleine Boote gemacht, indem er sie von einem Knoten zum anderen auf einer Seite aufgeschnitten hat. Als Fischer hat er noch nicht ganz aufgeblühte Gänseblümchen hineingesetzt, in den Sand hat er einen winzig kleinen Hafen gegraben und aus feuchtem Sand kleine Häuser geformt. Und als er seinen Zweck erreicht hat, die Kinder durch ein Spiel abzulenken, setzt er sich zufrieden nieder und murmelt: «Arme Geschöpfe... !»

Jesus betritt die Insel, als die Kinder gerade mit ihrem Spiel beginnen. Er liebkost sie und stellt den Kleinsten auf den Boden, der sich gleich am Spiel der beiden Brüderchen beteiligt.

«Nun habt ihr mich für euch, und wir können von Gott sprechen; denn von Gott sprechen und mit Gott sprechen heißt, sich auf die Mission vorbereiten. Nachdem wir gebetet haben, also mit Gott gesprochen haben, werden wir von Gott sprechen, der in allen Dingen gegenwärtig ist, um zum Guten anzuleiten. Auf, erhebt euch und laßt uns beten.» Jestis stimmt Psalmen in hebräischer Sprache an, und die Apostel stimmen mit ein.

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Die Kinder, die sich mit ihren Schiffchen entfernt haben, hören auf zu zwitschern und zu spielen und kommen näher, als sie die Männer singen hören. Sie lauschen aufmerksam, die Augen auf Jesus gerichtet, der für sie alles ist, und nehmen dann mit dem Kindern eigenen Nachahmungstrieb dieselbe Stellung wie die Betenden ein. Sie versuchen auch mitzusingen, die Töne wenigstens, da sie die Worte der Psalmen nicht kennen. Jesus senkt seinen Blick und schaut sie mit einem Lächeln an, das die unschuldigen Stimmchen noch eifriger singen läßt. Sie fühlen sich gelobt und ermutigt ...

Der Psalmengesang ist beendet. Jesus setzt sich ins Gras und beginnt zu sprechen: «Als die Könige Israels, der von Joram und der von Juda, sich zusammenschlossen, um den König von Moab zu bekämpfen, baten sie den Propheten Elisäus um Rat. Dieser antwortete dem Gesandten der Könige: "Würde ich nicht Josaphat, den König von Juda, achten, dann hätte ich dich nicht einmal angesehen. Aber nun bringt mir einen Harfenspieler." Und während der Mann die Harfe spielte, sprach Gott zu seinem Propheten und befahl ihm, Graben an Graben in dem ausgetrockneten Flußbett ausheben zu lassen, damit sie sich mit Wasser füllten für Menschen und Tiere. Und zur Stunde des morgendlichen Opfers füllte sich der Fluß, ohne daß es Wind oder Regen gegeben hätte, wie der Herr es gesagt hatte. Welche Lehre ist eurer Meinung nach aus dieser Episode zu ziehen? Redet!»

Die Apostel beraten sich untereinander. Die einen sagen: «Wenn Unruhe im Herzen herrscht, spricht Gott nicht zu ihm. Elisäus wollte den Unwillen besänftigen, der in ihm aufgestiegen war, als er den König Israels vor sich sah, um Gott hören zu können.» Die anderen sagen: «Es ist eine Lehre der Gerechtigkeit. Um den schuldlosen König von Juda nicht zu bestrafen, rettet Elisäus auch den Schuldigen.» Wieder andere sind der Meinung: «Es ist eine Lehre des Gehorsams und des Glaubens. Sie machten Gräben, gehorchten damit dem anscheinend törichten Befehl und warteten vertrauensvoll auf das Wasser, obgleich es windstill und der Himmel heiter war.»

«Ihr habt gut geantwortet, aber eure Antworten sind nicht vollständig. Wenn im Herzen Unruhe herrscht, spricht Gott nicht zu ihm, das ist wahr. Aber Harfenklänge sind nicht erforderlich, um das Herz zu beruhigen. Es genügt, Liebe zu haben; Liebe, die geistige Harfe, die paradiesische Klänge erzeugt. Wenn eine Seele in der Liebe lebt, hat sie ein ruhiges Herz und kann die Stimme Gottes hören und verstehen.»

«Dann hatte Elisäus also keine Liebe, da er unruhig war.»

«Elisäus gehört der Zeit der Gerechtigkeit an. Man muß die damaligen Ereignisse in die Zeit der Liebe übertragen. Nicht im Licht der Blitze, sondern in dem der Sterne muß man sie sehen. Ihr gehört der neuen Zeit an. Warum also seid ihr oft zorniger und verwirrter als jene der alten Zeiten?

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Löst euch von der Vergangenheit. Ich wiederhole dies, auch wenn Judas es nicht gerne hört. Reißt aus, beschneidet, veredelt und pflanzt neu. Erneuert euch, grabt die Gräben der Demut, des Gehorsams und des Glaubens. Jene Könige verstanden es zu tun, und sie waren, zwei gegen einen, nicht von Juda und konnten Gott nicht hören, sondern nur den Propheten Gottes, der den Willen des Allerhöchsten kundtat. Sie wären verdurstet in der Dürre, wenn sie nicht gehorcht hätten. Sie gehorchten, und das Wasser füllte die Gräben. Und sie wurden nicht nur vor dem Verdursten bewahrt, sondern besiegten auch die Feinde. Ich bin das Wasser des Lebens. Grabt Gräben in eure Herzen, um mich empfangen zu können. Und nun hört. Ich halte keine langen Reden. Ich gebe euch Richtlinien, damit ihr sie betrachtet. Ihr werdet immer wie diese Kinder sein, oder vielmehr weniger als sie, denn sie sind unschuldig, und ihr seid es nicht. Daher leuchtet das geistige Licht in euch nur schwach, wenn ihr euch nicht daran gewöhnt zu betrachten. Ihr hört immer zu, bewahrt aber nichts, denn euer Verstand schläft, anstatt zu arbeiten. Hört also. Als der Sohn der Sunamitin gestorben war, wollte sie den Propheten aufsuchen, obgleich ihr Ehemann zu ihr sagte, daß nicht der Erste des Monats und nicht Sabbat sei; aber sie wußte, daß sie gehen mußte, denn gewisse Dinge lassen keinen Aufschub zu. Und da sie den Geist der Dinge verstand, wurde ihr Sohn wiedererweckt. Was sagt ihr dazu?»

«Daß dies ein Tadel für mich ist, wegen des Sabbats», sagt Iskariot.

«Du siehst, Judas, wenn du willst, dann verstehst du auch! Öffne also deinen Geist der Gerechtigkeit.»

«Ja... aber du hast den Sabbat nicht geschändet, um den Mann aufzuerwecken.»

«Ich habe mehr getan. Ich habe das Verderben, den Tod dieser Kinder, ihren wahren Tod verhindert. Und ich habe die Räuber daran erinnert, daß...»

«Oh, warte ab, bevor du dich damit tröstest, etwas erreicht zu haben! Ich glaube nicht, daß sie dir gehorcht haben...»

«Wenn der Meister es sagt ...»

«Auch Elisäus sagt im Bericht über die Sunamitin: "Der Herr hat es mir verborgen." Also weiß man nicht immer alles, nicht einmal die Propheten», erwidert Iskariot.

«Unser Bruder ist mehr als ein Prophet», bemerkt Thaddäus.

«Ich weiß es. Er ist der Sohn Gottes. Aber er ist auch Mensch. Als solchem kann es ihm geschehen, zweitrangige Dinge, wie eine Bekehrung oder eine Rückkehr, nicht zu wissen... Meister, weißt du wirklich immer, immer alles? Ich frage mich das so oft...» fährt Judas Iskariot hartnäckig fort.

«Und in welchem Geist? Um dir Ruhe, Rat oder Beunruhigung zu verschaffen?» fragt Jesus.

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«Aber... ich wüßte nicht. Ich frage es mich nur und...»

«Und du scheinst auch beim Fragen beunruhigt zu sein!» sagt Thomas.

«Ich? Natürlich beunruhigt die Ungewißheit immer.»

«Wieviel Spitzfindigkeit! Ich gebe mich damit nicht ab. Ich glaube und frage nicht und bin weder im Ungewissen noch beunruhigt. Aber lassen wir den Meister sprechen. Mir gefällt diese Belehrung nicht. Erzähle uns ein schönes Gleichnis, Meister. Das wird auch den Kindern gefallen», sagt Petrus.

«Ich muß euch noch etwas fragen: Was bedeutet für euch das Mehl, das der Suppe der Söhne der Propheten ihre Bitterkeit nimmt?»

Ein tiefes Schweigen ist die Antwort auf diese Frage.

«Nun, könnt ihr mir nicht antworten?»

«Vielleicht sollte das Mehl die Bitterkeit aufsaugen...» sagt Matthäus unsicher.

«Alles wäre bitter geworden, auch das Mehl.»

«Ein Wunder des Propheten, der den Diener nicht beschämen wollte», schlägt Philippus vor.

«Auch. Aber nicht nur.»

«Der Herr wollte zeigen, daß sich die Macht des Propheten auch auf die gewöhnliche Materie erstreckte», sagt der Zelote.

«Ja, aber dies ist noch nicht die richtige Auslegung. Das Leben der Propheten nimmt schon vorweg, was dann in der Fülle der Zeit sein wird, meiner Zeit. In Symbolen und Bildern spiegeln sie meine irdischen Tage wider. Also...»

Alle schweigen und schauen sich an. Dann neigt Johannes das Haupt, wird rot und lächelt.

«Warum sagst du nicht, was du denkst, Johannes?» fragt ihn Jesus. «Es ist nicht Mangel an Liebe, wenn du sprichst, denn du tust es nicht, um jemanden zu beschämen.»

«Ich denke, es will dies besagen: In der Zeit des Hungers nach Wahrheit und des Mangels an Weisheit, in der Zeit, in der du gekommen bist, ist jeder Baum verwildert und trägt nur bittere, für die Menschenkinder ungenießbare und giftige Früchte, so daß sie sie vergeblich sammeln und zubereiten, um sich von ihnen zu ernähren. Doch die Güte des Ewigen sendet dich, das Mehl des auserlesenen Weizens, und du nimmst durch deine Vollkommenheit das Gift aus jeder Speise und heilst wieder die in Jahrhunderten entarteten Bäume der Schriften und den Geschmack der durch die Lasterhaftigkeit verdorbenen Menschen. In diesem Fall ist es dein Vater, der befiehlt, das Mehl zu bringen und es in den bitteren Kessel zu schütten, und du bist das Mehl, das sich opfert, um sich zur Speise für alle Menschen zu machen. Und nach deinem Opfer wird nichts Bitteres mehr auf der Welt sein, denn du hast die Freundschaft mit Gott wiederhergestellt. Ich kann mich auch irren.»

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«Du irrst nicht. Dies ist der Sinn...»

«Oh, wie bist du darauf gekommen?», fragt Petrus erstaunt.

Jesus antwortet ihm: «Ich werde es dir mit deinen eigenen Worten von kurz zuvor sagen. Ein Sprung, und man ist auf der friedlichen, blumigen Insel des Geisteslebens. Aber man muß den Mut haben, den Sprung zu wagen und das Ufer, die Welt, zu verlassen; zu springen, ohne darauf zu achten, ob jemand über unseren ungeschickten Sprung lachen könnte oder uns auslacht wegen unserer Einfalt, weil wir eine kleine, einsame Insel der Welt vorziehen. Man muß springen, ohne Furcht sich zu verletzen, naß zu werden oder eine Enttäuschung zu erleben. Man muß alles zurücklassen und bei Gott Zuflucht suchen, sich auf die von der Welt isolierte Insel begeben und diese nur verlassen, um an die am Ufer Gebliebenen das reine Wasser und die Blumen zu verteilen, die man auf der Insel des Geistes gesammelt hat, auf der es nur einen einzigen Baum gibt, den Baum der Weisheit. In seiner Nähe, fern vom Lärm der Welt, begreift man jedes Wort und wird zum Lehrer, obwohl man weiß, daß man Schüler ist. Auch dies ist ein Symbol. Aber nun will ich ein schönes Gleichnis für die Kinder erzählen. Kommt und setzt euch nahe zu mir.»

Die drei Kinder kommen so nahe heran, daß sie sich gleich auf seine Beine setzen. Jesus umarmt sie und beginnt zu erzählen: «Eines Tages sagte der Herrgott: "Ich werde den Menschen erschaffen, und der Mensch wird im irdischen Paradies leben, durch das der große Fluß fließt, der sich dann in vier Hauptarme teilt, welche sind: der Pischon, der Gichon, der Euphrat und der Tigris, die über die Erde fließen. Und der Mensch wird glücklich sein, da er alle diese Schönheiten und Reichtümer der Schöpfung und meine Liebe zur Freude seines Geistes haben wird." Und so geschah es. Es war, als ob der Mensch auf einer großen Insel lebte, noch reicher an Blumen als diese hier und an Pflanzen und Tieren jeder Art, und als ob über ihm die Liebe Gottes stünde als Sonne der Seele. Und die Stimme Gottes war in den Winden, wohlklingender als der Gesang der Vögel.

Aber eines Tages schlich sich auf dieser schönen, blumigen Insel eine Schlange unter die Tiere und die Pflanzen. Sie war anders als die von Gott geschaffenen Schlangen, die gut waren, kein Gift in den Zähnen hatten und keine Wildheit in den Windungen ihres elastischen Körpers. Auch diese Schlange kleidete sich in eine Haut in den Farben der Edelsteine wie die anderen; sie machte sich sogar noch schöner, so daß sie dem prachtvollen Geschmeide eines Königs glich, das zwischen den herrlichen Bäumen des Gartens hindurchschlüpfte. Sie wand sich um einen schönen freistehenden Baum mitten im Garten, der viel höher war als dieser hier und wunderbare Blätter und Früchte trug.

Und die Schlange sah aus wie ein um den Baum gewundenes Schmuckstück und glitzerte in der Sonne, und alle Tiere schauten sie an, denn

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keines konnte sich an ihre Erschaffung erinnern oder hatte sie je zuvor gesehen. Aber keines näherte sich ihr, sondern alle zogen sich von dem Baum zurück, nun da sich die Schlange um seinen Stamm gewunden hatte.

Nur der Mann und die Frau näherten sich ihm. Die Frau vor dem Mann, denn ihr gefiel dieses glänzende Ding, das in der Sonne leuchtete und den Kopf bewegte wie eine halbgeöffnete Blume. Und sie hörte auf das, was die Schlange sagte, wurde Gott ungehorsam und veranlaßte auch Adam zum Ungehorsam. Erst nachdem sie ungehorsam geworden waren, erkannten sie die Schlange als das, was sie war, und wurden sich ihrer Sünde bewußt, denn sie hatten nun die Unschuld des Herzens verloren. Sie versteckten sich vor Gott, der sie suchte, und belogen ihn dann, als er sie fragte.

Daraufhin stellte Gott Engel an die Grenzen des Gartens und verjagte die Menschen daraus. Es war, als würden die Menschen vom sicheren Ufer des Paradieses in die im Frühling Hochwasser führenden Flüsse der Erde geworfen. Doch Gott ließ im Herzen der Vertriebenen die Erinnerung an ihre ewige Bestimmung, also an den Übergang aus dem schönen Garten, in dem sie die Stimme Gottes vernahmen und seine Liebe fühlten, an den Himmel, in dem sie Gott vollkommen besessen hätten. Und mit der Erinnerung blieb in ihnen auch der heilige Wunsch, durch ein Leben der Gerechtigkeit wieder an den verlorenen Ort zurückzugelangen.

Aber, meine Kinder, ihr habt soeben gesehen: solange das Boot mit der Strömung flußabwärts treibt, geht alles leicht. Schwimmt es aber gegen den Strom, hat es Mühe, sich über Wasser zu halten, in den Wellen nicht zu kentern, und nicht auf dem Gras, dem Sand und den Steinen des Flusses Schiffbruch zu erleiden. Hätte Simon Petrus eure Schiffchen nicht an feine Binsen vom Ufer gebunden, hättet ihr sie alle verloren, so wie es Isaak gegangen ist, der seine Binse losgelassen hat.

Ebenso ergeht es den Menschen, die in die Ströme der Erde geworfen wurden. Sie müssen immer in der Hand Gottes bleiben und ihren Willen, der euren Binsen gleicht, den Händen des guten Vaters im Himmel anvertrauen. Denn er ist der Vater aller, besonders der Unschuldigen. Und sie müssen ein wachsames Auge haben auf Gräser und Binsen, Steine, Wirbel und Schlamm, die das Boot ihrer Seele aufhalten, zerschmettern oder verschlingen und den Faden abreißen könnten, der sie mit Gott verbindet. Denn die Schlange ist nun nicht mehr im Garten, sondern auf der Erde, und versucht, die Seelen zu verderben und sie nicht gegen die Strömung des Euphrat, des Tigris, des Gichon und des Pischon zum großen Fluß gelangen zu lassen. Er fließt durch das ewige Paradies und nährt die Bäume des Lebens und des Heiles, die immerwährende Früchte tragen und die all jene genießen werden, denen es gelingt, gegen den Strom zu schwimmen und sich mit Gott und seinen Engeln zu vereinigen und nie mehr leiden zu müssen.»

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«So hat es auch die Mama erzählt», sagt das größere der Kinder.

«Ja, sie hat es gesagt», zwitschert der Kleinste.

«Du kannst es nicht wissen. Ich schon, denn ich bin groß. Aber wenn du Dinge sagst, die nicht wahr sind, dann kommst du nicht ins Paradies.»

«Der Vater hat aber gesagt, dies sei alles nicht wahr», bemerkt der Mittlere.

«Weil er nicht an den Herrn der Mama glaubte.»

«War denn dein Vater kein Samariter?» fragt Jakobus des Alphäus.

«Nein, er war aus einer anderen Gegend. Aber die Mama war es, und wir sind es ebenfalls, denn sie wollte, daß wir so werden wie sie. Sie hat uns vom Paradies erzählt und vom Garten, aber nicht so schön wie du. Ich hatte Angst vor der Schlange und vor dem Tod, weil die Mama immer sagte, daß sie der Teufel sei, und der Vater sagte, daß mit dem Tod alles zu Ende sei. Daher war ich so unglücklich, allein zu sein. Ich sagte mir auch, daß es nun nutzlos sei, gut zu sein; denn solange Vater und Mutter noch lebten, freuten sie sich darüber, während danach niemand mehr da war, der sich gefreut hätte, wenn wir brav sind. Doch nun weiß ich... und werde gut sein. Ich werde niemals meinen Faden aus der Hand Gottes reißen, damit ich nicht von den Gewässern der Erde fortgeschwemmt werde.»

«Aber ist die Mama hinauf- oder hinuntergeschwommen?» fragt der Zweite nachdenklich.

«Was meint du damit, Kind?», fragt Matthäus.

«Ich meine: wo ist sie jetzt? Ist sie zum Fluß des ewigen Paradieses gelangt?»

«Wir wollen es hoffen, Kind. Wenn sie gut war...»

«Sie war eine Samariterin...» sagt Iskariot verächtlich.

«Dann gibt es also kein Paradies für uns, weil wir Samariter sind? Werden wir Gott nicht besitzen? Aber er hat ihn doch den Vater aller genannt. Und da ich Waise bin, habe ich mich gefreut, doch noch einen Vater zu haben... Aber wenn er es für uns nicht ist...» Das Kind senkt traurig das Köpfchen.

«Gott ist der Vater aller Menschen, mein Kind. Habe ich dich etwa weniger geliebt, weil du ein Samariter bist? Ich habe dich vor den Räubern bewahrt, und ich werde dich dem Teufel streitig machen, genauso wie ich den kleinen Sohn des Hohenpriesters im Tempel von Jerusalem bewahren würde, wenn dieser es nicht für eine Schmach halten würde, daß der Erlöser sein kleines Geschöpf rettet. Ja, ich werde dich noch mehr beschützen, weil du allein und unglücklich bist. Es gibt für mich keinen Unterschied zwischen der Seele eines Juden und der Seele eines Samariters. Und bald wird es keine Trennung mehr geben zwischen Samaria und Judäa, denn der Messias wird ein einziges Volk haben, das seinen Namen trägt und dem alle angehören, die ihn lieben.»

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«Ich habe dich lieb, Herr. Aber bringst du mich zu meiner Mama?»fragt das größere der drei Kinder.

«Du weißt nicht, wo sie ist. Der Mann dort hat gesagt, daß wir nur hoffen können ...» sagt der Zweitgeborene.

«Ich weiß es nicht, aber der Herr weiß es. Er hat auch gewußt, wo wir waren, während wir doch selbst nicht einmal wußten, wo wir waren.»

«Bei den Räubern... Sie wollten uns erschlagen ...» Schrecken zeichnet sich wieder auf dem Gesichtchen des Zweitgeborenen ab.

«Die Räuber waren wie Teufel. Aber er hat uns gerettet, weil unsere Engel ihn gerufen haben.»

«Auch die Mama haben die Engel gerettet. Ich weiß es, denn ich träume immer von ihr.»

«Du lügst, Isaak. Du kannst nicht von ihr träumen, denn du kannst dich nicht mehr an sie erinnern.»

Der Kleinste weint und sagt: «Nein, nein. Ich träume von ihr. Ich träume von ihr ...»

«Du darfst deinen Bruder nicht Lügner nennen, Ruben. Seine Seele kann die Mama schon sehen, denn der gute Vater im Himmel kann dem Waisenkind gewähren, daß es von ihr träumt und sie teilweise kennt, so wie er auch gewährt, daß man ihn selbst erkennt. Denn aus dieser begrenzten Erkenntnis entspringt der gute Wille zur vollkommenen Erkenntnis. Diese erlangt man dann, wenn man immer gut ist. Nun wollen wir gehen. Wir haben von Gott gesprochen und den Sabbat geheiligt.»Jesus steht auf und stimmt weitere Psalmen an.

Leute von Ephraim, die den Chor gehört haben, kommen herbei und warten ehrfurchtsvoll das Ende des Psalms ab, um Jesus zu grüßen. Dann fragen sie ihn: «Hast du es vorgezogen, hierher zu kommen, anstatt zu uns? Du liebst uns also nicht?»

«Keiner von euch hat mich eingeladen. Daher bin ich mit meinen Aposteln und den Kindern hierher gekommen.»

«Das ist wahr. Aber wir nahmen an, dein Jünger würde dir unseren Wunsch ausrichten.»

Jesus sieht Johannes und Judas an, und Judas antwortet: «Gestern habe ich vergessen, es dir zu sagen; und heute war ich wegen dieser Kinder zu zerstreut.»

Jesus verläßt die kleine Insel, springt über den schmalen Wasserarm und kommt zu den Leuten aus Ephraim. Die Apostel folgen ihm, während die Kinder etwas zurückbleiben und die beiden übriggebliebenen Schilfboote losbinden. Dem Petrus, der sie antreibt, erklären sie: «Wir wollen sie behalten, um uns an die Lehre zu erinnern.»

«Und ich? Ich, ich habe meines verloren! Ich werde mich nicht daran erinnern. Und nicht ins Paradies kommen», sagt der Kleinste weinend.

«Warte, weine nicht! Ich mache dir sofort ein kleines Boot. Sicher.

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Auch du mußt dir die Lehre merken. Ja, allen müßte man ein kleines Boot mit einem Binsenfaden am Bug machen, damit sie sich erinnern. Mehr noch uns Männern als euch Kindern. Bah!» Und Petrus schneidet und formt das Boot, versieht es mit seinem Binsenfaden, nimmt dann alle drei Kinder zusammen auf den Arm, macht einen Sprung über den Bach und geht zu Jesus.

«Sind es diese?» fragt Malachias von Ephraim.

«Sie sind es.»

«Sie sind von Sichern?»

«Der Hirtenknabe hat gesagt, daß die Verwandten vom Land dort wohnen.»

«Arme Kinder! Aber wenn die Verwandten nicht kommen sollten, was würdest du dann tun?»

«Ich würde sie bei mir behalten. Aber sie werden kommen.»

«Diese Räuber... Werden nicht auch sie kommen?»

«Sie werden nicht kommen. Aber fürchtet euch nicht ihretwegen. Auch wenn sie kämen... Sie würden meine Beute sein, und nicht ihr die ihre. Ich habe ihnen schon vierfache Beute abgenommen und hoffe, auch einen Teil ihrer Seele der Sünde entrissen zu haben, wenigstens bei dem einen oder anderen ...»

«Wir werden dir mit diesen Kindern helfen. Das wirst du uns erlauben.»

«Ja. Nicht, weil sie aus eurer Gegend stammen, sondern weil sie unschuldig sind, und die Liebe zu den Unschuldigen ist der schnellste Weg zu Gott.»

«Aber nur du machst keinen Unterschied zwischen Unschuldigen von hier und dort. Kein Jude hätte diese kleinen Samariter aufgenommen, und nicht einmal ein Galiläer. Man liebt uns nicht. Und die Abneigung gegen uns übertragen sie auch auf diese hier, die noch nicht einmal wissen, was es heißt, Samariter oder Jude zu sein. Und das ist grausam.»

«Ja, aber das wird sich ändern, wenn man mein Gesetz befolgt. Siehst du, Malachias? Sie sind in den Armen des Petrus, meines Bruders, und Simons des Zeloten. Keiner von ihnen ist Samariter oder Vater. Und dennoch drückst nicht einmal du mit solcher Liebe deine Kinder ans Herz, wie es meine Jünger mit den Waisen von Samaria tun. Das ist der messianische Gedanke: alle in Liebe zu vereinigen. Das ist die Wahrheit des messianischen Gedankens. Ein einziges Volk auf Erden unter dem Szepter des Messias. Ein einziges Volk im Himmel unter dem Blick des einen Gottes.»

Sie entfernen sich, während sie miteinander reden, in Richtung des Hauses der Maria des Jakob.

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610. IN DER NACHT DESSELBEN TAGES

Jesus ist allein in einem kleinen Zimmer. Er sitzt auf seinem Lager und denkt nach oder betet. Das gelbliche Flämmchen einer Öllampe zuckt auf einem Regal. Es muß Nacht sein, denn weder im Haus noch auf der Straße ist ein Geräusch zu vernehmen. Nur der Bach vor dem Haus scheint in der Stille der Nacht lauter als sonst zu rauschen.

Jesus hebt das Haupt und sieht zur Tür. Er horcht. Dann steht er auf und öffnet. Petrus steht vor der Tür. «Du? Komm herein. Was willst du, Simon? Bist du noch auf, nachdem du so viel gelaufen bist?» Er hat ihn an der Hand genommen und ins Zimmer gezogen und dann wieder lautlos die Tür geschlossen. Er läßt ihn neben sich auf dem Lager Platz nehmen.

«Ich wollte dir sagen, Meister... Ja, ich wollte dir sagen, du hast es auch heute wieder gesehen, was ich wert bin. Ich bin nur imstande, arme Kinder zu zerstreuen, eine alte Frau zu trösten und Frieden zwischen zwei Hirten zu stiften, die sich wegen eines Schafes streiten, das ein trockenes Euter hat. Ich bin ein armer Mensch. So arm, daß ich nicht einmal begreife, was du mir erklärst. Doch das ist etwas anderes. Ich wollte dir jetzt sagen, gerade deshalb, daß du mich hier bei dir behalten sollst. Ich lege keinen Wert darauf herumzuwandern, wenn du nicht dabei bist. Ich bringe nichts zuwege... Tu mir den Gefallen, Herr.» Petrus spricht mit Wärme, doch er heftet den Blick dabei immer auf die rauhen, etwas zerbröckelten Ziegel des Bodens.

«Schau mich an, Simon!» gebietet Jesus. Und da Petrus gehorcht, sieht ihn Jesus fest an und fragt: «Und das ist alles? Der einzige Grund deines Wachens? Der einzige Grund, weshalb ich dich hierbehalten soll? Sei ehrlich, Simon. Du sprichst nicht schlecht über andere, wenn du deinem Meister den anderen Teil deiner Gedanken sagst. Man muß zu unterscheiden wissen zwischen müßigen und nützlichen Worten. Es sind müßige Worte, und für gewöhnlich gedeiht im Müßiggang die Sünde, wenn man von den Fehlern anderer spricht mit Menschen, die daran nichts ändern können. Dann ist es einfach Mangel an Nächstenliebe, selbst wenn das Gesagte wahr ist. Ebenso fehlt man gegen die Nächstenliebe, wenn man mehr oder weniger hart tadelt, ohne mit dem Tadel einen guten Rat zu verbinden. Und ich spreche von gerechtfertigtem Tadel. Aller andere Tadel ist ungerecht und eine Sünde gegen den Nächsten. Aber wenn einer seinen Nächsten sündigen sieht und darunter leidet, weil der Sünder Gott beleidigt und seiner eigenen Seele schadet, und wenn er feststellt, daß er weder imstande ist, das ganze Ausmaß der Sünde des anderen zu beurteilen, noch die Weisheit besitzt, die richtigen Worte zur Bekehrung des Sünders zu finden, und sich deshalb an einen Gerechten und Weisen wendet, um ihm seine Not anzuvertrauen, dann begeht er keine Sünde; denn er will

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mit seinen vertraulichen Mitteilungen nur Ärgernis verhindern und eine Seele retten. Er gleicht einem Mann, der einen Verwandten mit einer beschämenden Krankheit hat. Es ist natürlich, daß er den Menschen die Krankheit verschweigt, heimlich jedoch zum Arzt sagt: "Mein Verwandter hat meines Wissens diese und diese Krankheit, und ich kann ihm nicht raten oder helfen. Komm du oder sage mir wenigstens, was ich tun muß." Fehlt dieser etwa gegen die Liebe zu seinem Verwandten? Nein. Im Gegenteil! Er würde fehlen, wenn er aus einem falschen Gefühl der Vorsicht und Liebe vorgeben würde, von der Krankheit nichts zu wissen, und diese fortschreiten und vielleicht zum Tod führen würde. Eines Tages, es wird nicht mehr Jahre dauern, werdet ihr, du und deine Gefährten, die Bekenntnisse der Seelen anhören müssen. Nicht, wie ihr sie jetzt als Menschen anhört, sondern als Priester, als Ärzte, als Lehrer und Hirten der Seelen, so wie ich Arzt, Lehrer und Hirte bin. Ihr werdet sie anhören, entscheiden und Ratschläge geben müssen. Und euer Urteil wird denselben Wert haben, wie wenn Gott selbst gesprochen hätte ...»

Petrus macht sich von Jesus los, der ihn eng an seiner Seite gehalten hat, steht auf und sagt: «Das ist nicht möglich, Herr. Das darfst du uns niemals auferlegen. Wie sollen wir wie Gott richten können, wenn wir nicht einmal imstande sind, es als Menschen zu tun?»

«Ihr werdet es können, denn der Geist Gottes wird euch frei machen und euch mit seinem Licht erfüllen. Ihr werdet zu urteilen verstehen, wenn ihr die sieben Umstände der Tatsachen prüft, die euch vorgetragen werden, um Rat oder Vergebung zu erhalten. Höre gut zu und versuche, dich zu erinnern. Zu gegebener Zeit wird der Geist des Herrn dir meine Worte wiederholen. Aber versuche trotzdem, dich zu erinnern mit deinem Verstand, den Gott dir gegeben hat, damit du ihn gebrauchst. Gebrauche ihn ohne geistige Trägheit oder Anmaßung, die nur dazu verleiten, alles von Gott zu erwarten und zu verlangen. Wenn du an meiner Stelle Lehrer, Arzt und Hirte bist und ein Gläubiger kommt, um zu deinen Füßen die Verwirrung zu beweinen, die seine eigenen Taten oder die anderer Menschen in ihm erzeugt haben, dann mußt du immer an diese sieben Fragen denken.

Wer: Wer hat gesündigt?

Was: Worin besteht die Sünde?

Wo: An welchem Ort?

Wie: Unter welchen Umständen?

Womit oder mit wem: Welcher Gegenstand oder welche Person war das Mittel zur Sünde?

Warum: Welche Anreize haben die die Sünde begünstigenden Bedingungen geschaffen?

Wann: In welcher Verfassung befand sich der Mensch und wie hat er reagiert? War es unvorhergesehen oder ungesunde Gewohnheit?

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Denn siehst du, Simon, die gleiche Sünde kann unendlich viele Schattierungen und Grade haben, je nach den Umständen, die dazu geführt haben, und den Personen, die sie begangen haben. Nehmen wir z.B. die beiden Sünden, die am weitesten verbreitet sind: die Begierlichkeit des Fleisches und die Gier nach Reichtum.

Ein Mensch hat durch Unkeuschheit gesündigt, oder er glaubt, durch Unkeuschheit gesündigt zu haben; denn manchmal verwechselt der Mensch die Sünde mit der Versuchung, oder er hält die künstlich durch einen ungesunden Appetit geschaffene Lust für gleichwertig mit den Gedanken, die durch ein Leiden oder eine Krankheit entstehen, oder als Folge einer gänzlich unerwarteten Regung von Fleisch und Blut, gegen die sich der Geist nicht rechtzeitig zur Wehr setzen kann, um sie zu unterdrücken. Der Mensch kommt zu dir und bekennt: "Ich bin unkeusch gewesen." Ein unvollkommener Priester würde sagen: "Verflucht sollst du sein!" Du aber, mein Petrus, darfst nicht so sprechen. Denn du bist Petrus des Jesus, du bist der Nachfolger der Barmherzigkeit. Und daher mußt du, bevor du verurteilst, alle Umstände erwägen und sanft und klug das Herz, das vor dir weint, prüfen, um alle Aspekte der Sünde oder der anscheinenden Sünde, der Skrupel, zu kennen. Ich habe gesagt: sanft und klug. Du darfst nie vergessen, daß du außer Lehrer und Hirte auch Arzt bist. Und der Arzt vergiftet die Wunden nicht. Er ist bereit, zu schneiden, wenn sich Wundbrand gebildet hat, aber er versteht es auch, freizulegen und mit leichter Hand zu behandeln, wenn es nur eine Wunde ist, bei der gesunde Teile verletzt sind, die wieder zusammengefügt werden können und nicht entfernt werden müssen. Und denke daran, daß du außer Arzt und Hirte auch Lehrer bist. Ein Lehrer paßt seine Worte dem Alter der Schüler an. Ein Ärgernis wäre der Erzieher, der Kindern animalische Vorgänge enthüllt, die dem Unschuldigen unbekannt sind, und der sie somit durch vorzeitige Erkenntnisse zum Bösen verführt. Auch im Umgang mit den Seelen braucht es Klugheit beim Befragen. Selbstrespekt und Respekt vor ihnen. Es wird dir leichtfallen, wenn du in jeder Seele einen Sohn siehst. Der Vater ist der natürliche Lehrer, Arzt und Führer seiner Kinder. Daher sollst du jeden Menschen, wer er auch immer sei, der mit irgendeiner Schuld beladen oder mit der Furcht, gesündigt zu haben, zu dir kommt, wie ein Vater lieben. So wirst du urteilen, ohne zu verletzen oder Ärgernis zu geben. Kannst du mir folgen?»

«Ja, Meister. Ich verstehe sehr gut. Ich muß vorsichtig und geduldig sein und den Menschen veranlassen, seine Sünden aufzudecken, aber mich hüten, die Augen anderer darauf zu lenken, und nur wenn ich sehe, daß tatsächlich eine Wunde vorhanden ist, muß ich sagen: "Siehst du? Hier hast du dir aus diesem oder jenem Grund geschadet." Aber wenn ich sehe, daß der Mensch sich nur einbildet und fürchtet, verletzt zu sein, dann... blase ich die Nebel weg, ohne aus unnötigem Eifer Kenntnisse zu

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vermitteln, die zur Ursache wirklicher Sünden werden könnten. Ist das richtig?»

«Ganz richtig. Wenn also jemand zu dir sagt: "Ich bin unkeusch gewesen", dann erwäge erst einmal, wen du vor dir hast. Gewiß, die Sünde ist in jedem Alter möglich. Aber es wird leichter sein, ihr bei einem Erwachsenen zu begegnen als bei einem Kind, und die Fragen und die Antworten müssen daher verschieden sein, je nachdem, ob es sich um einen Mann oder um ein Kind handelt. Nach der ersten kommt also die zweite Frage nach der Art der Sünde, dann die dritte nach dem Ort der Sünde, die vierte nach den Umständen der Sünde, die fünfte nach den Mitschuldigen, die sechste nach dem Warum und die siebte nach dem Wann und wie oft.

Du wirst feststellen, daß sich gewöhnlich bei einem Erwachsenen, einem in der Welt lebenden Erwachsenen, bei jeder Frage ein wirklich schuldhafter Umstand ergibt, während du bei einem kindlichen Geschöpf, kindlich dem Alter oder dem Geist nach, oft sagen mußt: "Hier ist nur ein Nebel, aber keine wahrhafte Sünde." Ja, du wirst manchmal anstelle von Schmutz eine Lilie vorfinden, die zittert, sich mit Schmutz befleckt zu haben, und den Tautropfen, der in ihren Kelch gefallen ist, mit einem Schlammspritzer verwechselt. Es sind dies Seelen, die sich so sehr nach dem Himmel sehnen, daß sie selbst den Schatten einer Wolke, der auf sie fällt, wie einen Makel fürchten, obwohl diese sich nur für einen Augenblick zwischen die Seele und die Sonne schiebt und dann weiterzieht und keinerlei Spur auf dem reinen Blütenkelch hinterläßt. Seelen, die ganz unschuldig sind und es auch bleiben wollen und die Satan durch geistige Versuchungen oder den Stachel des Fleisches oder das Fleisch selbst erschreckt, indem er sich echter körperlicher Krankheiten bedient. Diese Seelen müssen getröstet und aufgerichtet werden, denn sie sind keine Sünder mehr, sondern Märtyrer. Denke immer daran.

Und vergiß auch nicht, diejenigen, die durch die Gier nach dem Reichtum oder dem Eigentum anderer gesündigt haben, auf dieselbe Art zu beurteilen. Denn wenn es auch eine schwere Schuld darstellt, ohne Not und Mitleid habgierig zu sein, die Armen zu berauben und entgegen aller Gerechtigkeit die Bürger und die Knechte und die Völker zu quälen, so ist doch die Schuld geringer, sehr viel geringer, wenn einer, dem von seinem Nächsten ein Brot verweigert wurde, dieses dann stiehlt, um seinen eigenen und den Hunger seiner Kinder zu stillen. Erinnere dich, sowohl beim Dieb als auch beim Unkeuschen sollen für dein Urteil Zahl, Umstände und Schwere der Schuld maßgebend sein. Ferner sollst du bei deinem Urteil in Betracht ziehen, ob der Sünder in dem Augenblick, als er die Sünde beging, sich der Sündhaftigkeit seines Tuns bewußt war. Denn wer in voller Kenntnis handelt, sündigt schwerer als der, der in Unkenntnis handelt. Und wer aus freiem Willen sündigt, sündigt schwerer als einer, der zur Sünde gezwungen wird. Wahrlich, ich sage dir, es gibt manchmal

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Dinge, die Sünde zu sein scheinen und in Wirklichkeit ein Martyrium sind und das Verdienst eines erlittenen Martyriums haben. Und vergiß vor allem nie, daß du in allen Fällen, bevor du verurteilst, bedenken mußt, daß auch du ein Mensch bist und daß dein Meister, dem niemand eine Sünde nachsagen kann, niemals jemanden verurteilt hat, der bereute, gesündigt zu haben.

Verzeihe siebzigmal siebenmal und auch siebzigmal siebzigmal die Sünden deiner Brüder und deiner Kinder. Denn einem Kranken die Tür des Heils zu verschließen, nur weil er wieder in die Krankheit zurückgefallen ist, bedeutet, ihn zum Tod verurteilen. Hast du verstanden?»

«Ich habe verstanden. Dies habe ich wirklich verstanden...»

«So lege mir nun alle deine Gedanken dar.»

«Nun gut, ja! Ich will dir alles sagen, weil ich sehe, daß du wirklich alles weißt, und verstehe, daß ich nicht schlecht über ihn rede, wenn ich dich bitte, Judas an meiner Stelle auszusenden, da er leidet, wenn er nicht gehen darf. Ich will dir damit nicht sagen, daß er eifersüchtig ist und daß ich an ihm Ärgernis nehme, ich will ihn nur zufriedenstellen... damit auch du Frieden hast. Denn es muß sehr anstrengend für dich sein, immer diesen Gewittersturm in deiner Nähe zu haben...»

«Hat sich Judas wieder beklagt?»

«O ja! Er hat gesagt, daß jedes deiner Worte ihm eine Wunde schlägt. Auch das, was du zu den Kindern gesagt hast. Er meint, du habest nur seinetwegen gesagt, daß Eva zu dem Baum ging, weil ihr dieses Ding gefiel, das wie ein königliches Geschmeide glitzerte. Ich habe darin wahrlich keinen Vergleich gesehen. Doch ich bin unwissend ... Bartholomäus und der Zelote haben gesagt, daß Judas am empfindlichsten Punkt getroffen wurde, da er wie verhext ist von allem, was glänzt und der Eitelkeit schmeichelt. Sie haben sicher recht, denn sie sind weise. Sei gut zu deinen armen Aposteln, Meister. Stelle Judas zufrieden, und mich mit ihm. Du siehst es ja selbst! Ich verstehe nur, die Kinder zum Lachen zu bringen... und selbst ein Kind in deinen Armen zu sein», und er umarmt seinen Jesus, den er wahrhaft mit allen seinen Kräften liebt.

«Nein. Ich kann dich nicht zufriedenstellen. Dränge nicht. Du – eben weil du bist, wie du bist – gehst die Frohe Botschaft verkünden. Er -eben weil er ist, wie er ist – bleibt hier. Auch mein Bruder hat schon mit mir gesprochen, und so sehr ich ihn auch liebe, ich mußte ihm mit einem "Nein" antworten. Selbst wenn meine Mutter mich bitten würde, könnte ich nicht nachgeben. Es ist keine Strafe, sondern eine Medizin. Und Judas muß sie einnehmen. Und wenn sie seinem Geist auch nicht nützt, so wird sie doch mir nützen; denn ich werde mir nicht vorwerfen müssen, etwas unterlassen zu haben, um ihn zu heiligen.» Jesus ist streng und gebieterisch bei diesen Worten.

Petrus läßt die Arme sinken und neigt seufzend das Haupt.

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«Sei nicht traurig darüber, Simon. Wir werden eine ganze Ewigkeit haben, um vereint zu sein und uns zu lieben. Aber du wolltest mir noch etwas anderes sagen ...»

«Es ist spät, Meister, und du mußt schlafen.»

«Du mehr als ich, Simon, denn bei Sonnenaufgang mußt du dich wieder auf den Weg machen...»

«Oh, was mich betrifft, so ruhe ich mich hier bei dir mehr aus als auf dem Lager.»

«Dann sprich. Du weißt, daß ich wenig schlafe...»

«Also, ich bin ein Dummkopf. Ich weiß es und sage es ohne Scham. Und wenn es nur mich anginge, so würde es mir gar nichts ausmachen, unwissend zu sein, denn ich meine, die größte Weisheit besteht darin, dich zu lieben, dir zu folgen und dir mit ganzem Herzen zu dienen. Doch du schickst mich da- und dorthin. Und die Leute fragen mich, und ich muß ihnen antworten. Ich meine, wonach ich dich frage, können die anderen mich fragen. Denn die Menschen haben dieselben Gedanken. Du hast gestern gesagt, daß die Unschuldigen und die Heiligen immer werden leiden müssen; mehr noch, daß gerade sie für alle leiden werden. Das fällt mir schwer zu verstehen, auch wenn du sagst, daß sie selbst es wünschen werden. Und ich glaube, wenn es mir schwerfällt, wird es anderen ebenso ergehen. Und wenn sie mich fragen, was soll ich ihnen antworten? Auf dieser ersten Reise hat eine Mutter zu mir gesagt: "Es war nicht recht, daß mein kleines Mädchen unter so großen Schmerzen sterben mußte, denn es war gut und unschuldig." Und da ich nicht wußte, was ich antworten sollte, habe ich die Worte des Job wiederholt: "Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen. Der Name des Herrn sei gepriesen." Aber ich war selbst nicht davon überzeugt. Und ich konnte auch sie nicht überzeugen. Nun möchte ich wissen, was ich das nächste Mal sagen soll.»

«Die Frage ist gerechtfertigt. Höre zu. Es scheint eine Ungerechtigkeit zu sein, und doch ist es durchaus gerecht, daß die Besten für alle leiden. Aber sage mir einmal, Simon, was ist die Erde? Die ganze Erde.»

«Die Erde? Ein großer, ein sehr großer Raum, der aus Staub, Wasser, Felsen, Pflanzen, Tieren und menschlichen Geschöpfen besteht.»

«Und was sonst noch?»

«Sonst gar nichts... Es sei denn, du willst, daß ich sage, daß sie der Ort der Strafe für den Menschen und ein Exil ist.»

«Die Welt ist ein Altar, Simon. Ein riesiger Altar. Sie sollte ein Altar des unaufhörlichen Lobes für ihren Schöpfer sein. Aber die Welt ist voller Sünde. Daher muß sie ein Altar der unablässigen Sühne sein, eine Opferstätte, auf der die Opfergaben brennen. Die Erde müßte, wie die anderen Welten im All, Gott, der sie erschaffen hat, Psalmen singen. Schau!»Jesus öffnet die Holzläden, und durch das offene Fenster dringen die Kühle der Nacht, das Rauschen des Baches und das Licht des Mondes

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herein und sieht man den gestirnten Himmel. «Siehst du diese Sterne? Sie singen mit ihrer Stimme aus Licht und Bewegung in den unendlichen Räumen des Firmaments das Lob Gottes. Tausende von Jahren währt schon ihr Gesang, der von den blauen Gefilden des Himmels zum Himmel Gottes aufsteigt. Wir können uns Gestirne und Planeten, Sterne und Kometen als siderische Geschöpfe vorstellen, die als siderische Priester, Leviten, Jungfrauen und Gläubige in einem grenzenlosen Tempel das Lob des Schöpfers singen. Lausche, Simon. Hörst du das Säuseln des Windes im Laub und das Rauschen des Wassers in der Nacht? Auch die Erde singt – wie der Himmel – mit den Winden und den Wassern, mit den Stimmen der Vögel und der übrigen Tiere. Aber wenn für das Firmament das leuchtende Lob der Sterne, die es bevölkern, genügt, so ist der Gesang des Windes, des Wassers und der Tiere für den Tempel, der die Erde ist, nicht ausreichend. Denn auf ihr gibt es nicht nur Luft, Wasser und Tiere, die unbewußten Sänger des Lobes Gottes, sondern auf ihr gibt es auch den Menschen: das vollkommene Geschöpf, das über allem steht, was lebt in der Zeit und in der Welt, und das aus Materie wie die Tiere, die Mineralien und die Pflanzen gemacht ist, und aus Geist wie die Engel des Himmels. Wie letztere ist auch er dazu bestimmt, wenn er seine Prüfung besteht, Gott zu erkennen und zu besitzen, durch die Gnade zuerst, im Paradies später. Der Mensch, eine Synthese aller Seinsstufen, hat eine Aufgabe, die die anderen Geschöpfe nicht haben; und sie müßte für ihn, mehr als eine Pflicht, eine Freude sein: Gott zu lieben. Bewußt und freiwillig müßte er Gott liebend verehren und ihm die Liebe vergelten, die er dem Menschen erzeigte, als er ihm das Leben und über das Leben hinaus den Himmel schenkte.

Bewußt verehren und lieben. Überlege, Simon. Welchen Vorteil hat Gott durch die Schöpfung? Welchen Nutzen? Keinen. Die Schöpfung macht Gott nicht größer, heiliger oder reicher. Denn er ist unendlich. Er wäre es, auch wenn es nie eine Schöpfung gegeben hätte. Aber Gott, die Liebe, verlangte nach Liebe. Und er hat erschaffen, um Liebe zu finden. Liebe allein kann die Schöpfung Gott geben, und diese Liebe, die sich nur bei den Engeln und den Menschen bewußt und frei äußert, ist die Ehre Gottes, die Freude der Engel und die Religion der Menschen. Wenn eines Tages der große Altar der Erde seine Lobgesänge und sein Liebesflehen einstellen sollte, würde die Erde aufhören zu existieren. Denn wenn die Liebe erlischt, endet auch die Sühne, und der Zorn Gottes würde die zur Hölle gewordene Welt vernichten. Die Erde muß also lieben, um fortbestehen zu können. Und weiter: Die Erde muß der Tempel sein, der liebt und betet durch die Intelligenz der Menschen. Aber welche Opfer werden in einem Tempel, in jedem Tempel, dargebracht? Reine Opfer, ohne Fehl und Makel. Nur diese sind dem Herrn wohlgefällig. Sie und die Erstlinge. Denn dem Familienvater muß man das Beste geben, und Gott, dem Vater

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der Menschheitsfamilie, müssen die Erstlinge aller Dinge, die erlesensten Dinge gegeben werden.

Aber ich habe gesagt, daß die Erde die Pflicht des zweifachen Opfers hat: die des Lob- und die des Sühnopfers; denn die Menschheit, die schon in den ersten Menschen gesündigt hat, sündigt fortwährend weiter und fügt der Sünde der Gleichgültigkeit gegenüber Gott tausend andere Sünden der Anhänglichkeit an die Stimmen der Welt, des Fleisches und Satans hinzu. Schuldbeladene, schuldbeladene Menschheit, die trotz ihrer Ähnlichkeit mit Gott, trotz des eigenen Verstandes und der göttlichen Hilfe immer sündigt und immer mehr sündigt. Die Sterne gehorchen, die Pflanzen gehorchen, die Elemente gehorchen, die Tiere gehorchen, und sie alle preisen auf ihre Art den Herrn. Die Menschen gehorchen dem Herrn nicht und preisen ihn nicht genug. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Opferseelen, die für alle lieben und sühnen. Es sind die Kinder, die unschuldig und unwissend die bittere Strafe des Schmerzes ertragen müssen für jene, die nichts anderes zu tun wissen als zu sündigen. Es sind die Heiligen, die sich freiwillig für alle opfern.

In Kürze – ein Jahr oder ein Jahrhundert ist immer "wenig" im Vergleich zur Ewigkeit – werden keine anderen Opfergaben mehr auf dem Altar des großen Tempels der Welt dargebracht werden als diese Opferseelen, die sich in beständiger Selbstaufopferung verzehren: Hostien, vereint mit der vollkommenen Hostie. Keine Angst, Petrus. Ich sage nicht, daß ich einen Kult ähnlich dem des Moloch, des Baal oder der Astarte errichten werde. Die Menschen selbst werden uns opfern. Verstehst du? Sie werden uns opfern, und wir werden freudig in den Tod gehen, um für alle zu sühnen und zu lieben. Dann werden Zeiten kommen, in denen die Menschen nicht mehr Menschen opfern. Doch immer wird es die reinen Opferseelen geben, die die Liebe zusammen mit dem großen Opferlamm im fortwährenden Opfer verzehrt. Ich spreche von der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott. Wahrlich, sie werden die Hostien der Zukunft und des zukünftigen Tempels sein. Nicht Lämmer und Böcke, Kälber und Tauben, sondern Opfer des Herzens sind Gott wohlgefällig. David hat es vorausgesagt. Und in der neuen Zeit, der Zeit des Geistes und der Liebe, wird Gott nur dieses Opfer angenehm sein.

Überlege, Simon. Wenn ein Gott Mensch werden mußte, um der göttlichen Gerechtigkeit Genüge zu tun für die große Sünde, für die vielen Sünden der Menschen, dann können in der Zeit der Wahrheit nur die Opfer der Menschenseelen den Herrn besänftigen. Du denkst: "Aber warum hat dann er, der Allerhöchste, angeordnet, ihm die Jungen der Tiere und die Früchte der Pflanzen zu opfern?" Ich will es dir sagen. Vor meiner Ankunft war der Mensch eine befleckte Opfergabe, und die Liebe war nicht bekannt. Nun wird sie bekannt werden. Und der Mensch, der die Liebe kennenlernt – denn ich werde ihm die Gnade wiedergeben,

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durch die er die Liebe erkennt – wird aus seiner Lethargie erwachen, sich erinnern, verstehen, leben und selbst an die Stelle der Böcklein und der Lämmer treten. Hostie der Liebe und der Sühne, in Nachahmung des Gotteslammes, seines Meisters und Erlösers, wird er sein. Der Schmerz, bisher eine Strafe, wird sich in vollkommene Liebe verwandeln, und selig jene, die ihn aus vollkommener Liebe auf sich nehmen.»

«Aber die Kinder ...»

«Du meinst die, die sich noch nicht aufzuopfern wissen... Weißt du denn, wann Gott in ihnen spricht? Die Sprache Gottes ist eine geistige Sprache. Die Seele versteht sie und die Seele hat kein Alter. Vielmehr sage ich dir, daß die Kinderseele, weil ohne Bosheit, in ihrer Fähigkeit, Gott zu verstehen, erwachsener ist als die Seele eines greisen Sünders. Ich sage dir, Simon: du wirst lange genug leben, um zu sehen, wie viele Kinder die Erwachsenen und auch dich selbst die Weisheit der heroischen Liebe lehren werden. In jenen Kindern aber, die aus natürlichen Gründen sterben, wirkt Gott direkt aus Gründen einer so hohen Liebe, daß ich sie dir nicht erklären kann. Sie gehören zu der Weisheit, die in den Büchern des Lebens geschrieben steht, die nur von den Seligen im Himmel gelesen werden. Gelesen, habe ich gesagt; aber in Wahrheit wird es genügen, Gott anzuschauen, um nicht allein Gott zu erkennen, sondern auch seine unendliche Weisheit... Nun haben wir den Mond untergehen lassen, Simon... Bald bricht der Tag an, und du hast nicht geschlafen...»

«Das macht nichts, Meister. Ich habe wenige Stunden Schlaf verloren und so viel Wissen erworben. Und ich war mit dir zusammen. Aber wenn du es erlaubst, gehe ich jetzt. Nicht um zu schlafen, sondern um über deine Worte nachzudenken.»

Petrus ist schon auf der Schwelle und will hinausgehen, als er nachdenklich stehenbleibt und sagt: «Noch etwas, Meister. Ist es richtig, wenn ich jemandem, der leidet, sage, daß der Schmerz keine Strafe, sondern eine... Gnade, etwas wie... wie unsere Berufung ist, etwas Schönes, wenn auch Mühevolles, etwas Schönes, wenngleich es denen, die nicht darum wissen, hart und traurig erscheint?»

«Du kannst es sagen, Simon. Es ist die Wahrheit. Der Schmerz ist keine Strafe, wenn man ihn im rechten Geist annimmt und nutzt. Der Schmerz ist wie ein Priestertum, Simon. Ein allen zugängliches Priestertum. Ein Priestertum, das große Macht über das Herz Gottes verleiht. Er ist ein großes Verdienst. Mit der Sünde geboren, besänftigt er die Gerechtigkeit. Denn Gott kann auch zum Guten gebrauchen, was der Haß geschaffen hat, um Schmerz zu bereiten. Ich habe kein anderes Mittel gewollt, um die Schuld zu tilgen, denn es gibt kein mächtigeres Mittel als dieses.»

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611. AN EINEM SABBAT IN EPHRAIM

Es muß wieder Sabbat sein, denn die Apostel sind erneut im Haus der Maria des Jakob versammelt. Die Kinder sind noch bei ihnen, nahe bei Jesus, an der Feuerstelle. Und das veranlaßt Judas Iskariot zu sagen: «Nun ist schon eine Woche vergangen, und die Verwandten sind nicht gekommen», und er lacht dabei und schüttelt den Kopf.

Jesus antwortet ihm nicht. Er liebkost den Zweitgeborenen. Judas fragt Petrus und Jakobus des Alphäus: «Und ihr sagt, daß ihr beide Wege gegangen seid, die nach Sichern führen?»

«Ja. Aber es war nutzlos, und wir hätten es uns denken können. Natürlich benützen die Räuber diese belebten Straßen nicht, besonders jetzt, da Trupps von römischen Soldaten dort ständig patrouillieren», antwortet Jakobus des Alphäus.

«Und warum habt ihr es dann getan?» setzt ihm Judas zu.

«Nun ja... Es kommt für uns auf das gleiche heraus, ob wir dahin oder dorthin gehen. Also sind wir diese Wege gegangen.»

«Und niemand konnte euch etwas sagen?»

«Wir haben niemanden gefragt.»

«Und wie wollt ihr dann wissen, ob sie vorbeigekommen sind oder nicht? Tragen sie vielleicht Schilder mit sich herum, oder hinterlassen Menschen, die auf einer Straße gehen, Spuren? Ich glaube nicht. Denn sonst hätten uns wenigstens schon die Freunde gefunden. Doch kein einziger ist gekommen, seit wir hier sind.» Judas lacht sarkastisch.

«Wir wissen nicht, warum niemand hierher gekommen ist. Der Meister weiß es. Wir wissen es nicht. Wenn man keine Spuren hinterläßt und sich wie wir an einen den Leuten unbekannten Ort zurückzieht, können sie nicht kommen, wenn man ihnen unseren Zufluchtsort nicht bekanntgibt. Und wir wissen nicht, ob unser Bruder ihn den Freunden genannt hat», sagt Jakobus des Alphäus geduldig.

«Oh, du willst mir doch nicht weismachen, daß er ihn nicht wenigstens Lazarus oder Nike mitgeteilt hat?»

Jesus sagt nichts. Er nimmt ein Kind bei der Hand und geht hinaus.

«Ich will dir gar nichts weismachen. Aber selbst wenn es so ist, wie du sagst, kannst du nicht, kann keiner von uns die Gründe für die Abwesenheit der Freunde beurteilen.»

«Sie sind leicht zu verstehen, diese Gründe! Keiner will Unannehmlichkeiten mit dem Synedrium bekommen, um so weniger einer, der reich und mächtig ist. Das ist alles! Nur wir verstehen es bestens, uns Gefahren auszusetzen.»

«Sei gerecht, Judas! Der Meister hat keinen von uns gezwungen, bei ihm zu bleiben. Warum bist du geblieben, wenn du das Synedrium fürchtest?» bemerkt Jakobus des Alphäus.

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«Du kannst immer noch jederzeit gehen, wenn du willst. Du bist nicht angekettet...» unterbricht der andere Jakobus, der Sohn des Zebedäus.

«Nein, das nicht! Das kommt nicht in Frage! Hier sind wir und hier bleiben wir. Alle. Wer gehen wollte, hätte es früher tun sollen. Jetzt nicht mehr. Ich werde mich widersetzen, wenn der Meister sich nicht widersetzt», sagt Petrus langsam aber bestimmt und schlägt mit der Faust auf den Tisch.

«Und weshalb? Wer bist du denn, daß du an Stelle des Meisters Befehle erteilst?» fragt Iskariot heftig.

«Ich bin ein Mensch, der nicht wie Gott, wie er, denkt, sondern wie ein Mensch.»

«Du mißtraust mir? Du hältst mich für einen Verräter?» sagt Judas erregt.

«Du hast es gesagt. Nicht, daß ich dich dafür halten will... Aber du bist so gedankenlos und so wankelmütig, Judas! Und du hast zu viele Freunde. Und du tust zu gerne groß, in allem. Du, oh! Du könntest nicht schweigen! Um einem niederträchtigen Menschen zu antworten oder um zu zeigen, daß du ein Apostel bist, würdest du plaudern. Daher bist und bleibst du hier. So kannst du nicht schaden und brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.»

«Gott läßt dem Menschen die Freiheit, und du willst sie mir nehmen?»

«Ich will es. Aber sage mir doch: Regnet es dir etwa auf den Kopf? Fehlt es dir an Brot? Schadet dir die Luft? Beleidigen dich die Leute? Nichts von alledem. Das Haus ist solide, wenn auch nicht reich. Die Luft ist gut, an Essen hat es dir niemals gefehlt, und die Bevölkerung achtet dich. Warum bist du also so unruhig, wie wenn du auf einer Galeere wärest?»

«"Zwei Völkerschaften verabscheut meine Seele, und die dritte mir verhaßte ist kein Volk: die Bewohner von Seit, die Philister und das törichte Volk, das in Sichern wohnt." Ich antworte dir mit den Worten des Weisen. Und ich habe allen Grund, so zu denken. Sage mir selbst, ob diese Völker uns lieben!»

«Mhm... Eigentlich scheint mir, daß auch die anderen, dein Volk und mein Volk, nicht viel besser sind. Man hat in Judäa und in Galiläa mit Steinen nach uns geworfen, und in Judäa noch mehr als in Galiläa, im Tempel von Judäa mehr als an allen anderen Orten. Ich finde nicht, daß wir im Land der Philister, oder hier oder anderswo mißhandelt worden sind ...»

«Wo anderswo? Wir sind glücklicherweise sonst nirgends hingegangen. Aber selbst wenn wir anderswohin gegangen wären, wäre ich nicht mitgekommen, und auch in Zukunft werde ich nicht mitkommen. Ich will mich nicht noch mehr beflecken.»

«Dich beflecken? Das ist es nicht, was dich stört, Judas des Simon. Du willst dich nicht mit denen vom Tempel verfeinden. Das ist deine große

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Sorge», sagt mit ruhiger Stimme Simon der Zelote, der mit Petrus, Jakobus des Alphäus und Philippus in der Küche geblieben ist. Die anderen sind hinausgegangen, einer nach dem anderen, um sich mit den beiden Kindern zum Meister zu gesellen. Eine verdienstvolle Flucht, denn sie ist erfolgt, um nicht gegen das Gebot der Liebe zu verstoßen.

«Nein, das stimmt nicht. Es paßt mir einfach nicht, meine Zeit zu vergeuden und Dummköpfe mit Weisheit zu füttern. Schau! Was hat es genützt, Ermastheus zu uns zu nehmen? Er ist fortgegangen und nicht wiedergekommen. Joseph sagte, daß er sich von ihm getrennt habe und zum Laubhüttenfest zurückkommen wollte. Hast du ihn etwa gesehen? Ein Abtrünniger...»

«Ich weiß nicht, warum er nicht zurückgekehrt ist, und urteile nicht. Doch möchte ich dich fragen: Ist er etwa der einzige, der den Meister verlassen hat und vielleicht sogar sein Feind geworden ist? Gibt es unter uns Juden und Galiläern denn keine Abtrünnigen? Kannst du das behaupten?»

«Nein, das ist wahr. Aber ich fühle mich eben nicht wohl hier. Wenn man erfahren würde, daß wir hier sind! Wenn man wüßte, daß wir uns mit Samaritern abgeben und am Sabbat sogar in ihre Synagogen gehen! Er will es tun... Wehe, wenn man es erführe! Die Anklage wäre dann gerechtfertigt ...»

«Und der Meister würde verurteilt werden, willst du sagen. Er ist es ja schon. Er ist es schon, noch bevor man es erfährt. Er ist verurteilt worden, nachdem er einen Juden in Judäa auferweckt hat. Er wird gehaßt, und man klagt ihn an, ein Samariter und ein Freund von Zöllnern und Dirnen zu sein. Er ist es ... von jeher. Und du weißt besser als wir alle, daß er es nicht ist!»

«Was willst du damit sagen, Nathanael? Was meinst du damit? Was habe ich damit zu tun? Was kann ich besser wissen als ihr?» Judas ist äußerst erregt.

«Du kommst mir vor wie eine von Feinden umringte Maus, mein Junge. Aber du bist keine Maus, und wir sind nicht mit Stöcken bewaffnet, um dich zu fangen und zu töten. Warum gerätst du so in Erregung? Wenn dein Gewissen in Ordnung ist, warum versetzen dich dann unschuldige Worte in solche Unruhe? Was hat Bartholomäus gesagt, daß du so außer dir bist? Ist es vielleicht nicht wahr, daß niemand besser als wir, seine Apostel, die wir mit ihm wohnen und neben ihm schlafen, wissen und bezeugen können, daß er nicht den Samariter, den Zöllner, den Sünder oder die Dirne als solche liebt, sondern ihre Seelen? Nur um diese ist er besorgt, und nur um ihrer Seelen willen gibt er sich mit Samaritern, Zöllnern und Dirnen ab. Und nur der Allerhöchste weiß, wie schwer es dem Reinsten fällt, sich dem zu nähern, was wir Menschen und Sünder "Schmutz" nennen. Du verstehst und kennst Jesus noch nicht, mein Junge! Du kennst und verstehst ihn weniger als selbst die Samariter, die Philister,

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die Phönizier und viele andere mehr», sagt Petrus, und eine gewisse Traurigkeit klingt in den letzten Worten mit.

Judas sagt nichts mehr, und auch die anderen schweigen.

Die alte Frau kommt herein und sagt: «Die Leute aus der Stadt sind auf dem Weg. Sie sagen, es sei die Stunde des Sabbatgebets und der Meister habe versprochen, zu reden...»

«Ich will gehen und es ihm sagen, Frau. Und du, sage den Leuten von Ephraim, daß wir gleich kommen», antwortet Petrus und geht in den Garten hinaus, um Jesus zu benachrichtigen.

«Und du, was machst du? Kommst du? Wenn du nicht kommen willst, dann geh, geh hinaus, bevor ihn deine Ablehnung kränkt», sagt der Zelote zu Judas.

«Ich komme mit euch. Mit euch kann man nicht reden! Man könnte meinen, ich sei der größte Sünder. Jedes meiner Worte wird falsch verstanden.»

Jesus, der nun die Küche wieder betritt, verhindert weitere Worte.

Sie gehen auf die Straße zu den Leuten aus Ephraim, betreten mit ihnen die Stadt und bleiben erst vor der Synagoge stehen, an deren Portal Malachias sie begrüßt und sie einlädt hereinzukommen.

Ich bemerke keinerlei Unterschied zwischen den Gebetsstätten der Samariter und denen, die ich anderenorts gesehen habe. Immer dieselben Lampen, dieselben Pulte, dieselben Regale mit den Schriftrollen und der Platz des Synagogenvorstehers oder seines Stellvertreters. Nur gibt es hier viel weniger Schriftrollen als in den anderen Synagogen.'

«Wir haben unsere Gebete schon verrichtet, während wir auf dich gewartet haben. Wenn du sprechen willst... Welche Rolle wünschest du, Meister?»

«Ich brauche keine. Und außerdem hättest du die nicht, aus der ich etwas auslegen will», antwortet Jesus, wendet sich dem Volk zu und beginnt seine Rede:

«Als die Hebräer von Cyrus, dem Perserkönig, in die Heimat zurückgeschickt wurden, um den fünfzig Jahre zuvor zerstörten Tempel Salomons wieder aufzubauen, wurde der Altar auf seinem alten Fundament neu errichtet und darauf morgens und abends das tägliche Brandopfer dargebracht. Auch das außergewöhnliche Opfer an jedem Monatsersten und an den sonstigen, dem Herrn geweihten Feiertagen sowie die individuellen Opfergaben wurden darauf verbrannt. Nachdem die ersten unentbehrlichen und wesentlichen Kulthandlungen gesichert waren, begannen sie im zweiten Jahr nach der Rückkehr mit dem, was man den Rahmen

' Die Samariter anerkennen als Heilige Schriften nur die fünf Bücher Moses, den Pentateuch: Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium.

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des Kultes nennen könnte, das Äußerliche. Zwar kein schuldhaftes Unternehmen, denn es geschah, um den Ewigen zu ehren, aber auch kein unbedingt notwendiges. Denn der Gottesdienst ist Liebe zu Gott, und die Liebe fühlt und übt man im Herzen, nicht vermittels behauener Steine und mit kostbarem Holz, Gold und Weihrauch. Alle diese Dinge sind Äußerlichkeiten und dienen mehr dazu, dem eigenen nationalen oder bürgerlichen Stolz genugzutun, als den Herrn zu ehren.

Gott verlangt einen Tempel des Geistes. Er begnügt sich nicht mit einem gemauerten, marmornen Tempel, in dem der Geist der Liebe fehlt. Wahrlich, ich sage euch, der Tempel des reinen und liebenden Herzens ist der einzige Tempel, den Gott liebt und in dem er Wohnung nimmt mit seinem Licht. Und töricht ist der Wettstreit, den Gebiete und Städte hinsichtlich der Schönheit der einzelnen Gebetsstätten miteinander austragen. Warum denn wetteifern mit Reichtum und Ausstattung der Häuser, in denen man Gott anruft? Könnte denn das Endliche je dem Unendlichen gerecht werden, selbst wenn das Endliche zehnmal schöner als der Tempel Salomons und alle Königspaläste zusammen wäre? Gott, der Unendliche, der von keinem Raum umschlossen und durch keine materielle Zier geehrt werden kann, findet den einzigen Ort, der seiner würdig ist, und er kann, vielmehr will sich im Herzen des Menschen niederlassen; denn der Geist des Gerechten ist ein Tempel, über dem der Geist Gottes im Duft der Liebe schwebt, und bald wird er ein Tempel sein, in dem der Herr, als der Eine und Dreieine wie im Himmel, seine wirkliche Wohnung aufschlägt.

Und es steht geschrieben, daß, nachdem die Maurer das Fundament des Tempels gelegt hatten, die Priester in ihrem Schmuck und mit ihren Trompeten und die Leviten mit ihren Zimbeln gemäß der Vorschrift Davids hingingen. Und sie sangen: "Gott sei gepriesen, denn er ist gut, und ewig währt seine Barmherzigkeit."

Und das Volk jubelte. Doch viele Priester, Vorsteher, Leviten und Ältesten weinten bitterlich, als sie an den Tempel dachten, wie er zuvor gewesen war; aber in dem Durcheinander konnte man den freudigen Jubel von den Klagen nicht unterscheiden. Und man liest weiter, daß die Nachbarvölker die Erbauer des Tempels störten, denn sie wollten sich rächen, weil man sie abgewiesen hatte, als sie sich erboten, beim Bau zu helfen; denn auch sie suchten den Gott Israels, den einen und wahren Gott. Und diese Störungen unterbrachen den Gang der Arbeiten so lange, bis es Gott gefiel, sie fortsetzen zu lassen. So steht es im Buch Esdras geschrieben.

Wie viele und welche Lehren enthält dieser Abschnitt?

Die bereits genannte, daß der wahre Gottesdienst in den Herzen stattfinden muß und ihm nicht durch Steine und Hölzer oder Gewänder, Zimbeln und Gesänge, denen der Geist fehlt, Ausdruck verliehen werden kann. Daß der Mangel an gegenseitiger Liebe immer Anlaß zu Verzögerungen und

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Störungen ist, auch wenn man einen an und für sich guten Zweck vor Augen hat. Gott kann nicht dort sein, wo die Liebe fehlt. Nutzlos ist es, Gott zu suchen, wenn man vorher nicht die notwendigen Voraussetzungen schafft, um ihn finden zu können. Gott findet man in der Liebe. Derjenige oder diejenigen, die sich in der Liebe festigen, finden Gott, ohne ihn lange und mühsam suchen zu müssen. Und wer Gott an seiner Seite hat, dem gelingt alles, was er unternimmt.

In dem dem Herzen eines Weisen entsprungenen Psalm, nach der Betrachtung der schmerzlichen Ereignisse beim Wiederaufbau des Tempels und der Mauern, heißt es: "Wenn der Herr das Haus nicht baut, mühen die Bauleute sich umsonst. Wenn der Herr die Stadt nicht bewacht, späht der Wächter umsonst."

Aber wie kann Gott das Haus bauen, wenn er weiß, daß seine Bewohner ihn nicht im Herzen haben, da sie ihre Nachbarn nicht lieben? Und wie kann er die Städte beschützen und ihren Verteidigern Kraft verleihen, wenn er nicht in ihnen wohnen kann, da ihr Haß gegen die Nachbarvölker sie gottlos macht? Hat es euch einen Vorteil gebracht, ihr Völker, durch die Schranken des Hasses getrennt zu sein? Hat euch dieser Haß mächtiger, reicher und glücklicher gemacht? Niemals kann Haß oder Rachsucht nützen, niemals kann stark sein, wer allein ist, niemals wird geliebt, wer selbst nicht liebt. Und vergeblich ist es, sich vor Tagesgrauen zu erheben, wie der Psalm sagt, um mächtig, reich und glücklich zu werden. Ein jeder möge sich die nötige Ruhe gönnen als Trost für die Trübsal des Lebens; denn der Schlaf ist eine Gabe Gottes, wie das Licht und alles andere, an dem sich der Mensch erfreut. Ein jeder möge sich seine Ruhe gönnen; doch soll er im Schlaf und im Wachen die Liebe als Genossin haben, und seine Werke werden gedeihen und seine Familie und seine Geschäfte werden blühen. Und vor allem wird sein Geist erblühen und die königliche Krone der Kinder des Allerhöchsten und Erben seines Reiches erwerben.

Ja, es steht geschrieben, daß während das Volk jubelte, einige bitterlich weinten, da sie an die Vergangenheit dachten und um sie trauerten. Aber man konnte die verschiedenen Stimmen nicht unterscheiden im allgemeinen Lärm.

Söhne von Samaria! Und ihr, meine Apostel, Söhne von Judäa und Galiläa! Auch heute gibt es solche, die jubeln, und solche, die weinen, während der neue Tempel des Herrn auf ewigen Fundamenten ersteht. Auch heute gibt es solche, die die Arbeit verzögern und Gott dort suchen, wo er nicht ist. Auch heute gibt es solche, die gemäß dem Befehl des Cyrus und nicht gemäß dem Befehl des Herrn aufbauen wollen; die also auf den Befehl der Welt und nicht auf die Stimme des Geistes hören. Auch heute noch gibt es solche, die töricht und menschlich einer schlechteren Vergangenheit nachtrauern, einer Vergangenheit, die weder gut noch weise war

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und den Zorn Gottes erregte. Auch heute noch gibt es alle diese Dinge, als ob wir noch immer im Nebel der vergangenen Zeiten und nicht im Licht der Zeit des Lichtes lebten.

Öffnet eure Herzen dem Licht. Füllt sie mit Licht, damit wenigstens ihr, zu denen ich, das Licht, spreche, seht. Die neue Zeit hat begonnen. Alles wird in ihr erneuert. Und wehe denen, die sich dagegen sträuben und jene behindern, die den Tempel des neuen Glaubens errichten, dessen Eckstein ich bin. Mich selbst werde ich hingeben für diesen Tempel, um seine Steine zusammenzuhalten, damit das Gebäude heilig und stark gedeihe, bewundernswert über die Jahrhunderte und groß wie die Welt, die es mit seinem Licht erleuchten wird. Ich sage Licht und nicht Schatten, denn mein Tempel wird aus Geist und nicht aus lichtlosen Steinen bestehen. Stein dieses Tempels werde ich mit meinem ewigen Geist sein, und Steine werden alle jene sein, die meine Worte und die neue Lehre befolgen. Schwerelose Steine, flammende Steine, heilige Steine. Und das Licht wird sich über die Erde verbreiten, das Licht des neuen Tempels, und Weisheit und Heiligkeit über sie ausgießen. Draußen bleiben werden nur jene, die mit unreinen Tränen der Vergangenheit nachtrauern und sie beweinen, da sie für sie die Quelle des Nutzens und rein irdischer Ehren war.

Öffnet euch der neuen Zeit und dem neuen Tempel, ihr Menschen von Samaria! In ihnen ist alles neu, und die alten materiellen, gedanklichen und geistigen Trennungen und Grenzen existieren nicht mehr. Frohlockt, denn das Exil außerhalb der Stadt Gottes nähert sich seinem Ende. Oder freut es euch etwa, für die anderen in Israel Ausgestoßene oder Aussätzige zu sein? Leidet ihr nicht darunter, euch wie aus dem Schoß Gottes Vertriebene zu fühlen? Denn dies ist es, was ihr fühlt; eure Seelen fühlen es, eure armen, in diesen euren Körpern gefangenen Seelen. Und ihr unterdrückt sie mit euren hochmütigen Gedanken, die anderen Menschen gegenüber nicht zugeben wollen: "Wir haben gefehlt. Doch wie verlorene Schafe kehren wir nun in den Schafstall zurück." Daß ihr es den anderen nicht gestehen wollt, ist schlimm. Aber sagt es wenigstens Gott. Auch wenn ihr den Schrei eurer Seele unterdrückt, hört Gott den Seufzer eurer Seele, die betrübt darüber ist, vom Haus des allerheiligsten Vaters aller Menschen ausgeschlossen zu sein.

Hört die Worte des Graduale. 1) Auch ihr seid Pilger, die seit Jahrhunderten auf dem Weg zur Oberen Stadt, zum wahren himmlischen Jerusalern sind. Von dort, vom Himmel sind eure Seelen herabgekommen, um ein Fleisch zu beleben, und nun sehnen sie sich danach, dorthin zurückzukehren. Warum wollt ihr eure Seelen opfern, ihnen den Eintritt in das

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1) Bezieht sich auf Psalm 121 aus den Wallfahrtspsalmen, die die Pilger sangen, während sie zum Tempel in Jerusalem hinaufstiegen.

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Reich Gottes verwehren? Welche Schuld haben sie, in ein in Samaria gezeugtes Fleisch herabgekommen zu sein? Sie kommen alle von einem einzigen Vater. Sie haben alle denselben Schöpfer wie die Seelen von Judäa und Galiläa, von Phönizien und der Dekapolis. Gott ist das Ziel jeder Seele. Jede Seele strebt nach diesem Gott, auch wenn Götzendienst aller Art oder verhängnisvolle Häresien, Schismen oder Unglaube sie in Unkenntnis des wahren Gottes halten, die absolut wäre, wenn die Seele nicht den Keim einer unauslöschlichen Erinnerung an die Wahrheit und eine Sehnsucht nach ihr in sich trüge. Oh, laßt diese Erinnerung und diese Sehnsucht in euch wachsen. Öffnet die Tore eurer Seele! Laßt das Licht hinein! Laßt das Leben hinein! Laßt die Wahrheit hinein! Öffnet den Weg! Laßt alles gleich einem leuchtenden, lebendigen Strom hereinfluten, wie die Sonnenstrahlen, die Wellen und die Winde der Tag-und-NachtGleiche, damit der Keim zum Baum werde, der zu den Höhen strebt, um seinem Herrn immer näherzukommen.

Verlaßt das Exil! Singt mit mir: "Wenn der Herr die Seele aus der Knechtschaft befreit, dann glaubt sie vor Freude, es geschehe im Traum. Da ward von Lachen erfüllt unser Mund und unsere Zunge von Jubel. Nun wird man sagen: 'Der Herr hat Großes an uns getan.'" Ja, der Herr hat Großes an euch getan, und ihr werdet von Freude erfüllt sein.

Oh! Mein Vater! Für sie bitte ich dich, wie für alle. Gib, daß diese unsere Gefangenen zurückkehren, o Herr, diese Gefangenen, die in deinen und meinen Augen in den Ketten des verstockten Irrtums liegen. Führe sie zurück, o Vater, wie der Bach sich in den großen Fluß ergießt, in das große Meer deiner Barmherzigkeit und deines Friedens. Ich und meine Diener säen unter Tränen deine Wahrheit in sie! Vater, gib daß zur Zeit der großen Ernte wir, alle deine Diener, die Verkünder deiner Wahrheit, auf diesen Schollen, die jetzt nur wenige Dornen und giftige Kräuter zu tragen scheinen, freudig den edlen Weizen für deine Scheunen mähen können. Vater! Vater! Um unserer Mühen und Tränen und Schmerzen willen, um des Schweißes und des Todes willen, die unsere ständigen Begleiter bei der Aussaat waren und sein werden, gewähre uns, vor dich zu treten und dir die Schar der Erstlinge dieses Volkes darzubringen, die zu deiner Ehre zur Gerechtigkeit und Wahrheit wiedergeborenen Seelen. Amen.»

In dem sehr eindrucksvollen, da absoluten Schweigen dieser so großen Menge, die die Synagoge und den Platz davor füllt, entsteht nun ein Flüstern. Es nimmt zu, aus dem Flüstern wird leises Reden, aus dem Reden lautes Stimmengewirr, und aus dem Stimmengewirr ein allgemeines Hosanna. Die Leute gestikulieren, kommentieren und jubeln Jesus zu...

Welch ein Unterschied zu dem Nachspiel der Predigten im Tempel! Malachias sagt im Namen aller: «Nur du weißt so die Wahrheit zu sagen, ohne zu beleidigen oder zu beschämen! Du bist wahrhaft der Heilige Gottes! Bete für unseren Frieden. Wir sind seit Jahrhunderten verhärtet in

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unseren Ansichten und durch jahrhundertelange Beleidigungen. Und wir müssen diese harte Schale zerbrechen. Habe Mitleid mit uns.»

«Mehr noch, ich liebe euch. Seid guten Willens, und die Schale wird von selbst zerbrechen. Das Licht möge euch erleuchten.»

Jesus bahnt sich einen Weg durch die Menge und geht hinaus; die Apostel folgen ihm.

612. DIE VERWANDTEN DER KINDER UND DIE LEUTE VON SICHEM

Jesus befindet sich allein auf der kleinen Insel im Bach. Die Kinder spielen am Ufer und sprechen ganz leise, als ob sie Jesus in seiner Betrachtung nicht stören wollten. Ab und zu stößt der Kleinste einen Freudenschrei aus, wenn er ein Steinchen von schöner Farbe oder ein neues Blümchen entdeckt. Die anderen zischeln sofort: «Sei still! Jesus betet...» Und das Flüstern beginnt wieder, während die braunen Händchen aus Sand Blöcke und Kegel formen, die in der kindlichen Vorstellung Häuser und Berge sein sollen.

Oben strahlt die Sonne, die Knospen der Bäume schwellen, und auf der Wiese öffnen die Blumen ihre Kelche. Die graugrünen Blättchen der Pappel zittern, und die Vöglein in ihrem Wipfel tragen ihre Liebeshändel und Rivalitäten aus, die einmal in freudigem Singen, das andere Mal in einem Schmerzensruf enden.

Jesus betet. Er sitzt in Betrachtung versunken im Gras, und ein Büschel Schilf verbirgt ihn vor den Blicken vom Ufer. Ab und zu erhebt er die Augen, um nach den auf der Wiese spielenden Kindern zu sehen; dann senkt er sie wieder und vertieft sich erneut in seine Gedanken.

Eilige Schritte im Ufergrün und das Erscheinen des Johannes auf dem Inselchen schlagen die Vögel in die Flucht, die aus dem Wipfel der Pappel davonschwirren, und ihr Treiben dort mit ängstlichen Schreien beenden.

Johannes sieht Jesus, der hinter den Binsen verborgen ist, nicht sofort und ruft deshalb etwas erschrocken: «Wo bist du, Meister?»

Jesus steht auf, während die Kinder von der anderen Seite her rufen: «Dort ist er! Hinter dem hohen Gras.»

Doch Johannes hat Jesus schon gesehen. Er geht zu ihm und sagt: «Meister, die Verwandten sind gekommen. Die Verwandten der Kinder. Und viele Leute von Sichern mit ihnen. Sie sind zu Malachias gegangen, und Malachias hat sie zu unserem Haus gebracht. Ich bin gekommen, um dich zu holen.»

«Und wo ist Judas?»

«Ich weiß es nicht, Meister. Gleich nachdem du hierher gekommen

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bist, ist er fortgegangen und bisher nicht zurückgekehrt. Er wird in der Stadt sein. Willst du, daß ich ihn suche?»

«Nein, das ist nicht nötig. Bleib hier bei den Kindern. Ich will zuerst mit den Verwandten sprechen.»

«Wie du willst, Meister.»

Jesus geht, und Johannes begibt sich zu den Kindern, um ihnen bei einem großen Unternehmen zu helfen: dem Bau einer Brücke über einen gedachten Bach, der aus langen Schilfblättern besteht, die auf dem Boden liegen und das Wasser darstellen...

Jesus betritt das Haus der Maria des Jakob, die ihn schon an der Tür erwartet hat und ihm sagt: «Sie sind nach oben gegangen, auf die Terrasse. Ich habe sie hinaufgeführt, damit sie sich ausruhen. Doch da kommt Judas aus dem Dorf zurück. Ich werde auf ihn warten und dann eine Erfrischung für die Besucher bereiten. Sie sind sehr müde.»

Auch Jesus wartet auf Judas in dem im Vergleich zur Helligkeit draußen etwas dunklen Hausgang. Und Judas, der Jesus beim Betreten des Hauses nicht sofort sieht, sagt in anmaßendem Ton zu der Greisin: «Wo sind die Leute aus Sichern? Etwa schon wieder fortgegangen? Und der Meister? Hat ihn niemand gerufen? Johannes...» Da bemerkt er Jesus und ändert seinen Ton: «Meister! Ich bin gelaufen, als ich zufällig erfuhr... Warst du denn im Haus?»

«Johannes war da. Und er hat mich geholt.»

«Ich... auch ich wäre hier gewesen. Doch am Brunnen haben mich einige Leute gebeten, ihnen etwas zu erklären ...»

Jesus entgegnet nichts. Er öffnet erst wieder den Mund, um die Wartenden zu begrüßen, die teils auf der Brüstung der Terrasse sitzen, teils in dem Zimmer, das sich zur Terrasse hin öffnet, und die sich alle ehrerbietig erheben, als sie Jesus erblicken.

Jesus wendet sich nach einem allgemeinen Gruß an Einzelne und nennt ihre Namen, und diese fragen mit freudigem Staunen: «Du erinnerst dich noch an unsere Namen?» Es müssen Bewohner von Sichem sein.

Jesus antwortet: «Ich erinnere mich an eure Namen, eure Gesichter und eure Seelen. Habt ihr die Verwandten der Kinder hierher begleitet? Sind es diese?»

«Diese sind es. Sie sind gekommen, um die Kinder abzuholen, und wir sind mit ihnen gegangen, um dir für die Barmherzigkeit zu danken, die du den Kindern einer Frau von Samaria erwiesen hast. Du allein tust solche Dinge... ! Du bist stets der Heilige, der nur heilige Dinge tut. Auch wir haben immer an dich gedacht. Und da wir erfahren haben, daß du hier bist, sind wir gekommen, um dich zu sehen und dir dafür zu danken, daß du unser Land als deinen Zufluchtsort erwählt hast und uns in den Kindern unseres Blutes liebst. Doch nun höre die Verwandten an.»

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Jesus, gefolgt von Judas, begibt sich zu diesen, grüßt sie noch einmal und fordert sie auf zu sprechen.

«Wir sind, ich weiß nicht, ob es dir bekannt ist, die Brüder der Mutter der Kinder. Wir waren sehr zornig auf sie, weil sie dumm und gegen unseren Willen auf dieser Heirat bestanden hatte. Unser Vater war schwach gegenüber der einzigen Tochter in seiner großen Kinderschar, so daß wir auch mit ihm in Streit gerieten und viele Jahre nicht mehr miteinander sprachen und uns nicht mehr sahen. Als wir dann hörten, daß die Hand Gottes schwer auf der Frau lastete und Not in ihrem Haus herrschte -denn eine unreine Verbindung schützt der Segen Gottes nicht – nahmen wir den alten Vater wieder zu uns ins Haus, damit er wenigstens nur unter dem Unglück seiner Tochter zu leiden habe. Schließlich ist sie gestorben, und wir haben es erfahren. Du warst kurz zuvor bei uns, und wir sprachen von dir... So geschah es, daß wir unseren Unwillen unterdrückten und dem Mann durch diesen und diesen hier (zwei Männer aus Sichern) anboten, die Kinder aufzunehmen. Sie sind ja zur Hälfte von unserem Blut. Er ließ uns antworten, daß sie lieber alle eines elenden Todes sterben sollten, als von unserem Brot zu leben. Weder die Kinder noch den Leichnam unserer Schwester sollten wir bekommen; nicht einmal diesen, um ihm ein Grab entsprechend unserem Brauch zu geben. Daraufhin schworen wir ihm und seinen Kindern Haß, und unser Haß traf ihn wie ein Fluch, so daß er vom freien Mann zum Knecht wurde, um dann wie ein Schakal in einer stinkenden Höhle zu sterben. Wir hätten nie davon erfahren, denn wir hatten schon lange jede Verbindung zu ihm abgebrochen. Und wir fürchteten uns nicht wenig, dies wohl, als wir vor nun acht Nächten die Räuber auf unserem Hof erscheinen sahen. Als wir erfuhren, warum sie gekommen waren, nagte die Entrüstung, nicht der Schmerz, wie Gift an uns, und wir hatten es eilig, die Räuber fortzuschicken und boten ihnen eine gute Belohnung an, um sie zu Freunden zu haben. Wie staunten wir, als sie sagten, sie hätten ihre Belohnung schon erhalten und wollten nichts weiter.»

Judas unterbricht das aufmerksame Schweigen aller mit ironischem Lachen und schreit: «Ihre Bekehrung! Ihre vollkommene Bekehrung! Wahrlich!»

Jesus schaut ihn streng an, die anderen schauen ihn erstaunt an, und der Sprecher fährt fort: «Was hätte man mehr von ihnen erwarten können? Ist es nicht schon bemerkenswert, daß sie den Hirtenjungen zu uns begleitet haben, ohne der Gefahren zu achten, und daß sie keinen Lohn angenommen haben? Ein unglückliches Leben zieht unglückliche Sitten nach sich. Gewiß haben sie bei dem umherirrenden und nun toten Dummkopf keine große Beute gemacht. Nur geringe Beute und sicher kaum ausreichend für Leute, die mindestens zehn Tage lang ihre Raubzüge unterbrechen müssen. Und ihre Ehrlichkeit verwunderte uns so sehr, daß wir sie fragten, welche Stimme sie zu dieser frommen Tat bewogen habe. So

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erfuhren wir, daß ein Rabbi zu ihnen gesprochen hatte... Ein Rabbi! Du allein konntest es gewesen sein. Denn kein anderer Rabbi Israels könnte tun, was du tust. Und nachdem sie weggegangen waren, befragten wir den erschreckten Hirtenknaben und erfuhren so Genaueres. Als erstes erfuhren wir nur, daß der Mann unserer Schwester tot war und daß die Kinder in Ephraim bei einem Gerechten waren, und daß dieser Gerechte ein Rabbi war und mit ihnen gesprochen hatte. Wir dachten gleich, daß du es sein mußtest. Und als wir am nächsten Morgen nach Sichern kamen, sprachen wir mit den Leuten dort, denn wir waren noch nicht sicher, ob wir die Kinder aufnehmen sollten. Doch sie sagten uns: "Wie? Wollt ihr, daß der Meister von Nazareth sich vergebens liebevoll der Kinder angenommen hat? Denn er ist es ganz gewiß, zweifelt nicht. Gehen wir vielmehr alle zu ihm, denn seine Güte mit den Söhnen von Samaria ist groß." Und so sind wir aufgebrochen, nachdem wir unsere Angelegenheiten geregelt hatten. Wo sind die Kinder jetzt?»

«Am Bach. Judas, geh und sage ihnen, daß sie kommen sollen.»

Judas entfernt sich.

«Meister, es ist eine schwere Begegnung für uns. Sie werden uns an all unseren Ärger erinnern, und wir wissen noch nicht, ob wir sie aufnehmen sollen. Sie sind die Söhne des schlimmsten Feindes, den wir je gehabt haben ...»

«Sie sind Kinder Gottes. Unschuldige sind sie. Der Tod löscht das Vergangene, und durch Sühne erlangt man Verzeihung, auch die Verzeihung Gottes. Wollt ihr strenger sein als Gott? Und grausamer als die Räuber? Und verstockter als sie? Die Räuber wollten vorsichtshalber den Hirtenknaben töten und die Kinder aus menschlichem Mitleid mit den Hilflosen behalten. Der Rabbi hat gesprochen, und sie haben nicht getötet und sind sogar bereit gewesen, den kleinen Hirten bis zu euch zu begleiten. Sollte ich in gerechten Seelen auf Widerstand stoßen, nachdem ich das Verbrechen besiegt habe ... ?»

«Weißt du... Wir sind vier Brüder und haben schon siebenunddreißig Kinder in unserem Haus ...»

«Wo schon siebenunddreißig Spatzen Nahrung finden, weil der Vater im Himmel sie Körnlein finden läßt, können da nicht auch vierzig satt werden? Kann die Macht des Vaters nicht noch Nahrung für weitere drei, oder auch vier seiner Kinder verschaffen? Hat denn die göttliche Vorsehung Grenzen? Wird der Unendliche sich weigern, die Fruchtbarkeit eurer Saat, eurer Pflanzen und eurer Schafe zu mehren, damit immer genügend Brot, Öl, Wein, Wolle und Fleisch für eure Kinder und weitere vier arme Kinder, die allein geblieben sind, vorhanden ist?»

«Es sind drei, Meister!»

«Es sind vier. Auch der Hirtenknabe ist eine Waise. Könntet ihr, wenn Gott hier vor euch erscheinen würde, behaupten, daß euer Brot so knapp

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bemessen ist, daß ihr kein Waisenkind mehr ernähren könnt? Der Pentateuch gebietet Barmherzigkeit mit den Waisen...»

«Nein, wir könnten es nicht, Herr, das ist wahr. Wir wollen nicht schlechter sein als die Räuber. Wir werden auch dem Hirtenknaben Brot, Kleidung und Obdach gewähren. Aus Liebe zu dir.»

«Aus Liebe. Aus alles umfassender Liebe, zu Gott, seinem Messias, eurer Schwester und eurem Nächsten. Dies ist die Ehrung und die Vergebung, die ihr eurem Blut schuldig seid. Nicht ein kaltes Grab für ihre Asche. Verzeihung ist Friede. Friede für die Seele des Menschen, der gesündigt hat. Doch wäre es nur eine geheuchelte Verzeihung, nur Äußerlichkeit, und kein Friede für die Seele der Toten, die eure Schwester und die Mutter der Kinder war, wenn zu der gerechten, von Gott auferlegten Sühne noch die schmerzliche Qual des Bewußtseins käme, daß die Kinder, die ja unschuldig sind, für ihre Sünde büßen müssen. Die Barmherzigkeit Gottes ist unendlich. Aber fügt ihr die eure hinzu, um der Toten zum Frieden zu verhelfen.»

«Oh, wir werden es tun! Wir werden es tun! Niemandem hätte sich unser Herz gebeugt; nur dir, o Rabbi, der du eines Tages unter uns geweilt und einen Samen gesät hast, der nicht gestorben ist und nicht sterben wird.»

«Amen! Hier sind die Kinder...» Jesus deutet auf sie, die gerade vom Ufer des Baches kommen, und ruft sie.

Und die Kinder lassen die Hände der Apostel los, laufen herbei und rufen: «Jesus! Jesus!» Sie kommen ins Haus, steigen die Treppe hinauf, sind nun auf der Terrasse und bleiben furchtsam vor den vielen Fremden stehen, die sie betrachten.

«Komm, Ruben, und auch du, Elisäus, und du, Isaak. Dies hier sind die Brüder eurer Mutter. Sie sind gekommen, um euch mitzunehmen und euch zu ihren eigenen Kindern zu führen. Seht ihr, wie gut der Herr ist? Genau wie die Taube der Maria des Jakob, der wir vorgestern zugeschaut haben, als sie auch das Junge der anderen, toten Taube gefüttert hat. Gott hat euch aufgenommen und gibt euch nun diese Menschen, damit sie für euch sorgen und ihr keine Waisen mehr seid. Auf! Begrüßt eure Verwandten.»

«Der Herr sei mit euch, ihr Herren», sagt der größere Knabe schüchtern und sieht dabei zu Boden. Und die beiden kleineren machen es ihm nach.

«Dieser hier sieht der Mutter sehr ähnlich, und auch dieser; aber der dort (der größere) ist ganz der Vater», bemerkt einer der Verwandten.

«Mein Freund, ich hoffe, daß du nicht so ungerecht bist, Unterschiede zu machen in deiner Zuneigung wegen der Ähnlichkeit eines Gesichtes», sagt Jesus.

«O nein! Das nicht. Ich habe ihn nur betrachtet... und gedacht... Hoffentlich hat er nicht auch das Herz des Vaters.»

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«Er ist noch ein Kind. Und aus seinen einfachen Worten kann man entnehmen, daß er seine Mutter mehr als jeden anderen Menschen geliebt hat.»

«Sie hat besser für sie gesorgt, als wir dachten. Sie sind ordentlich gekleidet und haben anständige Schuhe. Vielleicht ist sie zu Geld gekommen.»

«Ich und meine Brüder haben neue Kleider, weil Jesus sie uns gegeben hat. Wir hatten weder Schuhe noch Mäntel und glichen in allem dem Hirtenjungen», sagt der Zweitgeborene, der nicht so schüchtern wie der größere ist.

«Wir werden dir alles vergüten, Meister», sagt einer der Verwandten und fügt hinzu: «Joachim von Sichern hat die Spenden der Stadt. Aber wir werden noch Geld dazulegen ...»

«Nein. Ich will kein Geld. Ich will ein Versprechen. Euer Versprechen, daß ihr diese Kinder, die ich den Räubern entrissen habe, lieben werdet. Die Spenden... Malachias, nimm sie für die Armen, die du kennst, und gib einen Teil davon der Maria des Jakob, denn in ihrem Haus herrscht großes Elend.»

«Wie du willst. Wenn sie brav sind, werden wir sie lieben.»

«Wir werden brav sein, Herr. Wir wissen, daß wir brav sein müssen, um unsere Mutter wiederzufinden und flußaufwärts zu fahren bis zum Schoß Abrahams; und daß wir den Faden unseres Bootes nicht aus der Hand Gottes reißen dürfen, damit wir nicht vom Strom des Bösen fortgetragen werden», sagt Ruben in einem Atemzug.

«Aber was redet das Kind denn da?»

«Es ist ein Gleichnis, das sie von mir gehört haben. Ich habe es erzählt, um ihr Herz zu trösten und ihrem Geist eine Führung zu geben. Und die Kinder haben es sich gemerkt und wenden es bei all ihrem Tun an. Macht euch mit ihnen vertraut, während ich mit den Leuten von Sichern spreche.»

«Meister, noch ein Wort. Was uns bei den Räubern ganz besonders überrascht hat, war die Bitte, dem Meister, der die Kinder bei sich hat, auszurichten, er möge ihnen verzeihen; sie seien erst jetzt gekommen, da sie nicht alle Straßen benützen könnten und die Anwesenheit eines Kindes sie gehindert habe, lange Märsche durch wilde Schluchten zu machen.»

«Hörst du es, Judas?» sagt Jesus zu Iskariot, der nichts erwidert.

Dann begibt sich Jesus zu den Leuten von Sichern, die ihm das Versprechen abnehmen, sie vor der Sommerhitze wenigstens noch kurz zu besuchen. Und sie erzählen ihm Dinge aus der Stadt und wie die an Seele oder Leib Geheilten immer an ihn denken.

Inzwischen bemühen sich Judas und Johannes, die Kinder mit ihren Verwandten anzufreunden.

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613. DIE GEHEIME UNTERWEISUNG

Jesus geht auf einer einsamen Straße, vor ihm die Verwandten der Kinder und an seiner Seite die Leute von Sichern. Sie befinden sich in einer verlassenen Gegend. Keine Ortschaft weit und breit. Die Kinder hat man in die Sättel einiger Esel gesetzt, und einer der Verwandten hält jeweils den Zügel und gibt acht auf das Kind. Die Leute von Sichern haben es vorgezogen, zu Fuß zu gehen, um bei Jesus zu sein. So laufen die übrigen Esel ohne ihre Reiter in einem Grüppchen der Gruppe der Männer voraus und iahen und hüpfen immer wieder erfreut, daß sie so ohne eine Last in den Stall zurückkehren können. Es ist ein herrlicher Tag, und frisches Gras säumt den Weg. Und die Esel stecken ab und zu ihre Nüstern hinein, um ein Maulvoll zu probieren. Dazwischen traben sie mit lustigen Sprüngen zu ihren beladenen Artgenossen, was den Kindern sichtlich Spaß macht.

Jesus spricht zu den Leuten von Sichern oder hört ihnen bei ihren Unterhaltungen zu. Man sieht, daß die Samariter stolz sind, den Meister bei sich zu haben, und mehr träumen, als angebracht ist. So sagen sie zu Jesus, wobei sie auf die hohen Berge deuten, die sich links befinden, wenn man nach Norden geht: «Siehst du? Der Ebal und der Garizim haben einen schlechten Ruf. Doch sie sind, für dich wenigstens, viel besser als der Sion. Und sie wären vollkommen gut, wenn du es wolltest, wenn du sie zu deinem Wohnsitz machen würdest. Sion ist immer noch eine Jebusiterhöhle. Und die heutigen sind dir noch feindlicher gesinnt als die früheren David. Dieser hat die Festung mit Gewalt genommen; aber du, der du keine Gewalt anwendest, wirst dort nicht herrschen. Niemals. Bleibe bei uns, Herr, und wir werden dich ehren.»

Jesus antwortet: «Sagt mir: Hättet ihr mich geliebt, wenn ich euch mit Gewalt hätte gewinnen wollen?»

«Ehrlich gesagt... nein. Wir lieben dich gerade, weil du ganz Liebe bist.»

«Daher also, der Liebe wegen, herrsche ich in euren Herzen?»

«So ist es, Meister. Aber nur, weil wir deine Liebe angenommen haben. Jene, die von Jerusalem, lieben dich nicht.»

«Das ist wahr. Sie lieben mich nicht. Aber ihr, die ihr in Geschäften so erfahren seid, sagt mir: Wenn ihr etwas verkaufen, kaufen oder verdienen wollt, verliert ihr da gleich den Mut, wenn man euch an manchen Orten nicht liebt? Oder geht ihr nicht trotzdem euren Geschäften nach und seid nur darauf bedacht, vorteilhaft einzukaufen oder zu verkaufen, ohne euch darum zu kümmern, ob mit dem Geld, das ihr verdient, die Liebe des Käufers oder Verkäufers verbunden ist?»

«Wir kümmern uns nur um das Geschäft. Es interessiert uns wenig, ob dem, der mit uns handelt, die Liebe fehlt. Wenn das Geschäft abgeschlossen ist, dann hört auch jede Verbindung auf. Der Verdienst bleibt, der Rest ist... belanglos.»

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«Nun, auch ich bin gekommen, um die Interessen meines Vaters wahrzunehmen, und ich habe mich nur um sie zu kümmern. Ob ich dort, wo ich arbeite, auf Liebe, Verachtung oder Ablehnung stoße, kümmert mich wenig. In einer Handelsstadt macht man nicht mit allen Geschäfte, und nicht immer Gewinne. Aber wenn man nur einen einzigen findet, mit dem man ein gutes Geschäft machen kann, so sagt man sich, daß die Reise nicht umsonst gewesen ist, und man wird immer wieder dorthin zurückkehren. Denn das, was man beim ersten Mal nur mit einem erreicht hat, gelingt beim zweiten Mal schon mit dreien, beim vierten Mal mit sieben und danach mit zehn und nochmals zehn. Ist es nicht so? Auch ich mache es bei meinen Eroberungen für den Himmel wie ihr bei eurem Handel. Ich lasse nicht ab und bin hartnäckig und halte auch das zahlenmäßig Kleine für groß; denn selbst eine einzige gerettete Seele ist etwas Großes, ist ein großer Lohn für meine Mühe. Jedesmal, wenn ich hingehe und meine eventuellen menschlichen Reaktionen überwinde, um als König des Geistes auch nur einen einzigen Untertan zu gewinnen, kann ich mir sagen, daß mein Weg, meine Mühen und Leiden nicht umsonst gewesen sind. Ja, ich preise die Verachtung, die Beleidigungen, die Anklagen heilig, liebenswert und wünschenswert. Ich wäre kein guter Eroberer, wenn ich vor dem Hindernis der granitenen Festungen haltmachen würde.»

«Aber du würdest Jahrhunderte brauchen, um sie zu besiegen. Du... bist ein Mensch. Und du wirst nicht Jahrhunderte leben. Warum willst du also deine Zeit dort vergeuden, wo man dich nicht will?»

«Ich werde viel kürzer leben. Sehr bald schon werde ich nicht mehr unter euch weilen und nicht mehr die Sonnenauf- und -untergänge wie Meilensteine der anbrechenden und zu Ende gehenden Tage sehen; ich werde sie nur als Schönheiten der Schöpfung betrachten und den Schöpfer, der sie schuf und der mein Vater ist, preisen; ich werde weder die Blumen blühen und das Getreide reifen sehen, noch die Früchte der Erde benötigen, um mich am Leben zu erhalten, denn wenn ich einmal in mein Reich zurückgekehrt bin, wird mich die Liebe sättigen. Und dennoch werde ich die vielen Festungen, die die Herzen der Menschen sind, besiegen. Seht den Felsen dort, unterhalb der Quelle, an der Seite des Berges. Der Wasserstrahl ist sehr fein; ich würde sagen, er fließt nicht einmal, er tröpfelt nur: Tropfen, die vielleicht seit Jahrhunderten auf den aus der Flanke des Berges vorspringenden Fels fallen. Und der Fels ist hart. Es ist nicht brüchiger Kalk oder weicher Alabaster, es ist härtester Basalt. Und doch, seht, wie sich in der Mitte des Steines, trotz seiner Wölbung, ein winziger Wasserspiegel gebildet hat, nicht größer als der Kelch einer Seerose, aber groß genug, um das Blau des Himmels widerzuspiegeln und die Vöglein zu tränken. Ist diese Höhlung in dem gewölbten Fels etwa das Werk eines Menschen, der einen blauen Edelstein auf dem dunklen Fels anbringen und eine erfrischende Schale für die Vögel schaffen wollte? Nein, der

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Mensch hat damit nichts zu tun. Vielleicht sind in den vielen Jahrhunderten, seit die Menschen an diesem Felsen vorübergehen und die Tropfen, wiederum seit Jahrhunderten, in unermüdlicher und gleichmäßiger Arbeit den Stein aushöhlen, wir die ersten, die diesen schwarzen Basalt mit seinem flüssigen Türkis in der Mitte betrachten, seine Schönheit bewundern und den Ewigen preisen, der dies gewollt hat zur Freude unserer Augen und zur Erfrischung der Vögel, die in der Nähe nisten. Aber sagt mir: Hat vielleicht schon der erste Tropfen, der unter dem Basaltvorsprung über dem Fels hervorgequollen und von der Höhe auf den Stein gefallen ist, diese Schale ausgehöhlt, die den Himmel, die Sonne, die Wolken und die Sterne spiegelt? Nein. Millionen und Abermillionen von Tropfen, einer nach dem anderen, sind aufeinander gefolgt. Wie Tränen sind sie dort oben hervorgequollen und glitzernd heruntergefallen, um mit einem Harfenton auf dem Felsen aufzuprallen und im Sterben ein unmeßbar winziges Teilchen der harten Materie auszuwaschen. Und dies über Jahrhunderte, wie der Sand durch eine Sanduhr rinnt und die Zeit angibt: so viele Tropfen in der Stunde, so viele im Verlauf einer Nachtwache, so viele zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang und in der Nacht bis zur Morgenröte, so viele am Tag, so viele von Sabbat zu Sabbat, so viele von Neumond zu Neumond, von Nisan zu Nisan, und von Jahrhundert zu Jahrhundert. Der Stein ist widerstandsfähig, die Tropfen ausdauernd. Der Mensch, der stolz und daher ungeduldig und bequem ist, hätte Meißel und Hammer schon nach den ersten Schlägen weggeworfen und gesagt: "Den kann man nicht aushöhlen." Der Tropfen hat ihn ausgehöhlt. Das war es, was er zu tun hatte, wofür er geschaffen wurde. Und er hat gearbeitet, Tropfen um Tropfen, jahrhundertelang, um den Fels auszuhöhlen. Er hat nie aufgehört und gesagt: "Nun überlasse ich es dem Himmel, das Becken, das ich gegraben habe, mit Regen und Tau, Reif und Schnee zu füllen." Er ist weiterhin heruntergefallen und füllt die kleine Schale in der Hitze des Sommers und in der Kälte des Winters ganz allein, während der Regen, ob stark oder schwach, zwar den Wasserspiegel kräuselt, ihn aber nicht verschönern, verbreitern oder vertiefen kann, denn er ist schon voll, nützlich und schön. Die Quelle weiß, daß ihre Töchter, die Tropfen, in das kleine Becken fallen, um dort zu sterben; aber sie hält sie nicht zurück. Sie drängt sie vielmehr zu ihrem Opfer, und damit sie nicht allein bleiben und in Traurigkeit verfallen, schickt sie ihnen immer neue Schwestern nach, so daß sie nicht einsam sterben müssen und sich in anderen verewigt sehen. Auf dieselbe Weise werde auch ich als erster hundert- und tausendmal an die harten Festungen der harten Herzen schlagen und dann mein Werk von meinen Nachfolgern fortsetzen lassen, die ich bis ans Ende der Zeiten senden werde. Und so werde ich mir Wege bahnen, und mein Gesetz wird wie eine Sonne überall leuchten, wo es Geschöpfe gibt. Sollten diese dann das Licht abweisen und die Wege

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sperren, die die unermüdliche Arbeit bereitet hat, wird mich und meine Nachfolger in den Augen unseres Vaters keine Schuld treffen. Hätte diese Quelle sich in Anbetracht der Härte des Felsens einen anderen Weg gesucht und ihr Wasser wäre weiter drüben auf den grasbedeckten Boden gefallen, sagt mir, hätten wir dann diesen leuchtenden Edelstein und die Vöglein diese klare Erfrischung?»

«Man würde nichts von der Quelle sehen, Meister.»

«Höchstens... hätte ein auch im Hochsommer üppigeres Grasstückchen den Ort angezeigt, an dem das Quellwasser aus dem Fels sickert.»

«Oder vielleicht hätte es auch weniger Gras als anderswo gegeben, da die Wurzeln wegen der ständigen Feuchtigkeit verfault wären.»

«Schlamm wäre das Ergebnis gewesen. Mehr nicht. Ein überflüssiges Tropfen also.»

«Ihr habt es gesagt. Ein überflüssiges oder zumindest müßiges Tropfen. Auch ich würde unvollkommene Arbeit leisten, wenn ich nur die Orte aufsuchte, an denen die Herzen bereit sind, mich aus Gerechtigkeit oder Sympathie aufzunehmen. Denn dann würde ich zwar arbeiten, gewiß, aber ohne Mühen, vielmehr mit großer Selbstzufriedenheit. Ja, es wäre ein angenehmer Kompromiß zwischen Pflicht und Vergnügen. Es ist nicht schwer, dort zu arbeiten, wo man von Liebe umgeben ist und die Liebe die zu bearbeitenden Seelen willfährig macht. Aber wo keine Mühe ist, ist auch kein Verdienst und nicht viel Gewinn; denn man wird nur wenige Eroberungen machen, wenn man sich auf die beschränkt, die schon in der Gerechtigkeit leben. Ich wäre nicht ich, wenn ich nicht versuchte, alle Menschen zuerst zur Wahrheit und dann zur Gnade zu führen.»

«Und glaubst du, daß es dir gelingen wird? Was könntest du noch tun, was du nicht schon getan hast, um deine Widersacher von deinem Wort zu überzeugen? Was? Wenn nicht einmal die Auferweckung des Mannes von Bethanien genügt hat, um die Juden zu überzeugen, daß du der Messias Gottes bist?»

«Ich habe noch etwas zu tun, das größer, viel größer ist als alles bisher Getane.»

«Wann, Herr?»

«Wenn der Mond des Nisan voll sein wird. Dann gebt acht.»

«Wird dann am Himmel ein Zeichen erscheinen? Man sagt, als du geboren wurdest, hätte der Himmel gesprochen durch Lichter, Gesänge und seltsame Sterne.»

«Das ist wahr... Um damit zu zeigen, daß das Licht auf die Erde gekommen war. Im Nisan werden Zeichen am Himmel und auf Erden erscheinen, und man wird glauben, das Ende der Welt sei gekommen wegen der Finsternis und der Erschütterungen, des Dröhnens der Blitze am Firmament und des Bebens in den geöffneten Eingeweiden der Erde. Aber es wird nicht das Ende sein, sondern vielmehr der Anfang. Zuvor, bei meiner

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Ankunft, hat der Himmel den Menschen den Erlöser geboren, und da dies ein Werk Gottes war, wurde das Ereignis von Frieden begleitet. Im Nisan wird es die Erde sein, die aus eigenem Willen ihren Erlöser gebiert, und da dies ein Werk der Menschen ist, wird das Ereignis nicht von Frieden begleitet sein. Eine furchtbare Erschütterung wird es geben. Und in dieser furchtbaren Stunde des Jahrhunderts und der Hölle wird die Erde ihren Leib unter den feurigen Blitzen des Zornes Gottes winden und ihren Willen hinausbrüllen, zu berauscht, um die Bedeutung des Ereignisses zu verstehen, zu sehr von Satan besessen, um es zu verhindern. Wie eine irre Gebärende wird sie glauben, die verfluchte Frucht zu vernichten, und sie wird nicht begreifen, daß sie sie damit zu Orten erhebt, wo kein Schmerz und keine Arglist sie mehr erreichen kann. Der Baum, der neue Baum, wird von da an seine Zweige über die ganze Erde ausbreiten, über alle Jahrhunderte, und der zu euch spricht, wird dann mit Liebe oder mit Haß erkannt werden als der wahre Sohn Gottes und der Gesalbte des Herrn. Und wehe denen, die ihn erkennen, ohne ihn zu bekennen und sich zu mir zu bekehren.»

«Wo wird dies geschehen, Herr?»

«In Jerusalern, denn das ist die Stadt des Herrn.»

«Dann werden wir nicht dort sein, denn im Nisan hält das Osterfest uns hier zurück. Wir bleiben unserem Tempel treu.»

«Besser wäre es, ihr würdet dem lebendigen Tempel treu sein, der weder auf dem Moriah, noch auf dem Garizim, sondern göttlich, also weltumfassend ist. Doch ich weiß eure Stunde abzuwarten, die Stunde, in der ihr Gott und seinen Messias im Geist und in der Wahrheit lieben werdet.»

«Wir glauben, daß du der Christus bist. Und deshalb lieben wir dich.»

«Lieben heißt, der Vergangenheit den Rücken kehren, um in meine Gegenwart einzugehen. Ihr liebt mich noch nicht vollkommen.»

Die Samariter sehen einander schweigend und heimlich an. Dann sagt einer: «Für dich, um zu dir zu kommen, werden wir es tun. Aber selbst wenn wir es wollten, könnten wir nicht hingehen, wo die Juden sind. Du weißt es. Sie würden uns nicht wollen...»

«Auch ihr wollt die Juden nicht. Doch seid beruhigt. Bald wird es nicht mehr zwei Regionen, zwei Tempel, zwei gegensätzliche Meinungen geben, sondern ein einziges Volk, einen einzigen Tempel und einen einzigen Glauben für alle, die nach der Wahrheit verlangen. Aber jetzt verlasse ich euch. Die Kinder sind nun getröstet und abgelenkt, und mein Weg zurück nach Ephraim ist lang, wenn ich vor Einbruch der Dunkelheit dort eintreffen will. Macht nicht viel Aufhebens. Denn das könnte die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich ziehen, und es ist besser, wenn sie mein Weggehen nicht bemerken. Geht weiter, ich bleibe hier. Der Herr möge euch auf den Pfaden der Erde und auf seinen Wegen führen. Geht.»

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Jesus stellt sich an den Hang des Berges und wartet, bis die Leute sich entfernt haben. Das letzte Lebenszeichen der Karawane, die nach Sichern zurückkehrt, ist das frohe Lachen eines Kindes, das in der Stille des Gebirges widerhallt.

614. WAS IN DER DEKAPOLIS UND IN JUDÄA GESCHIEHT

Es muß sich herumgesprochen haben, daß Jesus sich in Ephraim aufhält. Ob die Bürger sich damit gebrüstet haben oder ob man es auf anderen Wegen erfahren hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall suchen viele Menschen Jesus auf, meist Kranke, aber auch solche, die nur betrübt sind oder ihn einfach sehen wollen. Ich entnehme das den Worten, mit denen Judas sich an eine Gruppe von Pilgern aus der Dekapolis wendet: «Der Meister ist nicht da. Aber ich und Johannes sind da, und das ist das gleiche. Sagt also, was ihr wollt, und wir werden euch zufriedenstellen.»

«Aber ihr könnt doch niemals lehren, was er lehrt», entgegnet einer.

«Wir sind andere Er, Mann. Merke dir das ein für allemal. Doch wenn du unbedingt den Meister selbst hören willst, dann komm vor dem Sabbat und gehe danach wieder fort. Der Meister ist nun ein wahrer Meister. Er spricht nicht mehr auf allen Wegen, in den Wäldern oder auf den Felsen wie ein Wanderprediger und zu allen Stunden wie ein Knecht. Er spricht hier und nur am Sabbat, wie es sich für ihn gehört. Und er hat recht! Was hat es ihm genützt, sich zu mühen und sich in Liebe aufzureiben?»

«Aber es ist doch nicht unsere Schuld, wenn die Juden ...»

«Alle! Alle! Ob Juden oder Nichtjuden! Alle seid ihr gleich und werdet es auch bleiben. Er tut alles für euch, und ihr tut nichts für ihn. Er gibt, und ihr gebt nichts, nicht einmal das Almosen, das man einem Bettler gibt.»

«Aber wir haben eine Gabe mitgebracht für ihn. Sieh her, wenn du es nicht glaubst.»

Johannes, der bisher geschwiegen und sichtlich gelitten und dabei immer wieder flehende und tadelnde, oder vielmehr vorwurfsvolle Blicke auf Judas geworfen hat, kann sich nun nicht mehr beherrschen. Und während Judas schon die Hand ausstreckt, um die Spende entgegenzunehmen, legt er eine Hand auf seinen Arm, um ihn zurückzuhalten, und sagt: «Nein, Judas. Das nicht. Du kennst die Weisung des Meisters.» Dann wendet er sich an die Pilger und sagt: «Judas hat sich schlecht ausgedrückt, und ihr habt ihn nicht richtig verstanden. Dies ist es nicht, was mein Gefährte sagen wollte. Nur das Geschenk des aufrichtigen Glaubens und der treuen Liebe schulden wir, ich, meine Gefährten, ihr, alle, dem Meister für das Viele, das er uns gibt. Als wir durch Palästina pilgerten,

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nahm er eure Gaben an, denn wir brauchten sie für uns selbst auf unseren Wanderungen und begegneten außerdem vielen Bettlern auf unserem Weg und erfuhren von viel verborgenem Elend. Jetzt, hier, brauchen wir nichts – die Vorsehung sei dafür gepriesen – und Bettler kommen auch keine zu uns. Nehmt, nehmt eure Gabe wieder zurück und verteilt sie im Namen Jesu an die Unglücklichen. Das ist der Wunsch unseres Herrn und Meisters und die Anordnung für die unseren, die predigend in die verschiedenen Städte ziehen. Wenn ihr Kranke bei euch habt oder jemand dringend mit dem Meister sprechen muß, dann sagt es. Ich werde ihn dann dort holen, wohin er sich zum Gebet zurückzieht, da sein Geist ein großes Bedürfnis hat, sich im Herrn zu sammeln.»

Judas murmelt etwas zwischen den Zähnen, widerspricht aber nicht offen. Er setzt sich neben den warmen Herd und tut so, als ob ihn die Sache weiter nicht interessiere.

«Wahrlich... es muß nicht unbedingt sein. Wir hatten erfahren, daß der Meister hier ist, und so haben wir den Fluß überquert, um ihn zu sehen. Wenn wir jedoch schlecht gehandelt haben...»

«Nein, Brüder. Es ist nicht schlecht, ihn zu lieben und zu suchen und sogar Mühen und Unbequemlichkeiten auf sich zu nehmen. Und euer guter Wille wird belohnt werden. Ich gehe und teile dem Herrn eure Ankunft mit, und er wird ganz sicher kommen. Sollte er jedoch nicht kommen, werde ich euch seinen Segen bringen.» Und Johannes geht in den Garten hinaus, um den Meister zu suchen.

«Laß das, ich werde gehen», sagt Judas herrisch, steht auf und eilt davon.

Johannes sieht ihm nach und entgegnet nichts. Er geht wieder in die Küche zu den Pilgern, die dort in einem Häufchen stehen. Und fast sofort macht er ihnen den Vorschlag: «Wollen wir dem Meister entgegengehen?»

«Aber wenn es ihm nicht recht wäre...»

«Oh, nehmt ein Mißverständnis nicht wichtig, ich bitte euch. Ihr kennt gewiß die Gründe, weswegen wir hier sind. Es sind die anderen, die den Meister zu dieser Zurückhaltung zwingen. Es ist nicht der Wille seines Herzens. Er hat immer die gleiche Liebe für euch alle.»

«Wir wissen es. In den ersten Tagen nach der Verkündigung des Bannes suchten ihn alle jenseits des Jordan und an den Orten, an denen man ihn vermuten konnte. In Bethabara wie in Bethanien, in Pella, in Ramot Galaad und noch weiter weg. Und wir wissen, daß es auch in Judäa und in Galiläa so war. Die Häuser seiner Freunde wurden genau überwacht, denn... wenn er auch viele Freunde und Jünger hat, so sind ihm doch nicht wenige feindlich gesinnt, und sie glauben dem Allerhöchsten einen Dienst zu erweisen, wenn sie den Meister verfolgen. Dann hat man plötzlich aufgehört zu suchen, und es hat sich die Nachricht verbreitet, daß er hier ist.»

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«Aber ihr, von wem habt ihr es erfahren?»

«Von seinen Jüngern.»

«Von meinen Gefährten? Wo?»

«Nein, es war keiner von diesen. Es waren andere, wohl neue, denn wir haben sie nie mit dem Meister gesehen und auch nicht mit den alten Jüngern. Wir waren eigentlich erstaunt, daß er uns durch Unbekannte sagen ließ, wo er sich aufhält; doch dann dachten wir, er habe es getan, weil die Neuen den Juden nicht als Jünger bekannt waren.»

«Ich weiß nicht, was euch der Meister sagen wird. Doch ich würde euch von mir aus raten, daß ihr von nun an nur noch den bekannten Jüngern Glauben schenkt. Seid vorsichtig. Jeder aus unserem Volk weiß, wie es dem Täufer ergangen ist...»

«Du glaubst, daß ...»

«Wenn Johannes, den nur eine einzige gehaßt hat, gefangengenommen und getötet wurde, was wird dann erst mit Jesus geschehen, der von vielen aus dem Palast und vom Tempel gleicherweise gehaßt wird, von Pharisäern, Schriftgelehrten, Priestern und Herodianern. Seid also wachsam, damit ihr dann nichts zu bereuen habt.. Aber da kommt Jesus. Gehen wir ihm entgegen.»

Es ist tiefe Nacht. Eine mondlose, aber sternenklare Nacht. Ich weiß nicht, wieviel Uhr es ist, da ich den Mond und seine Phase nicht sehen kann. Ich sehe nur, daß es eine klare Nacht ist. Ganz Ephraim ist in den dunklen Mantel der Nacht gehüllt. Vom Bach ist nur das Rauschen geblieben. Sein Gischt und seine Reflexe verschwinden ganz unter dem grünen Gewölbe der Ufergewächse, die auch das Licht der Sterne, das eigentlich kein Licht ist, fernhalten.

Ein Nachtvogel klagt irgendwo. Dann verstummt er, als ein Rascheln von Zweigen und das Geräusch brechenden Schilfrohrs von der Bergseite her und am Bach entlang sich dem Haus nähert. Dann erscheint eine hohe, kräftige Gestalt auf dem Pfad, der vom Ufer zum Haus hinaufführt. Sie bleibt kurz stehen, wie um sich zu orientieren, und tastet sich dann mit den Händen an der Mauer entlang weiter. Sie findet die Tür. Dann biegt sie, weiter tastend, um die Hausecke und gelangt an den Eingang des Gartens. Sie probiert, öffnet, schiebt das Tor auf und geht hinein. Sie streift die Hausmauer zum Garten, verweilt unschlüssig an der Küchentür, geht dann weiter bis zur Außentreppe, steigt wiederum tastend hinauf und setzt sich auf die oberste Stufe, ein dunkler Schatten in der Dunkelheit.

Aber dort, im Osten, beginnt der Nachthimmel – ein Zelt, das nur an seiner Sternenstickerei zu erkennen ist – sich zu verändern bzw. eine Tönung anzunehmen, die das Auge als Farbe empfindet: ein Schiefergrau, das dichtem, rauchigem Nebel gleicht und nichts anderes bedeutet als den

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Beginn des Morgengrauens; das langsame, täglich neue Wunder des wiederkehrenden Lichtes.

Die Gestalt, die sich auf den Boden gekauert hat, ein Knäuel in einem dunklen Mantel, bewegt sich nun, reckt sich, hebt das Haupt und wirft den Mantel etwas zurück. Es ist Manaen. Er trägt, wie ein gewöhnlicher Mann aus dem Volk, ein schweres, braunes Gewand und einen eben

solchen Mantel. Ein rauher Stoff, wie ihn die Arbeiter oder Pilger benützen, ohne Fransen, Schnallen und Gürtel. Eine wollene gedrehte Kordel hält das Gewand in der Taille. Er steht auf, streckt sich und schaut auf zum Himmel, der immer heller wird und schon die Umgebung erkennen läßt. Unten öffnet sich quietschend eine Tür. Manaen beugt sich lautlos vor, um zu sehen, wer das Haus verläßt. Es ist Jesus, der vorsichtig die Tür wieder schließt und sich der Treppe nähert. Manaen macht einen Schritt zurück und räuspert sich, um die Aufmerksamkeit Jesu auf sich zu lenken. Dieser hebt den Kopf und bleibt auf halber Treppe stehen.

«Ich bin es, Meister. Ich bin Manaen. Komm schnell, ich muß mit dir sprechen. Ich habe auf dich gewartet ...», flüstert Manaen und verneigt sich grüßend.

Jesus steigt die letzten Stufen hinauf. «Der Friede sei mit dir. Wann bist du gekommen? Wie? Warum?» fragt er.

«Ich glaube, daß ich gleich nach dem Hahnenschrei hier angekommen bin. Doch im Gebüsch, dort hinten, war ich seit gestern, seit der zweiten Wache.»

«Die ganze Nacht im Freien!»

«Es gab keine andere Möglichkeit. Ich mußte mit dir allein sprechen. Ich mußte den Weg hierher finden, das Haus, ohne gesehen zu werden. Daher bin ich bei Tag gekommen und habe mich dort unten verborgen. Ich habe gesehen, wie es still geworden ist im Ort. Ich habe Judas und Johannes nach Hause zurückkehren sehen. Johannes ging dabei ganz nahe an mir vorbei mit seinem Holzbündel. Aber er hat mich nicht gesehen, denn ich war zu gut im dichten Gebüsch verborgen. Ich habe gesehen, solange es hell genug war um etwas zu sehen, wie eine alte Frau ein- und ausging, wie das Feuer in der Küche brannte, wie du von der Terrasse herabkamst, als die Dämmerung schon weit fortgeschritten war, und schließlich das Haus verschlossen wurde. Dann kam ich im Licht des neuen Mondes heraus und prägte mir den Weg ein. Ich ging auch in den Garten. Das Gartentor ist so nutzlos, wie wenn es gar nicht existierte. Ich hörte eure Stimmen, aber ich mußte mit dir allein sprechen. Also ging ich wieder zurück, um nach der dritten Nachtwache wiederzukommen und hier zu warten. Ich weiß, daß du dich gewöhnlich vor Tagesanbruch erhebst, um zu beten. Und ich hoffte, daß du es auch heute tun würdest. Ich preise den Allerhöchsten, daß es so gewesen ist.»

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«Aber aus welchem Grund mußt du so viele Beschwerlichkeiten auf dich nehmen, um mich zu sehen?»

«Meister, Joseph und Nikodemus wollen mit dir sprechen und haben sich etwas ausgedacht, um alle ihre Bewacher zu überlisten. Sie haben es schon mehrfach versucht, doch Beelzebub muß ein guter Helfer deiner Feinde sein. Sie mußten es immer wieder aufgeben, herzukommen, denn ihr Haus und auch das der Nike werden ständig überwacht. Die Frau sollte sogar schon vor mir kommen. Sie ist eine starke Frau und hatte sich allein auf den Weg nach dem Adummim gemacht. Doch man folgte ihr und hielt sie bei der "Blutigen Steige" auf. Um deinen Aufenthaltsort nicht zu verraten und die Nahrungsmittel, die sie am Sattel hatte, zu rechtfertigen, sagte sie: "Ich gehe zu einem meiner Brüder, der auf den Bergen in einer Höhle lebt. Wenn ihr kommen wollt, ihr, die ihr das Wort Gottes lehrt, so tut ihr ein gutes Werk, denn mein Bruder ist krank und braucht Gott." Und mit dieser Kühnheit hat sie sie überzeugt und sie sind wieder gegangen. Doch wagte sie dann nicht mehr, hierher zu kommen und ging wirklich zu einem Mann, der in einer Höhle lebt und den du ihr, wie sie sagt, anvertraut hast.»

«Das ist wahr. Aber wie hat es Nike dann die anderen wissen lassen?»

«Sie ist nach Bethanien gegangen. Lazarus war nicht da, aber die Schwestern. Maria war da. Und ist Maria etwa eine Frau, die sich durch irgend etwas Angst einjagen läßt? Sie hat sich angezogen, schöner als Judith vielleicht als sie zum König ging. Und sie ist öffentlich zum Tempel gegangen, zusammen mit Sara und Noemi, und dann zu ihrem Palast in Sion. Von dort hat sie Noemi zu Joseph gesandt, mit allem, was zu sagen war. Und während alle Maria als Herrin in ihrem Haus sehen konnten und die Juden sie scheinheilig besuchten oder nach ihr fragen ließen... um sie zu ehren, ging die alte Noemi in ihrem bescheidenen Gewand nach Bezetha zu dem Ältesten. Wir haben dann beschlossen, daß ich, der Nomade, der keinen Verdacht erregt, wenn man ihn eiligst von der einen zur anderen Residenz des Herodes reiten sieht, hierher kommen würde, um dir zu sagen, daß in der Nacht von Freitag auf Samstag Joseph und Nikodemus, der eine von Arimathäa und der andere von Rama kommend, sich in Gophena treffen und dich dort erwarten werden. Ich kenne den Ort und den Weg und werde am Abend hier sein, um dich hinzuführen. Du kannst dich mir anvertrauen. Aber traue nur mir allein, Meister. Joseph besteht darauf, daß niemand etwas von dieser unserer Begegnung erfährt, zum Besten aller ...»

«Auch zu deinem, Manaen?»

«Herr... Ich bin ich. Aber ich habe keine Güter und Familieninteressen zu hüten wie Joseph.»

«Und dies bestätigt meine Worte, daß materieller Reichtum immer eine Last ist... Aber du kannst Joseph sagen, daß niemand etwas von unserem Treffen erfahren wird.»

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«Dann kann ich gehen, Meister. Die Sonne ist aufgegangen, und deine Jünger könnten aufstehen.»

«Geh nur, und Gott sei mit dir. Ich werde mit dir kommen und dir die Stelle zeigen, an der wir uns in der Nacht des Sabbats treffen ...»

Sie gehen geräuschlos hinunter, verlassen den Garten und gehen sofort weiter zum Ufer des Baches.

615. WAS IN JUDÄA UND BESONDERS IN JERUSALEM GESCHIEHT

Manaen hat einen beschwerlichen Weg gewählt, um Jesus an den Ort zu führen, an dem man ihn erwartet. Alles Gebirgspfade, schmal und steinig, zwischen Lichtungen und Wäldern. Der helle Schein des Mondes, der im ersten Viertel ist, dringt kaum durch das dichte Gewirr der Zweige und verschwindet manchmal ganz, so daß Manaen ihn ersetzen muß durch schon vorbereitete Fackeln, die er mitgebracht und unter dem Mantel wie eine Waffe umgehängt hat. Er geht voraus und Jesus folgt, schweigend in der großen Stille der Nacht. Zwei- oder dreimal verursacht irgendein wildes Tier, das durch das Gebüsch schleicht, ein Geräusch wie von Schritten, und Manaen bleibt mißtrauisch stehen. Sonst aber gibt es keine Störung auf diesem schon so mühsamen Weg.

«Schau, Meister. Dort ist Gophena. Nun biegen wir hier ab. Ich zähle noch dreihundert Schritte, dann sind wir bei den Höhlen, wo sie seit Einbruch der Dämmerung warten. Ist dir der Weg lang vorgekommen? Und doch haben wir Abkürzungen genommen und, ich glaube, die vorgeschriebene Entfernung nicht überschritten.»

Jesus macht eine Geste, als wolle er sagen: «Es ging nicht anders.»

Manaen schweigt nun, da er mit dem Zählen der Schritte beschäftigt ist. Sie sind jetzt in einem nackten, felsigen Gang, einer Art aufwärts führendem Spalt zwischen den Felswänden, die sich beinahe berühren. Man könnte meinen, der Spalt sei durch eine Naturkatastrophe entstanden, so seltsam erscheint er. Darüber, ganz oben, über den senkrechten Wänden, über dem bewegten Laubwerk der am Rand dieses riesigen Einschnitts gewachsenen Bäume, leuchten die Sterne. Doch das Mondlicht dringt nicht bis in diesen Abgrund. Das rauchende Licht der Fackeln hat Raubvögel geweckt, die nun flügelschlagend auf dem Rand ihrer Nester in den Felsspalten sitzen und kreischen.

Manaen sagt: «Da sind wir», und stößt vor einem Spalt in der Felswand einen Schrei aus, der dem Klageruf einer großen Eule gleicht.

Aus der Tiefe nähert sich durch einen anderen Gang im Fels, der jedoch oben wie ein Hausflur ein Dach hat, rötliches Licht. Joseph erscheint.

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«Und der Meister?» fragt er, da er Jesus nicht sieht, der etwas weiter hinten steht.

«Ich bin hier, Joseph. Der Friede sei mit dir.»

«Der Friede sei mit dir. Komm! Kommt. Wir haben Feuer gemacht, um die Schlangen und Skorpione zu sehen und uns gegen die Kälte zu schützen. Ich werde euch vorangehen.»

Er dreht sich um und führt sie auf einem unebenen Pfad durch das Innere des Berges zu einer von den Flammen erleuchteten Stelle. Dort, am Feuer ist Nikodemus und wirft Wacholder und Zweige hinein.

«Der Friede sei auch mit dir, Nikodemus. Nun bin ich bei euch. So redet.»

«Meister, hat niemand bemerkt, daß du hierher gekommen bist?»

«Aber wer denn, Nikodemus?»

«Sind denn deine Jünger nicht bei dir?»

«Bei mir sind Johannes und Judas des Simon. Die anderen verkündigen das Evangelium vom Tag nach dem Sabbat bis zum Sonnenuntergang des Freitags. Doch ich habe das Haus vor der sechsten Stunde verlassen und gesagt, daß sie mich nicht vor dem Sonnenaufgang des Tages nach dem Sabbat erwarten sollen. Sie sind so daran gewöhnt, daß ich oft stundenlang weg bin, daß niemand Verdacht schöpfen wird. Seid also beruhigt. Wir haben genügend Zeit, um uns zu unterhalten, ohne befürchten zu müssen, überrascht zu werden. Dies ist ein geeigneter Ort.»

«Ja, Höhlen für Schlangen, Geier... und Räuber, in der guten Jahreszeit, wenn die Berge voller Herden sind. Jetzt bevorzugen sie andere Gegenden, wo sie Schafställe und Karawanen leichter überfallen können. Es tut uns leid, dich hierher geschleppt zu haben. Aber von hier aus können wir in verschiedene Richtungen aufbrechen, ohne daß uns jemand sieht. Denn die Aufmerksamkeit des Synedriums richtet sich auf die Orte, die man der Liebe zu dir verdächtigt.»

«Nun, hierin möchte ich Joseph widersprechen. Mir scheint, daß wir es sind, die nun Schatten sehen, wo keine sind. Und mir scheint auch, daß sich die Sache seit einigen Tagen ziemlich beruhigt hat...» sagt Nikodemus.

«Du irrst, Freund. Ich sage es dir. Es ist ruhiger geworden, weil nun kein Anlaß mehr vorhanden ist, den Meister zu suchen; denn sie wissen jetzt, wo er ist. Daher wird er und nicht wir überwacht. Aus diesem Grund habe ich ihn auch gebeten, niemandem zu sagen, daß wir uns treffen würden. Es könnte sein, daß irgend jemand zu allem bereit ist...» sagt Joseph.

«Ich glaube nicht, daß die Leute von Ephraim ...» bemerkt Manaen.

«Nicht die von Ephraim und auch sonst niemand von Samaria. Und wenn es nur wäre, um das Gegenteil von dem zu tun, was wir auf der anderen Seite tun...»

«Nein, Joseph, nicht deshalb. Sondern weil in ihrem Herzen nicht die giftige Schlange haust, die ihr in euch habt. Sie fürchten nicht, irgendein

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Vorrecht zu verlieren. Sie haben keine sektiererischen und Kasteninteressen zu verteidigen. Nichts haben sie, außer einem instinktiven Bedürfnis nach der Verzeihung und Liebe dessen, den ihre Vorfahren beleidigt haben und den auch sie weiterhin beleidigen, da sie der vollkommenen Religion fernbleiben. Fern, denn sie sind stolz, wie auch ihr stolz seid, und so können beide Seiten den Groll, der sie trennt, nicht vergessen und sich nicht im Namen des einen Vaters die Hand reichen. Selbst wenn der beste Wille bei ihnen vorhanden wäre, ihr würdet ihn abwürgen. Denn ihr könnt nicht verzeihen. Ihr könnt euch nicht von euren Torheiten abwenden und sagen: "Die Vergangenheit ist tot, denn der Fürst künftiger Zeiten ist aufgestanden, der uns alle in seinem Zeichen vereinigt." Ich bin in der Tat gekommen, und ich vereinige. Aber ihr? Oh, für euch sind viele von denen ein Fluch, die ich für würdig erachtet habe, aufgenommen zu werden.»

«Du bist sehr streng mit uns, Meister.»

«Ich bin gerecht. Wollt ihr etwa behaupten, daß ihr mich in euren Herzen nicht tadelt wegen gewisser Werke? Könnt ihr sagen, daß ihr meine Barmherzigkeit gutheißt, die ich den Juden und Galiläern ebenso wie den Samaritern und Heiden zuteil werden lasse? Ja, letzteren und den großen Sündern sogar noch mehr, da gerade sie sie am nötigsten brauchen... Könnt ihr sagen, daß ihr von mir nicht Taten majestätischer Gewalt erwartet, damit ich so meine übernatürliche Herkunft bestätige und vor allem, gebt wohl acht, und vor allem meine Mission als Messias nach eurer Vorstellung vom Messias? Sagt die Wahrheit: Ganz abgesehen von der Freude eures Herzens über die Auferstehung des Freundes, wäre es euch nicht lieber gewesen, wenn ich stattdessen prächtig und grausam in Bethanien aufgetreten wäre, wie unsere Vorfahren gegenüber den Leuten von Ai und Jericho; oder besser noch: wenn meine Stimme die Felsen und Mauern zum Einsturz über meinen Feinden gebracht hätte, wie die Posaunen des Josua die Mauern von Jericho; oder wenn ich vom Himmel große Steine auf die Feinde hätte hageln lassen, wie es an der Steige von Beth Horon noch zu den Zeiten des Josua geschah? Oder vielleicht hätte ich, wie in späteren Zeiten, himmlische Reiter rufen sollen, die aus der Luft dahergefahren wären, mit goldenen Gewändern bekleidet, mit Lanzen bewaffnet wie Kohorten, wie Reitergeschwader in Schlachtordnung, die von beiden Seiten Angriff und Abwehr üben und Schilde schwingen; Heere mit Helm und gezogenem Schwert, die Pfeile abschießen, um meine Feinde zu erschrecken? Ja, das hätte euch besser gefallen; denn obwohl ihr mich sehr liebt, ist doch eure Liebe noch nicht rein, und ihr nährt sie mit euren israelitischen Ideen, euren althergebrachten Gedanken, da ihr unheilige Wünsche hegt. So ist es bei Gamaliel wie beim Geringsten in Israel, beim Hohenpriester, beim Tetrarchen, beim Bauern, beim Hirten, beim Nomaden und beim Menschen in der Diaspora. Die fixe Idee vom Messias als Eroberer. Der Alptraum jener, die fürchten, von ihm vernichtet

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zu werden. Die Hoffnung derer, die das Vaterland lieben mit leidenschaftlicher, menschlicher Liebe. Die Sehnsucht aller, die von anderen Mächten in anderen Ländern unterdrückt werden. Es ist nicht eure Schuld. Die reine, euch von Gott gegebene Vorstellung von dem, was ich bin, ist im Laufe der Jahrhunderte unter sinnveränderndem Beiwerk verschwunden. Und wenige nur verstehen es, unter Schmerzen die messianische Idee zu ihrer ursprünglichen Reinheit zurückzuführen. Und nun, da die Zeit nahe ist, daß das Zeichen gegeben wird, das Gamaliel und mit ihm ganz Israel erwartet, nun, da die Zeit meiner vollkommenen Offenbarung gekommen ist, arbeitet Satan, um eure Liebe zu schwächen und eure Gedanken zu verwirren. Seine Stunde kommt. Ich sage es euch. Und in dieser Stunde der Finsternis werden auch die, die sonst wachsam oder doch ziemlich sehend sind, vollkommen blind werden. Wenige, sehr wenige werden in dem geschlagenen Menschen den Messias erkennen. Ganz wenige nur werden ihn als den wahren Messias erkennen, eben weil er so erniedrigt werden wird, wie es die Propheten geschaut haben. Ich wünsche zum Wohl meiner Freunde, daß sie mich, solange es noch Tag ist, sehen und erkennen... damit sie mich dann auch in der Finsternis der Stunde der Welt und in der Entstellung sehen und erkennen... Doch nun sagt mir, was ihr mir zu sagen habt. Die Zeit vergeht rasch, und bald bricht der Tag an. Ich sage das euretwegen, denn ich fürchte keine gefährlichen Begegnungen.»

«Also, wir wollten dir sagen, daß irgend jemand deinen Aufenthaltsort verraten haben muß, und daß dieser Jemand mit Sicherheit weder ich, noch Nikodemus, weder Manaen, noch Lazarus und die Schwestern, und auch nicht Nike gewesen ist. Mit wem sonst hast du über den von dir als Zuflucht gewählten Ort gesprochen?»

«Mit niemandem, Joseph.»

«Bist du dessen sicher?»

«Ganz sicher.»

«Und hast du auch deinen Jüngern geboten, nicht darüber zu sprechen?»

«Vor der Abreise habe ich ihnen den Ort nicht genannt. Erst bei der Ankunft in Ephraim habe ich ihnen befohlen, zu predigen und in meinem Namen zu wirken. Und ich bin ihres Gehorsams sicher.»

«Und bist du in Ephraim allein?»

«Nein, Johannes und Judas des Simon sind bei mir. Ich habe es schon gesagt. Und er, Judas – denn ich lese deine Gedanken – kann mir mit seiner Unüberlegtheit nicht geschadet haben, da er die Stadt nie verlassen hat und zu dieser Zeit auch keine Pilger aus anderen Gegenden hierher kommen.»

«Also... dann muß es Beelzebub verraten haben. Denn im Synedrium weiß man, daß du hier bist.»

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«Und? Wie reagieren sie dort auf meinen Entschluß?»

«Unterschiedlich, Meister. Sehr unterschiedlich. Die einen sagen, es sei verständlich. Nachdem sie dich von den heiligen Stätten verbannt haben, bliebe dir ja nichts anderes übrig, als nach Samaria zu fliehen. Andere hingegen sagen, das würde zeigen, wer du wirklich bist: ein Samariter, mehr noch der Seele als der Rasse nach. Und das würde genügen, um dich zu verurteilen. Alle freuen sich, daß sie dich zum Schweigen gebracht haben und dich vor den Volksscharen einen engen Freund der Samariter nennen können. Sie sagen: "Wir haben die Schlacht schon gewonnen. Der Rest ist ein Kinderspiel." Aber wir bitten dich, sorge dafür, daß das nicht wahr wird.»

«Es wird nicht wahr werden. Laßt sie nur reden. Wer mich liebt, wird sich durch den Anschein nicht beirren lassen. Wartet, bis der Sturm sich legt. Es ist ein Sturm der Erde. Dann wird der Wind des Himmels kommen und der Vorhang sich öffnen und die Herrlichkeit Gottes wird erscheinen. Was habt ihr mir sonst noch zu sagen?»

«Nichts, was dich betrifft. Sei wachsam, sei vorsichtig. Entferne dich nicht von wo du bist. Und wir wollen dir noch einmal sagen, daß wir dich benachrichtigen werden ...»

«Nein, das ist nicht nötig. Bleibt, wo ihr seid. Bald werde ich die Jüngerinnen bei mir haben und, ja, das könnt ihr Nike und Elisa ausrichten, wenn sie wollen, können sie sich den anderen anschließen. Sagt es auch den beiden Schwestern. Da mein Aufenthaltsort nun bekannt ist, können die, die das Synedrium nicht fürchten, kommen und sich gegenseitig Trost spenden.»

«Die beiden Schwestern können nicht kommen, bevor Lazarus zurückgekehrt ist. Er ist mit großem Pomp abgereist, und ganz Jerusalem hat erfahren, daß er sich zu seinen entfernten Besitzungen begeben hat. Wann er aber zurückkommen wird, weiß niemand. Doch sein Diener ist schon von Nazareth zurückgekehrt und hat gesagt, das sollen wir dir noch ausrichten, deine Mutter wird mit den anderen zum Ende dieses Monats hier sein. Es geht ihr gut, und auch Maria des Alphäus geht es gut. Der Diener hat sie gesehen. Sie verzögern die Abreise noch ein wenig, weil Johanna mit ihnen kommen will, was ihr aber erst Ende des Monats möglich ist. Und dann... wenn du erlaubst, möchten wir dir helfen... als getreue Freunde... auch wenn wir unvollkommen sind, wie du sagst.»

«Nein. Die Jünger, die predigend umherziehen, bringen an jedem Sabbat-Vorabend alles mit, was sie und wir hier in Ephraim brauchen. Mehr ist nicht nötig. Der Arbeiter lebt von seinem Lohn. Das ist auch richtig. Alles andere wäre überflüssig. Gebt es irgendeinem Unglücklichen. Dasselbe habe ich auch den Leuten von Ephraim und meinen Aposteln gesagt. Ich verlange von den Aposteln, daß sie bei ihrer Rückkehr auch nicht den geringsten Vorrat angesammelt und das ganze Almosen verteilt

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haben, so daß uns gerade so viel bleibt, wie wir zu unserer äußerst einfachen Verpflegung in der folgenden Woche brauchen.»

«Aber warum, Meister?»

«Um sie zu lehren, sich von allem Reichtum zu lösen und den Geist höher zu werten als die Sorgen von morgen. Und aus diesem und auch aus anderen guten Gründen möchte ich euch als Meister bitten, nicht weiter darauf zu bestehen.»

«Wie du willst. Aber wir bedauern, dir nicht dienen zu können.»

«Die Stunde wird kommen, da ihr es tun könnt... Ist das nicht schon das erste Tageslicht?» sagt Jesus, wendet sich nach Osten – von der entgegengesetzten Seite ist er vorher gekommen – und zeigt auf einen fahlen Schein, der in der weit entfernten Öffnung sichtbar wird.

«Ja, wir müssen uns trennen. Ich gehe nach Gophena zurück, wo ich das Reittier gelassen habe, und Nikodemus wird auf dieser Seite nach Beroth hinunter und von dort nach Rama gehen, sobald der Sabbat zu Ende ist.»

«Und du, Manaen?»

«Oh, ich werde ganz offen nach Jericho reiten, wo sich Herodes zur Zeit aufhält. Ich habe mein Pferd in einem Haus armer Leute gelassen, die sich für ein Almosen vor nichts ekeln, nicht einmal vor dem Samariter, für den sie mich halten. Aber vorerst bleibe ich bei dir. Ich habe in der Tasche Verpflegung für uns beide.»

«Dann wollen wir uns verabschieden. An Ostern werden wir uns wiedersehen.»

«Nein, du wirst dich doch nicht dieser Gefahr aussetzen wollen!» sagen Joseph und Nikodemus. «Tue es nicht, Meister!»

«Ihr seid wahrlich schlechte Freunde, denn ihr wollt mich zur Sünde und zur Feigheit verführen. Könntet ihr mich noch lieben, wenn ich darauf einginge? Sagt es. Seid aufrichtig. Wo sollte ich denn sonst hingehen, um an Ostern meinen Herrn anzubeten? Etwa auf den Berg Garizim? Oder sollte ich nicht vielmehr im Tempel von Jerusalem vor dem Herrn erscheinen, wie es die Pflicht eines jeden männlichen Israeliten ist an den drei Hauptfesten des Jahres? Habt ihr vergessen, daß man mich schon beschuldigt, den Sabbat nicht zu heiligen, obgleich ich – und Manaen kann es bezeugen – um eurem Wunsch zu entsprechen, auch heute abend einen Weg genommen habe, der sowohl eurem Wunsch als auch den Vorschriften des Sabbats gerecht wird?»

«Wir haben aus diesem Grund in Gophena haltgemacht... Und wir werden ein Opfer darbringen, um für die unfreiwillige Überschreitung aus einem unumgänglichen Grund zu sühnen. Aber du, Meister... ! Man wird dich sofort sehen ...»

«Selbst wenn sie mich nicht sehen sollten, werde ich dafür sorgen, daß man mich sieht.»

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«Willst du dich zugrunderichten! Das käme einem Selbstmord gleich ...»

«Nein. Euer Verstand ist verdunkelt. Es wäre nicht Selbstmord, sondern Gehorsam gegenüber der Stimme meines Vaters, die mir sagt: "Geh, es ist Zeit." Ich habe mich immer bemüht, das Gesetz mit den Notwendigkeiten des Lebens zu versöhnen, auch an dem Tag, an dem ich von Bethanien nach Ephraim flüchten mußte; denn die Zeit meiner Gefangennahme war noch nicht gekommen. Das Lamm des Heiles kann erst am Passahfest geopfert werden. Und wollt ihr, daß ich meinem Vater den Gehorsam verweigere, mit dem ich das Gesetz befolgt habe? Geht, geht! Und seid nicht so betrübt. Wozu bin ich denn auf die Welt gekommen, wenn nicht, um zum König aller Menschen erklärt zu werden? Denn Messias bedeutet doch gerade dies, nicht wahr? Ja, so ist es. Und es bedeutet auch soviel wie Erlöser. Nur stimmt die wahre Bedeutung dieser beiden Worte nicht mit dem überein, was ihr euch vorstellt. Doch ich segne euch und bitte Gott inständig, ein himmlischer Strahl möge zusammen mit mein Segen in euer Inneres herabkommen; denn ich liebe euch und ihr liebt mich; denn ich möchte, daß eure Gerechtigkeit strahlend sei; denn ihr seid nicht böse, doch noch immer "Altes Israel", und ihr habt nicht den heroischen Willen, die Vergangenheit hinter euch zu lassen und euch zu erneuern. Leb wohl, Joseph. Sei gerecht. Gerecht wie jener, der viele Jahre mein Pflegevater und zu jeglicher Erneuerung fähig war, um dem Herrn, seinem Gott, zu dienen. Wenn er hier unter uns wäre, oh, dann würde er euch lehren, Gott vollkommen zu dienen und gerecht, gerecht, gerecht zu sein! Aber es ist gut, daß er schon in Abrahams Schoß weilt, damit er die Ungerechtigkeit Israels nicht sehen muß. Der heilige Diener Gottes...! Dieser neue Abraham hätte mir – mit durchbohrtem Herzen, doch vollkommenem gutem Willen – nicht zur Feigheit geraten, sondern hätte gesagt, wie er es immer tat, wenn Schweres auf uns lastete: "Wir wollen unseren Geist erheben. So werden wir dem Blick Gottes begegnen und vergessen, daß uns die Menschen kränken. Wir wollen alles, was uns schwerfällt, so tun, als ob Gott es uns aufgetragen hätte. Auf diese Art heiligen wir auch die kleinsten Dinge, und Gott wird uns lieben." Ja, so würde er sagen, um mich zu ermutigen, selbst die größten Schmerzen auf mich zu nehmen. Er würde uns trösten und stärken... Oh! Meine Mutter... !»

Jesus läßt Joseph los, den er umarmt hatte, und neigt schweigend das Haupt. Sicher sieht er sein bevorstehendes Martyrium und das seiner armen Mutter... Dann hebt er das Haupt und umarmt Nikodemus mit den Worten: «Als du zum erstenmal als geheimer Jünger zu mir kamst, sagte ich dir, daß ihr, um in das Himmelreich einzugehen und das Reich Gottes zu besitzen, geistig wiedergeboren werden und das Licht lieben müßt, mehr als die Welt es liebt. Heute ist es vielleicht das letzte Mal, daß wir

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uns im geheimen treffen, und ich wiederhole dir dieselben Worte. Werde wiedergeboren im Geist, Nikodemus, damit du das Licht lieben kannst, das Licht, das ich bin, und damit ich in dir lebe als König und Erlöser. Geht. Gott sei mit euch.»

Die beiden Synedristen entfernen sich, nicht in die Richtung, aus der Jesus gekommen ist, sondern in die entgegengesetzte. Als das Geräusch ihrer Schritte verhallt ist, kommt Manaen, der sie bis zum Ausgang der Höhle begleitet und ihnen nachgesehen hat, zurück und bemerkt mit vielsagendem Gesicht: «Diesmal sind sie es, die das Sabbatgebot übertreten. Und sie werden keine Ruhe finden, bis sie ihre Schuld beim Ewigen durch das Opfer eines Tieres getilgt haben. Wäre es nicht besser für sie, wenn sie ihre Ruhe opfern und sich offen zu dir bekennen würden? Wäre dies dem Allerhöchsten nicht wohlgefälliger?»

«Das wäre es gewiß. Aber verurteile sie nicht. Sie gleichen einem Teig, der langsam aufgeht. Doch im rechten Augenblick, wenn viele, die sich besser dünken als sie, abfallen, werden gerade sie sich gegen eine ganze Welt erheben.»

«Sagst du dies meinetwegen, Herr? Dann nimm mir das Leben, aber lasse nicht zu, daß ich dich verleugne.»

«Du wirst mich nicht verleugnen. Doch in dir sind schon andere Elemente als in ihnen, die dir helfen werden, treu zu sein.»

«Ja. Ich bin... der Herodianer. Das heißt, ich war der Herodianer. Denn so wie ich mich vom Rat getrennt habe, so habe ich mich auch von der Partei getrennt, als ich gesehen habe, wie schlecht und ungerecht sie dich behandeln, genau wie die anderen. Ein Herodianer sein... ! Für die anderen heißt dies beinahe, ein Heide sein. Ich sage nicht, daß wir Heilige sind. Es ist wahr, aus unlauteren Gründen haben wir unlauter gehandelt. Ich rede so, als wäre ich noch der Herodianer, der ich war, bevor ich dein wurde. Wir sind nach menschlichem Urteil doppelt unrein: einmal, weil wir uns mit den Römern verbündet haben, und weil wir dies zu unserem Vorteil getan haben. Aber sage mir, Meister, der du immer die Wahrheit sagst und nicht schweigst aus Furcht, einen Freund zu verlieren: Wer von uns ist unreiner, wir, die wir uns um vergänglicher persönlicher Triumphe willen mit Rom verbündet haben, oder die Pharisäer, die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und die Sadduzäer, die sich mit Satan verbündet haben, um dich zu vernichten? Siehst du? Als ich gesehen habe, daß die Partei der Herodianer sich gegen dich wandte, habe ich sie verlassen. Ich sage es nicht, um von dir gelobt zu werden, sondern um dir meine Gedanken darzulegen. Und sie, ich spreche von den Pharisäern und den Priestern, den Schriftgelehrten und den Sadduzäern, glauben, sie hätten einen Nutzen von diesem unvorhergesehenen Bündnis der Herodianer mit ihnen. Die Unglückseligen! Sie verstehen nicht, daß die Herodianer es nur tun, um sich bei den Römern beliebt zu machen und dadurch größeren Schutz

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zu genießen; und danach... sobald die Sache bereinigt und beendet ist und damit die Beweggründe für das jetzige Bündnis nicht mehr bestehen, werden sie die, deren sie sich nun als Verbündete bedienen, niederwerfen. Auf beiden Seiten dasselbe Spiel. Alles ist auf Betrug aufgebaut. Und dies stößt mich so sehr ab, daß ich mich völlig unabhängig gemacht habe. Du, du bist ein großes Schreckgespenst. Für alle! Du bist auch der Vorwand für das verwegene Interessenspiel der verschiedenen Parteien. Ein religiöser Beweggrund? Der heilige Abscheu vor dem "Gotteslästerer", wie sie dich nennen? Alles Lügen! Der einzige Grund ist nicht die Verteidigung der Religion, nicht der heilige Eifer für den Allerhöchsten, sondern ihre gierige, unersättliche Habsucht. Sie ekeln mich an, wie stinkender Unrat. Ich wünschte... Ja, ich wünschte, die wenigen, die nicht unrein sind, wären viel kühner. Ach, mich belastet dieses doppelte Leben, das ich führe! Ich würde gerne dir allein folgen. Aber ich bin dir so nützlicher, als wenn ich dir folgen würde. Es bedrückt mich... Aber du sagst, daß es bald sein wird... Wie... Wirst du denn wirklich wie ein Lamm geopfert werden? Ist dies nicht nur bildlich gesprochen? Das Leben Israels ist voll von Symbolen und Bildern...»

«Und du wolltest, es wäre auch für mich so... Aber es ist nicht nur bildlich gemeint bei mir.»

«Wirklich nicht? Bist du dessen sicher? Ich könnte... Viele von uns wären bereit, große Taten der Vergangenheit zu wiederholen und dich als Messias salben zu lassen und zu verteidigen. Ein Wort würde genügen, und zu Tausenden und Abertausenden würden die Verteidiger des wahren heiligen und weisen Oberhirten sich erheben. Ich spreche nicht mehr von einem irdischen König, nun, da ich weiß, daß dein Reich ein rein geistiges Reich ist. Da wir jedoch nach menschlichem Ermessen nie mehr stark und frei sein werden, so lasse wenigstens zu, daß deine Heiligkeit das verdorbene Israel regiert und heilt. Niemand, du weißt es selbst, liebt die gegenwärtige Priesterschaft und die, die sie unterstützen. Willst du, Herr? Befiehl, und ich werde handeln.»

«Du hast schon große Fortschritte gemacht, Manaen. Aber du bist noch so weit vom Ziel wie die Erde von der Sonne. Ich werde Priester sein in Ewigkeit. Unsterblicher Hoherpriester in einem Organismus, den ich beleben werde bis ans Ende der Zeiten. Doch ich werde nicht mit dem Öl der Freude gesalbt werden, noch von einer Handvoll Getreuen ausgerufen und mit Gewalt verteidigt werden, um das Vaterland in ein noch größeres Schisma zu stürzen und es mehr denn je zum Sklaven zu machen. Und meinst du, daß Menschenhand den Christus salben könnte? In Wahrheit sage ich dir, daß dem nicht so ist. Die wahre Autorität, die mich zum Oberhaupt und Messias salben wird, ist der, der mich gesandt hat. Kein anderer als Gott kann Gott zum König der Könige und Herrn der Herren für alle Ewigkeit salben.»

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«Dann ist also nichts, gar nichts zu machen? Oh, welch ein Schmerz für mich!»

«Alles... Mich lieben! Darin ist alles enthalten! Nicht das Geschöpf lieben, das den Namen Jesus trägt, sondern das, was Jesus ist. Mich lieben mit Leib und Seele, so wie ich euch im Geist und als Mensch liebe, um über das Menschsein hinaus mit mir zu sein. Sieh, welch ein schöner Sonnenaufgang. Der sanfte Schein der Sterne ist nicht hier hereingedrungen. Das triumphierende Sonnenlicht schon! So wird es den Herzen derer ergehen, denen es gelingt, mich mit Gerechtigkeit zu lieben. Komm heraus in die Stille des Berges, die noch keine bei der Verteidigung irdischer Belange rauh gewordene, menschliche Stimme stört. Schau, dort, die Adler, wie sie mit ausgespannten Schwingen auf der Suche nach Beute fortfliegen. Können wir ihre Beute sehen? Nein. Aber sie sehen sie. Denn das Auge des Adlers ist schärfer als das unsere. Und von dort oben haben sie einen weiten Ausblick, und sie wissen zu wählen. Auch ich. Ich kann sehen, was ihr nicht seht, und von oben, wo mein Geist schwebt, meine süße Beute erwählen. Nicht um sie zu zerfetzen, wie es die Geier und Adler tun, sondern um sie mit mir zu nehmen. Wir werden so glücklich sein im Reich meines Vaters, wir, die wir uns geliebt haben... !»

Und Jesus, der bei diesen Worten hinausgegangen ist, setzt sich am Eingang der Höhle in die Sonne, umarmt Manaen, der sich neben ihm niedergelassen hat, schweigt und lächelt über wer weiß welche Vision...

616. DER SOPHERIM SAMUEL, EHEMALIGER JÜNGER DES JONATHAN BEN UZIEL UND DANN JÜNGER JESU

Jesus ist allein und wieder in der Höhle. Ein Feuer brennt und spendet Licht und Wärme, und ein starker Duft von Harz und Laubwerk verbreitet sich in der Höhle. Das Holz knistert und sprüht Funken. Jesus hat sich nach hinten zurückgezogen, in eine Vertiefung, in der trockene Zweige liegen, und denkt nach. Die Flammen flackern ab und zu auf, werden kleiner und beleben sich dann wieder durch Windstöße, die aus dem Wald kommen und heulend in die Höhle dringen, wo sie wie Trompetenstöße widerhallen. Es ist kein beständiger Wind. Einmal fällt er, dann erhebt er sich wieder, wie die Wogen des Meeres zur Zeit der langen Wellen. Wenn er laut pfeift, wirbelt er Asche und trockene Blätter in den schmalen Gang im Fels, durch den Jesus in die größere Höhle gekommen ist, und die Flammen ducken sich und lecken seitlich am Boden entlang; dann, sobald der Wind sich gelegt hat, richten sie sich noch flackernd auf und brennen wieder gerade. Jesus kümmert sich nicht darum. Er denkt nach.

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Dann mischt sich in das Pfeifen des Windes das Geräusch des Regens, der zuerst nur leicht, dann aber immer stärker auf das Laub der Bäume und Sträucher klatscht. Ein wahrer Wolkenbruch verwandelt in kurzer Zeit die Bergpfade in schäumende Bäche. Nun herrscht die Stimme des Wassers vor, denn der Wind hat sich langsam gelegt. Das spärliche Licht der stürmischen Dämmerung und das Feuer, das nur noch glimmt, da die Zweige verbrannt sind, erhellen die Höhle nur sehr schwach, und in den Winkeln herrscht schon völlige Dunkelheit. Jesus, der ein dunkles Gewand trägt, ist nicht mehr zu erkennen. Nur wenn er das Antlitz von den angezogenen Knien erhebt, sieht man mit Mühe etwas Weißes vor der dunklen Wand.

Draußen vor der Höhle auf dem Weg hört man plötzlich Schritte und keuchende Worte, wie von jemandem, der müde und abgehetzt ist. Dann erscheint ein dunkler, von Wasser triefender Schatten am Eingang. Der Mann – denn es ist ein Mann mit einem dichten, schwarzen Bart – stößt ein «Oh!» der Erleichterung aus, wirft seine klatschnasse Kopfbedeckung auf den Boden, schüttelt seinen Mantel aus und sagt vor sich hin: «Hm! Du kannst ihn lange ausschütteln, Samuel. Er scheint in den Graben eines Walkmüllers gefallen zu sein. Und die Sandalen? Boote! Boote auf dem Grund des Flusses! Bis auf die Haut bin ich naß! Und die Bäche aus den Haaren! Ich komme mir vor wie eine alte Dachtraufe, die Wasser aus hundert Löchern verliert. Das fängt schon gut an! Ob er Beelzebub auf seiner Seite hat, der ihm hilft? Hm, der Einsatz ist groß... aber...» Er läßt sich auf einen großen Stein, nahe bei dem nun fast erloschenen Feuer nieder, dessen glimmende Reste als letztes Lebenszeichen des verbrannten Holzes in eigenartigen roten Mustern leuchten. Durch Blasen versucht er, es wieder anzufachen. Dann legt er die Sandalen ab und versucht, seine schmutzbedeckten Füße mit einem Zipfel des Mantels abzutrocknen, der nicht ganz so naß ist. Aber er trocknet sich mit Wasser ab. Das Ergebnis ist, daß der Schlamm von den Füßen nun am Mantel klebt. Der Mann setzt sein Selbstgespräch fort: «Verflucht sollen sie sein, er und sie alle! Ich habe auch die Börse verloren. Natürlich! Wenigstens habe ich nicht auch das Leben verloren... Es ist der sicherste Weg, haben sie gesagt. Natürlich. Aber sie selbst gehen ihn nie! Wenn ich dieses Feuer nicht gesehen hätte! Wer hat es wohl angezündet? Irgendein Unglücklicher wie ich. Wo mag er jetzt wohl sein? Dort ist ein Loch... Vielleicht noch eine Höhle... Es werden doch keine Räuber sein? Ach, ich Dummkopf! Was sollten sie mir denn nehmen, da ich keinen Pfennig besitze... ! Aber egal. Dieses Feuer ist mehr wert als ein Schatz. Hätte ich nur etwas trockenes Holz, um es wieder anzufachen! Dann würde ich mich ausziehen und meine Kleider trocknen. Aber was rede ich denn! Ich habe ja nur die, bis ich zurückkehre ...»

«Wenn du Zweige willst, Freund, hier sind einige», sagt Jesus, ohne sich von seinem Platz zu rühren.

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Der Mann, der Jesus den Rücken zukehrt, erschrickt, als er so unerwartet eine Stimme hört, springt auf und dreht sich um. Er scheint Angst zu haben. «Wer bist du?» fragt er und kneift die Augen zusammen, um etwas zu sehen.

«Ein Wanderer wie du. Ich habe das Feuer angezündet, und es freut mich, daß es dir ein Wegweiser gewesen ist.» Jesus kommt mit einem Reisigbündel auf dem Arm näher, wirft es neben dem Feuer auf den Boden und fordert den Mann auf: «Fache es wieder an, bevor die Asche alles erstickt. Ich habe weder Feuerstein noch Zunder, denn der, der sie mir geliehen hat, ist nach Sonnenuntergang fortgegangen.» Jesus spricht freundlich, tritt aber nicht so weit vor, daß der Schein des Feuers auf ihn fällt. Vielmehr kehrt er jetzt in seinen Winkel zurück und hüllt sich noch fester in seinen Mantel.

Der Mann beugt sich inzwischen nieder und bläst in die Blätter, die er auf die Glut geworfen hat. Und er bemüht sich so lange, bis die Flamme wieder aufflackert. Er lacht und wirft immer größere Äste hinein, die die Flammen noch höher werden lassen.

Jesus hat sich wieder an seinen Platz gesetzt und beobachtet ihn.

«Nun müßte ich mich ausziehen, um mein Gewand zu trocknen. Ich bin lieber nackt, als so durchnäßt. Aber nicht einmal das kann ich tun. Ein Hang ist ins Rutschen geraten und ich wurde mit Erde und Wasser überschüttet. Da haben wir die Bescherung! Schau, mein Gewand ist zerrissen. Verfluchte Reise! Hätte ich doch gegen das Sabbatgebot verstoßen! Aber nein. Bis zur Dämmerung habe ich gewartet. Und dann... Was mache ich jetzt? Um mich zu retten, habe ich die Reisetasche losgelassen, und sie wird ins Tal gerollt oder an einem Strauch hängengeblieben sein... wer weiß, wo ...»

«Hier hast du mein Gewand. Es ist trocken und warm. Mir genügt der Mantel. Nimm es, ich bin gesund. Fürchte nichts.»

«Du bist gut. Ein guter Freund. Wie soll ich dir danken?»

«Indem du mich wie einen Bruder liebst.»

«Dich wie einen Bruder lieben? Aber du weißt doch gar nicht, wer ich bin? Und wenn ich ein Übeltäter wäre? Würdest du auch dann meine Liebe wollen?»

«Ich würde sie wollen, um dich gut zu machen.»

Der Mann, der noch jung ist und etwa dasselbe Alter wie Jesus hat, neigt das Haupt und denkt nach. Er hält das Gewand Jesu in seinen Händen, aber er sieht es nicht. Er denkt nach. Und mechanisch streift er das Gewand über die bloße Haut, denn er hat sich ganz entkleidet und selbst das Untergewand abgelegt.

Jesus, der in seinen Winkel zurückgekehrt ist, fragt nun: «Wann hast du gegessen?»

«Zur sechsten Stunde. Bei der Ankunft im Tal hätte ich im Dorf etwas

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gegessen. Doch dann habe ich mich verirrt und die Tasche und das Geld verloren...»

«Hier, ich habe noch einige Reste von der Mahlzeit. Ich wollte sie morgen essen. Aber nimm sie nur. Das Fasten macht mir nichts aus.»

«Aber... wenn du wandern mußt, wirst du deine Kräfte brauchen...»

«Oh, ich gehe nicht weit. Nur nach Ephraim...»

«Nach Ephraim? Bist du ein Samariter?»

«Du verachtest sie? Ich bin kein Samariter.»

«In der Tat... du hast einen galiläischen Akzent. Wer bist du? Warum verbirgst du mir dein Gesicht? Mußt du dich verbergen, weil du eine Schuld auf dich geladen hast? Ich werde dich nicht anzeigen.»

«Ich bin ein Wanderer, ich habe es dir schon gesagt. Mein Name würde dir nichts sagen, oder zu viel. Und überhaupt, was ist der Name? Wenn ich dir ein Gewand reiche für deine frierenden Glieder, ein Brot gebe für deinen Hunger und vor allem meine Liebe schenke für dein Herz, mußt du dann, um die Wohltat der trockenen Kleidung, der Nahrung und der Liebe zu spüren, auch meinen Namen wissen? Aber wenn du mir einen Namen geben willst, dann nenne mich "Barmherzigkeit". Ich habe nichts Beschämendes getan, das mich zwingen würde, mich zu verbergen. Aber du würdest mich trotzdem anzeigen, denn das Denken und Trachten deines Herzens ist nicht gut. Und böse Gedanken führen zu bösen Taten.»

Der Mann springt auf und nähert sich Jesus. Aber von Jesus sieht man nur die Augen, und auch diese sind von den gesenkten Lidern verschleiert.

«Iß nur. Iß, Freund. Anderes ist nicht zu tun.»

Der Mann kehrt zum Feuer zurück und ißt nach und nach, ohne ein Wort zu sagen. Er ist nachdenklich geworden. Jesus hat sich in seinem Winkel ganz zusammengekauert. Der Mann erholt sich langsam. Die Wärme des Feuers, das Brot und das gebratene Fleisch, das Jesus ihm gegeben hat, stimmen ihn froh. Er steht auf, reckt sich und spannt die Kordel, die ihm als Gürtel gedient hat, zwischen einen Felsvorsprung und einen rostigen Nagel, der von wer weiß wem und wann dort eingeschlagen wurde. Dann hängt er das Gewand, den Mantel und die Kopfbedeckung zum Trocknen auf. Die Sandalen stellt er, nachdem er sie ausgeschüttelt hat, direkt ans Feuer und legt auch reichlich Reisig nach.

Jesus scheint zu schlummern. Der Mann setzt sich nun ebenfalls und denkt nach. Dann wendet er sich um und betrachtet den Unbekannten. Er fragt: «Schläfst du?»

Jesus antwortet: «Nein. Ich denke nach und bete.»

«Für wen?»

«Für alle Unglücklichen aller Art. Es gibt ihrer so viele!»

«Bist du ein Büßer ?»

«Ich bin ein Büßer. Die Erde braucht viel Buße, damit die Schwachen Kraft erhalten, Satan zu widerstehen.»

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«Das hast du gut gesagt. Du sprichst wie ein Rabbi. Ich verstehe etwas davon, denn ich bin ein Sopherim. 1) Ich bin bei Rabbi Jonathan ben Uziel. Sein liebster Schüler. Und wenn der Allerhöchste mir beisteht, werde ich ihm bald noch lieber sein. Mein Name wird in ganz Israel gepriesen werden.»

Jesus entgegnet nichts.

Der andere steht nach einer Weile auf und setzt sich neben Jesus. Er sagt, wobei er sich durch die Haare fährt, die fast schon trocken sind, und auch den Bart glättet: «Höre. Du hast gesagt; daß du nach Ephraim gehst. Gehst du nur zufällig dorthin, oder wohnst du dort?»

«Ich wohne in Ephraim.»

«Aber du hast doch gesagt, daß du kein Samariter bist!»

«Ich wiederhole dir, ich bin kein Samariter.»

«Aber wer kann denn dort wohnen, wenn nicht... Höre. Man sagt, daß der Rabbi von Nazareth, der mit dem Bann Belegte, der Verfluchte, sich nach Ephraim zurückgezogen hat. Ist das wahr?»

«Es ist wahr. Jesus, der Gesalbte des Herrn, ist dort.»

«Er ist nicht der Gesalbte des Herrn! Er ist ein Betrüger! Er ist ein Gotteslästerer! Er ist ein Dämon! Er ist die Ursache all unserer Übel. Und kein Rächer steht auf im Volk, um ihn zu vernichten!» ruft der Mann in seinem fanatischen Haß aus.

«Hat er dir denn Böses getan, daß du von ihm mit solchem Haß in der Stimme sprichst?»

«Mir nicht. Ich habe ihn nur einmal kurz beim Laubhüttenfest gesehen, und in einem solchen Tumult, daß es mir jetzt schwerfallen würde, ihn wiederzuerkennen. Denn... wenn ich auch ein Schüler des großen Rabbi Jonathan ben Uziel bin, so bin ich doch erst seit kurzem endgültig vom Tempel. Vorher... war es nicht möglich aus verschiedenen Gründen, und nur, wenn der Rabbi in seinem Haus war, ließ ich mich zu seinen Füßen nieder, um Gerechtigkeit und Bildung von ihm zu lernen. Aber du... Du hast mich gefragt, ob ich ihn hasse, und ich habe einen verborgenen Vorwurf in deinen Worten gehört. Bist du vielleicht ein Jünger des Nazareners?»

«Das bin ich nicht. Ab jeder, der gerecht ist, muß den Haß verurteilen.»

«Der Haß ist heilig, wenn er einem Feind Gottes und des Vaterlandes gilt. Der Rabbi von Nazareth ist beides. Und heilig ist es, ihn zu bekämpfen und zu hassen.»

«Willst du den Menschen bekämpfen oder die Idee, die er vertritt, und die Lehre, die er verbreitet?»

«Alles! Alles! Man kann nicht eines bekämpfen, wenn man das andere

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1) Sopherim = Schriftgelehrter, Gesetzeslehrer

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verschont. Der Mensch verkörpert seine Lehre und seine Idee. Entweder man bekämpft alles, oder es ist nutzlos. Wenn man sich zu einer Idee bekennt, bekennt man sich zu dem Menschen, der sie verkörpert, und zu seiner Lehre. Ich weiß es, denn ich habe mit meinem Meister diese Erfahrung gemacht. Seine Ideen sind die meinen, und seine Wünsche sind mir Gesetz.»

«Ein guter Jünger handelt so. Doch muß man beurteilen können, ob der Meister gut ist. Und nur dem guten Meister darf man nachfolgen. Denn es ist nicht erlaubt, aus Liebe zu einem Menschen seine Seele zu verlieren.»

«Jonathan ben Uziel ist gut.»

«Nein, er ist es nicht.»

«Was sagst du da?! Mir sagst du das? Während wir hier allein sind, könnte ich dich töten, um meinen Meister zu rächen! Ich bin stark, weißt du?»

«Ich habe keine Angst. Ich fürchte keine Gewalt. Ich habe keine Angst und werde mich auch nicht wehren, wenn du mich schlagen solltest.»

«Ach, jetzt verstehe ich! Du bist ein Jünger des Meisters, ein "Apostel". So nennt er seine getreuesten Jünger. Und du bist wohl auf dem Weg zu ihm. Vielleicht war der, der hier bei dir gewesen ist, auch so einer. Und womöglich erwartest du noch einen von den Euren?»

«Ich erwarte jemanden, ja.»

«Vielleicht gar den Rabbi?»

«Ich brauche nicht auf ihn zu warten. Er braucht mein Wort nicht, um von einem Übel geheilt zu werden. Er hat keine kranke Seele und auch keinen kranken Körper. Ich erwarte eine arme Seele, die vergiftet und verwirrt ist, um sie zu heilen.»

«Dann bist du ein Apostel! Es ist bekannt, daß er sie aussendet, damit sie seine Lehre verkünden, da er Angst hat, selbst zu gehen, seit er vom Synedrium verurteilt wurde. Daher vertrittst du also seine Lehren! Nicht reagieren, wenn man beleidigt wird, das ist eine seiner Lehren.»

«Es ist eine seiner Lehren, denn er lehrt die Liebe, die Verzeihung, die Gerechtigkeit und die Sanftmut. Er liebt die Feinde wie die Freunde, denn er sieht alles in Gott.»

«Oh! Wenn er mir begegnen würde, wenn ich ihm, wie ich hoffe, begegnen werde, glaube ich kaum, daß er mich lieben würde. Er wäre ein Dummkopf! Aber ich kann nicht mit dir, seinem Apostel, reden. Und ich bedauere, daß ich gesagt habe, was ich gesagt habe. Du wirst es ihm berichten.»

«Das ist nicht nötig. Doch in Wahrheit sage ich dir, daß er dich lieben wird, vielmehr, daß er dich liebt, obwohl du nach Ephraim gehst, um ihn in eine Falle zu locken und dem Synedrium auszuliefern. Denn wer dies tut, wird eine große Belohnung erhalten.»

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«Bist du ein Prophet oder ein Hellseher? Hat er dir seine Macht übertragen? Bist also auch du ein Verfluchter? Und ich habe dein Brot, dein Gewand und deine Freundschaft angenommen?! Es steht geschrieben: "Du sollst deine Hand nicht gegen deinen Wohltäter erheben." Du hast mir Wohltaten erwiesen! Vielleicht, weil du wußtest, daß ich... Vielleicht, um mich daran zu hindern, zu handeln. Aber wenn ich auch dich verschone, weil du mir Brot, Salz, Feuer und dein Gewand gegeben hast, und ich gegen die Gerechtigkeit fehlen würde, wenn ich dir etwas antäte, so werde ich doch deinen Rabbi nicht verschonen. Denn diesen kenne ich nicht, und er hat mir nicht Gutes, sondern Böses getan!»

«Oh, Unglücklicher! Merkst du denn nicht, daß du irre redest? Wie kann dir jemand, den du nicht kennst, etwas Böses angetan haben? Wie kannst du den Sabbat heiligen, wenn du das Gebot: "Du sollst nicht töten" nicht befolgst?»

«Ich töte nicht.»

«Nicht direkt. Aber es gibt keinen Unterschied zwischen dem Mörder und dem, der das Opfer dem Mörder überliefert. Du achtest das Wort eines Menschen, der sagt, daß du dem nicht schaden sollst, der dir Gutes getan hat, aber du befolgst nicht das Gebot Gottes. Und arglistig, für eine Handvoll Geld und für ein wenig Ehre, die schmutzige Ehre, einen Unschuldigen verraten zu haben, gibst du dich zu einem Verbrechen her... !»

«Ich tue es nicht allein wegen des Geldes und der Ehre, sondern um eine Jahwe wohlgefällige und dem Vaterland heilsame Tat zu vollbringen. Ich tue nur, was Jael und Judith getan haben.» Er ist fanatischer denn je.

«Sisera und Holophernes waren Feinde unseres Vaterlandes. Sie waren Invasoren. Aber was ist der Rabbi von Nazareth? Wen überfällt er? Wen unterdrückt er? Er ist arm und will keine Reichtümer. Er ist demütig und sucht keine Ehre. Er ist gut, zu allen. Tausenden hat er Wohltaten erwiesen. Warum haßt ihr ihn? Warum haßt du ihn? Es ist dir nicht erlaubt, deinem Nächsten zu schaden. Du dienst dem Synedrium. Aber wird das Synedrium dich im anderen Leben richten, oder Gott? Und wie wird er dich richten? Ich sage nicht: wie wird er dich als Mörder des Christus richten, sondern ich sage: wie wird er dich als Mörder eines Unschuldigen richten? Du glaubst nicht, daß der Rabbi von Nazareth der Christus ist, und weil du das nicht glaubst, wird er dich dieses Verbrechens nicht beschuldigen. Gott ist gerecht und bestraft nicht eine Schuld, eine Tat, die nicht ganz bewußt begangen wurde. Er wird dich daher nicht verurteilen, weil du Christus getötet hast, denn für dich ist Jesus von Nazareth nicht der Christus. Aber Gott wird dich anklagen, einen Unschuldigen getötet zu haben. Denn du weißt, daß er unschuldig ist. Man hat dich vergiftet, trunken gemacht mit Worten des Hasses. Aber nicht so sehr, daß du nicht mehr begreifen kannst, daß er unschuldig ist. Seine Werke sprechen für ihn. In eurer Angst – mehr die Angst der Lehrer als die der

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Schüler fürchtet und seht ihr, was nicht ist. Es ist die Angst derer, die fürchten, von ihm verdrängt zu werden. Fürchtet euch nicht. Er öffnet euch die Arme und sagt: "Brüder!" Er sendet keine Bewaffneten gegen euch aus. Er verflucht euch nicht. Er möchte euch nur retten. Euch, die Großen und die Schüler der Großen, so wie er auch den Geringsten in Israel retten will. Euch mehr als den Geringsten in Israel, mehr als das Kind, das noch nicht weiß, was Haß und Liebe ist. Denn ihr habt es nötiger als die Unwissenden und die Kinder, da ihr wißt und wissend sündigt. Wenn du dein Gewissen als Mensch reinigst von den Ideen, mit denen sie dich gefüttert haben, wenn du es reinigst von dem Gift, das dich betäubt, wird es dir dann noch bestätigen, daß er schuldig ist? Sage es mir! Sei ehrlich. Hast du ihn vielleicht einmal das Gesetz übertreten sehen, oder hast du gesehen, wie er jemandem angeraten hat, das Gesetz zu übertreten? Hast du ihn jemals streitsüchtig, habgierig, lasterhaft, verleumderisch, hartherzig gesehen? Sprich! Hast du ihn vielleicht unehrerbietig gegenüber dem Synedrium gesehen? Er ist gleich einem Verbannten, um dem Spruch des Synedriums zu gehorchen. Er könnte einen Aufruf ergehen lassen, und ganz Palästina würde ihm folgen und gegen die wenigen, die ihn hassen, marschieren. Doch stattdessen rät er seinen Jüngern zu Frieden und Verzeihung. Er könnte – so wie er den Toten das Leben, den Blinden das Augenlicht, den Lahmen die Beweglichkeit, den Tauben das Gehör wiedergibt und die Besessenen von den Dämonen befreit, da weder Himmel noch Hölle seinem Willen widerstehen – er könnte euch mit dem göttlichen Blitz erschlagen und sich so von seinen Feinden befreien. Doch stattdessen betet er für euch und heilt eure Verwandten, heilt eure Herzen, gibt euch Brot, Kleidung und Feuer. Denn ich bin Jesus von Nazareth, der Christus, der, den du suchst, um das demjenigen, der ihn dem Synedrium ausliefert, versprochene Kopfgeld zu erhalten und als Befreier Israels gefeiert zu werden. Ich bin Jesus von Nazareth, der Christus. Hier bin ich. Nimm mich also fest. Als Meister und als Sohn Gottes befreie ich dich von der Verpflichtung, die Hand nicht gegen den zu erheben, der dir Gutes getan hat, und spreche dich los von der Sünde, es getan zu haben.»

Jesus ist aufgestanden und hat dabei den Mantel vom Kopf gleiten lassen. Er streckt nun die Arme aus, um sich festnehmen und fesseln zu lassen. Aber so, hochgewachsen und gerade – und er scheint noch schlanker, nur in seinem kurzen, eng anliegenden Untergewand und dem dunklen Mantel, der ihm von den Schultern hängt – die Augen fest auf seinen Verfolger gerichtet, während die tanzenden Flammen helle Lichter in seinem wallenden Haar entzünden und seine großen Pupillen im saphirenen Rund der Iris glänzen lassen; so majestätisch, treu und furchtlos flößt er mehr Respekt ein, als wenn ein ganzes Heer ihn zu seinem Schutz umgäbe.

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Der Mann ist fasziniert, gelähmt vor Staunen. Erst nach einer Weile gelingt es ihm zu flüstern: «Du! Du! Du!» Er scheint kein anderes Wort herauszubringen.

Jesus besteht darauf: «Nimm mich also fest. Löse den unnützen Strick den du dort gespannt hast, um ein zerrissenes, schmutziges Gewand aufzuhängen, und feßle meine Hände. Ich werde dir folgen, wie ein Lamm seinem Schlächter folgt. Und ich werde dich nicht hassen, weil du mich zum Tod führst. Ich habe es dir schon gesagt. Der Zweck rechtfertigt die Tat und ändert ihr Wesen. Für dich bin ich der Ruin Israels, und du glaubst Israel zu retten, wenn du mich tötest. Für dich bin ich jeglichen Verbrechens schuldig, und du dienst daher der Gerechtigkeit, wenn du einen Übeltäter unschädlich machst. Du bist also nicht schuldiger als ein Henker, der einen erhaltenen Befehl ausführt. Willst du mich gleich hier opfern? Hier, zu meinen Füßen liegt das Messer, mit dem ich dir das Brot und das Fleisch geschnitten habe. Nimm es. Die Klinge, die der Nächstenliebe gedient hat, wird sich in ein Opfermesser verwandeln. Mein Fleisch ist nicht härter als das Fleisch des gebratenen Lammes, das mein Freund für meinen Hunger hier gelassen hat und das ich dir, meinem Feind, gegeben habe, damit du deinen Hunger stillen konntest. Aber du fürchtest die römischen Patrouillen. Sie nehmen die Mörder Unschuldiger fest. Sie erlauben nicht, daß wir Recht sprechen. Denn wir sind die Unterworfenen und sie die Beherrscher. Daher wagst du nicht, mich zu töten und zu denen zu gehen, die dich geschickt haben, das geschlachtete Lamm auf den Schultern gleich einer Ware, mit der man Geld verdient. Laß also meinen Leichnam hier und benachrichtige deine Auftraggeber. Denn du bist kein Schüler, sondern ein Sklave; du hast auf die königliche Freiheit des Geistes und des Willens verzichtet, die selbst Gott den Menschen läßt, und dienst, sklavisch dienst du deinen Auftraggebern. Bis zum Verbrechen dienst du ihnen. Doch du bist nicht schuldig. Du bist "vergiftet". Du bist die vergiftete Seele, auf die ich gewartet habe. Auf, also! Die Nacht und der Ort sind für das Verbrechen geeignet. Ich müßte richtig sagen: für die Erlösung Israels. Oh! Armer Junge! Du sprichst prophetische Worte, ohne es zu wissen! Wahrlich, mein Tod wird Erlösung sein, und nicht allein für Israel, sondern für die ganze Menschheit. Ich bin gekommen, um geopfert zu werden. Ich brenne darauf, geopfert zu werden, um der Erlöser zu sein. Für alle. Du, Sopherim des gelehrten Jonathan ben Uziel, kennst gewiß Isaias. Sieh, der Mann der Schmerzen steht vor dir. Und wenn ich ihm nicht gleiche, wenn ich dem nicht gleiche, den auch David gesehen hat, mit den entblößten und zerschlagenen Gebeinen, wenn ich nicht der Aussätzige bin, den Isaias gesehen hat, dann nur, weil ihr mein Herz nicht seht. Ich bin eine einzige Wunde. Eure Lieblosigkeit, euer Haß, eure Härte und Ungerechtigkeit haben mich verwundet und gemartert. Habe ich nicht das Antlitz verborgen, als du mich geschmäht hast als den,

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der ich wahrhaftig bin: das Wort Gottes, der Christus? Aber ich bin der Mensch, der ans Leiden gewöhnt ist! Haltet ihr mich denn nicht für einen von Gott Geschlagenen? Opfere ich mich nicht, weil ich mich opfern will, um durch mein Opfer euch zu heilen? Auf! Schlag zu! Schau, ich fürchte mich nicht, und auch du sollst dich nicht fürchten. Denn ich bin der Unschuldige und fürchte das Gericht Gottes nicht; und wenn ich meinen Hals deinem Messer darbiete, erfülle ich damit den Willen Gottes und ziehe nur meine Stunde etwas vor, zu eurem Wohl. Auch die Stunde meiner Geburt habe ich aus Liebe zu euch vorverlegt, um euch früher die Zeit des Friedens zu schenken. Aber ihr macht aus dieser meiner liebenden Sorge eine Waffe der Verneinung... Keine Angst! Ich rufe weder die Strafe Kains noch die Blitze Gottes auf dich herab. Ich bete für dich. Ich liebe dich. Sonst nichts. Bin ich zu groß für deine Menschenhand? Ja, so ist es! Der Mensch könnte Gott nicht schlagen, wenn Gott sich nicht freiwillig in die Hände des Menschen geben würde. So werde ich also vor dir niederknien. Der Menschensohn kniet zu deinen Füßen. Töte ihn also!»

Jesus ist tatsächlich niedergekniet und reicht seinem Verfolger das Messer, das er an der Klinge hält. Doch der Mann weicht zurück und murmelt: «Nein! Nein!»

«Auf! Nur einen Augenblick des Mutes... und du wirst bekannter sein als Jael und Judith. Sieh, ich bete für dich. Isaias sagt es: "... und er betete für die Sünder." Du kommst noch nicht? Warum weichst du zurück? Ah! Vielleicht fürchtest du, nicht zu sehen, wie ein Gott stirbt. Nun, ich komme zum Feuer. Das Feuer fehlt bei einem Opfer nie. Es gehört dazu. Nun siehst du mich gut.» Jesus ist beim Feuer niedergekniet.

«Schau mich nicht an! Schau mich nicht an! Oh! Wohin soll ich fliehen, um deinen Blick nicht sehen zu müssen?» schreit der Mann.

«Wen? Wen und was willst du nicht sehen?»

«Dich... und mein Verbrechen. Wahrlich, meine Schuld steht mir vor Augen! Wohin, wohin soll ich fliehen?» Der Mann ist außer sich vor Entsetzen.

«An mein Herz, Sohn! Hier, in diesen Armen, hören die Schrecken und Ängste auf. Hier ist Frieden. Komm! Komm! Mache mich glücklich!» Jesus ist aufgestanden und streckt ihm die Arme entgegen. Zwischen beiden ist das Feuer. Jesus erstrahlt im Widerschein der Flammen.

Der Mann fällt auf die Knie, bedeckt sein Antlitz und schreit: «Habe Mitleid mit mir, o Gott! Erbarme dich meiner! Tilge meine Sünde! Ich wollte deinen Christus töten! Barmherzigkeit! Ach, es kann keine Barmherzigkeit geben für ein solches Verbrechen! Ich bin verflucht!» Er weint, das Gesicht am Boden, von Schluchzen geschüttelt, und stöhnt: «Barmherzigkeit!» und verwünscht: «Verfluchte!»

Jesus geht um das Feuer herum, neigt sich zu ihm, berührt seinen Kopf und sagt: «Verfluche sie nicht, die dich auf Abwege geführt haben, denn

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sie haben dir die größte Wohltat verschafft: Daß ich zu dir spreche. Siehst du. Daß ich dich nun so in meinen Armen halte.»

Jesus hat den Mann an den Schultern gefaßt, ihn aufgerichtet, sich selbst auf den Boden gesetzt und ihn an sein Herz gezogen. Das Weinen des Mannes ist nun weniger verzweifelt, aber so reinigend! Jesus streichelt ihm das dunkle Haar und wartet, bis er sich beruhigt.

Schließlich hebt der Mann den Kopf und stöhnt: «Verzeihe mir!» Sein Antlitz ist wie verwandelt.

Jesus neigt sich zu ihm und küßt ihn auf die Stirn. Der Mann wirft ihm die Arme um den Hals, legt seinen Kopf auf die Schulter Jesu, weint und will erzählen. Er will berichten, wie man ihm das Verbrechen suggeriert hat. Aber Jesus verbietet es ihm mit den Worten: «Schweige! Schweige! Ich weiß alles. Als du hereingekommen bist, habe ich dich als den erkannt, der du bist, und wußte, was du im Begriff warst zu tun. Ich hätte weggehen und dir entfliehen können. Doch ich bin geblieben, um dich zu retten. Du bist gerettet. Die Vergangenheit ist tot. Denk nicht mehr daran.»

«Und... du traust mir? Und wenn ich wieder sündigen würde?»

«Nein, du wirst nicht mehr sündigen. Ich weiß es. Du bist geheilt.»

«Ja, ich bin es. Doch die anderen sind so verschlagen. Schicke mich nicht zu ihnen zurück.»

«Wohin willst du gehen, wo sie nicht sind?»

«Mit dir. Nach Ephraim. Wenn du in meinem Herzen liest, wirst du sehen, daß es keine Falle ist, die ich dir stelle, sondern nur die Bitte um Schutz.

«Ich weiß es. Komm. Doch ich mache dich darauf aufmerksam, daß Judas von Kerioth dort ist, der sich an das Synedrium verkauft hat und der Verräter des Christus ist.»

«Göttliche Barmherzigkeit! Auch das weißt du?» Die Überraschung hat ihren Höhepunkt erreicht.

«Ich weiß alles. Er meint, ich wüßte nichts. Aber ich weiß alles. Und ich weiß auch, daß du ganz bekehrt bist und nicht mit Judas oder einem anderen wie ihm sprechen wirst. Aber bedenke: Wenn Judas seinen Meister verraten kann, was wird er dann nicht erst tun, um dir zu schaden?»

Der Mann denkt lange nach. Dann sagt er: «Das macht nichts! Wenn du mich nicht fortschickst, bleibe ich bei dir. Wenigstens einige Zeit. Bis Passah. Bis du dich mit deinen Jüngern triffst. Dann werde ich mich ihnen anschließen. Oh, wenn es wahr ist, daß du mir verziehen hast, dann schicke mich nicht fort!»

«Ich schicke dich nicht fort. Nun wollen wir zu dem Blätterhaufen dort gehen und den Morgen abwarten. Bei Sonnenaufgang gehen wir nach Ephraim. Wir werden sagen, daß der Zufall uns zusammengeführt hat und daß du nun zu uns gehörst. Das ist die Wahrheit.»

«Ja, es ist die Wahrheit. Am Morgen werden meine Kleider trocken sein, und ich werde dir dein Gewand zurückgeben.»

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«Nein... Laß die Kleider hier. Sie sind ein Symbol. Der Mann, der seine Vergangenheit ablegt und das neue Gewand anlegt. In der alten Zeit sang die Mutter des Samuel in ihrer Freude: "Der Herr macht tot und lebendig, er führt ins Totenreich hinab und herauf." Du bist gestorben und zu neuem Leben erstanden. Du kommst vom Reich der Toten zum wahren Leben. Laß die Kleider, die die Gräber voller Unrat berührt haben. Und lebe! Lebe für deine wahre Ehre: Gott in Gerechtigkeit zu dienen und ihn auf ewig zu besitzen.»

Sie setzen sich in die Nische, in der die Blätter aufgehäuft sind, und bald wird es still. Denn der Mann schläft ein, den müden Kopf an den Arm Jesu gelehnt; und dieser betet wieder.

... Ein schöner Frühlingstag ist angebrochen, als sie auf dem Weg entlang dem Bach vor dem Haus der Maria des Jakob ankommen. Der Bach wird nach dem Wolkenbruch nun wieder klar und das angestiegene Wasser läßt ihn viel lauter rauschen. Er glitzert in der Sonne zwischen den noch regennassen Ufern.

Petrus, der an der Tür steht, schreit auf und läuft ihnen entgegen. Er stürzt sich auf Jesus, der sich ganz in seinen Mantel gehüllt hat, um ihn zu umarmen, und sagt: «Oh, mein gesegneter Meister! Welch traurigen Sabbat hast du mich verbringen lassen! Ich konnte mich nicht entschließen, wieder aufzubrechen, ohne dich vorher gesehen zu haben. Es wäre mir die ganze Woche nichts Rechtes eingefallen, wenn ich mit der Ungewißheit im Herzen und ohne deinen Abschiedsgruß hätte gehen müssen.»

Jesus küßt ihn, ohne den Mantel abzulegen. Petrus ist so in die Betrachtung seines Meisters vertieft, daß er den Fremden, der ihn begleitet, gar nicht bemerkt. Doch inzwischen sind auch die anderen herbeigelaufen, und Judas von Kerioth schreit: «Du, Samuel!»

«Ich. Das Reich Gottes steht allen in Israel offen. Ich habe es betreten», sagt der Mann bestimmt.

Judas lacht, ein sonderbares Lachen, sagt aber nichts.

Die Aufmerksamkeit aller wendet sich nun dem Neuankömmling zu, und Petrus will wissen: «Wer ist das?»

«Ein neuer Jünger. Wir sind uns zufällig begegnet, das heißt, Gott hat uns zusammentreffen lassen, und ich habe ihn als einen von meinem Vater Gesandten aufgenommen. Und ihr sollt es ebenso machen. Und da es eine große Freude ist, wenn jemand Anteil am großen Reich des Himmels erhält, legt Taschen und Mäntel ab, ihr, die ihr zur Abreise bereit seid. Wir wollen bis morgen beisammen bleiben. Nun laß mich gehen, Simon; denn ich habe ihm mein Gewand gegeben, und die Morgenluft ist beißend kalt, wenn ich hier stehenbleibe.»

«Ach, es ist mir gleich so vorgekommen! Du wirst krank werden, Meister, wenn du solche Sachen machst!»

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«Ich wollte nicht, aber er wollte», entschuldigt sich der Mann.

«Ja, er wurde von einem Erdrutsch erfaßt und konnte sich durch seinen Willen retten. Damit die Erinnerung an den schrecklichen Augenblick ihn nicht weiter belastet und er ohne Unreinheit zu uns kommt, habe ich darauf bestanden, daß er seine schmutzigen, zerrissenen Kleider dort zurückläßt, wo wir uns begegnet sind, und habe ihn mit meinem Gewand bekleidet», sagt Jesus und schaut Judas Iskariot an, der wieder so eigenartig lacht wie am Anfang und als Jesus sagte, daß es eine große Freude sei, wenn jemand Anteil am Himmelreich erhält. Dann geht Jesus rasch ins Haus, um sich umzukleiden.

Die anderen umringen den Neuankömmling und heißen ihn mit dem Friedensgruß willkommen.

617. WAS IN GALILÄA UND BESONDERS IN NAZARETH GESCHIEHT

«Und ich sage euch, ihr seid alle töricht, solche Dinge zu glauben. Töricht seid ihr und unwissender als die Eunuchen, die nicht einmal die Regeln des Instinktes kennen, verstümmelt wie sie sind. Durch die Stadt laufen Männer, die dem Meister fluchen, und andere bringen Befehle, die unmöglich, weiß Gott, unmöglich von ihm stammen können! Ihr kennt ihn nicht. Aber ich kenne ihn. Und ich kann nicht glauben, daß er sich so verändert hat. Sollen sie herumlaufen! Ihr sagt, sie seien seine Jünger? Wer hat sie denn jemals bei ihm gesehen? Ihr sagt, die Rabbis und die Pharisäer hätten seine Sünden aufgezählt? Und wer hat sie gesehen, seine Sünden? Habt ihr ihn je über schmutzige Dinge reden gehört, ihn? Habt ihr ihn je bei einer Sünde ertappt? Also! Und glaubt ihr, daß Gott ihn so große Werke vollbringen ließe, wenn er ein Sünder wäre? Dumm, sage ich, dumm seid ihr, schwer von Begriff und töricht wie Bauern, die zum erstenmal einen Komödianten auf dem Marktplatz sehen und alles für wahr halten, was er ihnen vorspielt! So seid ihr. Seht ob die, die weise sind und einen wachen Verstand haben, sich von den Worten der falschen Jünger verführen lassen, von den wahren Feinden des Unschuldigen, unseres Jesus, den ihr nicht als Sohn der Stadt verdient! Seht, ob Johanna des Chuza – he! aber was sage ich! – die Frau des Verwalters des Herodes, die Prinzessin Johanna, sich von Maria abwendet! Seht, ob... Ist es überhaupt gut, daß ich es euch sage? Aber ja! Es ist gut, denn ich sage es nicht, um nur zu reden, sondern um euch alle zu überzeugen. Habt ihr im vergangenen Monat den prächtigen Wagen gesehen, der ins Dorf gekommen ist und vor dem Haus Marias gehalten hat? Könnt ihr euch noch daran erinnern? Der Wagen, der einen Vorhang hatte, so schön wie ein

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Palast ... Und wißt ihr, wer darin saß und dann ausgestiegen ist, um sich vor Maria niederzuwerfen? Lazarus, der Sohn des Theophilus, Lazarus von Bethanien, versteht ihr? Der Sohn der höchsten Amtsperson von Syrien, des vornehmen Theophilus, der mit Eucheria vom Stamm Juda aus dem Geschlecht Davids vermählt war! Der gute Freund Jesu. Lazarus, der reichste und gelehrteste Mann in Israel, sowohl was unsere Geschichte betrifft, als auch die der ganzen Welt. Der Freund der Römer. Der Wohltäter aller Armen. Und endlich der Mann, der von den Toten auferweckt wurde, nachdem er vier Tage im Grab gelegen hatte. Hat Lazarus sich vielleicht von Jesus abgewandt und dem Synedrium recht gegeben? Ihr sagt, daß er ihm treu geblieben ist, weil Jesus ihn auferweckt hat. O nein, nicht deshalb, sondern weil er genau weiß, wer Christus, wer Jesus ist. Und wißt ihr, was er zu Maria gesagt hat? Daß sie sich bereit halten solle, denn er würde sie nach Judäa begleiten. Versteht ihr? Er! Lazarus! Als ob er der Diener Marias wäre! Ich weiß es, denn ich war dort, als er hereinkam und sich zu ihren Füßen niederwarf, auf die einfachen Ziegelsteine des Kämmerchens. Er, gekleidet wie Salomon, an Teppiche gewöhnt, dort am Boden, um den Saum des Kleides unserer Frau zu küssen und ihr zu sagen: "Ich grüße dich, o Maria, Mutter meines Herrn. Ich, dein Diener, der letzte der Diener deines Sohnes, komme, um dir von ihm zu erzählen und deinen Befehlen zu gehorchen." Versteht ihr? Ich... ich war so gerührt... und als er auch mich grüßte und mich "Bruder im Herrn" nannte, da hat es mir die Sprache verschlagen. Kein Wort habe ich mehr herausgebracht. Doch Lazarus hat verstanden, denn er ist intelligent. Er hat im Bett des Joseph geschlafen und die Diener nach Sephoris vorausgeschickt, damit sie ihn dort erwarten. Denn er war auf dem Weg zu seinen Besitzungen in Antiochia. Und er forderte die Frauen auf, sich bereitzuhalten, da er am Ende des Monats wieder vorbeikommen und sie mitnehmen würde, um ihnen die Mühen der Reise zu ersparen. Und Johanna wird sich mit ihrem Wagen der Karawane anschließen, um die Jüngerinnen von Kapharnaum und Bethsaida mitzunehmen. Und all dies sagt euch nichts?»

Endlich holt der gute Alphäus der Sara wieder Luft. Er steht mitten auf dem Platz und ist von einer Gruppe umringt. Aser und Ismael, sowie die beiden Vettern Jesu, Simon und Joseph – Simon offener und Joseph zurückhaltender – helfen ihm und stimmen ihm in allem zu.

Joseph sagt: «Jesus ist kein Bastard. Wenn er etwas mitteilen will, so hat er hier genügend Verwandte, die bereit sind, seine Botschafter zu sein. Er hat getreue und einflußreiche Jünger wie Lazarus. Lazarus hat nichts von dem gesagt, was die anderen erzählen.»

«Und er hat auch uns. Zuerst waren wir Eseltreiber und sogar Esel, wie unsere Vierbeiner. Aber nun sind wir seine Jünger, und auch wir sind imstande zu sagen: "Tut dies oder jenes"», bemerkt Ismael.

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«Aber die Verurteilung, die dort an der Türe der Synagoge angeschlagen ist, wurde von einem Boten des Synedriums gebracht, und sie trägt den Stempel des Tempels», wenden manche ein.

«Das ist wahr. Aber was macht das? Wir sind in ganz Israel dafür bekannt, daß wir das Synedrium als das kennen, was es wirklich ist, und wir werden dafür verachtet, als ob nicht viel Gutes an uns wäre. Sollen wir ausgerechnet hierin den Tempel für weise halten? Kennen wir denn die Schriftgelehrten, die Pharisäer und die Oberhäupter der Priesterschaft nicht mehr?» entgegnet Alphäus.

«Das ist wahr. Alphäus hat recht. Ich habe beschlossen, nach Jerusalern zu gehen, um von den wahren Freunden zu erfahren, wie die Dinge stehen. Gleich morgen werde ich aufbrechen», sagt Joseph des Alphäus.

«Und wirst du dort bleiben?»

«Nein, ich werde zurückkommen, und dann an Passah wieder hinaufgehen. Ich kann nicht lange von zu Hause fortbleiben. Es ist eine Mühe, die ich auf mich nehme. Ich bin das Haupt der Familie, und ich bin auch dafür verantwortlich, daß Jesus in Judäa war. Ich habe darauf bestanden, daß er hingeht. Der Mensch kann in seinem Urteil irren. Ich habe geglaubt, es wäre gut für ihn. Stattdessen... Gott möge mir verzeihen! Aber ich muß wenigstens aus der Nähe die Folgen meines Rates beobachten, um meinem Bruder zu helfen», sagt in seiner langsamen und würdevollen Sprechweise Joseph des Alphäus.

«Früher hast du nicht so geredet. Aber auch dich hat die Freundschaft der Großen verführt. Dein Blick ist umnebelt», sagt ein Nazarener.

«Nicht die Freundschaft der Großen verführt mich, Eliachim. Es ist das Verhalten meines Bruders, das mich überzeugt. Wenn ich gefehlt habe und jetzt mein Unrecht einsehe, so zeige ich damit, daß ich ein gerechter Mensch bin. Denn irren ist menschlich, aber Starrsinn ist tierisch.»

«Und du meinst, daß Lazarus wirklich kommen wird? Oh, wir wollen ihn sehen! Wie ist einer, der von den Toten zurückkehrt? Er wird verträumt sein, wie erschreckt. Was sagt er von seinem Aufenthalt bei den Toten?» wird Alphäus der Sara von mehreren Seiten gefragt.

«Er ist wie ich und ihr! Heiter, lebhaft, ruhig... Er spricht nicht vom Jenseits. Es ist, als ob er sich nicht erinnern würde. Aber er erinnert sich an seinen Todeskampf.»

«Warum hast du es uns denn nicht wissen lassen, daß er im Dorf war?»

«Nun, ihr hättet sicher das Haus überfallen. Auch ich habe mich zurückgezogen. Etwas Anstand ist immer angebracht, nicht wahr?»

«Aber wenn er zurückkommt, werden wir ihn doch sehen können? Sage uns Bescheid. Du wirst ja, wie üblich, der Hüter des Hauses Marias sein.»

«Gewiß! Ich habe das Glück, in ihrer Nähe zu sein. Aber ich werde niemandem Bescheid sagen. Kümmert euch selbst darum. Den Wagen sieht

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man ja, und Nazareth ist nicht Antiochia und nicht einmal Jerusalem, daß ein so großes Gefährt unbemerkt bleiben könnte. Stellt eine Wache auf... helft euch selbst. Aber das ist nicht wichtig. Sorgt vielmehr dafür, daß wenigstens seine Stadt nicht als töricht angesehen wird, weil sie den Worten der Feinde unseres Jesus glaubt. Glaubt ihnen nicht, glaubt nicht! Keinem, der ihn einen Satan nennt, und keinem, der euch in seinem Namen aufwiegelt. Eines Tages würdet ihr es bereuen. Wenn dann das übrige Galiläa in die Falle geht und die Unwahrheiten glaubt, dann ist das seine Sache. Lebt wohl. Ich gehe jetzt, denn es wird Abend...» Und er geht zufrieden fort, weil er Jesus verteidigt hat.

Die anderen bleiben und diskutieren weiter. Und obgleich sie in zwei Lager geteilt sind und das größere leider das der Leichtgläubigen ist, gelingt es den wenigen Freunden des Christus doch, ihren Vorschlag durchzusetzen: man wird abwarten, nichts unternehmen, die Verleumdung erst dann glauben und die Aufforderung zur Rebellion erst dann annehmen, wenn auch die anderen Städte in Galiläa es tun. «Denn diese, schlauer als Nazareth, lachen dem falschen Boten ins Gesicht», sagt der Jünger Aser.

618. WAS IN SAMARIA UND BEI DEN RÖMERINNEN GESCHIEHT

Das junge Grün der Bäume, die in doppelter Reihe entlang den Hausmauern die vier Seiten des Hauptplatzes von Sichern säumen und eine Art Galerie bilden, sorgt für eine frühlingshafte Note. Die Sonne spielt mit den zarten Blättern der Platanen und zeichnet eine Stickerei von Licht und Schatten auf den Boden. Der Brunnen in der Mitte des Platzes gleicht einer Silberplatte im Sonnenschein.

Leute stehen hier und da in Gruppen herum und besprechen ihre Angelegenheiten. Nun betreten einige Männer, allem Anschein nach Fremde, den Platz, blicken um sich und gehen dann auf die am nächsten stehende Gruppe zu. Alle fragen sich, wer diese Männer wohl sind. Sie grüßen und werden gegrüßt... mit Verwunderung. Doch als sie sagen: «Wir sind Jünger des Meisters von Nazareth», verfliegt jedes Mißtrauen, und einige entfernen sich, um den anderen Gruppen Bescheid zu geben, während die Dagebliebenen fragen: «Ist er es, der euch schickt?»

«Er ist es. Eine sehr geheime Mission. Der Rabbi ist in großer Gefahr. Niemand liebt ihn mehr in Israel, und er, der so gut ist, bittet, daß wenigstens ihr ihm treu bleibt.»

«Aber das wollen wir ja! Was sollen wir tun? Was will er von uns?»

«Oh, er will nur Liebe. Denn er vertraut zu sehr auf den Schutz Gottes. Und das bei all dem, was man in Israel sagt! Wißt ihr denn nicht, daß

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man ihn anklagt, mit dem Teufel im Bund zu stehen und einen Aufstand vorzubereiten? Wißt ihr, was das bedeutet? Repressalien der Römer, gegen uns alle. Wir, die wir schon so unglücklich sind, sollen noch mehr geschlagen werden! Und gleichzeitig werden wir von den Heiligen unseres Tempels verurteilt! Gewiß werden die Römer... Auch zu eurem Besten solltet ihr handeln, ihn überzeugen, daß er sich verteidigen muß; ihr müßt ihn verteidigen und es beinahe, nein, nicht nur beinahe, unmöglich machen, daß er gefangengenommen wird und uns schadet, ohne es zu wollen. Ihr müßt ihn überreden, sich auf den Garizim zurückzuziehen. Dort, wo er sich jetzt befindet, ist er noch zu sehr im Licht der Öffentlichkeit und kann weder den Zorn des Synedriums noch den Argwohn der Römer besänftigen. Der Garizim bietet Asyl. Es ist sinnlos, wenn wir es ihm sagen. Wenn wir es ihm sagen, wird er uns fluchen, weil wir ihm zur Feigheit raten. Aber es ist nicht so. Es ist nur Liebe und Klugheit. Wir können nicht sprechen. Aber ihr könnt es! Er liebt euch. Er hat schon eure Gegend allen anderen vorgezogen. Bereitet euch also darauf vor, ihn aufzunehmen. Dann werdet ihr wenigstens mit Sicherheit wissen, ob er euch liebt oder nicht. Sollte er eure Hilfe ablehnen, wäre das ein Zeichen dafür, daß er euch nicht liebt, und dann wäre es auch besser, wenn er anderswo hinginge; denn, glaubt uns – wir sagen es mit Schmerzen, da wir ihn lieben: seine Anwesenheit ist eine Gefahr für jene, die ihm Gastfreundschaft gewähren. Ihr seid die Besten von allen und achtet der Gefahren nicht. Aber es ist nur gerecht, daß ihr das Risiko römischer Repressalien erst dann auf euch nehmt, wenn ihr eure Liebe erwidert seht. Wir geben euch diese Ratschläge zum Wohl aller.»

«Ihr habt recht. Wir werden tun, was ihr sagt. Wir werden zu ihm gehen ...»

«Oh, seid vorsichtig! Er darf nicht merken, daß wir euch überredet haben!»

«Keine Sorge! Fürchtet nicht. Wir wissen schon, wie wir es anstellen werden. Sicher! Wir werden beweisen, daß die verachteten Samariter hundert, ja tausend Juden und Galiläer aufwiegen, wenn es darum geht, Christus zu verteidigen. Kommt in unsere Häuser, ihr Boten des Herrn. Es wird sein, wie wenn er selbst käme! Schon so lange sehnt sich Samaria danach, von den Dienern Gottes geliebt zu werden!»

Sie entfernen sich. In ihrer Mitte führen sie wie im Triumph die Männer – ich irre mich sicher nicht, wenn ich glaube, daß sie vom Synedrium geschickt sind – und sagen: «Wir sehen, daß er uns liebt, denn es ist in wenigen Tagen schon die zweite Gruppe von Jüngern, die er uns schickt. Wir haben gut daran getan, zu der ersten freundlich zu sein. Und es ist auch recht, ihn zu lieben, wegen der kleinen Kinder der toten Frau! Er kennt uns jetzt...»

Sie gehen glücklich fort.

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Ganz Ephraim ist auf den Straßen, um dem ungewöhnlichen Schauspiel einer Kolonne römischer Wagen, die durch das Land zieht, beizuwohnen. Es sind viele Wagen und von Sklaven begleitete geschlossene Sänften, denen Legionäre vorausgehen und nachfolgen. Die Leute verständigen sich durch Zeichen und flüstern miteinander. Der Zug, der nun die Straße erreicht hat, die nach Bethel und Rama abzweigt, teilt sich in zwei Teile. Ein Wagen und eine Sänfte bleiben mit einer Eskorte von Bewaffneten zurück, während die übrigen weiterziehen. Die Vorhänge der Sänfte öffnen sich einen Augenblick, und eine weiße, juwelengeschmückte Frauenhand gibt dem Aufseher der Sklaven ein Zeichen heranzukommen. Der Mann gehorcht schweigend und hört zu. Dann nähert er sich einer Gruppe neugieriger Frauen und fragt: «Wo ist der Rabbi von Nazareth ?»

«In dem Haus dort. Aber um diese Zeit ist er gewöhnlich am Bach. Dort bei den Weiden, wo die Pappel steht, ist eine kleine Insel. Auf dieser verbringt er oft ganze Tage im Gebet...»

Der Mann kommt zurück und berichtet. Die Sänfte setzt sich wieder in Bewegung. Der Wagen hingegen bleibt stehen. Die Soldaten folgen der Sänfte bis ans Ufer des Baches und sperren den Pfad ab. Nur die Sänfte setzt ihren Weg fort am Wasser entlang bis zur Höhe des Inselchens, das mit fortschreitender Jahreszeit immer dichter bewachsen ist: ein undurchdringliches grünes Gestrüpp, das von der silbernen Baumkrone der Pappel überragt wird. Ein Befehl, und die Sänfte bewegt sich über den kleinen Bach, den die Träger mit hochgehaltenen Kleidern durchwaten. Claudia Procula steigt mit einer jungen Freigelassenen heraus und gibt einem schwarzen Sklaven, der die Sänfte begleitet, ein Zeichen, ihr zu folgen. Die anderen kehren ans Ufer zurück.

Claudia geht nun mit den beiden über das Inselchen und direkt zu der Pappel, die dort in der Mitte zum Himmel ragt. Das hohe Gras schluckt das Geräusch der Schritte. So erreicht sie die Stelle, an der Jesus in Gedanken versunken am Fuß des Baumes sitzt. Nachdem sie mit einer gebieterischen Geste den beiden Getreuen befohlen hat stehenzubleiben, ruft sie Jesus und geht allein auf ihn zu.

Jesus hebt den Kopf und steht sofort auf, als er die Frau sieht. Er grüßt sie, bleibt aber vor dem Stamm der Pappel stehen, und scheint weder überrascht noch verärgert zu sein über die Störung.

Nach der Begrüßung beginnt Claudia ohne Umschweife: «Meister, es sind einige Leute zu mir gekommen... besser gesagt, zu Pontius. Ich will keine langen Reden halten. Aber da ich dich bewundere, spreche ich zu dir, wie ich zu Sokrates gesprochen hätte, wenn ich zu seiner Zeit gelebt hätte, oder zu einem anderen Tugendhaften, der ungerecht verfolgt wird: "Ich kann nicht viel tun, aber was ich tun kann, werde ich tun!" Vorläufig werde ich die nötigen Briefe schreiben, um dich zu schützen und auch, um

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dich mächtig zu machen. Auf Thronen und anderen hohen Posten gibt es so viele Unwürdige ...»

«Domina, ich habe dich nicht um Ehren und Schutz gebeten. Der wahre Gott möge dir deine guten Absichten vergelten. Aber laß die Ehrungen und deinen Schutz denen zuteil werden, die sie sehnsüchtig erstreben. Ich habe kein Verlangen danach.»

«Ah! Das ist es, was ich erhofft habe! Du bist also wahrhaft der Gerechte. Ich habe es geahnt! Und die anderen sind deine unwürdigen Verleumder! Sie sind zu uns gekommen und...»

«Es ist nicht nötig, daß du sprichst, Domina. Ich weiß alles.»

«Weißt du auch, daß man sagt, du hättest deiner Sünden wegen alle Macht verloren und müßtest deshalb wie ein Ausgestoßener hier leben?»

«Auch das weiß ich. Und ich weiß auch, daß es dir leichter gefallen ist, letztere Lüge zu glauben. Denn dein heidnischer Verstand hat die Fähigkeit, die menschliche Macht oder die menschliche Gemeinheit zu erkennen, aber er kann noch nicht begreifen, was die Macht des Geistes ist. Du bist... enttäuscht von deinen Göttern, die in euren Religionen in fortwährendem Streit miteinander liegen und deren so unbeständige Macht den Widersprüchen und Gegensätzlichkeiten zwischen ihnen unterworfen ist. Und du meinst, beim wahren Gott wäre es ebenso. Doch es ist nicht so. Ich bin immer noch derselbe wie damals, als du mich das erste Mal einen Aussätzigen heilen sahst. Und ich werde derselbe sein, wenn es den Anschein hat, daß ich endgültig vernichtet bin. Dieser dort ist dein stummer Sklave, nicht wahr?»

«Ja, Meister.»

«Laß ihn näherkommen.»

Claudia stößt einen Ruf aus, und der Mann nähert sich und wirft sich zwischen Jesus und seiner Herrin zu Boden. Sein armes Herz eines Wilden weiß nicht, wen es mehr verehren soll. Er fürchtet, daß er bestraft wird, wenn er den Christus mehr als die Herrin verehrt. Doch ungeachtet dessen wiederholt er die Geste von Caesarea, nachdem er zuerst Claudia einen bittenden Blick zugeworfen hat: er nimmt den bloßen Fuß Jesu in seine großen, schwarzen Hände, wirft sich mit dem Gesicht zu Boden, und stellt ihn auf seinen Kopf.

«Domina, höre. Ist es deiner Meinung nach leichter, ein Reich zu erobern oder einem Menschen einen Körperteil, der nicht mehr vorhanden ist, zurückzugeben?»

«Ein Reich zu erobern, Meister. Das Glück hilft den Kühnen. Aber niemand – außer dir allein – kann einen Toten wiedererwecken und einem Blinden neue Augen schenken.»

«Und warum?»

«Weil... weil Gott alles vermag.»

«Dann bin ich also Gott für dich?»

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«Ja... oder wenigstens... Gott ist mit dir.»

«Kann Gott mit einem Übeltäter sein? Ich spreche vom wahren Gott, nicht von euren Götzen, die nur in der Einbildung dessen existieren, der etwas sucht, dessen Existenz er zwar fühlt, von dem er aber nicht weiß, was es ist, und der sich deshalb Gespenster schafft, um seine Seele zu beruhigen ...»

«Nein ... ich würde sagen, nein. Das ist nicht möglich. Auch unsere Priester verlieren ihre Macht, wenn sie schuldig werden.»

«Welche Macht?»

«Nun... die Macht, in den Sternen zu lesen und die Antworten der Opfer, den Flug und den Gesang der Vögel auszulegen. Du weißt, die Wahrsager, die Haruspizes ...»

«Ich weiß. Ich weiß. Nun also? Schau her. Und du, Mann, erhebe dein Haupt und öffne den Mund, den eine grausame menschliche Macht einer Gabe Gottes beraubt hat. Durch den Willen des wahren und einzigen Gottes, des Schöpfers vollkommener Körper, sollst du wiederhaben, was der Mensch dir genommen hat.»

Jesus hat seinen weißen Finger in den Mund des Stummen gelegt. Die neugierig gewordene Freigelassene kann sich nicht länger zurückhalten und kommt näher und schaut. Claudia neigt sich weit vor und beobachtet. Jesus nimmt den Finger heraus und ruft: «Sprich, und benütze die wiedergeborene Zunge, um den wahren Gott zu loben.»

Und plötzlich, wie ein Trompetenstoß aus einem bis dahin stummen Instrument, antwortet ihm ein gutturaler, aber deutlicher Schrei: «Jesus!» Und der Mohr fällt zu Boden und weint vor Freude. Er leckt, ja, er leckt wahrhaftig die bloßen Füße Jesu ab, wie es ein dankbarer Hund machen würde.

«Habe ich meine Macht verloren, Domina? Wer das behauptet, dem kannst du diese Antwort geben. Und du, steh auf und sei gut, und denke immer daran, wie sehr ich dich geliebt habe. Du bist immer in meinem Herzen gewesen, seit dem Tag in Caesarea. Und mit dir alle deinesgleichen, die als eine Ware und geringer als wilde Tiere angesehen werden, obwohl sie Menschen sind und dem Caesar durch ihre Empfängnis gleich... Und vielleicht sind sie durch den guten Willen ihres Herzens sogar besser... Du kannst dich zurückziehen, Domina. Es ist nichts weiter zu sagen.»

«Oh, doch! Ich habe noch etwas zu sagen. Nämlich, daß ich gezweifelt habe... daß ich schmerzerfüllt beinahe an das geglaubt habe, was man über dich sagte. Und nicht ich allein. Verzeih uns allen, außer Valeria, die immer der gleichen Überzeugung war und darin beständige Fortschritte macht. Und dann ist hier noch meine Gabe, die du annehmen mußt: den Mann, der mir nun nicht mehr dienen kann, da ihm die Sprache wiedergegeben ist, und mein Geld.»

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«Nein, weder das eine, noch das andere.»

«Du verzeihst mir also nicht?»

«Ich verzeihe auch jenen aus meinem Volk, die doppelt schuldig sind, weil sie mich nicht als den anerkennen, der ich bin. Und da sollte ich euch nicht verzeihen, die ihr nichts wißt von einer Gotteserkenntnis? Nun gut. Ich habe gesagt, daß ich weder den Mann noch das Geld will. Nun nehme ich beides und kaufe mit dem einen die Freiheit des anderen. Ich gebe dir dein Geld zurück, denn ich kaufe damit diesen Mann. Und ich kaufe ihn frei, um ihm die Freiheit zu schenken. Er soll in sein Vaterland zurückkehren und dort verkünden, daß nun der auf Erden weilt, der alle Menschen liebt, und sie um so mehr liebt, je unglücklicher sie sind. Hier hast du deine Börse.»

«Nein, Meister, sie gehört dir. Der Mann ist trotzdem frei. Er gehört mir, und ich habe ihn dir geschenkt. Du läßt ihn frei. Dazu braucht es kein Geld.»

«Nun gut... Hast du einen Namen?» fragt Jesus den Mann.

«Sie haben ihn zum Spott Calixtus 1) genannt. Doch als er Sklave wurde...»

«Das ist nicht wichtig. Behalte den Namen und mache ihn wahr dadurch, daß deine Seele wunderschön wird. Geh nun und sei glücklich, denn Gott hat dich gerettet.»

Gehen! Der Mohr wird nicht müde, die Füße Jesu zu küssen und immer wieder zu sagen: «Jesus, Jesus.» Dann stellt er noch einmal den Fuß Jesu auf seinen Kopf mit den Worten: «Du. Mein einziger Herr.»

«Ich. Dein wahrer Vater. Domina, du wirst dafür sorgen, daß er in seine Heimat zurückkehrt. Verwende das Geld dafür, und den Rest soll er erhalten. Leb wohl, Domina. Und höre nie auf die Stimmen der Finsternis. Sei gerecht und versuche, mich zu erkennen. Leb wohl, Calixtus. Leb wohl, Frau.»

Jesus beendet die Unterredung, indem er mit einem einzigen Sprung über den Bach setzt und auf dem der Sänfte gegenüberliegenden Ufer zwischen Büschen, Weiden und Schilf verschwindet.

Claudia ruft die Sänftenträger herbei und besteigt nachdenklich die Sänfte. Und wenn sie auch schweigt, so reden doch die Freigelassene und der freigekaufte Mohr für zehn, und selbst die Legionäre vergessen ihre steife Disziplin vor dem Wunder einer wiedergeborenen Zunge. Claudia ist zu nachdenklich, um Schweigen zu gebieten. Halb liegend, den Ellbogen in die Kissen und den Kopf in die Hand gestützt, hört sie nichts. Sie ist in Gedanken versunken und merkt nicht einmal, daß die Freigelassene nicht bei ihr ist, sondern wie eine Elster mit den Sänftenträgern schwätzt,

___________

1) Calixtus = griechisch «der Schönste»

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während Calixtus mit den Legionären redet, die zwar in Reihen marschieren, aber das dienstliche Schweigen nicht einhalten. Zu groß ist die Erregung, um dies fertigzubringen!

Nun haben sie die Abzweigung nach Bethel und Rama erreicht, und die Sänfte verläßt Ephraim, um sich wieder dem Wagenzug anzuschließen.

619. JESUS UND DER MANN VON JABNIA

Es müssen viele Tage vergangen sein. Ich sage dies, weil das Korn, das bei den letzten Visionen noch kaum eine Spanne hoch war, nach dem Regen und dem darauffolgenden schönen Sonnenschein sehr gewachsen ist und bereits Ähren bildet. Ein leichter Wind läßt die Stiele der noch zarten Halme wogen. Die Brise spielt auch mit dem neuen Laub der frühen Obstbäume, deren Blüten kaum ganz abgefallen sind und noch wie Schmetterlinge zu Boden flattern, und die nun ihre zarten, hellglänzenden smaragdfarbenen Blättchen entfalten. Schön, wie alles, was rein und neu ist! Etwas zurückhaltender sind die noch nackten, knotigen Weinstöcke. Aber an den gewundenen, zwischen den Stöcken ineinander verschlungenen Reben, haben die Knospen schon die sie umgebende dunkle Hülle gesprengt und zeigen, obgleich noch geschlossen, den silbergrauen Flaum, der das Nestchen der zukünftigen Blätter und neuen Schößlinge bildet. Die holzigen, schlangengleichen Girlanden der Weinstöcke scheinen geschmeidiger und von einer neuen Anmut. Die schon warme Sonne beginnt ihre Arbeit als Färberin und Herstellerin pflanzlicher Düfte, und während sie alles mit lebhafteren Farben bemalt, was erst gestern noch bleich war, wärmt sie und entlockt den Schollen, den blühenden Wiesen, den Getreidefeldern, den Gemüse- und Obstgärten, den Wäldern, den Mauern und der zum Trocknen aufgehängten Wäsche die verschiedensten Düfte und vereinigt sie zu einer einzigen Geruchssymphonie. Diese wird den ganzen Sommer dauern, um dann im gewaltigen Duft des Mostes in den Fässern zu enden, wenn die gepreßten Trauben sich in Wein verwandeln. Überall in den Zweigen singen die Vögel, während die Hammel und Widder in den Herden sehnsüchtig blöken. Und das Singen der Männer an den Hängen. Und lachende Kinderstimmen. Und das Lächeln der Frauen. Es ist Frühling. Die Natur liebt. Und der Mensch freut sich über die Liebe in der Natur, die ihn morgen reicher macht; und er genießt diese Liebe, die in diesem heiteren Erwachen stärker und stärker wird. Und liebenswerter erscheint ihm seine Frau, fürsorglicher erscheint der Gattin der Mann, und teurer erscheinen beiden die Kinder, die ihnen heute Freude und Mühe bedeuten und ihnen morgen, in ihrem Alter, noch immer Freude sein werden, aber auch Schutz und Hilfe der Betagten, deren Kräfte nachlassen.

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Jesus wandert durch die Felder, die ansteigen oder abfallen, je nach der Beschaffenheit des Geländes. Da er sein letztes wollenes Gewand Samuel gegeben hat, ist er in Linnen gekleidet. Doch er hat einen leichten Mantel von lebhafter blauer Farbe über eine Schulter geworfen, ihn locker um den Körper gewickelt, und hält ihn mit einem Arm über der Brust zusammen. Der über den Arm gelegte Mantelzipfel flattert leicht im sanften Wind, der über die Erde streift und in den Haaren seines unbedeckten Hauptes spielt, die in der Sonne glänzen. Jesus geht weiter, und wenn er Kindern begegnet, neigt er sich zu ihnen, um ihre unschuldigen Köpfchen zu streicheln, ihre kleinen Vertraulichkeiten anzuhören und zu bewundern, was sie ihm zeigen, als ob es ein Schatz wäre.

Ein kleines Mädchen, das beim Laufen immer wieder strauchelt – so klein ist es noch – und über sein zu langes Kleidchen stolpert, das es vielleicht von einem vor ihm geborenen Geschwisterchen geerbt hat, kommt mit einem seligen Lächeln, das die Augen leuchten macht und die winzigen Zähnchen zwischen den rosa Lippen zeigt. Es bringt einen Strauß Margeriten, einen großen Strauß, den es mit beiden Händen hält, so viele Blumen, als so zarte und kleine Händchen nur halten können, und reicht sie Jesus mit den Worten: «Nimm. Für dich. Für die Mama später. Ein Kuß, hier!» Und dabei schlägt das Kind mit den Händchen, die nun frei sind, da Jesus ihm mit Worten der Bewunderung und des Dankes den Strauß abgenommen hat, auf sein Mündchen und reckt sich, mit zurückgelegtem Kopf, auf seinen nackten Füßchen, bis es fast das Gleichgewicht verliert, in dem vergeblichen Versuch, mit seinem winzigen Persönchen so das Antlitz Jesu zu erreichen. Dieser nimmt es lächelnd auf den Arm und geht mit dem Kind, das wie ein Vöglein auf einem hohen Baum sitzt, zu einer Gruppe von Frauen, die neue Leinwand ins klare Wasser eines Baches tauchen, um sie dann zum Bleichen in der Sonne auszubreiten.

Die über das Wasser gebeugten Frauen stehen grüßend auf, und eine von ihnen sagt lächelnd: «Tamar hat dich belästigt... Aber schon den ganzen Morgen pflückt sie Blumen in der geheimen Hoffnung, dich vorübergehen zu sehen. Keine einzige hat sie mir geschenkt, weil sie sie zuerst dir geben wollte.»

«Ich liebe diese Blumen mehr als alle Schätze der Könige; denn sie sind unschuldig wie die Kinder und noch dazu von einem Kind, das ebenso unschuldig ist wie die Blumen.» Jesus küßt das Mädchen, stellt es auf den Boden und segnet es: «Die Gnade Gottes komme auf dich herab.» Er grüßt die Frauen und setzt seinen Weg fort, wobei er die Grüße der Bauern und Hirten auf den Äckern und Weiden erwidert.

Er scheint in Richtung der Ebene zu gehen, auf die Seite, die nach Jericho führt. Doch dann dreht er um und schlägt einen Feldweg ein, der wieder zu den Bergen nördlich von Ephraim führt. Hier ist der günstig gelegene und vor den Nordwinden geschützte Boden noch ertragreicher.

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Der Weg zwischen zwei Äckern ist auf der einen Seite von Obstbäumen in regelmäßigen Abständen gesäumt, und die Ansätze der zukünftigen Früchte gleichen Perlen an den Ästen.

Eine von Norden nach Süden herunterführende Straße kreuzt den Feldweg. Es muß eine ziemlich wichtige Straße sein, denn an der Kreuzung befindet sich ein Meilenstein, wie die Römer sie verwenden, mit der Inschrift auf der Nordseite: «Neapolis»; und unter diesem Namen – der in lapidaren, großen lateinischen Leitern, stark wie die Römer selbst, eingemeißelt ist – steht sehr viel kleiner und kaum in den Granit geritzt: «Sichern»; auf der westlichen Seite steht: «Silo – Jerusalem», und auf der südlichen: «Jericho». Auf der Ostseite steht kein Name. Aber man könnte sagen, wenn auch kein Name einer Stadt dort steht, so steht doch ein Name menschlichen Unglücks dort. Denn am Boden, zwischen dem Meilenstein und dem Graben, der wie bei allen römischen Straßen neben der Straße verläuft, um in Regenzeiten das Wasser abzuleiten, liegt ein Mann; ein Häuflein Lumpen und Knochen, vielleicht tot.

Jesus neigt sich über ihn, als er ihn in dem durch den Frühjahrsregen hoch aufgeschossenen Gras des Rains entdeckt, berührt ihn und ruft ihn: «Mann, was hast du?»

Ein Stöhnen ist die Antwort. Doch das Bündel bewegt sich, dreht sich um, und ein eingefallenes, leichenblasses Gesicht kommt zum Vorschein. Zwei müde, leidende und sehnsüchtige Augen schauen erstaunt auf den, der sich über sein Elend geneigt hat. Der Mann versucht, sich aufzusetzen, indem er seine abgemagerten Hände auf den Erdboden stemmt; doch er ist so schwach, daß er es ohne die Hilfe Jesu nicht schaffen würde.

Jesus hilft ihm und lehnt ihn mit dem Rücken an den Meilenstein. Dann fragt er: «Was hast du? Bist du krank?»

«Ja.» Ein ganz schwaches Ja.

«Aber wie kannst du dich in einem solchen Zustand allein auf eine Reise begeben? Hast du denn niemanden?»

Der Mann nickt. Aber er ist zu schwach, um zu antworten.

Jesus blickt umher. Es ist niemand auf den Feldern. Die Gegend ist ganz verlassen. Im Norden, fast auf dem Rücken eines Hügels, eine Handvoll Häuser; im Westen, zwischen dem Grün der Abhänge, das auf anderen Hügeln von Feldern in Wiesen und Wälder übergeht, einige Hirten mit einer Herde unruhiger Ziegen. Jesus senkt seinen Blick auf den Mann. Er fragt: «Glaubst du, bis zum Dorf gehen zu können, wenn ich dich stütze?»

Der Mann schüttelt den Kopf, und zwei Tränen rollen über seine Wangen, die so eingefallen und faltig sind wie die eines alten Mannes, während der rabenschwarze Bart erkennen läßt, daß er noch jung ist. Der Mann nimmt seine letzten Kräfte zusammen und sagt: «Sie haben mich fortgejagt ... aus Angst vor dem Aussatz... Ich bin aber nicht... und muß sterben ... vor

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Hunger.» Er röchelt vor Schwäche. Dann steckt er einen Finger in den Mund und nimmt einen grünlichen Brei heraus: «Schau... ich habe Getreide gekaut... Aber es ist noch Gras.»

«Ich werde zu dem Hirten dort gehen und dir lauwarme Milch bringen. Ich werde mich beeilen.» Und fast im Laufschritt begibt sich Jesus zu der etwa zweihundert Meter höher gelegenen Weide.

Er erreicht den Schäfer, spricht mit ihm und zeigt in die Richtung, wo der Mann sich befindet. Der Hirte dreht sich um und schaut. Er scheint unentschieden, ob er dem Wunsch Jesu nachkommen soll. Dann entschließt er sich, nimmt das Holzschälchen, das wie bei allen Hirten an seinem Gürtel hängt, und geht daran, eine Ziege zu melken. Schließlich reicht er Jesus die volle Schale, und dieser trägt sie vorsichtig den Hang hinunter, gefolgt von einem Hirtenbuben.

Nun ist er schon wieder bei dem Verhungernden. Er kniet neben ihm nieder, legt einen Arm um seine Schultern, um ihn zu stützen, und hält die Tasse mit der noch schäumenden Milch an seine Lippen. Er läßt ihn nur kleine Schlücke trinken. Dann stellt er das Milchnäpfchen auf den Boden und sagt: «Für den Augenblick ist es genug. Alles auf einmal würde dir schaden. Dein Magen muß sich erst an die Milch gewöhnen, die ich dir gegeben habe.»

Der Mann widerspricht nicht. Er schließt die Augen und schweigt. Das Kind schaut ihn verwundert an.

Nach einiger Zeit reicht ihm Jesus wieder die Schale. Diesmal für einen größeren Schluck. Und so fährt er fort, mit immer kürzeren Pausen, bis die Milch zu Ende ist. Jesus gibt dem Kind die Schale zurück und schickt es fort.

Langsam kehrt Leben in den Mann zurück. Mit noch unsicheren Bewegungen versucht er, sich etwas in Ordnung zu bringen, während er mit dankbarem Lächeln Jesus anblickt, der sich in seiner Nähe ins Gras gesetzt hat. Er entschuldigt sich: «Ich stehle dir deine Zeit.»

«Das soll dich nicht beunruhigen. Den Bruder zu lieben, kann niemals verlorene Zeit sein. Wenn du dich besser fühlst, wollen wir miteinander sprechen.»

«Es geht mir besser. In meine Glieder kehrt Wärme zurück, und die Augen... Ich habe schon befürchtet, hier zu sterben... Meine armen Kinder! Ich hatte alle Hoffnung verloren... Und dabei hatte ich bis zuletzt so sehr gehofft... ! Wenn du nicht gekommen wärest, wäre ich gestorben... so... am Wegrand...»

«Das wäre sehr traurig gewesen. Doch der Allerhöchste hat seinen Sohn gesehen und ist ihm zu Hilfe gekommen. Ruhe dich nun etwas aus.»

Der Mann gehorcht. Nach einer Weile öffnet er die Augen wieder und sagt: «Nun fühle ich mich neu belebt. Oh, könnte ich doch nach Ephraim gehen!»

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«Warum? Ist dort jemand, der auf dich wartet? Bist du von dort?»

«Nein. Ich bin aus der Gegend von Jabnia am Großen Meer. Doch ich bin am Ufer entlang nach Galiläa gegangen, bis Caesarea. Von dort weiter nach Nazareth. Denn ich bin hier (er deutet auf den Magen) krank. Es ist eine Krankheit, die niemand heilen kann und die mir die Kraft nimmt, den Boden zu bearbeiten. Ich bin Witwer und habe fünf Kinder. Einer aus unserer Gegend – denn ich bin in Gaza geboren als Sohn eines Philisters und einer Syro-Phönizierin – einer der Unseren also, ein Jünger des Rabbi von Galiläa, kam mit einem anderen zu uns, um uns von diesem Rabbi zu erzählen. Auch ich habe ihn gehört. Und als ich so krank wurde, sagte ich mir: "Ich bin Syrer und Philister. Für Israel Unrat. Doch Ermastheus hat gesagt, daß der Rabbi von Galiläa ebenso gut wie mächtig ist. Und ich glaube es. Ich werde zu ihm gehen." Und als die bessere Jahreszeit kam, ließ ich die Kinder bei der Mutter meiner Frau, nahm meine wenigen Ersparnisse – denn viele waren schon durch die Krankheit aufgebraucht – und ging den Rabbi suchen. Doch das Geld schrumpft auf einer Reise schnell zusammen, besonders, wenn man nicht alles essen kann... und in Herbergen bleiben muß wegen der Schmerzen, die einen am Weitergehen hindern. In Sephoris habe ich den Esel verkauft, denn ich hatte kein Geld mehr für mich selbst und um den Rabbi zu bezahlen. Ich dachte, wenn ich gesund bin, werde ich unterwegs wieder alles essen können und rasch nach Hause zurückkehren. Dort werde ich mit der Arbeit auf den eigenen und fremden Feldern Geld verdienen... Aber der Rabbi ist weder in Nazareth noch in Kapharnaum. Seine Mutter hat es mir gesagt. Sie sagte: "Er ist in Judäa. Suche ihn bei Joseph von Sephoris in Bezetha oder in Gethsemane. Dort werden sie dir sagen können, wo er ist." Also bin ich zu Fuß zurückgegangen. Und das Übel wurde schlimmer... und das Geld immer weniger. In Jerusalem, dort, wo man mich hingeschickt hatte, habe ich die Männer getroffen, aber nicht den Rabbi. Sie sagten mir: "Oh, man hat ihn schon lange verjagt. Das Synedrium hat ihn verflucht. Er ist geflohen, und wir wissen nicht, wohin." Ich fühlte mich sterbenskrank, so wie heute. Schlimmer noch als heute. Hundertmal habe ich nach ihm gefragt, in der Stadt und auf dem Land. Niemand wußte etwas. Einige haben mit mir geweint. Viele haben mich geschlagen. Dann, eines Tages, als ich gerade vor der Tempelmauer bettelte, hörte ich zwei Pharisäer sagen: "Nun, da man weiß, daß Jesus von Nazareth in Ephraim ist..." Ich verlor keine Zeit und kam, so schwach ich auch war, um Brot bettelnd, immer zerlumpter und von immer elenderem Aussehen, bis hierher. Und da ich hier fremd bin, habe ich zuletzt noch den Weg verfehlt... Heute bin ich von dort gekommen, von dem Dorf. Seit zwei Tagen lutsche ich nur an wildem Fenchel, kaue Wurzeln und grünes Getreide. Sie haben mich meiner Blässe wegen für einen Aussätzigen gehalten und mit Steinwürfen vertrieben. Ich habe nur um Brot gebeten und daß man mir den Weg nach

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Ephraim weist. Und hier bin ich zusammengebrochen... Aber ich möchte nach Ephraim gehen. Ich bin nun so nahe am Ziel! Kann es denn möglich sein, daß ich es nicht erreiche? Ich glaube an den Rabbi. Ich bin kein Israelit; aber auch Ermastheus war es nicht, und der Rabbi hat ihn trotzdem geliebt. Ist es möglich, daß der Gott Israels mich so bestraft, um sich für die Sünden derer zu rächen, die mich gezeugt haben?»

«Der wahre Gott ist Vater aller Menschen. Er ist gerecht, aber gut. Und er belohnt alle, die glauben, und läßt Unschuldige nicht fremde Schuld bezahlen. Aber warum hast du gesagt, du hättest dich noch schlechter gefühlt als heute, als du hörtest, daß der Aufenthalt des Rabbi unbekannt sei?»

«Ja, weil ich mir gesagt habe: "Ich habe ihn verloren, bevor ich ihn gefunden habe."»

«Ach, deiner Gesundheit wegen.»

«Nein, nicht allein deswegen. Ermastheus hatte gewisse Dinge von ihm erzählt, und mir schien es, daß ich kein Unrat mehr gewesen wäre, wenn ich den Rabbi gekannt hätte.»

«Du glaubst also, daß er der Messias ist?»

«Ich glaube es. Ich weiß nicht recht, was der Messias ist, aber ich glaube, daß der Rabbi von Nazareth der Sohn Gottes ist.»

Jesus lächelt verklärt, während er fragt: «Und du bist sicher, daß er, der Sohn Gottes, dich erhören wird, obwohl du unbeschnitten bist?»

«Oh, ich bin sicher, denn Ermastheus hat es gesagt. Er sagte: "Er ist der Erlöser aller. Für ihn gibt es weder Hebräer noch Götzendiener, sondern nur Geschöpfe, die er erlösen will; denn dazu hat Gott der Herr ihn gesandt." Viele haben darüber gelacht. Ich habe geglaubt. Wenn ich nur zu ihm sagen könnte: "Jesus, erbarme dich meiner." Er würde mich erhören. Oh, wenn du von Ephraim bist, führe mich zu ihm. Vielleicht bist du einer seiner Jünger ...»

Jesus lächelt immer mehr und gibt ihm den Rat: «Versuche es, mich zu bitten, daß ich dich heile ...»

«Du bist gut, Mann. In deiner Nähe empfinde ich einen großen Frieden. Ja, du bist gut wie... wie der Rabbi selbst, und ganz gewiß hat er dir die Macht verliehen, Wunder zu wirken; denn um so gut zu sein, wie du es bist, muß man sein Jünger sein. Alle, die mir sagten, daß sie seine Jünger seien, waren gut zu mir. Aber sei nicht gekränkt, wenn ich dir sage, daß du vielleicht den Leib heilen kannst, aber nicht die Seele. Und ich möchte auch an der Seele geheilt werden... so wie Ermastheus. Ein Gerechter werden. Und dies kann nur der Rabbi bewirken. Ich bin nicht nur krank, sondern auch ein Sünder. Und ich will nicht am Körper gesund werden, um dann eines Tages zusammen mit meiner Seele zu sterben. Ich will leben. Ermastheus hat gesagt, daß der Rabbi das Leben der Seele ist, und daß die Seele, die an ihn glaubt, auf ewig im Reich Gottes leben wird.

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Führe mich zum Rabbi. Sei gut! Warum lächelst du? Vielleicht denkst du, daß es kühn von mir ist, Heilung zu verlangen, ohne einen Pfennig dafür geben zu können? Aber wenn ich geheilt bin, kann ich wieder das Land bearbeiten. Ich habe herrliches Obst. Der Rabbi soll kommen, wenn das Obst reif ist, und ich werde ihn mit meiner Gastfreundschaft belohnen, so lange er nur will.»

«Wer hat dir denn gesagt, daß der Rabbi Geld verlangt? Ermastheus?»

«Nein. Er sagte vielmehr, daß der Rabbi Mitleid mit den Armen hat und ihnen als erster zu Hilfe kommt. Aber es ist schließlich bei allen Ärzten so Brauch... bei allen...»

«Aber nicht bei ihm. Das versichere ich dir. Und ich sage dir, wenn es dir gelingt, einen so starken Glauben zu haben, daß du hier um das Wunder bittest, so wirst du es erlangen.»

«Sagst du die Wahrheit ... ? Bist du dessen sicher? Nun, da du einer seiner Jünger bist, kannst du nicht lügen und auch nicht irren. Und obgleich es mir leid tut, den Rabbi nicht kennenzulernen... will ich dir gehorchen... Vielleicht will er nicht gesehen werden, da er doch verfolgt wird und niemandem trauen kann. Er hat recht. Aber nicht wir sind es, die ihm schaden werden. Es sind die wahren Hebräer... Doch sieh... Ich sage (er gelangt mit Mühe auf die Knie): "Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner!"»

«Es geschehe dir, wie dein Glaube es verdient», sagt Jesus mit der Geste, mit der er den Krankheiten gebietet.

Dem Mann scheint blitzartig ein Licht aufzugehen. Er begreift – ich weiß nicht, ob durch Erleuchtung des Verstandes, durch ein körperliches Gefühl, oder durch beides zusammen – wer der ist, der vor ihm steht, und er stößt einen so schrillen Schrei aus, daß der Hirte, der auf die Straße heruntergekommen ist, vielleicht um etwas zu sehen, seinen Schritt beschleunigt.

Der Mann liegt auf dem Boden, das Gesicht im Gras. Und der Hirte zeigt mit seinem Stab auf ihn und sagt: «Ist er tot? Da braucht es schon etwas mehr als Milch, wenn einer am Ende ist», und er schüttelt den Kopf.

Der Mann hört seine Worte und springt auf die Füße. Er ist kräftig und gesund und schreit: «Tot? Geheilt bin ich! Auferstanden bin ich! Er hat es an mir getan! Ich leide nicht mehr unter dem Hunger oder den Krämpfen der Krankheit. Ich fühle mich wie am Tag meiner Hochzeit! Oh, gepriesener Jesus! Warum habe ich dich nicht eher erkannt?! Deine Barmherzigkeit hätte mir deinen Namen nennen müssen! Welchen Frieden habe ich in deiner Nähe verspürt! Dumm bin ich gewesen. Verzeih deinem armen Diener!» Und er wirft sich wieder zu Boden, um ihm zu huldigen.

Der Hirte läßt seine Ziegen im Stich und eilt in großen Sprüngen zum Dorf.

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Jesus setzt sich zu dem Geheilten und sagt: «Du hast von Ermastheus wie von einem Toten gesprochen. Du kennst also sein Ende. Ich will nur eines von dir. Du sollst mit mir nach Ephraim kommen und denen, die bei mir sind, von seinem Ende berichten. Dann werde ich dich nach Jericho schicken, zu einer Jüngerin, die dir alles Nötige für die Rückreise geben wird.»

«Wenn du es willst, werde ich zu ihr gehen. Aber jetzt, da ich gesund bin, habe ich keine Angst mehr, unterwegs zu sterben. Auch das Gras kann mich ernähren, und es ist keine Schande, die Hand bittend auszustrecken, denn nicht für Schwelgereien, sondern für einen guten Zweck habe ich mein ganzes Geld ausgegeben.»

«Ich will es. Du wirst ihr sagen, daß du mich gesehen hast und daß ich sie hier erwarte. Daß sie nun kommen kann und von niemandem belästigt werden wird. Wirst du dies ausrichten können?»

«Ich werde es können. Ach, warum hassen sie dich, der du so gut bist?»

«Weil viele Menschen von einem bösen Geist besessen sind. Gehen wir.»

Jesus macht sich auf den Weg nach Ephraim, und der Mann folgt ihm sicheren Schrittes. Nur die große Magerkeit ist geblieben und erinnert an die Krankheit und die durchgestandenen Entbehrungen.

Vom Dorf kommen inzwischen schreiend und gestikulierend viele Menschen herunter. Sie rufen Jesus und bitten ihn, stehenzubleiben. Jesus hört nicht auf sie, sondern beschleunigt vielmehr seine Schritte. Die anderen folgen ihm...

Nun sind sie in der Nähe von Ephraim. Die Landarbeiter, die sich auf den Heimweg machen, da die Dämmerung anbricht, grüßen Jesus und betrachten den Mann, der bei ihm ist.

Auf einem Nebenweg erscheint Judas von Kerioth. Er zuckt überrascht zusammen, als er den Meister sieht. Doch Jesus zeigt keine Überraschung. Er wendet sich nur dem Mann zu und sagt: «Dies ist einer meiner Jünger. Erzähle ihm von Ermastheus.»

«Nun, das ist bald gesagt. Er war unermüdlich im Predigen des Christus, auch nachdem er sich von seinem Gefährten getrennt hatte, da er bei uns bleiben wollte. Er sagte, wir hätten es nötiger als alle anderen, dich kennenzulernen, o Rabbi, und er wollte seinem Vaterland dieses Geschenk zuteil werden lassen. Er sagte auch, er würde erst zu dir zurückkehren, wenn selbst in den kleinsten Dörfern dein Name bekannt sei. Er lebte wie ein Büßer. Wenn Mitleidige ihm Brot gaben, segnete er sie in deinem Namen. Wenn jemand mit Steinen nach ihm warf, segnete er ihn ebenfalls und ernährte sich von wilden Früchten und Muscheln, die er von den Felsen löste oder aus dem Sand ausgrub. Viele hielten ihn für einen Verrückten, aber niemand haßte ihn eigentlich. Allenfalls verjagten sie ihn, als

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brächte er Unglück. Eines Tages fand man ihn dann tot, ganz in der Nähe meines Hauses, auf der Straße, die nach Judäa führt, beinahe an der Grenze. Niemand hat je erfahren, wie er gestorben ist. Aber man munkelt, daß er von einem umgebracht wurde, der nicht wollte, daß er den Messias predigt. Er hatte eine große Wunde am Kopf. Einige sagen, er sei von einem Pferdehuf getroffen worden. Aber ich glaube es nicht. Er lächelte noch, als er so im Staub ausgestreckt lag. Ja, es schien wirklich, als lächle er den letzten Sternen einer ruhigen Nacht des Elul und dem ersten Sonnenstrahl des Morgens zu. Gärtner haben ihn gefunden, die in den ersten Morgenstunden mit ihrem Gemüse in die Stadt gingen, und sie sagten es mir, als sie bei mir vorbeikamen, um meine Gurken abzuholen. Ich bin gelaufen, um nachzusehen. Er war ganz im Frieden.»

«Hast Du gehört?» fragt Jesus Judas.

«Ich habe gehört. Aber hattest du ihm nicht gesagt, daß er dir dienen und ein langes Leben haben würde?»

«Genau so habe ich es nicht gesagt. Die Zeit, die vergangen ist, hat deine Erinnerung getrübt. Aber hat er mir denn nicht gedient an den Orten, an denen er gepredigt hat, und hat er nun nicht ein langes Leben? Gibt es ein längeres Leben als jenes, das einer erwirbt, der im Dienst Gottes stirbt? Lang und ruhmvoll.»

Judas lacht auf die eigentümliche Art, die mich so abstößt, und entgegnet nichts.

Inzwischen sind die Leute aus dem Dorf mit vielen aus Ephraim zusammengetroffen und reden mit ihnen, wobei sie auf Jesus deuten.

Jesus befiehlt Judas: «Begleite den Mann ins Haus und sorge dafür, daß er sich vollends erholt. Er wird nach dem Sabbat, der schon beginnt, abreisen.»

Judas gehorcht, und Jesus bleibt allein zurück. Er geht langsam weiter, neigt sich immer wieder über die Getreidehalme, die schon anfangen, Ähren zu bilden, und betrachtet sie.

Männer aus Ephraim bemerken: «Schön, dieses Getreide, nicht wahr?»

«Schön, aber nicht anders als an anderen Orten.»

«Gewiß, Meister. Auch dort ist es nur Getreide und muß demnach gleich sein.»

«Meint ihr? Also ist das Getreide besser als die Menschen, denn es genügt, daß es richtig gesät wird, damit es die gleiche Frucht hervorbringt, hier wie in Judäa oder in Galiläa oder, sagen wir, in den Ebenen längs des Großen Meeres. Die Menschen bringen jedoch nicht dieselben Früchte. Und auch die Erde ist besser als die Menschen. Denn wenn der Erde ein Samenkorn anvertraut wird, ist sie gut zu ihm und kümmert sich nicht darum, ob der Same aus Samaria oder aus Judäa stammt.»

«So ist es. Aber warum sagst du, daß die Erde und das Getreide besser als die Menschen sind?»

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«Warum ... ? Vor kurzem bat ein Mann an den Türen eines Dorfes um das Brot des Mitleids. Und man jagte ihn fort, weil die Leute des Dorfes ihn für einen Juden hielten. Sie verjagten ihn mit Steinwürfen und nannten ihn einen Aussätzigen, und er glaubte, dies sei auf sein elendes Aussehen zurückzuführen. In Wirklichkeit aber war es wegen seiner Abstammung. Und dieser Mann lag am Weg und war dem Hungertod nahe. Daher sind die Leute dieses Dorfes – diese dort, die euch geschickt haben, um mich zu befragen, und die nun gerne mit zu dem Haus kommen würden, in dem ich wohne, um den Mann zu sehen, an dem das Wunder geschehen ist – daher also sind sie schlechter als das Korn auf dem Feld. Denn sie haben, obwohl sie mich schon länger kennen und ich sie bearbeitet habe, nicht dieselbe Frucht gebracht wie dieser Mann, der weder Jude noch Samariter ist und mich nie zuvor gesehen oder reden gehört hat. Aber er hat die Worte eines meiner Jünger vernommen und an mich geglaubt, ohne mich zu kennen. Deshalb sind sie schlechter als die Erdschollen, denn sie haben den Mann abgewiesen, weil er anderer Abstammung ist. Nun möchten sie kommen, um den Hunger ihrer Neugier zu stillen, sie, die nicht imstande waren, den Hunger eines Verhungernden zu stillen. Sagt diesen Leuten, daß der Meister solch nutzlose Neugier nicht befriedigen wird. Und lernt alle das große Gebot der Liebe, ohne die ihr niemals meine Anhänger sein könnt. Es ist nicht die Liebe zu mir, nicht sie allein, die eure Seelen retten wird, sondern die Liebe zu meiner Lehre. Und meine Lehre lehrt die Nächstenliebe, ohne Unterscheidung der Rasse oder der Abstammung. Sie sollen also gehen, diese Hartherzigen, die mein Herz betrübt haben, und bereuen, wenn sie wollen, daß ich sie liebe. Denn, denkt alle daran: ich bin zwar gut, aber ich bin auch gerecht; und wenn ich keinen Unterschied mache und euch liebe wie die anderen in Galiläa und Judäa, dann dürft ihr nicht in törichtem Stolz glauben, daß ihr die Bevorzugten seid und die Freiheit habt, Böses zu tun, ohne meine Tadel fürchten zu müssen. Ich lobe oder tadle, wie es die Gerechtigkeit verlangt, meine Verwandten und die Apostel genauso wie jedes andere Geschöpf. Und in meinem Tadel ist Liebe; denn ich will, daß Gerechtigkeit in den Herzen herrscht, um dann eines Tages alle belohnen zu können, die sie geübt haben. Geht und berichtet. Möge diese Unterweisung in euch allen Frucht bringen.»

Jesus hüllt sich in seinen Mantel, geht eilends auf Ephraim zu und läßt die Männer stehen, die sich ziemlich niedergeschlagen zu den Leuten des Dorfes begeben, die kein Mitleid hatten, um ihnen die Worte des Meisters zu wiederholen.

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620. JESUS, SAMUEL, JUDAS UND JOHANNES

Jesus ist wieder allein und geht langsam und nachdenklich in den dichten Wald, der im Westen von Ephraim liegt. Vom Bach dringt das Rauschen des Wassers herauf, und in den Bäumen singen die Vögel. Das Sonnenlicht des Frühlings dringt lebhaft und zugleich sanft durch das Gewirr der Zweige, und die Schritte verursachen auf dem üppigen Rasenteppich kein Geräusch. Die Sonnenstrahlen zeichnen goldene Kreise und Linien auf das grüne Gras, und einige noch taubedeckte Blumen, die von einem Strahl getroffen werden, während ringsum Schatten herrscht, glänzen, als ob ihre Blütenblätter wertvolle Steine wären.

Jesus steigt zu einem Vorsprung hinauf, der wie ein Balkon ins Leere ragt. Ein Balkon, auf dem ein riesiger Eichbaum steht und von dem die biegsamen Ranken von wilden Brombeeren oder Heckenrosen, von Efeu und Waldreben wie eine zerzauste, aufgelöste Mähne herunterhängen, in der Hoffnung, sich an irgend etwas festklammern zu können; denn sie finden weder genügend Platz noch einen Halt an ihrem für ihre überschäumende Vitalität viel zu engen Standort.

Jesus hat den Vorsprung erreicht. Er geht durch das dichte Gestrüpp auf den äußersten Rand zu. Ein Schwarm Vögel flüchtet mit großem Geflatter und ängstlichem Gezwitscher. Jesus bleibt stehen und betrachtet einen Mann, der ihm hier zuvorgekommen ist und mit aufgestützten Ellbogen, das Gesicht in den Händen, auf dem Bauch im Gras liegt, fast am Rand der Felsplatte, und hinausschaut in die Weite, in Richtung Jerusalern. Der Mann ist Samuel, der ehemalige Schüler des Jonathan ben Uziel. Er ist in Gedanken verloren, seufzt, schüttelt das Haupt...

Jesus bewegt einen Zweig, um die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken, und da dieser nicht reagiert, nimmt er einen Stein aus dem Gras und läßt ihn den Pfad hinunterrollen. Das Geräusch des aufschlagenden Steines läßt den Jüngling aufhorchen. Er wendet sich überrascht um und fragt: «Wer ist da?»

«Ich, Samuel. Du bist mir zuvorgekommen. Dies ist einer der Orte, an denen ich am liebsten bete», sagt Jesus und tritt hinter dem dicken Stamm der Eiche hervor, die am Ende des Pfades steht. Und er tut so, als ob er soeben angekommen wäre.

«Oh, Meister! Es tut mir leid... aber ich überlasse dir sofort den Platz», sagt der Jüngling. Er steht eiligst auf und nimmt den Mantel, den er ausgezogen hatte und auf dem er gelegen ist.

«Nein. Warum? Es ist Platz für zwei. Die Stelle ist so schön! So abseits und einsam gelegen, über der Tiefe, mit so viel Licht und einem so weiten Horizont. Warum willst du gehen?»

«Nun, damit du ungestört bist beim Beten.»

«Können wir es nicht zusammen tun, und auch betrachten, indem wir

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miteinander reden und den Geist zu Gott erheben... die Menschen und ihre Fehler vergessen und an Gott, unseren Vater, denken, den guten Vater all jener, die ihn mit gutem Willen suchen und lieben?»

Samuel scheint überrascht zu sein, als Jesus sagt: «Die Menschen und ihre Fehler...» doch er sagt nichts und setzt sich wieder.

Jesus setzt sich neben ihm ins Gras und sagt: «Setz dich hierher zu mir. Sieh nur, wie klar der Horizont heute ist. Wenn wir Adleraugen hätten, könnten wir die weißen Dörfer auf den Bergen, die Jerusalem wie eine Krone umgeben, sehen. Und, wer weiß, vielleicht könnten wir einen leuchtenden Punkt sehen, gleich einem Edelstein in der klaren Luft, der unser Herz höher schlagen ließe: die goldenen Kuppeln des Hauses Gottes... Schau, dort ist Bethel. Man kann die Häuser sehen, und dort, hinter Bethel liegt Beroth. Wie schlau waren doch die einstigen Bewohner dieses Ortes und der benachbarten. Doch es ist gut ausgegangen, obwohl Betrug niemals eine gute Waffe ist. Es ist gut ausgegangen, weil sie schließlich dem wahren Gott dienten. Es lohnt sich immer, menschliche Ehren zu verlieren, um die Nähe des Göttlichen zu gewinnen. Auch wenn die menschlichen Ehren zahlreich und von Wert waren und das Leben in der Nähe Gottes einfach und unbekannt ist. Nicht wahr?»

«Ja, Meister. Du sagst es gut. So ist es mir ergangen.»

«Aber du bist traurig, obwohl der Wechsel dich beglücken sollte. Du bist traurig. Du leidest und sonderst dich ab. Du hältst Ausschau nach den Orten, die du verlassen hast. Du gleichst einem gefangenen Vogel, der hinter dem Gitter seines Käfigs sitzt und sehnsüchtig nach dem Ort seiner Liebe Ausschau hält. Ich sage nicht, daß du dies nicht tun sollst. Du bist frei, du kannst gehen und ...»

«Herr, hat Judas vielleicht schlecht über mich gesprochen, daß du das sagst?»

«Nein, Judas hat nichts gesagt. Zu mir hat er nichts gesagt. Aber zu dir. Und deshalb bist du traurig und sonderst dich ab und bist beunruhigt.»

«Herr, wenn du diese Dinge weißt, ohne daß sie dir jemand gesagt hat, dann mußt du auch wissen, daß ich nicht den Wunsch habe, dich zu verlassen und es nicht bereue, mich bekehrt zu haben. Ich sehne mich nicht nach der Vergangenheit... und bin nicht traurig aus Furcht vor den Menschen oder vor der Strafe, mit der man mir droht. Ich habe geschaut, nach Jerusalem geschaut, das ist wahr. Aber nicht aus Sehnsucht, dorthin zurückzukehren; zurückzukehren als der, der ich einst war. Dorthin zurückzukehren als Israelit, der es liebt, ins Haus Gottes einzutreten und den Allerhöchsten anzubeten; dieses Verlangen ist in mir wie in uns allen, und ich glaube nicht, daß du mich dafür tadelst.»

«Ich in meiner zweifachen Natur habe als erster ein Verlangen nach jenem Altar und möchte ihn mit Heiligkeit umgeben sehen, wie es sich gebührt. Als Sohn Gottes empfinde ich alles, was ihm zur Ehre dient, als

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eine Freude, und als Menschensohn, als Israelit, und daher als Sohn des Gesetzes, sind Tempel und Altar für mich der heiligste Ort Israels, der Ort, an dem unsere Menschheit sich dem Göttlichen nähern und sich am Duft, der den Thron Gottes umgibt, erfreuen kann. Ich hebe das Gesetz nicht auf, Samuel. Es ist mir heilig, denn mein Vater hat es gegeben. Ich vervollkommne es nur und füge neue Teile hinzu. Als Sohn Gottes kann ich dies tun. Dazu hat mich der Vater gesandt. Ich bin gekommen, den geistigen Tempel meiner Kirche zu gründen, den Tempel, den weder Menschen noch Dämonen überwältigen werden. Doch die Gesetzestafeln werden einen Ehrenplatz darin haben. Denn sie sind ewig, vollkommen, unantastbar. Das in den Tafeln enthaltene: "Du sollst diese oder jene Sünde nicht begehen", beinhaltet in seiner lapidaren Kürze alles Notwendige, um in den Augen Gottes gerecht zu sein, und wird durch meine Worte nicht aufgehoben. Im Gegenteil. Auch ich nenne euch diese Zehn Gebote. Nur sage ich dazu, daß ihr sie in vollkommener Weise befolgen sollt; also nicht aus Furcht vor dem Zorn Gottes gegenüber denen, die seine Gebote übertreten, sondern aus Liebe zu eurem Gott, der ein Vater ist. Ich komme, um eure Kinderhand in die Hand eures Vaters zu legen. Seit wie vielen Jahrhunderten schon sind diese Hände auseinandergerissen! Die Strafe hat sie auseinandergerissen. Und die Schuld hat sie auseinandergerissen. Durch die Ankunft des Erlösers wird die Sünde getilgt, die Schranken fallen, und ihr seid erneut Kinder Gottes.»

«Das ist wahr. Du bist gut und tröstest immer. Und du weißt alles. Deshalb werde ich nicht über meine Nöte sprechen. Aber ich frage dich: Warum sind die Menschen so schlecht, wahnsinnig, töricht? Welche Künste wenden sie an, um uns so diabolisch zum Bösen zu überreden? Und wir, wie können wir so blind sein, die Wirklichkeit nicht zu sehen und den Lügen zu glauben? Und wie können wir selbst solche Dämonen werden und dir in deiner Nähe widerstehen? Ich habe dort hinübergeschaut und nachgedacht... Ja, ich habe darüber nachgedacht, wie viele giftige Bäche von dort ausgehen, um die Kinder Israels zu verwirren. Ich habe darüber nachgedacht, wie sich in die Gelehrtheit der Rabbis so viel Bosheit mischen kann, daß die Tatsachen verdreht und die Menschen getäuscht werden. Ich habe dies vor allem gedacht, weil...» Samuel, der mit Eifer gesprochen hat, unterbricht sich und senkt das Haupt.

Jesus beendet den Satz: «... weil Judas, mein Apostel, ist wie er ist, und allen Schmerz bereitet; mir und allen, die zu mir gehören oder zu mir kommen, wie auch du gekommen bist. Ich weiß es. Judas versucht, dich von hier zu vertreiben. Er macht Anspielungen und verachtet dich ...»

«Nicht nur mich allein. Ja, er verdirbt mir die Freude, zur Gerechtigkeit gelangt zu sein. Er versteht es so gut, sie mir zu verderben, daß ich mir hier wie ein Verräter vorkomme; wie ein Verräter, der sich selbst und dich verrät. Mich selbst, weil ich mir einbilde, besser geworden zu sein, während

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ich die Ursache deines Verderbens sein könnte. Ich kenne mich noch nicht... und könnte, wenn ich denen vom Tempel begegnen würde, meinem Vorsatz untreu werden und... Oh, hätte ich es damals getan, dann hätte ich wenigstens die Entschuldigung gehabt, daß ich dich nicht als den kannte, der du bist. Denn von dir wußte ich damals nur das, was man mir gesagt hatte, um aus mir einen Verfluchten zu machen. Aber wenn ich es jetzt tun würde! Welch ein Fluch würde den Verräter des Sohnes Gottes treffen! Ich war hier... nachdenklich, ja... Ich überlegte, wohin ich fliehen könnte, um vor mir selbst und ihnen sicher zu sein. Ich wollte an einen weit entfernten Ort fliehen, zu den Leuten in der Diaspora... Fort, nur fort, um den Dämon zu hindern, mich zur Sünde zu verführen... Er hat recht, dein Apostel, wenn er mir mißtraut. Er kennt mich, denn da er die Führenden kennt, kennt er uns alle... Er zweifelt mit Recht an mir. Wenn er sagt: "Aber weißt du nicht, daß er uns sagt, daß wir schwach sein werden? Bedenke: Wir, seine Apostel, die wir ihn schon so lange kennen! Und du, der du das Gift des alten Israel in dir hast und erst jetzt gekommen bist, zu einer Zeit, die uns selbst erzittern läßt, du glaubst, die Kraft zu haben, gerecht zu bleiben?" Er hat ja so recht ...» Der Mann neigt entmutigt das Haupt.

«Wieviel Kummer bereiten sich doch die Menschenkinder! Wahrlich, Satan versteht es, ihre Neigungen auszunützen, um sie zu quälen und sie der Freude zu berauben, die ihnen entgegengeht, um sie zu erlösen. Denn die Traurigkeit des Geistes, die Angst vor dem Morgen und alle Sorgen sind immer Waffen, die der Mensch seinem Widersacher in die Hand gibt. Dieser quält ihn dann mit eben den Gespenstern, die der Mensch sich schafft. Und es gibt andere Menschen, die sich wahrlich mit Satan verbünden, um ihm zu helfen, die Brüder zu ängstigen. Aber, mein Sohn, gibt es denn nicht einen Vater im Himmel? Und dieser Vater, der dem Grashälmchen hier einen Spalt im Fels gibt – einen Spalt voll Erde, in den die Feuchtigkeit des Taus über den glatten Stein rinnt und sich in der schmalen Ritze sammelt, damit das Hähnchen leben und dieses winzige Blümchen hervorbringen kann, dessen Schönheit nicht weniger bewundernswert ist als die strahlende Sonne dort oben, denn beide sind ein vollkommenes Werk des Schöpfers – dieser Vater, der sich um ein Grashälmchen auf einem Felsen kümmert, sollte er nicht für seinen Sohn sorgen, der den festen Willen hat, ihm zu dienen? Oh, wahrlich, Gott enttäuscht die "guten" Wünsche des Menschen nicht. Denn er selbst ist es, der sie in euren Herzen erweckt. Er ist es, der in seiner vorsorgenden Weisheit die Umstände schafft, die nicht nur den Wünschen seiner Kinder förderlich sind, sondern die den noch unvollkommenen Wegen folgenden Wunsch, ihn zu ehren, verbessern und vervollkommnen und ihn auf vollkommene Wege führen. Dies trifft für dich zu. Du glaubtest, gedachtest, warst überzeugt, Gott zu ehren, indem du mich verfolgtest. Der Vater hat gesehen,

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daß in deinem Herzen nicht Haß gegen Gott war, sondern das Verlangen, Gott Ehre zu erweisen, indem du den aus der Welt entfernst, von dem sie dir gesagt hatten, daß er ein Feind Gottes und ein Verderber der Seelen sei. Und Gott hat die Umstände so gelenkt, daß dein Wunsch, deinem Herrn Ehre zu erweisen, erfüllt wurde. Nun bist du unter uns. Und kannst du glauben, daß Gott dich jetzt verlassen will, da er dich hierher geführt hat? Nur wenn du ihn verläßt, kann die Kraft des Bösen dich umschlingen.»

«Aber ich will es doch nicht! Das ist mein aufrichtiger Wille!» erklärt der Mann.

«Worüber machst du dir dann Sorgen? Über die Worte eines Menschen? Laß ihn reden. Er denkt auf seine Art. Die Gedanken der Menschen sind immer unvollkommen. Doch ich werde vorsorgen.»

«Ich möchte nicht, daß du ihn tadelst. Es genügt mir, wenn du mir versicherst, daß ich nicht sündigen werde.»

«Ich versichere es dir. Es wird nicht geschehen, denn du willst nicht, daß es geschieht. Denn sieh, mein Sohn, es würde dir nichts nützen, in die Diaspora oder auch bis an die Grenzen der Erde zu gehen, um deine Seele vor dem Haß gegen Christus und vor der Strafe für diesen Haß zu bewahren. Viele in Israel werden sich nicht direkt mit dem Verbrechen beflecken; doch sie werden nicht weniger schuldig sein als jene, die mich verurteilen und das Urteil vollstrecken. Mit dir kann ich über diese Dinge sprechen, denn du weißt, daß alles schon vorbereitet ist. Du kennst die Namen und die Gedanken meiner ärgsten Widersacher. Du hast es gesagt: "Judas kennt uns alle, denn er kennt alle Führenden." Aber wenn er euch kennt, auch euch, die geringeren, die ihr Sternen zweiter Ordnung in der Nähe der großen Planeten gleicht, so wißt auch ihr, was man arbeitet, wie gearbeitet wird und wer arbeitet, welche Komplotte geschmiedet werden und welche Mittel man in Betracht zieht... Deshalb kann ich mit dir sprechen. Ich könnte es nicht mit den anderen tun... Denn was ich leiden und mitleiden kann, können die anderen nicht ...»

«Meister, aber wie kannst du, da du alles weißt, so sein... Wer kommt den Pfad herauf?» Samuel steht auf, um nachzusehen. Er ruft aus: "Judas! "

«Ja, ich bin es. Sie haben mir gesagt, der Meister sei hierher gekommen, und statt ihm finde ich nun dich. Ich gehe wieder und überlasse dich deinen Gedanken.» Und Judas lacht einmal mehr sein kurzes, unaufrichtiges Lachen, das unheimlicher ist als das Klagen eines Käuzchens.

«Ich bin auch da. Verlangt man nach mir im Dorf?» fragt Jesus, der hinter Samuel auftaucht.

«Oh! Du? Dann warst du ja in guter Gesellschaft, Samuel! Und auch du, Meister...»

«O ja, die Gesellschaft eines Menschen, der nach Gerechtigkeit strebt, ist immer gut. Du hast mich gesucht, um bei mir sein zu können. Komm

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also. Es ist Platz für dich und auch für Johannes, wenn er bei dir sein sollte.»

«Er ist unten. Er hat mit Pilgern zu tun.»

«Wenn Pilger gekommen sind, muß ich gehen.»

«Nein, sie bleiben alle bis morgen. Johannes bereitet eben unsere Betten für ihren Aufenthalt vor. Er ist glücklich, es tun zu können. Alles macht ihn halt immer glücklich. Ihr beiden ähnelt euch wirklich. Ich kann nicht verstehen, wie ihr es fertigbringt, immer glücklich zu sein, auch über die... schmerzhaftesten Dinge.»

«Die gleiche Frage wollte ich gerade stellen, als du gekommen bist», ruft Samuel aus.

«Tatsächlich? Dann bist also auch du nicht glücklich und wunderst dich, wie andere, die sich in noch schwierigeren Situationen befinden, glücklich sein können.»

«Ich bin nicht unglücklich. Ich spreche nicht von mir. Ich frage mich, aus welchen Quellen der Friede des Meisters kommt, der über seine Zukunft nicht im unklaren ist und sich trotzdem durch nichts erschüttern läßt.»

«Nun, aus den himmlischen Quellen! Das ist doch klar! Er ist Gott. Zweifelst du vielleicht daran? Kann ein Gott leiden? Er steht über dem Schmerz. Die Liebe des Vaters ist für ihn wie... wie berauschender Wein. Und berauschender Wein ist für ihn die Überzeugung, daß seine Handlungen... das Heil der Welt bedeuten. Und dann... Kann er dieselben physischen Reaktionen haben wie wir einfachen Menschen? Das widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Wenn Adam, als er noch unschuldig war, keinerlei Schmerz kannte und ihn auch nie kennengelernt hätte, wenn er unschuldig geblieben wäre, wie kann dann Jesus, der... absolut Unschuldige, das Geschöpf... ich weiß nicht, ob ich ihn ungeschaffen nennen soll, da er Gott ist, oder geschaffen, da er Eltern hat... Oh, wie viele "Warum", die auch für die zukünftigen Menschen unbeantwortet bleiben werden, mein Meister! Wenn also Adam durch die Unschuld frei von Schmerz war, ist es dann denkbar, daß Jesus leiden muß?»

Jesus hat sich wieder ins Gras gesetzt und das Haupt gesenkt. Die Haare fallen wie ein Schleier über sein Gesicht. Daher kann ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen.

Samuel, der Judas gegenübersteht, entgegnet: «Aber wenn er der Erlöser sein soll, dann muß er wirklich leiden. Erinnerst du dich nicht an David und Isaias?»

«Ich erinnere mich! Ich erinnere mich! Doch sie, die die Gestalt des Erlösers sahen, wußten nichts von der überirdischen Hilfe, die dem Erlöser zuteil werden würde, um... gemartert zu werden, ohne Schmerzen zu empfinden.»

«Und welche Hilfe? Ein Geschöpf kann den Schmerz lieben und ihn

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geduldig ertragen, je nach der Vollkommenheit seiner Gerechtigkeit. Aber es wird den Schmerz immer empfinden. Sonst ... wenn es ihn nicht fühlen würde... wäre es ja kein Schmerz.»

«Jesus ist der Sohn Gottes.»

«Aber er ist kein Gespenst! Er ist aus Fleisch und Blut! Und das Fleisch leidet, wenn es gequält wird. Er ist ein wahrer Mensch! Und die Seele des Menschen leidet, wenn er beleidigt und gekränkt wird.»

«Seine Vereinigung mit Gott schließt bei ihm diese menschlichen Reaktionen aus.»

Jesus hebt das Haupt und sagt: «Wahrlich, ich sage dir, o Judas, daß ich leide und leiden werde wie jeder andere Mensch, und mehr als jeder andere Mensch. Aber ich kann trotzdem glücklich sein in dem heiligen und geistigen Glücksgefühl jener, die sich mit dem Willen Gottes als ihrer einzigen Braut vermählt haben und dadurch von der irdischen Traurigkeit befreit sind. Ich kann es, weil ich die menschliche Auffassung von Glück überwunden habe, die Unruhe des Glücks, so wie es sich die Menschen vorstellen. Ich verfolge nicht das, was für den Menschen das Glück bedeutet, sondern finde meine Freude gerade im Gegenteil dessen, was der Mensch dafür hält. Die Dinge, die der Mensch flieht und verachtet, weil er sie als Last und Schmerz empfindet, sind für mich die süßesten. Ich betrachte nicht die Stunde. Ich betrachte die Folgen, die die Stunde für die Ewigkeit haben kann. Meine Zeit geht zu Ende, doch die Frucht dieser Zeit bleibt. Mein Schmerz wird ein Ende haben, aber der Wert dieses Schmerzes ist unendlich. Was nützt mir eine sogenannte "glückliche Stunde" auf dieser Erde, eine Stunde, die ich nach Jahren und Jahrzehnten, nach langem Sehnen erreicht habe, wenn ich diese Stunde dann nicht als Freude mit mir in die Ewigkeit nehmen könnte, wenn ich sie allein genießen müßte, ohne sie mit denen zu teilen, die ich liebe?»

«Ja, aber wenn du triumphieren würdest, dann hätten wir, deine Jünger, teil an deiner Freude!» ruft Judas aus.

«Ihr? Wer seid denn ihr, im Vergleich zur Vielzahl der gewesenen, der gegenwärtigen und der zukünftigen Menschen, für die mein Schmerz Freude bedeuten wird? Ich blicke über das irdische Glück hinaus. Mein Blick reicht weiter, zum Übernatürlichen. Ich sehe meinen Schmerz sich in ewige Freude verwandeln für eine Vielzahl von Geschöpfen. Ich nehme den Schmerz an als die größte Kraft, das vollkommene Glück zu erreichen, das darin besteht, den Nächsten zu lieben, zu leiden, um ihm die Freude zu erlangen, und sogar für ihn zu sterben.»

«Ich verstehe dieses Glück nicht», erklärt Judas.

«Du bist noch nicht weise. Sonst würdest du es begreifen.»

«Und Johannes ist es? Er ist unwissender als ich!»

«Menschlich gesehen schon. Aber er besitzt die Weisheit der Liebe.»

«Nun gut, aber ich glaube nicht, daß die Liebe die Prügel hindert,

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Prügel zu sein, und die Steine, Steine zu sein, und das Fleisch zu verwunden, das sie treffen. Du sagst immer, daß du den Schmerz liebst, da er für dich Liebe bedeutet. Aber wenn du wirklich gefangengenommen und gemartert werden solltest... wenn so etwas möglich ist... dann weiß ich nicht, ob du noch derselben Meinung sein wirst. Denke daran, solange du noch dem Schmerz entgehen kannst. Er wird schrecklich sein, weißt du? Wenn es den Menschen gelingt, dich gefangenzunehmen... oh, dann würden sie keine Rücksicht nehmen!»

Jesus schaut ihn an. Er ist totenbleich. Seine weitgeöffneten Augen scheinen außer dem Gesicht des Judas alle Qualen und Martern, die ihn erwarten, zu sehen; doch in ihrer Trauer bleiben sie sanft und gütig und vor allem ruhig: zwei reine Augen eines Unschuldigen im Frieden. Er antwortet: «Ich weiß es. Ich weiß auch das, was du nicht weißt. Aber ich vertraue auf die Barmherzigkeit Gottes. Er, der den Sündern barmherzig ist, wird auch mir Barmherzigkeit erweisen. Ich bitte ihn nicht darum, nicht leiden zu müssen, sondern darum, auf die richtige Art zu leiden. Und nun wollen wir gehen. Samuel, geh etwas voraus und sage Johannes, daß ich bald im Dorf sein werde.»

Samuel verneigt sich und eilt davon.

Jesus beginnt ebenfalls hinabzusteigen. Der Pfad ist so schmal, daß einer hinter dem anderen gehen muß. Dies hindert jedoch Judas nicht daran zu reden: «Du traust diesem Mann zu sehr, Meister. Ich habe dir gesagt, wer er ist. Er ist der schwärmerischste und am leichtesten erregbare Schüler des Jonathan. Nun, jetzt ist es zu spät. Du hast dich seinen Händen ausgeliefert. Er ist ein Spion an deiner Seite. Und du hast mehr als einmal gedacht, und häufiger noch die anderen als du, daß ich es bin. Ich bin kein Spion.»

Jesus bleibt stehen und wendet sich um. Schmerz und Majestät vereinen sich auf seinem Antlitz und in seinem Blick, der den Apostel durchbohrt. Er sagt: «Nein, kein Spion. Du bist ein Dämon! Du hast der Schlange das Vorrecht der Verführung und des Betrugs geraubt, um von Gott zu trennen. Dein Betragen ist weder ein Stein noch ein Prügel. Aber es verwundet mich mehr als Steine und Prügel. Oh, in meinem furchtbaren Leiden wird nichts das Martyrium übertreffen, das mir dein Betragen bereitet.» Jesus bedeckt sein Antlitz mit den Händen, wie um das Furchtbare zu verbergen, und geht dann rasch den Pfad hinunter.

Judas schreit hinter ihm her: «Meister! Meister! Warum betrübst du mich so? Dieser Falsche hat mich wahrscheinlich verleumdet... Höre mich an, Meister!»

Jesus hört nicht. Er eilt, er fliegt den Abhang hinab. Vorbei an den Waldarbeitern und den Hirten, die ihn grüßen. Er läuft vorbei, erwidert die Grüße, bleibt aber nicht stehen. Judas fügt sich und schweigt...

Sie sind fast unten, als sie Johannes begegnen, der ihnen mit seinem

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reinen, von einem sanften Lächeln erhellten Gesicht entgegenkommt. Er führt einen zwitschernden kleinen Knaben an der Hand, der an einer Honigwabe saugt.

«Meister, hier bin ich! Es sind Leute aus Caesarea Philippi. Sie haben erfahren, daß du hier bist und sind gekommen. Aber es ist eigenartig! Niemand hat etwas gesagt, und doch wissen alle, wo du bist! Sie ruhen sich nun aus. Sie sind sehr müde. Ich habe gerade bei Dina Milch und Honig geholt, denn sie haben auch einen Kranken bei sich. Ich habe ihn auf mein Lager gebettet. Ich habe keine Angst. Und der kleine Annas wollte mit mir kommen. Faß ihn nicht an, Meister, er ist ganz mit Honig beschmiert», und der gute Johannes, dessen Gewand schon ganz voller Honig und klebriger Fingerabdrücke ist, lacht. Er lacht und hält das Kind zurück, das Jesus seine halb ausgelutschte Honigwabe geben möchte und ruft: «Komm. Es gibt noch viele für dich.»

«Ja. Sie holen dort bei Dina gerade die Waben heraus. Ich habe es gewußt. Ihre Bienen haben erst vor kurzem geschwärmt», erklärt Johannes.

Sie setzen ihren Weg fort und erreichen das erste Haus, wo immer noch das Tamtam ertönt, das die Imker machen; wozu, weiß ich nicht genau. Trauben von Bienen – sie gleichen großen Trauben eines fremdartigen Weinstockes – hängen von einigen Zweigen herunter und Männer nehmen sie ab, um sie in neuen Bienenstöcken unterzubringen. In einiger Entfernung summen und arbeiten die unermüdlichen Bienen schon in neuen Stöcken.

Die Männer grüßen, und eine Frau kommt mit schönen Waben herbei und bietet sie Jesus an.

«Warum willst du sie hergeben? Du hast Johannes schon einige gegeben.»

«Oh, meine Bienen haben dieses Jahr viel Honig gesammelt. Ich kann gut etwas davon abgeben. Aber segne du die neuen Schwärme. Schau, nun nehmen sie den letzten Schwarm ab. Dieses Jahr haben sich die Bienenvölker verdoppelt.»

Jesus geht zu den kleinen Bienenstädten, erhebt die Hand und segnet eine nach der anderen unter dem Gesumme der Arbeitsbienen, die sich bei ihrer Arbeit nicht stören lassen.

«Alle sind voller Freude und in Bewegung... Ein neues Heim...» sagt ein Mann.

«Und neue Hochzeiten. Sie gleichen wahrhaft Frauen, die eine Hochzeit vorbereiten», sagt ein anderer.

«Ja, aber die Frauen schwatzen mehr als sie arbeiten. Diese hier arbeiten schweigend, und sie arbeiten selbst an den festlichen Tagen der Hochzeit. Sie arbeiten immer, um sich ihr Reich und ihre Schätze zu schaffen», antwortet ein Dritter.

«Immer in Tugendhaftigkeit zu arbeiten ist erlaubt, es ist sogar eine

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Pflicht. Immer nur für den Gewinn zu arbeiten jedoch nicht. Das tun nur jene, die nicht wissen, daß sie einen Gott haben, der an seinem Tag geehrt werden muß. Schweigend zu arbeiten ist eine Tugend, die alle von den Bienen lernen sollten. Denn im Schweigen macht man alle Arbeiten heiligmäßig. Eure Gerechtigkeit soll wie eure Bienen sein. Unermüdlich und schweigsam. Gott sieht. Und Gott belohnt. Der Friede sei mit euch», sagt Jesus. Und als er mit seinen beiden Aposteln wieder allein ist, sagt er: «Und besonders den Arbeitern des Herrn gebe ich die Bienen zum Vorbild. Sie speichern im verborgenen des Bienenstocks den in ihrem Inneren in unermüdlicher Arbeit an gesunden Blütenkronen entstandenen Honig. Ihre Mühe scheint keine Mühe zu sein, so groß ist der gute Wille, mit dem sie es tun, wenn sie wie goldene Punkte von Blume zu Blume fliegen und dann mit Nektar beladen in ihre Zellen zurückkehren, um in dieser Abgeschiedenheit ihren Honig zu bereiten. Man müßte es verstehen, sie nachzuahmen. Man müßte gesunde Lehren und Freundschaften wählen, die den Nektar wahrer Tugend schenken können; und sich dann absondern, um das eifrig Gesammelte zu Tugend und Gerechtigkeit zu verarbeiten, die wie der Honig aus vielen guten Elementen zusammengesetzt sind, nicht zuletzt dem guten Willen, ohne den die da und dort gesammelten Säfte wertlos wären. Im Innern des Herzens müßte man demütig über das nachdenken, was man Gutes gesehen und gehört hat, und man dürfte keine Eifersucht empfinden, weil es neben den Arbeitsbienen auch Königinnen gibt, weil es also solche gibt, die gerechter als der Nachdenkende sind. Alle Bienen eines Volkes sind nötig, Arbeitsbienen und Königinnen. Wehe, wenn alle Königinnen wären; wehe, wenn alle Arbeiterinnen wären. Sowohl die einen als auch die anderen würden sterben; denn die Königinnen hätten keine Nahrung, um sich zu vermehren, wenn es keine Arbeitsbienen gäbe, und es würde keine Arbeitsbienen geben, wenn die Königinnen nicht für Nachkommenschaft sorgten. Beneidet die Königinnen nicht. Auch sie haben ihre Mühe und ihre Buße. Sie sehen die Sonne nur ein einziges Mal, bei ihrem einzigen Hochzeitsflug. Zuvor und danach gibt es für sie nur die immerwährende Klausur innerhalb der ambrafarbenen Wände des Bienenstockes. Jeder hat seine Aufgabe, jede Aufgabe ist eine Erwählung, und jede Erwählung ist eine Pflicht und eine Ehre. Und die Arbeitsbienen verlieren keine Zeit mit unnützen oder gefährlichen Flügen auf kranke und giftige Blüten. Sie stürzen sich nicht in Abenteuer. Sie werden ihrer Aufgabe nicht untreu und lehnen sich nicht auf gegen den Zweck, für den sie erschaffen wurden. Oh, ihr bewundernswerten kleinen Wesen! Wieviel könnt ihr die Menschen lehren... !»

Jesus schweigt und verliert sich in eine seiner Betrachtungen. Judas erinnert sich plötzlich, daß er wer weiß wohin gehen muß, und entfernt sich in größter Eile. So bleiben Jesus und Johannes allein. Johannes beobachtet Jesus unbemerkt. Ein aufmerksamer Blick voll liebender Sorge.

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Jesus hebt das Haupt, wendet sich etwas zur Seite und begegnet dem Blick des Lieblingsjüngers, der ihn studiert. Das Antlitz Jesu erhellt sich, während er Johannes an sich zieht.

So umarmt gehen sie weiter und Johannes fragt: «Nicht wahr, Judas hat dich wieder gekränkt? Er muß auch Samuel beunruhigt haben.»

«Warum? Hat er mit dir darüber gesprochen?»

«Nein. Aber ich habe verstanden. Er hat nur gesagt: "Normalerweise wird man gut, wenn man mit einem wahrhaft Guten zusammenlebt. Aber Judas ist nicht gut, obgleich er schon drei Jahre mit dem Meister zusammenlebt. Er ist durch und durch verdorben und die Güte des Christus kann nicht in ihn eindringen, da er voller Bosheit ist." Ich wußte nicht, was ich sagen sollte... denn es ist wahr... Warum ist Judas nur so? Ist es denn möglich, daß er sich nie ändert? Und doch... Wir haben alle die gleichen Unterweisungen erhalten... und als er zu uns kam, war er auch nicht schlechter als wir.»

«Mein Johannes! Mein guter Junge!» Jesus küßt ihn auf die so reine, offene Stirn und flüstert in die weichen blonden Haare: «Es gibt Geschöpfe, die anscheinend nur dazu leben, um das Gute in sich zu zerstören. Du bist Fischer und weißt, wie ein Segel reagiert, wenn es von eine

Sturmwind erfaßt wird. Es legt sich so sehr auf das Wasser, daß das Boot zu kentern droht; es wird zur Gefahr und man muß es einziehen und au den Flügel, der zum Nest trägt, verzichten. Denn das vom Sturm erfaßte Segel ist nicht mehr Flügel, sondern Ballast, der auf den Grund zieht und zum Tod führt, anstatt zur Rettung. Wenn aber der heftige Atem des Sturmes sich beruhigt, vielleicht nur für wenige Augenblicke, dann wird das Segel sofort zum Flügel und treibt das Boot eilends dem rettenden Hafen zu. So ist es bei vielen Seelen. Es genügt, daß der Sturm der Leidenschaft sich legt, und die gebeugte Seele, die fast überflutet wird von... dem, was nicht gut ist, richtet sich auf und strebt erneut dem Guten zu.»

«Ja, Meister... Aber sage mir... wird Judas je deinen Hafen erreichen?»

«Oh, laß mich nicht in die Zukunft eines meiner Teuersten schauen. Ich habe die Zukunft von Millionen Seelen vor Augen, für die meine Leiden umsonst sein werden... ! Ich habe alle Schlechtigkeiten der Welt vor Augen... Der Ekel würgt mich. Der Ekel, den ich beim Anblick dieser gärenden Abscheulichkeiten empfinde, die wie ein Sturm die Erde überschwemmen und sie in verschiedenartiger, aber für die Vollkommenheit immer auf schreckliche Art überschwemmen werden. Laß mich diese Dinge nicht schauen! Laß, daß ich mich erquicke und stärke an einer Quelle, die von Verderbtheit nichts weiß; daß ich die Wurmstichigkeit so vieler vergesse und nur dich, meinen Frieden, betrachte!» Und Jesus blickt in die klaren Augen seines jungfräulichen, liebenden Jüngers und küßt ihn noch einmal auf die Stirn...

Sie gehen ins Haus. In der Küche ist Samuel und spaltet Holz, um der alten Frau die Mühe des Feuermachens zu ersparen.

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Jesus wendet sich der Frau zu: «Schlafen die Pilger?»

«Ich glaube schon. Man hört keinen Laut. Nun bringe ich den Reittieren, die unten im Holzschuppen sind, dieses Wasser...»

«Laß mich es tun, Mutter. Geh lieber zu Rachel. Sie hat mir frischen Käse versprochen. Sage ihr, daß ich ihn am Sabbat bezahlen werde», sagt Johannes und nimmt die beiden randvollen Wassereimer.

Jesus und Samuel bleiben allein zurück. Jesus geht zu dem Mann, der über die Feuerstelle gebeugt ist und bläst, um die Flammen zu beleben, und legt ihm eine Hand auf die Schulter mit den Worten: «Judas hat uns dort oben unterbrochen... Ich möchte dir noch sagen, daß ich dich am Tag nach dem Sabbat mit meinen Aposteln aussenden werde. Vielleicht ziehst du das vor...»

«Danke, Meister. Es tut mir leid, nicht in deiner Nähe bleiben zu können. Doch in deinen Aposteln finde ich dich wieder. Es ist mir lieber, weit weg von Judas zu sein. Ich hatte nicht den Mut, dich darum zu bitten ...»

«Gut, es ist also abgemacht. Und habe Mitleid mit ihm, wie auch ich es habe. Sprich weder mit Petrus noch mit sonst jemandem darüber ...»

«Ich kann schweigen, Meister.»

«Später werden die Jünger kommen. Unter ihnen sind Hermas, Stephanus und Isaak, zwei Gelehrte und ein Gerechter, und viele andere. Du wirst dich wohlfühlen, wie unter wahren Brüdern.»

«Ja, Meister. Du verstehst und hilfst. Du bist wahrlich der gute Meister», und Samuel neigt sich, um Jesu Hand zu küssen.

621. DIE ANKUNFT DER MUTTER UND DER JÜNGERINNEN IN EPHRAIM

Im Haus der Maria des Jakob sind schon alle auf den Beinen, obwohl es gerade erst Tag wird. Es muß ein Sabbat sein, denn ich sehe auch die Apostel, die die Woche über auf Mission sind. Feuer werden angefacht, um Wasser zu wärmen, und Maria läßt sich beim Sieben des Mehls und beim Kneten des Teigs für das Brot helfen. Das alte Frauchen ist sehr aufgeregt, aufgeregt wie ein kleines Mädchen, während sie bei ihrer emsigen Arbeit immer wieder diesen oder jenen fragt: «Wird es gewiß heute sein? Sind die anderen Räume bereit? Seid ihr sicher, daß es nicht mehr als sieben sein werden?»

Petrus, der ein Lamm häutet und es zum Braten vorbereitet, antwortet für alle: «Sie sollten schon vor dem Sabbat hier sein; aber vielleicht waren die Frauen noch nicht fertig und haben sich deshalb verspätet. Doch heute werden sie ganz sicher kommen. Oh, wie glücklich ich bin! Ist der Meister hinausgegangen? Vielleicht geht er ihnen entgegen...»

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«Ja, er ist mit Johannes und Samuel hinaus und in Richtung der Straße gegangen, die in das Innere von Samaria führt», antwortet Bartholomäus und verläßt dann mit einem Krug kochenden Wassers die Küche.

«Dann können wir sicher sein, daß sie kommen. Jesus weiß immer alles», versichert Andreas.

«Ich möchte nur wissen, warum du so lachst? Was gibt es zu lachen, wenn mein Bruder spricht?» fragt Petrus, der das spöttische Lachen des müßig in einer Ecke sitzenden Judas bemerkt hat.

«Ich lache nicht über deinen Bruder. Ihr seid alle so glücklich; also kann doch auch ich es sein und ohne einen besonderen Grund lachen.»

Petrus betrachtet ihn mit vielsagender Miene, wendet sich dann aber wieder seiner Arbeit zu.

«Schaut nur! Es ist mir gelungen, einen blühenden Zweig zu finden. Er ist zwar nicht von einem Mandelbaum, wie ich es wollte; aber sie hat nach der Mandelblüte auch immer andere Zweige im Haus und wird mit meinem zufrieden sein», sagt Thaddäus, der gerade hereinkommt und von Tau tropft, als wäre er im Wald gewesen. Er bringt einen Bund blühender Zweige, ein Wunder taubedeckter Reinheit, das die Küche zu erhellen und zu verschönern scheint.

«Oh, wie schön! Wo hast du sie gefunden?»

«Bei Noemi. Ich wußte, daß ihre Obstbäume immer später blühen, weil sie den Nordwinden ausgesetzt sind. Also bin ich dort hinaufgestiegen.»

«Deshalb siehst du auch wie Gewächs des Waldes aus! Die Tautropfen glänzen in deinen Haaren und haben dein Gewand ganz naß gemacht.»

«Der Weg war so naß wie nach einem Regen. Das ist schon der reichliche Tau der schönsten Monate.» Thaddäus geht mit seinen Blüten, doch schon bald ruft er seinen Bruder, der ihm bei der Anordnung der Zweige helfen soll.

«Ich komme. Ich verstehe etwas davon. Frau, hast du nicht eine Amphore mit schlankem Hals, möglichst aus rotem Ton?» sagt Thomas.

«Ich habe, was du suchst, und auch noch andere Vasen... Ich habe sie immer an den Festtagen gebraucht... bei den Hochzeiten meiner Kinder oder anderen wichtigen Anlässen. Wenn du warten kannst, bis ich diese Fladen in den Ofen geschoben habe... einen Augenblick nur... dann öffne ich dir die Truhe, in der ich die schöneren Sachen aufbewahrt habe... Ach! Wenige sind es jetzt, nach so viel Unglück. Aber einige habe ich behalten... Sie sind ein Andenken... und auch ein Schmerz, denn wenn sie auch freudige Erinnerungen beinhalten, so machen sie mich nun traurig, da sie mich an das erinnern, was nicht wiederkehrt.»

«Dann wäre es besser, wenn dich niemand darum gebeten hätte. Hoffen wir nur, daß es uns nicht so ergeht wie in Nob. Viel Aufwand für nichts ...» bemerkt Iskariot.

«Wenn ich dir doch sage, daß uns eine Gruppe von Jüngern

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benachrichtigt hat?! Glaubst du, sie haben geträumt? Sie haben mit Lazarus gesprochen und er hat sie absichtlich vorausgeschickt. Und sie haben uns berichtet, daß die Mutter noch vor dem Sabbat mit dem Wagen des Lazarus hier sein wird, und daß Lazarus und die Jüngerinnen ...»

«Sie sind aber nicht gekommen...»

«Ihr, die ihr diesen Mann gesehen habt, sagt einmal: Macht er nicht Angst?» fragt die Alte und trocknet sich die Hände an der Schürze ab. Ihre Fladen hat sie Jakobus des Zebedäus und Andreas anvertraut, die sie zum Backofen bringen.

«Angst? Warum?»

«Nun, er ist doch ein Mensch, der von den Toten zurückgekehrt ist.»Sie ist zutiefst bewegt.

«Du kannst beruhigt sein, Mutter. Er ist in allem genau wie wir», versichert ihr Jakobus des Alphäus.

«Paß vielmehr auf und schwätze nicht zu viel mit den anderen Frauen, sonst haben wir am Ende ganz Ephraim hier drinnen, um uns zu belästigen», sagt Iskariot gebieterisch.

«Ich habe noch nie unklug dahergeredet, seit ihr hier seid. Weder zu den Leuten aus der Stadt, noch zu den Pilgern. Ich wollte lieber für dumm gehalten werden, als mich für gescheit auszugeben und den Meister zu stören und ihm zu schaden. Und ich werde auch heute schweigen können. Komm mit, Thomas.» Und sie geht hinaus, um ihre verborgenen Schätze hervorzuholen.

«Die Frau fürchtet sich bei dem Gedanken, einen von den Toten Auferstandenen zu sehen», sagt Iskariot und lacht ironisch.

«Sie ist nicht die einzige. Die Jünger haben mir erzählt, daß in Nazareth und ebenso in Kana und in Tiberias große Aufregung herrschte. Einen Menschen, der wieder lebendig wird, nachdem er schon vier Tage im Grab gelegen hat, findet man nicht so leicht wie eine Margarite im Frühling. Auch wir waren ziemlich blaß, als er aus dem Grab kam. Aber könntest du denn nicht etwas arbeiten, anstatt hier unnötig zu schwatzen? Wir arbeiten alle, und es gibt noch so viel zu tun... Geh auf den Markt und kaufe, was nötig ist. Heute kannst du es ja tun. Was wir gekauft haben, wird nicht ausreichen, jetzt, da sie kommen. Und wir konnten nicht mehr in die Stadt zurückkehren, da uns sonst der Einbruch der Dunkelheit dort überrascht hätte.»

Judas ruft Matthäus, als dieser ordentlich gekleidet in die Küche zurückkommt, und die beiden gehen zusammen weg.

Auch der Zelote kommt wieder in die Küche, ebenfalls ordentlich gekleidet, und sagt: «Dieser Thomas! Er ist wahrlich ein Künstler. Mit nichts hat er den Raum wie für ein Hochzeitsmahl hergerichtet. Geht nur und seht ihn euch an.»

Alle außer Petrus, der noch mit seinem Lamm beschäftigt ist, gehen

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um zu schauen. Petrus sagt: «Ich kann es kaum mehr erwarten. Vielleicht wird auch Margziam dabei sein. In einem Monat ist Passah. Sicher ist er schon von Kapharnaum oder Bethsaida aufgebrochen.»

«Es freut mich, daß Maria kommt. Besonders für den Meister. Sie wird ihn mehr als alle anderen trösten. Und er hat das sehr nötig», antwortet der Zelote.

«So sehr! Aber hast du bemerkt, daß auch Johannes traurig ist? Ich habe ihn gefragt. Jedoch ohne Erfolg. In seiner Sanftmut ist er standhafter als wir alle, und wenn er etwas nicht sagen will, dann kann ihn nichts zum Reden bringen. Trotzdem bin ich sicher, daß er etwas weiß. Er ist wie der Schatten des Meisters. Er folgt ihm überallhin und betrachtet ihn immer. Und wenn er sich unbeobachtet glaubt – denn wenn er es merkt, begegnet er deinem Blick mit seinem Lächeln, das auch einen Tiger sanftmütig machen würde – wenn er sich also unbeobachtet glaubt, dann sieht sein Gesicht sehr traurig aus. Versuche doch du einmal, ihn zu fragen. Er hat dich sehr lieb und weiß, daß du vorsichtiger bist als ich...»

«Oh, das stimmt nicht. Du bist für uns alle ein Beispiel der Klugheit geworden. Und man erkennt in dir den alten Simon nicht wieder. Du bist wirklich der Fels, der mit seiner robusten und verständigen Festigkeit uns alle stützt.»

«Ach was! Sag doch so etwas nicht! Ich bin ein armer Mensch. Natürlich... wenn man so viele Jahre mit ihm zusammen ist, wird man ein wenig wie er. Ein wenig ... sehr wenig, aber doch ganz anders, als man vorher war. Alle sind wir ... nein, leider nicht alle... Judas ist immer der gleiche, hier wie beim Trügerischen Gewässer.»

«Gebe Gott, daß er immer der gleiche bleibt!»

«Was willst du damit sagen?»

«Nichts und alles, Simon des Jonas. Wenn der Meister mich hören würde, würde er sagen: "Urteile nicht." Aber dies ist kein Urteil, sondern Furcht. Ich fürchte, Judas ist jetzt noch schlimmer als beim Trügerischen Gewässer.»

«Gewiß ist er das, auch wenn er noch so ist wie damals. Er ist es, denn er müßte sich doch sehr geändert haben, müßte gerechter geworden sein; stattdessen ist er immer der gleiche. Und so hat er nun die Sünde geistiger Trägheit auf sich geladen, was damals nicht der Fall war. Denn zu Anfang war er... zwar schon etwas seltsam... aber noch voll guten Willens. Sag einmal: Gibt es dir nicht zu denken, daß der Meister beschlossen hat, Samuel mit uns auszusenden und alle Jünger, so viele als möglich, beim Neumond des Nisan in Jericho zu versammeln? Zuvor hatte er gesagt, daß der Mann hierbleiben würde... Und er hatte uns zuerst auch verboten zu sagen, wo er sich aufhält. Ich habe den Verdacht ...»

«Nein, mir kommt alles klar und logisch vor. Ganz Palästina kennt nun den Aufenthaltsort des Meisters, man weiß nicht, wie und durch wen. Du

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siehst, es sind Pilger und Jünger aus der Gegend von Kedes bis Engedi, von Joppe bis Bozrah gekommen. Also ist es unnötig, das Geheimnis weiterhin zu bewahren. Zudem nähert sich das Passahfest, und ganz gewiß möchte der Meister seine Jünger um sich haben bei der Rückkehr nach Jerusalem. Das Synedrium behauptet, du hast es gehört, er sei besiegt und habe alle seine Jünger verloren. Und Jesus wird ihnen antworten, indem er an ihrer Spitze in Jerusalem einzieht...»

«Ich habe Angst, Simon! Große Angst... Hast du schon gehört? Alle, auch die Herodianer, haben sich gegen ihn zusammengeschlossen ...»

«Ach ja. Gott helfe uns... !»

«Und warum schickt er Samuel mit uns?»

«Sicher, um ihn auf seine Aufgabe vorzubereiten. Ich sehe keinen Grund zur Aufregung... Es klopft! Gewiß sind es die Jüngerinnen... !»

Petrus wirft seine blutbefleckte Schürze auf einen Stuhl und läuft hinter dem Zeloten her, der an die Haustür stürzt. Aus den verschiedenen Türen kommen alle anderen, die sich im Haus befinden, und rufen: «Sie sind da! Sie sind da!»

Doch als die Türe offen ist, stehen alle so sichtlich enttäuscht vor Elisa und Nike, daß die beiden Jüngerinnen fragen: «Ist irgend etwas passiert?»

«Nein, nein. Aber... wir dachten... es seien die Mutter und die Jüngerinnen aus Galiläa ...» sagt Petrus.

«Ach so. Und nun seid ihr betrübt. Wir hingegen freuen uns sehr, euch zu sehen und zu erfahren, daß Maria bald kommt», sagt Elisa.

«Betrübt nicht... nur etwas enttäuscht. Doch kommt, kommt herein! Der Friede sei mit den guten Schwestern», grüßt sie Thaddäus im Namen aller.

«Und auch mit euch. Ist der Meister nicht da?»

«Er ist mit Johannes Maria entgegengegangen. Wir wissen, daß sie mit dem Wagen des Lazarus von Sichern kommt», erklärt der Zelote.

Sie gehen ins Haus, während Andreas sich um den Esel Elisas kümmert. Nike ist zu Fuß gekommen. Sie reden über alles, was in Jerusalem geschieht, fragen nach den Freunden und den Jüngern... nach Annalia, Maria und Martha, nach dem alten Johannes von Nob, nach Joseph, Nikodemus und vielen anderen. Die Abwesenheit des Judas Iskariot läßt sie in Ruhe und offen miteinander reden.

Elisa, die alte, erfahrene Frau, die Judas schon in Nob begegnet ist, ihn nun recht gut kennt und ihn auch nur "Gott zuliebe" liebt, wie sie ganz offen zugibt, will wissen, ob er im Haus ist. Sie hat bisher aus irgendeiner Laune heraus an den Gesprächen der anderen nicht teilgenommen, und erst, als sie erfährt, daß er einkaufen gegangen ist, sagt sie, was sie weiß: «In Jerusalem scheint sich alles beruhigt zu haben, und nicht einmal die bekannten Jünger werden mehr verhört. Man munkelt, dies sei so, weil

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Pilatus die Herren vom Synedrium ordentlich abgekanzelt und darauf aufmerksam gemacht hat, daß er allein in Palästina Recht spricht und sie deshalb Ruhe geben sollten.»

«Man sagt aber auch», bemerkt Nike, «- und es ist gerade Manaen, der dies sagt, und auch andere, denn Valeria sagt es ebenfalls – daß Pilatus wirklich genug habe von diesem Aufruhr, der das ganze Land in Unruhe versetzt und ihm Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Pilatus sei auch beeindruckt von der Hartnäckigkeit, mit der die Juden ihm einreden wollen, daß Jesus danach trachtet, sich als König ausrufen zu lassen; und wenn nicht die gleichlautend positiven Berichte der Centurionen wären, und vor allem der Einfluß seiner Gattin, könnte es dazu kommen, daß er Jesus bestraft, vielleicht mit dem Exil.»

«Das hätte uns gerade noch gefehlt! Pilatus wäre imstande, es zu tun! Durchaus imstande! Es ist die leichteste römische Strafe und die am meisten angewandte nach der Geißelung. Stellt euch vor: Jesus allein, wer weiß wo, und wir da- und dorthin zerstreut ...» sagt der Zelote.

«Ja, zerstreut! Das sagst du... Mich wird niemand zerstreuen. Ich laufe dem Meister nach...» sagt Petrus.

«Oh, Simon, bildest du dir ein, daß sie dir das erlauben würden? Sie fesseln dich wie einen Galeerensträfling und bringen dich, wohin es ihnen gefällt, vielleicht auf die Galeeren oder in eines ihrer Gefängnisse; dann kannst du deinem Meister nicht mehr nachlaufen», sagt Bartholomäus zu Petrus. Dieser zerzaust sich ratlos und mutlos das Haar.

«Wir werden es Lazarus sagen. Lazarus wird offen zu Pilatus gehen. Und dieser wird ihn sicher gerne empfangen, denn die Heiden lieben es, außergewöhnliche Wesen zu sehen...» sagt der Zelote.

«Lazarus wird vor seiner Abreise schon dort gewesen sein, und Pilatus wird ihn nicht noch einmal sehen wollen!» sagt Petrus bedrückt.

«Dann wird er als Sohn des Theophilus zu ihm gehen. Oder er wird seine Schwester Maria zu den Damen begleiten. Sie waren ja sehr befreundet, als... nun ja, als Maria noch eine Sünderin war...»

«Wißt ihr schon, daß Valeria, nachdem ihr Mann sich von ihr hat scheiden lassen, Proselytin geworden ist? Sie macht Ernst mit ihren Vorsätzen. Sie führt das Leben einer Gerechten und ist für viele von uns ein Beispiel. Sie hat ihre Sklaven freigelassen und unterrichtet nun alle im wahren Glauben. Sie hatte sich ein Haus auf dem Sion gemietet. Aber nun, da Claudia gekommen ist, ist sie zu ihr zurückgekehrt ...»

«Also... !»

«Nein. Sie hat zu mir gesagt: "Sobald Johanna kommt, gehe ich zu ihr. Aber vorläufig will ich Claudia überzeugen." Es scheint, daß es Claudia nicht gelingt, in ihrem begrenzten Glauben an Christus Fortschritte zu machen. Für sie ist er ein Weiser... nicht mehr. Es scheint sogar, daß sie sich vor ihrer Rückkehr in die Stadt durch das Gerede hat beeinflussen lassen

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und sich skeptisch geäußert hat: "Nun ja, er ist ein Mann wie unsere Philosophen, und nicht gerade einer der Besten; denn seine Worte stimmen nicht mit seinem Leben überein." Und sie soll... nun ja, sie soll sich Dinge erlaubt haben, die sie seit einiger Zeit aufgegeben hatte», sagt Nike.

Was nicht anders zu erwarten war. Heidnische Seelen! Eine gute mag darunter sein... aber die anderen! Nichts als Unrat! Unrat!» urteilt Bartholomäus.

«Und Joseph?» fragt Thaddäus.

«Welcher Joseph? Der von Sephoris? Der hat eine Angst... ! Ah! Euer Bruder Joseph ist dagewesen. Er ist gekommen und sofort wieder abgereist, aber über Bethanien, um den Schwestern zu sagen, daß sie den Meister unter allen Umständen daran hindern sollen, in die Stadt zu gehen und sich dort aufzuhalten. Ich bin dabeigewesen und habe es gehört. So habe ich auch erfahren, daß Joseph von Sephoris sehr belästigt wurde und nun große Angst hat. Euer Bruder hat ihn beauftragt, ihn auf dem laufenden zu halten über das, was man im Tempel ausheckt. Der von Sephoris kann es erfahren durch den Verwandten, der mit seiner Schwester oder der Tochter der Schwester seiner Frau verheiratet ist, ich weiß es nicht genau, und der ein Amt im Tempel innehat», sagt Elisa.

«Wieviel Angst! Wenn wir jetzt nach Jerusalem gehen, will ich meinen Bruder zu Annas schicken. Ich könnte selbst hingehen, denn auch ich kenne diesen alten Fuchs sehr gut. Doch Johannes ist besser geeignet. Und Annas mochte ihn sehr gern, damals, als wir noch den Worten dieses alten Wolfs lauschten und glaubten, daß er ein Lamm sei. Ich werde Johannes schicken, denn er bringt es fertig, Schmähungen ohne Widerrede über sich ergehen zu lassen. Ich hingegen... wenn er vor mir Flüche gegen den Meister ausstoßen würde, oder auch nur gegen mich, weil ich ihm folge, ich würde ihn am Kragen packen, würde ihn vermöbeln und zerquetschen, diesen alten Wanst, wie man ein Netz auswindet. Ich würde ihm seine niederträchtige Seele aus dem Leib prügeln, und selbst wenn er alle Soldaten des Tempels und alle Priester um sich hätte!»

«Wenn der Meister dich so reden hören würde!» sagt Andreas entsetzt.

«Gerade weil er nicht da ist, sage ich es!»

«Du hast recht! Du bist nicht der einzige, der solche Gelüste hat. Auch ich habe sie!» sagt Petrus.

«Ich auch, und nicht nur Annas betreffend!» sagt Thaddäus.

«Oh, was das angeht... auch ich möchte einige bedienen. Ich habe eine lange Liste. Diese drei Gerippe von Kapharnaum – ich schließe den Pharisäer Simon aus, denn er scheint mir noch einigermaßen gut zu sein -die beiden Wölfe von Esdrelon und das alte Knochengerüst von Chananias. Und dann... ein Massaker, ich sage es euch, ein Massaker in Jerusalern, und allen voran Elchias. Ich halte es einfach nicht mehr länger aus mit all diesen hinterhältigen Schlangen!» tobt Petrus.

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Thaddäus sagt ganz ruhig – und diese eisige Ruhe macht mehr Eindruck als das Toben des Petrus: «Und ich würde dir dabei helfen. Aber vielleicht würde ich damit anfangen, die Schlangen in unserer Nähe auszuheben.»

«Wen meinst du? Samuel?»

«Nein, nein. Wir haben nicht nur Samuel in unserer Nähe. Es gibt so viele, die ein bestimmtes Gesicht zeigen, deren Seele aber ganz anders ist als ihr Gesicht. Ich lasse sie nicht aus den Augen. Niemals. Ich will ganz sicher sein, bevor ich etwas unternehme. Aber sobald ich sicher bin! Das Blut Davids ist heiß! Und heiß ist auch das Blut der Galiläer. Ich habe beides in mir, von väterlicher und mütterlicher Seite.»

«Sage mir, wenn es soweit ist. Ich werde dir helfen ...» sagt Petrus.

«Nein. Blutrache ist eine Pflicht der Familie. Das ist meine Angelegenheit.»

«Aber Kinder, Kinder! Sprecht doch nicht so. Ist es das, was der Meister lehrt? Ihr gleicht zornigen jungen Löwen, anstatt Lämmern des Lammes. Legt eure Rachsucht ab. Die Zeiten Davids sind schon lange vorüber. Das Gesetz des Blutes und der Vergeltung ist durch Christus aufgehoben. Er läßt die Zehn Gebote unverändert; aber die anderen harten mosaischen Gesetze hebt er auf. Von Moses bleiben die Gebote der Barmherzigkeit, der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, die unser Jesus zusammenfaßt und vervollkommnet in seinem größten Gebot: "Du sollst Gott lieben mit deinem ganzen Gemüte; du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, denen verzeihen, die dich beleidigen, und lieben, die dich hassen." Oh, verzeiht mir, wenn ich als Frau mir erlaubt habe, meine Brüder zu belehren. Es ist so viel größer als ich. Doch ich bin eine alte Mutter. Und eine Mutter darf immer sprechen. Wenn ihr selbst Satan zu euch ruft durch euren Haß gegen die Feinde und den Wunsch nach Rache, dann wird er kommen und euch verderben. Satan ist nicht Stärke. Glaubt mir. Gott ist Stärke, Satan aber Schwäche, Bürde und Abstumpfung. Ihr könntet, wenn Haß und Rache euch erst einmal in Ketten gelegt hätten, keinen Finger mehr rühren; gegen eure Feinde nicht, und nicht einmal, um unseren betrübten Jesus zu liebkosen. Auf, meine Kinder! Alle seid ihr Kinder! Auch ihr, die ihr in meinem Alter oder vielleicht noch älter seid. Alle seid ihr Kinder für eine Frau, die euch liebt; für eine Mutter, die die Freude wiedergefunden hat, Mutter zu sein, indem sie euch alle wie Söhne liebt. Erfüllt mich nicht mit der Angst, noch einmal meine teuren Kinder verloren zu haben, und diesmal für immer. Denn wenn ihr in eurem Haß oder bei einem Verbrechen sterbt, dann seid ihr auf ewig tot, und wir könnten uns nicht mehr dort oben im Jubel um unsere gemeinsame Liebe versammeln: um Jesus. Versprecht mir hier und sofort, mir, die ich euch anflehe, versprecht einer armen Frau, einer armen Mutter, daß ihr nie wieder solche Gedanken hegen werdet. Oh, sie entstellen sogar euer Antlitz. Ich

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erkenne euch nicht wieder, so verändert seid ihr. Wie häßlich macht euch die Rachsucht! Und ihr wart doch so sanft. Was ist denn mit euch los? Hört mir zu! Maria würde euch das gleiche sagen, nur mit etwas mehr Macht, denn sie ist Maria; aber es ist besser, wenn sie nicht den ganzen Schmerz kennt... Oh, arme Mutter! Was geschieht nur? Ich muß wahrhaftig annehmen, daß die Stunde der Finsternis angebrochen ist. Die Stunde, die alle verschlingen wird. Die Stunde, in der Satan in allen König sein wird, nur nicht in dem Heiligen, und alle versuchen wird, auch die Heiligen, auch euch. Die Stunde, da er euch feige, meineidig und grausam macht, wie er selbst es ist! Oh, bis jetzt habe ich immer Hoffnung gehabt und gesagt: "Die Menschen werden Christus nichts anhaben können." Aber nun? Nun habe ich Angst und zittere zum ersten Mal! An diesem klaren Himmel des Adar sehe ich die große Finsternis sich ausbreiten und überhandnehmen; die Finsternis, die den Namen Luzifer trägt und euch alle verdunkeln wird; die Finsternis, die Gifte auf euch regnen lassen und euch krank machen wird. Oh, ich habe Angst!» Elisa, die schon eine Weile lautlos geweint hat, läßt nun das Haupt auf den Tisch sinken, an dem sie sitzt, und schluchzt verzweifelt.

Die Apostel sehen einander an. Sie sind traurig geworden und versuchen, Elisa zu trösten; aber sie weist den Trost zurück und sagt: «Eines, eines nur will ich von euch: euer Versprechen. Zu eurem Besten. Damit Jesus in seinem Schmerz nicht auch noch den größten Schmerz erleiden muß: euch verdammt zu sehen, euch, seine Auserwählten!»

«Aber ja, Elisa. Wenn es das ist, was du willst! Weine nicht, Frau! Wir versprechen es. Höre. Wir werden gegen niemanden auch nur einen Finger erheben. Wir werden nicht einmal schauen, um nicht zu sehen. Weine nicht! Weine nicht! Wir werden denen verzeihen, die uns beleidigen! Wir werden lieben, die uns hassen! Auf, weine nicht mehr.»

Elisa hebt das faltige, tränennasse Gesicht und sagt: «Denkt daran. Ihr habt es mir versprochen! Wiederholt es noch einmal!»

«Wir versprechen es dir, Frau.»

«Meine lieben Söhne, nun gefällt ihr mir wieder. So erkenne ich euch wieder als meine guten Söhne. Und nun, da sich meine Angst gelegt hat und ihr wieder rein seid von der bitteren Hefe, wollen wir alles für die Ankunft Marias vorbereiten. Was ist noch zu tun?» sagt Elisa und wischt sich die letzten Tränen aus den Augen.

«Eigentlich... haben wir schon alles vorbereitet. Wir Männer. Aber Maria des Jakob hat uns dabei geholfen. Sie ist eine Samariterin, aber eine herzensgute Seele. Du wirst sie gleich sehen. Sie ist beim Backofen, um auf das Brot achtzugeben. Sie ist allein, denn ihre Kinder sind tot oder haben sie vergessen, und der Reichtum ist dahin... doch sie kennt keinen Groll...»

«Ach, seht ihr? Seht ihr, daß es jemanden gibt, der verzeihen kann,

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auch bei den Heiden, den Samaritern. Und es muß schrecklich sein, wißt ihr, einem Sohn verzeihen zu müssen... ! Besser tot als ein Sünder! Sagt, seid ihr sicher, daß Judas nicht da ist?»

«Wenn er nicht ein Vogel geworden ist, kann er nicht da sein, da zwar die Fenster offen, aber alle Türen, mit Ausnahme von dieser hier, verschlossen sind.»

«Also... Maria des Simon ist mit ihrem Verwandten in Jerusalem gewesen. Sie ist zum Tempel gegangen, um dort Opfer darzubringen, und hat uns dann besucht. Sie gleicht einer Märtyrerin, so betrübt ist sie! Sie hat mich gefragt, alle hat sie gefragt, ob wir nicht etwas von ihrem Sohn wüßten. Ob er beim Meister sei... ob er immer bei ihm gewesen sei...»

«Was hat denn diese Frau?» fragt Andreas erstaunt.

«Sie hat ihren Sohn. Meinst du nicht, daß das genügt?» fragt Thaddäus.

«Ich habe sie getröstet. Sie wollte noch einmal mit uns in den Tempel. Wir gingen alle zusammen und haben gebetet. Dann ist sie abgereist, immer mit ihrer Angst. Ich sagte ihr: "Wenn du hierbleibst, kannst du bald mit uns zum Meister gehen. Dort wirst du deinen Sohn finden." Sie wußte schon, daß Jesus hier ist. Man wußte es schon bis an die Grenzen Palästinas. Doch sie wollte nicht: "Nein, nein. Der Meister hat mir gesagt, ich solle im Frühjahr nicht in Jerusalem sein. Und ich gehorche. Doch da ich Gott sehr nötig habe, wollte ich, bevor er zurückkommt, zum Tempel hinaufgehen." Und dann hat sie noch etwas Eigenartiges gesagt: "Ich bin unschuldig. Aber die Hölle ist in mir, und ich bin in ihr, so sehr werde ich gepeinigt." Wir haben ihr viele Fragen gestellt, aber sie wollte nichts weiter sagen; weder über ihre Qualen, noch über die Gründe für das Verbot Jesu. Sie hat uns nur gebeten, Jesus und Judas nichts zu sagen.»

«Arme Frau! So wird sie also an Passah nicht in Jerusalem sein?» fragt Thomas.

«Sie wird nicht dort sein.»

«Nun, wenn Jesus ihr das geboten hat, wird er wohl einen Grund haben. Habt ihr gehört? Überall weiß man, daß Jesus hier ist!» sagt Petrus.

«Ja. Und die, die es verkündet haben, haben auch in seinem Namen aufgerufen, sich zu sammeln zum Aufstand "gegen die Tyrannen", haben einige behauptet. Und andere, er würde sich hier aufhalten, weil man ihn entlarvt hat...»

«Immer die gleichen Gründe! Die müssen wahrhaft das ganze Gold des Tempels ausgegeben haben, um diese... ihre Knechte in alle Himmelsrichtungen zu schicken!» bemerkt Andreas.

Es klopft an der Haustür.

«Sie sind da!» Alle eilen hinaus, um zu öffnen.

Es ist jedoch nur Judas mit seinen Einkäufen. Matthäus folgt ihm. Judas sieht Elisa und Nike, grüßt sie und fragt: «Seid ihr allein?»

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«ja. Maria ist noch nicht da.»

«Maria kommt nicht aus südlicher Richtung, daher kann sie nicht bei euch sein. Ich meinte, ob Anastasica nicht da ist?»

«Nein, sie ist in Bethsur geblieben.»

«Warum? Auch sie ist eine Jüngerin. Weißt du denn nicht, daß wir von hier aus zum Passahfest nach Jerusalem aufbrechen werden? Sie hätte kommen sollen. Wenn nicht einmal die Jüngerinnen und die Getreuen vollkommen sind, wer soll es dann sein? Wer wird dann im Gefolge Jesu sein, um das Geschwätz Lügen zu strafen, daß alle ihn verlassen haben?»

«Oh, wenn es nur das ist! Eine arme Frau wird die Lücken nicht füllen. Die Rosen wachsen zwischen Dornen und in verschlossenen Gärten. Ich vertrete Mutterstelle an ihr und habe es so angeordnet.»

«Dann wird sie also an Passah nicht dort sein?»

«Sie wird nicht dort sein.»

«Und so sind es schon zwei!» ruft Petrus aus.

«Was sagst du? Wer: zwei?» fragt der stets mißtrauische Judas.

«Nichts, nichts! Es war nur eine Rechnung von mir. Man kann viele Dinge zählen, oder nicht? Auch die... Fliegen zum Beispiel, die sich auf meinem gehäuteten Lamm dort niederlassen.»

Maria des Jakob kommt herein. Samuel und Johannes folgen ihr und bringen die frischgebackenen Brote. Elisa und Nike grüßen die Frau. Und Elisa fügt mit sanfter Stimme hinzu, um ihr Vertrauen einzuflößen: «Du bist in deinem Schmerz unter Schwestern, Maria. Ich bin allein, denn ich habe Mann und Söhne verloren, und diese dort ist eine Witwe. Daher werden wir uns lieben, denn nur wer Tränen vergossen hat, kann verstehen ...»

Unterdessen sagt Petrus zu Johannes: «Warum bist du hier? Wo ist der Meister?»

«Auf dem Wagen. Mit seiner Mutter.»

«Und du sagst nichts?!»

«Du hast mir keine Zeit dazu gelassen. Es sind alle gekommen. Aber ihr werdet sehen, wie schlecht Maria von Nazareth aussieht. Sie scheint um Jahre gealtert zu sein. Lazarus sagt, sie habe sich sehr geängstigt, als er ihr mitteilte, daß Jesus hierher geflüchtet sei.»

«Warum hat ihr dieser Dummkopf das denn gesagt? Bevor er gestorben ist, war er doch so intelligent. Aber vielleicht ist sein Gehirn im Grab weich geworden und hat sich nicht mehr erholt. Man stirbt nicht ungestraft ...» sagt Judas ironisch und verächtlich.

«Nichts dergleichen! Warte ab, bevor du redest. Lazarus von Bethanien hat es Maria erst unterwegs gesagt, als sie sich über den Weg wunderte, den Lazarus einschlug», sagt Samuel streng.

«Ja, bei seiner ersten Durchreise durch Nazareth sagte er nur: "In einem Monat werde ich dich zu deinem Sohn bringen." Und er sagte nicht

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einmal: "Wir fahren nach Ephraim", als sie schon im Aufbruch begriffen waren, sondern...» sagt Johannes.

«Alle wissen, daß Jesus hier ist. Nur sie soll es nicht gewußt haben?» fragt Judas grob und unterbricht damit Johannes.

«Maria wußte es, sie hatte es gehört. Da jedoch eine Flut von schmutzigen Lügen Palästina überschwemmt, wollte sie keiner dieser Nachrichten Glauben schenken. Sie hat schweigend gelitten und gebetet. Doch als sie unterwegs waren und Lazarus den Weg längs des Flusses einschlug, um die Nazarener und alle aus Kana, Sephoris und Bethlehem in Galiläa irrezuführen ...»

«Ah, kommt auch Noemi mit Myrtha und Aurea?» fragt Thomas.

«Nein. Jesus hat es ihnen verboten. Isaak hat ihnen das Verbot überbracht, als er nach Galiläa zurückgekehrt ist.»

«Dann... werden also auch diese Frauen nicht bei uns sein, wie letztes Jahr.»

«Sie werden nicht bei uns sein.»

«Wieder drei!»

«Auch unsere Frauen und Töchter werden nicht kommen. Der Meister selbst hat es ihnen geboten, bevor er Galiläa verlassen hat. Das heißt, er hat es wiederholt; denn meine Tochter Marianna sagte, Jesus habe es schon letztes Jahr an Passah so angeordnet.»

«Also... sehr gut! Kommen wenigstens Johanna, Salome und Maria des Alphäus?»

«Ja. Auch Susanna.»

«Ganz gewiß auch Margziam... Doch was ist das für ein Lärm?»

«Die Wagen! Die Wagen! Und alle Nazarener, die sich nicht geschlagen gegeben haben und Lazarus gefolgt sind. Auch die von Kana ...» antwortet Johannes und eilt mit den anderen davon.

Durch die offene Tür sieht man ein wildes Durcheinander. Außer Maria, die mit Jesus und den Jüngerinnen in einem Wagen sitzt, und Lazarus und Johanna, die zusammen mit Maria, Matthias, Esther, weiteren Dienerinnen und dem getreuen Jonathan in einem zweiten Wagen gefahren sind, ist eine große Volksmenge da. Bekannte Gesichter und unbekannte Gesichter aus Nazareth, Kana, Tiberias, Naim und Endor. Und Samariter aus allen Dörfern, durch die sie auf der Fahrt gekommen sind, und aus den Nachbardörfern. Sie drängen sich um die Wagen, versperren den Weg und hindern alle daran, auszusteigen oder einzusteigen.

«Was wollen die denn? Warum sind sie gekommen? Wie haben sie es erfahren?»

«Nun, die Nazarener haben sich auf die Lauer gelegt. Und als Lazarus am Abend ankam, um am nächsten Morgen gleich wieder abzureisen, sind sie in die nahen Ortschaften geeilt. Und ebenso die von Kana, denn Lazarus ist dort durchgefahren, um Susanna abzuholen und sich mit Johanna

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zu treffen. Dann sind sie ihm gefolgt oder vorausgeeilt, um Jesus zu sehen und Lazarus zu sehen. Die Leute in Samaria haben davon erfahren und sich ihnen angeschlossen. Und da sind sie nun alle...» erklärt Johannes.

«Du, du hattest Angst, daß der Meister kein Gefolge haben würde, sag, scheint dir das nun genug?» fragt Philippus Iskariot.

«Nun, die sind wegen Lazarus gekommen...»

«Nachdem sie ihn gesehen hatten, hätten sie doch wieder gehen können. Aber sie sind bis hierher gefolgt. Ein Zeichen, daß es auch solche gibt, die wegen des Meisters gekommen sind.»

«Gut. Wir wollen keine unnützen Worte verlieren. Schaffen wir zunächst Platz, damit sie hereinkommen können. Los, ihr Jungen! Damit wir in Übung bleiben. Wir haben schon lange nicht mehr unsere Ellbogen gebraucht, um Jesus einen Weg zu bahnen!» Und Petrus arbeitet sich als erster wie ein Keil durch die hosannarufende, neugierige, ehrerbietige und geschwätzige Menge. Und als es ihm mit Hilfe anderer und vieler Jünger in der Menge gelungen ist, etwas Platz zu schaffen, können sich die Frauen endlich ins Haus flüchten, und ebenso Jesus und Lazarus. Petrus zieht sich als letzter zurück, verrammelt die Tür mit Schlössern und Riegeln und schickt andere zum Gartentor, um auch dieses zu verschließen. «Oh, endlich! Der Friede sei mit dir, Maria, du Gesegnete! Endlich sehe ich dich wieder! Nun ist alles schön, weil du bei uns bist!» grüßt Petrus und verneigt sich bis zum Boden vor Maria. Eine Maria mit so traurigem, bleichem und müdem Gesicht, daß es schon dem Gesicht der Schmerzensmutter gleicht.

«Ja, nun ist alles weniger schmerzlich, da ich hier in seiner Nähe bin.»

«Ich habe dir doch versichert, daß es die Wahrheit ist», sagt Lazarus.

«Du hast recht... Doch als ich erfuhr, daß mein Sohn hier ist, hat sich für mich die Sonne verdunkelt und jeder Friede war dahin... Ich habe verstanden... Oh!» Immer neue Tränen rinnen über die bleichen Wangen.

«Weine nicht, meine Mutter! Weine nicht! Ich war hier bei diesen guten Menschen, bei einer anderen Maria, die ebenfalls Mutter ist...» Jesus begleitet Maria in einen Raum, der zum ruhigen Garten hin gelegen ist. Alle folgen ihm.

Lazarus entschuldigt sich: «Ich mußte es ihr sagen, denn sie kannte die Straße und konnte nicht verstehen, warum ich diese nahm. Sie glaubte dich bei mir in Bethanien... Doch als dann in Sichern ein Mann rief: "Auch wir gehen zum Meister nach Ephraim", konnte ich es nicht mehr verheimlichen... Ich hoffte auch, diesen Leuten dadurch zu entgehen, daß ich bei Nacht aufbrach und wenig benützte Straßen nahm. Aber es war nichts zu machen! In jeder Ortschaft hatten sie Wachen aufgestellt, und während uns eine Schar folgte, gingen andere bereits voraus, um uns anzukündigen.»

Maria des Jakob bringt Milch, Honig, Butter und frisches Brot und

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bietet alles zuerst Maria an. Dabei schaut sie Lazarus von unten bis oben an, halb neugierig und halb ängstlich, und ihre Hand zittert, als sie Lazarus Milch gibt und dabei seine Hand streift. Als sie sieht, daß er wie alle anderen von ihren Fladen ißt, kann sie ein «Oh!» nicht zurückhalten.

Lazarus lacht als erster und sagt liebenswürdig, vornehm und sicher, wie alle Menschen edler Herkunft: «Ja, Frau. Ich esse genau wie du, und dein Brot und deine Milch schmecken mir sehr gut. Gewiß wird mir auch dein Bett gefallen, denn ich spüre die Müdigkeit ebenso wie den Hunger.»Dann wendet er sich den anderen zu und sagt: «Viele fassen mich unter irgendeinem Vorwand an, um zu sehen, ob ich wirklich aus Fleisch und Bein bin, ob ich warm bin und atme. Es ist etwas anstrengend. Sobald meine Mission beendet ist, werde ich mich nach Bethanien zurückziehen. In deiner Nähe, Meister, lenke ich die Leute zu sehr ab. Bis Syrien habe ich geleuchtet, habe ich Zeugnis von deiner Macht abgelegt. Nun verdunkle ich mich. Du allein sollst am Himmel des Wunders leuchten, am Himmel Gottes und vor den Menschen.»

Maria sagt indessen zu der Greisin: «Mein Sohn hat mir gesagt, wie gut du zu ihm gewesen bist. Laß mich dich küssen, um dir damit zu sagen, daß ich dankbar bin. Ich habe nichts, womit ich dich belohnen könnte, außer meiner Liebe. Auch ich bin arm... und auch ich kann sagen, daß ich keinen Sohn mehr habe, denn er gehört Gott und seiner Mission... Und so soll es immer sein, denn heilig und gerecht ist alles, was Gott will.»

Maria ist sanft, doch wie gebrochen vor Kummer... Alle Apostel betrachten sie mit so viel Mitleid, daß sie darüber den Tumult draußen vergessen; und sie vergessen sogar, nach den fernen Angehörigen zu fragen.

Doch Jesus sagt: «Ich gehe auf die Terrasse, um die Leute zu segnen und zu entlassen.» Das rüttelt Petrus auf und er sagt: «Aber wo bleibt denn Margziam? Ich habe alle Jünger gesehen, nur ihn nicht.»

«Margziam ist nicht da», antwortet Salome, die Mutter des Jakobus und des Johannes.

«Was, Margziam ist nicht da? Warum nicht? Ist er krank?»

«Nein, es geht ihm gut. Auch deiner Frau geht es gut. Aber Margziam ist nicht da, weil Porphyria ihn nicht gehen lassen wollte.»

«Dummes Frauenzimmer! In einem Monat ist Passah, und da muß er doch sowieso kommen! Also hätte sie ihn gleich mit euch schicken können, um dem Sohn und mir eine Freude zu machen. Aber sie ist langsamer und schwerer von Begriff als ein Schaf ...»

«Johannes und Simon des Jonas, Lazarus, und du, Simon Zelot, kommt mit mir. Die anderen bleiben, wo sie sind, bis ich die Leute entlassen und die Jünger ausgesondert habe», befiehlt Jesus, geht mit den vier Männern hinaus und schließt die Tür.

Er geht durch den Hausgang in die Küche und dann in den Garten, gefolgt von Petrus, der etwas in seinen Bart brummt, und den anderen.

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Doch bevor Jesus die Terrasse betritt, bleibt er auf der Treppe stehen, dreht sich um und legt eine Hand auf die Schulter des Petrus, der ihn unzufrieden anschaut. «Höre mir gut zu, Simon Petrus, und höre auf, Porphyria zu beschuldigen und zu schelten. Sie ist unschuldig. Sie gehorcht nur meinem Befehl. Ich bin es, der ihr vor dem Laubhüttenfest geboten hat, Margziam nicht nach Judäa kommen zu lassen ...»

«Aber das Passahfest, Herr!»

«Ich bin der Herr, du sagst es. Und als Herr kann ich alles befehlen, denn meine Befehle sind immer gerecht. Quäle dich daher nicht mit unnötigen Skrupeln. Erinnerst du dich, was in Numeri geschrieben steht? "Wenn jemand von euch an einer Leiche unrein geworden ist oder sich auf einer weiten Reise befindet, so soll er das Passah des Herrn am 14. Tage des zweiten Monats gegen Abend halten."»

«Aber Margziam ist doch nicht unrein. Ich hoffe wenigstens, daß Porphyria nicht gerade jetzt die Absicht hat zu sterben. Und er ist auch nicht auf Reisen...» entgegnet Petrus.

«Das macht nichts. Ich will es so. Es gibt Dinge, die noch unreiner machen können als ein Toter. Ich möchte nicht, daß Margziam Schaden leidet. Laß mich nur gewähren, Petrus. Ich weiß, was ich tue. Versuche zu gehorchen, wie deine Frau und auch Margziam es tun. Wir werden mit ihm das zweite Passahfest feiern, am 14. Tag des zweiten Monats. Und wir werden dann sehr glücklich sein. Ich verspreche es dir.»

Petrus macht eine Miene, als wollte er sagen: «Finden wir uns eben damit ab», doch er widerspricht nicht.

Der Zelote bemerkt: «Es ist schon eine Weile, daß du nicht mehr ausrechnest, wie viele an Ostern nicht in der Stadt sein werden ...»

«Ich habe keine Lust mehr, sie zu zählen. All dies erfüllt mich mit einem seltsamen Gefühl... Ein Schauder... Dürfen es die anderen wissen?»

«Nein. Ich habe euch eigens beiseite genommen.»

«Dann habe auch ich Lazarus etwas Vertrauliches zu sagen.»

«Sprich nur. Wenn ich kann, will ich gerne antworten», sagt Lazarus.

«Oh, auch wenn du mir nicht antwortest, macht es nichts. Es genügt mir, wenn du zu Pilatus gehst – die Idee stammt von deinem Freund Simon – und im Gespräch mit ihm so nebenbei herausbekommst, was er mit Jesus im Sinn hat, im Guten oder Bösen... Weißt du... mit Geschick... Denn es wird so viel geredet... !»

«Ich werde es tun, gleich nach meiner Ankunft in Jerusalem. Ich werde über Bethel und Rama anstatt über Jericho nach Bethanien fahren, eine Zeitlang im Palast von Sion verweilen und dann zu Pilatus gehen. Du kannst dich darauf verlassen, Petrus. Ich werde klug und aufrichtig sein.»

«Du wirst nur deine Zeit vergeuden, Freund. Denn Pilatus – du weißt es als Mensch, ich weiß es als Gott – ist nur ein Schilfrohr, das sich je nach dem Wind in die eine oder andere Richtung neigt und auszuweichen

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versucht. Er ist niemals unaufrichtig; denn er ist immer davon überzeugt, daß er tun wird, und er tut in diesem Augenblick auch, was er sagt. Aber einen Augenblick später, wenn der Wind von einer anderen Seite heult, vergißt er – oh! nicht daß er sein Versprechen nicht halten oder sein Wille schwanken würde – einfach alles, was er vorher wollte. Er vergißt, weil das Heulen eines Willens, der stärker ist als der seine, ihm das Gedächtnis nimmt, alle Gedanken fortbläst, die ein anderer Sturm ihm eingegeben hatte, und ihm neue in den Kopf weht. Und die tausend Stimmen des Sturms übertönt die Stimme seiner Frau, die ihm mit Scheidung droht, wenn er nicht tut, was sie will... Und von ihr getrennt, wäre es aus mit seiner Macht, würde er die Gunst des "göttlichen" Caesar verlieren, wie sie sagen, obwohl sie davon überzeugt sind, daß dieser Caesar verwerflicher ist als sie selbst... Denn sie sehen in der Person die Idee; die Idee läßt sogar den Menschen, der sie repräsentiert, unbedeutend werden. Und man kann nicht sagen, daß diese Idee ungebührlich wäre. Denn jeder Staatsbürger liebt sein Vaterland, und es ist auch richtig, daß er es liebt, daß er seinen Triumph wünscht... Der Caesar ist das Vaterland... und so... ist er, selbst wenn er ein Elender ist, groß um dessentwillen, was er repräsentiert. Aber ich wollte nicht vom Caesar sprechen, sondern von Pilatus. Ich sagte also, daß stärker als alle Stimmen, als die seiner Frau und die der Menge, die Stimme – und was für eine Stimme! – des eigenen Ich sich Gehör verschafft. Das kleine Ich des kleinen Mannes, das gierige Ich des gierigen Mannes, das stolze Ich des stolzen Mannes. Diese Kleinheit, dieser Stolz und diese Gier wollen herrschen, um mächtig zu sein, wollen herrschen, um viel Geld und einen Haufen kriechende Untergebene zu haben. Der Haß brütet im Verborgenen, aber der kleine Caesar, Pilatus genannt, unser kleiner Caesar, sieht ihn nicht... Er sieht nur die gebeugten Rücken, die Verehrung und Furcht vortäuschen oder sie manchmal auch wirklich ausdrücken. Und für diese stürmische Stimme des eigenen Ich ist er zu allem bereit. Ich sage: zu allem. Hauptsache, er kann weiterhin Pontius Pilatus, der Prokonsul, der Diener des Caesar, der Beherrscher einer der vielen Regionen des Imperiums bleiben. Und deshalb wird er – auch wenn er mich heute verteidigt – morgen mein Richter sein, mein erbarmungsloser Richter. Die Gedanken der Menschen sind immer unstet, und ganz besonders, wenn der Mensch Pontius Pilatus heißt. Aber du kannst Petrus zufriedenstellen, Lazarus... Wenn ihm das ein Trost ist...»

«Ein Trost nicht... aber eine Beruhigung...»

«Dann stelle unseren guten Petrus zufrieden und geh zu Pilatus.»

«Ich werde es tun, Meister. Aber du hast den Prokonsul dargestellt, wie es kein Geschichtsschreiber oder Philosoph hätte tun können. Ausgezeichnet!»

«Genauso könnte ich den wahren Charakter eines jeden Menschen darstellen. Aber gehen wir nun zu den Leuten, die draußen lärmen.»

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Jesus steigt die letzten Stufen hinauf und zeigt sich der Menge. Er hebt die Arme und sagt mit lauter Stimme: «Leute von Galiläa und Samaria, Jünger und Nachfolger. Eure Liebe, der Wunsch, mir Ehre zu erweisen und meine Mutter und meinen Freund zu ehren, hat euch dem Wagen folgen lassen und mir gezeigt, wie ihr über mich denkt. Ich kann euch für diese Gesinnung nur segnen. Doch nun kehrt nach Hause und zu euren Geschäften zurück. Ihr von Galiläa, geht und sagt den Daheimgebliebeneu, daß Jesus von Nazareth sie segnet. Männer von Galiläa, wir werden uns an Passah in Jerusalem wiedersehen, wo ich am Tag nach dem Sabbat vor dem Passahfest eintreffen werde. Männer von Samaria, geht auch ihr. Und beschränkt eure Liebe zu mir nicht darauf, mich nur auf den irdischen Wegen zu suchen, sondern auch auf denen des Geistes. Geht und laßt das Licht in euch leuchten. Jünger des Meisters, trennt euch von den anderen Getreuen und bleibt in Ephraim, damit ich euch meine Unterweisungen geben kann. Geht und gehorcht.»

«Er hat recht! Wir stören ihn. Er will mit seiner Mutter allein sein!» schreien die Jünger und die Nazarener.

«Wir gehen. Doch zuvor wollen wir ein Versprechen: daß er vor dem Passahfest nach Sichern kommt. Nach Sichern! Nach Sichern!»

«Ich werde kommen. Geht nun. Ich werde kommen, bevor ich zum Passahfest nach Jerusalem gehe.»

«Geh nicht nach Jerusalem! Geh nicht! Bleibe bei uns! Bei uns! Wir werden dich verteidigen. Wir werden dich zu unserem König und Herrscher erheben! Sie hassen dich! Wir lieben dich! Nieder mit den Juden! Es lebe Jesus!»

«Ruhe! Macht keinen Lärm! Meine Mutter leidet unter diesen Rufen, die mir mehr schaden können als ein Wort des Fluches. Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Geht also. Ich werde durch Sichern kommen. Doch entfernt aus euren Herzen den Gedanken, daß ich aus niedriger menschlicher Feigheit und in sakrilegischer Auflehnung gegen den Willen meines Vaters meine Pflicht als Israelit vernachlässigen könnte, den wahren Gott in dem einzigen Tempel, in dem er angebetet werden darf, anzubeten. Ich werde nur in Jerusalem die Krone als Messias erhalten und zum König der ganzen Welt gesalbt werden, entsprechend den Worten und der von den großen Propheten geschauten Wahrheit.»

«Höre auf damit! Es gibt keine anderen Propheten nach Moses! Du machst dir falsche Hoffnungen.»

«Ihr auch. Seid ihr vielleicht frei? Nein. Wie heißt Sichern jetzt? Was ist der neue Name? Und was für Sichern gilt, gilt auch für viele andere Städte von Samaria, Judäa und Galiläa; denn der römische Schmelztiegel macht uns alle gleich. Heißt eure Stadt vielleicht Sichern? Nein, Neapolis heißt sie. So wie Bethsean Scythopolis heißt und viele andere Städte, die, sei es auf Befehl der Römer, sei es aus kriegerischer Untertänigkeit, den

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von den Herren oder von der Schmeichelei auferlegten Namen angenommen haben. Und ihr allein wollt stärker sein als eine ganze Stadt, als eure Bezwinger, als Gott? Nein, nichts kann das Schicksal dessen ändern, der zur Rettung aller bestimmt ist. Ich folge dem geraden Weg. Folgt mir nach, wenn ihr mit mir in das ewige Reich eingehen wollt.»

Jesus will sich zurückziehen. Aber das Volk aus Samaria lärmt so sehr, daß die Galiläer reagieren. Gleichzeitig eilen alle im Haus durch den Garten und die Treppe zur Terrasse hinauf. Als erstes erscheint das bleiche, traurige und verängstigte Gesicht Marias hinter Jesus. Die Mutter umarmt ihren Sohn und drückt ihn an sich, als wolle sie ihn vor den Schmähungen schützen, die von unten heraufgeschrien werden: «Du hast uns verraten! Du bist zu uns geflüchtet und hast uns glauben gemacht, daß du uns liebst, während du uns doch nur verachtest! Nun wird man uns durch deine Schuld noch mehr verachten!» und so weiter.

Auch die Jüngerinnen, die Apostel und als letzte die erschrockene Maria des Jakob drängen sich nun um Jesus. Das Geschrei von unten läßt die Ursache des Aufruhrs klar erkennen: «Warum hast du dann deine Jünger gesandt, um uns zu sagen, daß man dich verfolgt?»

«Ich habe niemanden gesandt. Seht dort die Leute von Sichern. Tretet vor. Was habe ich eines Tages auf dem Berg zu euch gesagt?»

«Es ist wahr. Er hat uns gesagt, daß er Gott nur im Tempel anbeten kann, solange nicht der neue Tempel für alle errichtet ist. Meister, es ist nicht unsere Schuld, glaube uns! Diese sind von falschen Boten betrogen und getäuscht worden», sagen die Sichemiten, die vor einiger Zeit die drei Kinder abgeholt haben, die Jesus den Räubern abgenommen hat.

«Ich weiß es. Doch nun geht. Ich werde trotzdem nach Sichern kommen. Ich fürchte niemanden. Aber geht jetzt, um nicht euch selbst und denen eures Blutes zu schaden. Seht ihr dort auf der Straße die Harnische der Legionäre glänzen? Sie sind euch gewiß in einiger Entfernung gefolgt, da sie so viel Volk gesehen haben, und sind dann abwartend im Wald geblieben. Nun sind sie durch euren Lärm angelockt worden. Geht. Ich sage es zu eurem Wohl.»

Tatsächlich sieht man in der Ferne auf der Hauptstraße, die ins Gebirge führt, wo Jesus den Verhungernden gefunden hat, ein vielfaches Aufblitzen, das sich vorwärtsbewegt. Die Leute gehen langsam auseinander. Nur die von Ephraim, die Galiläer und die Jünger bleiben.

«Geht auch ihr in eure Häuser, ihr Leute von Ephraim. Und ihr von Galiläa, macht euch auf den Heimweg. Gehorcht dem, der euch liebt!»

Auch diese gehen. Es bleiben nur die Jünger, und Jesus gebietet, sie ins Haus und in den Garten zu lassen. Petrus geht mit anderen hinunter, um das Tor zu öffnen.

Judas von Kerioth geht nicht hinunter. Er lacht! Er lacht und sagt: «Nun wirst du sehen, wie die "guten Samariter" dich hassen! Du zerstreust

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die Steine zum Bau deines Reiches. Und die zerstreuten Steine eines Baus werden zur Waffe, mit der man zuschlägt. Du hast sie verachtet. Sie werden das nicht vergessen.»

«Sollen sie mich hassen. Ich werde nicht meine Pflicht vergessen aus Furcht vor ihrem Haß. Komm, Mutter. Wir wollen gehen und den Jüngern sagen, was sie zu tun haben, bevor wir sie entlassen.» Jesus geht zwischen Maria und Lazarus die Treppe hinunter und ins Haus, in dem sich bereits die nach Ephraim gekommenen Jünger drängen. Er gibt ihnen die Anweisung, überall hinzugehen und den Gefährten auszurichten, daß sie am Neumond des Nisan in Jericho sein und ihn dort erwarten sollen. Den Bewohnern der Orte, durch die sie kommen, sollen sie sagen, daß er Ephraim verläßt und sie ihn am Passahfest in Jerusalem finden werden.

Dann teilt Jesus die Jünger in Dreiergruppen auf und vertraut Isaak, Hermas und Stephanus den neuen Jünger Samuel an, den Stephanus so begrüßt: «Die Freude, dich im Licht zu sehen, lindert meinen Schmerz darüber, daß sich alles zum Schlechten für den Meister wendet.»

Hermas grüßt ihn so: «Du hast einen Menschen für einen Gott verlassen. Und Gott ist nun wahrlich mit dir.»

Der scheue und demütige Isaak sagt nur: «Der Friede sei mit dir, Bruder.»

Nachdem die Leute aus Ephraim, um ihren guten Willen zu zeigen, Brot und Milch angeboten haben, gehen auch die Jünger fort, und endlich kehrt Ruhe ein... Doch während das Lamm zubereitet wird, hat Jesus noch zu tun. Er nähert sich Lazarus und sagt zu ihm: «Komm mit mir zum Bach.»

Lazarus gehorcht wie üblich sofort. Sie entfernen sich ungefähr zweihundert Meter vom Haus. Lazarus schweigt und wartet, daß Jesus spricht. Und Jesus sagt: «Ich wollte dir sagen: Meine Mutter ist sehr niedergeschlagen. Du hast es gesehen. Schicke deine Schwestern hierher. Ich werde mich wirklich mit allen Aposteln und den Jüngerinnen nach Sichem begeben. Doch dann will ich sie nach Bethanien vorausschicken, während ich noch eine Weile in Jericho bleibe. Hier in Samaria kann ich es noch wagen, Frauen bei mir zu haben. Anderswo geht es nicht mehr ...»

«Meister, fürchtest du wirklich... Oh, wenn es so ist, warum hast du mich ins Leben zurückgerufen?»

«Damit ich einen Freund habe.»

«Oh, wenn es deshalb geschehen ist... Hier bin ich. Wenn ich dich mit meiner Freundschaft trösten kann, dann bedeutet mir kein Schmerz mehr etwas.»

«Das weiß ich. Deswegen brauche ich dich und werde ich dich noch brauchen als meinen besten Freund.»

«Soll ich denn wirklich zu Pilatus gehen?»

«Wenn du meinst. Aber nur wegen Petrus, nicht meinetwegen.»

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«Meister, ich werde dich benachrichtigen lassen... Wann wirst du diesen Ort verlassen?»

«In acht Tagen. Die Zeit reicht gerade noch, um hinzugehen, wo ich hingehen möchte, und dann vor dem Passahfest bei dir zu sein. Ich werde mich in Bethanien, der Oase des Friedens, ausruhen, bevor ich mich in den Tumult von Jerusalem stürze.»

«Meister, weißt du, daß das Synedrium beschlossen hat, Anklagen zu erfinden, da es keine echten gibt, um dich zu zwingen, für immer das Land zu verlassen? Ich weiß es vom Synedristen Johannes, den ich zufällig in Ptolemais getroffen habe und der sehr glücklich ist über das Kind, dessen Geburt bevorsteht. Er hat zu mir gesagt: "Es schmerzt mich sehr, daß das Synedrium dies beschlossen hat. Ich hätte gerne den Meister bei der Beschneidung meines Kindes, das hoffentlich ein Junge wird, dabei gehabt. Es müßte in den ersten Tagen des Tammus zur Welt kommen. Aber wird der Meister um diese Zeit noch bei uns sein? Ich würde mich freuen, wenn er den kleinen Emmanuel – und dieser Name wird dir zeigen, wie ich denke – bei seinem ersten Auftreten in der Welt segnen könnte. Denn mein Sohn, der glückliche, wird nicht kämpfen müssen, um glauben zu können, so wie wir es mußten. Er wird in der messianischen Zeit aufwachsen, und es wird ihm leichtfallen, den Gedanken zu akzeptieren." Johannes ist nun überzeugt, daß du der Verheißene bist.»

«Und dieser eine entschädigt mich für das, was viele andere nicht tun. Lazarus, wir wollen uns hier in Ruhe verabschieden. Ich danke dir für alles, mein Freund. Du bist ein wahrer Freund. Mit zehn deinesgleichen wäre es noch schön gewesen, inmitten all dieses Hasses zu leben...»

«Nun hast du deine Mutter, mein Herr. Sie ist zehn und hundert Lazarusse wert. Doch vergiß nicht, was immer du brauchst, werde ich dir beschaffen, wenn es in meiner Macht liegt. Befiehl, und ich werde dein Diener sein, in allem. Ich bin vielleicht nicht weise und heilig wie andere, die dich lieben; aber einen, der treuer ist als ich, wirst du – Johannes ausgenommen – nicht finden. Ich glaube nicht, hochmütig zu sein, wenn ich das sage. Und nun, da wir von dir gesprochen haben, möchte ich dir noch von Syntyche berichten. Ich habe sie gesehen. Sie ist aktiv und klug, wie nur eine Griechin es sein kann, die deine Jüngerin werden durfte. Sie leidet darunter, fern von dir zu sein. Aber sie sagt, daß sie sich freut, deinen Weg bereiten zu dürfen. Sie hofft, dich noch vor ihrem Tod zu sehen.»

«Sie wird mich gewiß sehen. Ich enttäusche nicht die Hoffnung der Gerechten.»

«Sie hat eine kleine Schule, die von Mädchen aus allen umliegenden Orten besucht wird. Und am Abend holt sie einige arme Mädchen gemischter Abstammung, die deshalb keine Religion haben, zu sich und unterrichtet sie in deiner Lehre. Ich habe ihr gesagt: "Warum wirst du nicht Proselytin? Es würde dir viel helfen!' Und sie hat mir zur Antwort

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gegeben: "Ich will mich nicht Israel widmen, sondern den leeren Altären, die auf einen Gott warten. Ich bereite sie vor, meinen Gott zu empfangen. Danach, wenn sein Reich errichtet ist, werde ich in meine Heimat zurückkehren und dort unter dem Himmel von Hellas den Rest meines Lebens damit verbringen, die Herzen für den Meister vorzubereiten. Das ist mein Traum. Doch sollte ich vorher durch Krankheit oder Verfolgung umkommen, so werde ich trotzdem glücklich scheiden; denn es wird ein Zeichen dafür sein, daß ich meine Arbeit getan habe und er seine Dienerin zu sich ruft. Er, den ich von der ersten Begegnung an geliebt habe!'»

«Das ist wahr. Syntyche hat mich wirklich von der ersten Begegnung an geliebt.»

«Ich wollte ihr verschweigen, daß du verfolgt wirst. Doch in Antiochia hallen wie in einer Muschel alle Stimmen des großen römischen Imperiums wider, und daher auch das, was hier geschieht. Und Syntyche kennt deine Leiden. Aber mehr noch schmerzt es sie, so weit entfernt von dir zu sein. Sie wollte mir Geld geben, aber ich habe es abgelehnt und gesagt, sie solle es für ihre Mädchen verwenden. Und ich habe nur eine Kopfbedeckung aus zwei verschiedenen Arten Byssus angenommen, die sie selbst gewebt hat. Deine Mutter hat sie. Syntyche wollte mit dem Faden deine, ihre und die Geschichte des Johannes von Endor aufzeichnen. Und weißt du wie? Sie hat um das Quadrat herum eine Bordüre gewoben, die ein Lamm darstellt, das zwei Tauben gegen eine Meute Hyänen verteidigt. Eine Taube hat gebrochene Flügel, und die andere hat die Kette zerbrochen, mit der sie gefesselt war. Und die Geschichte geht weiter, bis die Taube mit den gebrochenen Flügeln ihren Höhenflug antritt und die andere sich freiwillig in Gefangenschaft zu Füßen des Lammes begibt. Es scheint eine jener Geschichten zu sein, die die Griechen in die Marmorgirlanden ihrer Tempel und in die Grabsäulen ihrer Toten meißeln und ihre Maler auf die Krüge malen. Sie wollte sie dir durch meine Diener schicken. Ich habe sie selbst mitgenommen.»

«Ich werde die Kopfbedeckung tragen, denn sie kommt von einer guten Jüngerin. Gehen wir zum Haus. Wann gedenkst du abzureisen?»

«Morgen bei Sonnenaufgang. Die Pferde brauchen Ruhe. Dann werde ich bis Jerusalem nicht mehr anhalten und gleich zu Pilatus gehen. Wenn ich ihn sprechen kann, werde ich dich durch Maria seine Antwort wissen lassen.»

Sie gehen langsam ins Haus und unterhalten sich dabei über Kleinigkeiten.

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622. JUDAS VON KERIOTH IST EIN DIEB

Jesus befindet sich mit den Jüngerinnen und den beiden Aposteln auf einer der ersten Erhebungen des Berges hinter Ephraim. Johanna hat weder die Kinder noch Esther bei sich. Ich denke, daß sie sie bereits mit Jonathan nach Jerusalem geschickt hat. Es sind also außer der Mutter Jesu nur Maria des Kleophas, Maria Salome, Johanna, Elisa, Nike und Susanna anwesend. Die beiden Schwestern des Lazarus sind noch nicht da.

Elisa und Nike falten Kleider zusammen, die sie offenbar an dem Flüßchen, das man unten schimmern sieht, gewaschen oder vom Bach hierher gebracht und dann an diesem sonnigen Plätzchen zum Trocknen aufgehängt haben. Und nachdem Nike eines dieser Kleider betrachtet hat, gibt sie es Maria Kleophä und sagt: «Auch an diesem hier hat dein Sohn den Saum heruntergerissen.»

Maria des Alphäus nimmt das Gewand und legt es zu den anderen, die neben ihr im Gras liegen.

Alle Jüngerinnen sind dabei, zu nähen und die Schäden auszubessern, die in den vielen Monaten entstanden sind, die die Apostel auf sich selbst angewiesen waren.

Elisa kommt mit anderen getrockneten Kleidern an und sagt: «Man sieht, daß ihr drei Monate lang keine erfahrene Frau bei euch gehabt habt. Kein einziges Gewand ist in Ordnung, ausgenommen das des Meisters, der noch dazu nur zwei besitzt. Das, das er trägt, und das andere, das heute gewaschen worden ist.»

«Er hat sie alle weggegeben. Es sah so aus, als hätte ihn der Wahn gepackt, nichts mehr besitzen zu wollen. Seit vielen Tagen schon trägt er nur das Leinenkleid», sagt Judas.

«Zum Glück hat deine Mutter daran gedacht, dir neue mitzubringen. Diese Purpurfarbe ist wirklich sehr schön. Du hattest es nötig, Jesus, obwohl dir das Linnengewand auch gut steht. Du gleichst darin einer Lilie», sagt Maria des Alphäus.

«Einer sehr großen Lilie, Maria!» spottet Judas.

«Aber einer reinen, was du ganz gewiß nicht bist; und nicht einmal Johannes ist so rein. Du bist zwar auch in Leinwand gekleidet, aber glaube mir, einer Lilie gleichst du wirklich nicht», erwidert Maria des Alphäus offen.

«Ich habe dunkle Haare und eine dunkle Hautfarbe, deshalb bin ich anders.»

«Nein, das hat nichts damit zu tun. Vielmehr bist du zwar äußerlich rein, Jesus aber ist es innerlich; und seine Reinheit strahlt aus seinem Blick, aus seinem Lächeln und aus seinen Worten. Das ist es. Ach, wie gut geht es uns hier bei meinem Jesus...» und die gute Maria legt eine ihrer

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mageren, abgearbeiteten und greisen Hände auf das Knie Jesu, der diese ehrbare Hand streichelt.

Marie Salome, die gerade ein Gewand prüft, ruft entsetzt aus: «Aber das ist ja schlimmer als ein Lumpen! Oh, mein Sohn! Wer hat dir denn das Loch so geflickt?» und empört zeigt sie den Gefährtinnen eine Art... gekräuselten Nabel, einen erhöhten Kreis auf dem Stoff; ein Loch, das mit einigen Riesenstichen zusammengezogen ist, die eine Frau erschaudern lassen. Diese sonderbare Flickarbeit ist der Ausgangspunkt zahlreicher Falten, die sich sternförmig über den Rücken des Gewandes verbreiten. Alle lachen. Johannes, der Urheber dieser Stopfstelle, am meisten. Er erklärt: «Da ich mit dem Loch nicht herumlaufen konnte... habe ich es eben zugemacht.»

«Ich sehe es! Ach du meine Güte! Ich sehe es! Aber hättest du es dir nicht von Maria des Jakob flicken lassen können?»

«Sie ist beinahe blind, die arme Frau! Und dann... das Schlimme ist, daß es nicht nur ein Riß, sondern ein richtiges Loch war. Das Kleid hat sich in einem Holzbündel verhängt, das ich auf dem Rücken trug, und als ich das Bündel absetzte, ging auch ein Stück Stoff mit. Da habe ich es eben so repariert.»

«Da hast du es eben so ruiniert, mein Sohn. Nun müßte ich ...» Sie betrachtet das Kleid, schüttelt den Kopf und sagt: «Ich habe gehofft, den Saum verwenden zu können. Aber der ist schon weg ...»

«Den habe ich in Nob entfernt, weil er zerrissen war. Aber ich habe das abgetrennte Stück deinem Sohn gegeben ...» erklärt Elisa.

«Ja... und ich habe daraus Bänder für meine Tasche gemacht...»

«Arme Kinder! Wie nötig habt ihr es, daß wir in eurer Nähe sind!»sagt die heiligste Mutter Maria, die gerade ein Kleid von ich weiß nicht wem flickt.

«Hier ist Stoff nötig. Schaut her. Die Stiche haben um das Loch herum das Gewebe vollends zerstört, und aus einem schon großen Schaden ist ein nicht wiedergutzumachender Schaden geworden. Außer... ich finde etwas, um den fehlenden Stoff zu ersetzen. Dann würde man es zwar noch sehen... aber es wäre wenigstens anständig.»

«Du hast mir den Anstoß zu einem Gleichnis gegeben...» sagt Jesus, und Judas sagt gleichzeitig: «Ich meine, daß ich in meiner Tasche ein Stück Stoff von dieser Farbe habe. Es ist der Rest eines Gewandes, das ich einem Männchen geschenkt habe, weil es schon zu ausgebleicht war und man es nicht mehr tragen konnte. Der Mann war so viel kleiner als ich, daß wir es fast um zwei Handbreiten kürzen mußten. Ich werde dir den Stoff holen, wenn du etwas warten kannst; denn zuerst möchte ich das Gleichnis hören.»

«Gott segne dich. Höre nur zu. Ich wechsle unterdessen die Schnüre am Gewand des Jakobus aus. Sie sind alle so abgenützt.»

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«Sprich, Meister. Nachher werde ich Maria Salome zufriedenstellen.»«Also rede ich. Ich vergleiche die Seele mit einem Stoff. Wenn die Seele eingehaucht wird, ist sie neu und ohne Risse. Die Erbsünde ist zwar vorhanden, aber sonst ist ihr Gewebe ohne Schäden, Flecken oder abgenützte Stellen. Mit der Zeit und durch das Laster verschleißt sie dann aber manchmal so sehr, daß sie brüchig wird, durch Unachtsamkeiten bekommt sie Flecken und durch die Unordnung Risse. Wenn sie nun zerrissen ist, darf man keine schlechte Flickarbeit machen, die dann wieder zu unzähligen neuen Rissen führt, sondern muß eine geduldige, sorgfältige Arbeit leisten, um den Schaden, so gut man kann, zu beheben. Und wenn der Stoff zu zerrissen ist, wenn vielleicht gar ein Stück herausgerissen ist, dann darf man nicht stolz sein und glauben, den Schaden selbst beheben zu können, sondern muß zu dem gehen, von dem man weiß, daß er die Seele wiederherstellen kann, da ihm nichts unmöglich ist und er alles kann. Ich spreche von Gott, meinem Vater, und dem Erlöser, der ich bin. Doch der Mensch ist so stolz, daß er, je größer der Schaden an seiner Seele ist, um so mehr versucht, ihn mit mangelhaftem Flickwerk auszubessern, das das Übel nur noch vergrößert. Ihr könntet mir entgegnen, daß man einen Riß immer erkennt. Auch Salome hat es gesagt. Ja, man wird immer die Wunden sehen, die eine Seele erlitten hat. Doch die Seele kämpft ihren Kampf, und demzufolge wird sie verwundet. Sie ist von so vielen Feinden umgeben. Aber niemand wird beim Anblick eines von Narben bedeckten Mannes – der Beweis für ebenso viele ruhmreiche Wunden im Kampf um den Sieg – sagen: "Dieser Mann ist unrein." Im Gegenteil, man wird sagen: "Er ist ein Held! Seht nur die purpurroten Narben seiner mutigen Kämpfe." Niemals wird man sehen, daß ein Soldat sich weigert, sich behandeln zu lassen, da er sich einer ruhmvollen Verwundung schämt. Er wird vielmehr zum Arzt gehen und mit heiligem Stolz sagen: "Ich habe gekämpft und gesiegt. Ich habe mich nicht geschont. Du siehst es. Nun flicke mich wieder zusammen, damit ich zu neuen Schlachten und Siegen bereit bin." Jener hingegen, der die Wunden unreiner Krankheiten mit sich herumträgt, die unwürdige Laster hervorgerufen haben, schämt sich seiner Wunden vor den Angehörigen und den Freunden und auch vor den Ärzten, und oft ist er so töricht, daß er sie verbirgt, bis ihr Gestank ihn verrät. Dann ist es jedoch für eine Heilung zu spät. Die Demütigen sind immer aufrichtig. Sie sind auch immer tapfer und brauchen sich der Wunden, die sie im Kampf davongetragen haben, nicht zu schämen. Die Hochmütigen sind immer verlogen und feige, und durch ihren Stolz geraten sie in Todesgefahr; denn sie wollen nicht zu dem gehen, der sie heilen könnte, und ihm sagen: "Vater, ich habe gesündigt, aber wenn du willst, kannst du mich heilen." Es gibt viele Seelen, die aus Stolz, um eine erste Sünde nicht bekennen zu müssen, den Tod finden. Und dann ist es auch für sie zu spät. Sie denken nicht daran, daß die göttliche Barmherzigkeit

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mächtiger und größer ist als jeder Wundbrand, so stark und ausgedehnt er auch sein mag, und daß sie alles zu heilen vermag. Aber sie, die Seelen der Stolzen, wenn sie erkennen, daß sie jegliches Heil verschmäht haben, fallen der Verzweiflung anheim, denn sie sind ohne Gott. Sie sagen dann: "Es ist zu spät", und geben sich den letzten Tod: die Verdammung. Nun kannst du gehen, Judas, und deinen Stoff holen ...»

«Ich gehe. Aber dieses Gleichnis gefällt mir nicht. Ich habe es nicht verstanden.»

«Aber es ist doch so klar! Ich habe es verstanden, und ich bin nur eine einfache Frau», sagt Maria Salome.

«Ich nicht. Früher hast du uns schönere Gleichnisse erzählt. Nun... die Bienen ... die Stoffe... die Städte, die ihren Namen ändern... die Seelen-Boote ... Das ist alles so armselig und so verwirrend, daß ich nichts damit anfangen kann und es mir auch nicht gefällt. Doch jetzt will ich gehen und den Stoff holen. Man kann ihn ja verwenden, aber das Gewand wird trotzdem immer schadhaft sein.» Judas steht auf und entfernt sich.

Maria hat den Kopf immer tiefer auf ihre Arbeit sinken lassen, während Judas gesprochen hat. Johanna hingegen hat ihn erhoben und den Törichten mit herrischer Entrüstung angeblickt. Auch Elisa hat anfangs aufgeschaut, es dann aber wie Maria gemacht, und Nike ebenso. Susanna hat verwundert ihre großen Augen aufgerissen und statt des Apostels Jesus angesehen, so als frage sie sich, warum er nicht reagiert. Aber niemand hat etwas gesagt oder irgendeine Gebärde gemacht. Nur Maria Salome und Maria des Alphäus, die etwas volksnäher sind, haben sich angesehen und den Kopf geschüttelt, und kaum ist Judas weggegangen, sagt Salome: «Er ist es, dessen Kopf schadhaft ist.»

«Ja, und deshalb versteht er nichts, und ich weiß wirklich nicht, ob du ihn wieder in Ordnung bringen kannst. Wenn er mein Sohn wäre, würde ich ihm den Kopf einschlagen. Jawohl, so wie ich ihn ihm gemacht habe, damit es der Kopf eines Gerechten sei, ebenso würde ich ihn ihm einschlagen. Es ist immer noch besser, mit einem verunstalteten Kopf herumzulaufen als mit einem verunstalteten Herzen», sagt Maria des Alphäus.

«Sei nachsichtig, Maria. Du kannst ihn doch nicht mit deinen Söhnen vergleichen, die in einer ehrbaren Familie aufgewachsen sind und in einer Stadt wie Nazareth», sagt Jesus.

«Seine Mutter ist gut. Und sein Vater war nicht böse, hat man mir gesagt», entgegnet Maria des Alphäus.

«Ja, aber sein Herz war nicht frei von Stolz. Deshalb hat er den Sohn zu früh seiner Mutter weggenommen und dazu beigetragen, das moralische Erbe, das er ihm mitgegeben hatte, zu fördern, als er ihn nach Jerusalem schickte. Es ist sehr schmerzlich, dies sagen zu müssen, aber der Tempel ist wirklich nicht der richtige Platz, um ererbten Hochmut zu mäßigen...» sagt Jesus.

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«Kein Platz in Jerusalem, der einen Ehrenplatz darstellt, ist geeignet, den Stolz oder andere Fehler zu mäßigen», seufzt Johanna, und sie fügt hinzu: «Überhaupt kein Ehrenplatz ist dazu geeignet, sei er in Jericho, in Caesarea Philippi, in Tiberias oder im anderen Caesarea ...» Sie näht eilig weiter und hält den Kopf tiefer als nötig über die Arbeit gebeugt.

«Maria des Lazarus ist gebieterisch, aber nicht stolz», bemerkt Nike.

«Jetzt. Aber früher war sie sehr hochmütig, im Gegensatz zu ihren Eltern, die es niemals gewesen sind», antwortet Johanna.

«Wann werden sie kommen?»

«Bald, wenn wir in drei Tagen abreisen sollen.»

«Wir müssen schneller arbeiten. Wir werden kaum mit allem fertig werden», treibt Maria des Alphäus die anderen an.

«Wir sind wegen Lazarus später gekommen. Aber es war gut so, denn so ist Maria eine große Mühe erspart geblieben», sagt Susanna.

«Aber wirst du denn einen so weiten Weg zurücklegen können? Du bist so bleich und müde, Maria!» fragt Maria des Alphäus, legt eine Hand auf den Schoß Marias und schaut sie dabei besorgt an.

«Ich bin nicht krank, Maria, und werde gewiß gehen können.»

«Krank nicht, aber sehr betrübt, Mutter. Ich würde zehn und mehr Jahre meines Lebens geben und alle nur erdenklichen Schmerzen auf mich nehmen, wenn ich dich wieder so sehen könnte, wie du warst, als ich dich zum erstenmal sah», sagt Johannes, der sie mitleidig betrachtet.

«Deine Liebe ist schon Arznei, Johannes. Mein Herz beruhigt sich, wenn ich sehe, wie ihr meinen Sohn liebt. Denn er ist die alleinige Ursache meiner Schmerzen. Ich leide nur, wenn ich ihn nicht geliebt sehe. Hier in seiner Nähe und unter euch, die ihr ihm so treu seid, blühe ich wieder auf. Aber natürlich... diese Monate... allein in Nazareth, nachdem ich ihn schon so bedrückt habe fortgehen sehen, so verfolgt... Und alle diese Stimmen, die ich hören mußte. Oh, welch ein Schmerz! Wenn ich ihn in meiner Nähe habe, ihn sehe, sage ich mir: "Mein Jesus hat wenigstens seine Mutter, die ihn tröstet, die ihm Worte sagt, die andere Worte vergessen lassen", und ich sehe auch, daß nicht alle Liebe in Israel erstorben ist. So finde ich Frieden. Ein wenig Frieden. Nicht viel... denn...» Maria spricht nicht weiter. Sie neigt ihr Antlitz, das sie beim Sprechen zu Johannes erhoben hatte, und man sieht nur noch den oberen Teil der Stirn, die eine stumme Gemütsbewegung erröten läßt... Und dann glänzen zwei Tränen auf dem dunklen Gewand, das sie gerade flickt.

Jesus seufzt, erhebt sich von seinem Platz und geht, um sich vor ihr zu ihren Füßen niederzusetzen. Er läßt sein Haupt auf ihre Knie sinken, küßt die Hand, die den Stoff hält, und verweilt dann in dieser Haltung wie ein Kind, das sich ausruht. Maria nimmt die Nadel aus dem Stoff, um den Sohn nicht zu verletzen, legt dann die Rechte auf den auf ihren Knien ruhenden Kopf, erhebt den Blick zum Himmel und betet gewiß, obgleich

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sie die Lippen nicht bewegt; doch ihr ganzer Ausdruck zeigt, daß sie betet. Dann neigt sie sich über ihren Sohn und küßt ihn bei der Schläfe aufs Haar.

Die anderen reden nicht, bis Salome sagt: «Wie lange braucht denn Judas noch? Die Sonne geht bald unter, und dann werde ich nichts mehr sehen.»

«Vielleicht ist er durch jemanden aufgehalten worden», antwortet Johannes und fragt dann seine Mutter: «Willst du, daß ich nach ihm sehe?»

«Das wäre gut. Falls er den Stoff nicht gefunden hat, werde ich die Ärmel kürzen. Es ist ja bald Sommer, und für den Herbst mache ich dir ein neues Gewand, denn dieses hier wird nicht mehr taugen. Vorläufig bessere ich es mit einem Stück vom Ärmel aus, und es ist dann immer noch gut genug, um damit zum Fischfang zu gehen. Denn nach Pfingsten werdet ihr doch wohl nach Galiläa zurückkehren...»

«Also, ich gehe», sagt Johannes, und in seiner immer freundlichen Art fragt er die anderen Frauen: «Habt ihr schon Kleider fertig, die ich mit in unsere Häuser nehmen kann? Wenn ja, gebt sie mir. Ihr habt dann auf dem Heimweg nicht so viel zu tragen.»

Die Frauen legen alles, was sie schon geflickt haben, zusammen und geben es Johannes, der sich umdreht und gehen will; aber er bleibt stehen, als er sieht, daß Maria des Jakob eiligen Schrittes auf sie zukommt.

Die gute Alte läuft, so schnell sie in ihrem hohen Alter noch laufen kann, und ruft Johannes zu: «Ist der Meister da?»

«Ja, Mutter. Was willst du?»

Die Frau antwortet im Laufen: «Ada geht es sehr schlecht... Und der Mann möchte sie trösten und Jesus zu ihr rufen... Aber nachdem die Samariter dort so böse waren, getraut er sich nicht... Ich habe gesagt: "Du kennst ihn noch nicht. Ich werde gehen, und er wird mir nicht "nein" sagen...» Die Alte keucht vom Laufen und wegen der Steigung.

«Lauf nicht weiter. Ich komme mit dir. Vielmehr, ich werde dir vorausgehen, und du kannst langsam nachkommen. Du bist schon zu alt, Mutter, um so zu laufen», sagt Jesus. Und zur Mutter und den Jüngerinnen gewandt: «Ich werde im Dorf bleiben. Der Friede sei mit euch.»

Jesus ergreift Johannes am Arm und geht mit ihm rasch hinunter. Die Alte, die wieder zu Atem gekommen ist, möchte ihm gleich folgen, nachdem sie die Fragen der Frauen beantwortet hat: «Ach, nur der Rabbi kann sie retten. Sonst wird sie wie Rachel sterben. Sie erkaltet schon und wird immer schwächer. Sie windet sich unter den Schmerzen.»

Doch die Frauen halten sie zurück mit den Worten: «Habt ihr nicht versucht, ihr warme Ziegel auf die Nieren zu legen?»

«Nein, es ist besser, sie in mit Würzwein getränkte Wolltücher zu wickeln. So heiß es nur geht.»

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«Mir haben die Einreibungen mit Öl und die heißen Ziegelsteine, die mir Jakob auflegte, sehr geholfen.»

«Gebt ihr viel zu trinken.»

«Wenn sie aufstehen und einige Schritte gehen könnte und ihr jemand gleichzeitig das Kreuz massieren würde!»

Die Frauen, die Mütter sind, also alle außer Nike und Susanna, sowie Maria, die die Schmerzen der Frauen bei der Geburt ihres Sohnes nicht erleiden mußte, raten dieses und jenes.

«Alles, alles hat man versucht. Aber ihr Schoß ist zu erschöpft. Es ist das elfte Kind! Ich gehe jetzt, ich habe mich erholt. Betet für die Mutter! Möge der Allerhöchste sie so lange am Leben erhalten, bis der Rabbi bei ihr eintrifft.» Und die arme, gute, einsame Alte trottet davon.

Jesus geht indessen rasch in die von der Sonne erwärmte Stadt hinab. Er betritt die Stadt von der ihrem Haus entgegengesetzten Seite, also im Nordwesten von Ephraim, während das Haus der Maria des Jakob im Südosten liegt. Er geht schnell, läßt sich auch nicht aufhalten von den Leuten, die mit ihm reden wollen, sondern grüßt und geht weiter.

Ein Mann bemerkt: «Er ist böse auf uns. Die Bewohner anderer Orte haben ihn gekränkt. Er hat recht.»

«Nein. Er geht zu Janoe, dessen Frau im Sterben liegt. Es ist die elfte Geburt.»

«Arme Kinder! Und der Rabbi geht zu ihr? Er ist dreifach gut. Er vergilt Beleidigungen mit Wohltaten.»

«Janoe hat ihn nicht beleidigt. Keiner von uns hat ihn beleidigt!»

«Aber Männer von Samaria haben es getan.»

«Der Rabbi ist gerecht und kann unterscheiden. Laßt uns gehen und das Wunder sehen.»

«Sie werden uns nicht hineinlassen. Es ist eine Frau bei der Geburt.»

«Aber wir werden wenigstens das Neugeborene hören, wenn es weint, und das wird uns das Wunder anzeigen.»

Sie laufen los, um Jesus einzuholen. Auch andere schließen sich ihnen an, um zu sehen.

Jesus kommt zu dem Haus, in dem große Trübsal herrscht wegen des bevorstehenden Unglücks. Die zehn Kinder – das größte ist ein in Tränen aufgelöstes Mädchen, das von den kleineren weinenden Geschwisterchen umringt wird – haben sich in einem Winkel des Hauseingangs zusammengedrängt, nahe bei der weit geöffneten Tür. Frauen kommen und gehen. Stimmen, die flüstern, und bloße Füße, die eilig über den Ziegelboden huschen.

Eine Frau sieht Jesus und schreit auf: «Janoe! Habe Hoffnung! Er ist gekommen!» Und sie entfernt sich eiligst mit einem dampfenden Krug.

Ein Mann kommt herbei und wirft sich zu Boden. Er macht nur eine

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Geste und sagt: «Ich glaube. Erbarmen. Ihretwegen», und er zeigt dabei auf die Kinder.

«Steh auf und habe Mut. Der Allerhöchste hilft denen, die glauben, und erbarmt sich seiner betrübten Kinder.»

«Oh, komm, Meister! Komm! Sie ist schon ganz schwarz. Sie erstickt an ihren Krämpfen. Sie atmet kaum mehr. Komm!» Der Mann hat den Kopf verloren und verliert ihn vollends ganz, als eine Verwandte ruft: «Janoe, komm schnell! Ada stirbt!» Er schiebt und zieht Jesus, damit dieser nur ja schnell, ganz schnell ins Zimmer der Sterbenden geht, und ist taub gegenüber den Worten Jesu, der sagt: «Geh und habe Vertrauen!»

Vertrauen hat der Mann schon, doch was ihm fehlt ist die Fähigkeit, den Sinn dieser Worte zu verstehen, den verborgenen Sinn, der schon die Gewißheit des Wunders beinhaltet. Und Jesus, geschoben und gezogen, steigt die Treppe hinauf, um in den oberen Raum zu gelangen, in dem die Frau liegt. Doch er bleibt auf dem Treppenabsatz stehen, ungefähr drei Meter vor der geöffneten Tür, von wo man ein blutleeres, fast bläuliches und in der Agonie verzerrtes Gesicht sehen kann. Die Frauen wagen es nicht mehr, noch etwas zu tun. Sie haben die Leidende bis ans Kinn zugedeckt und schauen nur. Sie sind wie versteinert in Erwartung des Verscheidens.

Jesus breitet die Arme aus und ruft: «Ich will!» Dann wendet er sich um und will gehen.

Der Ehemann, die Frauen und die Neugierigen, die ihn umringt haben, sind enttäuscht; sie haben wohl gehofft, Jesus würde etwas viel Außergewöhnlicheres tun und das Kind käme sofort auf die Welt. Aber Jesus bahnt sich einen Weg, schaut ihnen ins Gesicht, während er an ihnen vorbeigeht, und sagt: «Zweifelt nicht. Noch etwas Vertrauen. Einen Augenblick. Die Frau muß den bitteren Preis des Gebärens bezahlen, aber sie ist gerettet.» Er geht die Treppe hinunter und läßt die Leute sprachlos stehen. Doch als er beim Verlassen des Hauses zu den zehn verängstigten Kindern sagt: «Habt keine Angst, die Mama ist gerettet», und dabei mit der Hand die erschrockenen Gesichtlein streichelt, ertönt im Haus ein lauter Schrei, den man auch auf der Straße noch hört. Und Maria des Jakob, die gerade ankommt, ruft aus: «Barmherzigkeit!» in der Meinung, daß der Schrei den Tod anzeigt.

«Keine Angst, Maria! Geh rasch, dann wirst du den Kleinen zur Welt kommen sehen. Die Kräfte und die Wehen sind wiedergekehrt. Doch bald wird Freude herrschen.»

Jesus geht mit Johannes fort. Niemand folgt ihnen, denn alle wollen sehen, ob das Wunder geschieht; und sogar noch andere eilen zu dem Haus, denn es hat sich herumgesprochen, daß der Rabbi zu Ada gegangen ist, um sie zu retten. So kann Jesus ohne Hindernisse durch eine

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Seitenstraße zu einem Haus gehen. Er betritt es und ruft: «Judas, Judas!» Niemand antwortet.

«Er ist dort hinaufgegangen, Meister. Nun können auch wir heimgehen. Die Kleider von Judas, Simon und deinem Bruder Jakobus lege ich hierher, und die anderen von Simon Petrus, Andreas, Thomas und Philippus werde ich im Haus der Anna lassen.»

So geschieht es, und ich verstehe, daß sich die Apostel, um für die Jüngerinnen Platz zu machen, auf andere Häuser verteilt haben; wenn nicht alle, so doch ein Teil von ihnen.

Da sie die Kleider nun los sind, gehen sie, während sie sich miteinander unterhalten, zum Haus der Maria des Jakob und betreten es durch die nur angelehnte Gartentür. Das Haus ist still und leer. Johannes sieht einen mit Wasser gefüllten Krug auf dem Boden stehen, und da er vielleicht glaubt, die Alte habe ihn dort gelassen, als sie gerufen wurde um der Frau zu helfen, nimmt er ihn und begibt sich zu einem geschlossenen Zimmer. Jesus bleibt noch im Hausflur, um seinen Mantel abzulegen und wie immer sorgfältig zu falten, bevor er ihn auf der Truhe läßt. Johannes öffnet die Zimmertür und stößt ein «Ach!» des Schreckens aus. Er läßt den Krug fallen, bedeckt seine Augen mit beiden Händen und duckt sich, als wolle er sich ganz klein machen, verschwinden, nichts sehen. Aus dem Zimmer dringt das Geräusch von auf den Boden fallenden Münzen.

Jesus ist schon an der Tür. Ich habe mehr Zeit gebraucht, um dies zu sagen, als er, um heranzukommen. Er schiebt den stöhnenden Johannes beiseite: «Fort! Geh fort!» Dann öffnet er weit die nur halb offene Tür und geht hinein. Es ist der Raum, in dem sie die Mahlzeiten einnehmen, seit die Frauen da sind. Zwei alte, eisenbeschlagene Truhen stehen darin, und vor einer von ihnen, genau gegenüber der Tür, steht Judas. Er ist totenblaß, in seinen Augen mischen sich Zorn und Schrecken, und in den Händen hält er einen Beutel Geld... Die Truhe ist aufgebrochen... Auf dem Boden liegen Münzen, und weitere fallen hinunter, gleiten aus dem Beutel, der offen vom Rand der Truhe hängt. Alles läßt ohne jede Möglichkeit eines Zweifels erkennen, was hier geschieht. Judas ist ins Haus gegangen, hat die Truhe aufgebrochen und ist im Begriff zu stehlen.

Keiner spricht. Keiner rührt sich. Aber das ist schlimmer, als wenn alle schreien und aufeinander losgehen würden. Drei Statuen: Judas, der Teufel; Jesus, der Richter; Johannes, erschüttert über die Niedertracht des Gefährten.

Die Hand des Judas, die seine Börse hält, zittert, und die Münzen darin klingeln leise.

Johannes zittert am ganzen Leib, und obgleich er die Hände vor den Mund hält, klappert er mit den Zähnen, während die erschrockenen Augen mehr auf Jesus als auf Judas schauen.

Jesus zeigt keinerlei Erschütterung. Gerade und eisig, ausgesprochen

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eisig und starr steht er da. Endlich macht er einen Schritt, eine Geste und sagt ein Wort. Einen Schritt auf Judas zu, eine Geste: das Zeichen für Johannes, sich zurückzuziehen, ein Wort: «Geh!»

Aber Johannes hat Angst und stöhnt: «Nein! Nein! Schick mich nicht fort. Laß mich hierbleiben. Ich werde nichts sagen ... Aber laß mich hierbleiben, bei dir.»

«Geh fort! Fürchte nicht! Schließe alle Türen ... und wenn jemand kommt... wer auch immer... selbst wenn es meine Mutter sein sollte... laß ihn nicht hierher kommen. Geh und gehorche!»

«Herr... !» Es sieht beinahe aus, als ob Johannes der Schuldige wäre, so sehr fleht er und so zerknirscht ist er.

«Geh, sage ich dir. Es wird nichts passieren. Geh!» Jesus mildert die Strenge des Befehls, indem er seine Hand zärtlich auf den Kopf des Lieblingsjüngers legt. Ich sehe, daß diese Hand nun zittert. Johannes spürt das Zittern, nimmt die Hand und küßt sie mit einem Schluchzen, das so vieles sagt. Dann geht er hinaus. Jesus schließt die Tür und legt den Riegel vor. Nun dreht er sich um und schaut Judas an, der ziemlich am Boden zerstört sein muß, da er, der doch sonst so frech ist, kein Wort und keine Geste wagt.

Jesus geht um den Tisch in der Mitte des Zimmers herum und bleibt direkt vor ihm stehen. Ich kann nicht sagen, ob er rasch oder langsam gegangen ist. Ich bin zu erschrocken über seinen Gesichtsausdruck, um ein Zeitgefühl zu haben. Ich sehe seine Augen und habe Angst, wie Johannes. Sogar Judas hat Angst. Er weicht zurück zwischen die Truhe und ein offenes Fenster, durch das der rote Schein des Sonnenunterganges sich über Jesus ergießt.

Was hat Jesus für Augen! Er sagt kein Wort. Doch als er sieht, daß hinter dem Gürtel am Gewand des Judas eine Art Dietrich hervorschaut, braust er in furchterregender Weise auf, erhebt einen Arm mit geballter Faust, als wolle er auf den Dieb einschlagen, und sein Mund beginnt das Wort: «Verfluchter!» oder «Verflucht seist du!» Aber er beherrscht sich, hält den Arm zurück, der schon im Fallen war, und bricht das Wort nach den ersten drei Buchstaben ab. Er beschränkt sich darauf, mit einem Aufwand an Beherrschung, der ihn erzittern läßt, die geschlossene Faust zu öffnen und den Arm bis zur Höhe der Börse zu senken, die Judas noch in der Hand hält. Er entreißt sie ihm, schleudert sie auf den Boden und sagt mit erstickter Stimme: «Weg damit! Unrat des Satans! Verfluchtes Gold! Auswurf der Hölle! Schlangengift! Weg damit!» Und dabei zertritt er die Börse und zerstreut die Münzen in schrecklichem, aber beherrschtem Zorn.

Judas, der einen unterdrückten Schrei ausstößt, als er sieht, daß Jesus nahe daran ist, ihn zu verfluchen, reagiert nicht mehr. Aber hinter der verschlossenen Tür ertönt ein zweiter Schrei, als Jesus die Börse auf den Boden wirft. Und dieser Aufschrei des Johannes läßt den Dieb außer sich

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geraten. Er gibt ihm seine dämonische Kühnheit wieder und läßt ihn rasend werden. Beinahe stürzt er sich auf Jesus und schreit: «Du hast mich ausspionieren lassen, um mich zu entehren. Ausspionieren von einem törichten Jungen, der nicht einmal schweigen kann und der mich vor allen beschämen wird! Aber das wolltest du ja. Und im übrigen... Ja, auch ich wollte es! Ich will es! Ich will dich dazu bringen, mich fortzujagen! Dich dazu bringen, mich zu verfluchen! Zu verfluchen! Zu verfluchen! Alles habe ich versucht, damit ich fortgejagt werde.» Er ist heiser vor Zorn und häßlich wie ein Dämon. Er keucht, als ob ihn etwas würgen würde.

Jesus wiederholt mit gedämpfter, aber zugleich schrecklicher Stimme: «Dieb! Dieb! Dieb!» und endet mit den Worten: «Heute Dieb. Morgen Mörder. Wie Barabbas. Schlimmer als er.» Bei jedem Satz des Judas sagt er ihm leise diese Worte ins Gesicht, denn nun stehen sie ganz nahe beieinander.

Judas, der wieder Atem geholt hat, entgegnet ihm: «Ja, Dieb. Und durch deine Schuld. An allem Bösen, das ich tue, bist du schuld, und du wirst es nicht müde, mich zu verderben. Du rettest alle und schenkst allen Liebe und Ehren. Du nimmst die Sünder auf, und die Dirnen ekeln dich nicht an. Die Diebe, die Wucherer und die Kuppler wie Zachäus behandelst du wie Freunde und den Spion des Tempels empfängst du, als ob er der Messias sei. Wie töricht bist du doch! Du machst einen Ignoranten zu unserem Oberhaupt, einen Zöllner zu unserem Schatzmeister und einen Dummkopf zu deinem Vertrauten. Und mir zählst du die kleinsten Münzen ab, läßt mir kein Geld, kettest mich an dich, wie man einen Galeerensträfling an die Ruderbank kettet, und willst auch nicht, daß wir – ich sage wir, aber ich bin es, ich allein, der kein Almosen von den Pilgern annehmen darf. Und nur damit ich kein Geld mehr in den Händen habe, hast du angeordnet, daß wir von niemandem mehr Geld annehmen dürfen. Denn du haßt mich. Nun gut, auch ich hasse dich! Gerade eben bist du nicht einmal fähig gewesen, mich zu schlagen und mich zu verfluchen. Dein Fluch hätte mich vernichtet. Warum hast du es nicht getan? Es wäre mir lieber gewesen, als dich so unfähig, so machtlos sehen zu müssen, einen erledigten Mann, einen besiegten Mann...»

«Schweig!»

«Nein! Hast du Angst, daß Johannes mich hören könnte? Hast du Angst, daß er endlich begreifen könnte, wer du bist, und dich dann verläßt? Diese Angst hast du also, du, der du immer den Helden spielst! Natürlich hast du sie! Und du hast auch Angst vor mir. Du hast Angst! Deshalb kannst du mich nicht verfluchen. Deshalb schwindelst du mir Liebe vor, während du mich haßt. Um mir zu schmeicheln. Damit ich stillhalte. Du weißt, daß ich eine Macht bin! Du weißt, daß ich die Macht bin. Die Macht, die dich haßt und dich besiegen wird! Ich habe dir versprochen, daß ich dir bis zum Tod folge und dir alles opfere, und ich habe

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dir alles geopfert, und ich werde in deiner Nähe bleiben bis zu deiner Stunde und meiner Stunde. Großartiger König, der du nicht verfluchen und nicht verjagen kannst! Wolkenkönig! König der Einbildung! König der Dummheit! Lügner! Verräter deines eigenen Schicksals! Du hast mich immer verachtet, seit unserer ersten Begegnung. Du hast meine Liebe nie erwidert. Du glaubtest, weise zu sein. Du bist ein Dummkopf. Ich habe dir den rechten Weg gewiesen. Aber du... Oh! Du bist der Reine! Du bist das Geschöpf, das Mensch ist, aber auch Gott, und du verschmähst die Ratschläge des Klugen. Vom ersten Augenblick an hast du dich geirrt, und du fährst fort, dich zu irren. Du... du bist... Ah!»

Der Wortschwall endet ganz plötzlich, und es folgt ein unheimliches Schweigen nach so viel Geschrei und eine seltsame Unbeweglichkeit nach so vielen wilden Gebärden. Denn während ich geschrieben habe, ohne sagen zu können, was vor sich geht, hat sich Judas geduckt – wie ein, ja wirklich, wie ein wütender Hund, der die Beute belauert und zum Sprung ansetzt – und ist Jesus immer näher gekommen, mit einem Gesicht, das man nicht ansehen konnte, die Hände geballt und die Ellbogen an den Körper gepreßt, als wolle er Jesus tatsächlich angreifen. Doch dieser zeigt nicht die geringste Furcht. Er dreht dem Apostel, der ihn anfallen und ihn am Hals packen könnte, es aber nicht tut, sogar den Rücken zu, um die Tür zu öffnen und in den Flur zu sehen, ob Johannes auch wirklich fortgegangen ist. Der Hausflur ist leer und halbdunkel, weil Johannes die Tür zum Garten geschlossen hat, nachdem er hinausgegangen ist. Jesus schließt und verriegelt wieder die Tür, lehnt sich an sie und wartet, ohne ein Wort zu sagen oder eine Bewegung zu machen, daß die Wut sich legt.

Es steht mir nicht zu, zu urteilen. Aber ich glaube, nicht zu irren, wenn ich sage, daß Satan selbst durch den Mund des Judas gesprochen hat; daß dies ein Augenblick ist, in dem der verdorbene Apostel ganz offensichtlich vom Satan besessen ist und bereits an der Schwelle des Verbrechens steht, schon verdammt aus eigenem Willen. Die Art, wie der Wortschwall endet und einer scheinbaren Verwirrung des Apostels Platz macht, erinnert mich an andere Szenen von Besessenheit, die ich in den drei Jahren des öffentlichen Lebens Jesu gesehen habe.

Jesus, schneeweiß vor dem dunklen Holz der Tür, an die er sich immer noch lehnt, macht nicht die geringste Bewegung. Nur seine von Schmerz und Liebe erfüllten Augen schauen den Apostel an. Wenn man sagen könnte, daß Augen beten, dann würde ich sagen, daß die Augen Jesu beten, während er den Unglücklichen anblickt. Denn es ist nicht nur Beherrschung, die aus den so betrübten Augen spricht, sondern auch inbrünstiges Gebet. Dann, als Judas die letzten Worte sagt, breitet Jesus die bisher gerade herunterhängenden Arme aus. Aber er öffnet sie nicht, um Judas zu berühren, eine abwehrende Geste zu machen oder sie zum Himmel zu erheben. Er breitet sie vielmehr waagrecht aus, nimmt die Haltung des

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Gekreuzigten ein, dort, vor dem dunklen Holz und der rötlichen Wand. Und im gleichen Augenblick kommen die letzten Worte nur noch zögernd aus dem Mund des Judas, und er stößt das «Ah!» aus, das seine Rede beendet.

Jesus verharrt in seiner Haltung mit ausgebreiteten Armen und schaut den Apostel weiterhin mit dem Blick des Schmerzes und des Gebetes an. Und wie einer, der aus einem Delirium erwacht, fährt sich Judas mit der Hand über die Stirn, über das schweißbedeckte Gesicht... Er denkt nach, erinnert sich an alles und sinkt zu Boden. Ich weiß nicht, ob er weint oder nicht. Jedenfalls sinkt er zu Boden, als ob ihn die Kräfte verlassen hätten.

Jesus senkt den Blick und die Arme und sagt mit leiser, aber klarer Stimme: «Nun? Hasse ich dich? Ich könnte dich mit Füßen treten, dich zertreten und dich "Wurm" nennen. Ich könnte dich verfluchen, so wie ich dich von der Macht befreit habe, die dich hat irrereden lassen. Du nennst meine Unfähigkeit, dich zu verfluchen, Schwäche. Oh, es ist keine Schwäche! Aber ich bin der Erlöser. Und der Erlöser kann nicht verfluchen. Er kann nur retten. Er will retten... Du hast gesagt: "Ich bin die Macht. Die Macht, die dich haßt und dich besiegen wird." Auch ich bin die Macht, ja, ich bin die einzige Macht. Meine Kraft ist nicht der Haß, sondern die Liebe. Und die Liebe haßt nicht und verflucht nicht, niemals. Die Macht könnte auch die einzelnen Schlachten – wie die zwischen mir und dir, zwischen mir und Satan, der in dir ist – gewinnen und dich deinem Herrn entreißen, für immer; wie ich es soeben getan habe, als ich mich in das Zeichen, das rettet, verwandelt habe, in das Tau, das Luzifer nicht sehen kann. Ich könnte diese einzelnen Schlachten gewinnen, wie ich den bevorstehenden Kampf gegen das ungläubige und mordgierige Israel gewinnen werde, gegen die Welt und gegen Satan, der durch die Erlösung besiegt wird. Ich könnte diese einzelnen Schlachten gewinnen, wie ich die letzte Schlacht gewinnen werde, die fern ist für jene, die nach Jahrhunderten rechnen, und nahe für jene, die die Zeit mit dem Maß der Ewigkeit messen. Aber was würde es nützen, die vollkommenen Gesetze meines Vaters zu übertreten? Wäre es Gerechtigkeit? Wäre es ein Verdienst? Nein. Es wäre weder Gerechtigkeit noch Verdienst. Es wäre nicht gerecht gegenüber den anderen schuldigen Menschen, denen die Freiheit zu sündigen nicht genommen wird, und die mich am Jüngsten Tag fragen und tadeln könnten wegen des Urteils und der mit dir allein gemachten Ausnahme. Es werden zehn- und hunderttausende sein, siebzigmal zehn- und hunderttausende, die die gleichen Sünden begehen wie du und aus eigenem Willen Satan angehören werden; die Gott beleidigen, Vater und Mutter quälen, morden, stehlen, lügen, die Ehe brechen, Unzucht treiben, Gott lästern und zuletzt Gottesmörder sein werden, indem sie Christus an einem nicht mehr fernen Tag wirklich töten und ihn in künftigen Zeiten in ihren Herzen umbringen. Und sie alle könnten mir Vorwürfe machen, wenn ich

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kommen werde, um die Schafe von den Böcken zu scheiden, um die ersten zu segnen und die zweiten zu verfluchen; ja, um die zweiten zu verfluchen, zu verfluchen, denn dann wird es keine Rettung mehr geben, sondern nur Herrlichkeit oder Verdammung; um sie noch einmal zu verdammen, nachdem ich sie schon einzeln beim ersten Tod und beim individuellen Gericht verurteilt habe. Denn der Mensch – du weißt es, da du es mich hast hundert- und tausendmal sagen hören – der Mensch kann sich retten, solange er lebt, selbst wenn er in den letzten Zügen liegt. Ein Augenblick, eine Tausendstel Minute genügt, um alles zwischen der Seele und Gott zu regeln, um Verzeihung zu erbitten und Lossprechung zu erlangen... Alle, habe ich gesagt, alle könnten mir vorwerfen: "Warum hast du uns nicht an das Gute gebunden, wie du es mit Judas getan hast?" und sie hätten recht. Denn jeder Mensch wird mit denselben natürlichen und übernatürlichen Gaben geboren: einem Körper und einer Seele. Und während der Körper, da er von Menschen gezeugt ist, bei der Geburt mehr oder weniger kräftig sein kann, ist die Seele, die von Gott kommt, bei allen mit denselben Eigenschaften und denselben Gaben Gottes ausgestattet. Zwischen der Seele des Johannes, ich meine den Täufer, und deiner Seele war kein Unterschied, als sie in die Körper eingehaucht wurden. Und doch sage ich dir, selbst wenn Johannes nicht durch die Gnade im voraus geheiligt worden wäre, damit der Herold des Christus ohne Makel sei – wie es alle sein sollten, die mich verkündigen, wenigstens was die derzeitigen Sünden betrifft – seine Seele wäre auf jeden Fall anders als die deine gewesen und geworden. Vielmehr, die deine wäre anders geworden als die seine. Denn der Täufer hätte seine Seele in der Frische der Unschuld bewahrt, hätte sie mit immer mehr Gerechtigkeit geschmückt, dem Willen Gottes folgend, der euch gerecht will, der will, daß ihr die erhaltenen Gaben mit ständig wachsendem Heroismus entwickelt. Du hingegen... hast deine Seele zerstört und die ihr von Gott geschenkten Gaben vergeudet. Was hast du aus deiner Entscheidungsfreiheit gemacht? Was aus deinem Verstand? Hast du deinem Geist die Freiheit bewahrt, die ihm gehörte? Hast du die Fähigkeiten deines Geistes mit Verstand gebraucht? Nein. Du, der du mir nicht gehorchen willst – ich meine nicht nur mir als Mensch, sondern auch als Gott – du hast Satan gehorcht. Du hast deinen Verstand und die Freiheit deines Geistes dazu verwendet, die Finsternis zu erfassen. Freiwillig. Das Gute und das Böse wurden dir vor Augen gestellt. Du hast das Böse gewählt. Vielmehr, nur das Gute hast du vor Augen gehabt: mich. Der ewige Schöpfer, der die Entwicklung deiner Seele verfolgt, der diese Entwicklung schon kannte, da dem ewigen Geist nichts unbekannt ist von dem, was sich in der Zeit bewegt, hat dir das Gute, und nur das Gute gezeigt, denn er weiß, daß du schwächer bist als eine Alge im Wassergraben. Du hast mir vorgeworfen, daß ich dich hasse. Nun, da ich eins mit dem Vater und mit der Liebe bin, eins hier und eins

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im Himmel, eins mit dem Vater und dem Heiligen Geist – denn wenn in mir auch die beiden Naturen sind und Christus wegen seiner menschlichen Natur und bis ihn der Sieg von den menschlichen Beschränkungen befreit in Ephraim ist und in diesem Augenblick nicht anderswo ein kann, so bin ich doch als Gott, als das Wort Gottes, sowohl im Himmel als auch auf Erden, da meine Gottheit allgegenwärtig ist – hast du mit deiner Anschuldigung Gott, den Einen und Dreieinen getroffen. Gott den Vater, der dich aus Liebe erschaffen hat, Gott den Sohn, der aus Liebe Mensch geworden ist, um dich zu erlösen, und Gott den Heiligen Geist, der so oft aus Liebe zu dir gesprochen hat, um dir gute Wünsche einzugeben. Diesen Einen und Dreieinen Gott, der dich so sehr geliebt hat, der dich auf meinen Weg geführt, dich blind für die Welt gemacht hat, um dir Zeit zu geben, mich zu sehen, und taub für die Stimmen der Welt, um dir die Möglichkeit zu geben, mich zu hören. Und du... ! Du... ! Nachdem du mich gesehen und gehört hast, nachdem du freiwillig zum Guten gekommen bist und mit deinem Verstand erfaßt hast, daß dies der einzige Weg zur wahren Herrlichkeit ist, hast du das Gute zurückgewiesen und dich freiwillig dem Bösen übergeben. Aber wenn du dies in freier Willensentscheidung gewollt hast; wenn du meine Hand immer schroffer zurückgewiesen hast, die sich dir angeboten hatte, um dich dem Abgrund zu entreißen; wenn du dich immer mehr vom Hafen entfernt hast, um im wilden Meer der Leidenschaften und des Bösen zu versinken, kannst du dann sagen, mir und dem, von dem ich komme, der mich als Mensch erschaffen hat, um dein Heil zu wirken, daß wir dich gehaßt haben? Du hast mir vorgeworfen, daß ich dein Verderben will... Auch das kranke Kind beklagt sich beim Arzt und bei der Mutter über die bittere Arznei, die sie ihm zu trinken geben, und wegen der Dinge, die es haben will und die sie ihm zu seinem Besten verweigern. Satan hat dich schon so blind und töricht gemacht, daß du nicht mehr die wahre Natur der Vorsorge erkennst, die ich für dich getroffen habe; daß du so weit gekommen bist, Böswilligkeit und den Wunsch, dir zu schaden, in dem zu sehen, was weise Voraussicht deines Meisters, deines Erlösers, deines Freundes ist und zu deiner Heilung dienen soll. Ich habe dich in meiner Nähe behalten. Ich habe das Geld aus deinen Händen genommen. Ich habe dich daran gehindert, mit diesem verfluchten Metall, das dich verrückt macht, in Berührung zu kommen... Weißt du denn nicht, spürst du denn nicht, daß es einem dieser magischen Getränke gleicht, die einen unstillbaren Durst verursachen und das Blut erhitzen, es in eine Wallung bringen, die zum Tod führt? Du, ich lese deine Gedanken, wirfst mir vor: "Und warum hast du mich dann so lange das Geld verwalten lassen?" Warum? Nun, wenn ich dir schon früher verboten hätte, mit Geld umzugehen, hättest du dich schon früher verkauft und wärest schon früher zum Dieb geworden. Du hast dich trotzdem verkauft, da du nur wenig stehlen konntest... Aber ich mußte versuchen, es

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zu verhindern, ohne dir deine Freiheit zu nehmen. Das Gold ist dein Verderben. Des Goldes wegen bist du lasterhaft und zum Verräter geworden ...»

«Siehst du! Du hast also den Worten des Samuel geglaubt! Ich bin nicht ...»

Jesus, der immer lebhafter gesprochen hat, ohne jedoch heftig zu werden oder in strafenden Ton zu verfallen, stößt einen gebieterischen, ich würde sagen, zornigen Schrei aus. Seine Blicke durchbohren Judas, der das Gesicht erhoben hat, und sein einziges Wort: «Schweig!» gleicht einem Blitzstrahl.

Judas wird wieder zahm und sagt kein Wort mehr.

Es folgt ein Schweigen, in dem Jesus mit sichtlicher Anstrengung seine menschlichen Gefühle bezwingt: eine Beherrschung, die so gewaltig ist, daß sie allein schon von der ihm innewohnenden Göttlichkeit zeugt. Dann fährt er mit seiner üblichen warmen, bei aller Strenge sanften, überzeugenden und einnehmenden Stimme fort... Nur Dämonen können einer solchen Stimme widerstehen.

«Ich habe weder Samuel noch sonst jemanden nötig, um von deinen Taten zu erfahren. O Unglücklicher! Weißt du, wen du vor dir hast? Es ist wahr. Du verstehst meine Gleichnisse nicht mehr. Du verstehst meine Worte nicht mehr. Armer Unglücklicher! Du verstehst nicht einmal mehr dich selbst. Du weißt nicht mehr, was gut und böse ist. Satan, dem du dich auf vielerlei Art verschrieben hast, Satan, dem du in allen Versuchungen nachgegeben hast, hat dich töricht gemacht. Und doch hat es eine Zeit gegeben, da du mich verstanden und geglaubt hast, daß ich der bin, der ich bin. Und diese Erinnerung ist nicht erloschen. Kannst du denn glauben, der Sohn Gottes, Gott selbst, hätte die Worte eines Menschen nötig, um die Gedanken und die Werke eines anderen Menschen zu kennen? Du bist noch nicht so tief gesunken, daß du nicht mehr glaubst, daß ich Gott bin, und darin liegt deine größte Schuld. Daß du mich als Gott erkennst, zeigt die große Furcht, die du vor meinem Zorn hast. Du fühlst, daß du nicht gegen einen Menschen, sondern gegen Gott selbst kämpfst, und zitterst. Du zitterst, weil du ein Kain bist und dir Gott nur als Rächer vorstellen kannst, als Rächer in eigener Sache und der Unschuldigen. Du fürchtest, es könnte dir ergehen wie Korach, Datan und Abiram und ihren Anhängern. Und obwohl du weißt, wer ich bin, kämpfst du dennoch gegen mich. Ich müßte dir sagen: "Sei verflucht!" Aber dann wäre ich nicht mehr der Erlöser... Du möchtest, daß ich dich fortjage. Du sagst, daß du alles tust, um dies zu erreichen. Das rechtfertigt deine Taten nicht. Es ist nicht nötig zu sündigen, um sich von mir zu trennen. Du kannst es tun, sage ich dir. Seit Nob sage ich es dir, als du zu mir zurückkamst an einem klaren Morgen, beschmutzt von Lügen und Unzucht, als ob du der Hölle entkommen wärest, um in den Schmutz der Schweine zu fallen oder auf das Lager der lüsternen Affen, und ich mich beherrschen mußte, um

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dich nicht mit der Spitze der Sandale wie ekelerregenden Unrat beiseite zu stoßen und den Abscheu zu überwinden, der nicht nur meinen Geist, sondern auch meine Eingeweide erfaßt hatte. Ich habe es dir immer gesagt. Schon bevor ich dich angenommen habe. Und auch bevor wir hierher gekommen sind. Damals habe ich nur für dich, für dich allein gesprochen. Aber du wolltest immer bleiben. Zu deinem Verderben. Du! Mein größter Schmerz! Aber du – Stammvater so vieler Ketzer, die noch kommen werden – denkst und sagst ja, daß ich über dem Schmerz stehe. Nein. Nur über der Sünde stehe ich. Nur über der Unwissenheit stehe ich. Über der ersten, weil ich Gott bin. Über der zweiten, weil in einer Seele, die nicht den Makel der Erbsünde trägt, keine Unwissenheit sein kann. Aber ich rede zu dir als Mensch, als der Mensch, als der erlösende Adam, der gekommen ist, um die Sünde des sündigen Adam wiedergutzumachen und zu zeigen, was der Mensch sein könnte, wenn er so geblieben wäre, wie er geschaffen wurde: unschuldig. Gehörte zu den Gaben Gottes für jenen Adam nicht eine ungeschmälerte Intelligenz und eine übergroße Weisheit, da die Vereinigung mit Gott dem gesegneten Sohn das Licht des allmächtigen Vaters einflößte? Ich, der neue Adam, stehe über der Sünde, aus eigenem Willen... Eines Tages, lange ist es her, hast du dich gewundert, daß ich versucht wurde, und hast mich gefragt, ob ich nie nachgegeben hätte. Erinnerst du dich? Und ich habe dir geantwortet. Ja. Wie hätte ich dir antworten sollen... Denn du warst schon damals so... ein verdorbener Mensch, daß es nutzlos gewesen wäre, deinen Augen die kostbaren Perlen der Tugenden des Christus zu enthüllen. Du hättest ihren Wert nicht begriffen und hättest sie... mit Kieselsteinen verwechselt... da sie von so außergewöhnlicher Größe waren. Auch in der Wüste habe ich dir geantwortet und die Worte wiederholt, den Sinn der Worte, die ich dir an jenem Abend auf dem Weg nach Gethsemane gesagt hatte. Wenn Johannes oder auch Simon der Zelote mir diese Frage gestellt hätte, dann hätte ich auf andere Art geantwortet; denn Johannes ist rein und hätte nicht mit der Bosheit gefragt, die in deinen Worten steckte, da du voller Bosheit bist... und Simon ist ein weiser Greis, und obwohl er das Leben kennt, wie Johannes es nicht kennt, hat er eine Weisheit erlangt, die ihn alle Ereignisse betrachten läßt, ohne daß er im Inneren davon beunruhigt wird. Aber diese beiden haben mich nie gefragt, ob ich je den Versuchungen erlegen bin, den üblichen Versuchungen oder dieser Versuchung. In der unberührten Reinheit des ersteren ist keine Erinnerung an die Unzucht und in dem betrachtenden Geist des anderen ist so viel Licht, daß er meine strahlende Reinheit erkennt.

Du hast gefragt... und ich habe dir geantwortet, wie ich konnte. Mit jener Klugheit, die niemals zur Unaufrichtigkeit verführen darf, da Klugheit und Aufrichtigkeit in den Augen Gottes heilig sind. Jener Klugheit, die gleich dem dreifachen Vorhang zwischen dem Heiligen und dem Volk

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hängt, um das Geheimnis des Königs zu verhüllen. Jener Klugheit, die die Wahl der Worte bestimmt, je nach dem Zuhörer, seiner Verstandeskraft, seiner geistigen Reinheit und seiner Gerechtigkeit. Denn gewisse Wahrheiten, die man den Unreinen sagt, werden für diese zum Gegenstand des Gelächters, nicht der Verehrung... Ich weiß nicht, ob du dich an alle diese Worte erinnerst. Und ich wiederhole sie dir in dieser Stunde, da wir beide am Rand des Abgrunds stehen. Denn... Aber es ist nicht nötig, dies zu sagen. Ich habe in der Wüste auf deine Frage geantwortet, da meine erste Erklärung dich nicht zufriedengestellt hatte: "Der Meister hat sich niemals dem Menschen überlegen gefühlt, weil er der 'Messias' ist; vielmehr, da er Mensch ist, wollte er es in allem sein, außer der Sünde. Um Lehrer sein zu können, muß man erst Schüler gewesen sein. Als Gott wußte ich alles. Meine göttliche Intelligenz konnte mich durch meine Verstandesmacht auch die Kämpfe des Menschen begreifen lassen. Aber eines Tages hätte dann irgendein armer Freund zu mir sagen können: 'Du weißt nicht, was es heißt, Mensch zu sein und Gefühle und Leidenschaften zu haben.' Das wäre ein gerechter Vorwurf gewesen. Ich bin hierhergekommen, um mich nicht allein auf die Mission, sondern auch auf die Versuchung, auf die satanische Versuchung vorzubereiten; denn der Mensch hätte keine Macht über mich gehabt. Satan ist gekommen, als in der Einsamkeit meine fühlbare Vereinigung mit Gott aufgehört hatte und ich fühlte, daß ich ein Mensch mit wahrem Fleisch bin, das den Schwächen des Fleisches unterworfen ist: dem Hunger, der Müdigkeit, dem Durst und der Kälte. Ich habe die Materie gespürt mit ihren Forderungen, und die Gefühle mit ihren Leidenschaften. Und durch meinen Willen habe ich die schlechten Leidenschaften schon bei ihrem Aufkommen unterdrückt und die heiligen Leidenschaften gedeihen lassen." Erinnerst du dich dieser Worte? Und weiter habe ich beim ersten Mal zu dir gesagt, zu dir allein: "Das Leben ist ein heiliges Geschenk und muß daher heiligmäßig geliebt werden. Das Leben ist ein Mittel zum Zweck, um das ewige Leben zu erlangen." Ich habe gesagt: "Geben wir also dem Leben, was es braucht, um zu bestehen und dem Geist zu dienen in seinem Bestreben: Enthaltsamkeit in den Gelüsten des Fleisches, Enthaltsamkeit in den Wünschen des Verstandes, Enthaltsamkeit in allen menschlichen Leidenschaften des Herzens, und unbegrenzte Energie in den Leidenschaften, die zum Himmel führen: die Liebe zu Gott und dem Nächsten, den Willen, Gott und dem Nächsten zu dienen, den Gehorsam gegenüber der Stimme Gottes und den Heroismus im Guten und in der Tugend." Und du hast mir damals gesagt, ich könnte dies fertigbringen, weil ich heilig bin, während es für dich unmöglich sei, weil du ein junger Mensch voller Lebenskraft bist. Als ob jung und kraftvoll zu sein eine Entschuldigung für das Laster wäre und nur die Alten oder die Kranken, die wegen ihres Alters oder ihrer Schwäche nicht fähig sind zu dem, woran du in der Glut deiner unzüchtigen Begierden

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dachtest, frei von Versuchungen der Sinne wären! Ich hätte dir damals schon vieles entgegnen können. Aber du warst nicht imstande, es zu verstehen. Nicht einmal jetzt bist du es; doch jetzt kannst du wenigstens nicht mehr ungläubig lächeln, wenn ich dir sage, daß der gesunde Mensch keusch sein kann, wenn er nicht von sich aus für die Verführungen Satans und der Sinne zugänglich ist. Keuschheit ist eine geistige Neigung, eine Regung, die sich auf das Fleisch überträgt und es durchdringt, erhebt, mit Duft erfüllt und bewahrt. In dem, der von Keuschheit erfüllt ist, ist für andere ungute Regungen kein Platz. Das Verderben kann nicht in ihn eindringen. Es ist kein Platz dafür vorhanden. Und überdies! Das Verderben dringt nicht von außen ein. Die Regung dringt nicht von außen ins Innere. Es ist eine Regung, die aus dem Inneren, dem Herzen, den Gedanken kommt und dann in die Hülle, das Fleisch, vordringt und es durchdringt. Deshalb habe ich gesagt, daß das Verderben aus dem Herzen kommt. Jeder Ehebruch, jede Unzucht, jede Sünde der Sinne hat ihren Ursprung nicht in Äußerem, sondern entspringt den verdorbenen Gedanken, die alles aufreizend erscheinen lassen, was man sieht. Alle Menschen haben Augen, um zu sehen. Wie kommt es dann, daß eine Frau, die zehn Männer gleichgültig läßt, weil sie in ihr ein ihnen ähnliches Geschöpf sehen oder sie als ein schönes Werk der Schöpfung betrachten, das aber keine obszönen Gefühle und Phantasien in ihnen hervorruft, den elften betört und zu unwürdigen Begierden verleitet? Es kommt daher, daß dieser elfte ein verdorbenes Herz und unreine Gedanken hat und dort, wo zehn die Schwester sehen, das Weib sieht. Dies habe ich dir damals zwar nicht gesagt, aber ich habe dir gesagt, daß ich eigens für die Menschen und nicht für die Engel gekommen bin. Ich bin gekommen, um den Menschen die königliche Würde der Kinder Gottes wiederzugeben, indem ich sie lehre, gottähnlich zu leben. Gott kennt keine Unzucht, o Judas. Und ich wollte euch zeigen, daß auch der Mensch rein sein kann. Ich wollte euch zeigen, daß man leben kann, wie ich es lehre. Um euch dies zu zeigen, mußte ich wahres Fleisch annehmen, um die Versuchungen der Menschen erleiden und dann den Menschen, nachdem ich sie belehrt habe, sagen zu können: "Macht es wie ich." Und du hast mich gefragt, ob ich in der Versuchung gesündigt habe. Erinnerst du dich? Ich habe dir geantwortet, denn ich sah, daß du nicht begreifen konntest, daß ich versucht werden könnte ohne zu fallen, da dir die Versuchung des Wortes unwahrscheinlich erschien und du glaubtest, daß es für den Menschen unmöglich sei, nicht zu sündigen; deshalb habe ich dir geantwortet, daß alle versucht werden können, doch nur jene Sünder werden, die es sein wollen. Dein Erstaunen war groß, und ungläubig hast du weiter gefragt: "Hast du noch nie gesündigt?" Damals konntest du ungläubig sein. Wir kannten uns erst seit kurzem. Und Palästina ist voll von Rabbis, die das Gegenteil von dem lehren, was sie leben. Aber nun weißt du, daß ich nicht gesündigt habe und nicht

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sündige. Du weißt, daß die Versuchung, auch die heftigste, die den gesunden, mannhaften Menschen bedrängt, der unter Menschen lebt und von ihnen und von Satan umgarnt wird, mich nicht so verwirren kann, daß ich sündige. Vielmehr war jede Versuchung, auch wenn der Widerstand sie nur noch heftiger werden ließ, da der Dämon sie noch verstärkte, um mich zu unterwerfen, ein immer größerer Sieg. Und nicht nur über die Unkeuschheit, die mich wie ein Sturmwind umbrauste und die dennoch meinen Willen nicht erschüttern und nicht beeinträchtigen konnte. Wo keine Zustimmung in der Versuchung ist, gibt es keine Sünde, Judas. Es ist schon Sünde, wenn man, auch ohne die Tat auszuführen, der Versuchung soweit nachgibt, daß man sie betrachtet. Es ist eine läßliche Sünde, aber es ist schon der Weg zur Todsünde und bereitet sie vor. Denn, die Versuchung wirken zu lassen und in Gedanken bei ihr zu verweilen, im Geist die Phasen einer Sünde zu verfolgen, bedeutet, sich selbst zu schwächen. Satan weiß dies, und daher greift er mit immer neuen Flammen an in der Hoffnung, daß eine von ihnen eindringt und wirkt. Danach ist es leicht zu erreichen, daß aus dem Versuchten ein Sünder wird. Du hast mich damals nicht verstanden. Du konntest mich nicht verstehen. Nun kannst du es. Du verdienst es jetzt viel weniger als damals, zu verstehen, und doch wiederhole ich die Worte, die ich dir, für dich, gesagt habe, da du, nicht ich, derjenige bist, in dem die abgewiesene Versuchung keine Ruhe gibt ... Sie gibt keine Ruhe, weil du sie nicht gänzlich zurückweist. Du begehst die Tat nicht, aber du denkst ständig an sie. Heute so, und morgen... morgen begehst du die eigentliche Sünde. Daher habe ich dich schon damals gelehrt, den Vater um Hilfe zu bitten gegen die Versuchung. Ich habe dich gelehrt, den Vater zu bitten, dich nicht in Versuchung zu führen. Ich, der Sohn Gottes, ich, der ich den Satan schon besiegt habe, habe den Vater um Hilfe gebeten, denn ich bin demütig. Du nicht. Du hast Gott nicht um Schutz und Rettung gebeten, denn du bist stolz. Und deshalb sinkst du immer tiefer... Erinnerst du dich jetzt an all das? Dann kannst du nun auch verstehen, was es für mich bedeutet, der ich wahrer Mensch mit allen menschlichen Regungen und wahrer Gott mit allen göttlichen Regungen bin, dich so sehen zu müssen: als Unzüchtigen, Lügner, Dieb, Verräter und Mörder. Weißt du, welche Anstrengung es für mich bedeutet, dich in meiner Nähe zu ertragen? Weißt du, welche Mühe es mich kostet, mich zu beherrschen, wie eben jetzt, um bis zuletzt meine Mission an dir zu erfüllen? Jeder andere Mensch hätte dich am Kragen gepackt, wenn er dich als Dieb und Einbrecher mit der Absicht, Geld zu stehlen, ertappt hätte, wenn er wüßte, daß du ein Verräter bist und mehr noch als ein Verräter... Ich habe zu dir gesprochen. Noch bin ich barmherzig. Schau. Es ist nicht Sommer und durch das Fenster dringt die kühle Abendluft in den Raum. Und doch treibt es mir den Schweiß aus allen Poren, als ob ich härteste Arbeit verrichtet hätte. Merkst du denn nicht, wieviel du mich kostest?

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Was du bist? Du willst, daß ich dich fortjage? Nein. Niemals. Wenn einer am Ertrinken ist, dann wird der zum Mörder, der ihn losläßt. Du stehst zwischen zwei Kräften, die dich anziehen. Ich und Satan. Aber wenn ich dich gehen lasse, bleibt nur er. Und wie wirst du dich dann retten? Und doch würdest du mich verlassen... Du hast mich im Geist schon verlassen... Nun gut: Ich werde trotzdem die Hülle des Judas bei mir behalten. Deinen Körper, der nicht den Willen hat, mich zu lieben, deinen Körper, der dem Guten unzugänglich ist. Ich behalte ihn bei mir, bis du dieses Nichts, deine äußere Hülle, von mir verlangst, um sie mit deinem Geist zu vereinen und mit deinem ganzen Selbst zu sündigen... Judas... ! Hast du mir nichts zu sagen? Judas! Hast du kein Wort für deinen Meister? Willst du mich um nichts bitten? Ich verlange nicht, daß du mir sagst: "Verzeih mir!" Ich habe dir zu oft umsonst verziehen. Ich weiß, daß dieses Wort nur von deinen Lippen kommt und von keiner Regung der reuigen Seele begleitet ist. Ich möchte eine Regung deines Herzens. Bist du denn schon so tot, daß du keinen Wunsch mehr hast? Sprich! Hast du Angst vor mir? Oh, könntest du mich nur fürchten! Wenigstens das! Aber du hast keine Furcht vor mir. Wenn du mich fürchten würdest, würde ich dir die Worte wiederholen, die ich an jenem längst vergangenen Tag sagte, als wir von der Versuchung und der Sünde sprachen: "Ich sage dir, auch nach dem größten Verbrechen würde Gott dem Schuldigen verzeihen, wenn dieser sich mit wahrer Reue zu seinen Füßen niederwerfen, weinend um Verzeihung bitten und voll Vertrauen und Hoffnung die Sühne auf sich nehmen würde. Durch die Sühne könnte der Schuldige seine Seele noch retten." Judas! Aber wenn du mich auch nicht fürchtest, so liebe ich dich doch noch. Willst du in dieser Stunde meine unendliche Liebe um nichts bitten?»

«Nein. Das heißt, nur um eines will ich dich bitten: daß du Johannes gebietest zu schweigen. Wie, glaubst du, soll ich mich bessern, wenn ich der Schandfleck unter euch bin?» Er sagt das in hochmütigem Ton.

Und Jesus antwortet ihm: «Und das sagst du in diesem Ton? Johannes wird schweigen. Aber du, und das bitte ich dich, sorge dafür, daß man deine Verderbtheit nicht bemerkt. Hebe die Münzen auf und lege sie in die Börse der Johanna zurück. Ich will versuchen, die Truhe wieder zu verschließen... mit dem Eisen, das du zum Aufbrechen benützt hast ...»

Und während Judas unwillig die überall verstreuten Münzen sammelt, lehnt sich Jesus an die offene Truhe, als ob er müde wäre. Das Licht im Raum hat abgenommen, doch ist es noch hell genug um zu sehen, wie Jesus lautlos weint, während er seinen Apostel betrachtet, der gebückt das zerstreute Geld sammelt.

Judas ist fertig und geht zur Truhe. Er nimmt die große schwere Börse der Johanna, wirft die Münzen hinein, verschließt sie und sagt: «Hier!»Dann geht er zur Seite.

Jesus nimmt den einfachen Dietrich, den Judas angefertigt hat. Mit

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zitternden Händen läßt er das Schloß einschnappen und schließt die Truhe. Dann legt er das Eisen über sein Knie und verbiegt es, tritt mit dem Fuß darauf, um es vollends unbrauchbar zu machen, hebt es wieder auf und verbirgt es an der Brust. Während er dies tut, fallen Tränen auf das Linnen seines Gewandes.

Endlich rührt sich etwas im Gewissen des Judas. Er bedeckt sein Gesicht mit den Händen, bricht in Tränen aus und sagt: «Ich Verfluchter! Ich bin der Abschaum der Erde!»

«Du bist der ewig Unglückselige! Und wenn man bedenkt, daß du noch glücklich sein könntest, wenn du nur wolltest!»

«Schwöre mir! Schwöre mir, daß niemand etwas erfährt... ! Dann schwöre ich dir, daß ich mich erlösen werde!» schreit Judas.

«Sag nicht: "Ich werde mich erlösen." Nicht du kannst es. Ich allein kann dich erlösen. Der zuvor von deinen Lippen sprach, nur ich kann ihn besiegen. Sage mir das Wort der Demut: "Herr, rette mich! " und ich werde dich befreien von dem, der dich beherrscht. Verstehst du denn nicht, daß ich dieses Wort von dir sehnlicher erwarte als den Kuß meiner Mutter?»

Judas weint und weint, aber das Wort sagt er nicht.

«Geh. Verlasse den Raum. Geh auf die Terrasse. Geh, wohin du willst, aber mache keine lauten Szenen. Geh. Geh. Keiner wird dich entdecken, denn ich werde achtgeben. Ab morgen wirst du das Geld verwahren. Es ist nun alles nutzlos.»

Judas geht ohne Widerrede. Jesus sinkt, nachdem er allein geblieben ist, auf einen Stuhl beim Tisch und weint bitterlich, das Haupt auf den auf dem Tisch gekreuzten Armen.

Nach einigen Minuten kommt Johannes leise herein. Er verweilt einen Augenblick totenbleich auf der Schwelle, dann eilt er zu Jesus und umarmt ihn flehend: «Weine nicht, Meister! Weine nicht! Ich will dich auch für diesen Unglücklichen lieben...» Er richtet ihn auf, küßt ihn, trinkt die Tränen seines Gottes und weint mit ihm. Jesus umarmt ihn, und die beiden blonden Köpfe tauschen Tränen und Küsse aus.

Jesus beherrscht sich bald und sagt: «Johannes, vergiß das alles aus Liebe zu mir. Ich will es.»

«Ja, mein Herr. Ich will versuchen, es zu tun. Aber du sollst nicht mehr leiden... Ach, welch ein Schmerz! Und er hat mich sündigen gemacht, mein Herr. Ich habe gelogen. Ich mußte lügen, denn die Jüngerinnen sind zurückgekommen. Nein, zuerst die Leute der Frau. Sie wollten dir danken, denn ein Junge ist glücklich zur Welt gekommen. Ich habe gesagt, du seist wieder auf den Berg gegangen... Dann sind die Frauen gekommen, und ich habe wieder gelogen und gesagt, daß du fort bist, vielleicht dort, wo das Kind geboren wurde... Mir ist nichts anderes eingefallen. Ich war so bestürzt! Deine Mutter hat bemerkt, daß ich geweint hatte, und hat

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mich gefragt: "Was hast du, Johannes?" Sie war besorgt ... Es schien mir, als ob sie alles wüßte. Ich habe zum drittenmal gelogen und gesagt: "Ich bin erschüttert wegen dieser Frau." So weit kann die Berührung mit dem Sünder führen! Zur Lüge... Sprich mich los, mein Jesus.»

«Sei beruhigt. Lösche jede Erinnerung an diese Stunde. Nichts, nichts ist vorgefallen ... Es war ein Traum...»

«Aber dein Schmerz! Oh, wie hast du dich verändert, Meister! Sage mir, sage mir nur das eine: Hat Judas wenigstens bereut?»

«Wer kann Judas verstehen, mein Sohn?»

«Keiner von uns. Aber du schon.»

Jesus antwortet nicht. Nur neue Tränen rinnen lautlos über das müde Gesicht.

«Ah! Er hat also nicht bereut... !» Johannes ist entsetzt.

«Wo ist er jetzt? Hast du ihn gesehen?»

«Ja. Er hat von der Terrasse heruntergeschaut, um zu sehen, ob jemand da ist, und da er nur mich gesehen hat, der ich in meiner Angst unter dem Feigenbaum saß, ist er heruntergerannt und zum Gartentor hinausgegangen. Dann bin ich gekommen...»

«Du hast es gut gemacht. Wir wollen hier alles in Ordnung bringen, die Stühle wieder an ihren Platz stellen und den Krug forttragen, damit keine Spuren zurückbleiben...»

«Hat er dich angegriffen?»

«Nein, Johannes. Nein.»

«Du bist zu sehr betrübt, Meister, um hierbleiben zu können. Deine Mutter würde sofort verstehen... und darunter leiden.»

«Das ist wahr. Gehen wir hinaus... Du wirst den Schlüssel zur Nachbarin bringen. Ich gehe dir am Ufer in Richtung zum Berg voraus.»

Jesus geht hinaus. Johannes bleibt zurück, um alles in Ordnung zu bringen. Dann geht auch er hinaus. Er bringt den Schlüssel zu einer Frau, deren Haus sich in der Nähe befindet, und verschwindet dann schnell im Gebüsch am Ufer, um von niemandem gesehen zu werden.

Etwa hundert Meter vom Haus entfernt sitzt Jesus auf einem Stein. Er wendet sich um, als er die Schritte des Apostels hört. Sein Gesicht leuchtet weiß im Abendlicht. Johannes läßt sich neben ihm auf den Boden nieder und legt seinen Kopf in den Schoß Jesu, erhebt sein Antlitz und schaut ihn an. Er sieht, daß immer noch Tränen die Wangen Jesu benetzen.

«Oh, leide nicht mehr! Leide nicht mehr, Meister! Ich kann dich nicht leiden sehen!»

«Wie sollte ich nicht leiden! Dies ist mein größter Schmerz. Erinnere dich, Johannes: Dies wird in Ewigkeit mein größter Schmerz sein! Du kannst noch nicht alles begreifen... Mein größter Schmerz...» Jesus ist sehr niedergeschlagen. Johannes hält ihn fest umarmt. Er ist tieftraurig, da er ihn nicht trösten kann.

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Jesus erhebt das Haupt, öffnet die Augen, die er geschlossen hatte, um die Tränen zurückzuhalten, und sagt: «Denk daran, nur wir drei wissen es: der Schuldige, ich und du. Und sonst darf es niemand wissen.»

«Niemand wird es aus meinem Mund erfahren. Aber wie konnte er nur? Solange er nur Geld aus der gemeinsamen Börse nahm... Aber nun das... ! Ich glaubte, verrückt geworden zu sein, als ich es sah... Wie schrecklich!»

«Ich habe dir gesagt, du sollst vergessen ...»

«Ich will mich bemühen, Meister! Aber es ist zu schrecklich...»

«Es ist schrecklich. Ja. Oh, Johannes! Johannes!» Und Jesus umarmt den Lieblingsjünger, legt den Kopf auf seine Schulter und weint seinen ganzen Schmerz aus. Die Schatten, die rasch auf das Dickicht fallen, hüllen die beiden in Dunkelheit.

623. DIE REISE DURCH SAMARIA VOR DEM PASSAHFEST; VON EPHRAIM NACH SILO

«Erlaube, daß wir dir folgen, Meister. Wir werden dir nicht zur Last fallen», betteln viele Bewohner von Ephraim, die sich vor dem Haus der Maria des Jakob versammelt haben. Diese lehnt an einem Pfosten der weitgeöffneten Tür und weint herzzerbrechend.

Jesus ist von seinen zwölf Aposteln umgeben; weiter drüben bilden Johanna, Nike, Susanna, Elisa, Martha, Maria, Salome und Maria des Alphäus eine Gruppe um seine Mutter. Alle, Männer wie Frauen, sind reisefertig, die Kleider gegürtet und in der Taille leicht geschürzt, um die Füße frei zu haben. Sie tragen neue Sandalen, deren geflochtene Lederriemen nicht nur um die Knöchel, sondern auch um die Waden geschnürt sind, so wie man es macht, wenn man unwegsame Pfade gehen muß. Die Männer sind auch mit den Reisesäcken der Jüngerinnen bepackt.

Die Leute erbetteln von Jesus die Erlaubnis, ihm folgen zu dürfen, während die Kinder mit erhobenen Gesichtlein und ausgestreckten Ärmchen schreien: «Einen Kuß! Nimm mich auf den Arm! Komm zurück, Jesus! Komm bald wieder und erzähle uns viele schöne Gleichnisse! Ich werde dir die Rosen aus meinem Garten aufbewahren! Ich werde kein Obst essen und es für dich aufheben! Komm zurück, Jesus! Mein Schaf bekommt ein Junges, und ich möchte dir das Lämmlein schenken; aus seiner Wolle kannst du dir ein Gewand wie das meine machen... Wenn du bald kommst, schenke ich dir die Fladen, die mir die Mama aus dem ersten Getreide macht...» Sie piepsen wie Vöglein um ihren guten Freund, zupfen an seinem Gewand, hängen sich an seinen Gürtel und versuchen, an seinen Armen hinaufzuklettern, so liebevoll despotisch, daß es Jesus unmöglich

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ist, den Erwachsenen zu antworten, da er immer wieder ein neues Gesichtlein küssen muß.

«Jetzt aber weg mit euch! Genug! Laßt den Meister in Ruhe! Frauen! Nehmt eure Kinder zu euch!» schreien die Apostel, die ihre Reise unbedingt in diesen ersten Stunden des Tages beginnen wollen. Sie verpassen auch einigen allzu aufdringlichen Kindern einen gutmütigen Klaps.

«Nein, laßt sie nur. Ihre kindliche Frische ist mir mehr wert als die Morgenkühle. Laßt sie und mich nur machen. Laßt mich Trost finden in dieser Liebe ohne Berechnung und Verwirrung», sagt Jesus in Verteidigung seiner kleinen Freunde, und als er die Arme ausbreitet, bedeckt sein weiter Mantel die Kinder wie schützende blaue Flügel. Die Kleinen drängen sich in der sanften Wärme im blauen Halbschatten zusammen und sind ganz still, wie Küchlein unter den Flügeln der Gluckhenne.

Jesus kann endlich zu den Erwachsenen sprechen: «Kommt also mit, wenn ihr glaubt, es tun zu können.»

«Wer soll uns daran hindern? Es ist unser Gebiet!»

«Das Korn, die Weinstöcke und die Obstbäume brauchen eure Arbeit, und die Schafe müssen geschoren werden und paaren sich, und die, die sich schon in der vorigen Saison gepaart haben, bekommen bald Junge. Und es ist Zeit für die Heuernte.»

«Das macht nichts, Meister. Für die Schafschur und die Paarung der Tiere genügen die Alten, und die Kinder und die Frauen können sich um die Lämmer und das Heu kümmern. Die Obstbäume und die Äcker können warten. Auch wenn das Korn in der Ähre hart wird, ist es für die Sichel immer noch früh genug, und die Weinberge, die Olivenhaine und die Obstgärten brauchen nur die Früchte ihrer vielfachen Hochzeiten in der Sonne anschwellen zu lassen. Wir können nichts dazu tun bis zur Ernte, so wie auch die Familienmutter nichts weiter mit dem Brot tun kann, bis die Hefe im Teig aufgegangen ist. Die Sonne ist die Hefe der Früchte. Sie tut nun ihre Arbeit, so wie zuvor der Wind die seine getan hat bei der Vermählung der Blüten an den Zweigen. Und dann... Selbst wenn wir einige Weintrauben oder einige Früchte weniger ernten und Winden und anderes Unkraut einige Ähren ersticken, so ist das immer noch ein sehr kleiner Schaden im Vergleich zu dem, was wir verlieren würden, wenn wir deine Worte nicht hören könnten», sagt ein Greis, dem man im Ort immer große Hochachtung erweist, wie ich gesehen habe.

«Das hast du gut gesagt. Dann wollen wir also gehen. Maria des Jakob, in danke dir und segne dich dafür, daß du mir eine so gute Mutter gewesen bist. Weine nicht! Wer ein gutes Werk getan hat, braucht nicht zu weinen.»

«Ach, ich werde dich verlieren und nie mehr wiedersehen!»

«Wir werden uns ganz sicher wiedersehen.»

«Kommst du hierher zurück, Herr?» fragt die Frau und lächelt unter Tränen. «Warum?»

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«Hierher werde ich nicht mehr kommen, so wie jetzt...»

«Wo werden wir uns dann wiedersehen, da ich, arm und alt wie ich bin, nicht auf die Straßen der Welt gehen und dich suchen kann?»

«Im Himmel, Maria. Im Haus unseres Vaters. Dort, wo ein Platz für Juden und Samariter ist; wo ein Platz ist für alle, die mich im Geist und in der Wahrheit lieben. Du tust es schon, denn du glaubst an mich als an den Sohn des wahren Gottes ...»

«Oh! Und ob ich glaube! Aber für uns gibt es keine Hoffnung, denn nur du liebst uns, ohne einen Unterschied zu machen.»

«Wenn ich fortgegangen bin, dann werden diese (er weist auf die Apostel) an meiner Stelle kommen. Und im Gedenken an mich werden sie nicht fragen, wer jene sind, die in die Herde des wahren und einzigen Hirten aufgenommen werden wollen.»

«Ich bin alt, Herr. Ich werde nicht mehr lange genug leben, um dies zu erleben. Du bist jung und kräftig, und deine Mutter wird dich noch lange haben, und auch die, die dich lieben und deinem Volk angehören... Warum weinst du, Mutter des Gesegneten?» fragt sie erstaunt, da sie Tränen in den Augen der Jungfrau-Mutter sieht.

«Nichts habe ich, außer meinem Schmerz... Leb wohl, Maria. Gott segne dich für alles, was du meinem Sohn getan hast. Und vergiß nicht: wenn dein Schmerz auch groß ist, einen größeren als den meinen gibt es nicht und wird es niemals auf Erden geben. Niemals! Denk an die schmerzenreiche Maria von Nazareth... Leb wohl!» und Maria geht, nachdem sie das alte Frauchen an der Tür geküßt hat, und macht sich mit den Frauen und Johannes an ihrer Seite auf den Weg.

Johannes, der in seiner üblichen, etwas gebeugten Haltung mit nach oben gewendetem Gesicht geht, um die zu sehen, zu der er spricht, sagt: «Weine nicht so, Maria. Wenn auch viele deinen Jesus hassen, so gibt es doch auch viele, die ihn lieben. Erhebe deinen Geist, o Mutter, und sieh auf jene, die jetzt und in künftigen Zeiten deinen Sohn lieben werden mit ihrem ganzen Sein.» Und er endet leise, beinahe flüsternd, zu Maria allein, die er am Ellbogen hält und führt und stützt, damit sie nicht über die Steine des Feldweges stolpert, da die Tränen ihren Blick trüben: «Nicht alle Mütter können ihre Kinder geliebt sehen... Es wird solche geben, die entsetzt ausrufen: "Warum habe ich ihn geboren?"»

Jesus holt Maria und Johannes ein, die allein etwas hinter den Jüngerinnen zurückgeblieben sind. Bei Jesus ist Jakobus des Alphäus. Die anderen folgen in einer Gruppe, nachdenklich und traurig, wie auch die Jüngerinnen, die allen vorausgehen. Den Schluß bildet eine beträchtliche Anzahl Männer aus Ephraim, die miteinander reden.

«Abschied nehmen ist immer traurig, Mutter. Vor allem, wenn man nicht weiß, daß das Ende der Beginn von etwas weit Vollkommenerem ist. Der Abschied ist eine traurige Folge der Sünde, und sie wird auch nach

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der Vergebung fortbestehen. Doch die Menschen werden sie mit größerer Bereitschaft ertragen, da sie Gott zum Freund haben.»

«Du hast recht, Jesus. Aber es gibt einen Schmerz, den Gott verkosten läßt, obgleich er der väterlichste Freund ist, den es geben kann. Für mich ist er es. Oh, Gott ist gut! So gut! Ich möchte nicht, daß Jakobus und Johannes oder sonst jemand Ärgernis an meinen Tränen nimmt. Gott ist gut. Er ist immer gut zu seiner armen Maria gewesen. Das habe ich mir jeden Tag gesagt, seit ich denken kann. Und nun ... nun sage ich es jede Stunde, jeden Augenblick. Immer öfter sage ich es mir, je mehr mich der Schmerz bedrückt... Gott ist gut. Er hat dich mir gegeben: den liebenden und heiligen Sohn, der schon als Geschöpf jeglichen Schmerz einer Frau aufwiegt... Er hat dich mir gegeben, dem armen Mädchen, das er zur Mutter seines fleischgewordenen Wortes erhoben hat... Und diese Freude, dich "Sohn" nennen zu können, o mein angebeteter Herr, ist so groß, daß kein Martyrium meinen Augen eine Träne entlocken dürfte, wenn ich so vollkommen wäre, wie du uns zu sein lehrst. Doch ich bin eine arme Frau, mein Sohn! Du bist mein Geschöpf... und welche Mutter würde nicht weinen, wenn ihr Kind gehaßt wird, und sie wüßte... Mein Sohn, hilf deiner Dienerin! Gewiß war noch Stolz in mir, als ich glaubte, stark zu sein... Aber damals... war die Zeit noch fern... Nun ist sie gekommen... Ich fühle es... Hilf mir, Jesus, mein Gott! Wenn Gott mich so leiden läßt, dann geschieht es sicher aus Güte. Denn wenn er wollte, könnte er mein Leid auf das beschränken, was geschieht... Er hat dich so in meinem Schoß gebildet ... Wie ... Man kann es nicht in Worten ausdrücken, wie er dich geschaffen hat ... Aber Gott will, daß ich leide... und er sei dafür gepriesen... immer. Aber du, Jesus, hilf mir. Helft mir alle... alle... denn das Meer, an dem ich meinen Durst lösche, ist so bitter...»

«Wir wollen beten. Wir vier zusammen. Wir, die wir dich aus ganzem Herzen lieben, Mutter. Ich, dein Sohn, und Johannes und Jakobus, die dich wie ihre eigene Mutter lieben... Vater unser, der du bist im Himmel...» Und Jesus spricht zusammen mit der Mutter und den beiden Aposteln, die leise mitbeten, das ganze Gebet des Herrn, wobei er einige Sätze wie: «Dein Wille geschehe» oder «und führe uns nicht in Versuchung» besonders betont. Dann sagt er: «Nun, der Vater wird uns helfen, seinen Willen zu tun, auch wenn er so ist, daß wir in unserer menschlichen Schwäche fürchten, ihn nicht erfüllen zu können; und er wird uns nicht in die Versuchung führen, daß wir ihn für weniger gütig halten, denn während wir den bitteren Kelch trinken, wird er uns seinen Engel schicken, der die Bitterkeit mit himmlischem Trost von unseren Lippen nimmt.» Jesus hält die Hand seiner Mutter, die mutig gegen die Tränen ankämpft und sie auf den Grund ihres Herzens verbannt hat. Die beiden Apostel an ihrer Seite, Johannes neben Maria und Jakobus des Alphäus neben Jesus, schauen sie ergriffen an.

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Die Jüngerinnen drehen sich mehrmals um, als sie das Schluchzen Marias und das Gebet der Vier hören. Aber sie halten es für besser, nicht zu ihnen zu kommen. Hinten fragen sich die Apostel: «Aber warum weint denn Maria so sehr?» Ich habe gesagt, die Apostel, aber ich will sagen, alle mit Ausnahme des Judas von Kerioth, der sehr nachdenklich, fast finster, etwas hinter ihnen dreingeht, so daß es Thomas auffällt und er zu den anderen sagt: «Was hat denn Judas, daß er so ist? Er gleicht einem, der zum Schafott geht.»

«Hm... Er wird Angst haben, nach Judäa zurückzukehren», antwortet Matthäus.

«Ich... Was hat dir der Meister wegen des Geldes gesagt?» fragt der Zelote.

«Nichts Besonderes. Er hat mir gesagt: "Wir wollen es nun wieder machen wie früher: Judas ist der Schatzmeister, und ihr verteilt die Almosen. Was unsere eigenen Ausgaben betrifft, so wollen die Jüngerinnen uns helfen." Ich konnte es kaum glauben, denn ich habe so viel mit Geld zu tun gehabt, daß ich es nun hasse.»

«Und die Jüngerinnen sorgen gut für uns. In diesen Sandalen geht man so sicher. Man spürt nicht einmal, daß wir im Gebirge gehen. Wer weiß, wieviel sie kosten!» sagt Petrus und betrachtet seine Füße mit den neuen Sandalen, die Ferse und Zehen schützen und die Knöchel mit feinen Lederriemen stützen.

«Martha hat daran gedacht. Man erkennt ihre fürsorgliche Hand und ihren Reichtum. Wir haben sie früher auch so gebunden, aber die Schnüre waren eine Qual. Man hat zwar nicht die Sohlen, dafür aber die Haut an den Beinen verloren...» sagt Andreas.

«Und man hat sich Zehen und Fersen verletzt... Deswegen hat der da hinten schon immer solche getragen...» sagt Petrus und deutet auf Judas von Kerioth.

Die Straße steigt und steigt zum Gipfel des Berges. Schaut man zurück, sieht man Ephraim ganz weiß in der Sonne liegen, schon sehr weit unten, von hier aus.

Nun holen die Apostel auf und helfen den Jüngerinnen, den hier sehr steilen Weg zu bewältigen, und Bartholomäus, der zurückgeblieben ist, sagt zu den Leuten von Ephraim: «Da habt ihr aber einen beschwerlichen Weg ausgesucht, Freunde.»

«Ja, aber gleich hinter dem Wald kommt eine gute Straße, auf der man in kurzer Zeit Silo erreicht. Ihr könnt dort dann länger ausruhen, als wenn ihr erst bei Dunkelheit auf anderen Straßen ankommen würdet», antwortet einer.

«Du hast recht, der mühseligste Weg führt immer am schnellsten zum Ziel.»

«Dein Meister weiß es. Daher schont er sich nicht. Ach, wir werden ihn

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niemals vergessen... ! Vor allem, weil er uns in diesen letzten Tagen so viel Gutes getan hat, obgleich Leute aus unserer Gegend ihn so ungerecht beschimpft haben. Er allein ist gut, und daher ist er auch gut zu denen, die ihn hassen.»

«Ihr habt ihn aber nicht gehaßt.»

«Wir nicht. Aber wir hassen auch so viele andere nicht und werden trotzdem grundlos gehaßt.»

«Ihr müßt es machen wie er, ohne Furcht, und ihr werdet sehen, daß ...»

«Und ihr, weshalb macht ihr es nicht so? Dasselbe gilt doch für euch. Wir hier, ihr dort, und in der Mitte ein Berg: der Berg der gemeinsamen Irrtümer. Droben der gemeinsame Gott. Warum sind wir dann nicht beide, wir und ihr, darauf bedacht, uns dort oben zu Füßen Gottes gemeinsam wiederzufinden?»

Bartholomäus versteht den gerechten Tadel ganz genau, denn er bildet sich trotz seiner unleugbaren Tugend etwas darauf ein, ein Israelit zu sein, und verhält sich sehr ablehnend gegen alles, was nicht Israel ist. Daher weicht er aus, antwortet nicht direkt und sagt: «Es ist nicht nötig hinaufzusteigen. Gott ist zu uns herabgestiegen. Es genügt, wenn wir ihm folgen.»

«Ihm folgen. Ja, das möchten wir wohl. Aber wenn wir ihm nach Judäa folgen würden, würden wir ihm dann nicht schaden? Auch du weißt, wessen man ihn beschuldigt und wessen man uns beschuldigt: daß wir Samariter sind, was soviel bedeutet wie Dämonen.»

Bartholomäus seufzt. Dann läßt er ihn plötzlich stehen und sagt: «Man gibt mir ein Zeichen zu kommen ...» und er beschleunigt seinen Schritt.

Die von Ephraim blicken ihm nach, und einer meint: «Dieser ist nicht wie er. Was verlieren wir schon, wenn er weggeht!» Und er macht eine traurige Geste.

«Weißt du, Elias, daß er gestern abend dem Synagogenvorsteher eine große Summe übergeben hat, damit er sie Maria des Jakob bringt und sie nicht mehr Hunger leidet!»

«Ich wußte es nicht. Und warum hat nicht er sie ihr gegeben?»

«Er wollte keinen Dank von der alten Frau. Sie weiß es noch nicht. Ich weiß es, denn der Synagogenvorsteher hat es mir gesagt, um zu beraten, ob es besser wäre, die Grundstücke des Johannes zu kaufen, die sein Bruder verkaufen will, oder ob man ihr das Geld nach und nach geben soll. Ich habe ihm geraten, das Land des Johannes zu kaufen. Maria hätte dann genügend Korn, Öl und Wein zum Leben und müßte nicht mehr hungern. Während das Geld ...»

«Dann ist es also wirklich eine große Summe!» sagt ein dritter.

«Ja. Unser Synagogenvorsteher hat viel bekommen, auch für andere Arme in der Stadt und auf dem Land; "damit auch sie das Passahfest feiern und die neue Zeit begrüßen können", wie der Meister gesagt hat.»

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«Er wird gesagt haben, "das neue Jahr".»

«Nein, er sagte: "die neue Zeit", so daß der Synagogenvorsteher das Geld nicht vor dem Fest der ungesäuerten Brote verwenden wird.»

«Oh, was wollte er wohl damit sagen?» fragen viele.

«Was er damit sagen wollte? Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Nicht einmal Johannes, sein Lieblingsjünger, oder Simon des Jonas, der das Oberhaupt der Jünger ist. Ich habe sie gefragt, und der erste ist blaß geworden, und der zweite hat nachgedacht, wie einer, der etwas zu erraten sucht.»

«Und Judas von Kerioth? Er bedeutet doch etwas unter den Jüngern, vielleicht mehr als die beiden anderen. Er weiß alles, sagt er. Also wird er auch das wissen. Wir wollen gehen und ihn fragen. Er sagt gerne, was er weiß.»

Die Männer holen Judas ein, der immer noch getrennt von den anderen geht und jetzt allein auf dem Weg ist, während die übrigen hinter einer Wegbiegung und im dichten Grün des Hanges verschwunden sind.

«Judas, hör zu. Der Meister sagt, er will, daß man ein großes Fest feiert an Passah, um die neue Zeit zu begrüßen. Was meint er damit?»

«Das weiß ich nicht. Kann ich etwa die Gedanken des Meisters lesen? Fragt ihn doch selbst, da er euch so liebt», und er beschleunigt seinen Schritt und läßt sie enttäuscht zurück.

«Auch dieser ist nicht wie der Meister. Keiner ist so barmherzig wie er...» sagen sie und schütteln den Kopf.

«Nun, folgen wir denn ihnen? Ihm folgen wir! Und wir tun gut daran. Gehen wir. Wer weiß, ob wir nicht von ihm selbst erfahren können, was er damit sagen wollte, bevor er nach Judäa geht.»

Sie gehen nun rascher und holen die anderen ein, die bereits in einem Wald hundertjähriger Eichen sitzen und ausruhen und von dort einen Ausblick auf eine der schönsten Gegenden Palästinas haben.

624. IN SILO; DIE SCHLECHT BERATENEN

Jesus spricht auf einem von Bäumen beschatteten Platz. Die untergehende Sonne verklärt alles mit einem gelbgrünen Licht, das durch die jungen Blätter der riesigen Platanen dringt. Es scheint, als sei über den Platz ein feiner, kostbarer Schleier gespannt, der das Sonnenlicht filtert, ohne ihm ein Hindernis zu sein.

Jesus sagt: «Hört. Ein großer König sandte einmal seinen Lieblingssohn in ein Gebiet seines Reiches, dessen Gerechtigkeit er prüfen wollte, und sagte zu ihm: "Geh, gehe in jeden Ort, tue in meinem Namen Gutes, unterrichte die Menschen über mich, sorge dafür, daß ich bekannt und

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geliebt werde. Ich gebe dir alle Macht, und alles, was du tust, wird wohl getan sein."

Der Sohn des Königs machte sich, nachdem er den väterlichen Segen erhalten hatte, auf den Weg. Mit einigen Freunden und Schildknappen durchzog er unermüdlich jenes Gebiet des Reiches seines Vaters. Nun hatte sich diese Gegend durch eine Reihe unglücklicher Ereignisse in zwei feindliche Lager gespalten, die, jedes für sich, ein großes Geschrei erhoben und dem König dringende Bittschriften sandten, sie allein seien die Besseren, die Treueren, und die Nachbarn die Bösen, die eine Strafe verdienten. So sah sich der Sohn des Königs Bürgern gegenüber, deren Stimmung unterschiedlich war, je nach der Stadt, zu der sie gehörten, die aber zwei Dinge gemeinsam hatten: erstens wollte jede Stadt besser als die andere sein, und zweitens wollte sie der feindlichen Nachbarstadt schaden und sie in den Augen des Königs herabsetzen. Gerecht und weise wie er war, versuchte der Sohn des Königs nun, alle Gegenden dieser Region mit großer Barmherzigkeit über die Gerechtigkeit zu belehren, damit alle Freunde seines Vaters seien und von ihm geliebt würden. Und da der Sohn gut war, gelang es ihm, wenn auch nur langsam; denn wie immer befolgten nur diejenigen aus den verschiedenen Provinzen der Region seine Ratschläge, die gerechten Herzens waren. Und es war sogar so, daß er in dem Teil, dem man voll Verachtung weniger Weisheit und guten Willen nachsagte, mehr Gehör und Verlangen nach Wahrheit fand. Da sagten die von den benachbarten Provinzen: "Wenn wir nichts unternehmen, wird der König seine ganze Huld denen, die wir verachten, schenken. Laßt uns also gehen und sie, die wir hassen, täuschen. Wir wollen so tun, als ob auch wir uns bekehrt hätten und bereit wären, auf unseren Haß zu verzichten, um den Sohn des Königs zu ehren."

Und sie gingen. Als Freunde verkleidet zogen sie durch die Städte der feindlichen Provinzen und rieten mit geheuchelter Güte, was zu tun sei, um den Sohn des Königs und damit auch seinen Vater, den König, immer mehr und immer besser zu ehren. Denn die Ehre, die dem Sohn zuteil wird, der vom Vater gesandt ist, ist auch die Ehre dessen, der ihn gesandt hat. Doch sie ehrten den Sohn des Königs nicht. Sie haßten ihn vielmehr so sehr, daß sie ihn bei den Untertanen und selbst beim König verhaßt machen wollten. So listig waren sie in ihrer Scheinheiligkeit, so gut verstanden sie es, ihre Ratschläge als die besten darzustellen, daß viele aus der benachbarten Gegend sie annahmen, als gut ansahen, was schlecht war, und den rechten Weg verließen, um auf falschen Wegen zu wandeln. Und der Sohn des Königs mußte feststellen, daß er bei vielen das Ziel seiner Mission nicht erreicht hatte.

Nun sagt mir: Welche waren die größeren Sünder in den Augen des Königs? Welches die Sünde derer, die den Rat gegeben haben, und derer, die den Rat befolgt haben? Und ich frage euch weiter: Mit welchen ist der

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gute König wohl strenger ins Gericht gegangen? Könnt ihr mir nicht antworten? Dann werde ich es euch sagen.

Der größte Sünder in den Augen des Königs war jener, der den Nächsten zum Bösen aufgestachelt hatte, aus Haß gegen ihn, um ihn in eine noch tiefere Finsternis der Unwissenheit zurückzustoßen; aus Haß gegen den Sohn des Königs, dessen Mission er zum Scheitern bringen und den er in den Augen des Königs und seiner Untertanen als unfähig erscheinen lassen wollte; und schließlich aus Haß gegen den König selbst, denn wenn die dem Sohn geschenkte Liebe auch dem Vater geschenkte Liebe ist, so gilt der dem Sohn entgegengebrachte Haß ebenfalls dem Vater.

Also ist die Sünde derer, die Schlechtes geraten haben, in vollem Bewußtsein des schlechten Rates, eine Sünde des Hasses und außerdem der Lüge, eine Sünde vorsätzlichen Hasses; die Sünde derer aber, die dem Rat gefolgt sind, da sie ihn für gut hielten, ist nur eine Sünde der Torheit. Aber ihr wißt sehr wohl, daß der Vernunftbegabte für seine Handlungen verantwortlich ist, während einer, der aus Krankheits- oder anderen Gründen töricht ist, nicht für sich selbst verantwortlich ist; vielmehr sind es die Angehörigen für ihn. Daher ist ein Kind vor seiner Volljährigkeit nicht verantwortlich, sondern der Vater trägt die Verantwortung für die Taten des Sohnes. Deshalb bestrafte der König, der gut war, die schlechten intelligenten Ratgeber streng, während er zu den von ihnen Betrogenen gütig war. Er machte letzteren nur den Vorwurf, diesem oder jenem Untertanen geglaubt und nicht zuvor den Sohn des Königs selbst befragt zu haben, um von ihm zu erfahren, was wirklich getan werden sollte. Denn nur der Sohn kennt wahrhaft den Willen seines Vaters.

Dies ist das Gleichnis, ihr Leute von Silo; von diesem Silo, das so oft im Laufe der Jahrhunderte durch Gott, durch die Menschen oder durch Satan Ratschläge verschiedenster Art erhalten hat, die gute Früchte brachten, wenn sie als gute Ratschläge befolgt wurden, oder wenn sie als schlechte Ratschläge zurückgewiesen wurden. Und sie gereichten zum Bösen, wenn gute, heilige Ratschläge nicht angenommen oder schlechte befolgt wurden.

Denn der Mensch hat diese herrliche Freiheit des Willens und kann frei zwischen dem Guten und dem Bösen wählen. Und er hat die andere herrliche Gabe, den Verstand, um das Gute vom Bösen unterscheiden zu können; und daher bringt eigentlich nicht so sehr der Rat selbst, sondern die Art, wie dieser aufgenommen wird, Lohn oder Strafe. So wie niemand den Bösen verbieten kann, den Nächsten zu versuchen, um ihn zu verderben, so kann niemand die Guten daran hindern, die Versuchung abzuweisen und dem Guten treu zu bleiben.

Der gleiche Rat kann für zehn schädlich und für andere zehn nützlich sein. Denn wenn einer, der ihn befolgt, sich selbst schadet, so hat der, der ihn nicht befolgt, einen Nutzen für seine Seele. Deshalb soll niemand

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sagen: "Sie haben uns gesagt, daß wir dies tun sollen", sondern jeder soll aufrichtig sagen: "Ich wollte es tun!' So könnt ihr wenigstens auf die Verzeihung hoffen, die den Aufrichtigen gewährt wird. Und wenn ihr unsicher seid wegen eines Rates, den man euch gegeben hat, denkt nach, bevor ihr ihn annehmt und befolgt. Denkt nach und ruft den Allerhöchsten an, der niemals sein Licht den Seelen guten Willens versagt. Und wenn euer von Gott erleuchtetes Gewissen euch nur das Geringste erkennen läßt, so klein und unbedeutend es auch sei, das sich nicht mit einem Werk der Gerechtigkeit vereinbaren läßt, dann sagt: "Ich werde es nicht tun, denn es wäre nicht vollkommen gerecht."

Oh, wahrlich, ich sage euch, wer seinen Verstand und seine Entscheidungsfreiheit richtig gebraucht und den Herrn anruft, um die Wahrheit der Dinge zu erkennen, dem wird die Versuchung nicht zum Verderben gereichen, denn der Vater im Himmel wird ihm helfen, trotz aller Arglist der Welt und des Satans, das Gute zu tun.

Denkt an Anna des Elkana und denkt an die Söhne des Eli. Der leuchtende Engel der ersteren hatte Anna geraten, ein Gelübde abzulegen, wenn der Herr sie fruchtbar machen würde. Der Priester Eli gab ' seinen Söhnen den Rat, wieder gerecht zu werden und nicht weiter gegen den Herrn zu sündigen. Und obwohl es der Schwerfälligkeit des Menschen leichter fällt, die Stimme eines anderen Menschen zu verstehen, als die geistige und mit den Sinnen nicht wahrnehmbare Eingebung des Engels des Herrn, der zur Seele spricht, befolgte Anna des Elkana den Rat, denn sie war gut und stand gerade vor dem Angesicht Gottes, und sie gebar einen Propheten; während die Söhne Elis, die böse und fern von Gott waren, den Rat des Vaters in den Wind schlugen, von Gott gestraft wurden und eines gewaltsamen Todes starben.

Die Ratschläge haben zweifachen Wert: den der Quelle, aus der sie kommen, und dieser Wert ist schon sehr groß, denn er kann unübersehbare Folgen haben, und den des Herzens, dem sie gegeben werden. Der Wert, den ihnen das Herz verleiht, das sie empfangen hat, ist nicht nur unvorhersehbar, sondern auch unveränderlich. Denn ist das Herz gut und befolgt den guten Rat, dann gibt es dem Rat den Wert einer guten Tat; befolgt es ihn aber nicht, so nimmt es ihm den zweiten Wert, er bleibt nur Rat, wird also nicht zur Tat und ist folglich nur für den, der ihn gegeben hat, verdienstvoll. Und wenn der schlechte Rat vom guten Herzen nicht angenommen wird, das er vergebens durch Schmeicheleien oder Drohungen zum Handeln gedrängt hat, dann gewinnt er den Wert eines Sieges über das Böse und des Martyriums aus Treue zum Guten und verschafft so einen großen Schatz im Himmel.

Wenn also euer Herz von anderen versucht wird, denkt nach im Licht Gottes, ob es ein gutes Wort sein könnte, und wenn ihr mit Gottes Hilfe, der zwar Versuchungen zuläßt, aber nicht euer Verderben will, seht, daß

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es nicht gut ist, dann sagt euch selbst und dem, der euch versucht: "Nein. Ich bleibe meinem Herrn treu; und möge er mich um dieser Treue willen lossprechen von meinen vergangenen Sünden und mich in sein Reich aufnehmen, damit ich nicht vor den Toren stehen muß; denn auch für mich hat der Allerhöchste seinen Sohn gesandt, auf daß er mich zum ewigen Heile führe!'

Geht nun. Und wenn einer von euch mich braucht, dann wißt ihr, wo ich mich in der Nacht ausruhe. Der Herr möge euch erleuchten.»

625. IN LIBONA; DIE SCHLECHT BERATENEN; NOCH EINMAL ÜBER DEN WERT DER RATSCHLÄGE

Sie haben gerade Libona erreicht, eine Stadt, die mir nicht sehr wichtig oder schön vorkommt, in der es dafür aber von Volk wimmelt, jetzt, da schon viele Karawanen von Galiläa, Ituräa, der Gaulanitis, Trachonitis, Auranitis und der Dekapolis nach Jerusalern hinabziehen. Ich glaube, daß Libona an einer Karawanenstraße liegt, vielleicht ein Knotenpunkt von Karawanenstraßen ist, die von den genannten Regionen kommen, vom Mittelmehr bis zu den Bergen im Osten von Palästina und auch vom Norden, um dann an diesem Ort, an der großen Straße, die nach Jerusalern führt, zusammenzutreffen. Die Vorliebe der Leute für diese Straße rührt wahrscheinlich daher, daß sie von den Römern stark bewacht wird und das Volk sich deshalb sicherer fühlt vor der Gefahr einer unliebsamen Begegnung mit Räubern. So scheint es mir. Aber vielleicht hat diese Vorliebe auch andere Gründe. Vielleicht ist sie mit irgendeiner geschichtlichen oder heiligen Erinnerung verbunden. Ich weiß es nicht.

Zu dieser frühen Stunde – ich schätze, daß es nach dem Stand der Sonne ungefähr acht Uhr morgens ist – setzen sich die Karawanen unter lautem Rufen, Kreischen, Eselsgeschrei, Geklingel und Räderrollen in Bewegung. Frauen rufen nach ihren Kindern, Männer treiben ihre Tiere an, samaritanische Händler machen Geschäfte mit denen, die nicht so ganz... sture Hebräer sind, die aus der Dekapolis und anderen Gebieten stammen, wo man den heidnischen Elementen nähersteht und weniger unnachsichtig ist. Denn jedesmal, wenn ein unglücklicher Verkäufer aus Samaria sich einem Musterexemplar des Judentums nähert, um ihm seine Waren anzubieten, erfolgt eine zutiefst verachtungsvolle Ablehnung, bis hin zur Beschimpfung, und beginnt der Angesprochene so wild zu schreien und zu fluchen, als wäre er mit dem Teufel in Berührung gekommen. Das fordert lebhafte Reaktionen der beleidigten Samariter heraus, und man kann sich vorstellen, was für Schlägereien es geben würde, wenn die römischen Soldaten nicht Wache hielten.

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Jesus geht ungeachtet dieses Durcheinanders weiter. Um ihn herum die Apostel, dahinter die Jüngerinnen und hinter diesen der ganze Haufen der Ephraimiten, der durch die Leute von Silo Verstärkung erhalten hat.

Ein leises Flüstern geht dem Meister voraus. Es breitet sich von denen, die ihn sehen, aus zu denen, die ihn noch nicht sehen, weil sie zu weit entfernt sind. Ein viel lauteres Flüstern folgt ihm nach. Viele verschieben ihre Abreise, um zu sehen, was geschieht.

Sie fragen sich: «Wie? Geht er denn immer weiter von Judäa weg? Predigt er nun in Samaria?»

Eine singende Stimme aus Galiläa antwortet: «Da die Heiligen ihn abgelehnt haben, wendet er sich nun den Unheiligen zu, um sie zu heiligen, zur Schande der Juden.»

Eine weitere beißende Antwort, ätzender als die giftigste Säure: «Er hat sein Nest wiedergefunden und jene, die seine dämonischen Worte verstehen.»

Eine andere Stimme: «Schweigt, ihr Mörder des Gerechten! Dieser Verfolgung wegen werdet ihr in den kommenden Jahrhunderten den schlimmsten Namen tragen. Ihr seid dreimal verdorbener als wir aus der Dekapolis!»

Eine alte, schneidende Stimme: «Er ist so gerecht, daß er den Tempel meidet am Fest der Feste! Hi, hi, hi!»

Einer aus Ephraim schreit, rot vor Zorn: «Das ist nicht wahr. Du lügst, alte Schlange! Er ist auf dem Weg zu seinem Passah.»

Ein bärtiger Schriftgelehrter sagt verächtlich: «Und da geht er in Richtung Garizim?»

«Nein, in Richtung Moriah. Er ist gekommen, um uns zu segnen, denn er weiß zu lieben. Dann geht er zu eurem Haß hinauf, ihr Verfluchten!»

«Schweig, Samariter!»

«Schweig du, Dämon!»

«Wer Unruhen verursacht, wird zu den Galeeren verurteilt! Pontius Pilatus hat es so angeordnet. Denkt daran. Geht auseinander», befiehlt ein römischer Offizier und läßt durch seine Soldaten die Leute auseinandertreiben, die schon im Begriff sind, in einer der vielen regionalen und religiösen Streitigkeiten aneinanderzugeraten, die zur Zeit Christi in Palästina an der Tagesordnung sind.

Die Leute gehen auseinander. Doch niemand denkt mehr ans Abreisen. Die Esel werden wieder in die Stallungen gebracht oder dorthin geführt, wo Jesus sich befindet. Frauen und Kinder steigen aus den Sätteln und folgen den Vätern und Ehegatten oder bilden schwätzende Gruppen, wenn die eheherrliche oder väterliche Anordnung entsprechend lautet: «Damit sie die Worte des Dämons nicht hören.» Die Männer, ob nun Freunde, Feinde oder einfach Neugierige, laufen eilends an den Ort, an den Jesus sich begeben hat. Und im Laufen schauen sie einander böse an,

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ermutigen sich gegenseitig wegen dieser unverhofften Freude oder stellen Fragen, je nachdem, ob es Freunde und Feinde, nur Freunde oder Neugierige sind.

Jesus ist auf einem Platz an dem von einigen Bäumen beschatteten unvermeidlichen Brunnen stehengeblieben. Er steht da vor der feuchten Wand des Brunnens, der sich hier in einer kleinen, nur nach einer Seite hin offenen Art Säulenhalle befindet. Vielleicht ist es eher ein Ziehbrunnen als eine Quelle. Er gleicht dem Brunnen von En Rogel.

Er spricht mit einer Frau, die ihm ihren kleinen Sohn zeigt, den sie in den Armen hält. Ich sehe, wie Jesus ihr zustimmt und dann eine Hand auf den Kopf des Kindes legt. Und gleich danach sehe ich, wie die Mutter das Kind in die Höhe hält und ruft: «Malachias! Malachias, wo bist du? Unser Junge ist kein Krüppel mehr!» Die Frau jubelt, und die Leute stimmen in ihr Hosanna ein, während ein Mann sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnt, zu Jesus eilt und sich vor ihm niederwirft.

Die Leute machen ihre Kommentare. Die Frauen, meist Mütter, freuen sich mit der Frau, die diese Gnade erhalten hat. Die weiter entfernt Stehenden recken die Hälse und fragen: «Was ist denn geschehen?» nachdem sie mit den anderen, die es wissen, schon Hosanna gerufen haben.

«Ein buckliges Kind, so verkrüppelt, daß es nur mit Mühe auf den Beinen stehen konnte. Es war nur so groß, sage ich euch, wirklich nur so, so gebeugt war es. Es sah aus wie ein dreijähriges Kind, obwohl es schon sieben Jahre alt ist. Nun, seht es euch an! Es ist so groß wie alle anderen seines Alters und rank und schlank wie eine Palme. Seht dort, wie es auf das Mäuerchen des Brunnens klettert, um gesehen zu werden und selbst zu sehen. Und wie glücklich es lacht!»

Ein Galiläer wendet sich an einen Mann, der wegen der langen Fransen an seinem Gürtel vermutlich ein Rabbi ist, und fragt ihn: «Was sagst du nun? Ist auch dies ein Werk des Teufels? Wenn der Teufel wirklich solche Dinge tut, dem Elend Hilfe schafft und die Menschen glücklich macht, so daß sie Gott preisen, dann müßte man sagen, daß er der beste Diener Gottes ist!»

«Du Gotteslästerer, schweige!»

«Ich lästere Gott nicht, Rabbi. Ich spreche über das, was ich gesehen habe. Denn eure Heiligkeit legt nur Lasten und Unglück auf unsere Schultern und Flüche auf unsere Lippen und läßt in uns Gedanken des Mißtrauens gegen den Allerhöchsten aufkommen, während die Werke des Rabbi von Nazareth uns Frieden schenken und die Gewißheit, daß Gott gut ist.»

Der Rabbi antwortet nicht. Er geht beiseite und spricht mit einigen Freunden. Und einer von diesen bahnt sich kurz darauf einen Weg durch die Menge, stellt sich vor Jesus und fragt ihn, ohne ihn vorher zu grüßen: «Was hast du vor?»

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«Ich will zu diesen Menschen hier sprechen, die nach meinen Worten verlangen», antwortet Jesus und schaut ihm dabei fest in die Augen, ohne Verachtung, aber auch ohne Furcht.

«Das ist dir nicht erlaubt. Das Synedrium will es nicht.»

«Der Allerhöchste, dessen Diener das Synedrium sein müßte, will es.»

«Du bist verurteilt worden. Du weißt es. Schweige, sonst...»

«Mein Name ist Wort. Und das Wort spricht.»

«Zu den Samaritern. Wenn du wirklich der wärest, der du zu sein behauptest, dann würdest du nicht zu den Samaritern sprechen.»

«Ich spreche und werde immer sprechen, zu Galiläern wie zu Juden und Samaritern; denn in den Augen Jesu besteht kein Unterschied.»

«Versuche nur, in Judäa zu reden, wenn du es wagst... !»

«Ich werde sprechen. Wartet auf mich. Bist du nicht Eleazar ben Parta? Ja? Dann wirst du gewiß noch vor mir Gamaliel sehen. Richte ihm in meinem Namen aus, daß ich auch ihm nach einundzwanzig Jahren die Antwort geben werde, auf die er wartet. Hast du verstanden? Merke dir diese Worte gut: Auch ihm werde ich die Antwort geben, auf die er seit einundzwanzig Jahren wartet. Leb wohl.»

«Wo? Wo willst du sprechen? Wo willst du dem großen Gamaliel die Antwort geben? Er hat sicher Gamala in Judäa schon verlassen, um nach Jerusalern zu gehen. Aber selbst wenn er noch in Gamala wäre, könntest du nicht mit ihm reden.»

«Wo? Wo versammeln sich die Schriftgelehrten und Rabbis von Israel?»

«Im Tempel? Du, im Tempel? Du würdest es wagen? Aber weißt du denn nicht...»

«Daß ihr mich haßt? Ich weiß es. Mir genügt es, wenn mein Vater mich nicht haßt. Bald wird der Tempel wegen meines Wortes erzittern.» Und ohne sich weiter um seinen Gesprächspartner zu kümmern, breitet Jesus die Arme aus, um der Menge, in der sich gegensätzliche Parteien gebildet haben und die die Störenfriede beschimpft, Schweigen zu gebieten.

Sofort tritt Ruhe ein, und in die Stille spricht Jesus: «In Silo habe ich von den bösen Ratgebern gesprochen und darüber, wie man einen Rat gut oder schlecht anwenden kann. Ich trage nun euch, die ihr nicht nur aus Libona, sondern aus allen Teilen Palästinas seid, das folgende Gleichnis vor. Wir wollen es das Gleichnis der schlecht Beratenen nennen.

Hört. Es war einmal eine außerordentlich zahlreiche Familie, so zahlreich, daß sie einem Volksstamm glich. Zahlreiche Kinder hatten geheiratet und neben der ursprünglichen Familie eigene Familien gebildet, deren zahlreiche Kinder ihrerseits geheiratet und neue Familien gegründet hatten. So war der alte Vater gewissermaßen zum Oberhaupt, zum König eines kleinen Reiches geworden. Wie es immer in den Familien ist, waren die Charaktere der vielen Kinder und Kindeskinder sehr verschieden. Die einen waren gut und gerecht, die anderen anmaßend und ungerecht ; die

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einen waren mit ihrem Los zufrieden, die anderen eifersüchtig auf einen Bruder oder einen Verwandten, dem gegenüber sie sich benachteiligt fühlten. Und so gab es neben dem Besten auch den Schlechtesten von allen. Und dieser Gute wurde, was nur natürlich ist, vom Vater der großen Familie am meisten geliebt. Und, wie es immer geschieht, wurden der Schlechteste und die ihm Ähnlichen von Haß gegen den Guten erfüllt, weil dieser am meisten geliebt wurde, und sie bedachten nicht, daß auch sie geliebt würden, wenn sie so gut wie jener wären. Den Guten, dem der Vater seine Gedanken anvertraute, damit er sie allen mitteile, ahmten die anderen Guten nach. Und so war die große Familie nach vielen Jahren in drei Parteien geteilt. Die Partei der Guten und die Partei der Bösen. Und zwischen diesen beiden die dritte Partei, die der Unschlüssigen, die sich zwar zu dem guten Sohn hingezogen fühlten, die aber auch den bösen Sohn und seine Anhänger fürchteten. Diese dritte Partei schwankte zwischen den beiden anderen Parteien hin und her und konnte sich weder für die eine, noch für die andere endgültig entscheiden. Da sagte der alte Vater, der diese Unentschlossenheit sah, zu seinem Lieblingssohn: "Bis jetzt hast du dein Wort immer besonders an die gerichtet, die es lieben, und auch an die, die es nicht lieben. Denn die ersteren bitten dich darum, damit sie mich immer mehr und immer besser lieben können, und die anderen sind töricht und müssen zur Gerechtigkeit aufgerufen werden. Aber du siehst, daß die Törichten nicht nur dein Wort nicht annehmen und so bleiben, wie sie sind, sondern ihrer ersten Ungerechtigkeit, dir, dem Überbringer meiner Wünsche, noch die zweite hinzufügen, daß sie mit schlechtem Rat jene verderben, die noch nicht den festen Willen haben, den besseren Weg zu wählen. Geh daher zu diesen und sage ihnen, wer ich bin und wer du bist, und was sie tun müssen, um eins mit dir und mit mir zu sein."

Der immer gehorsame Sohn ging und tat, wie der Vater ihm befohlen hatte. Und so gelang es ihm, jeden Tag einige Herzen zu gewinnen. Nun erkannte der Vater klar die wirklich rebellischen Söhne und betrachtete sie mit strengem Blick, ohne sie jedoch zu tadeln, denn er war ihr Vater und wollte sie mit Geduld, Liebe und dem Beispiel der Guten an sich ziehen.

Aber die Bösen sagten, als sie sich allein sahen: "Nun erkennt man allzuklar, daß wir die Rebellen sind. Früher konnten wir uns unter denen verbergen, die weder gut noch böse waren. Jetzt hingegen... Seht nur, wie sie alle dem auserwählten Sohn folgen. Wir müssen etwas unternehmen, um sein Werk zu zerstören. Wir wollen so tun, als hätten wir uns gebessert, uns unter die gerade erst Bekehrten mischen und auch zu den Einfältigeren von den Guten gehen und die Kunde verbreiten, daß der auserwählte Sohn nur vorgibt, dem Vater zu dienen, in Wirklichkeit aber eine Gefolgschaft sammelt, um sich eines Tages gegen ihn zu erheben. Wir

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können auch sagen, daß der Vater die Absicht hat, seinen Sohn und dessen Anhänger zu vernichten, da sie zu viele Triumphe feiern und seine Herrlichkeit als Vater und König verdunkeln, und daß wir deshalb den geliebten und verratenen Sohn bei uns zurückhalten müssen, fern von seinem Vaterhaus, wo ihn nur Verrat erwartet."

Und sie gingen, und mit so viel Schlauheit und Arglist streuten sie Gerüchte aus und verbreiteten Ratschläge, daß viele in die Falle gingen, besonders jene, die noch nicht lange bekehrt waren und denen die bösen Ratgeber diesen schlechten Rat gaben: "Seht ihr, wie er euch geliebt hat? Er hat es vorgezogen, zu euch zu kommen, anstatt beim Vater oder wenigstens bei den guten Brüdern zu bleiben. So viel hat er für euch getan, daß er euch vor den Augen der Welt aus eurer Erniedrigung emporgehoben hat, der Erniedrigung von Geschöpfen, die nicht wußten, was sie wollten, und daher zum Gespött aller wurden. Wegen dieser seiner Vorliebe für euch habt ihr die Pflicht, ihn zu verteidigen. Ja, ihr müßt ihn zurückhalten, selbst mit Gewalt, wenn eure Worte nicht genügen, um ihn zu überzeugen, daß er auf eurem Gebiet bleiben muß. Oder aber erhebt euch, macht ihn zu eurem Anführer und König und marschiert gegen den bösen Vater und seine ebenso bösen Söhne." Weiter sagten sie zu den Zögernden, die bemerkten: "Aber er will, er wollte doch, daß wir mit ihm gehen und den Vater ehren, denn er hat bei ihm für uns Segen und Verzeihung erlangt", zu diesen also sagten sie: "Glaubt das nicht. Er hat euch nicht die ganze Wahrheit gesagt, und er hat euch auch nicht die ganze Wahrheit über den Vater erkennen lassen. Er hat dies getan, weil er merkt, daß der Vater im Begriff ist, ihn zu verraten, und weil er eure Herzen prüfen wollte, um zu wissen, wo er Schutz und Zuflucht findet. Aber vielleicht... Er ist ja so gut! Vielleicht wird er dann bereuen, am Vater gezweifelt zu haben, und zu ihm zurückkehren wollen. Erlaubt es ihm nicht." Und viele versprachen: "Wir werden es ihm nicht erlauben." Und sie schmiedeten Pläne, wie sie den geliebten Sohn zurückhalten könnten, und bemerkten nicht, daß die Augen der schlechten Ratgeber, die sagten: "Wir werden euch helfen, den Gesegneten zu retten" ' voller Lüge und Grausamkeit waren und sie sich jedesmal, wenn jemand ihren arglistigen Worten Gehör schenkte, zuzwinkerten, die Hände rieben und dabei flüsterten: "Jetzt gehen sie in die Falle! Wir werden siegen!" Dann gingen die bösen Ratgeber fort. Sie gingen und verbreiteten an anderen Orten das Gerücht, daß nun bald der Verrat des Lieblingssohnes offenbar würde; daß er das Land des Vaters nur verlassen habe, um ein eigenes Reich zu errichten, ein dem Vater feindliches Reich, zusammen mit all denen, die den Vater haßten oder ihn zumindest nicht wirklich liebten. Und die vom bösen Rat Beeinflußten schmiedeten inzwischen Pläne, wie sie den Lieblingssohn zur Sünde der Rebellion verleiten könnten, durch die er zum Ärgernis der ganzen Welt werden würde.

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Nur die Weisesten unter ihnen, in die die Worte des Gerechten am tiefsten eingedrungen waren, in denen sie Wurzel geschlagen hatten, da sie auf gutes, aufnahmebereites Erdreich gefallen waren, sagten, nachdem sie überlegt hatten: "Nein, es ist nicht gut, dies zu tun. Wir würden niederträchtig handeln am Vater, am Sohn, und auch an uns selbst. Wir kennen die Gerechtigkeit und Weisheit des einen und des anderen. Wir kennen sie, auch wenn wir leider nicht immer danach gehandelt haben. Und wir dürfen nicht glauben, daß der Rat jener, die immer offen gegen den Vater und die Gerechtigkeit gewesen sind und auch gegen den geliebten Sohn des Vaters, gerechter sein kann als die Ratschläge, die uns der gesegnete Sohn selbst gegeben hat." Und sie folgten ihnen nicht. Voll Liebe und Schmerz ließen sie vielmehr den Sohn gehen, wohin er gehen mußte, und beschränkten sich darauf, ihn unter Liebesbezeigungen bis an die Grenze ihrer Felder zu begleiten und ihm beim Abschied zu versprechen: "Du gehst, und wir bleiben. Aber deine Worte bleiben in uns, und von nun an werden wir tun, was der Vater will. Geh beruhigt. Du hast uns für immer über das erhoben, was wir bei deiner Ankunft waren. Nun, da wir auf dem rechten Weg sind, werden wir auf ihm fortschreiten, bis wir das Vaterhaus erreicht haben und der Vater uns segnen kann."

Es gab aber auch solche, die auf den schlechten Rat hörten und sündigten, indem sie den Lieblingssohn zur Sünde verführen wollten und ihn als töricht verspotteten, da er darauf bestand, seine Pflicht zu tun.

Nun frage ich euch: Warum hat ein und derselbe Rat auf so unterschiedliche Weise gewirkt? Ihr antwortet nicht? Ich werde es euch sagen, wie ich es schon in Silo gesagt habe: Die Ratschläge werden wertvoll oder wertlos, je nachdem, ob sie befolgt werden oder nicht. Es ist nutzlos, einen Menschen mit schlechtem Rat zu versuchen. Wenn er nicht sündigen will, wird er nicht sündigen. Und er wird nicht dafür bestraft werden, daß er die Einflüsterungen der Bösen anhören mußte. Er wird nicht bestraft werden, denn Gott ist gerecht und bestraft nicht für nicht begangene Sünden. Er wird nur bestraft werden, wenn er dem Bösen, der ihn versuchen wollte, zugehört hat und es dann unterläßt, seinen Verstand zu gebrauchen, um die Art und den Ursprung des Rates zu erwägen, und ihn in die Tat umsetzt. Er wird sich dann nicht entschuldigen und sagen können: "Ich hielt ihn für gut." Gut ist, was Gott wohlgefällig ist. Und kann Gott den Ungehorsam und das, was zum Ungehorsam verführt, billigen und Gefallen daran finden? Kann Gott etwas segnen, das seinen Geboten, also seinem Wort, widerspricht? Wahrlich, ich sage euch, er kann es nicht. Und wahrlich, ich sage euch noch, daß man bereit sein sollte, eher zu sterben als das Gesetz Gottes zu übertreten. In Sichern werde ich noch einmal reden, um euch zu lehren, wie man den erhaltenen Rat in Gerechtigkeit annimmt oder ablehnt. Nun geht.»

Die Leute gehen und machen ihre Bemerkungen.

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«Hast du gehört? Er weiß alles, was sie zu uns gesagt haben! Und er hat uns an die Gerechtigkeit des Wollens erinnert», sagt ein Samariter.

«Ja. Und hast du gesehen, wie die anwesenden Juden und die Schriftgelehrten unruhig geworden sind?»

«Sie haben nicht einmal bis zum Schluß gewartet und sind schon vorher gegangen.»

«Böse Nattern! Jedoch... er sagt, was er tun will. Das ist nicht gut. Er könnte dadurch Schwierigkeiten bekommen. Die vom Ebal und vom Garizim waren ziemlich aufgebracht!»

«Ich... ich habe mich nie täuschen lassen. Der Rabbi ist der Rabbi. Und das sagt alles. Kann der Rabbi sündigen, wenn er nicht nach Jerusalem zum Tempel hinaufgeht?»

«Er wird den Tod finden. Du wirst sehen... ! Und dann ist alles zu Ende... !»

«Für wen? Für ihn? Für uns? Oder... für die Juden?»

«Für ihn. Wenn er stirbt!»

«Du bist dumm, o Mann. Ich bin aus Ephraim. Ich kenne ihn gut, denn ich bin mehr als zwei Monate in seiner Nähe gewesen. Er hat immer mit uns gesprochen. Es wird ein Schmerz sein... aber kein Ende. Weder für ihn, noch für uns. Er kann nicht sterben und hat kein Ende, der Heilige der Heiligen. Und auch für uns wird es kein Ende geben. Ich... ich bin unwissend, aber ich fühle, daß das Reich kommen wird, wenn die Juden glauben, alles sei zu Ende... Sie sind es, die am Ende sein werden ...»

«Glaubst du, daß die Jünger den Meister rächen werden? Daß es einen Aufstand, ein Blutbad geben wird? Und die Römer...»

«Ah, es braucht keine Jünger, keine menschliche Rache, kein Blutbad. Der Allerhöchste selbst wird sie besiegen. Wie sehr hat er uns bestraft, jahrhundertelang, und für viel weniger! Meinst du, daß er sie nicht für ihre Sünde bestrafen wird, da sie den Christus so quälen?»

«Ach, sie besiegt zu sehen!»

«Du hast ein Herz, das dem Meister nicht gefallen würde. Er betet für seine Feinde ...»

«Ich werde ihm morgen folgen. Ich möchte hören, was er in Sichern sagt.»

«Ich auch.»

«Und ich auch.»

Viele aus Libona haben die gleiche Absicht. Sie schließen mit denen aus Ephraim und Silo Freundschaft und gehen, um alles für die Abreise am folgenden Tag vorzubereiten.

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626. IN SICHEM

Da ist das schöne, geschmückte Sichern. Voller Menschen aus Samaria, die zum Tempel der Samariter gehen. Voller Pilger aus allen Gegenden auf dem Weg zum Tempel in Jerusalem. Die Sonne überflutet mit ihrem Licht die am Osthang des Garizim liegende Stadt, der im Westen hoch über sie emporragt, und läßt den Berg ebenso lebhaft grün wie die Häuser strahlend weiß leuchten. Im Nordosten scheint der noch wildere Ebal Schutz vor den Nordwinden zu bieten. Die Fruchtbarkeit des Ortes ist überwältigend. Reich an Wasser, das von den Bergen kommt und in zwei fröhlichen Flüßchen, die von hundert Bächlein gespeist werden, zum Jordan fließt, quillt sie über die Mauern der Hausgärten und über die Hecken der Obstpflanzungen. Jedes Haus schmückt sich mit grünen Girlanden aus Blumen und Zweigen mit schwellenden Früchten, und soweit der Blick reicht – und er reicht weit in dieser Landschaft – sieht man nichts als das Grün der Ölbäume, der Weinstöcke und der Obstbäume und die schon etwas blonden Getreidefelder. Das Blaugrün der Halme wandelt sich langsam in das zarte Strohgelb reifer Ähren, die im Wind wogen und unter den Strahlen der Sonne fast weißem Gold gleichen. Das Getreide wird wirklich «blond», wie Jesus sagt. Es ist nun blond, nachdem es beim Keimen weißlich und dann beim Wachsen und beim Ansetzen der Ähren grün wie ein kostbarer Edelstein war. Nun bereitet die Sonne das Getreide auf das Sterben vor, nachdem sie es zuvor auf das Leben vorbereitet hatte. Und man weiß nicht, ob sie mehr Lob verdient, nun da sie es zum Opfer führt, oder damals, als sie die Scholle mütterlich wärmte, um die Keime ins Leben zu rufen, und die kaum der Erde entsprossenen blassen Hälmchen mit schönem kraft- und verheißungsvollem Grün bemalte.

Jesus, der beim Betreten der Stadt über diese Dinge gesprochen und auf den Ort der Begegnung mit der Samariterin und auf die weit zurückliegende Unterhaltung mit ihr hingewiesen hat, sagt nun zu seinen Aposteln, zu allen, mit Ausnahme des Johannes, der schon seinen Platz als Tröster bei der so sehr betrübten Maria eingenommen hat: «Geht jetzt nicht in Erfüllung, was ich damals gesagt habe? Wir kamen als Unbekannte und allein hierher. Wir haben gesät. Nun schaut! Eine große Ernte hat dieser Samen hervorgebracht. Und sie wird noch größer werden, und ihr werdet sie einbringen. Und andere werden noch mehr ernten als ihr ...»

«Und du nicht, Herr?» fragt Philippus.

«Ich habe dort geerntet, wo mein Vorläufer gesät hat. Dann habe ich gesät, damit ihr ernten könnt und wieder sät mit dem Samen, den ich euch gegeben habe. Aber so wie Johannes die Frucht seiner Saat nicht geerntet hat, so werde auch ich diese Ernte nicht einbringen. Wir sind...»

«Was, Herr? ...» fragt Judas des Alphäus beunruhigt.

«Die Opfer, mein Bruder. Es braucht Schweiß, um die Felder fruchtbar

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zu machen. Aber es braucht Opfer, um die Herzen fruchtbar zu machen. Wir kommen auf die Welt, arbeiten und sterben. Andere werden unsere Stelle einnehmen, nach uns kommen, arbeiten und sterben. Und jemand wird ernten, was durch unseren Tod Frucht brachte.»

«0 nein! Sag das nicht, mein Herr!» ruft Jakobus des Zebedäus aus.

«Du, der du ein Jünger des Täufers gewesen bist, bevor du der meine wurdest, sagst dies? Erinnerst du dich nicht mehr an die Worte deines ersten Meisters: "Er muß wachsen, ich muß abnehmen"? Er hat die Schönheit und die Notwendigkeit des Sterbens erkannt, um andere gerecht zu machen. Ich werde ihm nicht nachstehen.»

«Aber du, Meister, bist du: Gott! Er war nur ein Mensch!»

«Ich bin der Erlöser. Als Gott muß ich vollkommener sein als der ein Mensch. Wenn Johannes, der ein Mensch war, es verstanden hat, abzunehmen, auf daß die wahre Sonne aufgehe, dann darf ich nicht das Licht meiner Sonne durch den Nebel der Feigheit verdunkeln. Ich muß euch diese leuchtende Erinnerung an mich hinterlassen. Damit ihr weitermacht; damit die Welt in der christlichen Lehre wächst. Christus wird fortgehen, dorthin zurückkehren, von wo er gekommen ist, und von dort aus wird er euch lieben und euch in eurer Arbeit beistehen. Er wird euch den Platz bereiten, der euer Lohn sein wird. Doch das Christentum wird bleiben. Es wird wachsen durch meinen Weggang... und durch den Weggang all jener, die nicht an der Welt und am irdischen Leben hängen und wie Johannes und wie Jesus fortzugehen und zu sterben verstehen, um Leben zu spenden.»

«Dann findest du es also richtig, daß du dem Tod überliefert wirst?» fragt beinahe atemlos Iskariot.

«Ich finde es nicht richtig, daß man mich töten wird. Ich finde es richtig zu sterben, wegen der Frucht, die mein Opfer bringen wird. Der Mord ist immer ein Mord für den, der ihn begeht, auch wenn sein Wert und die Gesichtspunkte andere sind für den, der getötet wird.»

«Was willst du damit sagen?»

«Ich will damit sagen, daß dem, der auf Befehl und gezwungenermaßen tötet, wie ein Soldat in der Schlacht, ein Henker, der dem Richter gehorchen muß, oder einer, der sich gegen einen Räuber wehrt, nicht das Verbrechen des Mordes an seinesgleichen auf der Seele lastet, während jener, der ohne Befehl und ohne Notwendigkeit einen Unschuldigen tötet oder an seiner Tötung mitwirkt, vor Gott mit dem entsetzlichen Antlitz des Kain erscheinen wird.»

«Aber können wir denn nicht von etwas anderem reden? Der Meister leidet darunter; du hast die Augen eines Gemarterten, wir glauben zu sterben, und die Mutter weint, wenn sie es hört. Sie weint schon jetzt hinter ihrem Schleier. Es gibt so viel, über das man reden kann... ! Oh, da kommen die Vornehmen! Das wird euch zum Schweigen bringen. Der Friede sei mit euch! Der Friede sei mit euch!» Petrus, der etwas vorausgegangen

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war und sich umgewandt hatte, um zu sprechen, verneigt sich grüßend vor einer Gruppe prunk- und würdevoller Sichemiten, die Jesus entgegenkommen.

«Der Friede sei mit dir, Meister. Die Häuser, die dich das letzte Mal beherbergt haben, sind bereit, dich zu empfangen. Und viele weitere stehen deinen Jüngerinnen und deinen Begleitern offen. Es werden alle kommen, denen du kürzlich und beim ersten Mal Gutes getan hast. Eine nur wird fehlen, denn sie hat den Ort verlassen, um ein Leben der Buße zu führen. So hat sie gesagt, und ich glaube es, denn wenn eine Frau alles verläßt, was sie geliebt hat, der Sünde entsagt und ihren Besitz den Armen schenkt, so ist das ein Zeichen dafür, daß sie ein neues Leben beginnen will. Aber ich kann dir nicht sagen, wo sie ist. Niemand hat sie mehr gesehen, seit sie Sichern verlassen hat. Einer von uns glaubt, sie in der Kleidung einer Magd in einem Dorf am Phiala-See gesehen zu haben. Ein anderer schwört, sie in Beerseba in einer ärmlich gekleideten Frau erkannt zu haben. Aber was sie sagen, ist nicht sicher. Sie antwortete nicht, als man sie bei ihrem Namen rief, und sie wurde in dem einen Ort Johanna und im anderen Hagar genannt.»

«Es ist nicht nötig, mehr zu wissen, als daß sie sich bekehrt hat. Alles andere ist unwichtig, und jedes Nachforschen ist indiskrete Neugier. Laßt eure Mitbürgerin in ihrem geheimen Frieden und freut euch, daß sie kein Ärgernis mehr gibt. Die Engel des Herrn wissen, wo sie ist, und bringen ihr die einzige Hilfe, die sie braucht, die einzige, die ihrer Seele nicht schaden kann... Seid so gut und führt die Frauen, die müde sind, in ihre Unterkünfte. Morgen werde ich zu euch sprechen. Heute will ich euch alle anhören und mich der Kranken annehmen.»

«Wirst du nicht lange bei uns bleiben? Wirst du den Sabbat nicht hier feiern?»

«Nein, den Sabbat werde ich anderswo im Gebet verbringen.»

«Wir haben gehofft, dich lange bei uns zu haben...»

«Ich habe kaum Zeit, zu den Festen nach Judäa zurückzukehren. Ich werde die Apostel und die Frauen bis zum Abend des Sabbats bei euch lassen, wenn sie bleiben wollen. Seht mich nicht so an. Ihr wißt, daß ich mehr als jeder andere den Herrn, unseren Gott, ehren muß; denn das, was ich bin, entbindet mich nicht von der Pflicht, das Gesetz des Allerhöchsten zu befolgen.»

Sie begeben sich zu den Häusern, in denen jeweils zwei Jüngerinnen und ein Apostel Unterkunft finden: Maria des Alphäus und Susanna mit Jakobus des Alphäus. Martha und Maria mit dem Zeloten, Elisa und Nike mit Bartholomäus, Salome und Johanna mit Jakobus des Zebedäus. Dann gehen Thomas, Philippus, Judas von Kerioth und Matthäus zusammen in ein Haus, und Petrus und Andreas in ein anderes. Jesus begibt sich mit Judas des Alphäus, Johannes und seiner Mutter Maria in das Haus

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des Mannes, der im Namen aller Bürger gesprochen hat. Die Jünger, die Leute von Ephraim, Silo und Libona und einige Pilger, die auf dem Weg nach Jerusalem waren, sich Jesus angeschlossen und ihre Reise unterbrochen haben, zerstreuen sich auf der Suche nach einer Unterkunft.

627. DER WERT, DEN DER GERECHTE DEN RATSCHLÄGEN GIBT

Auf dem Hauptplatz von Sichern haben sich unglaublich viele Menschen versammelt. Ich glaube, die ganze Stadt befindet sich dort, und es müssen auch Leute vom Land und von den umliegenden Ortschaften gekommen sein. Die Bewohner von Sichern müssen schon am Nachmittag des Vortages überall hingegangen sein und alle benachrichtigt haben, denn alle sind herbeigeeilt: Gesunde und Kranke, Sünder und Unschuldige. Der Platz ist überfüllt, die Terrassen auf den Dächern brechend voll, und einige sind sogar auf die Bäume gestiegen, die den Platz beschatten.

In der ersten Reihe, bei dem für Jesus freigehaltenen Platz vor einem höher gelegenen Haus, zu dem vier Stufen hinaufführen, warten zusammen mit ihren Angehörigen die drei Kinder, die Jesus den Räubern abgenommen hat. Wie sehnen sich die drei Kleinen danach, ihren Retter wiederzusehen! Jeder Ruf veranlaßt sie, sich umzuschauen und ihn zu suchen. Und als sich die Tür des Hauses öffnet und Jesus herauskommt, fliegen sie ihm mit dem Ruf: «Jesus, Jesus, Jesus!» entgegen und laufen die hohen Stufen hinauf, ohne abzuwarten, daß Jesus zu ihnen herunterkommt, um sie zu umarmen. Jesus beugt sich über sie, umarmt sie und hebt sie dann hoch: ein lebendiger Strauß unschuldiger Blumen. Er küßt ihre Gesichtlein, und sie erwidern die Küsse.

Die Leute flüstern gerührt, und jemand sagt: «Nur er kann unsere Unschuldigen so küssen.» Andere sagen: «Seht ihr, wie er sie liebt? Er hat sie vor den Räubern gerettet, hat ihnen ein Haus gegeben, nachdem er ihren Hunger gestillt und sie gekleidet hatte, und nun küßt er sie, als ob sie seine eigenen Kinder wären.»

Jesus, der die Kinder neben sich auf die oberste Stufe gestellt hat, antwortet allen, indem er auf diese letzten Worte eines Unbekannten Bezug nimmt: «Wahrlich, mehr als eigene leibliche Kinder sind sie für mich, denn ich bin der Vater ihrer Seelen, und sie gehören mir nicht nur für die Zeit, die vergeht, sondern für die Ewigkeit, die bleibt. Könnte ich dies doch von jedem Menschen sagen, würde doch jeder aus mir, dem Leben, Leben schöpfen, um seinem Tod zu entgehen! Ich habe euch dazu eingeladen, als ich zum erstenmal zu euch kam, und ihr glaubtet, daß euch viel Zeit bliebe, um euch zu entscheiden. Eine allein war darauf bedacht, dem

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Ruf zu folgen und den Weg des Lebens einzuschlagen: das sündhafteste Geschöpf unter euch. Vielleicht gerade, weil sie sich tot fühlte, sich als tot erkannte in der Fäulnis ihrer Sünde, hatte sie es eilig, dem Tod zu entrinnen. Ihr fühlt und erkennt euch nicht als Tote und habt es daher nicht so eilig wie sie. Aber wo ist der Kranke, der wartet, bis er tot ist, um die lebenspendende Arznei zu nehmen? Der Tote braucht nur noch das Leinentuch, den Balsam und ein Grab, um darin zu ruhen und zum Staub zurückzukehren, nachdem er verwest ist. Und wenn die Verwesung des Lazarus, den ihr jetzt mit großen Augen voll Furcht und Staunen betrachtet, vom Ewigen in seiner Weisheit aus bestimmten Gründen in Gesundheit verwandelt wurde, so darf euch dies nicht dazu verleiten, den geistigen Tod abzuwarten und euch zu sagen: "Der Allerhöchste wird mir das Leben der Seele wiederschenken." Versucht nicht den Herrn, euren Gott. Ihr müßt zum Leben kommen. Ihr habt nicht mehr Zeit zu warten. Die Traube ist bereit, geerntet und gepreßt zu werden. Bereitet euren Geist für den Wein der Gnade, der euch bald gegeben werden wird. Macht ihr es nicht ebenso, wenn ihr an einem großen Gastmahl teilnehmen sollt? Bereitet ihr euch dann nicht körperlich auf die Speisen und auserlesenen Weine vor, indem ihr dem Bankett ein kurzes Fasten vorausgehen laßt, das den Geschmackssinn verfeinert und den Magen stärkt, damit ihr Speisen und Getränke mit größerem Appetit genießen könnt? Und tut nicht der Weingärtner dasselbe, wenn er den neuen Wein kosten will? Er verdirbt nicht seinen Geschmackssinn an dem Tag, an dem er die Weinprobe machen will. Er tut es nicht, damit er die Vorzüge und Mängel genau feststellen, erstere verbessern und letztere anpreisen und seine Ware gut verkaufen kann. Wenn aber der zu einem Gastmahl Geladene dies tut, um Speisen und Getränke besser genießen zu können, und der Winzer, um seinen Wein besser verkaufen zu können oder den verkäuflich zu machen, den der Käufer wegen seiner Mängel ablehnen würde, sollte es dann nicht auch der Mensch tun für seine Seele, um den Himmel zu genießen, um den Schatz zu gewinnen, der ihm den Himmel öffnet?

Hört meinen Rat an. Ja, hört auf ihn. Es ist der gerechte Rat des Gerechten, dem man vergeblich zum Bösen rät und der euch vor den Folgen des schlechten Rates bewahren will, den man euch gegeben hat. Seid gerecht, wie ich es bin. Und bewertet den Rat richtig, den man euch gibt. Wenn ihr es versteht, gerecht zu werden, werdet ihr allem den richtigen Wert beimessen.

Hört ein Gleichnis. Es beschließt den Zyklus der Gleichnisse, die ich in Silo und Libona erzählt habe, und sie alle handeln von gegebenen und erhaltenen Ratschlägen.

Ein König schickte seinen geliebten Sohn, sein Reich zu besuchen. Das Reich dieses Königs war in viele Provinzen eingeteilt, denn es war sehr groß. Diese Provinzen hatten unterschiedliche Kenntnis von ihrem König.

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Einige kannten ihn so gut, daß sie sich für seine Bevorzugten hielten und deshalb hochmütig wurden. Sie glaubten, als einzige vollkommen zu sein und den König und seinen Willen zu kennen. Andere kannten ihn, aber sie hielten sich trotzdem nicht für weise und bemühten sich, ihn immer besser kennenzulernen. Wieder andere kannten den König, doch sie liebten ihn auf ihre Art und hatten eigene Vorschriften, die nicht mit dem wahren Gesetz des Königs übereinstimmten. Vom wahren Gesetz hatten sie genommen, was ihnen gefiel und soweit es ihnen gefiel, und hatten dann auch noch dieses Wenige verfälscht und es mit sonstigen Gesetzen vermischt, die sie von anderen Reichen übernommen oder sich selbst gegeben hatten und die nicht gut waren. Nein, nicht gut. Andere wußten noch viel weniger über ihren König, und einige wußten nur, daß es einen König gab. Nicht mehr als dies. Doch auch dieses Wenige hielten sie für ein Märchen.

Der Sohn des Königs ging nun und besuchte das Reich seines Vaters, um allen Gegenden eine genaue Kenntnis des Königs zu vermitteln, um hier die Stolzen zu bessern und dort die Betrübten aufzurichten, hier die falschen Vorstellungen zu berichtigen und die Leute zu bewegen, die unreinen Elemente aus dem reinen Gesetz zu entfernen, und dort belehrend die Lücken zu füllen, auf daß jeder ein Mindestmaß an Kenntnis und Glauben an diesen großen König erlange, dessen Untertanen sie alle waren. Der Sohn des Königs dachte auch, die beste Lehre für alle sei das Beispiel eines gerechten Lebens im Einklang mit dem Gesetz, sowohl in wichtigen als auch in weniger wichtigen Dingen. Und deshalb war er vollkommen. So sehr, daß die Menschen guten Willens sich besserten; denn sie ahmten seine Taten nach und hörten auf die Worte des Königsohnes, da seine Worte mit seinen Taten eins waren und es keine Widersprüche zwischen ihnen gab.

Jene aus den Provinzen aber, die sich für vollkommen hielten, nur weil sie das Gesetz Wort für Wort auswendig konnten, sahen, daß bei der Betrachtung der Werke des Königssohnes und dessen, was er zu tun auftrug, allzu deutlich wurde, daß sie zwar dem Buchstaben des Gesetzes, nicht aber dem Geist des Gesetzes des Königs folgten und ihre Heuchelei somit entlarvt wurde.

Daher gedachten sie den aus dem Weg zu räumen, der sie als das erkennen ließ, was sie wirklich waren. Und um dies zu erreichen, gingen sie auf zweifache Weise vor, gegen den Sohn des Königs und gegen seine Anhänger. Den ersten berieten sie schlecht und verfolgten ihn; die anderen berieten sie ebenfalls schlecht und drohten ihnen. So viele schlechte Ratschläge gibt es. Ein schlechter Rat ist es, zu sagen: "Tu dies nicht, es könnte dir schaden" und dabei Wohlwollen zu heucheln. Und es ist auch ein schlechter Rat, jemanden zu verfolgen, um ihn dazu zu bringen, vom rechten Weg abzuweichen und seine Mission aufzugeben. Es ist ein schlechter Rat, wenn man seinen Anhängern sagt: "Verteidigt mit allen Mitteln und

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um jeden Preis den verfolgten Gerechten", und ebenso ist es ein schlechter Rat, den Anhängern zu sagen: "Wenn ihr ihn beschützt, werden wir euch verachten."

Aber ich spreche hier nicht von den Ratschlägen, die den Anhängern gegeben wurden. Ich spreche von den Ratschlägen, die man dem Sohn des Königs gab und geben ließ, mit vorgetäuschtem Wohlwollen, mit unbändigem Haß oder durch den Mund unwissender Instrumente, die vorgeschoben wurden, um zu schaden, während sie glaubten zu nützen.

Der Sohn des Königs hörte alle diese Ratschläge an. Er hatte Ohren, Augen, Verstand und Herz. Er konnte daher nicht umhin, zu hören, zu sehen, zu verstehen und zu beurteilen. Aber der Königssohn hatte vor allem den gerechten Geist des wahren Gerechten, und auf jeden Rat, der ihm bewußt oder unbewußt gegeben wurde, um ihn zur Sünde zu verleiten und so den Untertanen seines Vaters ein schlechtes Beispiel zu geben und dem Vater selbst unendlichen Schmerz zu bereiten, antwortete er: "Nein. Ich tue, was mein Vater will. Ich folge seinen Gesetzen. Daß ich der Sohn des Königs bin, entbindet mich nicht davon, in der Befolgung des Gesetzes der getreueste seiner Untertanen zu sein. Ihr, die ihr mich haßt und mir Furcht einjagen wollt, wißt, daß nichts mich dazu bringen kann, das Gesetz zu übertreten. Ihr, die ihr mich liebt und mich retten wollt, wißt, daß ich euch für diese gute Absicht segne; aber wißt auch, daß eure Liebe und meine Liebe zu euch – denn ihr seid mir treuer als jene, die sich weise nennen – mich nicht meine Pflicht gegen die größte Liebe vergessen lassen darf, gegen die Liebe, die ich meinem Vater schulde."

Dies ist das Gleichnis, meine Kinder. Und es ist so einfach, daß jeder von euch es verstehen kann. Und aus den ehrlichen Seelen kann nur eine Stimme kommen: "Er ist wahrlich der Gerechte, denn kein menschlicher Rat kann ihn auf den Weg des Irrtums führen."

Ja, Kinder von Sichern, mich kann nichts zum Irrtum verleiten. Wehe, wenn ich dem Irrtum verfallen würde! Wehe mir und wehe euch! Anstatt euer Erlöser zu sein, wäre ich euer Verräter, und ihr hättet recht, mich zu hassen. Aber ich werde es nicht tun. Ich tadle euch nicht, weil ihr Ratschläge angenommen und Pläne geschmiedet habt, die gegen die Gerechtigkeit fehlen. Ihr seid nicht schuldig, da ihr dies im Geist der Liebe getan habt. Vielmehr sage ich euch, was ich am Anfang und am Ende gesagt habe: Ich liebe euch mehr, als ich meine leiblichen Kinder lieben würde, denn ihr seid die Kinder meines Geistes. Ich habe euren Geist zum Leben geführt und werde es noch mehr tun. Wißt, und dies soll das Andenken an mich sein, wißt, daß ich euch segne für die Gedanken eures Herzens. Doch wachst in der Gerechtigkeit, seid nur darauf bedacht zu tun, was dem wahren Gott zur Ehre gereicht; dem wahren Gott, dem eure ganze Liebe gebührt, viel mehr als jedem anderen. Kommt zu dieser vollkommenen Gerechtigkeit, für die ich euch ein Beispiel gewesen bin; der Gerechtigkeit, die den

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Egoismus des eigenen Wohlergehens, die Furcht vor dem Feind und dem Tod, die alles überwinden läßt, um den Willen Gottes zu tun.

Bereitet eure Seele vor. Der Morgen der Gnade bricht an. Das Festmahl der Gnade steht bevor. Eure Seelen, die Seelen jener, die zur Wahrheit kommen wollen, stehen am Vorabend ihrer Hochzeit, ihrer Befreiung, ihrer Erlösung. Bereitet euch in Gerechtigkeit auf das Fest der Gerechtigkeit vor.»

Jesus gibt den Verwandten der Kinder, die ganz in seiner Nähe sind, ein Zeichen, mit ihm ins Haus zu kommen, und zieht sich zurück, nachdem er die drei Kinder in die Arme genommen hat wie zu Anfang.

Auf dem Platz folgen nun die Bemerkungen. Sehr unterschiedlich sind sie. Die Besten sagen: «Er hat recht. Wir wurden von den falschen Boten verraten.»

Die weniger Guten sagen: «Aber dann hätte er uns nicht schmeicheln dürfen. Nun macht er uns noch mehr verhaßt. Er hat uns einen schlechten Streich gespielt. Er ist ein echter Jude.»

«Das könnt ihr nicht sagen. Unsere Armen haben seine Hilfe erfahren. Unsere Kranken seine Macht. Unsere Waisen seine Güte. Wir können nicht verlangen, daß er sündigt, um uns zufriedenzustellen.»

«Er hat schon gesündigt, denn er hat uns gehaßt, da er den Haß gegen uns geschürt hat.»

«Bei wem?»

«Bei allen. Er hat sich über uns lustig gemacht. Ja, er hat seinen Spott mit uns getrieben.»

Die verschiedensten Ansichten sind auf dem Platz zu hören. Doch sie dringen nicht in das Innere des Hauses, in dem sich Jesus mit den Vornehmen, den Kindern und ihren Angehörigen aufhält.

Einmal mehr bewahrheitet sich das prophetische Wort: «Er wird zum Stein des Anstoßes werden.»

628. JESUS GEHT NACH ENNON

Jesus ist allein. Er sitzt meditierend unter einer riesigen Steineiche auf einem Ausläufer des Berges, der Sichern überragt. Die unter den ersten Strahlen der Sonne rötlichweiß schimmernde Stadt liegt unten, auf den niedrigeren Hängen des Berges. Von oben gesehen gleicht sie einer Handvoll großer, weißer Würfel, die ein großes Kind auf einer grünen, sanft abfallenden Wiese verstreut hat. Die beiden Wasserläufe, in deren Nähe sie sich erhebt, bilden einen silberblauen Halbkreis um die Stadt. Dann fließt einer von ihnen durch den Ort und singt und glitzert zwischen den weißen Häusern, um ihn dann wieder zu verlassen und im Grün der Olivenhaine

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und üppigen Obstgärten da und dort zu verschwinden und wieder aufzutauchen und dem Jordan zuzustreben. Der andere ist bescheidener und fließt an der Stadtmauer entlang, leckt fast an ihr. Er bewässert die fruchtbaren Gärten und tränkt dann die Herden weißer Schafe, die auf den Wiesen weiden, die die Kleeblüten mit ihren roten Köpfchen wie mit Blut besprengen. Vor Jesus dehnt sich ein weiter Horizont. Hinter den immer niedriger werdenden Wellen der Hügel sieht man klein und weit entfernt das grüne Tal des Jordan, und hinter diesem die Gebirge auf der anderen Seite des Jordan, die im Nordosten in den charakteristischen Gipfeln des Hauran enden. Die Sonne, die hinter diesen aufgegangen ist, beleuchtet drei eigenartige Wolken, die wie drei Bänder aus leichter Gaze vor dem Schleier des Firmaments schweben; und die leichte Gaze der drei langen, schmalen Wolken hat eine Farbe zwischen orange und rosa angenommen, ähnlich gewissen kostbaren Korallen. Der Himmel scheint durch dieses luftige, wunderschöne Tor versperrt zu sein. Jesus betrachtet es. Das heißt, er schaut gedankenvoll in diese Richtung. Vielleicht sieht er die Schönheit der Natur nicht. Er hat den Ellbogen auf das Knie gestützt und das Kinn in die Hand und schaut, denkt nach, betrachtet. Über ihm lärmen die Vögel und zwitschern und fliegen fröhlich um die Wette.

Jesus senkt den Blick auf Sichern, das in der Morgensonne immer mehr erwacht. Nun kommen zu den Hirten und den Herden, die zuerst allein das Panorama belebten, die Pilgergruppen, und in das Gebimmel der Herdenglöckchen mischen sich die Klänge der Schellen der Lasttiere, und Stimmen, das Scharren von Schritten, und Worte. Der Wind trägt in Wellen die Geräusche der erwachenden Stadt und der Leute, die sich von ihrer Nachtruhe erheben, zu Jesus.

Jesus steht auf. Mit einem Seufzer verläßt er den ruhigen Ort und geht rasch auf einer Abkürzung zur Stadt hinunter. Er betritt sie zwischen Karawanen von Gärtnern und Pilgern, von denen erstere sich beeilen, ihre Erzeugnisse abzuladen, während letztere vor der Weiterreise noch rasch etwas einkaufen. In einer Ecke des Marktplatzes warten schon in einer Gruppe die Apostel und die Jüngerinnen. Sie sind umringt von den Leuten aus Ephraim, Silo, Libona und von vielen aus Sichern.

Jesus geht zu ihnen und grüßt sie. Dann sagt er zu denen aus Samaria: «Und nun wollen wir uns trennen. Kehrt in eure Häuser zurück und denkt an meine Worte. Wachst in der Gerechtigkeit.» Er wendet sich an Judas von Kerioth: «Hast du an die Armen aller Orte Almosen verteilt, wie ich es dir gesagt habe?»

«Ja. Nur an die von Ephraim nicht, denn sie haben schon etwas bekommen.»

«Dann geht also. Sorgt dafür, daß jeder Arme Hilfe erhält.»

«Wir danken dir in ihrem Namen.»

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«Dankt den Jüngerinnen, sie haben mir das Geld gegeben. Geht. Der Friede sei mit euch.»

Die Leute entfernen sich zögernd und mit Bedauern. Aber sie gehorchen.

Jesus bleibt mit den Aposteln und Jüngerinnen zurück. Er sagt zu ihnen: «Ich gehe nach Ennon. Ich möchte den Ort des Täufers grüßen. Dann will ich zur Straße im Tal hinuntergehen. Sie ist für die Frauen bequemer.»

«Wäre es nicht besser, die Straße von Samaria zu nehmen?» fragt Iskariot.

«Wir brauchen die Räuber nicht zu fürchten, auch wenn wir auf dem Weg an ihren Höhlen vorbeikommen. Wer will, soll mit mir kommen. Wer nicht nach Ennon mitkommen will, soll bis zum Tag nach dem Sabbat hierbleiben. An diesem Tag werde ich mich nach Thersa begeben, und wer hiergeblieben ist, kann dort mit mir zusammentreffen.»

«Ich, wirklich... ich würde lieber hierbleiben. Ich fühle mich nicht ganz gesund... Ich bin müde ...» sagt Iskariot.

«Man sieht es. Du siehst krank aus, mit deinem finsteren Blick, deiner schlechten Laune und deiner dunklen Hautfarbe. Ich beobachte dich schon einige Zeit...» sagt Petrus.

«Aber niemand fragt mich, ob ich leide ...»

«Wäre dir das recht gewesen? Ich weiß nie, was du willst. Aber wenn es dich freut, frage ich dich jetzt und bin auch bereit, bei dir zu bleiben, um dich zu pflegen», antwortet ihm Petrus geduldig.

«Nein, nein. Es ist nur etwas Müdigkeit. Geh, geh nur. Ich bleibe hier.»

«Auch ich bleibe. Ich bin alt. Ich werde mich ausruhen und dir Mutter sein ...» sagt Elisa plötzlich.

«Du willst hierbleiben? Du hast doch gesagt ...» unterbricht sie Salome.

«Wenn alle gegangen wären, wäre auch ich mitgekommen, um nicht allein zurückzubleiben. Aber da Judas hierbleibt ...»

«Dann komme auch ich mit. Ich will nicht, daß du dich für mich opferst, Frau. Sicher willst du gerne die Zufluchtsstätte des Täufers sehen ...»

«Ich bin von Bethsur und habe nie das Bedürfnis gehabt, nach Bethlehem zu gehen und die Höhle zu sehen, in der der Meister geboren wurde. Das werde ich tun, wenn ich den Meister nicht mehr habe. Warum sollte ich also darauf brennen, zu sehen, wo Johannes lebte... Ich ziehe es vor, Liebe zu üben, und bin überzeugt, daß sie mehr wert ist als eine Pilgerreise.»

«Du tadelst den Meister. Merkst du das nicht?»

«Ich spreche für mich. Er geht dorthin und tut das Richtige. Er ist der Meister. Ich bin eine alte Frau, der der Schmerz jegliche Neugier genommen hat und die aus Liebe zu Christus nur noch von dem Wunsch beseelt ist, ihm zu dienen.»

«Du dienst ihm also, indem du mich ausspionierst.»

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«Tatst du denn tadelnswerte Dinge? Man überwacht die, die Böses tun. Aber ich habe noch nie jemanden ausspioniert, Mann. Ich gehöre nicht zur Familie der Schlangen. Und ich übe keinen Verrat.»

«Ich auch nicht.»

«Gott gebe es, zu deinem Besten. Aber ich kann nicht verstehen, warum du etwas dagegen hast, daß ich hier bei dir bleibe und mich ausruhe ...»

Jesus, der bisher schweigend zugehört hat inmitten der anderen, die erstaunt über diesen Wortwechsel sind, hebt nun das zuvor etwas gesenkte Haupt und sagt: «Genug. Den Wunsch, den du hast, kann mit mehr Berechtigung auch eine Frau haben, die noch dazu alt ist. Ihr bleibt bis zum Morgengrauen nach dem Sabbat hier. Dann trefft ihr wieder mit mir zusammen. Geh du inzwischen einkaufen, was wir für diese Tage nötig haben. Geh und sei bald zurück.»

Judas geht widerwillig, um die Lebensmittel einzukaufen. Andreas will ihm folgen, doch Jesus hält ihn am Arm und sagt: «Bleibe. Er kann es allein tun.» Jesus ist sehr streng.

Elisa schaut ihn an. Dann kommt sie zu ihm und sagt: «Verzeih, Meister, wenn ich dir mißfallen habe.»

«Ich habe dir nichts zu verzeihen, Frau. Verzeih vielmehr du diesem Mann, wie wenn er dein Sohn wäre.»

«In diesem Sinn bleibe ich bei ihm... auch wenn er das Gegenteil glaubt... Du verstehst mich ...»

«Ja. Und ich segne dich. Du hast recht, wenn du sagst, daß die Wallfahrten zu meinen Orten erst später notwendig sein werden, wenn ich nicht mehr bei euch bin. Sie werden nötig sein, um euren Geist zu trösten. Vorerst sollt ihr nur den Wünschen eures Jesus entsprechen. Und du hast meinen Wunsch verstanden; denn du opferst dich, um einen unklugen Geist zu beschützen ...»

Die Apostel sehen sich an... Auch die Jüngerinnen. Nur Maria steht ganz verschleiert da und hebt nicht einmal den Kopf, um mit jemandem einen Blick zu tauschen. Maria von Magdala, die gerade und aufrecht wie eine richtende Königin dasteht, hat Judas, der zwischen den Händlern umhergeht, nie aus den Augen verloren, und in ihrem Blick liegt Groll und auf ihren zusammengepreßten Lippen Verachtung. Ihr Ausdruck sagt mehr, als Worte sagen könnten.

Judas kommt zurück. Er gibt den Gefährten, was er eingekauft hat. Dann bringt er seinen Mantel in Ordnung, den er benützt hat, um die Einkäufe darin zu tragen, und will Jesus die Börse geben.

Jesus weist sie mit der Hand zurück: «Nicht nötig. Für die Almosen ist noch Maria da. Kümmere dich darum, hier Gutes zu tun. Es gibt viele Bettler. In diesen Tagen kommen sie hier aus allen Richtungen auf dem Weg nach Jerusalem vorbei. Gib ohne Ausnahme und mit Liebe und vergiß nicht, daß wir alle Bettler sind vor Gott, was die Barmherzigkeit und

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das Brot betrifft ... Leb wohl. Leb wohl, Elisa. Der Friede sei mit euch.»Jesus wendet sich rasch um und entfernt sich sofort auf einer Straße, die dort in der Nähe vorüberführt, ohne Judas Gelegenheit zu geben, ihn zu grüßen ...

Alle folgen ihm schweigend. Sie verlassen die Stadt in Richtung Nordosten und durchqueren eine wunderschöne Gegend...

629. IN ENNON; DER JÜNGLING BENJAMIN

Ennon, eine Handvoll Häuser, liegt etwas weiter oben im Norden. Hier ist der Ort, an dem der Täufer sich aufgehalten hat: eine Höhle, umgeben von üppiger Vegetation und rieselnden Quellen, die sich zu einem wasserreichen Bach vereinigen und zum Jordan fließen.

Jesus sitzt vor der Höhle, dort, wo er einst den Vetter begrüßt hat. Er ist allein. Der Sonnenaufgang bemalt kaum den Osten mit einem schwachen Rosaton, und der Wald belebt sich mit dem Gezwitscher der erwachenden Vögel. Aus den Ställen von Ennon ertönt das Blöken der Schafe, und der Schrei eines Esels dringt durch die stille Luft. Dann das Trappeln von Schrittchen auf dem Weg. Eine kleine Ziegenherde kommt vorbei mit einem Hirtenknaben, der einen Augenblick stillsteht, um Jesus anzusehen. Dann geht er weiter. Doch gleich darauf kommt er zurück, weil eine kleine Ziege es sich in den Kopf gesetzt hat, stehenzubleiben und den Mann zu betrachten, den sie noch nie an diesem Ort gesehen hat und der seine schlanke Hand ausstreckt, ihr einen Stengel Majoran reicht und ihren Kopf mit den klugen Augen krault. Der Hirtenjunge ist verblüfft. Er weiß nicht, soll er das Tier rufen oder soll er Jesus es weiterhin streicheln lassen, der sich zu freuen scheint, daß die Ziege sich so furchtlos zu seinen Füßen niedergelassen und ihren Kopf auf seine Knie gelegt hat. Auch die anderen Ziegen kommen zurück und fressen das blumige Gras.

Der Hirtenjunge fragt: «Möchtest du Milch haben? Ich habe zwei widerspenstige Ziegen noch nicht gemolken, da sie jeden mit den Hörnern stoßen, der es versucht, solange sie sich nicht vollgefressen haben. Genau wie ihr Besitzer, der uns schlägt, wenn seine Börse nicht voll ist.»

«Bist du ein dienender Hirte?»

«Ich bin Waise. Ich bin allein und bin Knecht. Er ist mein Verwandter, denn er ist der Mann der Schwester der Mutter meiner Mutter. Solange Rachel lebte... Aber sie ist nun schon seit vielen Monaten tot... Und ich bin sehr unglücklich... Nimm mich mit! Ich bin gewohnt, von nichts zu leben... Ich werde dir dienen. Ein wenig Brot genügt mir als Lohn. Auch hier habe ich nichts... Wenn er mich bezahlen würde, würde ich fortgehen. Aber er sagt: "Dein Geld? Das behalte ich, denn ich kleide dich und

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gebe dir zu essen." Er kleidet mich... ! Du siehst es. Er gibt mir zu essen... ! Schau mich an... Und das sind die Schläge... Mein Brot von gestern, dies hier...» Er zeigt die blauen Flecken auf den mageren Armen und Schultern.

«Was hast du denn getan?»

«Nichts. Deine Gefährten, ich meine die Jünger, haben vom Himmelreich gesprochen, und ich habe ihnen zugehört... Es war ja Sabbat. Auch wenn ich nicht gearbeitet habe, weil Sabbat war, so bin ich doch nicht müßig gewesen. Da hat er mich so geschlagen, daß ich nicht mehr bei ihm bleiben will. Nimm mich mit, oder ich laufe davon... Ich bin heute morgen eigens hierher gekommen. Zuerst hatte ich Angst, mit dir zu reden. Doch du bist gut. Und so habe ich gesprochen.»

«Und die Herde? Du willst doch nicht mit der Herde davonlaufen...»

«Ich werde sie in den Stall zurückbringen... Der Mann wird bald in den Wald gehen, um Holz zu sägen... Ich werde die Herde zurückbringen und dann fliehen. Oh, nimm mich mit!»

«Aber weißt du denn, wer ich bin?»

«Du bist der Christus, der König des Himmelreiches. Wer dir nachfolgt, wird im anderen Leben glücklich sein. Hier habe ich noch nie eine Freude erlebt ... Weise mich nicht ab... damit ich wenigstens dort glücklich sein kann ...» Der Junge weint, neben der Ziege zu Füßen Jesu kniend.

«Woher kennst du mich denn so gut? Hast du mich vielleicht schon reden gehört?»

«Nein... Erst seit gestern weiß ich, daß du hier bist, wo einst der Täufer gewesen ist. Aber deine Jünger von Ennon sind manchmal hierhergekommen. Ich habe sie gehört. Sie heißen Matthias, Johannes und Simeon, und sie waren oft hier, weil der Täufer ihr Meister gewesen ist, bevor du es geworden bist. Und dann Isaak ... In Isaak habe ich Vater und Mutter wiedergefunden. Isaak wollte mich von meinem Herrn wegholen und gab ihm auch Geld. Aber er! Er nahm das Geld, ja, das Geld; aber dann ließ er mich nicht gehen und verspottete deinen Jünger.»

«Du weißt viel. Aber weißt du auch, wohin ich gehe?»

«Nach Jerusalem. Aber es steht nicht auf meiner Stirne geschrieben, daß ich aus Ennon bin.»

«Ich gehe viel weiter fort. Bald schon gehe ich fort. Ich kann dich nicht mitnehmen.»

«Nimm mich mit, auch wenn es nur für kurze Zeit ist.»

«Und dann?»

«Und dann... werde ich weinen und mit denen gehen, die bei Johannes waren; denn diese haben als erste zu mir armem Knaben gesagt, daß Gott die Freude, die die Menschen auf Erden nicht geben, denen im Himmel schenkt, die guten Willens gewesen sind. Um sie zu erlangen, habe ich so

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viele Schläge und so viel Hunger ertragen und Gott um diesen Frieden gebeten... Du siehst, ich bin guten Willens gewesen... Aber wenn du mich jetzt abweist, werde ich alle Hoffnung verlieren ...» Der Junge weint leise und fleht Jesus mehr mit den Tränen seiner Augen als mit Worten an.

«Ich habe kein Geld, um dich loszukaufen. Und ich weiß auch nicht, ob dein Herr damit einverstanden wäre.»

«Aber ich bin schon losgekauft worden. Dafür gibt es Zeugen. Eli, Levi und Jonas haben es gesehen und den Mann getadelt. Und sie sind die Angesehensten von Ennon, weißt du!»

«Wenn es so ist, dann wollen wir gehen. Steh auf und komm.»

«Wohin?»

«Zu deinem Herrn.»

«Ich habe Angst! Geh du allein. Er ist dort auf dem Berg zwischen den Bäumen und sägt Holz. Ich warte hier.»

«Hab keine Angst. Schau, da kommen meine Jünger. Wir werden viele gegen einen sein, und er wird dir nichts antun können. Steh auf. Wir wollen nun nach Ennon gehen, die drei Zeugen holen, und alle zusammen zu deinem Herrn gehen. Gib mir deine Hand. Später werde ich dich den Jüngern anvertrauen, die du schon kennst. Wie heißt du denn?»

«Benjamin.»

«Ich habe schon zwei andere kleine Freunde, die so heißen. Du wirst der dritte sein.»

«Freund? Das ist zuviel! Dein Knecht bin ich.»

«Du bist der Knecht des Allerhöchsten Herrn. Für Jesus von Nazareth bist du ein Freund. Komm. Sammle deine Herde und laß uns gehen.»

Jesus erhebt sich, und während der Hirtenknabe die störrischen Ziegen sammelt und auf den Weg treibt, gibt er den Aposteln, die auf dem Pfad daherkommen und nach ihm Ausschau halten, ein Zeichen, sich zu beeilen. Sie beschleunigen ihre Schritte. Aber die Herde ist schon auf dem Weg, und Jesus geht ihnen, den kleinen Hirten an der Hand, entgegen...

«Herr! Bist du ein Ziegenhirt geworden? Wahrlich, Samaria kann man eine Ziege nennen, aber du...»

«Ich bin der gute Hirte. Und ich verwandle auch die Böcklein in Lämmer. Die Kinder sind alle Lämmer, und dieser Junge ist noch ein halbes Kind.»

«Ist das nicht der Junge, der gestern von dem wütenden Mann fortgeführt wurde?» fragt Matthäus und betrachtet den Knaben.

«Ich glaube, daß er es ist. Bist du es?»

«Ich bin es.»

«Oh, armer Junge! Dein Vater liebt dich wirklich nicht!» sagt Petrus.

«Er ist mein Herr. Ich habe keinen anderen Vater als Gott.»

«Ja. Die Jünger des Täufers haben seine Unwissenheit belehrt und sein Herz getröstet, und zur rechten Zeit hat der Vater aller uns

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zusammengeführt. Wir wollen nach Ennon, drei Zeugen holen und dann zu seinem Herrn gehen...» sagt Jesus.

«Damit er uns den Jungen gibt? Und wo ist das Geld dafür? Maria hat das letzte Geld, das sie hatte, weggegeben...» bemerkt Petrus.

«Geld ist nicht erforderlich, denn er ist kein Sklave. Und zudem hat sein Herr schon Geld erhalten. Isaak hat es ihm gegeben, da ihm der Junge leid tat.»

«Und warum hat Isaak ihn nicht bekommen?»

«Weil jene, die Gottes und der Menschen spotten, zahlreich sind. Aber dort ist meine Mutter mit den Frauen. Lauft und sagt ihnen, daß sie nicht weitergehen sollen.»

Jakobus des Zebedäus und Andreas eilen wie zwei Gazellen davon. Jesus geht rasch der Mutter und den Jüngerinnen entgegen und trifft mit ihnen zusammen, als sie schon alles erfahren haben und mitleidig den Knaben betrachten.

Zusammen gehen sie eilig nach Ennon zurück und betreten die Stadt. Von dem Knaben geführt, gelangen sie zum Haus des Eli, einem im Alter erblindeten Greis, der aber sonst noch recht rüstig ist. Als junger Mann muß er stark wie die Eichen dieser Gegend gewesen sein.

«Eli, der Rabbi von Nazareth will mich mit sich nehmen, wenn...»

«Er nimmt dich mit? Eine größere Wohltat könnte er dir nicht erweisen. Du würdest ein Bösewicht werden, wenn du hier bleibst. Das Herz wird hart, wenn die Ungerechtigkeit zu lange dauert. Und sie ist zu groß. Du hast ihn gefunden? Der Allerhöchste hat also deine Tränen erhört, obwohl du nur ein kleiner Samariter bist. Glücklich bist du, denn in deinem Alter bist du durch nichts mehr gebunden und kannst der Wahrheit folgen, ohne daß dich etwas daran hindert, nicht einmal der Wille eines Vaters oder einer Mutter. Nun erscheint das als Vorsehung, was so viele Jahre eine Strafe zu sein schien. Gott ist gut. Aber was willst du von mir? Weshalb bist du gekommen? Willst du meinen Segen? Den gebe ich dir gern als Ältester des Ortes.»

«Deinen Segen erbitte ich, denn du bist gut. Ich möchte dich aber auch bitten, mit Levi und Jonas und mit dem Rabbi zu meinem Herrn zu gehen, damit er nicht noch einmal Geld verlangt.»

«Aber wo ist denn der Rabbi? Ich bin alt und sehe nur wenig. Und ich erkenne nur die, die ich sehr gut kenne. Den Rabbi kenne ich nicht.»

«Hier ist er. Er steht vor dir.»

«Hier?! Ewige Macht!» Der Greis steht auf, verneigt sich vor Jesus und sagt: «Vergib dem Alten mit den trüben Augen. Ich grüße dich, denn einer nur ist gerecht in ganz Israel, und du bist es. Gehen wir. Levi arbeitet in seinem Garten an einem Faß, und Jonas ist mit seinem Käse beschäftigt.» Der Greis richtet sich wieder auf – er ist so hochgewachsen wie Jesus, obgleich vom Alter gebeugt – und geht an der Mauer entlang,

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wobei er mit Hilfe seines Stockes den Hindernissen auf dem Weg ausweicht.

Jesus, der ihn mit seinem Friedensgruß gegrüßt hat, kommt ihm zu Hilfe an einer Stelle, an der drei primitive Stufen eine Gefahr beim Gehen für einen Halbblinden darstellen könnten. Bevor sie aufgebrochen sind, hat Jesus den Jüngerinnen aufgetragen, ihn dort zu erwarten. Benjamin geht indessen zu seinem Schafstall.

Der Alte sagt: «Du bist gut. Aber Alexander ist ein Raubtier. Ein Wolf ist er. Ich weiß nicht, ob... Aber ich bin reich genug, um dir Geld für Benjamin geben zu können, falls Alexander nochmals etwas verlangt. Meine Kinder brauchen mein Geld nicht. Ich bin fast hundert Jahre alt, und Geld hat im anderen Leben keinen Wert. Eine Tat der Menschlichkeit, ja, die hat einen Wert ...»

«Warum hast du das nicht schon eher getan?»

«Tadle mich nicht, Meister. Ich habe dem Knaben zu essen gegeben und habe ihn getröstet, damit er nicht ein Übeltäter wird. Alexander ist imstande, eine Turteltaube rasend zu machen. Aber ich konnte ihm den Jungen nicht wegnehmen. Niemand konnte das. Du... gehst weit fort von hier. Aber wir... Wir bleiben hier. Und seine Rache wird allgemein gefürchtet. Eines Tages hatte einer von Ennon es gewagt, dazwischenzutreten, als er im Rausch den Knaben beinahe zu Tode prügelte, und Alexander vergiftete ihm, ich weiß nicht, wie er es fertigbrachte, die ganze Herde.»

«Ist dies nicht nur ein Verdacht?»

«Nein. Er wartete viele Monate. Es war im Winter, wenn die Schafe eingesperrt sind. Da vergiftete er das Wasser in der Tränke. Sie tranken, bekamen aufgeblähte Bäuche und gingen ein. Alle. Wir sind hier alle Hirten und kennen uns aus. Um sicher zu sein, hat man einen Hund von dem Schaffleisch fressen lassen, und der Hund ist krepiert. Außerdem hat jemand Alexander heimlich in den Stall schleichen sehen... Oh, er ist ein Bösewicht! Wir haben alle Angst vor ihm... Er hatte kein Mitleid mit seinen Angehörigen. Nun, da sie alle tot sind, quält er den Jungen.»

«Du brauchst nicht mitzukommen, wenn ...»

«0 nein! Ich komme mit. Die Wahrheit muß gesagt werden. Da, ich höre den Hammer. Das ist Levi.» Er ruft mit lauter Stimme an einer Hecke: «Levi! Levi!»

Ein nicht ganz so alter Mann wie Eli kommt heraus. Sein Gewand ist geschürzt, und in der Hand hält er eine Axt. Er grüßt Eli und fragt: «Was willst du, Freund?»

«Der Mann neben mir ist der Rabbi von Galiläa. Er ist gekommen, um Benjamin mitzunehmen. Komm mit in den Wald zu Alexander. Um zu bezeugen, daß er für den Knaben damals schon Geld von dem Jünger bekommen hat.»

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«Ich komme. Man hat mir immer gesagt, daß der Rabbi gut ist. Nun glaube ich es. Der Friede sei mit dir!» Levi legt die Axt weg, ruft ich weiß nicht wem zu, auf ihn zu warten, und folgt dann Eli und Jesus.

Bald sind sie beim Schafstall des Jonas. Sie rufen ihn, erklären ihm alles.

«Ich komme. Du», gebietet er einem Jungen, «fahre mit der Arbeit fort.» Jonas trocknet sich die Hände an einem Lappen ab, den er dann an einen Pfosten hängt, und folgt Jesus, nachdem er ihn begrüßt hat, zusammen mit Levi und Eli.

Jesus spricht inzwischen mit dem Alten. Er sagt zu ihm: «Du bist ein Gerechter. Gott wird dir Frieden schenken.»

«Ich hoffe es. Der Herr ist gerecht! Es ist nicht meine Schuld, daß ich in Samaria geboren wurde...»

«Es ist nicht deine Schuld. Im anderen Leben gibt es keine Grenzen für die Gerechten. Nur die Sünde errichtet Grenzen zwischen dem Himmel und dem Abgrund.»

«Das ist wahr. Wir gerne würde ich dich doch sehen! Deine Stimme ist sanft, und auch deine Hand ist sanft, wenn du den blinden Alten führst. Sanft und kräftig zugleich. Sie gleicht der meines Lieblingssohnes: Eli heißt er, wie ich, und ist der Sohn meines Sohnes Joseph. Wenn dein Aussehen so ist wie deine Hand, dann selig der, der dich sieht.»

«Es ist besser, mich zu hören, als mich zu sehen. Das heiligt die Seele mehr.»

«Das ist wahr. Ich höre denen zu, die von dir berichten. Doch sie kommen nur selten vorbei... Hört man da nicht Axtschläge?»

«So ist es.»

«Dann ist Alexander nicht weit... Rufe ihn.»

«Ja. Ihr bleibt hier. Wenn ich es allein schaffe, rufe ich euch nicht. Zeigt euch nicht, wenn ich euch nicht rufe.» Jesus geht weiter und ruft laut.

«Wer ruft mich? Wer bist du?» sagt ein alter, äußerst kräftiger Mann mit hartem Gesichtsausdruck und dem Rumpf und den Gliedern eines Ringers. Ein Schlag dieser Hände muß wie ein Keulenschlag sein: furchtbar.

«Ich bin es. Ein Unbekannter, der dich kennt. Ich bin gekommen, um zu holen, was mir gehört.»

«Dir? Ha, ha, ha! Was kann dir denn in meinem Wald gehören?»

«Im Wald nichts. In deinem Haus gehört mir Benjamin.»

«Du bist wohl verrückt! Benjamin ist mein Knecht.»

«Er ist mit dir verwandt, und du bist sein Folterknecht. Und einer meiner Boten hat dir das Geld gegeben, das du verlangt hast, um den Knaben freizugeben. Du hast das Geld genommen und den Knaben behalten. Mein Bote, ein Mann des Friedens, hat sich nicht gewehrt. Ich bin gekommen, um Gerechtigkeit zu fordern.»

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«Dein Bote wird dein Geld vertrunken haben. Ich habe nichts bekommen und behalte Benjamin. Ich habe ihn lieb.»

«Nein, du haßt ihn. Du liebst den Lohn, den du ihm vorenthältst. Lüge nicht. Gott bestraft die Lügner.»

«Ich habe kein Geld bekommen. Wenn du mit meinem Knecht gesprochen hast, dann sollst du wissen, daß er ein ausgekochter Lügner ist. Und ich werde ihn verprügeln, weil er mich verleumdet. Leb wohl!» Er kehrt ihm den Rücken und will gehen.

«Gib acht, Alexander! Gott ist gegenwärtig. Fordere ihn in seiner Güte nicht heraus.»

«Gott? Ist er denn der Hüter meiner Interessen, Gott? Ich allein muß mich um sie kümmern und kümmere mich um sie.»

«Gib acht!»

«Wer bist du denn, du erbärmlicher Galiläer? Wie kannst du dir erlauben, mich zu tadeln? Ich kenne dich nicht.»

«Du kennst mich. Ich bin der Rabbi von Galiläa und...»

«Ach so! Und du glaubst, du könntest mir Angst einjagen? Ich fürchte weder Gott noch Beelzebub. Und da willst du, daß ich dich fürchte? Einen Verrückten? Geh, geh! Störe mich nicht bei der Arbeit. Geh, sage ich dir. Schau mich nicht so an. Meinst du, deine Augen könnten mir Angst einjagen? Was willst du denn sehen?»

«Deine Verbrechen nicht, denn die sind mir alle bekannt. Alle. Auch jene, von denen niemand weiß. Aber ich möchte sehen, ob du nicht einmal begreifst, daß dies die letzte Stunde ist, die die göttliche Barmherzigkeit dir schenkt, damit du bereust. Ich möchte sehen, ob nicht Reue in dir aufkommt und dein steinernes Herz zerbricht, wenn...»

Der Mann, der noch die Axt in der Hand hält, wirft diese plötzlich auf Jesus, der sich jedoch rasch bückt. Die Axt fliegt in hohem Bogen über seinen Kopf und trifft den Stamm einer jungen Eiche, schlägt ihn glatt durch, und der Baum fällt unter großem Blättergeraschel und dem Angstgeschrei der erschrockenen Vögel zu Boden.

Die drei, die sich ganz in der Nähe versteckt haben, springen schreiend hervor, aus Furcht, auch Jesus könne getroffen sein, und der blinde Alte ruft: «Oh, könnte ich doch sehen! Könnte ich doch sehen, ob er wirklich nicht verletzt ist! Nur dazu möchte ich das Augenlicht wiederhaben, o ewiger Gott!» Und taub gegen alle Versicherungen der anderen, geht er wankend vorwärts, da er den Stock verloren hat, will Jesus betasten, um zu fühlen, ob er nicht irgendwo am Körper blutet, und stöhnt: «Nur einen einzigen Strahl hellen Lichtes, dann wieder die Finsternis. Aber sehen, sehen können, ohne diesen Schleier, der mir kaum erlaubt, die Hindernisse zu erraten ...»

«Es ist mir nichts passiert, Vater. Du kannst es fühlen», sagt Jesus, berührt den Greis und läßt sich von ihm anfassen.

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Inzwischen werfen die beiden anderen mit harten Worten dem Gewalttätigen seine Schandtaten und Lügen vor. Doch dieser zieht ein Messer, da er nun keine Axt mehr hat, und springt auf sie los. Er lästert dabei Gott, beleidigt den Blinden, droht den anderen und gleicht wirklich einem rasenden wilden Tier. Doch dann schwankt er plötzlich, bleibt stehen, läßt den Dolch fallen, reibt sich die Augen, öffnet sie und schließt sie wieder und stößt einen fürchterlichen Schrei aus: «Ich kann nicht mehr sehen! Hilfe! Meine Augen... Die Finsternis... Wer hilft mir?»

Auch die anderen schreien. Vor Staunen. Sie verspotten ihn auch und sagen: «Gott hat dich erhört.»

Eine der Gotteslästerungen war tatsächlich: «Gott soll mich erblinden lassen, wenn ich lüge und gesündigt habe. Und ich will lieber blind sein, als einen verrückten Nazarener anbeten! Aber an euch werde ich mich rächen, und Benjamin werde ich wie diesen Baum zerbrechen...»

Sie verspotten ihn auch mit den Worten: «Nun kannst du dich rächen...»

«Seid nicht wie er. Haßt nicht!» mahnt Jesus und liebkost den Alten, der sich um nichts anderes kümmert, als um die Unversehrtheit Jesu. Um ihn zu beruhigen, sagt er: «Erhebe dein Antlitz! Schau!»

Das Wunder geschieht. Wie dort dem Gewalttätigen die Finsternis, so wird hier dem Gerechten das Licht zuteil. Und dann ein Schrei; ein anderer, glücklicher, der über die hohen Bäume aufsteigt: «Ich sehe! Meine Augen! Das Licht! Sei gepriesen!» Der Alte betrachtet Jesus mit Augen, in denen neues Leben leuchtet, und wirft sich dann zu Boden, um ihm die Füße zu küssen.

«Gehen wir beide. Ihr anderen, begleitet diesen Unglücklichen nach Ennon. Habt Mitleid mit ihm, denn Gott hat ihn schon bestraft. Und Gott genügt. Der Mensch soll zu jedem Elenden gut sein.»

«Nimm den Knaben, die Schafe, den Wald, das Haus, das Geld! Aber gib mir das Augenlicht wieder. Ich kann nicht so bleiben...»

«Ich kann nicht. Ich lasse dir all das, wofür du zum Sünder geworden bist. Ich nehme nur den Unschuldigen, denn er hat schon das Martyrium erlitten. Möge sich deine Seele im Dunkeln dem Licht öffnen.»

Jesus grüßt Levi und Jonas und geht dann rasch mit dem Greis hinunter, der jünger geworden zu sein scheint und schon bei den ersten Häusern seine Freude verkündet... Ganz Ennon fühlt mit ihm...

Jesus bahnt sich einen Weg, geht zu dem Hirtenknaben, der bei den Aposteln steht, und sagt: «Komm. Wir müssen gehen, denn in Thersa wartet man auf uns.»

«Frei? Ich bin frei? Ich darf mit dir gehen? Oh! Das hätte ich nie geglaubt! Ich will mich von Eli verabschieden. Und die anderen?» Der Junge ist sehr aufgeregt...

Eli küßt und segnet ihn und sagt: «Und verzeihe dem Unglücklichen!»

«Warum? Ich verzeihe ihm schon. Aber warum ist er unglücklich?»

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«Weil er Gott gelästert hat und nun das Licht seiner Augen erloschen ist. Keiner von uns braucht ihn mehr zu fürchten. Er ist im Dunkeln und krank. Furchtbare Macht Gottes!» Der Alte gleicht einem inspirierten Propheten, während er, die Arme und den Blick zum Himmel erhoben, betrachtet, was er gesehen hat.

Jesus verabschiedet sich von ihm und bahnt sich wieder einen Weg durch die kleine, aufgeregte Volksmenge. Er geht, und hinter ihm gehen die Apostel und die Jüngerinnen; auch Benjamin geht, den die Frauen noch besonders verabschieden, da sie dem Bevorzugten des Herrn ein Pfand ihrer Liebe geben möchten: eine Frucht, eine Geldbörse, ein Brot, ein Gewand, eben das, was sie gerade dahaben. Und er, ganz glücklich, grüßt sie, bedankt sich und sagt: «Ihr seid immer so gut zu mir! Ich werde es nicht vergessen. Ich werde für euch beten. Schickt eure Kinder zum Herrn. Es ist schön, bei ihm zu sein. Er ist das Leben. Lebt wohl! Lebt wohl... !»

Sie haben Ennon hinter sich gelassen und gehen nun zum Jordan hin-. ab, zur Ebene des Jordantales, neuen, noch unbekannten Ereignissen entgegen...

Der Junge schaut sich nicht mehr um. Er sagt nichts. Er denkt nichts. Er seufzt nicht. Er lächelt nur. Er schaut auf Jesus, den guten Hirten, der dort allen vorangeht, gefolgt von seiner Herde. Dieser Herde, zu der nun auch er gehört, er, der arme Knabe ... Und auf einmal fängt er an zu singen. Mit lauter Stimme...

Die Apostel lächeln und sagen: «Der Knabe ist glücklich.»

Die Frauen lächeln und sagen: «Das gefangene Vögelchen hat seine Freiheit wiedererlangt und auch ein Nest gefunden.»

Jesus lächelt und wendet sich um. Er betrachtet den Knaben, und sein Lächeln verklärt wie immer alles. Dann ruft er ihn zu sich: «Komm her, Lämmlein Gottes. Ich will dich einen schönen Gesang lehren.» Und Jesus stimmt, gefolgt von den anderen, den Psalm an: «Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir mangeln. Er weidet mich auf grüner Weide» usw. Die herrliche Stimme Jesu breitet sich aus über die ganze Landschaft. Sie übertönt alle anderen, auch die besten Stimmen, so mächtig ist sie in ihrer Freude.

«Maria, dein Sohn ist glücklich», sagt Maria des Alphäus.

«Ja, er ist glücklich. Er hat noch etwas, worüber er sich freuen kann...»

«Keine Reise ist erfolglos. Er geht vorüber und teilt Gnaden aus, und immer gibt es einen, der wirklich dem Erlöser begegnet. Erinnerst du dich an den Abend zu Bethlehem in Galiläa?» fragt Maria von Magdala.

«Ja. Aber ich möchte nicht an die Aussätzigen und den Blinden erinnert werden...»

«Du würdest immer verzeihen. Du bist so gut! Aber auch Gerechtigkeit muß sein», bemerkt Maria Salome.

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«Sie ist nötig. Aber zu unserem Glück ist die Barmherzigkeit größer», sagt Maria Magdalena noch.

«Das kannst du wohl sagen. Aber Maria ...» antwortet Johanna.

«Maria will nur Verzeihung, auch wenn sie selbst sie nicht nötig hat. Nicht wahr, Maria?» sagt Susanna.

«Ich will nur Verzeihung. Ja, nur dies. Böse zu sein, muß schon ein schreckliches Leiden sein...» Sie seufzt bei diesen Worten.

«Würdest du allen verzeihen? Wirklich allen? Wäre es denn gerecht, dies zu tun? Es gibt doch auch solche, die hartnäckig im Bösen verharren, die jede Vergebung verachten und als Schwäche verlachen», sagt Martha.

«Ich würde verzeihen. Was mich betrifft, würde ich allen verzeihen. Nicht aus Torheit, sondern weil ich jede Seele als ein mehr oder weniger gutes Kind ansehe. Wie einen Sohn... Eine Mutter verzeiht immer... auch wenn sie sagt: "Gerechtigkeit verlangt eine gerechte Strafe." Oh, wenn eine Mutter sterben könnte, um für den bösen Sohn ein neues, gutes Herz zu gebären, glaubt ihr, sie würde es nicht tun? Aber man kann es nicht. Und es gibt Seelen, die keine Hilfe annehmen wollen... Ich denke, auch diesen muß die Barmherzigkeit verzeihen. Denn so groß ist schon die Last auf ihrer Seele: ihre Schuld, die Strenge Gottes... Oh, verzeihen wir, verzeihen wir den Schuldigen. Und möge Gott unsere vollständige Verzeihung annehmen, um ihre Schuld zu verringern...»

«Aber warum weinst du immer, Maria? Auch jetzt, da doch dein Sohn eine Stunde der Freude erlebt hat!» beklagt sich Maria des Alphäus.

«Es war keine reine Freude, weil der Schuldige nicht bereut hat. Jesus hat nur dann eine vollkommene Freude, wenn er erlösen kann.»

Wer weiß, weshalb Nike, die bisher geschwiegen hat, unvermittelt sagt: «Bald werden wir wieder mit Judas von Kerioth zusammen sein.»

Die Frauen sehen sich an, als ob dieser einfache Satz etwas Außergewöhnliches wäre, als ob sich dahinter weiß Gott welche wichtige Angelegenheit verbergen würde. Aber niemand sagt ein Wort.

Jesus hat in einem wunderschönen Olivenhain haltgemacht. Die anderen folgen seinem Beispiel. Jesus segnet, zerteilt und verteilt die Speisen.

Benjamin betrachtet und ordnet seine Geschenke: zu lange oder zu weite Kleider, Sandalen, die für seine Füße nicht passen, unreife Mandeln, die noch in der samtenen Schale stecken, Nüsse vom Vorjahr, ein kleiner Käse, einige runzlige Äpfel, ein Messerchen. Er ist glücklich mit seinen Schätzen. Er bietet die eßbaren Dinge an, faltet dann die Kleider wieder zusammen und sagt: «Am Passahfest werde ich das schönste anziehen.»

Maria des Alphäus verspricht: «In Bethanien werde ich alles in Ordnung bringen. Laß zunächst dieses Gewand draußen. In Thersa wird es Wasser geben, um es zu waschen, und außerdem Faden, um es zu kürzen. Was die Sandalen betrifft... so weiß ich wirklich nicht, was du damit anfangen kannst.»

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«Wir werden sie dem ersten Armen geben, dem wir begegnen und der den richtigen Fuß dafür hat. Und in Thersa kaufen wir dann ein neues Paar für dich», sagt Maria von Magdala ruhig.

«Mit welchem Geld, Schwester?» fragt Martha.

«Ach, du hast recht! Wir haben rein nichts mehr... Aber Judas hat Geld... So kann Benjamin keinen weiten Weg zurücklegen. Und dann, armer Junge! Seine Seele hat die große Freude erlebt, aber auch als Mensch soll er lächeln... Gewisse Dinge machen doch Freude.»

Die noch junge und fröhliche Susanna lacht und sagt: «Du redest, als ob du aus Erfahrung wüßtest, daß ein Paar neue Sandalen eine Freude sind für jemand, der niemals welche besessen hat!»

«Das ist wahr. Aber ich weiß wirklich, wie gut ein trockenes Gewand tut, wenn man ganz durchnäßt ist, und ein sauberes, wenn man nur eines besitzt. Ich erinnere mich ...» Und sie legt den Kopf auf die Schulter der allerheiligsten Gottesmutter und sagt: «Weißt du noch, o Mutter?» Dann küßt sie sie zärtlich.

Jesus ordnet den Aufbruch an, damit sie vor dem Abend noch Thersa erreichen. «Die beiden werden in Sorge sein, weil sie nicht wissen...»

«Willst du, daß jemand vorausgeht und ihnen sagt, daß du kommst?» schlägt Jakobus des Alphäus vor.

«Ja. Geht alle, außer Johannes, Jakobus und meinem Bruder Judas. Thersa ist jetzt nicht mehr weit... Geht also. Sucht Judas und Elisa und bereitet auch schon die Unterkünfte für uns vor, denn wir haben uns verspätet, und da die Frauen bei uns sind, ist es besser, wenn wir die Nacht dort verbringen... Wir kommen euch nach. Erwartet uns bei den ersten Häusern ...»

Die acht Apostel gehen eilends fort, und Jesus folgt ihnen etwas langsamer.

630. JESUS WIRD VON DEN SAMARITERN ABGELEHNT

Thersa verschwindet so völlig inmitten üppiger Olivenhaine, daß man schon ganz in seine Nähe kommen muß, um die Stadt zu bemerken. Ein Gürtel von äußerst fruchtbaren Gärten bildet den letzten Windschutz für die Häuser. In den Gärten gehen die verschiedenen Grüntöne von Rüben, Salat, Hülsenfrüchten und jungen Kürbispflanzen ineinander über, und Obstbäume und Weinlauben schlingen ihre fruchtverheißenden Blüten und die kleinen, schon große Genüsse versprechenden Früchte ineinander. Die kleinen Blüten der Reben und die frühen Olivenblüten regnen beim leichtesten Windhauch herab und bedecken den Boden mit einem grünlichweißen Schnee.

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Hinter einem Gebüsch aus Schilfrohr und Weiden an einem leeren, aber noch feuchten Mühlgraben tauchen, als die Schritte der Ankommenden hörbar werden, die acht Apostel auf, die vorausgeschickt worden waren. Sie sind sichtlich betrübt und unruhig und geben den anderen ein Zeichen, stehenzubleiben, während sie ihnen entgegeneilen. Als sie so nahe gekommen sind, daß man sie hören kann, ohne daß sie schreien müssen, sagen sie: «Fort! Fort! Zurück in die Felder. Ihr könnt nicht in die Stadt hineingehen. Sie hätten uns fast gesteinigt. Kommt, fort. Dort, in dem Dickicht werden wir euch alles erklären ...» Sie drängen alle in den trockenen Mühlgraben und dann zurück, Jesus, die drei Apostel, den Knaben und die Frauen, in dem Bemühen, fortzukommen ohne gesehen zu werden, und sagen: «Daß sie uns nur nicht sehen. Gehen wir! Gehen wir!»

Vergeblich versuchen Jesus, Judas und die beiden Söhne des Zebedäus zu erfahren, was vorgefallen ist. Vergeblich fragen sie: «Und Judas des Simon? Und Elisa?»

Die acht sind unerbittlich. Sie gehen durch das Gewirr von langen Stengeln und Wasserpflanzen. Sumpfbinsen verletzen sie an den Füßen. Weiden und Schilfrohr schlagen ihnen ins Gesicht. Auf dem Schlamm im Grund gleiten sie aus, halten sich an den Halmen fest, stützen sich am Rand des Grabens ab, werden gründlich schmutzig und entfernen sich so, immer gedrängt und gestoßen von den acht Aposteln, die fast ständig mit nach hinten gedrehten Köpfen gehen, um zu sehen, ob von Thersa jemand kommt und sie verfolgt. Aber auf dem Weg sieht man nur die untergehende Sonne und einen mageren streunenden Hund.

Endlich sind sie bei den dichten Brombeersträuchern angekommen, die einen Besitz umgeben. Hinter dem Gestrüpp wiegen sich die hohen Stengel eines großen Flachsfeldes im Wind, an denen sich schon die ersten himmelblauen Blüten öffnen.

«Hierher. Hier herein. Wenn wir uns setzen, kann uns niemand sehen. Und sobald es Abend wird, gehen wir weiter...» sagt Petrus und wischt sich den Schweiß von der Stirn...

«Wohin?» fragt Judas des Alphäus. «Wir haben die Frauen bei uns.»

«Irgendwohin. Übrigens liegt auf den Feldern viel Heu. Das wäre auch ein Bett. Für die Frauen machen wir Zelte aus unseren Mänteln, und wir halten Wache.»

«Ja, es genügt, nicht gesehen zu werden und dann im Morgengrauen zum Jordan hinunterzugehen. Du hast recht gehabt, Meister, die Straße von Samaria nicht gehen zu wollen. Für uns Arme sind die Räuber besser als die Samariter!» sagt Bartholomäus noch ganz atemlos.

«Aber was ist denn eigentlich passiert? Hat Judas etwas angestellt ... ?»fragt Thaddäus.

Thomas unterbricht ihn: «Judas hat sicher Prügel bekommen. Es tut mir leid für Elisa ...»

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«Hast du Judas gesehen?»

«Ich? Nein. Aber es ist leicht, hier den Propheten zu spielen. Wenn er sich als dein Apostel zu erkennen gegeben hat, ist er sicher geschlagen worden. Meister, sie wollen dich nicht haben.»

«Ja, sie sind alle gegen dich aufgebracht.»

«Sie sind eben wahre Samariter.»

Alle reden gleichzeitig. Jesus gebietet allen Schweigen und sagt: «Nur einer soll sprechen. Du, Simon Zelot, denn du bist der Gelassenste.»

«Herr, das ist bald gesagt. Wir gingen in die Stadt und niemand tat uns etwas zuleide, solange sie nicht wußten, wer wir waren, solange sie uns für Pilger auf der Durchreise hielten. Als wir dann aber fragten – und wir mußten es ja tun – ob ein junger, großer, dunkelhaariger Mann mit rotem Gewand und weißrot-gestreiftern Talith und eine alte magere Frau mit mehr weißem als schwarzem Haar und einem dunkelgrauen Kleid in die Stadt gekommen seien und den Meister von Galiläa und seine Begleiter gesucht hätten, wurden sie sofort aufgeregt. Wir hätten vielleicht nichts von dir sagen sollen. Wir haben da gewiß einen Fehler gemacht. Aber in den anderen Orten sind wir immer so gut aufgenommen worden... Ich weiß wirklich nicht, was geschehen ist... ! Sie gleichen Vipern... Dieselben Menschen, die noch vor drei Tagen so ehrerbietig dir gegenüber waren ...»

Thaddäus unterbricht ihn: «Die Arbeit der Juden ...»

«Ich glaube nicht. Ich glaube es nicht, wegen der Vorwürfe, die sie uns gemacht haben, und wegen ihrer Drohungen. Ich glaube... oder vielmehr, ich bin, wir sind sicher, der Grund des Zornes der Samariter ist, daß Jesus ihr Angebot, ihn zu schützen, abgelehnt hat. Sie haben geschrien: "Fort! Fort mit euch! Mit euch und eurem Meister! Er will auf den Berg Moriah gehen, um dort zu beten. Er soll nur gehen und umkommen, mit allen, die zu ihm gehören. Es gibt keinen Platz bei uns für jene, die uns nicht als Freunde, sondern nur als Diener betrachten. Wir wollen nicht noch mehr Schwierigkeiten, wenn es uns keinen praktischen Nutzen bringt. Steine, und kein Brot mehr für den Galiläer. Wir wollen ihm nicht mehr unsere Häuser öffnen, sondern die Hunde auf ihn hetzen." Das und ähnliches haben sie gesagt. Und da wir darauf bestanden zu erfahren, ob Judas dagewesen ist, haben sie Steine aufgehoben, um sie auf uns zu werfen, und haben tatsächlich ihre Hunde auf uns gehetzt. Sie riefen sich zu: "Wir wollen alle Eingänge bewachen. Wenn er kommt, werden wir uns rächen." Da sind wir geflohen. Eine Frau – es gibt auch unter den Bösen immer einige Gute – schob uns in ihren Garten und führte uns von dort auf einem schmalen Weg zwischen den Gärten zu dem Mühlgraben, in dem gerade kein Wasser ist, weil man vor dem Sabbat die Felder bewässert hat. Dort hat sie uns versteckt und versprochen, daß sie uns wegen Judas Bescheid geben würde. Aber sie ist nicht mehr zurückgekommen. Wir

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wollen trotzdem hier auf sie warten, denn sie hat gesagt, daß sie hierher kommt, wenn sie uns im Mühlgraben nicht mehr vorfindet.»

Sie machen allerhand Bemerkungen. Die einen fahren fort, die Juden anzuklagen. Andere machen Jesus einen leichten Vorwurf, einen versteckten Vorwurf, mit den Worten: «Du hast in Sichern zu offen geredet und bist dann weggegangen. In diesen drei Tagen haben sie entschieden, daß es nutzlos ist, sich Illusionen zu machen und sich selbst zu schaden für einen, der sie nicht zufriedenstellt... Und so verjagen sie dich jetzt ...»

Jesus antwortet: «Es reut mich nicht, die Wahrheit gesagt zu haben und meine Pflicht zu tun. Jetzt verstehen sie noch nicht. Bald aber werden sie meine Gerechtigkeit verstehen und mich mehr verehren, als wenn ich nicht an ihr festgehalten hätte; das ist wichtiger als meine Liebe zu ihnen.»

«Endlich! Dort kommt die Frau auf der Straße. Sie hat den Mut, sich hier zu zeigen...» sagt Andreas.

«Sie wird uns doch nicht verraten?» sagt Bartholomäus mißtrauisch.

«Sie ist allein!»

«Es könnten ihr Leute folgen, die sich im Mühlgraben versteckt halten ...»

Aber die Frau, die sich mit einem Korb auf dem Kopf nähert, geht über die Flachsfelder hinaus, in denen Jesus und die Apostel warten. Dann schlägt sie einen schmalen Pfad ein und entschwindet ihren Blicken... um unerwartet hinter dem Rücken der Wartenden wieder aufzutauchen, die sich fast erschrocken umdrehen, als sie die Stengel knistern hören.

Die Frau sagt zu den acht Aposteln, die sie kennt: «Hier bin ich. Verzeiht, daß ich euch so lange habe warten lassen... Ich wollte vermeiden, daß mir jemand folgt, und habe gesagt, daß ich zu meiner Mutter gehe... Und hier habe ich Verpflegung für euch gebracht. Der Meister... Welcher ist es? Ich möchte ihn verehren!»

«Dieser ist der Meister.»

Die Frau, die ihren Korb abgestellt hat, kniet nieder und sagt: «Verzeih die Schuld meiner Mitbürger. Wenn sie nicht aufgehetzt worden wären... Aber nach deiner Ablehnung haben viele gegen dich gearbeitet ...»

«Ich hege keinen Groll gegen sie, Frau. Steh auf und sprich. Weißt du etwas von meinem Apostel und der Frau, die bei ihm war?»

«Ja. Man hat sie wie Hunde verjagt, und sie sind nun auf der anderen Seite der Stadt und warten dort auf die Nacht. Sie wollten zurückkehren nach Ennon und dich suchen. Dann wollten sie hierherkommen, als sie erfuhren, daß ihre Gefährten hier sind. Ich habe ihnen davon abgeraten und gesagt, sie sollten sich ruhig verhalten, ich würde euch zu ihnen führen. Das werde ich auch tun, sobald es dunkel wird. Zum Glück ist mein Mann auswärts und ich bin frei, das Haus zu verlassen. Ich werde euch zu einer meiner Schwestern bringen, die in der Ebene verheiratet ist. Ihr könnt dort schlafen, ohne zu sagen, wer ihr seid; nicht wegen Merod,

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sondern wegen der Männer, die bei ihr sind. Sie sind keine Samariter, sondern Leute aus der Dekapolis, die sich hier niedergelassen haben. Aber es ist immer besser...»

«Gott möge es dir vergelten. Sind die beiden Jünger verletzt worden?»

«Nur der Mann ein wenig. Die Frau nicht. Gewiß hat der Allmächtige sie beschützt, denn sie hat sich mutig vor ihren Sohn gestellt, als die Bürger Steine aufhoben. Oh, was für eine starke Frau! Sie hat gerufen: "So behandelt ihr einen, der euch nichts getan hat? Und ihr achtet nicht einmal mich, die ich ihn verteidige und eine Mutter bin? Habt ihr denn alle keine Mütter, daß ihr keine Ehrfurcht habt vor einer Frau, die geboren hat? Seid ihr denn von einer Wölfin geboren, oder seid ihr aus Erde und Lehm entstanden?" Sie schaute den Angreifern ins Gesicht und breitete ihren Mantel weit aus, um den Mann zu schützen. Und dabei ging sie rückwärts und schob ihn so zur Stadt hinaus... Auch jetzt tröstet sie ihn noch und sagt: "Möge der Allerhöchste, o mein Judas, dieses Blut, das du für den Meister vergossen hast, Balsam für deine Seele werden lassen." Aber die Verletzung ist sehr gering. Wahrscheinlich ist der Schrecken des Mannes größer als der Schmerz. Doch nun nehmt und eßt. Hier ist frischgemolkene Milch für die Frauen, und Brot, Käse und Obst. Ich konnte kein Fleisch braten. Das hätte zu lange gedauert. Hier ist Wein für die Männer. Eßt, während es dämmert. Dann werden wir auf sicheren Wegen zu den beiden gehen, und danach zu Merod.»

«Gott möge es dir noch einmal vergelten», sagt Jesus. Er opfert die Speisen auf und verteilt sie dann, wobei er etwas für die beiden Abwesenden zur Seite legt.

«Nein, nein. An die beiden habe ich schon gedacht. Ich habe Brot und Eier in meinem Gewand verborgen, und auch etwas Wein und Öl für die Wunden. Dies ist alles für euch. Eßt. Ich beobachte solange die Straße...»

Sie essen. Aber die Empörung läßt den Männern keine Ruhe und die Niedergeschlagenheit nimmt den Frauen den Appetit; allen, mit Ausnahme von Maria von Magdala, auf die das, was die anderen verängstigt und kränkt, immer wie ein die Nerven und den Mut stärkendes und anregendes Getränk wirkt. Ihre Augen blitzen in Richtung der feindseligen Stadt. Und nur die Gegenwart Jesu, der schon gesagt hat, daß er keinen Groll empfindet, hält sie davon ab, heftige Worte zu gebrauchen. Und da sie nicht reden und nichts unternehmen kann, läßt sie ihren Zorn an dem unschuldigen Brot aus, in das sie auf eine so bezeichnende Weise hineinbeißt, daß der Zelote sich nicht enthalten kann, lächelnd zu sagen: «Gut für die Leute von Thersa, daß sie nicht in deine Hände fallen können! Du gleichst einem Raubtier in Ketten, Maria!»

«Ich bin es. Das siehst du ganz richtig. Und vor Gott hat es größeren Wert, daß ich mich beherrsche und nicht dort hineingehe, wie sie es verdienen, als alles, was ich bisher an Sühne geleistet habe.»

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«Sei gut, Maria! Gott hat dir größere Sünden vergeben als die Sünden dieser dort.»

«Das ist wahr. Sie haben dich, meinen Gott, nur einmal beleidigt und sind von anderen dazu verleitet worden. Ich viele male... und aus eigenem Willen... und ich habe kein Recht, streng und stolz zu sein...» Maria senkt ihren Blick, und zwei große Tränen fallen auf ihr Brot.

Martha legt ihre Hand in den Schoß der Schwester und sagt leise: «Gott hat dir verziehen. Sei nicht mehr traurig... Denk daran, was du dafür bekommen hast: unseren Lazarus ...»

«Ich bin nicht traurig, sondern dankbar. Ich bin gerührt... Und ich muß auch feststellen, daß mir immer noch die Barmherzigkeit fehlt, die ich selbst in so reichem Maß empfangen habe... Verzeih mir, Rabbuni!»sagt sie und erhebt ihre herrlichen Augen, die die Demut wieder sanft macht.

«Die Vergebung wird niemals denen verweigert, die demütigen Herzens sind, Maria.»

Der Abend sinkt hernieder und verleiht der Atmosphäre eine zartviolette Tönung. Die etwas entfernteren Dinge sind nicht mehr zu unterscheiden. Die Halme des Flachses, die man zuvor in ihrer ganzen Grazie erkennen konnte, verschwimmen nun zu einer dunklen Masse. Die Vöglein in den Zweigen schweigen. Der erste Stern blitzt auf. Die erste Grille zirpt im Gras. Es ist Abend.

«Wir können gehen. Hier, in den Feldern, sieht uns niemand. Kommt. Ich verrate euch nicht. Ich tue es nicht um einen Lohn. Ich erbitte nur Erbarmen vom Himmel, denn alle brauchen wir dieses Erbarmen», sagt die Frau seufzend.

Alle stehen auf und folgen ihr. Sie machen einen Bogen um Thersa, zwischen halbdunklen Feldern und Gärten, aber der Bogen ist nicht so groß, als daß sie nicht Männer an den Ausgängen der Stadt sehen würden, die um Feuer herumsitzen...

«Sie lauern uns auf ...» sagt Matthäus.

«Die Verfluchten!» zischt Philippus zwischen den Zähnen.

Petrus sagt nichts. Er erhebt nur die Arme zum Himmel und schüttelt sie, eine stumme Bitte oder ein Protest.

Aber Jakobus und Johannes des Zebedäus, die den anderen etwas vorausgegangen sind und eifrig miteinander geredet haben, kehren nun zurück und sagen: «Meister, wenn du in deiner vollkommenen Liebe nicht strafen willst, sollen wir es dann an deiner Stelle tun? Willst du, daß wir Feuer vom Himmel herabrufen, damit es diese Sünder vernichtet? Du hast uns gesagt, daß wir alles vermögen, wenn wir mit Glauben darum bitten, und...»

Jesus, der etwas gebeugt gegangen ist, so als wäre er müde, richtet sich mit einem Ruck auf und blitzt sie mit zwei Augen an, die im Mondschein

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aufflammen. Die beiden verstummen und weichen schweigend und furchtsam vor diesem Blick zurück. Jesus, der sie immer noch so anschaut, sagt: «Ihr wißt nicht, wessen Geistes Kinder ihr seid! Der Menschensohn ist nicht gekommen, um die Seelen zu richten, sondern um sie zu retten. Erinnert ihr euch nicht mehr meiner Worte? Ich habe im Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut gesagt: 'Laßt den Weizen und das Unkraut zusammen wachsen. Denn wolltet ihr sie jetzt trennen, könntet ihr mit dem Unkraut auch den Weizen ausreißen. Laßt sie daher bis zur Ernte zusammen wachsen. Zur Zeit der Ernte will ich den Schnittern sagen: Sammelt nun das Unkraut und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen. Den Weizen aber bringt in meine Scheune."» Jesus hat seinen Unmut über die beiden schon gemäßigt, die in ihrem Zorn aus Liebe zu ihm darum bitten, Thersa bestrafen zu dürfen, und nun mit gesenktem Haupt vor ihm stehen. Er nimmt sie, den einen rechts, den anderen links, beim Ellbogen und setzt seinen Weg fort, wobei er sie so führt und zu allen spricht, die sich um ihn gesammelt haben, als er stehengeblieben ist: «Wahrlich, ich sage euch, die Zeit der Ernte ist nahe. Meine erste Ernte. Und für viele wird es keine zweite geben. Doch preisen wir den Allerhöchsten, denn einige, die zu meiner Zeit nicht zur guten Ähre geworden sind, werden nach der Reinigung durch das österliche Opfer mit einer neuen Seele wiedergeboren werden... Bis zu jenem Tag werde ich niemanden strafen... Danach wird die Gerechtigkeit walten...»

«Nach dem Passahfest?» fragt Petrus.

«Nein, nach der Zeit. Ich spreche nicht von diesen Menschen, von heute. Ich schaue in die künftigen Jahrhunderte. Der Mensch erneuert sich immer, wie das Getreide auf den Feldern. Und die Ernten wiederholen sich. Ich werde das Nötige hinterlassen, damit die Menschen der Zukunft guter Weizen werden können. Wenn sie es nicht wollen, dann werden am Ende der Welt meine Engel das Unkraut vom Weizen trennen. Das wird der ewige Tag sein, der Gott allein gehört. Jetzt ist auf der Welt der Tag Gottes und des Satans. Der erste sät den guten Samen aus, der zweite wirft sein verfluchtes Unkraut unter den Samen Gottes, sein Ärgernis, seine Bosheit, seinen Samen, der Bosheit und Ärgernisse hervorruft. Denn es wird immer solche geben, die gegen Gott aufwiegeln, so wie hier, mit diesen, die in Wahrheit weniger schuldig sind als jene, die sie zum Bösen angereizt haben.»

«Meister, jedes Jahr reinigen wir uns am Passahfest, und doch bleiben wir immer so, wie wir sind. Wird es vielleicht dieses Jahr anders sein?» fragt Matthäus.

«Ganz anders.»

«Warum? Erkläre es uns.»

«Morgen... Morgen, oder wenn wir unterwegs sind und auch Judas des Simon bei uns ist, werde ich es euch sagen...»

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«0 ja, du wirst es uns sagen, und wir werden uns bessern... Verzeih uns inzwischen, Jesus», sagt Johannes.

«Ich habe euch durchaus den richtigen Namen gegeben. Aber der Donner schadet nicht. Der Blitz kann töten. Doch kündigt der Donner oft den Blitz an. So geschieht es dem, der nicht alle Unordnung gegen die Liebe aus seinem Geist entfernt. Heute bittet er darum, bestrafen zu dürfen. Morgen bestraft er, ohne vorher zu fragen. Übermorgen bestraft er auch ohne Grund. Der Abstieg ist leicht... Deshalb sage ich euch, vermeidet jede Härte eurem Nächsten gegenüber. Handelt so wie ich, und ihr werdet sicher sein, niemals fehlzugehen. Habt ihr jemals gesehen, daß ich mich an denen gerächt habe, die mir Schmerz zugefügt haben?»

«Nein, Meister. Du ...»

«Meister! Meister! Wir sind hier. Ich und Elisa. Oh Meister, wieviel Aufregung deinetwegen! Und wieviel Angst vor dem Tod!» ruft Judas von Kerioth, der hinter einer Reihe Weinstöcke hervorkommt und auf Jesus zueilt. Um die Stirne trägt er eine Binde. Elisa folgt ihm mit mehr Ruhe.

«Hast du gelitten? Hast du Angst gehabt zu sterben? Liebst du das Leben so sehr?» fragt Jesus und befreit sich von Judas, der ihn umarmt hat und weint.

«Nicht das Leben... Ich habe mich vor Gott gefürchtet. Ohne deine Verzeihung sterben zu müssen... Ich beleidige dich immer. Alle beleidige ich. Auch diese hier... Und sie hat es mir vergolten, indem sie mir Mutter war. Ich habe mich schuldig gefühlt und habe Angst vor dem Tod gehabt...»

«Oh, heilsame Angst, wenn sie dich heilig machen kann! Aber ich verzeihe dir immer, das weißt du, wenn du nur den Willen hast zu bereuen. Und du, Elisa? Hast du verziehen?»

«Er ist ein großes unbändiges Kind. Ich kann ihn verstehen.»

«Du bist stark gewesen, Elisa. Ich weiß es.»

«Wenn sie nicht gewesen wäre! Ich weiß nicht, ob ich dich wiedergesehen hätte, Meister!»

«Du siehst also ein, daß sie nicht aus Haß, sondern aus Liebe an deiner Seite geblieben ist... Bist du nicht verletzt worden, Elisa?»

«Nein, Meister. Die Steine flogen um mich herum, ohne mich zu treffen. Aber mein Herz hat viel gelitten, während ich an dich dachte...»

«Alles ist nun zu Ende. Wir wollen der Frau folgen, die uns in ein sicheres Haus führen wird.»

Sie gehen weiter auf einer kleinen mondbeschienenen Straße, die nach Osten führt.

Jesus hat Iskariot am Arm genommen und geht mit ihm voraus. Sanft spricht er zu ihm und versucht, sein Herz zu erreichen, das die Furcht vor dem Gericht Gottes erschüttert hat. «Du siehst, Judas, wie leicht man

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sterben kann. Der Tod lauert immer auf uns. Du siehst, daß das, was uns von geringer Bedeutung erscheint, solange wir voller Leben sind, wichtig, erschreckend wichtig wird, wenn der Tod uns streift. Aber warum diese Angst haben wollen, warum sie heraufbeschwören, um ihr im Augenblick des Todes gegenüberzustehen, wenn man durch ein heiliges Leben den Schrecken des bevorstehenden Gerichtes Gottes vermeiden kann? Meinst du nicht, daß es der Mühe wert ist, als Gerechter zu leben, um dann in Frieden sterben zu können? Judas, mein Freund, die göttliche, väterliche Barmherzigkeit hat diesen Zwischenfall zugelassen, damit er deinem Herzen eine Warnung sei. Noch hast du Zeit, Judas... Warum willst du deinem Meister, der im Begriff ist zu sterben, nicht die große, sehr große Freude machen, dich zum Guten bekehrt zu wissen?»

«Aber kannst du mir denn noch verzeihen, Jesus ?»

«Würde ich so zu dir sprechen, wenn ich es nicht könnte? Wie wenig kennst du mich doch! Ich kenne dich. Ich weiß, daß du wie von einem gigantischen Polypen umschlungen bist. Aber wenn du nur wolltest, könntest du dich noch von ihm befreien. Oh, du würdest leiden, gewiß. Es würde sehr weh tun, dir die Ketten, die dich verwunden und vergiften, vom Leib zu reißen. Aber danach, wieviel Freude, Judas! Fürchtest du, keine Kraft mehr zu haben, um dich gegen deine Verführer zu wehren? Ich kann dich im voraus von der Sünde der Übertretung des Passahgebotes freisprechen... Du bist krank. Und für die Kranken ist das Passahfest nicht verpflichtend. Niemand ist kränker als du. Du bist wie ein Aussätziger. Die Aussätzigen gehen nicht nach Jerusalem hinauf, solange sie unrein sind. Glaube mir, Judas, es ist keine Verehrung, sondern eine Beleidigung des Herrn, wenn man vor ihm erscheint mit einem so unreinen Geist wie deinem. Man muß sich zuvor ...»

«Warum machst du mich nicht rein und gesund?» fragt Judas schon wieder hart und widerspenstig.

«Ich werde dich nicht heilen. Wenn jemand krank ist, sucht er von sich aus Heilung. Außer er ist ein Kind oder geistesschwach, denn diese haben keinen Willen ...»

«Behandle mich doch wie sie... Behandle mich, wie wenn ich töricht wäre, und sorge du vor, ohne mein Wissen ...»

«Das wäre nicht gerecht, denn du kannst wollen. Du weißt, was gut oder schlecht für dich ist. Und es würde dir nichts nützen, wenn ich dich heile ohne deinen Willen, geheilt zu bleiben.»

«Gib mir auch diesen.»

«Ich soll ihn dir geben? Dir also einen guten Willen aufzwingen? Und deine Entscheidungsfreiheit? Was würde aus ihr werden? Was würde aus deinem Ich als Mensch, als freies Geschöpf werden? Ein Sklave?»

«So wie ich jetzt ein Sklave Satans bin, könnte ich auch ein Sklave Gottes sein.»

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«Wie verletzt du mich, Judas! Wie durchbohrst du mein Herz! Aber ich verzeihe dir, was du mir antust ... Sklave Satans, hast du gesagt. Ich hätte so etwas Schreckliches nicht gesagt...»

«Aber du hast es gedacht, weil es wahr ist und weil du es weißt, wenn es wahr ist, daß du in den Herzen der Menschen liest. Wenn es so ist, dann weißt du auch, daß ich nicht mehr Herr meiner selbst bin... Er hat mich schon gepackt und...»

«Nein, er hat sich an dich herangeschlichen, dich versucht, dich geprüft, und du hast ihn eingelassen. Es gibt keine Besessenheit, wenn nicht von Anfang an eine gewisse Zustimmung zu irgendeiner satanischen Versuchung gegeben ist. Die Schlange streckt ihren Kopf durch den engmaschigen Zaun, der das Herz zu seinem Schutz umgibt; aber sie könnte nicht eindringen, wenn der Mensch nicht selbst die Öffnung vergrößern würde, um ihren verführerischen Schein zu bewundern, ihr zuzuhören und ihr zu folgen... Dann erst wird der Mensch hörig, besessen, aber weil er es will. Auch Gott sendet vom Himmel das sanfte Licht seiner väterlichen Liebe, und dieses Licht dringt in uns ein. Besser: Gott, dem alles möglich ist, steigt herab in das Herz der Menschen. Es ist sein Recht. Warum also kann der Mensch, der fähig ist, Sklave, Untertan des Schrecklichen zu sein, nicht auch ein Diener Gottes, ein Kind Gottes werden? Warum weist er seinen heiligsten Vater ab? Du antwortest mir nicht? Du sagst mir nicht, warum du Satan gewollt und ihn Gott vorgezogen hast? Und doch hättest du noch Zeit, dich zu retten. Du weißt, daß ich zum Sterben gehe. Niemand weiß es besser als du... Ich weigere mich nicht zu sterben... Ich gehe. Ich gehe in den Tod, denn mein Tod wird zum Leben für so viele werden. Warum willst du nicht unter diesen sein? Soll denn nur für dich, mein Freund, mein armer, kranker Freund, mein Tod vergeblich sein?»

«Er wird für viele vergeblich sein, täusche dich nicht. Du würdest besser daran tun, zu fliehen und weit weg von hier das Leben zu genießen und deine Lehre zu predigen, denn sie ist gut, als dich zu opfern.»

«Meine Lehre predigen! Aber was könnte ich denn noch Wahres lehren, wenn ich das Gegenteil von dem tun würde, was ich lehre? Was wäre ich denn für ein Meister, wenn ich den Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes nur lehren und nicht üben würde; wenn ich die Liebe zu den Menschen predigen und sie nicht selbst lieben würde; wenn ich die Verleugnung des Fleisches und der Welt predigen und dann mein Fleisch und die Ehren der Welt lieben würde; wenn ich die Menschen auffordern würde, kein Ärgernis zu geben, und dann selbst nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Engel zum Ärgernis würde, und so weiter? Aus dir spricht Satan in diesem Augenblick. So wie er in Ephraim aus dir gesprochen hat, wie er so viele Male durch dich gesprochen und gehandelt hat, um mich zu quälen. Ich habe alle diese Werke des Satans erkannt und habe dich nicht gehaßt. Ich bin deiner nicht müde geworden, sondern habe nur gelitten,

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unsagbar gelitten. Wie eine Mutter, die das Fortschreiten eines Übels beobachtet, das zum Tod des Kindes führt. Ich habe das Fortschreiten des Übels in dir beobachtet wie ein Vater, der zu allem bereit ist, um die Arznei für seinen kranken Sohn zu finden. Nichts war mir zu viel, um dich zu retten. Ich habe Widerwillen, Verachtung, Verbitterung und Entmutigung überwunden... Wie ein untröstlicher Vater und eine Mutter, die die Vergeblichkeit aller menschlichen Bemühungen erkannt haben und sich an den Himmel wenden, um das Leben ihres Kindes zu erhalten, so habe ich geseufzt und seufze ich und erflehe ein Wunder, damit du dich rettest, dich rettest, dich rettest vom Rand des Abgrunds, der sich schon unter deinen Füßen auftut. Judas, schau mich an. Bald wird mein Blut vergossen werden für die Sünden der Welt. Kein Tropfen meines Blutes wird mir bleiben. Die Erde, die Steine, die Gräser, die Kleider meiner Verfolger und meine... das Holz, das Eisen, die Stricke, die Dornen des Nabaq 1) werden es trinken... und trinken werden es auch die Seelen, die das Heil erwarten... Du allein willst nicht trinken? Ich würde für dich allein mein ganzes Blut geben. Du bist mein Freund. Wie gern stirbt man für einen Freund! Um ihn zu retten! Man sagt: "Ich sterbe, aber ich werde im Freund weiterleben, dem ich das Leben gerettet habe." So wie eine Mutter und ein Vater auch nach ihrem Tod in ihren Kindern weiterleben. Judas, ich flehe dich an! Ich bitte dich um nichts anderes an diesem Vorabend meines Todes. Selbst die Richter und die Feinde gewähren dem Verurteilten eine letzte Gnade, erfüllen ihm einen letzten Wunsch. Ich bitte dich, verdamme dich nicht selbst. Ich bitte nicht so sehr den Himmel darum als dich, deinen guten Willen... Denke an deine Mutter, Judas. Was wird aus deiner Mutter werden? Was aus dem Namen deiner Familie? Ich appelliere an deinen Stolz, der größer ist denn je. Verteidige deine Ehre. Entehre dich nicht, Judas. Denke nach, Jahre und Jahrhunderte werden vergehen, Reiche und Regierungen werden fallen, die Sterne werden verblassen und die Oberfläche der Erde wird sich verändern, und du wirst immer Judas sein, so wie Kain immer Kain ist, wenn du in deiner Sünde verharrst. Die Jahrhunderte werden ein Ende haben. Nur Himmel und Hölle werden bleiben. Und im Himmel oder in der Hölle werden auf ewig und mit Leib und Seele die auferstandenen Menschen sein, dort, wohin die Gerechtigkeit sie schickt. Und du wirst immer Judas, der Verfluchte, sein, der größte Sünder, wenn du nicht umkehrst. Ich werde hinabsteigen und die Seelen aus dem Limbus befreien. Ich werde die Scharen aus dem Fegfeuer herausführen. Und dich, dich werde ich nicht mitnehmen können... Judas, ich gehe dem Tod entgegen, glücklich gehe ich ihm entgegen, denn die Stunde ist gekommen, auf die ich seit Jahrtausenden gewartet habe: die Stunde der Vereinigung

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1) Nabaq = eine im Vorderen Orient heimische Art des Christusdorn

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der Menschen mit ihrem Vater. Viele werde ich nicht mit dem Vater vereinigen können. Aber im Sterben wird mir der Anblick der großen Zahl der Geretteten ein Trost sein in meinem unendlichen Schmerz, für so viele vergeblich gestorben zu sein. Und ich sage dir, es wird schrecklich sein, dich unter diesen sehen zu müssen, dich, meinen Apostel und Freund. Bereite mir nicht diesen unmenschlichen Schmerz... ! Ich will dich retten, Judas. Retten. Schau. Wir gehen zum Fluß hinab. Morgen früh, wenn alle noch schlafen, werden wir beide ihn überqueren, und du gehst nach Bozrah, nach Arbela oder nach Aera, wohin du willst. Du kennst die Häuser der Jünger. In Bozrah kannst du Joachim und Maria, die von mir geheilte Aussätzige, aufsuchen. Ich werde dir einen Brief für sie mitgeben. Ich werde schreiben, daß du aus Gesundheitsgründen Ruhe und eine Luftveränderung brauchst. Das ist die Wahrheit, denn du bist an der Seele krank, und die Luft Jerusalems wäre für dich tödlich. Aber sie werden glauben, du seist körperlich krank. Du kannst bleiben, bis ich dich hole. Um deine Gefährten kümmere ich mich... aber komm nicht nach Jerusalem. Siehst du, ich wollte keine Frauen bei mir haben, mit Ausnahme der Starkmütigsten und derer, die als Mütter das Recht haben, bei ihren Söhnen zu sein.»

«Auch meine?»

«Nein. Maria wird nicht in Jerusalem sein...»

«Sie ist doch auch die Mutter eines Apostels und hat dich immer verehrt.»

«Ja, und sie hätte wie die anderen das Recht, in meiner Nähe zu sein, da sie mich aufrichtig liebt. Aber gerade deshalb wird sie nicht dabei sein. Ich habe ihr befohlen, nicht hinzugehen, und sie weiß zu gehorchen.»

«Warum darf sie nicht dort sein? Was ist denn bei ihr anders als bei der Mutter deiner Brüder und der Söhne des Zebedäus?»

«Du. Und du weißt, warum ich das sage. Aber wenn du auf mich hörst und nach Bozrah gehst, dann werde ich deine Mutter benachrichtigen und zu dir begleiten lassen, damit sie, die so gut ist, dir hilft, gesund zu werden. Oh, glaube mir, nur wir lieben dich so, über alle Maßen. Drei sind es im Himmel, die dich lieben: der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, die dich betrachten und darauf warten, daß dein guter Wille siegt, um aus dir die Perle der Erlösung zu machen, die reichste dem Abgrund entrissene Beute. Und drei sind es auf Erden: ich, deine Mutter und meine Mutter. Schenke uns dieses Glück, Judas! Uns im Himmel und uns auf Erden, die wir dich mit wahrer Liebe lieben.»

«Du sagst es: Nur drei sind es, die mich lieben; die anderen... nicht.»

«Nicht so wie wir. Aber sie lieben dich sehr. Elisa hat dich verteidigt. Die anderen sind alle in Sorge um dich gewesen. Wenn du fern von uns bist, bist du in den Herzen aller, und dein Name ist auf ihren Lippen. Du weißt nicht, wieviel Liebe dich umgibt. Dein Unterdrücker verbirgt es dir. Aber meinem Wort kannst du glauben.»

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«Ich glaube dir und ich will versuchen, dich zufriedenzustellen. Aber ich will es allein schaffen. Ich habe allein gefehlt, und ich muß mich selbst von meinem Übel heilen.»

«Gott allein kann aus eigener Kraft handeln. Dein Gedanke ist Ausdruck deines Stolzes, und im Stolz ist wieder Satan. Sei demütig, Judas. Ergreife die Hand, die ich dir als Freund anbiete. Flüchte dich an dieses Herz, das sich dir schützend öffnet. Hier bei mir kann Satan dir nichts anhaben.»

«Ich habe versucht, bei dir zu bleiben... und doch bin ich immer tiefer gesunken... Es ist nutzlos!»

«Sage das nicht! Sage das nicht! Weise die Mutlosigkeit von dir. Gott kann alles. Halte dich fest an Gott. Judas! Judas!»

«Schweige, damit die anderen dich nicht hören...»

«Du denkst an die anderen und nicht an deine Seele? Armer Judas ... !»

Jesus sagt nichts mehr. Aber er bleibt an der Seite des Apostels, bis die Frau, die einige Meter vorausgegangen ist, ein Haus zwischen dichten Ölbäumen betritt. Da sagt Jesus zu seinem Jünger: «Ich werde heute Nacht nicht schlafen. Ich werde für dich beten und auf dich warten... Möge Gott zu deinem Herzen sprechen. Und du, höre auf ihn... Ich werde bis zum Morgengrauen hierbleiben, wo ich jetzt bin, und beten... Denk daran.»

Judas gibt keine Antwort. Die anderen und die Frauen sind nun auch angekommen, und alle warten auf die Rückkehr der Samariterin. Es dauert nicht lange, bis sie mit einer Frau wiederkommt, die ihr sehr gleicht und die zu ihnen sagt: «Ich habe nicht viele Räume, denn die Holzfäller, die an den Ölbäumen arbeiten, sind schon da. Aber ich habe eine große Scheune, und es liegt viel Stroh darin. Für die Frauen habe ich Platz. Kommt.»

«Geht nur. Ich werde hierbleiben und beten. Der Friede sei mit euch allen», sagt Jesus. Und während die anderen sich entfernen, hält er seine Mutter zurück und sagt: «Ich bleibe und bete für Judas, meine Mutter. Hilf auch du mir...»

«Ich werde dir helfen, mein Sohn. Kehrt vielleicht in Judas der gute Wille zurück?»

«Nein, Mama. Aber wir müssen so tun, als ob... Der Himmel kann alles, Mama!»

«Ja, und ich kann mich immer noch täuschen. Du nicht, mein Sohn. Du weißt. Mein heiliger Sohn! Aber ich werde immer tun, was du tust. Geh beruhigt, mein Liebster. Auch wenn du nicht mehr mit ihm sprechen kannst, da er dich fliehen wird, werde ich versuchen, ihn dir zurückzubringen. Wenn nur der allerheiligste Vater meinen Schmerz erhört... Kann ich bei dir bleiben, Jesus? Wir beten zusammen... Und ich werde dich einige Stunden für mich allein haben ...»

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«Bleibe, Mama. Ich erwarte dich hier.»

Maria geht und kommt bald wieder. Sie setzen sich auf ihre Taschen am Fuß eines Ölbaumes. In der tiefen Stille hört man das Rauschen des nahen Flusses, und laut ertönt das Zirpen der Grillen im großen Schweigen der Nacht. Dann beginnen die Nachtigallen zu schlagen. Und ein Käuzchen lacht, und eine Eule weint. Und langsam ziehen die Sterne über das Firmament, Könige nun, da das Licht des schon untergegangenen Mondes nicht mehr über sie herrscht. Ein heller Hahnenschrei dringt durch die ruhige Luft. In der Ferne, kaum hörbar, antwortet ein anderer Hahn. Dann unterbricht der Harfenton der vom Dach auf die das Haus umgebenden Steine fallenden Tropfen die Stille. Dann ein Rascheln im Laub der Bäume, als wolle es den Tau der Nacht abschütteln, und hier und da der leise Ruf eines erwachenden Vogels; und gleichzeitig verändert sich der Himmel, erwacht auch das Licht. Der Morgen bricht an. Und Judas ist nicht gekommen...

Jesus sieht die Mutter an, die weiß wie eine Lilie vor dem dunklen Stamm des Ölbaumes sitzt, und sagt zu ihr: «Wir haben gebetet, Mutter. Gott wird Verwendung finden für unser Gebet...»

«Ja, mein Sohn. Du bist bleich wie der Tod. Du hast heute Nacht wirklich deine ganze Kraft erschöpft, um das Tor des Himmels zu öffnen und die Beschlüsse Gottes zu beeinflussen.»

«Auch du bist bleich, Mutter. Groß ist deine Müdigkeit.»

«Groß ist mein Schmerz über deinen Schmerz.»

Die Haustür wird vorsichtig geöffnet... Jesus fährt zusammen. Aber es ist nur die Frau, die sie begleitet hat und die nun geräuschlos das Haus verläßt. Jesus seufzt: «Ich habe gehofft, daß ich mich getäuscht haben könnte.»

Die Frau kommt mit dem leeren Korb heran. Sie bemerkt Jesus, grüßt ihn und will weitergehen. Doch er ruft sie und sagt zu ihr: «Der Herr möge dir alles vergelten. Auch ich möchte es tun, doch ich habe nichts bei mir.»

«Ich verlange nichts, Rabbi. Keinen Lohn. Nur eines möchte ich, wenn ich auch kein Geld will. Und das kannst du mir geben!»

* Was, Frau?»

* ... daß sich das Herz meines Mannes wandelt. Und das kannst du bewirken, denn du bist wahrhaft der Heilige Gottes.»

«Geh in Frieden. Du wirst erhalten, um was du bittest. Leb wohl.»

Die Frau geht rasch in Richtung ihres offensichtlich sehr traurigen Hauses. Maria bemerkt: «Noch eine Unglückliche. Deshalb ist sie so gut... !»

An der Scheunentür erscheint der zerzauste Kopf des Petrus, und hinter diesem das strahlende Antlitz des Johannes; dann das strenge Profil des Thaddäus, das dunkle Gesicht des Zeloten und das schmale Gesicht des

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Knaben Benjamin... Alle sind sie wach. Aus dem Haus kommt als erste Maria von Magdala, hinter ihr Nike, und dann die anderen. Als alle beisammen sind und die Frau, die sie aufgenommen hat, einen Eimer schäumender Milch gebracht hat, erscheint auch Iskariot. Er hat den Verband abgenommen, aber ein blutunterlaufener Fleck bedeckt die halbe Stirn, während das Auge mit dem violetten Ring noch finsterer blickt. Jesus sieht ihn an. Judas sieht Jesus an und wendet dann den Kopf zu Seite.

Jesus sagt zu ihm: «Kaufe von der Frau soviel sie uns geben kann. Wir gehen voraus. Du kannst uns nachkommen.»

Nachdem Jesus sich von der Frau verabschiedet hat, macht er sich auch wirklich auf den Weg. Alle folgen ihm.

631. DIE BEGEGNUNG MIT DEM REICHEN JÜNGLING

Wieder ein sehr schöner Aprilmorgen. Erde und Himmel entfalten ihre ganze frühlingshafte Pracht. Alles atmet Licht, Gesang, Duft, und die Luft ist voller Licht, festlichen Stimmen, Liebe und Wohlgeruch. Ein kurzer Regen muß in der Nacht gefallen sein, denn die Straßen sind dunkel und staubfrei, aber nicht schlammig. Er hat die Halme und Blätter gewaschen, die nun, strahlend vor Sauberkeit, in einer sanften Brise erzittern, die von den Bergen über die fruchtbare Ebene vor Jericho weht. Von den Ufern des Jordan steigen ständig Leute herauf, die von der anderen Seite übergesetzt haben oder auf dem Weg am Fluß entlang gekommen sind und nun auf der Straße weiterwandern, die direkt nach Jericho und Doko führt, wie die Wegweiser anzeigen. Und unter den vielen Hebräern, die sich von allen Seiten nach Jerusalem zum Fest begeben, befinden sich auch Händler aus anderen Regionen und Hirten mit den blökenden, nichtsahnenden Opferlämmern.

Viele erkennen und grüßen Jesus. Es sind dies Hebräer aus Peräa, der Dekapolis und noch weiter entfernten Orten. Auch eine Gruppe von Caesarea Paneas ist dabei. Und Hirten, die, da sie mit ihren Herden ein nomadenähnliches Dasein führen, den Meister kennen, ihm schon irgendwo einmal begegnet sind oder durch die Jünger von ihm gehört haben.

Einer verbeugt sich vor Jesus und sagt: «Darf ich dir das Lamm schenken ?»

«Du sollst das Lamm nicht verschenken, Mann. Es ist dein Verdienst.»

«Oh, es ist meine Dankbarkeit. Du erinnerst dich nicht an mich. Aber ich mich an dich. Ich bin einer von den vielen, die du geheilt hast. Du hast meinen Hüftknochen, der mir sehr zu schaffen machte, wiederhergestellt, was keinem anderen gelungen war. Ich gebe dir das Lamm sehr gerne. Das schönste, das ich habe. Dieses hier. Für das Freudenmahl. Ich weiß, daß

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du für das Opfer eines kaufen mußt. Aber für das Freudenmahl. Du hast mir so viel gegeben. Nimm es, Meister.»

«Ja, nimm es doch. Es ist gespartes Geld. Oder vielmehr: auf diese Weise können wir wenigstens essen; denn mit all dieser Verschwendung habe ich kein Geld mehr», sagt Iskariot.

«Verschwendung? Aber wir haben doch seit Sichern nicht das Geringste mehr ausgegeben!» sagt Matthäus.

«Auf jeden Fall habe ich kein Geld mehr. Das letzte habe ich Merod gegeben.»

«Hör zu, Mann», sagt Jesus zu dem Hirten, um Judas zum Schweigen zu bringen, «ich gehe jetzt nicht nach Jerusalem und kann das Lamm nicht mitnehmen. Sonst würde ich es gerne annehmen, um dir zu zeigen, daß ich dein Geschenk schätze.»

«Aber später wirst du in die Stadt gehen und an den Festtagen wirst du dort sein. Du wirst eine Unterkunft haben. Sage mir, wo sie sich befindet, und ich werde das Lamm deinen Freunden übergeben...»

«Ich habe nichts dergleichen... Aber in Nob habe ich einen alten, armen Freund. Höre mir gut zu: Am Tag nach dem Ostersabbat wirst du in der Frühe nach Nob gehen und Johannes, dem Ältesten von Nob – alle kennen ihn – sagen: "Dieses Lamm schickt dir Jesus von Nazareth, dein Freund, damit du diesen Tag mit einem Freudenmahl feiern kannst; denn eine größere Freude als die heutige gibt es für die wahren Freunde des Christus nicht." Wirst du das tun?»

«Wenn du es willst, werde ich es tun.»

«Du wirst mir damit eine Freude machen. Nicht vor dem Tag nach dem Sabbat, vergiß es nicht. Und erinnere dich der Worte, die ich dir gesagt habe. Geh nun. Der Friede sei mit dir. Und bewahre dein Herz in diesem Frieden in künftigen Tagen. Vergiß auch dies nicht und glaube weiterhin an meine Wahrheit. Leb wohl.»

Menschen sind herbeigekommen, um das Gespräch mitanzuhören, und sie gehen erst auseinander, als der Hirte seine Herde antreibt und sie so zwingt, sich zu zerstreuen. Jesus folgt im Kielwasser der Herde.

Die Leute flüstern: «Also geht er wirklich nach Jerusalem? Aber weiß er denn nicht, daß er mit dem Bann belegt ist?»

«Nun, niemand kann einem Sohn des Gesetzes verbieten, am Passahfest vor dem Herrn zu erscheinen. Ist er eines öffentlichen Vergehens schuldig? Nein. Denn, wenn er es wäre, hätte ihn der Statthalter gefangennehmen lassen, wie den Barabbas.»

Und andere: «Hast du das gehört? Er hat weder Unterkunft noch Freunde in Jerusalem. Sollten ihn denn alle verlassen haben? Auch der von den Toten Erweckte? Das ist aber eine schöne Dankbarkeit!»

«Schweige! Die beiden dort sind die Schwestern des Lazarus. Ich bin aus der Gegend von Magdala und kenne sie gut. Wenn die Schwestern

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bei ihm sind, beweist das, daß die Familie des Lazarus ihm treu geblieben ist.»

«Vielleicht wird er es nicht wagen, in die Stadt hineinzugehen.»

«Da hat er recht.»

«Gott wird es ihm verzeihen, wenn er draußen bleibt.»

«Es ist nicht seine Schuld, wenn er nicht zum Tempel hinaufgehen kann.»

«Er ist klug und weise. Wenn er gefangengenommen würde, wäre alles zu Ende, bevor seine Stunde gekommen ist.»

«Gewiß ist er noch nicht bereit, zu unserem König ausgerufen zu werden, und will daher nicht in Gefangenschaft geraten.»

«Man sagt, daß er, während man ihn in Ephraim vermutete, viele Orte und sogar die Nomadenstämme aufgesucht habe, um seine Anhänger und Truppen vorzubereiten und sich die Hilfe mächtiger Leute zu sichern.»

«Wer hat dir denn das erzählt?»

«Das sind die üblichen Lügen. Er ist der heilige König und kein König, der ein Heer anführt.»

«Vielleicht wird er das zusätzliche Passahfest feiern. Da ist es leichter, unbemerkt zu bleiben. Das Synedrium wird nach den Festtagen aufgelöst, und die Synedristen gehen nach Hause, um bei der Ernte dabeizusein. Bis Pfingsten werden sie sich dann nicht wieder versammeln.»

«Und wenn die Synedristen fort sind, wer soll ihm dann noch schaden 9 Sie sind die wahren Schakale!»

«Hin... Ob er so vorsichtig sein wird? Das wäre zu menschlich. Er ist mehr als ein Mensch, und seine Klugheit wird ihn nicht feige werden lassen.»

«Feige? Warum? Man kann doch jemandem nicht Feigheit nachsagen, nur weil er sich für seine Mission schont.»

«Es wäre trotzdem Feigheit, denn Gott ist wichtiger als jede Mission, und der Dienst Gottes hat Vorrang vor allen anderen Dingen.»

Dies sind die Gespräche, die geführt werden. Jesus tut, als ob er nichts hören würde.

Judas des Alphäus bleibt stehen, um auf die Frauen zu warten, die mit dem Knaben etwa dreißig Schritte zurückgeblieben sind, und sagt, als sie ihn eingeholt haben, zu Nike: «Ihr habt aber viel verschenkt, nachdem wir Sichern verlassen haben.»

«Warum?»

«Judas hat keinen Pfennig mehr. Deine neuen Sandalen, Benjamin, können wir vergessen. Es ist halt Schicksal. Nach Thersa konnten wir nicht hineingehen, und selbst wenn wir es gekonnt hätten, wäre kein Geld dagewesen, um etwas zu kaufen... Du wirst eben so nach Jerusalem gehen müssen...»

«Zuerst kommt Bethanien», sagt Martha lächelnd.

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«Und vorher kommt Jericho und mein Haus», sagt Nike ebenfalls lächelnd.

«Und zuallererst komme ich. Ich habe es ihm versprochen und ich werde mein Versprechen halten. Das ist eine Reise der Erfahrungen! Nun weiß ich, was es heißt, keine Didrachme mehr zu besitzen. Nun werde ich erfahren, was es heißt, aus Not etwas verkaufen zu müssen», sagt Maria von Magdala.

«Aber was willst du denn verkaufen, Maria, da du doch keinen Schmuck mehr trägst?» fragt Martha verwundert.

«Meine großen silbernen Haarnadeln. Es sind viele. Aber um diese unnütze Last zu halten, genügen auch Nadeln aus Eisen. Ich werde sie verkaufen. Jericho ist voll von Leuten, die solche Dinge kaufen. Heute ist Markttag, und auch morgen, wie immer bei solchen Anlässen!»

«Aber Schwester!»

«Was? Du nimmst Ärgernis daran, daß man mich für arm genug halten könnte, die silbernen Haarnadeln verkaufen zu müssen? Oh, hätte ich dir immer nur diese Art von Ärgernis gegeben! Es war doch viel schlimmer, als ich mich, ohne in Not zu sein, an mein eigenes und das Laster anderer verkauft habe.»

«Schweig doch! Da ist ein Knabe, der nichts davon weiß.»

«Er weiß noch nichts davon. Vielleicht weiß er noch nicht, daß ich einst die Sünderin war. Morgen aber würde er es von denen erfahren, die mich hassen, weil ich nicht mehr die von früher bin. Und vielleicht würden sie ihm auch Dinge erzählen, die ich – so groß meine Sünde auch gewesen sein mag – nicht getan habe. Es ist daher besser, er erfährt von mir, was der Herr vermag, der ihn aufgenommen hat: Er hat aus einer Sünderin eine Büßerin gemacht und aus einer Toten eine Auferstandene. Aus mir, der im Geist Toten, und aus Lazarus, dem körperlich Toten, hat er zwei Lebende gemacht. Denn das haben wir dem Rabbi zu verdanken, o Benjamin! Denke immer daran und liebe ihn von ganzem Herzen, denn er ist wahrlich der Sohn Gottes.»

Ein Stau auf der Straße hat Jesus aufgehalten, und so holen ihn die Apostel und die Frauen ein. Jesus sagt: «Geht ihr schon voraus nach Jericho. Wenn ihr wollt, könnt ihr auch in die Stadt hineingehen. Ich gehe nach Doko mit diesem hier. Am Abend werde ich wieder bei euch sein.»

«Ach, warum schickst du uns weg? Wir sind nicht müde», protestieren alle.

«Weil ich möchte, daß ihr, oder wenigstens einige von euch, die Jünger benachrichtigen, daß ich morgen bei Nike sein werde.»

«Wenn es so ist, Herr, werden wir gehen. Kommt, Elisa, und du, Johanna, du, Susanna und Martha. Wir werden alles vorbereiten», sagt Nike.

«Und ich und das Kind werden einkaufen gehen. Segne uns, Meister, und komm bald wieder. Und du, Mutter, bleibst du?»

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«Ja, ich bleibe bei meinem Sohn.»

Sie trennen sich. Bei Jesus bleiben nur die drei Marien: seine Mutter, deren Schwägerin Maria des Kleophas und Maria Salome.

Jesus verläßt die Straße nach Jericho und nimmt einen Seitenweg, der nach Doko führt. Kurz darauf stoßen sie auf eine Karawane, die ich weiß nicht woher kommt, eine reiche Karawane, die gewiß von sehr weit her kommt, denn die Frauen reiten auf Kamelen in schwankenden Aufbauten oder Sänften auf den Höckern der Tiere, während die Männer auf feurigen Pferden oder anderen Kamelen reiten. Ein junger Mann löst sich aus der Gruppe. Er läßt sein Kamel niederknien, gleitet aus dem Sattel und geht auf Jesus zu. Ein rasch herbeigeeilter Diener hält das Kamel am Zaum.

Der Jüngling wirft sich vor Jesus auf die Knie, verneigt sich tief und sagt: «Ich bin Philippus des Kanatha und Sohn wahrer Israeliten, und ich bin ein wahrer Israelit geblieben. Bis zum Tod meines Vaters war ich ein Jünger des Gamaliel; dann mußte ich das Geschäft übernehmen. Mehr als einmal habe ich dir zugehört. Ich kenne deine Werke. Ich strebe ein besseres Leben an, um das ewige Leben zu erwerben, das du denen verheißen hast, die dein Reich in ihrem Innern errichten. Sage mir also, guter Meister: was muß ich tun, um das ewige Leben zu haben?»

«Warum nennst du mich gut? Gott allein ist gut.»

«Du bist der Sohn Gottes und gut wie dein Vater. Oh, sage mir, was ich tun muß.»

«Um in das ewige Leben einzugehen, mußt du die Gebote halten.»

«Welche, mein Herr? Die alten oder deine Gebote?»

«In den alten sind meine Gebote enthalten. Meine Gebote ändern nichts an den alten. Es sind immer dieselben: Du sollst mit wahrer Liebe den einen, wahren Gott anbeten und die Vorschriften des Kultes befolgen; du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht Ehebruch begehen, kein falsches Zeugnis ablegen, Vater und Mutter ehren und dem Nächsten nicht schaden, sondern ihn lieben wie dich selbst. Wenn du dies tust, wirst du das ewige Leben erwerben.»

«Meister, alle diese Dinge habe ich von Kindheit an befolgt.»

Jesus schaut ihn liebevoll an und fragt sanft: «Und es scheint dir noch nicht genug zu sein?»

«Nein, Meister. Das Reich Gottes in uns und im anderen Leben ist etwas Großes. Eine unendliche Gabe ist Gott, der sich uns schenkt. Ich fühle, daß alles, was Pflicht ist, zu wenig ist im Vergleich zum Allumfassenden, Unendlichen, Vollkommenen, der sich uns schenkt, und ich glaube, daß wir ihn verdienen müssen durch Größeres als das, was verlangt wird, um nicht verdammt zu werden und ihm wohlgefällig zu sein.»

«Du hast recht. Um vollkommen zu sein, fehlt dir noch eines. Wenn du vollkommen sein willst, wie unser Vater im Himmel es wünscht, geh hin,

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verkaufe, was du hast, und gib es den Armen; dann wirst du einen Schatz im Himmel haben und vom Vater geliebt werden, der seinen Schatz für die Armen auf Erden hingegeben hat. Dann komm und folge mir nach.»

Der Jüngling wird traurig und nachdenklich. Dann steht er auf und sagt: «Ich werde deinen Rat bedenken ...» und er entfernt sich betrübt.

Judas lächelt spöttisch und murmelt: «Also bin ich nicht der einzige, der das Geld liebt!»

Jesus wendet sich um und schaut ihn an... Dann schaut er die anderen elf Gesichter an, die ihn umgeben, und seufzt: «Wie schwer ist es für einen Reichen, ins Himmelreich einzugehen, denn sein Tor ist schmal und der Weg dorthin beschwerlich, und wer beladen ist mit der großen Last der Reichtümer kann ihn nicht gehen noch das Tor durchschreiten. Um dort einzugehen, darf man nur geistige Schätze der Tugend sammeln und muß sich von aller Anhänglichkeit an irdische und eitle Dinge befreien.» Jesus ist sehr traurig...

Die Apostel schauen einander heimlich an...

Jesus fährt fort, während er der Karawane des reichen Jünglings, die sich entfernt, nachblickt: «Wahrlich, ich sage euch, leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher in den Himmel.»

«Aber wer kann dann gerettet werden? Durch das Elend wird man oft zum Sünder, aus Neid oder mangelnder Achtung vor dem Eigentum anderer, oder aus Zweifel an der Vorsehung. Der Reichtum ist ein Hindernis für die Vollkommenheit... Wer also kann dann noch gerettet werden?»

Jesus schaut sie an und sagt: «Was für die Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich, denn für ihn ist alles möglich. Es genügt, daß der Mensch ihm, seinem Herrn, mit gutem Willen hilft. Guten Willen haben heißt, den erhaltenen Rat annehmen und sich bemühen, den Reichtümern entsagen zu lernen und frei zu werden. Frei von allen irdischen Banden, um Gott nachfolgen zu können. Denn die wahre Freiheit hat der Mensch erlangt, wenn er der Stimme Gottes folgt, die ihre Befehle leise seinem Herzen eingibt, wenn er weder der Sklave seiner selbst, noch der Welt, und daher auch nicht der Sklave Satans ist. Der Mensch soll die herrliche Willensfreiheit gebrauchen, die Gott ihm geschenkt hat, um frei und ausschließlich das Gute zu wollen und so das ewig strahlende, freie, selige Leben zu erlangen. Auch der Sklave des eigenen Lebens soll man nicht sein, wenn man sich, um es zu erhalten, dem Willen Gottes widersetzt. Ich habe es euch gesagt: "Wer sein Leben verliert aus Liebe zu mir und um Gott zu dienen, wird es für alle Ewigkeit gewinnen."»

«Schau! Wir haben alles verlassen, um dir zu folgen, auch die erlaubten Dinge. Was werden wir dafür erhalten? Werden wir in dein Reich eingehen?» fragt Petrus.

«Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, alle, die mir auf diese Weise nachgefolgt sind und auch in Zukunft nachfolgen werden – denn man hat

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immer Zeit, um die bisher begangenen Fehler und Sünden wiedergutzumachen, man hat immer Zeit, solange man auf Erden weilt und Tage bleiben, in denen man für das begangene Böse Sühne leisten kann – sie werden mit mir in meinem Reich sein. Wahrlich, ich sage euch, ihr, die ihr mir nachgefolgt seid und wiedergeboren wurdet, werdet auf Thronen sitzen und die Stämme der Erde richten, zusammen mit dem Menschensohn, der auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen wird. Wahrlich, ich sage euch noch, jeder, der aus Liebe zu meinem Namen Haus, Felder, Vater, Mutter, Brüder, Frau, Kinder und Schwestern verläßt, um die Frohe Botschaft zu verbreiten und mein Nachfolger in dieser Welt zu sein, wird das Hundertfache in dieser Zeit und das ewige Leben in der kommenden Zeit haben.»

«Aber wenn wir alles verlieren, wie können wir dann unseren Besitz hundertfach vermehren?» fragt Judas von Kerioth.

«Ich wiederhole euch: Was den Menschen unmöglich ist, das ist Gott möglich. Und Gott wird denen das Hundertfache an geistiger Freude geben, die es als Menschen in dieser Welt verstanden haben, Kinder Gottes zu sein, also geistige Menschen. Sie werden wahre Freude hier und im Jenseits erleben. Und weiter sage ich euch, nicht alle, die scheinbar die Ersten sind und es auch sein müßten, da sie mehr als alle anderen empfangen haben, sind wirklich die Ersten. Und nicht alle, die scheinbar die Letzten sind, und weniger als die Letzten, da sie scheinbar nicht zu meinen Jüngern und nicht einmal zum auserwählten Volk gehören, werden die Letzten sein. Wahrlich, viele der Ersten werden die Letzten sein, und viele der Letzten, Allergeringsten, werden die Ersten sein... Aber dort ist schon Doko. Geht alle voraus, mit Ausnahme des Judas von Kerioth und des Zeloten. Geht und kündigt mich denen an, die mich brauchen.»

Und Jesus wartet mit den beiden zurückgebliebenen Aposteln auf die drei Marien, die in einigem Abstand folgen.

632. DRITTE ANKÜNDIGUNG DES LEIDENS; DIE MUTTER DER SÖHNE DES ZEBEDÄUS

Das Morgengrauen erhellt kaum den Himmel und macht das Gehen noch schwierig, als Jesus das stille Doko verläßt. Gewiß hört niemand das Geräusch der Schritte, denn sie gehen vorsichtig, und die Leute schlafen noch in den verschlossenen Häusern. Keiner spricht, bis sie außerhalb der Stadt auf den Feldern sind, die langsam im spärlichen Licht in ihrem taufrischen Glanz erwachen.

Dann sagt Iskariot: «Den Weg haben wir umsonst gemacht. Man hat uns um die Nachtruhe gebracht. Es wäre besser gewesen, nicht hierher zu kommen.»

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«Die wenigen, die wir angetroffen haben, haben uns nicht schlecht behandelt. Sie haben die Nacht geopfert, um uns anzuhören und um in die benachbarten Ortschaften zu gehen und die Kranken zu holen. Es war sogar sehr gut, daß wir gekommen sind. Denn die, die aus Krankheits- oder anderen Gründen nicht hoffen konnten, den Herrn in Jerusalem zu sehen, haben ihn hier gesehen und sind mit der Heilung oder mit anderen Gnaden getröstet worden. Die übrigen, das wissen wir, sind schon nach Jerusalem aufgebrochen. Es ist ja Sitte bei uns, daß alle, die nur irgendwie können, bereits einige Tage vor dem Fest dort eintreffen», sagt Jakobus des Alphäus sanft; er ist immer sanft, ganz im Gegensatz zu Judas von Kerioth, der auch in guten Stunden heftig und herrisch ist.

«Eben weil auch wir nach Jerusalem gehen, war es unnötig, hierher zu kommen. Sie hätten uns dort gehört und gesehen ...»

«Die Frauen und die Kranken aber nicht...» unterbricht ihn Bartholomäus und kommt damit Jakobus zu Hilfe.

Judas tut, als hätte er nichts gehört, und fährt fort: «Wenigstens glaube ich, daß wir nach Jerusalem gehen, denn nach dem Gespräch mit dem Hirten bin ich nicht mehr sicher...»

«Und wohin sollen wir denn gehen, wenn nicht dorthin?» fragt Petrus.

«Bah! Ich weiß es nicht. Es ist alles so unwirklich, was wir seit einigen Monaten tun, alles so unvorhergesehen, so unvernünftig, sogar so ungerecht, daß ...»

«He du! Ich habe dich in Doko Milch trinken sehen, aber jetzt redest du wie ein Betrunkener! Wo siehst du denn die Ungerechtigkeiten?» fragt Jakobus des Zebedäus mit nichts Gutes verheißenden Augen. Und er fügt hinzu: «Genug des Tadels an dem Gerechten! Hast du verstanden? Es reicht. Du hast nicht das Recht, ihn zu tadeln. Niemand hat das Recht dazu, denn der Meister ist vollkommen, und wir... Keiner von uns ist es, und du am allerwenigsten.»

«Aber ja! Wenn du krank bist, dann laß dich heilen, aber ärgere uns nicht mit deinem Genörgel. Wenn du Launen hast, dort ist der Meister. Laß dich heilen und sei still!» sagt Thomas, der die Geduld verliert.

Jesus ist mit Judas des Alphäus und Johannes zurückgeblieben, um den Frauen behilflich zu sein, für die es ungewohnt und mühevoll ist, im Halbdunkel auf einem schlechten Weg zu gehen, der noch finsterer ist als die Felder, da er durch einen dichten Olivenhain führt. Jesus spricht eifrig mit den Frauen, ohne auf das zu achten, was vorne geschieht und was alle, die ihn umgeben, hören können. Denn wenn man die Worte auch nicht versteht, so merkt man doch am Tonfall, daß es keine sanften Worte sind, sondern daß es sich eher um einen Streit handelt. Die beiden Apostel Thaddäus und Johannes schauen sich an, sagen jedoch nichts. Sie schauen Jesus und Maria an. Aber Maria hat sich so in ihren Mantel gehüllt, daß man kaum ihr Gesicht sieht, und Jesus hört anscheinend nichts. Doch

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als ihre Unterhaltung beendet ist – sie haben von Benjamin und seiner Zukunft gesprochen und von der Witwe Sara von Apheca, die sich in Kapharnaum niedergelassen hat und eine liebevolle Mutter geworden ist, nicht nur für das Kind aus Gischala, sondern auch für die kleinen Söhne der Frau aus Kapharnaum, die nach ihrer Wiederverheiratung die Kinder aus ihrer ersten Ehe nicht mehr liebte und dann starb, «so elendiglich ' daß man wahrhaft die Hand Gottes bei ihrem Tod erkennen konnte», wie Salome sagt – geht Jesus mit Judas Thaddäus schneller weiter, um die Apostel einzuholen, nachdem er noch gesagt hat: «Bleib nur, Johannes, wenn du willst. Ich gehe und antworte dem Unruhigen und stifte Frieden.»

Doch da der Weg nun offener und heller wird, eilt auch Johannes, der noch ein kleines Stück mit den Frauen gegangen ist, nach vorn und erreicht die anderen gerade in dem Augenblick, als Jesus sagt: «Sei also beruhigt, Judas. Wir werden nichts Unvernünftiges tun, wie wir es auch bisher nicht getan haben. Und auch jetzt tun wir nichts Unvorhersehbares. Denn zum jetzigen Zeitpunkt ist vorhersehbar, daß jeder wahre Israelit, der nicht durch Krankheit oder andere schwerwiegende Gründe verhindert ist, zum Tempel hinaufgeht. Und auch wir gehen zum Tempel.»

«Aber nicht alle. Wie ich gehört habe, wird Margziam nicht dabei sein. Ist er vielleicht krank? Warum kommt er nicht mit? Glaubst du etwa, daß ihn der Samariter ersetzen kann?» Der Ton des Judas ist unerträglich...

Petrus knurrt: «0 Klugheit, feßle meine Zunge, denn ich bin nur ein Mensch!» Und er preßt die Lippen fest aufeinander, um nichts mehr zu sagen. Seine großen Augen haben einen rührenden Ausdruck und lassen die Anstrengung erkennen, die es den Mann kostet, seine Verachtung und seine Betrübnis darüber zu verbergen, Judas so sprechen zu hören.

Die Gegenwart Jesu gebietet allen Schweigen. Er allein spricht und sagt mit wahrhaft göttlicher Ruhe: «Kommt etwas näher, damit die Frauen uns nicht hören. Seit einigen Tagen schon habe ich euch etwas zu sagen. Ich habe es euch in den Feldern bei Thersa versprochen. Aber ich wollte, daß ihr alle da seid und es hört. Ihr alle. Die Frauen nicht. Lassen wir sie in ihrem einfachen Frieden... Aus dem, was ich euch zu sagen habe, geht auch hervor, weshalb weder Margziam bei uns sein wird, noch deine Mutter, Judas von Kerioth, und auch nicht deine Töchter, Philippus, und die Jüngerinnen von Bethlehem in Galiläa mit dem Mädchen. Es gibt Dinge, die nicht alle ertragen können. Ich, der Meister, weiß wohl, was für meine Jünger gut ist und wieviel sie ertragen oder nicht ertragen können. Nicht einmal ihr seid stark genug, um die Prüfung ertragen zu können. Und es wäre eine Gnade für euch, wenn ihr nicht dabei sein müßtet. Aber ihr müßt ja mein Werk fortsetzen und wissen, wie schwach ihr seid, um in Zukunft barmherzig mit den Schwachen zu sein. Daher könnt ihr nicht ausgeschlossen werden von dieser schrecklichen Prüfung, die euch zeigen wird, was ihr seid, was ihr geblieben seid nach drei Jahren des Zusammenseins

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mit mir, und was ihr nach diesen drei Jahren bei mir geworden seid. Ihr seid zwölf. Und ihr seid fast gleichzeitig zu mir gekommen. Die wenigen Tage, die zwischen meiner Begegnung mit Jakobus, Johannes und Andreas und dem Tag liegen, an dem auch du, Judas von Kerioth, als einer der Unseren angenommen wurdest; die Tage, die vergangen sind, bis ihr, Jakobus, mein Bruder, und du, Matthäus, mir gefolgt seid, können einen so großen Unterschied in eurer Formation nicht rechtfertigen. Ihr wart alle, auch du, gelehrter Bartholomäus, auch ihr, meine Brüder, sehr unwissend, absolut unwissend, was euer Wissen über meine Lehre betrifft. Vielmehr erschwerte es euch eure Bildung in den Lehren des alten Israel, die besser war als die anderer euresgleichen, euch auf meine Art zu bilden. Und keiner von euch hat die ausreichende Wegstrecke zurückgelegt, die euch alle an ein einziges Ziel gebracht hätte. Einer hat es fast erreicht, andere haben sich ihm genähert, andere sind weiter entfernt, wieder andere sind noch weit zurück, und einige... ja, ich muß auch dies sagen, einige sind rückwärts anstatt vorwärts gegangen. Seht einander nicht so an. Sucht nicht zu wissen, wer von euch der Erste und wer der Letzte ist. Wer vielleicht glaubt, der Erste zu sein, und auch von den anderen dafür gehalten wird, hat noch viel zu lernen. Und wer glaubt, der Letzte zu sein, ist im Begriff, wie ein Stern am Himmel zu erstrahlen. Daher sage ich euch noch einmal: Urteilt nicht. Die Tatsachen werden für sich selbst sprechen. Jetzt versteht ihr noch nicht. Aber bald, sehr bald werdet ihr an meine Worte denken und sie verstehen.»

«Wann wird dies sein? Du hast versprochen, uns zu sagen und auch zu erklären, warum die Reinigung am Passahfest dieses Jahr anders sein wird. Doch du sagst es uns nie ...» beklagt sich Andreas.

«Gerade darüber wollte ich mit euch sprechen. Sowohl über das eine, wie über das andere, denn es ist dasselbe, und nur eines liegt beidem zugrunde. Wir gehen nun zum Passahfest nach Jerusalem. Und dort wird sich alles erfüllen, was durch die Propheten vom Menschensohn geschrieben steht. Wahrlich, genauso wie es die Propheten gesehen haben, wie es im Befehl an die Hebräer in Ägypten zum Ausdruck kam, wie es Moses in der Wüste geboten wurde, so wird das Lamm Gottes nun geopfert werden. Und bald wird sein Blut die Schwellen der Herzen benetzen, und der Engel Gottes wird vorüberziehen und die nicht schlagen, die voll Liebe das Blut des geopferten Lammes an sich tragen; des Lammes, das nun wie die Schlange aus kostbarem Erz am Kreuz erhöht werden wird, zum Zeichen für die von der höllischen Schlange Verwundeten, zum Heil derer, die es mit Liebe betrachten. Der Menschensohn, euer Meister Jesus, wird nun bald in die Hände der Oberhäupter der Priesterschaft, der Schriftgelehrten und der Ältesten gegeben werden, die ihn zum Tod verurteilen und den Heiden überliefern werden, damit sie ihn verhöhnen. Und er wird Backenstreiche und Stockschläge erhalten und angespien und in verächtlichster

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Weise durch die Straßen geschleift werden, und die Heiden werden ihn, nachdem er gegeißelt und mit Dornen gekrönt wurde, wie einen Verbrecher zum Tod am Kreuz verurteilen, nachdem das in Jerusalem versammelte hebräische Volk seinen Tod dem Tod eines Räubers vorgezogen hat. Er wird also getötet werden. Aber wie es bei den Propheten heißt, wird er nach drei Tagen wieder auferstehen. Dies ist die Prüfung, die euch erwartet. Und bei dieser Prüfung wird sich zeigen, wie weit ihr auf dem Weg zur Vollkommenheit vorangeschritten seid. Wahrlich, ich sage euch ' euch allen, die ihr euch so vollkommen glaubt, daß ihr jene verachtet, die nicht aus Israel sind, und sogar viele aus unserem eigenen Volk... wahrlich, ich sage euch, ihr, der auserwählte Teil meiner Herde, werdet, sobald euch euer Hirte genommen ist, von Angst gejagt fliehen und euch zerstreuen, wie wenn die Wölfe, die mich von allen Seiten hetzen, auch hinter euch her wären. Doch ich sage euch, fürchtet euch nicht. Kein Haar wird euch gekrümmt werden. Ich werde genügen, um die wütenden Wölfe zu sättigen...»

Je länger Jesus spricht, desto mehr gleichen die Apostel Geschöpfen, die in einen Steinhagel geraten sind. Sie sinken immer tiefer in sich zusammen während der Rede Jesu, und als er schließlich sagt: «Und was ich euch sage, steht nun unmittelbar bevor. Es ist nicht wie bisher, da noch Zeit blieb bis zu meiner Stunde. Jetzt ist die Stunde gekommen. Ich gehe, um meinen Feinden überliefert und zum Heil aller geopfert zu werden. Und diese Knospe wird, nachdem sie geblüht hat, noch nicht alle ihre Blütenblätter verloren haben, da werde ich schon tot sein», da bedecken die einen ihr Gesicht mit den Händen, und die anderen stöhnen, als wären sie verwundet. Iskariot ist totenblaß, fast blau im Gesicht...

Der erste, der sich faßt, ist Thomas, und er erklärt: «Das wird dir nicht geschehen, denn wir werden dich verteidigen oder zusammen mit dir sterben. Damit werden wir beweisen, daß wir dir ähnlich geworden sind an Vollkommenheit und daß unsere Liebe zu dir vollkommen ist.»

Jesus sieht ihn wortlos an.

Bartholomäus sagt nach einem langen, nachdenklichen Schweigen: «Du hast gesagt, daß man dich überliefern wird... Aber wer ... ? Wer kann dich den Händen deiner Feinde überliefern? Das steht nicht in den Prophezeiungen... Nein... Das steht nicht darin. Es wäre zu schrecklich, wenn einer deiner Freunde, einer deiner Jünger, einer deiner Anhänger, selbst der Geringste von allen, dich jenen überliefern würde, die dich hassen. Nein! Wer dich mit Liebe angehört hat, und sei es auch nur ein einziges Mal, der kann dieses Verbrechen nicht begehen. Es sind doch Menschen und keine Raubtiere oder Dämonen... Nein, mein Herr. Und nicht einmal die, die dich hassen, können es... Sie fürchten das Volk, und das ganze Volk wird sich um dich scharen!»

Jesus sieht auch Nathanael an und sagt nichts.

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Petrus und der Zelote reden sehr hitzig miteinander. Jakobus des Zebedäus fährt seinen Bruder an, da er ihn so ruhig sieht, und Johannes antwortet: «Weil ich es schon seit drei Monaten weiß ...» und dabei rinnen Tränen über sein Gesicht.

Die Söhne des Alphäus reden mit Matthäus, der betrübt sein Haupt schüttelt.

Andreas wendet sich an Iskariot: «Du hast doch so viele Freunde im Tempel...»

«Johannes kennt Annas ebenfalls», entgegnet Judas und fügt hinzu: «Was kann man da machen? Was glaubst du, was ein Menschenwort vermag, wenn es so bestimmt ist?»

«Glaubst du das wirklich?» fragen Thomas und Andreas gleichzeitig.

«Nein. Ich glaube gar nichts. Es ist blinder Alarm. Bartholomäus hat recht. Das ganze Volk wird sich um Jesus scharen. Man sieht das doch schon an denen, denen wir begegnen. Es wird ein Triumph werden. Ihr werdet schon sehen, daß es so sein wird», sagt Judas von Kerioth.

«Aber warum sagt er dann ...» meint Andreas und deutet auf Jesus, der stehengeblieben ist, um auf die Frauen zu warten.

«Warum er es sagt? Weil er unruhig ist... und weil er uns prüfen will. Aber es wird nichts geschehen. Im übrigen will ich gehen...»

«O ja! Geh, vielleicht hörst du etwas!» bettelt Andreas.

Alle schweigen, denn Jesus folgt ihnen wieder, seine Mutter und Maria des Alphäus zur Seite.

Maria lächelt schwach, als ihre Schwägerin ihr Samen zeigt, die sie, ich weiß nicht wo, gefunden hat und die sie nach dem Passahfest in Nazareth säen will, gleich bei der Grotte, die Maria so sehr liebt: «Als du noch ein kleines Mädchen warst, hattest du, ich erinnere mich, immer diese Blumen in den Händchen. Du nanntest sie die Blumen deiner Ankunft. Tatsächlich war der Garten, als du geboren wurdest, voll von diesen Blüten; und an jenem Abend, als ganz Nazareth herbeieilte, um die Tochter des Joachim zu sehen, ließen die Tropfen vom Himmel und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne die Büschel dieser Sterne wie Diamanten aufleuchten. Und da du "Stern" genannt wurdest, sagten alle, die die vielen kleinen strahlenden Blütensterne sahen: "Die Blumen haben sich geschmückt, um die Blume des Joachim zu feiern, und die Sterne haben den Himmel verlassen, um zum Stern zu kommen." Und alle lächelten und waren glücklich und freuten sich über dieses Zeichen und über die Freude deines Vaters. Und Joseph, der Bruder meines Mannes, sagte: "Sterne und Tropfen. Es ist wirklich Maria!" Wer hätte ihm damals gesagt, daß du einmal sein Stern werden würdest. Als er aus Jerusalem als dein erwählter Bräutigam zurückkehrte, wollte ganz Nazareth ihn feiern. Denn die ihm vom Himmel zuteil gewordene Ehre war groß, und groß die Ehre der Hochzeit mit dir, der Tochter des Joachim und der Anna. Alle

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wollten ihn feiern. Doch er lehnte sanft, aber entschieden jegliches Fest ab und überraschte alle damit; denn welcher Mann, dem eine ehrenvolle Hochzeit bevorsteht ist und der noch dazu ein solches Zeichen des Allerhöchsten erhalten hat, feiert nicht die Freude der Seele, des Fleisches und des Blutes? Aber er sagte nur: "Eine große Berufung braucht eine große Vorbereitung." Und mit großer Enthaltsamkeit selbst im Sprechen und Essen – denn jede andere Enthaltsamkeit hatte er schon immer geübt – verbrachte er betend und arbeitend die Zeit. Denn ich glaube, jeder Schlag seines Hammers und jeder Stoß seines Meißels wurde zum Gebet, wenn man Arbeit als Gebet ansehen kann. Sein Gesicht war wie verklärt. Ich ging öfters hin, um das Haus in Ordnung zu bringen und die Leintücher und andere von deiner Mutter hinterlassene Wäschestücke zu bleichen, die mit der Zeit gelb geworden waren, und ich betrachtete ihn, während er im Garten und im Haus arbeitete, um beide wieder so schön herzurichten, als ob sie nie vernachlässigt worden wären. Ich habe auch mit ihm gesprochen. Doch er war immer wie geistesabwesend. Er lächelte. Aber das Lächeln galt nicht mir oder anderen, sondern einem Gedanken, der nicht der Gedanke eines Mannes vor der Hochzeit war; denn dies ist ein Lächeln spitzbübischer, sinnlicher Freude... Er, Joseph, schien unsichtbaren Engeln Gottes zuzulächeln, mit ihnen zu reden und sich mit ihnen zu beraten... Oh, ich bin sicher, daß die Engel Joseph unterwiesen haben, wie er dich zu behandeln hätte. Denn danach, eine weitere Überraschung für Nazareth und beinahe ein Ärgernis für meinen Alphäus, schob er die Hochzeit so lange als möglich auf, und niemand verstand, warum er sich dann so plötzlich vor der festgesetzten Zeit entschloß. Auch als man erfuhr, daß du Mutter geworden warst, wie staunte da ganz Nazareth über seine selbstvergessene Freude... ! Aber auch mein Jakobus gleicht ihm ein wenig. Und er gleicht ihm immer mehr. Nun, da ich ihn genau betrachte... Ich weiß nicht weshalb, aber seit wir nach Ephraim gegangen sind, scheint er mir ganz verändert zu sein. Ich erkenne in ihm... Joseph wieder. Schau ihn dir an, Maria, nun, da er sich wieder umdreht und uns ansieht. Hat er nicht denselben gesammelten Ausdruck, den Joseph, dein Mann, immer hatte? Und das Lächeln, von dem ich nicht weiß, ob ich es traurig oder abwesend nennen soll. Schau nur, er blickt in die Ferne, über uns hinweg, so wie es Joseph oft getan hat. Erinnerst du dich, wie Alphäus ihn geneckt hat, wie er zu ihm sagte: "Bruder, siehst du immer noch die Pyramiden?" und wie Joseph wortlos das Haupt schüttelte, geduldig und geheimnisvoll in seine Gedanken vertieft. Er hat immer nur sehr wenig gesprochen. Aber nachdem du von Hebron zurückgekehrt bist! Da kam er nicht einmal mehr wie früher und wie alle anderen zum Brunnen. Er war immer bei dir oder bei der Arbeit. Außer am Sabbat, wenn er in die Synagoge ging, oder wenn er auswärts geschäftlich zu tun hatte, kann niemand sagen, Joseph in diesen Monaten unterwegs

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gesehen zu haben. Dann mußtet ihr abreisen... Welche Angst haben wir ausgestanden, als wir nach dem Kindermord nichts über euch in Erfahrung bringen konnten! Alphäus ging bis nach Bethlehem. "Sie sind abgereist", sagte man ihm. Aber wie konnte man den Leuten glauben, da man euch in dieser Stadt so sehr haßte, wo das unschuldige Blut noch alles rötete und die Ruinen noch rauchten, und wo man euch die Schuld für dieses Blutvergießen gab? Er ging nach Hebron, und dann in den Tempel, denn Zacharias war an der Reihe. Elisabeth konnte ihm nur Tränen geben, und Zacharias hatte nur Worte des Trostes. Beide hatten sie Angst um Johannes. Sie fürchteten neue Gewalttaten, hielten ihn deshalb versteckt und zitterten um ihn. Von euch wußten sie überhaupt nichts, und Zacharias sagte zu Alphäus: "Wenn sie tot sind, dann ist ihr Blut über mir, denn ich habe sie veranlaßt, in Bethlehem zu bleiben." Meine Maria! Mein Jesus, der so schön war am Passahfest nach seiner Geburt! Und man wußte nichts... so lange Zeit! Warum habt ihr uns niemals eine Nachricht zukommen lassen?»

«Weil es besser war zu schweigen. Dort, wo wir uns aufhielten, gab es viele, die Maria und Joseph hießen, und es war besser, für irgendein Ehepaar unter vielen gehalten zu werden», antwortet Maria ruhig, und sie seufzt: «Es waren trotz ihrer Traurigkeit noch glückliche Tage. Das Böse war noch so fern! Wenn wir als Menschen auch viel entbehren mußten, der Geist nährte sich von der Freude, dich zu besitzen, mein Sohn!»

«Auch jetzt hast du ihn, deinen Sohn, Maria. Joseph fehlt, das ist wahr. Aber Jesus ist hier mit seiner ganzen Liebe als Erwachsener», bemerkt Maria des Alphäus.

Maria erhebt das Haupt, um ihren Sohn zu betrachten. Und großer Schmerz liegt in ihrem Blick, obgleich der Mund etwas lächelt. Doch sie sagt kein Wort.

Die Apostel sind stehengeblieben, um auf sie zu warten, und sind nun wieder alle beisammen; auch Jakobus und Johannes, die mit ihrer Mutter weit zurückgeblieben waren. Während sie sich vom langen Gehen ausruhen und einige etwas Brot essen, nähert sich die Mutter des Jakobus und des Johannes Jesus und wirft sich vor ihm nieder. Jesus hat sich nicht einmal gesetzt und hat es eilig, sich wieder auf den Weg zu machen.

Da sie ihn offensichtlich um etwas bitten will, fragt Jesus sie: «Was willst du, Frau? Sprich.»

«Gewähre mir eine Gnade, bevor du fortgehst, wie du sagst.»

«Und welche?»

«Sage, daß diese meine Söhne, die alles für dich verlassen haben, einer zu deiner Rechten und der andere zu deiner Linken sitzen sollen, wenn du in deiner Herrlichkeit in deinem Reich auf dem Thron sitzen wirst.»

Jesus schaut die Frau und dann die beiden Apostel an und sagt: «Ihr

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habt eure Mutter auf diesen Gedanken gebracht und also meine Verheißungen von gestern völlig falsch verstanden. Das Hundertfache dessen, was ihr verlassen habt, werdet ihr nicht in einem Reich auf dieser Welt erhalten. Seid nun auch ihr gierig und töricht geworden? Nein, es ist nicht eure Schuld. Die trübe Dämmerung der Finsternis breitet sich schon aus, und die verpestete Luft des nahen Jerusalem verdirbt und blendet euch... Ich sage euch, ihr wißt nicht, um was ihr mich bittet! Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?»

«Wir können es, Herr.»

«Wie könnt ihr dies sagen, da ihr nicht einmal verstanden habt, wie bitter mein Kelch sein wird? Es wird nicht nur die Bitterkeit sein, die ich euch gestern geschildert habe, meine Bitterkeit als Mann aller Schmerzen. Es werden auch Qualen sein, die ihr nicht begreifen könntet, selbst wenn ich sie euch beschreiben würde... Und doch, obwohl ihr noch zwei Kindern gleicht, die nicht wissen, worum sie bitten, so seid ihr doch auch zwei ehrliche und mich liebende Seelen und werdet von meinem Kelch trinken. Aber das Sitzen zu meiner Rechten und zu meiner Linken, das habe nicht ich zu vergeben, sondern es wird denen zuteil werden, denen mein Vater es vorbehalten hat.»

Während Jesus noch redet, empören sich die anderen Apostel über die Bitte der Söhne des Zebedäus und ihrer Mutter. Petrus sagt zu Johannes: «Auch du! Ich erkenne dich nicht wieder als den, der du immer gewesen bist!»

Und Iskariot sagt mit seinem hämischen Lächeln: «Wahrlich, die Ersten werden die Letzten sein! Welch eine Zeit der Erkenntnisse und der Überraschungen ...» Und er wird ganz grün vor Hohn.

«Sind wir etwa der Ehren wegen dem Meister gefolgt?» rügt Philippus.

Thomas wendet sich an Maria Salome anstatt an die beiden und sagt: «Warum beschämst du deine Söhne? Wenn sie nicht nachgedacht haben, dann hättest du es tun sollen, um dies zu vermeiden.»

«Das ist wahr. Unsere Mutter hätte nicht so gehandelt», sagt Thaddäus.

Bartholomäus spricht nicht, aber sein Gesicht drückt seine ganze Mißbilligung aus.

Simon der Zelote sagt, um die Entrüsteten zu beruhigen: «Alle können wir Fehler machen...»

Matthäus, Andreas und Jakobus des Alphäus schweigen und leiden sichtlich unter dem Vorfall, der auf die schöne Vollkommenheit des Johannes einen Schatten wirft.

Jesus gebietet Schweigen durch eine Geste und sagt: «Sollen nun aus einem Fehler viele werden? Ihr, die ihr entrüstet tadelt, merkt ihr denn nicht, daß ihr selbst sündigt? Laßt eure Brüder in Ruhe. Mein Tadel genügt. Ihre Beschämung ist offensichtlich, und ihre Reue demütig und

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aufrichtig. Ihr müßt euch gegenseitig lieben und helfen. Denn wahrlich, keiner von euch ist schon vollkommen. Ihr dürft die Welt und die Menschen in ihr nicht nachahmen. Ihr wißt, daß in der Welt die Herrscher der Völker sie unterjochen und die Großen in ihrem Namen Gewalt an ihnen verüben. Aber bei euch soll es nicht so sein. Ihr sollt nicht danach trachten, die Menschen oder eure Gefährten zu beherrschen. Wer unter euch der Größte sein will, soll euer Diener sein, und wer unter euch der Erste sein will, soll euer Knecht sein. So wie es euch euer Meister gezeigt hat. Bin ich etwa gekommen, um euch zu unterdrücken und zu beherrschen? Oder um mich bedienen zu lassen? Nein. Wahrlich, nein. Ich bin gekommen, um zu dienen. Und so, wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben zur Rettung vieler hinzugeben, so sollt auch ihr handeln, wenn ihr sein wollt, wie ich bin und wo ich bin. Nun geht. Und bleibt in Frieden untereinander, wie ich es mit euch bin.»

Jesus sagt mir:

«Ich weise ausdrücklich darauf hin: ihr werdet von meinem Kelch trinken." In den Übersetzungen steht: "meinen Kelch". Ich habe gesagt: "von meinem", nicht "meinen". Kein Mensch hätte meinen Kelch trinken können. Nur ich, der Erlöser, mußte meinen ganzen Kelch austrinken. Gewiß, meinen Jüngern, denen, die mich nachahmen und lieben, ist es gewährt, von dem Kelch zu trinken, den ich getrunken habe, den Tropfen, den Schluck oder die Schlücke, den die Auserwählung durch Gott ihnen zu trinken gewährt. Aber niemals wird irgend jemand den ganzen Kelch trinken, wie ich ihn getrunken habe. Daher ist es richtig zu sagen: "von meinem Kelch" und nicht "meinen Kelch".» 1)

633. IN JERICHO VOR DEM BESUCH IN BETHANIEN

Schon zeichnen sich die weißen Mauern der Häuser von Jericho mit ihren Palmen gegen den tiefblauen Himmel ab, ein Blau wie Keramik oder Emaille, als bei einem Wäldchen aus zerzausten Tamarinden, zarten Mimosen, Weißdorn mit seinen langen Dornen und anderen, meist stacheligen Gewächsen, die der rauhe Berg hinter Jericho dort ausgestreut haben könnte, Jesus einer großen, von Manaen angeführten Schar Jünger begegnet. Sie scheinen auf ihn gewartet zu haben, bestätigen dies auch, nachdem sie den Meister begrüßt haben, und fügen hinzu, daß einige andere Wege gegangen sind, um etwas über ihn zu erfahren, da die um eine ganze Nacht verspätete Ankunft in Jericho sie beunruhigt hat.

«Ich bin mit diesen hierher gekommen. Und ich werde dich nicht mehr verlassen, bis ich dich bei Lazarus in Sicherheit weiß», sagt Manaen.

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1) Im Aramäischen, der Sprache Jesu, gibt es keinen Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ; Jesus kann also sehr wohl "von meinem Kelch" gesagt haben.

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«Warum? Besteht eine Gefahr... ?» fragt Judas Thaddäus.

«Ihr seid in Judäa... Ihr kennt das Dekret. Und auch den Haß. Es ist also alles zu befürchten», antwortet Manaen, und zu Jesus gewandt erklärt er: «Ich habe die stärksten Männer mitgebracht, denn es war anzunehmen, daß du hier vorüberkommen würdest, wenn sie dich noch nicht gefangengenommen haben. Und durch unser Ansehen als Jünger und Männer haben wir gehofft, die Bösewichter genügend zu beeindrucken, daß sie dich respektieren.»

Tatsächlich sind bei ihm die früheren Schüler Gamaliels, der Priester Johannes, Nikolaus von Antiochia, Johannes von Ephesus und andere kräftige Männer in den besten Jahren und besonders vornehmen Aussehens, deren Namen ich jedoch nicht kenne. Einige von ihnen stellt Manaen eiligst vor, andere nicht. Männer aus allen Gegenden Palästinas, darunter zwei vom Hof des Herodes Philippus. Namen der ältesten Familien Israels sind zu hören auf der Straße bei dem zerzausten Wäldchen, in dem der Wind die Blättchen der Mimosen erzittern macht und die neuen Triebe das Weißdorns wiegt.

«Gehen wir. Ist niemand mit den Frauen bei Nike?» fragt Jesus.

«Die Hirten. Alle außer Jonathan, der Johanna im Palast von Jerusalern erwartet. Aber deine Jünger sind außerordentlich zahlreich geworden. Gestern haben annähernd Fünfhundert in Jericho auf deine Ankunft gewartet. Die Diener des Herodes waren so beunruhigt darüber, daß sie es ihrem Herrn mitteilten. Und Herodes wußte nicht, ob er sich fürchten oder ob er einschreiten sollte. Doch die Erinnerung an Johannes sitzt ihm noch zu sehr in den Gliedern, und er getraut sich nicht mehr, seine Hand gegen einen Propheten zu erheben...»

«Gut! Dieser wird dir nicht mehr schaden!» ruft Petrus aus und reibt sich zufrieden die Hände.

«Er ist aber auch der, der am wenigsten gilt. Er ist ja nur ein Götze, den jeder nach Gefallen herumschiebt, und jene, die ihn in der Hand haben, verstehen es, ihn zu manipulieren.»

«Wer hat ihn denn in der Hand? Pilatus vielleicht?» fragt Bartholomäus.

«Pilatus braucht Herodes nicht, um handeln zu können. Herodes ist ein Diener, und die Mächtigen befragen ihre Diener nicht», antwortet Manaen.

«Wer ist es dann?» fragt Bartholomäus.

«Der Tempel!» sagt einer der Männer, die bei Manaen sind, entschieden.

«Aber für den Tempel ist Herodes ein Verfluchter. Sein Verbrechen...»

«Du bist sehr naiv, trotz deines Wissens und deiner Jahre, Bartholomäus. Du weißt also nicht, daß der Tempel viele, viel zu viele Dinge übersehen kann, wenn er nur sein Ziel erreicht? Und deshalb ist er nicht mehr würdig fortzubestehen», sagt mit einer Geste gestrenger Verachtung Manaen.

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«Du bist ein Israelit und darfst nicht so reden. Der Tempel ist immer noch der Tempel für uns», mahnt Bartholomäus.

«Nein, er ist nur noch der Kadaver dessen, was er einst war. Und ein Kadaver verwandelt sich in unreines Aas, wenn der Tod schon vor längerer Zeit eingetreten ist. Deshalb hat Gott den lebenden Tempel gesandt, damit wir vor dem Herrn niederknien können, ohne daß es zu einer schmutzigen Komödie wird.»

«Schweig!» flüstert jemand in seiner Nähe Manaen zu, denn dieser spricht zu deutlich. Es ist einer von denen, die nicht vorgestellt worden sind, und er ist ganz verhüllt.

«Warum sollte ich schweigen, wenn mein Herz so spricht? Meinst du, meine Reden könnten dem Meister schaden? Wenn es so ist, werde ich schweigen. Aus keinem anderen Grund. Auch wenn sie mich verurteilen würden, wüßte ich noch zu sagen: "So denke ich. Daher bestraft mich und nicht andere."»

«Manaen hat recht. Wir haben lange genug ängstlich geschwiegen. Nun ist die Zeit gekommen, da jeder seinen Standort beziehen und sagen muß, wie er fühlt, ob er nun dafür oder dagegen ist. Ich denke wie du, Bruder in Jesus. Und wenn uns dies den Tod bringt, dann werden wir mit dem Bekenntnis der Wahrheit auf den Lippen sterben», sagt Stephanus mit Nachdruck.

«Seid vorsichtig! Seid klug!» mahnt Bartholomäus. «Der Tempel ist immer noch der Tempel. Er geht seinem Ende entgegen, er ist gewiß nicht vollkommen, aber noch besteht er! Nach Gott gibt es keinen größeren Menschen und keine höhere Macht als den Hohenpriester und das Synedrium. Sie repräsentieren Gott. Und wir müssen in ihnen das sehen, was sie repräsentieren, nicht das, was sie sind. Irre ich mich vielleicht, Meister ?»

«Du irrst dich nicht. In jeder Institution muß man ihren Ursprung sehen. In diesem Fall den ewigen Vater, der den Tempel und die Hierarchien begründet hat, die Riten und die Autorität der Menschen, die bestimmt sind, ihn zu vertreten. Man muß dem Vater das Urteil überlassen. Er weiß, wann und wie er einschreiten muß, wie er Vorsorge treffen muß, damit die sich ausbreitende Korruption nicht alle Menschen verdirbt und sie an Gott zweifeln läßt... Das hat Manaen richtig erkannt, als er auf den Grund meines Kommens in dieser Stunde hingewiesen hat. Du mußt endlich mit dem Geist der Erneuerung Manaens deine Unbeweglichkeit überwinden, Bartholomäus, damit das Maß gerecht wird und das Gefühl stimmt. Jede Übertreibung ist immer gefährlich. Für den, der übertreibt, für den, der darunter leidet, und für den, der daran Anstoß nimmt und, wenn er nicht aufrichtigen Herzens ist, davon Gebrauch macht, um seine Brüder anzuklagen. Aber das ist die Tat eines Kain. Und die Kinder des Lichtes werden ein solches Werk der Finsternis nicht tun.»

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Der ganz in seinen Mantel gehüllte Mann, von dem man kaum die schwarzen lebhaften Augen sieht und der Manaen gemahnt hat, nicht zu viel zu reden, kniet nun nieder, ergreift die Hand Jesu und sagt: «Du bist gut, Meister. Zu spät habe ich dich kennengelernt, o Wort Gottes! Aber noch rechtzeitig, um dich zu lieben, wie du es verdienst, wenn ich dir auch nicht mehr so lange dienen kann wie ich möchte, wie ich es jetzt gerne tun würde.»

«Es ist nie zu spät für die Stunde Gottes. Sie kommt zur rechten Zeit. Sie gewährt genügend Zeit, um der Wahrheit zu dienen, wenn der Wille vorhanden ist.»

«Aber wer ist denn das?» flüstern die Aposteln untereinander und fragen die Jünger. Es nützt nichts. Niemand weiß, wer er ist, oder wer es weiß, will es nicht sagen.

«Wer ist das, Meister?» fragt Petrus, als es ihm gelungen ist, sich Jesus zu nähern, der mitten in der Gruppe geht, hinter sich die Frauen, vor sich die Jünger, an den Seiten die Vettern und rings herum die Apostel.

«Eine Seele, Simon. Nichts weiter als das.»

«Aber... traust du ihm denn, obwohl du nicht weißt, wer es ist?»

«Ich weiß, wer es ist, und ich kenne sein Herz.»

«Ach so! Ich habe verstanden! Es ist genauso wie bei der Verschleierten vom "Trügerischen Gewässer"... Ich werde keine Fragen mehr stellen...» Und Petrus ist glücklich, denn Jesus läßt Jakobus gehen und nimmt ihn an seine Seite.

Sie haben Jericho nun erreicht. Aus dem Tor strömen die Menschen mit Hosanna-Rufen, und Jesus kommt nur mit Mühe voran und durch die Stadt zum Haus Nikes, das auf der anderen Seite von Jericho außerhalb der Stadt liegt. Man bittet ihn zu reden. Kinder werden in die Höhe gehalten und bilden eine beinahe unüberwindliche, lebendige Mauer; denn viele verlassen sich auf die Liebe Jesu zu den Kindern. Rufe werden laut: «Du kannst sprechen. Der dort... ist schon nach Jerusalem geflohen ...»und man deutet bei diesen Worten auf den herrlichen und verschlossenen Palast des Herodes.

Manaen bestätigt: «Es ist wahr. Er ist in der Nacht heimlich aufgebrochen. Er hat Angst.»

Doch nichts kann Jesus aufhalten. Er geht weiter und sagt: «Friede! Friede! Wer Leid oder Schmerzen hat, soll zu Nike kommen. Wer mich hören will, soll nach Jerusalem gehen. Ich bin nur als Pilger hier, so wie ihr alle. Im Haus des Vaters werde ich sprechen. Friede! Friede und Segen! Friede!»

Es ist schon ein kleiner Triumph, ein Vorspiel des Einzugs in Jerusalem, der nun so nahe bevorsteht.

Ich wundere mich über die Abwesenheit des Zachäus, bis ich ihn am Rand von Nikes Besitz inmitten seiner Freunde, der Hirten und der

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Jüngerinnen stehen sehe. Alle eilen Jesus entgegen, werfen sich vor ihm nieder und folgen ihm dann, während er segnend durch den Obstgarten und auf das gastliche Haus zugeht.

634. JESUS SPRICHT ZU UNBEKANNTEN JÜNGERN

Eine große Menschenschar hat sich bei Nike auf den Wiesen, wo das Heu in der Sonne trocknet, versammelt. Zwei schwere, bedeckte Wagen warten in der Nähe der Wiesen. Ich verstehe den Grund dieses Wartens, als ich sehe, daß alle Jüngerinnen sich zu den Wagen begeben und einsteigen, nachdem der Meister sie entlassen und gesegnet hat. Auch Maria, die allerseligste Jungfrau, und der Knabe von Ennon gehen mit den Jüngerinnen; und viele Jünger umgeben die Gefährte und begleiten sie, als die Ochsen sich langsam in Bewegung setzen. Auf den Wiesen bleiben die Apostel, Zachäus und seine Freunde, und eine kleine Gruppe ganz in ihre Mäntel gehüllter Leute, so als wollten sie nicht erkannt werden.

Jesus geht langsam in die Mitte der Wiese zurück und setzt sich auf einen schon halb trockenen Heuhaufen, den man nun bald in den Heustadel bringen wird. Er ist in eine Betrachtung vertieft, und alle achten seine innere Sammlung und warten in drei getrennten Gruppen und in einiger Entfernung von ihm.

Die Betrachtung dauert an, und so auch das Warten. Die Sonne scheint immer stärker und sticht auf die Wiese, die stark nach den trocknenden Halmen riecht. Die Wartenden flüchten sich an ihren Rand, denn dort spenden die Bäume des Obstgartens erfrischenden Schatten.

Jesus bleibt allein zurück. Allein unter der schon heißen Sonne, in seinem weißen Linnengewand und mit der leichten Kopfbedeckung aus Byssus, die sich in der Brise bewegt. Vielleicht ist es das Tuch, das Syntyche gewoben hat. Aus einem nahen Stall dringt ein langgezogenes, klagendes Muhen, und das Piepsen der Nestlinge ertönt aus dem Gezweig der Obstbäume und von den Tennen. Nackte Vögelchen und eindringlich schreiende Küken. Das Leben, das sich jeden Frühling erneuert. Die Tauben kreisen in der Luft, bevor sie mit sicherem, geradem Flug in den Schlag unter dem Dach zurückkehren. Ich weiß nicht, ob in Nikes Haus oder auf einem nahen Feld, singt eine Frauenstimme ein sanftes Wiegenlied, und das Kinderstimmchen, zuerst laut und zitternd wie das Klagen eines Lämmleins, wird leiser und verstummt schließlich...

Jesus denkt nach. Er denkt noch immer nach und scheint unempfindlich gegen die Sonne zu sein. Ich habe oft die außergewöhnliche Widerstandsfähigkeit Jesu gegen die Witterung der Jahreszeiten bemerkt und mich gefragt, ob er die Kälte oder Wärme besonders spürt und sie im

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Geist der Abtötung klaglos erträgt, oder ob er extremer Hitze und Kälte gebietet, wie er es bei den entfesselten Elementen getan hat. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er bei Wolkenbrüchen bis auf die Haut naß wird und bei großer Hitze in Schweiß ausbricht, aber ich habe nie bemerkt, daß er unter Hitze und Kälte leidet, noch habe ich gesehen, daß er sich davor zu schützen versucht, wie es die Menschen gegen die Extreme des Sommers oder Winters gewöhnlich tun.

Man hat mich einmal darauf aufmerksam gemacht, daß in Palästina niemand mit unbedecktem Haupt umhergeht und daß es deshalb falsch ist, wenn ich schreibe, Jesu blondes Haupt habe unbedeckt in der Sonne geleuchtet. Es ist gut möglich, daß man in Palästina nicht mit unbedecktem Haupt umhergehen kann. Ich bin nie dort gewesen und kann dazu nichts sagen. Ich weiß nur, daß Jesus gewöhnlich unbedeckten Hauptes wandert. Und wenn er zu Beginn einer Wanderung das Haupt bedeckt hat, so nimmt er die Kopfbedeckung doch bald ab, so als ob sie ihn störe, und benützt das Tuch hauptsächlich, um sich damit Staub und Schweiß vom Antlitz zu wischen. Wenn es regnet, schlägt er einen Zipfel des Mantels über den Kopf. Und wenn die Sonne scheint, vor allem unterwegs, sucht er den Schatten der Bäume auf, soweit es ihn gibt, um sich vor der Sonne zu schützen. Doch nur ganz selten hat er, so wie heute, einen leichten Schleier auf dem Haupt.

Diese Anmerkung mag manchem unnütz erscheinen. Aber auch dies gehört zu dem, was ich sehe und höre...

Jesus denkt immer noch nach.

«Es wird ihm schaden, wenn er noch lange dort bleibt...» meint einer aus der Gruppe, die nicht die Gruppe der Apostel und nicht die des Zachäus ist.

«Wir wollen seine Jünger darauf aufmerksam machen... Außerdem... ich möchte... ich möchte mich nicht zu sehr verspäten», sagt ein anderer.

«Ja, ja. Und der Weg über die Adummimberge ist bei Nacht unsicher...» Die Männer gehen zu den Aposteln und reden mit ihnen.

«In Ordnung. Ich werde ihm sagen, daß ihr gehen wollt», sagt Iskariot.

«Nein. Nicht so. Wir möchten nur vor Einbruch der Nacht wenigstens in Ensemes sein.»

Judas entfernt sich spöttisch lächelnd. Er neigt sich über den Meister und sagt zu ihm: «Sie sagen, daß dir die Sonne schaden könnte. Die Wahrheit ist, daß es ihnen schaden könnte, von zu vielen Leuten gesehen zu werden... Nun, die Juden möchten sich verabschieden.»

«Ich komme... Ich dachte nach... Sie haben recht», sagt Jesus und steht auf.

«Alle, nur ich nicht ...» murrt Iskariot.

Jesus sieht ihn an und schweigt. Sie gehen zusammen zu den Männern, die Judas Juden genannt hat.

«Ich habe doch schon alle entlassen und gestern gesagt, daß ich erst in Jerusalem sprechen werde.»

«Das ist wahr. Aber wir möchten mit dir reden... Können wir mit dir allein sprechen?»

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«Stelle sie zufrieden. Sie haben Angst vor uns, oder besser gesagt, vor mir», sagt Judas von Kerioth wiederum mit dem Lächeln einer Schlange.

«Wir haben vor niemandem Angst. Wenn wir gewollt hätten, hätten wir schon gewußt, wie wir unsere Ruhe schützen. Aber noch sind nicht alle in Palästina feige. Wir sind Nachkommen der Helden Davids, und du hast es unseren Geschlechtern zu verdanken, daß du noch kein Sklave und Geächteter bist. Wir waren die ersten an der Seite des heiligen Königs, wir waren die ersten an der Seite der Makkabäer, und auch heute sind wir wieder die ersten, wenn es gilt, dem Sohn Davids Ehre zu erweisen und Rat zu erteilen. Denn er ist groß. Aber jedes Geschöpf, so groß es auch sein mag, kann in den entscheidenden Stunden des Lebens einen Freund nötig haben», antwortet heftig ein Mann, dessen Kleidung ganz aus Linnen ist, auch der Mantel und das Kopftuch, das nur wenig von dem strengen Gesicht sehen läßt.

«Wir sind seine Freunde. Und dies schon seit drei Jahren, seit ihr...»

«Wir kannten ihn nicht. Zu oft sind wir getäuscht worden von einem falschen Messias, um jeder Behauptung gleich Glauben schenken zu können. Doch die letzten Ereignisse haben uns erleuchtet. Seine Werke sind Werke Gottes, und für uns ist er der Sohn Gottes.»

«Und ihr meint, er hätte euch nötig?»

«Als Sohn Gottes nicht. Als Mensch aber schon. Er ist gekommen, um der Mensch zu sein. Und ein Mensch braucht immer Menschen als Brüder. Im übrigen: Was fürchtest du? Warum willst du nicht, daß wir mit ihm sprechen? Wir fragen dich.»

«Ich? Redet! Redet nur! Die Sünder werden eher angehört als die Gerechten.»

«Judas! Ich habe geglaubt, solche Worte müßten dir wie Feuer auf den Lippen brennen! Wie wagst du zu richten, wo dein Meister nicht richtet? Es steht geschrieben: "Wenn eure Sünden rot wären wie Scharlach, sie würden weiß werden wie Schnee; wenn sie rot wären wie Purpur, sie würden weiß werden wie Wolle."»

«Aber weißt du denn nicht, daß unter diesen...»

«Schweig! Sprecht ihr.»

«Herr, wir wissen es. Die Anklage gegen dich ist bereit. Man beschuldigt dich, das Gesetz und den Sabbat zu mißachten, die Samariter mehr zu lieben als uns, Zöllner und Dirnen zu verteidigen, die Hilfe Beelzebubs und anderer finsterer Mächte in Anspruch zu nehmen, die Schwarze Kunst auszuüben, den Tempel zu hassen und seine Zerstörung zu wünschen, und...»

«Genug! Jeder kann anklagen. Beweise für die Anklagen zu finden, ist schon schwieriger.»

«Aber sie haben genügend Helfershelfer. Glaubst du denn, daß es dort drinnen Gerechte gibt?»

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«Ich antworte euch mit den Worten Jobs, dem Sinnbild des Geduldigen, der ich bin: "Fern sei von mir, euch allen recht zu geben. Ich gebe meine Unschuld bis zum Tode nimmer preis. Ich halte fest an meinem Recht und laß es nicht. Mein Herz schämt sich nicht eines meiner Tage." Ganz Israel kann bezeugen – denn ich will mich nicht selbst rechtfertigen mit Worten, die auch ein Lügner sagen kann – ganz Israel kann bezeugen, daß ich immer die Ehrfurcht vor dem Gesetz gelehrt habe; mehr noch: daß ich den Gehorsam gegenüber dem Gesetz vervollkommnet und den Sabbat nie mißachtet habe... Was willst du sagen? Sprich! Du wolltest etwas sagen und hast dich dann zurückgehalten. Sprich!»

Einer aus der geheimnisvollen Gruppe sagt: «Herr, bei der letzten Sitzung des Synedriums wurde eine Anklage gegen dich verlesen. Sie kam aus Samaria, aus Ephraim, wo du dich aufgehalten hast, und darin wurde behauptet, daß es mehrfach bewiesen sei, daß du das Sabbatgebot mißachtest ...»

«Und wieder antworte ich dir mit Job: "Denn was ist die Hoffnung des Gottlosen, wenn er aus Habgier raubte und Gott seine Seele fordert?" Dieser Unglückliche, der ein scheinheiliges Gesicht zeigt und ein ganz anderes Herz hat, der den großen Raub aus Neid auf mein Gut begehen will, ist schon auf dem Weg zur Hölle; und vergeblich wird er Geld besitzen und Ehren erhoffen und davon träumen, zu erreichen, was ich nicht erreichen wollte, um den heiligen Plan nicht zu verraten. Aber beachten wir ihn etwa, außer um für ihn zu beten?»

«Das Synedrium hat dich aber verlacht und gesagt: "Das ist die Liebe der Samariter! Sie klagen ihn an, um unsere Gunst zu gewinnen."»

«Seid ihr sicher, daß es die Hand eines Samariters war, die diese Worte geschrieben hat?»

«Nein. Aber in Samaria ist man in diesen Tagen hart zu dir gewesen ...»

«Weil die Boten des Synedriums Samaria aufgewiegelt, mit üblem Rat erregt und so falsche Hoffnungen geweckt haben, die ich zunichte machen mußte. Und im übrigen steht sowohl von Ephraim als auch von Juda geschrieben, und das gleiche kann man von allen Orten sagen, denn das Herz der Menschen ist wankelmütig, vergißt die Wohltaten und beugt sich den Drohungen: "Eure Liebe gleicht ja dem morgendlichen Gewölk, sie gleicht dem Tau, der schnell vergeht." Aber das beweist noch nicht, daß die Samariter die Ankläger des Unschuldigen sind. Eine falsche Liebe hat sie gegen mich aufgebracht, aber es war eine Liebe, die von Sinnen war. Welchen anderen Beweis gibt es noch? Welchen Beweis für die Anklage, daß ich die Samariter bevorzuge?»

«Man beschuldigt dich, sie so sehr zu lieben, daß du immer sagst: "Höre, Israel" ' anstatt zu sagen: "Höre, Juda." Und daß du Juda nicht tadeln kannst...»

«Ist das wahr? Verläßt die Weisheit hier die Rabbis? Bin ich denn nicht

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das Reis der Gerechtigkeit, das aus David entsprossen ist und durch das, wie Jeremias sagt, Juda gerettet werden wird? Damals sah der Prophet voraus, daß Juda, ja vor allem Juda, des Heils bedürftig sein würde. Und dieses Reis, sagt der Prophet noch, wird genannt werden: "Der Herr, unsere Gerechtigkeit", denn, so spricht der Herr: "Nie soll es David an einem Nachkommen fehlen, der auf dem Thron des Hauses Israel sitzt." Und? Hat der Prophet sich geirrt? War er vielleicht trunken? Wovon? Gewiß von der Buße, und von nichts anderem. Denn um mich anzuklagen, wird niemand behaupten wollen, daß Jeremias ein Prasser gewesen sei. Und doch sagt er, daß das Reis aus David Juda retten und auf dem Thron Israels sitzen wird. Demnach müßte man sagen, daß nach den Erleuchtungen des Propheten Israel vor Juda erwählt sein wird, daß der König nach Israel geht und es schon eine Gnade sein wird, wenn Juda nur gerettet wird. Wird das Reich also das Reich Israel genannt werden? Nein. Es wird das Reich Christi genannt werden. Das Reich dessen, der die zerstreuten Teile sammeln und sie im Herrn wiedervereinigen wird, nachdem er – nach den Worten des anderen Propheten – in einem Monat, was sage ich, in weniger als einem Tag die drei falschen Hirten gerichtet und verurteilt und ihnen sein Herz verschlossen hat, da auch sie ihm ihr Herz verschlossen und ihn zwar ersehnt, aber dann nicht in seiner wahren Natur geliebt haben. Nun wird der, der mich gesandt und mir die beiden Stäbe gegeben hat, den einen wie den anderen zerbrechen; denn für die Grausamen soll es keine Gnade mehr geben, und die Strafe wird nicht mehr vom Himmel, sondern von der Welt kommen. Und nichts ist schlimmer als die Geißeln, die Menschen über die Menschen bringen. So wird es sein. Genau so! Ich werde geschlagen, und die Schafe werden zu zwei Dritteln zerstreut werden. Nur ein Drittel wird sich retten und bis ans Ende ausharren. Und dieses Drittel, immer nur ein Drittel, wird durch das Feuer gehen, durch das ich als erster gehe. Es wird wie Silber und Gold geläutert und geprüft werden, und es wird zu ihm gesagt werden: "Du bist mein Volk", worauf es zu mir sagen wird: "Du bist mein Herr." Und es wird geschehen, daß für dreißig Silberlinge, dem Preis der schrecklichen Tat, der schändliche Handel abgeschlossen wird. Und dorthin, von wo sie hergekommen sind, werden sie nicht mehr zurückkehren können; denn selbst die Steine würden aufschreien vor Entsetzen, wenn sie diese Münzen sehen müßten, befleckt vom Blut des Unschuldigen und vom Schweiß des von der schrecklichsten Verzweiflung Verfolgten. Und sie werden dazu dienen, wie es geschrieben steht, um von den Sklaven von Babylon den Acker für die Fremden zu kaufen. Oh, der Acker für die Fremden! Wißt ihr, wer sie sind? Jene von Juda und Israel. Jene, die schon bald für lange Jahrhunderte kein Vaterland mehr haben werden. Und nicht einmal der Boden ihrer früheren Heimat wird sie aufnehmen wollen. Er wird sie ausspeien, selbst noch als Tote, weil sie das Leben abgelehnt haben. Unendlicher Schrecken... !»

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Jesus schweigt, wie bedrückt, und neigt das Haupt. Dann erhebt er es wieder, blickt um sich und sieht die Anwesenden: die Apostel, die geheimen Jünger, Zachäus mit den Seinen. Er seufzt wie einer, der aus einem Alptraum erwacht, und sagt: «Was habt ihr sonst noch gesagt? Ach ja, daß man mich beschuldigt, Zöllner und Dirnen zu lieben. Das ist wahr. Sie sind die Kranken, die Sterbenden. Ich, das Leben, schenke mich ihnen als Leben. Kommt, ihr Erlösten meiner Herde», gebietet er Zachäus und den Seinen. «Kommt und hört meinen Befehl. Zu vielen, die weißer sind als ihr, habe ich gesagt: "Kommt nicht nach Jerusalem." Zu euch sage ich: "Kommt." Es mag wie eine Ungerechtigkeit aussehen...»

«Es ist eine», unterbricht ihn Judas.

Jesus scheint ihn nicht gehört zu haben und spricht weiter zu Zachäus und seinen Gefährten: «Aber ich sage euch: Kommt. Gerade weil ihr Pflanzen seid, die den Tau mehr brauchen als andere, damit euer guter Wille vom Mächtigen gestärkt werde und ihr dann frei in der Gnade wachsen könnt. Was das übrige betrifft... so wird der Himmel selbst mit unmißverständlichen Zeichen antworten. In Wahrheit wird der lebendige Tempel zerstört und in drei Tagen wieder aufgerichtet werden: für ewig. Aber der tote Tempel, der nur beben und glauben wird, gesiegt zu haben, wird zerstört werden, um nicht wieder aufzuerstehen. Geht! Und fürchtet euch nicht. Erwartet büßend meinen Tag, und seine Morgenröte wird euch endgültig zum Licht führen», sagt Jesus zu den Verhüllten. Und dann zu Zachäus: «Geht auch ihr. Aber nicht jetzt. Seid am Morgen des Tages nach dem Sabbat in Jerusalem. An der Seite der Gerechten will ich die Auferweckten, denn im Reich Christi gibt es unendlich viele Plätze. So viele wie Menschen guten Willens.» Jesus begibt sich durch den dichten, schattigen Obstgarten zum Haus Nikes.

Ein schmaler Pfad verläuft wie ein gelbliches Band durch das Grün des Bodens, und eine gackernde Glucke überquert ihn, gefolgt von ihren goldfarbenen Küchlein. Die Henne plustert sich ängstlich auf vor so vielen Unbekannten, breitet schützend die Flügel aus und gackert noch lauter, da sie einen Angriff auf ihre Brut befürchtet. Und diese läuft piepsend herbei, versteckt sich unter den mütterlichen Federn, das Piepsen verstummt und die Küken scheint es nicht mehr zu geben.

Jesus bleibt stehen, um die Szene zu betrachten... und Tränen fließen über seine Wangen.

«Er weint! Warum weint er? Er weint!» flüstern alle, die Apostel, die Jünger und die erlösten Sünder. Und Petrus sagt zu Johannes: «Frag ihn doch, warum er weint...»

Johannes, in seiner üblichen, etwas gebeugten Haltung der Ehrerbietung, den Blick zu Jesus erhoben, fragt: «Warum weinst du, mein Herr? Vielleicht über das, was man dir soeben gesagt hat und was du geantwortet hast?»

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Jesus erwacht aus seinen Gedanken, lächelt traurig und sagt, wobei er auf die Gluckhenne zeigt, die weiterhin liebevoll ihre Brut beschützt: «Auch ich, eins mit dem Vater, sah Jerusalem, so wie es bei Ezechiel geschrieben steht: nackt und voller Schande. Und ich sah es und ging an ihr vorüber, und da die Zeit gekommen war, die Zeit meiner Liebe, breitete ich meinen Mantel aus und bedeckte ihre Blöße. Ich wollte sie zur Königin machen, nachdem ich ihr Vater gewesen war, und sie beschützen, wie diese Henne ihre Küchlein... Doch während die kleinen Küchlein der Henne dankbar sind für ihre Sorge und sich unter ihre Flügel flüchten, weist Jerusalem meinen Mantel ab... Aber ich werde meiner liebenden Absicht treu bleiben... Ich... Mein Vater wird dann nach seinem Willen handeln.» Und Jesus geht im Gras weiter, um die Henne nicht zu ängstigen, und immer noch fließen Tränen über sein betrübtes, bleiches Gesicht.

Alle machen es ihm nach und folgen ihm flüsternd bis zum Haus Nikes. Dort angekommen, betritt es Jesus, während die anderen ihre eigenen Wege gehen...

635. DIE BEIDEN BLINDEN VON JERICHO

Ein strahlend klares Morgengrauen geht eben in die erste Morgenröte über. Die Stille der frischen Felder wird immer häufiger unterbrochen und schmückt sich mit dem Zwitschern der erwachenden Vögel.

Jesus verläßt als erster das Haus der Nike, schließt leise die Tür und begibt sich zum grünen Obstgarten, aus dem die klaren Noten des Schwarzköpfchens und der flötende Gesang der Amseln ertönen.

Er ist noch nicht dort angelangt, als vier Personen auf ihn zukommen. Es sind vier aus der Gruppe der Unbekannten, die gestern nie ihr Gesicht gezeigt haben. Sie verneigen sich bis zur Erde. Auf den Befehl und die Frage Jesu, nachdem er sie mit dem Friedensgruß gegrüßt hat: «Steht auf! Was wollt ihr von mir?» erheben sie sich und schlagen die Mäntel und die leinenen Kopfbedeckungen zurück, mit denen sie wie Beduinen ihre Gesichter verhüllt hatten.

Ich erkenne das bleiche, hagere Gesicht des Schriftgelehrten Joel des Abija, den ich in der Vision von Sabäa gesehen habe. Von den anderen weiß ich erst, wer sie sind, nachdem sie sich vorgestellt haben: «Ich bin Judas von Beth Horon, der letzte der wahren Asidäer und Freunde des Mattathias Hasmonäus.» «Und ich bin Eliel, und das ist mein Bruder Elkana von Bethlehem in Judäa. Wir sind Brüder der Johanna, deiner Jüngerin, und es gibt für uns keine größere Ehre als diese. Wir waren abwesend, als du stark warst, und sind nun anwesend, da du verfolgt wirst.»

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«Ich bin Joel des Abija. Ich war lange Zeit blind, doch nun haben sich meine Augen dem Licht geöffnet.»

«Ich hatte euch schon verabschiedet. Was wollt ihr von mir?»

«Wir wollen dir sagen, daß... wir uns nicht deinetwegen verhüllt haben, sondern...» sagt Eliel.

«Vorwärts! Sprecht!»

«Aber... Aber sprich du, Joel, denn du bist der, der mehr als alle anderen weiß..»

«Herr... Das, was ich weiß, ist so... schrecklich... Ich wollte, nicht einmal die Erde wüßte, müßte hören, was ich zu sagen habe ...»

«Die Erde wird in der Tat erschauern. Ich nicht. Denn ich weiß, was du sagen willst. Doch sprich trotzdem...»

«Wenn du es weißt... dann erspare es mir, mit bebenden Lippen von diesen schrecklichen Dingen sprechen zu müssen. Ich glaube nicht etwa, daß du lügst, wenn du sagst, daß du es weißt, und nur willst, daß ich es sage, um es zu erfahren, sondern weil...»

«Ja, weil es etwas ist, das zum Himmel schreit. Aber ich werde es euch sagen, um alle zu überzeugen, daß ich die Herzen der Menschen kenne. Du, Mitglied des Synedriums und für die Wahrheit gewonnen, hast etwas entdeckt, was du allein nicht ertragen kannst; denn es ist zu erschütternd. Und du bist zu diesen wahren Juden gegangen, die nur von gutem Geist erfüllt sind, um dich mit ihnen zu beraten. Du hast recht gehandelt, obwohl was du getan hast, nichts am Gang der Ereignisse ändern wird. Der letzte der Asidäer wäre bereit, die Tat seiner Väter zu wiederholen, um dem wahren Befreier zu dienen. Und er ist nicht der einzige. Auch sein Verwandter Barsillai würde es tun, und viele andere mit ihm. Die Brüder Johannas würden ihm aus Liebe zu mir, zu ihrer Schwester und zum Vaterland zur Seite stehen. Aber ich werde nicht mit Lanzen und Schwertern triumphieren. Versteht die Wahrheit ganz. Ich werde mit himmlischer Herrlichkeit triumphieren. Du weißt – und es läßt dich noch blasser und hagerer erscheinen, als du es sonst bist – wer die Texte der Anklage gegen mich aufgesetzt hat; die Texte, deren Sinn und Geist zwar falsch sind, die aber wahr sind in der direkten Bedeutung ihrer Worte; denn ich habe tatsächlich das Sabbatgebot übertreten, als ich fliehen mußte, da meine Stunde noch nicht gekommen war; und auch, als ich drei Unschuldige den Räubern entriß. Ich könnte sagen, daß die Not die Tat rechtfertigt, so wie die Not David rechtfertigte, als er mit Schaubroten seinen Hunger stillte. Es ist wahr, ich bin nach Samaria geflohen; aber ich habe, als meine Stunde gekommen war und die Samariter mir anboten, als Hoherpriester bei ihnen zu bleiben, Ehren und Sicherheit abgelehnt, um dem Gesetz treu zu bleiben, auch wenn das bedeutet, daß ich mich den Feinden ausliefere. Es ist auch wahr, daß ich die Sünder und die Sünderinnen liebe, um sie der Sünde zu entreißen. Es ist wahr, daß ich die Zerstörung

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des Tempels voraussage, auch wenn diese meine Worte nur die Bestätigung des Messias für die Worte seiner Propheten sind. Der diese und andere Anklagen vorbringt und auch die Wunder in Punkte der Anklage verkehrt, der sich aller Mittel der Erde bedient hat, um mich zur Sünde zu verleiten und so zu den ersten Anschuldigungen noch weitere hinzufügen zu können, ist einer meiner Freunde. Auch dies ist vorhergesagt worden von dem prophetischen König, von dem ich mütterlicherseits abstamme: "Der mein Brot ißt, hat seine Ferse gegen mich erhoben." Ich weiß es. Ich würde zweimal sterben, wenn ich... nicht verhindern könnte, daß er das Verbrechen begeht – sein Wille hat sich nun dem Tod hingegeben, und Gott tut der Freiheit des Menschen keine Gewalt an – aber doch wenigstens... oh, wenigstens bewirken könnte, daß er sich, von tiefem Schmerz über das begangene Verbrechen erfaßt, reuig Gott zu Füßen wirft... Deshalb hast du, Judas von Beth Horon, gestern Manaen zum Schweigen ermahnt. Denn die Schlange war anwesend und hätte außer dem Meister auch noch dem Jünger schaden können. Nein, nur der Meister wird getroffen werden. Habt keine Furcht. Meinetwegen soll kein Leid und kein Unglück über euch kommen. Aber wegen des Verbrechens eines ganzen Volkes wird euch alle alles treffen, was die Propheten vorhergesagt haben. Mein armes, armes Vaterland! Armes Land, das du die Strafe Gottes kennenlernen wirst! Arme Bewohner dieses Landes und arme Kinder, die ich jetzt segne und retten möchte und die, obgleich unschuldig, als Erwachsene das größte Unglück erleiden werden. Betrachtet dieses euer blühendes, schönes, von Grün und Blumen gleich einem wunderbaren Teppich bedecktes Land in seiner paradiesischen Fruchtbarkeit... Prägt diese Schönheit euren Herzen ein, und dann... wenn ich dorthin zurückgekehrt sein werde, von wo ich gekommen bin... flieht. Flieht, solange es noch möglich ist, bevor, gleich der Raubgier der Hölle, die Trübsal der Verwüstung über dieses Land hereinbricht und alles vernichtet, zerstört, in Ödnis verwandelt und verbrennt, schlimmer als in Sodom und Gomorrha. Ja, schlimmer als dort, denn dort war es ein rascher Tod. Hier... Joel, erinnerst du dich an Sabäa? Sie hat ein letztes Mal die Zukunft des Volkes Gottes, das den Sohn Gottes von sich stößt, vorhergesagt.»

Die vier Männer sind zu Tode erschrocken. Die Furcht vor dem Kommenden lähmt ihre Zungen. Endlich sagt Eliel: «Du gibst uns diesen Rat ... ?»

«Ja, geht. Nichts wird mehr sein, was die Söhne des Volkes Abrahams hier zurückhalten könnte. Und übrigens würde man gerade euch, die Vornehmen, nicht in Frieden lassen... Die Mächtigen, die gefangengenommen werden, vermehren den Ruhm des Siegers. Der neue und unvergängliche Tempel wird die ganze Erde umfassen, und jeder, der mich sucht, wird mich finden, denn ich werde überall sein, wo ein Herz mich liebt. Geht. Nehmt eure Frauen mit euch, die Kinder und die Greise... Ihr bietet

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mir Rettung und Hilfe an. Ich gebe euch den Rat zu eurer Rettung und helfe euch mit diesem Rat... Verschmäht ihn nicht.»

«Aber nun... womit kann Rom uns denn noch schaden? Wir werden beherrscht. Aber selbst wenn das Gesetz hart ist, so muß man doch auch sagen, daß Rom Häuser und Städte wiederaufgebaut hat und...»

«In Wahrheit sollt ihr wissen, daß kein Stein Jerusalems auf dem anderen bleiben wird. Feuer, Mauerbrecher, Katapulte und Speere werden jedes Haus dem Erdboden gleich machen, und die heilige Stadt wird zu einer finsteren Höhle werden, und nicht nur sie allein... Dieses unser Vaterland wird zu einer Höhle werden, zur Weide für die wilden Esel und Schakale, wie die Propheten sagen. Und nicht nur für ein Jahr oder mehrere Jahre oder Jahrhunderte... Nein, für immer! Die Wüste, die Dürre, die Unfruchtbarkeit... Das ist das Schicksal dieses Landes! Schlachtfeld, Ort der Qualen, durch unwiderrufliches Urteil für immer vereitelter Traum der Wiedererrichtung des Reiches, Versuche einer Auferstehung, die schon im Keim erstickt werden. Das ist das Los des Landes, das den Erlöser von sich gestoßen und nach einem Tau verlangt hat, der für die Schuldigen zum Feuer geworden ist.»

«Dann... dann wird es also nie, niemals mehr ein Reich Israel geben? Werden wir nie mehr das sein, wovon wir geträumt haben?» fragen die drei vornehmen Juden mit angstvoller Stimme. Der Schriftgelehrte Joel weint...

«Habt ihr noch nie einen morschen Baum gesehen, dessen Mark eine Krankheit zerstört hat? Jahrelang vegetiert er noch dahin, so kümmerlich, daß er weder blüht noch Früchte trägt. Nur einige seltene Blätter an den dürren Zweigen deuten darauf hin, daß noch ein wenig Lebenssaft durch den Stamm aufsteigt... Dann, in einem Frühjahr, beginnt er plötzlich wunderbarerweise zu blühen und bedeckt sich mit zahlreichen Blättern, und der Besitzer, der ihn viele Jahre erfolglos gepflegt hat, freut sich bei dem Gedanken, daß der Baum nun gesund ist und wieder üppig werden wird nach so viel Dürre... Oh, welch eine Täuschung! Nach einem so vielversprechenden Wiedererstehen des Lebens folgt der plötzliche Tod. Die Blüten, die Blätter und die Fruchtansätze an den Zweigen, die schon eine reiche Ernte versprachen, fallen ab und auf einmal bricht der an der Wurzel verfaulte Baum krachend zusammen. So wird es Israel ergehen. Nach jahrhundertelangem, fruchtlosem und kümmerlichem Vegetieren wird es sich auf dem alten Stamm vereinigen und anscheinend einen Wiederaufbau erleben. Das zerstreute Volk wird schließlich versammelt sein, und es wird ihm verziehen werden. Ja, Gott wird diese Stunde abwarten, um die Jahrhunderte zu beenden. Keine Jahrhunderte wird es mehr geben, sondern nur noch Ewigkeit. Selig jene, denen vergeben wurde und die zur flüchtigen Blüte des letzten Israel beitragen werden; des Israel, das nach so vielen Jahrhunderten Christus angehört und erlöst sterben kann, zusammen mit

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allen Völkern der Erde, selig mit jenen, die nicht nur von meiner Existenz gewußt, sondern mein Gesetz als Gesetz des Heiles und des Lebens angenommen haben. Ich höre die Stimmen meiner Apostel. Geht, bevor sie kommen ...»

«Nicht aus Feigheit möchten wir unerkannt bleiben, Herr, sondern um dir zu dienen. Um dir dienen zu können. Wenn man erfahren würde, daß wir – vor allem ich – zu dir gekommen sind, würde man uns von den Entscheidungen ausschließen...» sagt Joel.

«Ich verstehe euch. Aber gebt acht, die Schlange ist heimtückisch. Besonders du mußt vorsichtig sein, Joel ...»

«Oh, wenn sie mich töten würden! Ich würde gerne an deiner Stelle sterben, um nicht die Tage erleben zu müssen, von denen du gesprochen hast. Segne mich, Herr, um mich stark zu machen ...»

«Ich segne euch alle im Namen Gottes, des Einen und Dreieinen, und im Namen des Wortes, das Fleisch geworden ist zur Rettung der Menschen guten Willens.» Jesus segnet sie alle zusammen mit einer ausladenden Geste und legt dann seine Hand auf jedes der vier zu seinen Füßen geneigten Häupter.

Die Männer stehen auf, verhüllen wieder ihre Gesichter und verschwinden zwischen den Obstbäumen und den Brombeerhecken, die die Apfelbäume von den Birnbäumen trennen und diese wiederum von anderen Bäumen. Es ist höchste Zeit, denn die zwölf Apostel kommen gerade gemeinsam aus dem Haus und suchen den Meister, um aufbrechen zu können.

Petrus sagt: «Vor dem Haus, der Stadt zu, wartet eine Volksmenge, die wir nur mit Mühe zurückhalten konnten, damit du nicht beim Gebet gestört würdest. Sie wollen dir alle folgen. Keiner von denen, die du entlassen hast, ist fortgegangen, und viele sind noch hinzugekommen. Wir haben sie gescholten ...»

«Warum? Sie sollen mir folgen! Wenn es nur alle tun würden! Laßt uns gehen!» Jesus hüllt sich in seinen Mantel, den Johannes ihm reicht, geht zum Haus und seitlich daran vorbei auf die Straße nach Bethanien und beginnt mit lauter Stimme einen Psalm...

Das Volk, eine große Schar, voran die Männer und hinter ihnen die Frauen mit den Kindern, folgt ihm und singt mit ihm...

Die Stadt mit ihrem grünen Gürtel liegt immer weiter hinter ihnen. Die Straße ist voller Pilger. An den Straßenrändern klagen viele Bettler, um Mitleid zu erregen und reichlich Almosen zu erhalten. Lahme, Krüppel, Blinde... Das übliche Elend, das sich immer und überall auf der Welt dort versammelt, wo ein Fest viele Menschen zusammenführt.

Und wenn auch die Blinden nicht sehen können, wer vorübergeht, so sehen doch die anderen, und da sie die Güte des Meisters mit den Armen kennen, schreien sie noch lauter als sonst, um die Aufmerksamkeit Jesu

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auf sich zu lenken. Aber sie bitten nicht um ein Wunder. Sie wollen nur Almosen. Und Judas gibt es ihnen.

Eine Frau bürgerlicher Herkunft hält den Esel an, auf dem sie sitzt, und wartet bei einem großen Baum, der eine Weggabelung beschattet, auf Jesus. Als er näherkommt, gleitet sie aus dem Sattel und kniet mühsam nieder, da sie ein völlig regloses Kind in den Armen hält. Wortlos hält sie es hoch. Die Augen in dem schmerzerfüllten Gesicht flehen. Doch Jesus ist von vielen Menschen umringt und sieht die arme, am Straßenrand kniende Mutter nicht. Ein Mann und eine Frau, anscheinend die Begleiter der traurigen Mutter, sprechen mit ihr. «Hier ist nichts für uns», sagt kopfschüttelnd der Mann, und die Frau: «Herrin, er hat dich nicht gesehen. Rufe ihn vertrauensvoll und gläubig an, und er wird dich erhören.»

Die Frau folgt ihrem Rat und ruft so laut sie kann, um den Lärm der Stimmen und der Schritte zu übertönen: «Herr, erbarme dich meiner!»

Jesus, der schon einige Meter weitergegangen ist, bleibt stehen und schaut sich suchend um, und die Dienerin sagt: «Herrin, er sucht dich. Steh auf und geh zu ihm, und Fabia wird geheilt werden.» Und sie hilft ihrer Herrin beim Aufstehen und führt sie zu Jesus, der sagt: «Wer mich angerufen hat, soll zu mir kommen. Die Zeit der Barmherzigkeit ist gekommen für jene, die auf sie vertrauen.»

Die beiden Frauen drängen sich durch die Menge, voran die Dienerin, um der Mutter einen Weg zu bahnen. Sie sind fast bei Jesus angelangt, als eine Stimme ruft: «Mein abgestorbener Arm! Seht! Gepriesen sei der Sohn Davids! Unser wahrer Messias ist immer mächtig und heilig!»

Es entsteht ein Durcheinander, denn viele drehen sich um, und Wellen von Menschen wirbeln in verschiedene Richtungen um Jesus herum. Alle wollen wissen und sehen, was geschehen ist. Sie fragen einen Greis, der seinen rechten Arm wie eine Fahne in der Luft schwenkt, und dieser antwortet: «Er ist stehengeblieben, und es ist mir gelungen, einen Zipfel seines Mantels zu fassen und mich damit zu bedecken. Da lief es wie Feuer und Leben durch meinen abgestorbenen Arm, und nun, seht her: der rechte Arm ist wie der linke, durch die einfache Berührung seines Gewandes geheilt.»

Jesus fragt indessen die Frau: «Was willst du?»

Die Frau hält ihm das Kind entgegen und sagt: «Auch sie hat ein Recht zu leben. Sie ist unschuldig. Sie hat sich den Ort ihrer Geburt oder ihre Eltern nicht ausgesucht. Ich bin schuldig. Ich muß bestraft werden, nicht sie.»

«Hoffst du, daß die Barmherzigkeit Gottes größer ist als die der Menschen ?»

«Ich hoffe es, Herr. Ich glaube es. Für mich und für mein Kind, dem du, wie ich hoffe, den Verstand und die Beweglichkeit wiedergeben wirst. Man sagt, daß du das Leben bist ...» und sie weint.

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«Ich bin das Leben, und wer an mich glaubt, wird das Leben des Geistes und der Glieder haben. Ich will!» Jesus hat diese Worte mit lauter Stimme ausgerufen; und nun legt er seine Hand auf das reglose Geschöpf, und dieses zittert, lächelt und sagt: «Mama!»

«Sie bewegt sich! Sie lächelt! Sie hat gesprochen! Fabius! Herrin!» Die beiden Frauen haben die Phasen des Wunders verfolgt und sie laut verkündet. Sie haben nach dem Vater gerufen, der sich einen Weg durch die Menge bahnt und zu den Frauen gelangt, als diese schon vor Jesus knien und weinen. Die Dienerin sagt: «Ich habe es dir doch gesagt, daß er mit allen Mitleid hat.» Und die Mutter sagt: «Und nun verzeihe mir auch meine Sünde.»

«Zeigt dir denn der Himmel durch die gewährte Gnade nicht, daß dir dein Fehler verziehen ist? Steh auf und geh den neuen Weg mit deiner Tochter und dem Mann, den du erwählt hast. Geh. Der Friede sei mit dir. Und auch mit dir, kleines Mädchen. Und mit dir, treue Israelitin. Viel Frieden dir für deine Treue zu Gott und der Tochter der Familie, der du dienst und die durch dein Herz dem Gesetz immer nahegestanden hat. Und Friede auch dir, Mann, der du dem Menschensohn mehr Ehrerbietung entgegengebracht hast als viele andere in Israel.»

Er verabschiedet sich, während das Volk sich von dem Alten abwendet und sich nun für das neue Wunder an dem gelähmten und stummen Mädchen interessiert, das vielleicht an den Folgen einer Hirnhautentzündung gelitten hat und jetzt fröhlich umherhüpft und die wenigen Worte wiederholt, die es vielleicht noch aus der Zeit vor seiner Erkrankung im Gedächtnis behalten hat: «Vater, Mama, Elisa. Die schöne Sonne! Die Blumen... !»

Jesus will gehen, aber von der schon etwas zurückliegenden Weggabelung, an der die Leute, denen das Wunder gewährt wurde, ihre Esel gelassen haben, sind zwei klagende Hilferufe in dem so typischen hebräischen Tonfall zu hören: «Jesus, Herr! Sohn Davids, erbarme dich meiner!»Und dann, um das Geschrei der Menge zu übertönen, die sagt: «Schweigt. Laßt den Meister gehen. Der Weg ist weit, und die Sonne brennt immer stärker. Laßt ihn vor der größten Hitze die Hügel erreichen», rufen sie noch einmal lauter: «Jesus, Herr! Sohn Davids, erbarme dich meiner!»

Jesus bleibt wieder stehen und sagt: «Geht und holt sie, die mich rufen, und führt sie zu mir.»

Einige Gutwillige gehen. Als sie zu den beiden Blinden kommen, sagen sie: «Kommt, er hat Erbarmen mit euch. Steht auf, denn er will euch erhören. Er hat uns geschickt, um euch in seinem Namen zu holen.» Und sie versuchen, die beiden Blinden durch die Menge zu führen.

Einer der beiden läßt sich führen; der andere, der jüngere und vielleicht gläubigere, kommt der Aufforderung der Helfer zuvor und geht allein,

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mit seinem vor sich ausgestreckten Stock und dem charakteristischen Lächeln und Ausdruck der Blinden auf dem nach oben, zum Licht gewandten Gesicht... Und es scheint, daß sein Engel ihn leitet, so rasch und sicher geht er. Wenn seine Augen nicht weiß wären, könnte man kaum glauben, daß er blind ist. Er kommt als erster bei Jesus an, der ihn anhält und sagt: «Was soll ich für dich tun?»

«Ich möchte sehen, Meister. Gewähre, o Herr, daß meine Augen und die Augen meines Gefährten sich öffnen.» Der andere Blinde ist nun auch da, und man fordert ihn auf, neben seinem Gefährten niederzuknien.

Jesus legt seine Hände auf die zu ihm erhobenen Gesichter und sagt: «Eure Bitte sei euch gewährt. Geht. Euer Glaube hat euch gerettet!»

Er nimmt die Hände weg, und zwei Ausrufe ertönen von den Lippen der Blinden: «Ich kann sehen, Uriel!» «Ich kann sehen, Bartimäus!»Und dann beide zusammen: «Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Gepriesen sei, der dich gesandt hat! Ehre sei Gott! Hosanna dem Sohne Davids!» Nun verneigen sie sich bis zur Erde, um die Füße Jesu zu küssen. Dann stehen die beiden jetzt nicht mehr Blinden auf, und der Uriel genannte sagt: «Ich gehe und zeige mich meinen Verwandten, und dann komme ich zurück und folge dir, o Herr.» Bartimäus indessen sagt: «Ich verlasse dich nicht mehr. Ich werde die Meinen benachrichtigen lassen. Es wird auch so eine große Freude für sie sein. Aber von dir weggehen? Nein! Du hast mir das Augenlicht geschenkt, und ich weihe dir mein Leben. Erbarme dich des Wunsches deines geringen Knechtes.»

«Komm und folge mir. Der gute Wille macht alle Menschen gleich, und nur der ist groß, der am besten dem Herrn zu dienen versteht.»

Jesus setzt seinen Weg fort, begleitet von den Hosanna-Rufen des Volkes, und Bartimäus schließt sich diesem an, ruft mit den anderen Hosanna und sagt: «Ich bin gekommen, um ein Stück Brot zu erbitten, und ich habe den Herrn gefunden. Ich war arm, und nun bin ich ein Diener des heiligen Königs. Ehre sei dem Herrn und seinem Messias!»

636. JESUS KOMMT NACH BETHANIEN

Sie müssen auf halbem Weg zwischen Jericho und Bethanien gerastet haben, denn als sie die ersten Häuser Bethaniens erreichen, trocknet gerade der letzte Tau auf den Blättern und den Gräsern der Wiesen, und die Sonne steht hoch am Himmel.

Die Landarbeiter in der Umgebung werfen ihre Geräte weg und eilen zu Jesus, der im Vorübergehen Menschen und Pflanzen segnet, da ihn die Arbeiter inständig bitten. Frauen und Kinder laufen herbei mit den ersten Mandeln, die noch in ihrer feinen silbergrauen Plüschhülle stecken, und

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mit den letzten Blütenzweigen spätblühender Obstbäume. Ich stelle fest, daß hier in der Gegend von Jerusalem – vielleicht bedingt durch die Höhenlage oder durch die Winde, die von den höchsten Gipfeln Judäas kommen, oder wer weiß aus welchem anderen Grund, vielleicht auch wegen der Verschiedenartigkeit der Bäume – noch viele Obstbäume in Blüte stehen und leichten weißen bis rosaroten, über dem Grün der Wiesen schwebenden Wolken gleichen. Unter den hohen Stämmen zittern leise die zarten Blätter der Weinstöcke, wie große Schmetterlinge aus kostbarem Smaragd, die mit einem Faden an die rauhen Zweige gebunden sind.

Während Jesus am Brunnen ausruht, wo die Felder enden und das Städtchen beginnt, und fast ganz Bethanien ihn begrüßt, eilt Lazarus mit den Schwestern herbei, um sich vor dem Herrn niederzuwerfen. Und obwohl erst wenig mehr als zwei Tage vergangen sind, seit Maria ihren Meister verlassen hat, scheinen es Jahre zu sein, seit sie ihn gesehen hat; denn sie wird nicht müde, die staubigen Füße in den Sandalen zu küssen.

«Komm, mein Herr. Das Haus erwartet dich, um sich deiner Gegenwart zu erfreuen», sagt Lazarus und begibt sich an die Seite Jesu. Sie machen sich langsam auf den Weg, soweit die Leute es zulassen, die sie umringen, und die Kinder, die sich an das Gewand Jesu hängen, vor ihm herlaufen und dabei nach hinten und hinauf schauen, wobei sie stolpern und auch andere zum Stolpern bringen, so daß Jesus als erster und dann Lazarus und die Apostel die Kleinsten auf den Arm nehmen, um rascher voranzukommen.

An der Stelle, wo ein kleiner Weg zum Haus Simons des Zeloten führt, warten Maria und ihre Schwägerin, Maria Salome, und Susanna. Jesus bleibt stehen, um die Mutter zu begrüßen, und geht dann weiter bis zu dem großen, weitgeöffneten Tor, wo Maximinus, Sara, Marcella und hinter diesen die zahlreichen Bediensteten, angefangen von denen des Hauses bis zu den Landarbeitern, stehen. Alle geordnet, alle glücklich und aufgeregt in ihrer Freude, die sich in einem Hosanna Luft macht, und im Schwenken von Kopfbedeckungen und Schleiern und Werfen von Blumen und Myrten- und Lorbeerzweigen, von Rosen und Jasmin, deren prächtige Blüten in der Sonne glänzen oder sich wie strahlende Sterne vom braunen Erdboden abheben. Ein Duft von Blütenblättern und zertretenen aromatischen Blättern steigt von der sonnenerwärmten Erde auf, und Jesus schreitet über diesen duftenden Teppich.

Maria von Magdala, die ihm mit gesenktem Blick folgt und sich bei jedem seiner Schritte bückt, gleicht einer Ährenleserin, die dem Garbenbinder folgt und jeden Zweig, jede Blüte und sogar jedes Blütenblatt aufhebt, auf das die Füße Jesu getreten sind.

Maximinus gibt Anweisung, die schon vorbereiteten Süßigkeiten an die Kinder zu verteilen, um das Tor schließen zu können und den Gästen

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etwas Ruhe zu verschaffen. Übrigens eine praktische Art, die Kinder vom Herrn abzulenken und sie fortzuschicken, ohne daß sich jammernde und weinende Chöre bilden. Die Diener gehorchen und tragen Körbe voller Küchlein mit weißbraunen Mandeln hinaus auf die Straße.

Und während die Kleinen sich dort zusammendrängen, schicken andere Diener die Erwachsenen fort, unter denen sich auch Zachäus und die vier von Jericho befinden, also Joel, Judas, Eliel und Elkana, zusammen mit anderen, die ich nicht erkenne, auch weil sie alle das Gesicht verhüllt haben, da ein ziemlich heftiger Wind den Staub der Straße aufwirbelt und die Sonne schon stark brennt.

Doch Jesus, der schon ein gutes Stück gegangen ist, wendet sich um und sagt: «Wartet. Ich muß noch jemandem etwas sagen.» Er begibt sich zu den Brüdern Johannas, nimmt sie beiseite und sagt: «Ich bitte euch, geht zu Johanna und richtet ihr aus, daß sie zu mir kommen soll mit allen Frauen, die bei ihr sind, und mit Annalia, der Jüngerin von Ophel. Sie soll morgen kommen. Denn morgen abend beginnt der Sabbat, und ich möchte ihn mit den Freunden von Bethanien verbringen. In Frieden.»

«Wir werden es ihr ausrichten, Herr, und Johanna wird kommen.»

Jesus entläßt sie und wendet sich an Joel: «Teile Nikodemus und Joseph mit, daß ich angekommen bin und am Tag nach dem Sabbat in die Stadt gehen werde.»

«Oh, sei vorsichtig, Herr!» sagt der gute Schriftgelehrte besorgt.

«Geh und sei stark! Wer gerecht handelt und an meine Wahrheit glaubt, darf keine Furcht haben; er muß sich vielmehr freuen, denn die alte Verheißung geht in Erfüllung.»

«Oh, ich werde aus Jerusalem fliehen, Herr. Ich bin ein Mensch mit schwacher Gesundheit; du siehst es und du weißt, daß ich deshalb auch verspottet werde. Ich könnte es nicht mitansehen, wenn sie ...»

«Dein Engel wird dich leiten. Geh in Frieden.»

«Werde ich dich noch einmal sehen, Herr?»

«Gewiß wirst du mich noch einmal sehen. Aber solange du mich nicht wiedersiehst, denke daran, daß deine Liebe mir sehr viel Freude bereitet hat in den Stunden der Schmerzen.»

Joel ergreift die Hand, die Jesus ihm auf die Schulter gelegt hat, und drückt sie an seine Lippen und küßt sie; durch den dünnen Schleier der Kopfbedeckung fallen Tränen auf die Hand Jesu. Dann entfernt sich Joel, und Jesus geht zu Zachäus: «Wo sind die Deinen?»

«Sie sind am Brunnen geblieben, Herr. Ich habe ihnen gesagt, daß sie dort bleiben sollen.»

«Begib dich zu ihnen und geh mit ihnen nach Bethphage, wo meine ältesten und getreuesten Jünger sind. Sage Isaak, ihrem Oberhaupt, daß sie sich in der Stadt verteilen sollen, um alle Gruppen von Jüngern zu benachrichtigen, daß ich am Morgen nach dem Sabbat um die dritte

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Stunde von Bethphage kommend in Jerusalem einziehen und feierlich zum Tempel hinaufreiten werde. Sage Isaak, daß diese Nachricht nur für die Jünger ist. Er wird verstehen, was ich damit meine.»

«Auch ich verstehe es, Meister. Du willst die Juden überraschen, damit sie deinen Einzug nicht verhindern können.»

«So ist es. Tue also, wie ich dir sage, und denke daran, daß es ein vertraulicher Auftrag ist. Ich bediene mich deiner und nicht des Lazarus.»

«Und das beweist mir, daß deine Güte mir gegenüber ohne Maß ist. Ich danke dir, Herr.» Er küßt die Hand des Meisters und geht.

Jesus will zu seinen Gastgebern zurückkehren. Doch vom Tor her, durch das die letzte Gruppe von den Dienern eben hinausgeschoben wird, kommt ein Jüngling gelaufen. Er wirft sich Jesus zu Füßen und ruft aus: «Segne mich, Meister! Erkennst du mich wieder?» Und er erhebt das Antlitz, das nicht verhüllt ist.

«Ja, du bist Joseph, genannt Barnabas, der Schüler des Gamaliel. Du bist mir bei Gischala begegnet.»

«Und ich folge dir schon seit vielen Tagen. Ich war in Silo, als ich von Gischala kam, wohin ich mit dem Rabbi gegangen war in der Zeit, in der du nicht da warst. Ich bin dortgeblieben und habe bis zum Mond des Nisan die Schriftrollen studiert. Ich war in Silo, als du dort gesprochen hast, und ich bin dir nach Libona und nach Sichern gefolgt. Dann habe ich in Jericho auf dich gewartet, denn ich hatte erfahren, daß du...» Er unterbricht sich plötzlich, als sei ihm bewußt geworden, daß er im Begriff war, etwas zu sagen, was er verschweigen muß.

Jesus lächelt sanft und sagt: «Die Wahrheit drängt sich gewaltsam auf wahrheitsliebende Lippen und durchbricht oft die Schranken, die die Klugheit vor den Lippen errichtet. Aber ich werde deinen Gedanken zu Ende führen: "denn du hattest von Judas Iskariot, der in Sichern geblieben war, erfahren, daß ich nach Jericho gehen würde, um meine Jünger zu treffen und ihnen Anweisungen zu geben." Und du bist dorthin gegangen, um mich zu erwarten, ohne dich darum zu kümmern, daß man dich sehen könnte, daß du Zeit verlieren und an der Seite deines Meisters Gamaliel fehlen würdest.»

«Er wird mich nicht tadeln, wenn er erfährt, daß ich mich verspätet habe, weil ich dir gefolgt bin. Ich werde ihm deine Worte als Geschenk überbringen.»

«Oh, der Rabbi Gamaliel braucht keine Worte. Er ist der weise Rabbi Israels!»

«Ja, kein anderer Rabbi kann ihn belehren über Vergangenes, keiner, denn er weiß alles Frühere. Nur du weißt mehr, denn du hast neue Worte voll des frischen Lebens, des Neuen. Deine Worte sind wie der Lebenssaft im Frühling. Und es ist Rabbi Gamaliel, der dies gesagt und hinzugefügt hat, daß die nun vom Staub der Jahrhunderte bedeckten Weisheiten, die

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trocken und matt geworden sind, lebendig und strahlend werden, wenn dein Wort sie erklärt. Oh, ich werde ihm deine Worte überbringen.»

«Und meinen Gruß. Sage ihm, er möge sein Herz, seinen Verstand, seine Augen und seine Ohren öffnen, denn seine mehr als zwanzig Jahre alte Frage wird beantwortet werden. Geh nun. Gott sei mit dir.»

Der Jüngling verneigt sich nochmals, um die Füße des Meisters zu küssen, und geht dann.

Nun können die Diener endlich das Tor schließen, und Jesus kann sich zu seinen Freunden begeben.

«Ich habe mir erlaubt, für morgen die Jüngerinnen hierher einzuladen», sagt Jesus, stellt sich neben Lazarus und legt ihm einen Arm um die Schultern.

«Das hast du gut gemacht, Herr. Mein Haus ist dein Haus, du weißt es. Deine Mutter hat es vorgezogen, im Haus des Simon zu wohnen, und ich achte ihren Wunsch. Doch hoffe ich, daß du unter meinem Dach bleiben wirst.»

«Ja... Obwohl auch das andere dein Dach ist. Einer der ersten Beweise deiner Großzügigkeit mir und meinen Freunden gegenüber. Wieviel hast du mir schon geholfen, mein Freund!»

«Und ich hoffe, dir noch lange nützlich sein zu können. Doch deine Worte entsprechen nicht ganz der Wahrheit, weiser Meister. Nicht ich habe mich dir gegenüber großzügig erwiesen, sondern du dich mir gegenüber. Ich bin dein Schuldner. Und wenn ich dir einen kleinen Teil meiner Schulden zurückerstatte, was ist diese elende Gabe schon im Vergleich zu den Schätzen, die ich von dir empfangen habe? "Gebt, und es wird euch gegeben werden", hast du gesagt. "Ein gerütteltes, übervolles Maß wird euch in den Schoß gelegt werden, und ihr werdet das Hundertfache erhalten von dem, was ihr gegeben habt", sagst du. Ich habe schon hundertmal das Hundertfache erhalten, bevor ich etwas gegeben habe. Oh, ich erinnere mich unserer ersten Begegnung! Du, der Herr und Gott, dem zu nahen die Seraphim nicht würdig sind, bist zu mir gekommen, der ich einsam und betrübt war... und mich mit meiner Traurigkeit hierher zurückgezogen hatte... Du bist zu Lazarus gekommen, dem Menschen, der von allen gemieden wurde mit Ausnahme von Joseph, Nikodemus und meinem treuen Freund Simon, der selbst als lebendig Begrabener nicht aufgehört hat, mich zu lieben... Du wolltest nicht, daß meine Freude, dich zu sehen, getrübt würde durch die gehässige Verachtung der Welt... Unsere erste Begegnung! Ich könnte dir jedes deiner Worte von damals wiederholen... Was hatte ich dir damals schon gegeben, da ich dich nie zuvor gesehen hatte, um von dir sofort das Hundertfache des Hundertfachen zu erhalten?»

«Deine Gebete zum Allerhöchsten, zu unserem Vater. Unserem Vater, Lazarus. Meinem und deinem. Meinem als Wort und Mensch. Deinem als

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Mensch. Als du mit so viel Vertrauen betetest, hast du dich mir da nicht schon ganz gegeben? Du siehst also, daß ich dir, wie es gerecht ist, das Hundertfache von dem gegeben habe, was du mir gegeben hattest.»

«Deine Güte ist unendlich, Meister und Herr. Du belohnst mit göttlicher Großzügigkeit schon im voraus, sobald du einen als deinen Diener erkennst, selbst wenn dieser sich dessen noch nicht bewußt ist.»

«Meinen Freund, nicht meinen Diener. Denn wahrlich, jene, die den Willen meines Vaters tun und der Wahrheit folgen, die er gesandt hat, sind meine Freunde und nicht mehr meine Diener. Sie sind noch mehr: sie sind meine Brüder, da ich als erster den Willen meines Vaters tue. Wer also tut, was ich tue, ist mein Freund; denn nur der Freund tut spontan, was sein Freund tut.»

«So soll es immer bleiben zwischen dir und mir, Herr. Wann wirst du in die Stadt gehen?»

«Am Morgen nach dem Sabbat.»

«Ich werde mitkommen.»

«Nein, du wirst nicht mit mir kommen. Ich werde dir später erklären warum. Ich möchte dich um etwas anderes bitten ...»

«Ich bin dir immer zu Diensten, Meister. Auch ich möchte etwas mit dir besprechen...»

«Wir werden später miteinander reden.»

«Möchtest du, daß wir den Sabbat unter uns feiern, oder soll ich die üblichen Freunde einladen?»

«Ich würde dich bitten, es nicht zu tun. Ich habe den lebhaften Wunsch, diese Stunden allein mit euch, den klugen und friedfertigen Freunden zu verbringen, ohne mir inneren oder äußeren Zwang antun zu müssen; in der süßen Freiheit dessen, der unter so lieben Freunden weilt, daß er sich bei ihnen wie zu Hause fühlt.»

«Wie du willst, Herr. Ja... eigentlich habe ich mir gerade das gewünscht. Aber es schien mir Egoismus meinen Freunden gegenüber zu sein; denn wenn sie auch nicht mir dir, dem wahren Freund, gleichzusetzen sind, so habe ich sie doch lieb. Aber da du es so haben willst... Bist du müde, Herr? Oder besorgt ... ?» Lazarus fragt mehr mit Blicken als mit Worten seinen Freund und Meister, der ihm nur mit einem Aufleuchten seiner etwas traurigen, etwas abwesend dreinschauenden Augen und dem schwachen Lächeln seines Mundes antwortet.

Jesus und Lazarus sind allein an dem Becken zurückgeblieben, in dem der Wasserstrahl ruhig vor sich hinplätschert. Die anderen sind alle ins Haus gegangen, und man hört Stimmen und das Klirren von Eßgeschirr...

Maria von Magdala streckt zwei- oder dreimal ihren blonden Kopf zur Türe heraus, die mit einem schweren, sich leicht im Wind bewegenden Vorhang verhangen ist. Der Wind wird stärker, und der Himmel bedeckt sich mit immer dunkleren Wolkenfetzen.

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Lazarus schaut hinauf und prüft den Himmel. «Vielleicht gibt es ein Gewitter», sagt er. Und fügt hinzu: «Es würde dazu beitragen, daß die widerspenstigen Knospen sich öffnen, die dieses Jahr so lange brauchen... Vielleicht waren es die späten Fröste, die das Wachstum verzögert haben. Auch meine Mandelbäume haben darunter gelitten, und ein Teil der Ernte ist verlorengegangen. Joseph sagte mir, daß einer seiner Obstgärten vor dem Gerichtstor dieses Jahr vollkommen unfruchtbar zu sein scheint. Die Bäume halten ihre Knospen zurück, als seien sie verhext. Und er ist am überlegen, ob er sie stehenlassen oder als Holz verkaufen soll. Nicht eine einzige Blüte. Wie sie im Tebet waren, so sind sie bis heute geblieben. Harte, verschlossene Knospen, die einfach nicht größer werden. Allerdings weht ein starker Nordwind in dieser Gegend; und diesen Winter haben wir oft Nordwind gehabt. Auch meinen Garten auf der anderen Seite des Kedron hat er geschädigt. Aber das Phänomen im Garten des Joseph ist so eigenartig, daß viele hingehen, um den Ort zu besichtigen, der sich nicht zum Frühling bekennen will.»

Jesus lächelt...

«Du lächelst? Warum?»

«Über die Kindlichkeit dieser ewigen Kinder, der Menschen. Alles was eigenartig ist, fasziniert sie... Aber der Obstgarten wird blühen, zu seiner Zeit.»

«Die Zeit ist schon vorbei, Herr. Wann hat man je gesehen, daß beim Mond des Nisan so viele Bäume am selben Ort noch nicht geblüht haben? Wie lange muß denn dieser Ort noch warten, bis die richtige Zeit gekommen ist?»

«So lange, bis er mit seinen Blüten Gott verherrlichen kann.»

«Ach so! Ich verstehe! Du wirst hingehen und den Ort segnen, aus Liebe zu Joseph, und der Obstgarten wird erblühen und Gott und seinen Messias durch ein neues Wunder verherrlichen. So ist es! Du gehst hin... Darf ich es Joseph schon sagen, wenn ich ihn sehe?»

«Wenn du glaubst, es ihm sagen zu müssen... Ja, ich werde hingehen ...»

«An welchem Tag, Herr? Ich möchte auch dabei sein.»

«Bist denn auch du ein ewiges Kind?» Jesus lächelt noch mehr und schüttelt gutmütig das Haupt über die Neugier des Freundes, der ausruft: «Oh, wie bin ich glücklich, dich erheitert zu haben, Herr. Ich sehe dein Antlitz wieder strahlend lächeln, wie ich es schon lange nicht mehr gesehen habe! Also... darf ich kommen?»

«Nein, Lazarus. Am Rüsttag vor dem Passahfest brauche ich dich hier.»

«Aber am Rüsttag bereitet man sich doch ausschließlich auf das Passahfest vor! Und du... Meister, warum willst du etwas tun, weswegen man dich tadeln wird? Geh doch an einem anderen Tag dorthin ...»

«Ich werde gerade am Rüsttag hingehen müssen. Aber ich werde nicht der einzige sein, der Dinge tut, die nichts mit der Vorbereitung auf das alte

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Passahfest zu tun haben. Auch die Strenggläubigsten in Israel, wie Elchias, Doras, Simon, Sadok und Ismael, und sogar Annas und Kaiphas werden ganz neuartige Dinge tun ...»

«Wird denn ganz Israel von Sinnen sein?!»

«Du sagst es.»

«Aber du... Oh, es regnet schon. Gehen wir ins Haus, Meister... Ich... ich bin in Sorge... Wirst du mir nicht erklären ... ?»

«Ja, bevor ich dich verlasse, werde ich dir alles erklären... Da kommt deine Schwester und bringt ein schweres Tuch. Sie fürchtet, daß wir naß werden. Oh, Martha! Du bist immer fürsorglich und rührig. Aber es regnet nicht viel.»

«Meine gute Schwester! Besser: meine Schwestern. Nur sind beide wie zwei kleine Mädchen, die keine Bosheit kennen; Maria ebenso wie Martha. Als Maria vorgestern von Jericho kam, glich sie wahrhaft einem Mädchen. Die Zöpfe hingen ihr herunter, weil sie die Haarnadeln verkauft hatte, um Sandalen für einen kleinen Jungen zu kaufen, und die dünnen Nadeln aus Eisen ihr schweres Haar nicht halten konnten. Sie lachte, als sie beim Aussteigen aus dem Wagen zu mir sagte: "Bruder, nun weiß ich, was es heißt, etwas verkaufen zu müssen, um etwas kaufen zu können, und wie schwierig für einen Armen selbst die einfachsten Dinge sind, wie zum Beispiel die Haare mit Nadeln zusammenzuhalten, von denen man zwanzig für eine Didrachme erhält. Ich werde es mir merken und in Zukunft noch barmherziger mit den Armen sein." Wie hast du sie doch verändert, Herr!»

Sie, von der Jesus und Lazarus beim Betreten des Hauses gesprochen haben, wartet bereits mit Krügen und Schüsseln, um ihren Herrn zu bedienen. Sie will niemandem die Ehre abtreten, ihm zu dienen. Und sie gibt sich nicht zufrieden, bis sie nicht für jede nur mögliche Erquickung für Leib und Seele ihres Meisters gesorgt hat und ihn mit neuen Sandalen in den für ihn bestimmten Raum gehen sieht, wo ihn schon die Mutter mit einem frischen, nach Sonne duftenden Linnengewand erwartet...

637. DER FREITAG VOR DEM EINZUG IN JERUSALEM; 1. JESUS UND JUDAS VON KERIOTH

«Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt. Ich werde heute mit Judas und Jakobus hierbleiben. Ich erwarte die Jüngerinnen», sagt Jesus zu seinen Aposteln, die sich im Laubengang des Hauses versammelt haben. Und er fügt hinzu: «Sorgt aber dafür, daß ihr alle vor Sonnenuntergang zurück seid. Und seid vorsichtig. Versucht unbemerkt zu bleiben, um Repressalien zu vermeiden.»

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«Oh, ich bleibe hier. Was soll ich in Jerusalem?» sagt Petrus.

«Ich hingegen werde gehen. Mein Vater erwartet mich ganz sicher. Er möchte uns den Wein schenken. Ein altes Versprechen, das er wie immer halten wird, denn mein Vater ist redlich. Beim Passahmahl werdet ihr sehen. Was für ein Wein! Die Weinberge meines Vaters in Rama sind in der ganzen Umgebung bekannt!» sagt Thomas.

«Auch Lazarus hat herrliche Weine. Ich erinnere mich noch an das Mahl des Lichterfestes...» sagt Matthäus genüßlich.

«Dann wird also morgen mehr denn je deine Erinnerung aufgefrischt, denn ich glaube, Lazarus plant für morgen abend ein großes Gastmahl. Ich habe schon gewisse Vorbereitungen gesehen...» sagt Jakobus des Zebedäus.

«Ja? Werden denn auch noch andere kommen?» möchte Andreas wissen.

«Nein. Ich habe Maximinus gefragt, und er hat mir gesagt, daß sonst niemand eingeladen ist.»

«Ach... Sonst hätte ich das neue Gewand angezogen, das mir meine Frau geschickt hat», sagt Philippus.

«Ich werde es tun. Ich wollte es am Passahfest anziehen. Aber ich ziehe es morgen an, denn morgen haben wir sicher mehr Ruhe als in einigen Tagen...» sagt Bartholomäus nachdenklich.

«Ich werde mich ganz neu einkleiden für den Einzug in die Stadt. Und du, Meister?» fragt Johannes.

«Ich auch. Ich werde das Purpurgewand anziehen.»

«Dann wirst du einem König gleichen!» sagt der Lieblingsjünger bewundernd, der ihn in Gedanken schon in dem herrlichen Gewand sieht...

«Ja, wenn ich nicht daran gedacht hätte! Den Purpur habe ich schon vor Jahren besorgt...» prahlt Iskariot.

«Wirklich? Oh, wer hätte das gedacht ... Der Meister ist immer so bescheiden.»

«Zu bescheiden! Nun ist es aber an der Zeit, daß er König wird. Genug des Wartens! Wenn er nicht ein König auf dem Thron sein will, dann soll er wenigstens seiner Würde entsprechend gekleidet sein. Ich denke an alles.»

«Du hast recht, Judas. Du kennst dich aus in der Welt. Wir sind nur arme Fischer...» sagen jene vom See demütig... Wie so oft im Licht der Welt, im trügerischen Zwielicht der Welt, erscheint das minderwertige Metall eines Judas edler als das rohe, aber reine, ehrliche und aufrichtige Gold der galiläischen Herzen...

Jesus, der mit dem Zeloten und den Söhnen des Alphäus gesprochen hat, wendet sich um und betrachtet Iskariot und dann die ehrlichen und demütigen Männer, die sich schämen, weil sie im Vergleich zu Judas so... mangelhaft sind... und er schüttelt den Kopf, ohne etwas zu sagen. Doch

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als er sieht, daß Iskariot sich die Sandalen schnürt und seinen Mantel umlegt, so als wolle er fortgehen, fragt er: «Wohin gehst du?»

«In die Stadt.»

«Ich habe doch gesagt, daß ich dich mit Jakobus hierbehalte.»

«Ach so! Ich dachte, du hättest Judas, deinen Bruder, gemeint. Dann ... bin ich also praktisch ein Gefangener... Ha, ha, ha!» Er lacht bösartig.

«Ich glaube, in Bethanien gibt es weder Ketten noch Gitter. Es gibt nur den Wunsch deines Meisters. Und ich wäre glücklich, sein Gefangener zu sein», bemerkt der Zelote.

«Oh, gewiß! Es war nur ein Scherz... Nur... Ich hätte eben gerne Nachrichten von meiner Mutter gehabt. Sicher sind auch von Kerioth Pilger nach Jerusalem gekommen, und...»

«Nein. In zwei Tagen werden wir alle in Jerusalem sein. Jetzt bleibst du hier!» sagt Jesus entschieden.

Judas besteht nicht darauf. Er legt den Mantel ab und sagt: «Also? Wer geht in die Stadt? Es wäre gut zu wissen, wie die allgemeine Stimmung ist ... Was die Jünger tun ... Ich wollte mich auch bei Freunden erkundigen ... Ich hatte es Petrus versprochen...»

«Das ist jetzt nicht wichtig. Du bleibst hier. Nichts von alledem, was du sagst, ist nötig, wirklich nötig...»

«Aber wenn Thomas geht ...»

«Meister, auch ich möchte gehen, denn ich habe es ebenfalls versprochen. Ich habe Freunde im Haus des Annas und ...»

«Dort würdest du hingehen, mein Sohn? Und wenn sie dich gefangennehmen?» fragt Salome, die nähergekommen ist.

«Wenn sie mich gefangennehmen? Was habe ich Böses getan? Nichts. Ich brauche den Herrn nicht zu fürchten. Daher werde ich auch nicht zittern, wenn sie mich gefangennehmen sollten...»

«Oh, der tapfere Löwe! Du wirst nicht zittern? Aber weißt du denn nicht, wie sehr sie uns hassen? Es bedeutet den Tod, wenn sie uns gefangennehmen...» will ihn Iskariot erschrecken.

«Und du, warum willst du dann gehen? Hast du vielleicht Straffreiheit? Was hast du getan, um sie zu haben? Sage es mir, dann mache ich es ebenso.»

Judas macht eine Geste der Angst und des Zornes, aber das Gesicht des Johannes ist so unschuldig, daß sich der Verräter sofort beruhigt. Er begreift, daß weder Bosheit noch Argwohn in diesen Worten liegen, und sagt: «Nichts habe ich getan. Ich habe nur einige gute Freunde beim Prokonsul und daher ...»

«Also, wer kommen will, soll kommen, denn es regnet nicht mehr. Hier verlieren wir nur Zeit, und um die sechste Stunde regnet es dann vielleicht schon wieder. Wer kommen will, soll sich fertig machen», mahnt Thomas.

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«Soll ich gehen, Meister?» fragt Johannes.

«Geh.»

«Da seht ihr es wieder! Immer dasselbe! Er kann gehen, die anderen auch. Ich nicht. Immer nur ich nicht.»

«Ich werde mich bemühen, etwas über deine Mutter zu erfahren», sagt Johannes, um ihn zu beruhigen.

«Auch ich. Ich komme mit dir und Thomas», sagt der Zelote und fügt noch hinzu: «Mein Alter wird die Jugend zügeln, Meister. Und außerdem kenne ich die Leute von Kerioth gut. Wenn ich jemanden sehe, gehe ich zu ihm. Ich werde dir Nachricht von deiner Mutter bringen, Judas. Sei brav! Sei beruhigt! Es ist Passah, Judas. Alle fühlen wir den Frieden dieses Festes, die Freude dieses Feiertages. Warum willst nur du immer so unruhig, so finster, so mißmutig und so friedlos sein? Passah ist der Vorübergang des Herrn... Passah ist das Fest der Befreiung für uns Hebräer, der Befreiung von einem harten Joch. Gott der Allmächtige hat es von uns genommen. Nun, da sich das Ereignis der alten Zeit nicht wiederholen kann, bleibt das Symbol, die Befreiung des Einzelnen... Passah: Befreiung der Herzen, Reinigung, Taufe, wenn du willst, mit dem Blut des Lammes, damit die feindlichen Mächte denen nicht mehr schaden können, die damit gezeichnet sind. Es ist so schön, das neue Jahr mit diesem Fest der Reinigung, der Befreiung, der Anbetung unseres Erlösergottes zu beginnen...» Oh, entschuldige, Meister! Ich habe geredet, da ich hätte schweigen sollen, denn es ist deine Sache, unsere Herzen zu belehren...»

«Dasselbe habe auch ich gedacht, Simon. Genau dasselbe: daß ich nun zwei Meister anstelle von einem habe. Und das scheint mir zu viel!» sagt Iskariot zornig.

Petrus... Oh! Petrus kann sich diesmal nicht beherrschen und platzt heraus: «Und wenn du nicht gleich aufhörst, dann wirst du sehr bald einen dritten Meister haben, und der bin ich. Und ich versichere dir, ich werde überzeugendere Argumente gebrauchen als nur Worte ...»

«Würdest du die Hand gegen einen Gefährten erheben? Nach all deinen Bemühungen, den alten Galiläer in dir auszumerzen, kommt deine wahre Natur nun wieder zum Vorschein?»

«Sie kommt nicht zum Vorschein. Sie ist immer deutlich sichtbar gewesen. Ich verstelle mich nicht. Aber um einen Wildesel wie dich zu zähmen, gibt es nur ein Mittel: Prügel! Schäme dich, die Güte des Meisters und unsere Geduld zu mißbrauchen! Komm, Simon! Komm Johannes! Komm Thomas! Leb wohl, Meister. Auch ich werde gehen, denn wenn ich hierbleibe... nein, weiß Gott, dann beherrsche ich mich nicht mehr.» Und Petrus nimmt seinen Mantel, der auf einem Stuhl liegt, und wirft ihn sich in großer Hast und voller Zorn über. Aber er ist so aufgeregt, so verärgert, daß er ihn versehentlich verkehrt umlegt und Johannes ihn darauf aufmerksam machen und ihm helfen muß, sich ordentlich anzuziehen. Dann stürzt er

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davon und stampft dabei auf den Boden, um auf diese Weise etwas von seinem Zorn loszuwerden. Er gleicht einem wildgewordenen jungen Stier.

Die anderen... Oh, die Gesichter der anderen sind offene Bücher, in denen man nur allzu deutlich lesen kann. Der alte Bartholomäus erhebt sein scharfes Profil zum immer noch gewittrigen Himmel, und es scheint, als wolle er die Winde prüfen, um nicht in die Gesichter sehen zu müssen; denn das Gesicht Jesu ist zu traurig und das Gesicht des Judas zu heimtückisch. Matthäus und Philippus schauen Thaddäus an, in dessen Augen, die so sehr den Augen Jesu gleichen, Zorn glüht, und beide haben denselben Gedanken: sie nehmen ihn in ihre Mitte, schieben ihn auf den Weg, der zum Haus des Simon führt, und sagen: «Deine Mutter braucht uns für eine Arbeit. Komm auch du, Jakobus des Zebedäus.» Und sie nehmen auch den Sohn der Salome mit. Andreas sieht Jakobus des Alphäus an, und Jakobus sieht ihn an: zwei Gesichter, die denselben beherrschten Schmerz ausdrücken. Und da sie nicht wissen, was sie sagen sollen, fassen sie einander wie zwei Kinder an den Händen und entfernen sich traurig. Von den Jüngerinnen ist nur Salome da, die es nicht wagt, sich zu rühren oder etwas zu sagen, sich aber auch nicht zum Gehen entschließen kann. Es scheint, als wolle sie durch ihre Gegenwart den unwürdigen Apostel am Reden hindern. Zum Glück ist niemand von der Familie des Lazarus anwesend. Auch Maria, die Mutter des Herrn, ist nicht da.

Judas ist nun allein mit Jesus und Salome. Er will nicht mit ihnen zusammen sein, kehrt ihnen den Rücken und geht zur Jasminlaube.

Jesus blickt ihm nach, beobachtet ihn. Er sieht, daß Judas – nachdem er so getan hat, als würde er sich setzen – hinten wieder hinausschleicht, zwischen den Hecken aus Rosen, Lorbeer und Buchsbaum hindurch, die den eigentlichen Garten von den Kräuterbeeten trennen, wo die Bienenstöcke stehen. Von dort aus kann man durch eine Seitentür in der Mauer des großen Gartens hinausgelangen. Dieser Garten ist ein wahrer Park, der auf zwei Seiten von sehr hohen, doppelten Hecken umgeben ist, die eine Art Allee bilden, nur hier und da unterbrochen von Gittertoren, durch die man auf die Wiesen und Felder und in die Olivenhaine gelangen kann, und auch zum Haus des Simon; somit geht also der Garten in die Güter über, und die Hecken verbinden und trennen sie gleichzeitig. Auf den anderen beiden Seiten ist der Garten durch mächtige Mauern abgeschlossen, durch die man auf zwei Straßen gelangt: eine Hauptstraße und eine Nebenstraße, die in die Hauptstraße mündet, und diese führt durch Bethanien nach Bethlehem.

Die Augen Jesu, der sich auf die Zehenspitzen stellt und einige Schritte zur Seite geht, um zu sehen, was Iskariot macht, sprühen Flammen.

Maria Salome bemerkt es, ahnt – obgleich sie ihrer kleinen Statur wegen nicht viel sehen kann – was am Ende des Parkes vor sich geht, und murmelt: «Der Herr sei uns gnädig!»

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Jesus hört diesen Seufzer, wendet sich einen Augenblick um und sieht die gute, einfältige Jüngerin an, die zwar eine Anwandlung mütterlichen Stolzes gehabt haben mag, als sie einen Ehrenplatz für ihre Söhne erbat – die aber immerhin gute Apostel sind – dann aber demütig den Tadel Jesu angenommen hat, ohne gekränkt zu sein oder ihn zu verlassen. Sie ist vielmehr noch demütiger, noch diensteifriger dem Meister gegenüber geworden, folgt ihm wie ein Schatten, soweit es ihr irgend möglich ist, studiert selbst die kleinste Regung seines Gesichtes und bemüht sich, seinen Wünschen zuvorzukommen und ihm Freude zu bereiten. Auch jetzt versucht die gute, demütige Salome den Meister zu trösten, den Verdacht, unter dem er leidet, zu zerstreuen, und sagt: «Siehst du, er geht nicht weit. Er hat seinen Mantel dort hingeworfen und nicht wieder geholt. Er wird nur über die Wiesen gehen, um seine Laune auszutoben ... Judas würde nie in die Stadt gehen, ohne korrekt gekleidet zu sein.»

«Er würde auch nackt gehen, wenn er gehen wollte. Und tatsächlich... Schau! Komm hierher!»

«Oh, er versucht das Tor zu öffnen! Aber es ist geschlossen! Er ruft einen Knecht, der bei den Bienenstöcken arbeitet.»

Jesus ruft laut: «Judas, warte auf mich! Ich muß mit dir sprechen», und will gehen.

«Um Gotteswillen! Herr! Ich werde Lazarus rufen... deine Mutter... Geh nicht allein!»

Obwohl Jesus rasch geht, dreht er sich halb um und sagt: «Ich befehle dir, es nicht zu tun! Schweige vielmehr! Allen gegenüber. Wenn sie nach mir fragen, mache ich mit Judas einen kleinen Spaziergang. Wenn die Jüngerinnen kommen, sollen sie warten. Ich werde bald zurück sein.»

Salome regt sich nicht, wie auch Iskariot nicht reagiert; die eine am Haus, der andere am Gitter. Sie bleiben stehen, wo der Wille Jesu sie festhält. Die eine sieht ihn gehen, der andere sieht ihn kommen.

«Öffne das Tor, Jonas. Ich möchte mit meinem Jünger ein wenig hinausgehen. Und wenn du in der Nähe bleibst, brauchst du es hinter uns nicht wieder abzuschließen. Ich werde bald zurück sein», sagt Jesus gütig zu dem Landarbeiter, der mit dem großen Schlüssel in der Hand sprachlos dasteht. Das kleine Tor aus schwerem Eisen quietscht, als er es öffnet, und auch der Schlüssel knirscht beim Umdrehen.

«Ein Tor, das selten geöffnet wird», sagt der Diener lächelnd. «Ja, du bist eingerostet! Wenn man müßig ist, wird man rostig... Der Rost, der Staub, die Lausbuben... Es ist wie bei uns Menschen... Wenn wir nicht immer an unserer Seele arbeiten!»

«Gut, Jonas! Das ist ein weiser Gedanke, um den dich viele Rabbis beneiden würden.»

«Oh, es sind meine Bienen, die mich auf diese Gedanken bringen – und deine Worte. Ganz besonders deine Worte. Aber auch die Bienen belehren

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mich, denn nichts ist stumm, wenn man nur zu hören versteht. Und ich sage mir: Wenn sie, die Bienen, den Befehlen dessen gehorchen, der sie erschaffen hat, obgleich sie nur Tierchen sind und ich mir nicht vorstellen kann, wo sie ein Hirn und ein Herz haben könnten, wie könnte dann ich, der ich Hirn, Herz und Verstand habe, nicht tun, was sie tun, und fortwährend, unermüdlich arbeiten in Befolgung dessen, was der Meister uns lehrt, damit meine Seele immer schöner wird und rein von Rost, Staub, Schmutz, Stroh, Steinen und anderen Bosheiten, mit denen der höllische Feind sie bedroht.»

«Das hast du sehr schön gesagt. Mache es wie deine Bienen, und deine Seele wird ein reicher Bienenstock voll kostbarer Tugenden werden, und Gott wird kommen und sich daran erfreuen. Leb wohl, Jonas. Der Friede sei mit dir.»

Jesus legt seine Hand auf das graue Haupt des Dieners, der gebeugt vor ihm steht, und geht dann auf die Straße hinaus in Richtung der roten Kleefelder, die wie schöne dichte, weiche Teppiche daliegen und auf denen die Bienen gleich Fünkchen summend von Blüte zu Blüte fliegen.

Als sie sich so weit von der Mauer entfernt haben, daß niemand im Garten des Lazarus etwas hören kann, sagt Jesus: «Hast du gehört, was dieser Knecht gesagt hat? Er ist nur ein Landarbeiter. Wenn er ein paar Worte lesen kann, ist es schon viel... Und doch... Seine Worte könnten von meinen Lippen gekommen sein, ohne daß man mich als Meister für töricht halten würde. Er fühlt, daß man wachsam sein muß, damit die Feinde der Seele den Geist nicht zugrunderichten... Deshalb behalte ich dich bei mir, und du haßt mich dafür. Ich will dich vor ihnen schützen und vor dir selbst, und du haßt mich. Ich sage es dir noch einmal: Geh fort, Judas. Geh weit fort. Geh nicht nach Jerusalem hinein. Du bist krank. Es ist keine Lüge zu sagen, daß du zu krank bist, um am Passahfest teilnehmen zu können. Du wirst das nachträgliche Fest feiern. Das Gesetz erlaubt es, das Passahfest später zu feiern, wenn man durch Krankheit oder andere schwerwiegende Gründe verhindert ist, am eigentlichen, feierlichen Passahfest teilzunehmen. Ich werde Lazarus bitten – er ist ein kluger Freund und wird keine Fragen stellen – dich heute noch auf die andere Seite des Jordan zu begleiten.»

«Nein. Ich habe dir schon oft gesagt, daß du mich fortschicken sollst, aber du hast nicht gewollt. Jetzt bin ich es, der nicht will.»

«Du willst nicht? Du willst dich nicht retten? Hast du kein Mitleid mit dir selbst? Auch nicht mit deiner Mutter?»

«Du solltest sagen: "Hast du kein Mitleid mit mir?" Das wäre aufrichtiger.»

«Judas, mein unglücklicher Freund, meinetwegen bitte ich dich nicht. Deinetwegen, deinetwegen bitte ich dich. Schau, wir sind allein. Ich und du, allein. Du weißt, wer ich bin, und ich weiß, wer du bist. Es ist der letzte

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Augenblick der Gnade, der uns noch gewährt wird, um dein Verderben zu verhindern... Oh, grinse nicht so teuflisch, mein Freund! Verlache mich nicht, als ob ich ein Verrückter wäre, weil ich sage: "dein Verderben" und nicht meines. Für mich ist es kein Verderben. Aber für dich... Wir sind allein, ich und du, und über uns ist Gott... Gott, der dich noch nicht haßt. Gott, der diesen letzten Kampf zwischen Gut und Böse, die um deine Seele ringen, sieht. Über uns ist der Himmel, der uns beobachtet. Dieser Himmel, der sich bald mit Heiligen bevölkern wird. Schon frohlocken sie dort am Ort ihres Wartens, denn sie fühlen, daß die Freude naht... Judas, unter diesen ist auch dein Vater ...»

«Er war ein Sünder. Er ist nicht unter ihnen.»

«Er war ein Sünder, aber er ist nicht verdammt. Daher naht auch für ihn die Freude. Warum willst du ihm in seiner Freude einen Schmerz bereiten?»

«Er fühlt keinen Schmerz mehr. Er ist tot.»

«Nein, er steht nicht über dem Schmerz, dich schuldig zu wissen, dich als... Oh, laß mich dieses schreckliche Wort nicht aussprechen... !»

«Aber ja, ja! Sprich es aus! Ich sage es mir seit Monaten. Ich bin verdammt. Ich weiß es. Und daran ist nichts mehr zu ändern!»

«Alles! Judas, ich weine. Willst du die letzten Tränen des Menschensohnes verschulden ... ? Judas, ich bitte dich ... Bedenke, Freund: Der Himmel erfüllt meine Bitten, und du, und du ... Wirst du mich vergebens bitten lassen? Bedenke, wer bittend vor dir steht: der Messias Israels, der Sohn des Vaters... Judas, höre mich an! Halte ein, solange du noch kannst... !»

«Nein!»

Jesus bedeckt sein Antlitz mit den Händen und läßt sich am Rand der Wiese zu Boden fallen. Er weint lautlos, aber heftig, und seine Schultern werden von Schluchzen geschüttelt...

Judas betrachtet ihn, dort zu seinen Füßen, verzweifelt und weinend und von dem Wunsch erfüllt, ihn zu retten... und empfindet ein plötzliches Mitleid. Er sagt, nun nicht mehr in dem harten Ton eines wahren Satans, in dem er zuvor gesprochen hat: «Ich kann nicht fortgehen... Ich habe mein Wort gegeben...»

Jesus erhebt sein betrübtes Gesicht und unterbricht ihn: «Wem? Wem? Armen Menschen! Und du fürchtest, bei ihnen als ehrlos zu gelten? Hast du dich nicht vor drei Jahren mir übergeben? Und nun denkst du an die Meinung einer Handvoll Übeltäter und nicht an das Gericht Gottes? Oh! Was muß ich tun, Vater, um in ihm den Willen zu erwecken, nicht mehr zu sündigen?» Jesus senkt, von Schmerz überwältigt, das Haupt. Er gleicht schon dem leidenden Jesus in der Todesangst im Gethsemane.

Judas hat Mitleid mit ihm und sagt: «Ich bleibe. Leide nicht so! Ich bleibe... Hilf mir zu bleiben! Verteidige mich!»

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«Immer! Immer, wenn du nur willst. Komm. Es gibt keine Schuld, die ich nicht verstehe und nicht verzeihe. Sage: "Ich will", und ich werde dich erlösen...»

Jesus ist aufgestanden und hat Judas umarmt. Aber obwohl die Tränen des Gottmenschen auf das Haupt des Judas fallen, bleibt der Mund des Judas verschlossen. Er sagt nicht das verlangte Wort. Er sagt nicht einmal «Verzeihung», als Jesus in sein Haar flüstert: «Fühlst du nicht, daß ich dich liebe? Ich hätte dich tadeln müssen! Ich küsse dich. Ich hätte das Recht, dir zu sagen: "Bitte deinen Gott um Verzeihung", und ich verlange von dir nur den Willen, daß dir verziehen wird. Du bist so krank! Man kann von einem Schwerkranken nicht viel verlangen. Von allen Sündern, die zu mir gekommen sind, habe ich eine vollkommene Reue verlangt, um verzeihen zu können. Von dir, mein Freund, verlange ich nur den Willen, zu bereuen, und dann... alles übrige werde ich tun.»

Judas schweigt...

Jesus läßt ihn los und sagt nur: «Bleib wenigstens hier bis zum Tag nach dem Sabbat.»

«Ich werde bleiben... Gehen wir zum Haus zurück. Sie werden unsere Abwesenheit bemerken. Vielleicht warten die Frauen auf dich. Sie sind besser als ich, und du darfst sie nicht meinetwegen vernachlässigen.»

«Erinnerst du dich nicht mehr an das Gleichnis vom verlorenen Schaf? Du bist es... Sie, die Frauen, sind die guten Schafe im Schafstall. Sie sind nicht in Gefahr, auch wenn ich den ganzen Tag deine Seele suche, um sie in den Schafstall zurückzuführen...»

«Aber ja! Aber ja! Ich kehre schon in den Schafstall zurück! Ich werde mich in die Bibliothek des Lazarus einschließen und lesen. Ich will nicht gestört werden. Ich will nichts sehen und nichts wissen. So... wirst du mir nicht immer mißtrauen. Und wenn etwas von dem, was geschieht, dem Synedrium zugetragen wird, dann wirst du die Schlangen unter deinen Lieblingen suchen müssen. Leb wohl! Ich werde durch das Haupttor hineingehen. Hab keine Angst, ich werde nicht fliehen. Du kannst kommen und nachsehen, wenn du willst.» Judas wendet ihm den Rücken und geht mit großen Schritten davon.

Jesus, eine hohe Gestalt im weißen Leinengewand, steht am Rand des grünroten Kleefeldes. Er erhebt die Arme zum heiteren Himmel empor, erhebt das tieftraurige Antlitz, erhebt die Seele zu seinem Vater und klagt: «Oh, mein Vater! Kannst du mir vorwerfen, daß ich etwas unterlassen habe, um ihn zu retten? Du weißt, ich kämpfe um seine Seele, nicht um mein Leben, ich kämpfe, um sein Verbrechen zu verhindern... Vater! Mein Vater! Ich flehe dich an! Beschleunige die Stunde der Finsternis, die Stunde des Opfers, denn allzu furchtbar ist es für mich, an der Seite des Freundes leben zu müssen, der nicht erlöst werden will... Ein unsagbarer Schmerz ist es!» Und Jesus setzt sich in den dichten,

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hohen, schönen Klee, umfaßt seine Knie, legt das Haupt darauf und weint.

Oh, ich kann dieses Weinen nicht sehen! Zu sehr gleicht es schon dem Weinen im Gethsemane in seiner Trostlosigkeit, Einsamkeit und in der Überzeugung, daß der Himmel nichts tun wird, um ihn zu trösten und diesen Schmerz von ihm zu nehmen. Es tut mir zu weh...

Jesus weint lange an diesem einsamen, stillen Ort. Zeugen seiner Tränen sind die goldenen Bienen, der duftende Klee, der sich leise im Wind des aufziehenden Gewitters wiegt, und die Wolken, die am frühen Morgen noch wie ein zartes Netz den blauen Himmel überzogen haben und sich nun verdichten, zusammenballen, schwarz werden und erneuten Regen ankündigen.

Schließlich weint Jesus nicht mehr und erhebt lauschend das Haupt... Räderrollen und Schellengeklingel tönen von der Hauptstraße herüber; dann hört das Geräusch der Räder auf, aber nicht das Klingen der Schellen. Jesus sagt: «Ich muß gehen! Die Jüngerinnen... Sie sind treu... Mein Vater, dein Wille geschehe! Ich opfere dir diesen meinen Wunsch als Erlöser und Freund auf. Es steht geschrieben! Er hat es gewollt. Es ist wahr. Gewähre mir aber, o mein Vater, daß ich mein Wirken für ihn fortsetze, bis alles vollbracht ist. Und schon jetzt bitte ich dich: Vater, wenn ich bald, ein ohnmächtiges Opfer, selbst nicht mehr wirken kann und für die Sünder beten werde, dann nimm du mein Leiden und übe damit Macht aus über die Seele des Judas. Ich weiß, daß ich dich um etwas bitte, was die Gerechtigkeit nicht gewähren kann. Doch von dir ist die Barmherzigkeit, von dir die Liebe gekommen, und du liebst sie, die von dir kommen und eins mit dir sind, dem einen und dreieinen Gott, dem Heiligen und Gepriesenen. Ich werde mich selbst meinen Auserwählten zur Speise und zum Trank geben. Vater, sollen denn mein Fleisch und mein Blut für einen von ihnen zum Fluch werden? Vater, hilf mir! Nur eine Spur von Reue in dieses Herz... ! Vater, Vater, warum ziehst du dich zurück? Schon entfernst du dich von deinem Wort, das betet? Vater, die Stunde ist gekommen, ich weiß es. Dein heiliger Wille geschehe. Aber lasse deinem Sohn, deinem Christus, dessen Fähigkeit, die Zukunft klar zu erkennen, durch deinen unergründlichen Ratschluß in dieser Stunde nachläßt – und ich weiß, daß dies nicht aus Grausamkeit geschieht, sondern aus Barmherzigkeit – lasse mir die Hoffnung, daß ich ihn noch retten kann. Oh, mein Vater. Ich weiß es. Ich habe es gewußt, seit ich bin. Ich weiß es, seit ich nicht mehr nur das Wort, sondern auch der Mensch bin, der auf die Erde gekommen ist. Ich weiß es, seit ich diesem Mann im Tempel begegnet bin... Ich habe es immer gewußt... Aber jetzt... Oh, wie erscheint es mir jetzt, barmherzigster, heiligster Vater! Es scheint mir alles nur ein furchtbarer Traum zu sein, den sein Verhalten hervorruft, aber nicht etwas Unabwendbares... es scheint mir, daß ich noch hoffen kann, immer noch,

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immer, denn mein Schmerz ist unendlich, und unendlich wird das Opfer sein. Möge es auch für ihn nicht vergebens sein... Ach, ich träume! Es ist der Mensch in mir, der dies hoffen will! Der Gott, der im Menschen ist, der Gott, der Mensch geworden ist, kann sich nicht irren. Es schwinden die leichten Nebel, die mir für einen Augenblick den Abgrund verborgen haben, den Abgrund, der sich schon geöffnet hat, um den zu verschlingen, der die Finsternis dem Licht vorzieht... Deine Barmherzigkeit hat ihn mir verborgen! Und deine Barmherzigkeit hat ihn mich erst jetzt schauen lassen, da du mich getröstet hast. Ja, Vater, auch dies! Alles! Und ich werde Barmherzigkeit sein bis zum Ende, denn dies ist mein Wesen.»

Jesus betet noch immer still, mit in Kreuzesform ausgebreiteten Armen, und das von Schmerz gezeichnete Gesicht nimmt immer mehr den Ausdruck erhabenen Friedens an. Es strahlt das Licht einer innerlichen Freude aus, obgleich der geschlossene Mund nicht lächelt. Es ist die Freude seines mit dem Vater vereinigten Geistes, die durch die Hülle des Fleisches leuchtet und alle Spuren löscht, die der Schmerz eingegraben hat auf diesem Antlitz, das immer magerer und vergeistigter wird, je mehr sich der Meister seinem Schmerz hingibt und das Opfer sich nähert. Es ist schon kein irdisches Antlitz mehr, das Antlitz Christi, in diesen letzten Tagen seines Erdenlebens. Und kein Künstler wird je imstande sein – selbst wenn der Erlöser sich ihm zeigen würde – dieses von der Vollkommenheit der Liebe und dem Abgrund allen Schmerzes gezeichnete, überirdisch schöne Antlitz des Gottmenschen darzustellen.

Jesus ist wieder an der Tür der Umfassungsmauer. Er geht hinein, schließt ab und begibt sich zum Haus. Der Diener von zuvor sieht ihn und eilt herbei, um ihm den großen Schlüssel, den er in der Hand hält, abzunehmen.

Er geht weiter und begegnet Lazarus: «Meister, die Frauen sind angekommen. Ich habe sie in den weißen Saal führen lassen, denn in der Bibliothek ist Judas, der liest und leidend ist.»

«Ich weiß es. Ich danke dir im Namen der Frauen. Sind es viele?»

«Johanna, Nike, Elisa und Valeria mit Plautina. Dann noch eine, eine Freundin oder Freigelassene, ich weiß es nicht, die Marcella heißt, eine alte Frau, Anna von Meron, die sagt, daß sie dich kennt, und Annalia mit einem Mädchen namens Sara. Sie sind bei den Jüngerinnen, mit deiner Mutter und meinen Schwestern.»

«Und diese Kinderstimmen?»

«Anna hat die Kinder ihres Sohnes mitgebracht, Johanna die ihren, und Valeria ihre Tochter. Ich habe sie in den Innenhof geführt...»

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638. DER FREITAG VOR DEM EINZUG IN JERUSALEM; 11. JESUS UND DIE JÜNGERINNEN

Der schöne Saal – der als Bankettsaal dient und dessen Wände und Decke weiß sind, wie auch die schweren Vorhänge, die über die Sitze gebreiteten Teppiche, die Fensterscheiben aus Glimmer- oder Alabasterplatten und die Leuchter – ist voll schwatzender Frauen. Fünfzehn Frauen, die miteinander reden, das will etwas heißen. Doch kaum schiebt Jesus den schweren Vorhang zur Seite und erscheint auf der Schwelle, entsteht absolutes Schweigen, alle erheben sich und verneigen sich mit größter Ehrerbietung.

«Der Friede sei mit euch allen», sagt Jesus mit einem sanften Lächeln... Von den soeben durchgestandenen Leiden ist keine Spur mehr auf seinem Antlitz zurückgeblieben, das heiter, leuchtend und friedlich erscheint, als ob nichts Schmerzliches vorgefallen wäre oder bevorstehen würde. Und er ist sich dessen bewußt.

«Der Friede sei mit dir, Meister. Wir sind gekommen. Du hast uns sagen lassen: "mit allen Frauen, die bei Johanna sind"; und ich habe dir gehorcht. Elisa war bei mir. Sie wird auch in diesen Tagen bei mir bleiben. Und auch diese hier war bei mir, die sich deine Jüngerin nennt. Sie war gekommen, um dich zu suchen, denn es ist bekannt, daß ich deine glückliche Jüngerin bin. Auch Valeria ist bei mir im Haus, seit ich in meinem Palast bin. Valeria hatte Plautina bei sich, die gekommen war, um sie zu besuchen. Und die beiden haben diese hier mitgebracht. Valeria wird dir sagen, wer sie ist. Später ist dann noch Annalia gekommen, der man deinen Wunsch mitgeteilt hat, und dieses junge Mädchen; ihre Verwandte, glaube ich. Wir haben uns verabredet, um hierher zu kommen, und haben auch Nike nicht vergessen. Es ist so schön, sich als Schwestern im gemeinsamen Glauben an dich zu fühlen... Und zu hoffen, daß auch die, die zur Zeit noch eine nur natürliche Liebe an den Meister bindet, Fortschritte machen, so wie Valeria es getan hat», sagt Johanna, wobei sie mit einem Seitenblick Plautina ansieht, die über die natürliche Liebe noch nicht hinausgekommen ist.

«Diamanten entstehen langsam, Johanna. Es braucht Jahrhunderte unterirdischen Feuers... Man darf niemals Eile haben... und sich auch nicht entmutigen lassen, Johanna ...»

«Und wenn ein Diamant... wieder zu Asche wird?»

«Dann ist es ein Zeichen, daß es noch kein vollkommener Diamant war. Es braucht wiederum Geduld und Feuer. Man muß von vorne anfangen und auf den Herrn vertrauen; denn das, was nach einem ersten Versuch wie ein Mißerfolg aussieht, verwandelt sich oft bei einem zweiten in Triumph.»

«Oder beim dritten oder vierten oder noch mehreren. Ich war oft ein

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Mißerfolg, doch zuletzt hast du gesiegt, Rabbuni!» sagt Maria von Magdala mit ihrer volltönenden Stimme im Hintergrund des Saales.

«Maria ist immer glücklich, wenn sie sich mit der Erinnerung an ihre Vergangenheit demütigen kann ...» seufzt Martha, der es lieber wäre, wenn diese Erinnerung aus allen Herzen gelöscht würde.

«Wahrlich, so ist es, Schwester! Ich bin glücklich, wenn ich an die Vergangenheit denke. Aber ich tue es nicht, um mich zu demütigen, wie du sagst, sondern um in der Gerechtigkeit zu wachsen durch die Erinnerung an das begangene Böse und aus Dankbarkeit gegenüber dem, der mich gerettet hat. Und auch, damit alle, die an ihrer Rettung oder an der eines geliebten Menschen zweifeln, Mut fassen und jenen Glauben finden, von dem der Meister sagt, daß er Berge versetzen kann.»

«Und du Glückliche hast diesen Glauben! Du kennst keine Furcht ...»seufzt Johanna, die im Vergleich zu Magdalena noch sanfter und schüchterner als gewöhnlich wirkt.

«Furcht kenne ich nicht. Meine menschliche Natur hat sich nie gefürchtet. Und nun, seit ich meinem Retter angehöre, kennt auch meine geistige Natur keine Furcht mehr. Alles hat dazu beigetragen, meinen Glauben zu vermehren. Kann jemand, der auferstanden ist wie ich und den Bruder auferstehen gesehen hat, noch an etwas zweifeln? Nein, nichts wird in mir Zweifel aufkommen lassen.»

«Solange Gott mit dir ist, das heißt, solange der Rabbi mit dir ist... Aber er sagt, daß er uns bald verlassen wird. Was wird dann aus unserem Glauben? Oder aus eurem Glauben, da ich über die menschlichen Grenzen noch nicht hinausgekommen bin ...» sagt Plautina.

«Seine körperliche Anwesenheit oder Abwesenheit wird keinen Einfluß auf meinen Glauben haben. Ich werde mich nicht fürchten. Und das ist nicht Stolz. Ich kenne mich nur selbst. Auch wenn die Drohungen des Synedriums sich erfüllen sollten... werde ich mich nicht fürchten ...»

«Was wirst du nicht fürchten? Daß der Gerechte nicht gerecht sei? Diese Befürchtung werde auch ich nicht haben. Wir glauben es von so vielen Weisen, deren Weisheit wir verkosten oder vielmehr, von deren lebendigen Gedanken wir uns noch viele Jahrhunderte nach ihrem Tod nähren. Aber wenn du...» drängt Plautina.

«Ich fürchte mich nicht einmal, wenn er stirbt. Das Leben kann nicht sterben. Lazarus ist auferstanden, obgleich er nur ein armseliger Mensch war ...»

«Er ist nicht aus sich selbst auferstanden, sondern weil der Meister seine Seele aus dem Jenseits zurückgerufen hat. Ein Werk, das nur der Meister vollbringen kann. Aber wer wird die Seele des Meisters zurückrufen, wenn man den Meister getötet hat?»

«Wer? Er. Also Gott. Gott ist aus sich selbst und kann aus sich selbst auferstehen.»

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«Gott ... ja... Nach eurem Glauben ist er aus sich selbst geworden. Es ist schon schwer für uns, dies zu glauben, da wir wissen, daß ein Gott vom anderen abstammt, daß sie aus göttlichen Liebschaften hervorgegangen sind.»

«Aus schmutzigen, irrealen Liebschaften, mußt du sagen», unterbricht sie Maria Magdalena ungestüm.

«Wie du willst ...» lenkt Plautina ein und will ihren Satz beenden, doch Maria Magdalena kommt ihr zuvor und sagt: «Aber der Mensch, willst du sagen, kann nicht aus sich selbst auferstehen. Doch er, so wie er aus sich selbst Mensch geworden ist – denn nichts ist dem Heiligen der Heiligen unmöglich – ebenso wird er aus eigenem Willen auferstehen. Du kannst dies nicht verstehen. Du kennst nicht die Gestalten unserer Geschichte Israels. Er und seine Wunder sind in ihnen enthalten. Und alles wird geschehen, wie es vorhergesagt wurde. Ich glaube schon im voraus, Herr. Alles glaube ich. Ich glaube, daß du der Sohn Gottes und der Sohn der Jungfrau bist; daß du das Lamm des Heiles, der Allerheiligste, der Messias, der Befreier und der König aller bist; daß dein Reich kein Ende und keine Grenzen haben wird; und endlich, daß der Tod keine Macht über dich hat, denn Gott hat das Leben und den Tod geschaffen, und sie sind ihm unterworfen wie alle anderen Dinge. Ich glaube. Und wenn auch mein Schmerz, dich verkannt und verachtet zu sehen, groß sein wird, so wird mein Glaube an dein ewiges Sein doch immer größer sein. Ich glaube an alles, was von dir gesagt worden ist. Ich glaube. An alles, was du sagst, glaube ich. Ich habe auch bei Lazarus geglaubt. Ich war die einzige, die gehorcht und geglaubt hat; die einzige, die sich den Menschen und den Dingen, die sie zum Unglauben verleiten wollten, widersetzt hat. Nur am Ende, gegen Ende der Prüfung, war ich etwas verwirrt... Doch die Prüfung dauerte schon so lange... und ich dachte, daß nicht einmal mehr du, gepriesener Meister, dich dem Leichnam so viele Tage nach seinem Tod nähern könntest... Nun... nun würde ich selbst dann nicht mehr zweifeln, wenn ein Grab sich erst nach Monaten anstatt Tagen öffnen müßte, um seine Beute wieder herauszugeben. Oh, mein Herr! Ich weiß, wer du bist! Der Schmutz hat den Stern nicht erkannt.» Maria ist zu seinen Füßen auf den Marmorboden niedergekniet, nun nicht mehr heftig, sondern sanft und anbetend und mit zu Jesus erhobenem Gesicht.

«Wer bin ich?»

«Der, der ist. Der bist du. Das andere, die menschliche Person, ist nur das Gewand, das über deine Herrlichkeit und deine Heiligkeit gestreifte notwendige Gewand, damit sie zu unserer Rettung zu uns kommen konnte. Aber du bist Gott, mein Gott.» Und sie wirft sich nieder, um die Füße Jesu zu küssen, und es scheint, als könnte sie ihre Lippen nicht mehr von den unter dem Leinengewand hervorschauenden Fußspitzen lösen.

«Steh auf, Maria. Halte immer an diesem Glauben fest. Und halte ihn

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empor wie einen Stern in stürmischen Stunden, damit die Herzen zu ihm aufschauen und hoffen können; dies wenigstens...»

Dann wendet er sich an alle und sagt: «Ich habe euch rufen lassen, denn in den kommenden Tagen werden wir uns kaum in Ruhe sehen können. Die Welt wird um uns sein. Und die Geheimnisse der Herzen sind schamhafter als die der Körper. Ich bin heute nicht der Meister, sondern der Freund. Nicht alle von euch haben mir Hoffnungen oder Ängste mitzuteilen. Doch alle wolltet ihr noch einmal in Ruhe mit mir zusammensein. Und ich habe euch gerufen, euch, die Blüte Israels und des neuen Reiches, und euch, die Blüte der Heiden, die den Ort der Schatten verlassen, um in das Leben einzugehen. Bewahrt dies in euren Herzen für die künftigen Tage: eure Verehrung für den verfolgten König Israels, den unschuldig Angeklagten, den nicht angehörten Meister, mildert meinen Schmerz.

Ich bitte euch, fest zusammenzuhalten, ihr aus Israel, ihr, die ihr nach Israel gekommen seid, und ihr, die ihr auf dem Weg nach Israel seid. Die einen mögen den anderen helfen. Die starken Herzens sind, sollen denen helfen, die schwächer sind. Die Wissenden denen, die wenig oder gar nichts wissen und nur von dem Wunsch nach neuer Weisheit erfüllt sind, damit sich ihr noch rein menschlicher Wunsch durch die Sorge ihrer fortgeschritteneren Schwestern in den übernatürlichen Wunsch nach Wahrheit verwandle. Seid barmherzig zueinander. Jene, die das göttliche Gesetz jahrhundertelang zur Gerechtigkeit erzogen hat, mögen Nachsicht üben mit denen, die das Heidentum... anders sein läßt. Die moralischen Gepflogenheiten ändern sich nicht von heute auf morgen, abgesehen von außergewöhnlichen Fällen, in denen die göttliche Macht eingreift und die Veränderung bewirkt, um einem besonders guten Willen zu helfen. Wundert euch nicht, wenn ihr bei denen, die zuvor einer anderen Religion angehört haben, nur einen langsamen oder stockenden Fortschritt seht, oder vielleicht sogar Rückfälle in alte Gewohnheiten. Denkt an das Verhalten Israels mir gegenüber und erwartet nicht von den Heiden die Willigkeit und die Tugenden, die Israel dem Meister nicht schenken konnte und wollte.

Fühlt euch als Schwestern. Als Schwestern, die das Schicksal um mich versammelt hat in diesen letzten Tagen meines sterblichen Lebens... Weint nicht! Und es hat euch zusammengeführt aus verschiedenen Regionen. Daher erschweren auch die unterschiedlichen Sprachen und Gebräuche euer gegenseitiges Verständnis als Menschen. Doch die Liebe kennt wahrlich nur eine Sprache, und es ist diese: das zu tun, was der Geliebte lehrt, und es zu tun, um ihn damit zu ehren und zu erfreuen. Darin könnt ihr euch alle verstehen, und die, die es besser können, sollen den anderen helfen zu verstehen. Dann... in der Zukunft, in einer mehr oder weniger fernen Zukunft und unter verschiedenen Umständen, werdet ihr euch

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wieder trennen und euch in alle Richtungen der Erde zerstreuen. Einige werden in das Land ihrer Geburt zurückkehren, andere in ein Exil gehen, das aber nicht schwer auf ihnen lasten wird; denn die es erleiden müssen, werden in der Wahrheit schon eine Vollkommenheit erlangt haben, die sie verstehen läßt, daß die Verbannung aus dem wahren Vaterland nicht darin besteht, hier- oder dorthin geschickt zu werden. Die wahre Heimat ist der Himmel. Und wer in der Wahrheit ist, ist in Gott und hat Gott in sich. Er ist also schon im Reich Gottes, und das Reich Gottes kennt keine Grenzen. Und er verläßt dieses Reich auch nicht, wenn man ihn von Jerusalem z.B. nach Iberien, Pannonien, Gallien oder Illyrien schickt. Ihr werdet immer in diesem Reich sein, wenn ihr in Jesus bleibt oder zu Jesus kommt. Ich bin gekommen, um alle Schafe zu sammeln. Die der Herde des Vaters, die aus anderen Herden, und auch die verwilderten Schafe ohne Hirten, die vielmehr nicht nur verwildert, sondern wild und von der finstersten Finsternis umgeben sind, so daß sie nicht nur kein Jota vom göttlichen Gesetz kennen, sondern auch nichts von einem moralischen Gesetz wissen. Unbekannte Völker, die darauf warten, bekannt zu werden in der Stunde, die Gott bestimmt hat, um ein Teil der Herde Christi zu werden. Wann? Oh, Jahre und Jahrhunderte sind nichts im Vergleich zur Ewigkeit. Aber ihr seid die Vorgängerinnen jener, die mit den künftigen Hirten gehen werden, um in christlicher Liebe die wilden Schafe und Lämmer auf die göttlichen Weiden zu führen.

Euer erstes Übungsfeld soll diese Gegend hier sein. Das Schwälbchen, das die Flügel zum ersten Flug ausbreitet, stürzt sich nicht sofort in große Abenteuer. Es versucht erst einmal, vom Nest bis zur Rebe, die die Terrasse beschattet, zu fliegen. Dann kehrt es ins Nest zurück. Daraufhin fliegt es über die eigene Terrasse hinaus auf die nächstgelegene und wieder zurück. Es fliegt immer etwas weiter, bis es sich stark genug fühlt und ein sicheres Orientierungsvermögen entwickelt hat. Erst dann spielt es mit den Winden und dem Raum, kommt und geht zwitschernd, verfolgt Insekten, streicht über das Wasser und fliegt der Sonne entgegen, bis es zur rechten Zeit die Flügel zum langen Flug in wärmere Gegenden, die reich an neuer Nahrung sind, ausbreitet und sich nicht fürchtet, auch das Meer zu überfliegen.

Die so kleine Schwalbe, ein Pünktchen glänzenden Stahles, verloren in der blauen Unendlichkeit von Himmel und Meer, ein Pünktchen, das furchtlos dahinfliegt, obwohl es doch eben noch den kurzen Flug vom Nest zur Rebe gefürchtet hat; ein vollkommener, nerviger Körper durchschneidet nun die Luft wie ein Pfeil, und man weiß nicht, ob es die Luft ist, die diesen kleinen König der Lüfte liebevoll fortträgt, oder ob er es ist, der kleine König der Lüfte, der liebevoll sein Herrschaftsgebiet durchstreift. Wer denkt bei der Betrachtung ihres sicheren Fluges, der sich Winde und atmosphärische Bedingungen zunutze macht, um schneller ans

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Ziel zu kommen, noch an ihren ersten ungeschickten, flatternden, ängstlichen Flug?

So wird es auch bei euch sein. So soll es auch bei euch sein. Bei euch und allen Seelen, die euch nachahmen werden. Alles will gelernt sein. Laßt euch nicht entmutigen durch die ersten Mißerfolge. Werdet aber auch nicht stolz nach den ersten Siegen. Die ersten Mißerfolge sollen euch lehren, es beim nächsten Mal besser zu machen. Die ersten Siege sollen euch als Ansporn dienen, es in Zukunft noch besser zu machen, und sie sollen euch überzeugen, daß Gott den Menschen guten Willens beisteht.

Seid immer den Hirten untertan und gehorcht ihrem Rat und ihren Befehlen. Seid ihnen immer Schwestern, helft ihnen in ihrer Mission und seid ihnen Stütze in allen ihren Mühen. Sagt dies auch denen, die heute nicht anwesend sind. Sagt es jenen, die später kommen werden.

Und jetzt und immer sollt ihr Töchter meiner Mutter sein. Sie wird euch in allem führen. Sie kann Mädchen und Witwen ebenso führen wie Ehefrauen und Mütter, da sie jeden Stand aus eigener Erfahrung und durch ihre übernatürliche Weisheit kennt. Liebt einander und liebt mich in Maria. Dann werdet ihr niemals fehlen, denn sie ist der Baum des Lebens, die lebendige Arche Gottes und das Ebenbild Gottes, in dem die Weisheit sich niedergelassen und die Gnade Fleisch angenommen hat.

Nun, da ich allgemein zu euch gesprochen und euch gesehen habe, möchte ich meine Jüngerinnen, jene, die die Hoffnung der künftigen Jüngerinnen sind, anhören. Geht. Ich bleibe hier. Wer von euch mit mir sprechen will, soll kommen. Denn wir werden nie mehr Augenblicke traulichen Friedens wie diese erleben.»

Die Frauen beraten sich. Elisa geht mit Maria und Maria des Kleophas hinaus. Maria des Lazarus hört Plautina zu, die sie von etwas überzeugen will. Doch es scheint, daß Maria nicht derselben Meinung ist, denn sie schüttelt entschieden den Kopf, läßt ihre Gesprächspartnerin einfach stehen und geht hinaus. Im Vorübergehen nimmt sie ihre Schwester und Susanna mit und sagt: «Wir werden immer noch Zeit haben, mit ihm zu sprechen. Lassen wir diese, die wieder fortgehen müssen, hier bei ihm.»

«Komm, Sara. Wir werden als letzte kommen», sagt Annalia.

Sie gehen alle langsam hinaus, mit Ausnahme von Maria Salome, die unschlüssig auf der Schwelle stehenbleibt.

«Komm her, Maria. Schließe die Tür und komm her. Was fürchtest du?» sagt Jesus zu ihr.

«Es ist... Ich bin immer bei dir. Hast du Maria des Lazarus gehört?»

«Ich habe sie gehört. Doch komm hierher. Du bist die Mutter meiner ersten Apostel. Was willst du mir sagen?»

Die Frau nähert sich langsam und feierlich, wie jemand, der um etwas Großes bitten muß und nicht weiß, ob er es tun darf.

Jesus ermutigt sie durch ein Lächeln und mit den Worten: «Nun? Willst

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du mich vielleicht um einen dritten Platz für Zebedäus bitten? Aber er ist weise. Er hat dich gewiß nicht hergeschickt, damit du mir das sagst. Sprich also...»

«Oh, Herr! Gerade wegen dieses Platzes wollte ich mit dir reden. Du... sprichst in einer Art... als ob du uns verlassen wolltest. Und ich möchte, daß du mir zuvor noch sagst, ob du mir wirklich verziehen hast. Ich finde keinen Frieden, wenn ich daran denke, daß ich dir mißfallen habe.»

«Du denkst immer noch daran? Siehst du nicht, daß ich dich wie zuvor liebe und sogar noch mehr als zuvor?»

«Oh! Das schon, Herr. Aber sage mir noch einmal das Wort der Verzeihung. Damit ich meinem Mann sagen kann, wie gut du zu mir gewesen bist.»

«Es ist nicht nötig, daß du ihm von einem schon verziehenen Fehler erzählst, Frau.»

«Doch, ich werde ihm davon erzählen. Weißt du, warum? Wenn Zebedäus sieht, wie du seine Söhne liebst, könnte er dieselbe Sünde wie ich begehen... Und wenn du uns verläßt, wer würde ihn dann lossprechen? Ich möchte, daß wir alle in dein Reich kommen, auch mein Mann. Und ich glaube, das zu wollen ist kein Unrecht. Ich bin eine arme Frau und ungebildet. Aber wenn deine Mutter uns Frauen aus der Schrift vorliest oder zitiert, dann spricht sie oft von den auserwählten Frauen Israels und von den Stellen, die von uns handeln. Und in den Sprüchen, die mir so sehr gefallen, steht geschrieben, daß das Herz des Mannes auf die starke Frau vertraut. Ich finde es richtig, daß der Mann auch in bezug auf himmlische Dinge seiner Frau vertrauen kann. Wenn ich meinem Mann einen sicheren Platz im Himmel verschaffe, indem ich ihn daran hindere zu sündigen, so glaube ich, damit etwas Gutes zu tun.»

«Ja, Salome. Aus deinem Mund spricht nun wahrlich die Weisheit, und das Gesetz der Güte spricht mit deiner Zunge. Geh in Frieden. Du hast mehr als meine Verzeihung. Deine Söhne werden dich, dem Buch gemäß, das dir so gut gefällt, glücklich preisen, und dein Mann wird dich in der Heimat der Gerechten loben. Geh beruhigt. Geh in Frieden. Sei glücklich.» Er segnet und entläßt sie.

Salome geht ganz selig hinaus.

Nun kommt die alte Anna vom Haus am Meronsee herein. Sie führt zwei Knaben an der Hand, und hinter ihnen kommt ein schüchternes, blasses Mädchen mit gesenktem Kopf, schon eine kleine Mutter, da es ein Kind an der Hand führt, das noch kaum richtig gehen kann.

«Oh! Anna! Auch du willst also mit mir sprechen? Und dein Mann?»

«Er ist krank, Herr. Schwer krank! Ich werde ihn vielleicht nicht mehr lebend antreffen...» Tränen rinnen über das alte, faltige Gesicht.

«Und du bist hier?»

«Ich bin hier. Er hat gesagt: "Ich kann nicht. Geh du zum Passahfest

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und sorge dafür, daß unsere Söhne..."» Das Weinen wird stärker und läßt sie nicht weitersprechen.

«Warum weinst du so, Frau? Dein Mann hat recht gesprochen: "Sorge dafür, daß unsere Söhne sich Christus nicht widersetzen, damit sie den ewigen Frieden erwerben." Judas ist ein Gerechter. Mehr als um sein Leben und den Trost, den ihm deine Pflege hätte geben können, ist er um das Wohl seiner Söhne besorgt. Die Schleier heben sich in den Stunden, die dem Tod des Gerechten vorangehen, und die Augen des Geistes sehen die Wahrheit. Aber deine Söhne hören nicht auf dich, Frau. Und was kann ich tun, wenn sie mich ablehnen?»

«Hasse sie nicht, Herr.»

«Und warum sollte ich sie hassen? Ich werde für sie beten. Und diesen hier, die unschuldig sind, werde ich die Hände auflegen, um den todbringenden Haß von ihnen fernzuhalten. Kommt her zu mir. Wer bist du?»

«Judas, wie der Vater meines Vaters», sagt der größere Junge, und der Kleinste, den die Schwester an der Hand hält, hüpft und schreit: «Ich, ich, Judas!»

«Ja, sie haben den Vater geehrt, indem sie den Kindern seinen Namen gegeben haben. Aber nicht in anderen Dingen ...» sagt die Alte.

«Seine Tugenden werden in diesen wieder aufleben. Komm auch du, Mädchen. Sei gut und klug wie jene, die dich hierher gebracht hat.»

«Oh, Maria ist gut und klug! Um nicht allein zu sein, werde ich sie nach Galiläa mitnehmen.»

Jesus segnet die Kinder und läßt seine Hand auf dem Köpfchen des guten Mädchens ruhen. Dann fragt er: «Und für dich selbst erbittest du nichts, Anna?»

«Daß ich meinen Judas noch lebend antreffe und die Kraft habe, zu lügen und zu sagen, daß seine Söhne...»

«Nein, nicht lügen. Niemals. Nicht einmal, um einen Sterbenden in Frieden hinscheiden zu lassen. Du sollst Judas sagen: "Der Meister hat gesagt, daß er dich segnet und mit dir segnet er auch dein Blut." Denn auch dieses unschuldige Mädchen ist von seinem Blut, und ich habe es gesegnet.»

«Aber wenn er fragt, ob unsere Söhne...»

«Dann wirst du sagen: "Der Meister hat für sie gebetet." Und Judas wird beruhigt sein in der Gewißheit, daß mein Gebet mächtig ist, und du hast die Wahrheit gesagt, ohne einen Sterbenden zu beunruhigen. Denn ich werde auch für deine Söhne beten. Geh nun in Frieden, Anna. Wann verläßt du die Stadt?»

«Am Tag nach dem Sabbat, damit ich unterwegs nicht vom Sabbat aufgehalten werde.»

«Das ist gut so. Es freut mich, daß du am Tag nach dem Sabbat noch

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hier sein wirst. Halte dich an Elisa und Nike. Geh nun. Und sei stark und treu.»

Die Frau ist schon beinahe an der Tür, als Jesus sie zurückruft: «Höre, deine Enkel sind oft bei dir, nicht wahr?»

«Immer, wenn ich in der Stadt bin.»

«In diesen Tagen... laß sie zu Hause, wenn du ausgehst, um mir zu folgen.»

«Warum, Herr? Fürchtest du Verfolgung?»

«Ja. Und es ist gut, wenn die Unschuld davon nichts hört und sieht ...»

«Aber... was glaubst du, was geschehen könnte?»

«Geh, Anna. Geh.»

«Herr, wenn... wenn sie dir antun, was man sagt, dann werden meine Söhne sicher... Und dann wird das Haus schlimmer sein als die Straße...»

«Weine nicht. Gott wird vorsorgen. Der Friede sei mit dir.»

Die Greisin geht weinend fort.

Eine Weile erscheint niemand. Dann kommen Johanna und Valeria zusammen herein. Sie sind erregt. Besonders Johanna. Die andere ist bleich und seufzt, beherrscht sich aber besser.

«Meister, Anna hat uns erschreckt. Du hast ihr gesagt... Oh! Aber es ist doch nicht wahr! Chuza mag ein Zweifler sein... ein kalter Rechner. Aber ein Lügner ist er nicht. Er hat mir versichert, daß Herodes keinerlei Gelüste hat, dir zu schaden... Ich weiß nicht, ob Pontius ...» Bei den letzten Worten schaut sie Valeria an, die schweigt. Dann fährt sie fort: «Ich habe gehofft, etwas von Plautina zu erfahren, aber ich habe nicht viel verstanden ...»

«Nichts, mußt du sagen, außer daß sie keinen Schritt vorwärts getan hat und geblieben ist, was sie war. Auch mir hat sie nichts gesagt. Aber wenn ich richtig verstanden habe, dann hat die römische Gleichgültigkeit, die immer sehr groß ist, wenn irgend etwas keine Auswirkung auf das Vaterland oder auf die eigene Person hat, den Geist derer abgestumpft, die zuvor bereit schienen, sich aufrütteln zu lassen. Mehr als die Tatsache, daß ich mich der Synagoge angenähert habe, trennt uns wie eine Kluft, die das zuvor zusammenhängende Erdreich spaltet, diese Gleichgültigkeit, diese geistige Trägheit... durch die sie sich nun so sehr von mir unterscheiden. Aber sie sind glücklich. Auf ihre Art sind sie glücklich... Und das menschliche Glück trägt nicht dazu bei, das Denken anzuregen.»

«Es trägt nicht dazu bei, den Geist wachzurütteln, Valeria», sagt Jesus.

«So ist es, Meister. Ich... das ist etwas anderes... Hast du die Frau gesehen, die bei uns war? Sie gehört zu meiner Familie. Sie ist Witwe und allein und wurde von unseren Verwandten geschickt, um mich zu überzeugen, nach Italien zurückzukehren. Oh! Wie viele Versprechen zukünftiger Freuden! Es sind Freuden, die ich nicht mehr schätze, da sie für mich keine Freuden mehr sind, und ich verachte sie. Ich werde nicht nach

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Italien gehen. Hier habe ich dich und mein Kind, das du mir gerettet hast, dessen Seele zu lieben du mich gelehrt hast. Ich werde diese Orte nicht verlassen. Marcella... ich habe sie mitgebracht, damit sie dich sieht und begreift, daß ich nicht wegen einer unwürdigen Liebe zu einem Hebräer – für uns wäre sie unwürdig – hierbleiben will, sondern weil ich bei dir Trost gefunden habe in meinem Schmerz als verstoßene Gattin. Marcella ist nicht böse. Sie hat gelitten und sie hat Verständnis. Doch sie ist noch nicht imstande, meine neue Religion zu verstehen. Und ein wenig macht sie mir Vorwürfe, da sie mich für eine Träumerin hält ... Aber das macht nichts. Wenn sie will, wird auch sie dorthin gelangen, wo ich jetzt bin. Wenn nicht, werde ich mit Thusnelda hierbleiben. Ich bin frei, ich bin reich. Ich kann tun, was ich will. Und da ich nichts Böses tue, werde ich tun, was ich will.»

«Und wenn der Meister nicht mehr hier ist?»

«Dann bleiben immer noch seine Jünger. Plautina, Lydia und selbst Claudia, die nach mir diejenige ist, die am meisten deine Lehre befolgt und dich am meisten verehrt, haben noch nicht begriffen, daß ich nicht mehr die Frau bin, die sie gekannt haben und glauben, immer noch zu kennen. Aber ich bin nun sicher, mich selbst zu kennen. So sicher, daß ich sage: Selbst wenn ich sehr viel verliere, selbst wenn ich den Meister verliere, verliere ich nicht alles, denn der Glaube wird bleiben. Und ich werde bleiben, wo mein Glaube geboren ist. Ich will Fausta nicht irgendwohin bringen, wo nichts mehr von dir spricht. Hier... spricht alles von dir, und du wirst uns gewiß nicht ohne Führung lassen, uns, die wir dir folgen wollen. Warum muß ich, die Heidin, es sein, die so denkt, während viele von euch, auch du, wie verloren erscheinen, wenn sie an den Tag denken, da der Meister nicht mehr unter uns sein wird?»

«Weil sie an Jahrhunderte der Unveränderlichkeit gewöhnt sind, Valeria. Sie denken, daß der Allerhöchste dort in seinem Haus ist, über dem unsichtbaren Altar, den nur der Hohepriester bei feierlichen Anlässen sieht. Das hat ihnen geholfen, zu mir zu kommen. Nun konnten endlich auch sie sich dem Herrn nähern. Aber nun fürchten sie sich davor, weder den Allerhöchsten in seiner Herrlichkeit, noch das Wort des Vaters unter sich zu haben. Man muß sie verstehen... und die Seele erheben, Johanna. Ich werde in euch sein. Denk daran. Ich werde fortgehen. Aber ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen. Ich werde euch mein Haus zurücklassen: meine Kirche. Und mein Wort: die Frohe Botschaft. Meine Liebe wird in euren Herzen wohnen. Und endlich werde ich euch ein noch größeres Geschenk hinterlassen, das euch mit mir nähren und bewirken wird, daß ich nicht nur geistig unter euch und in euch bin. Dies werde ich tun, um euch Trost und Kraft zu schenken. Aber nun... Anna ist sehr in Sorge wegen der Kinder...»

«Ja, sie hat voller Angst davon gesprochen ...»

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«Ich habe ihr gesagt, sie von den Menschen fernzuhalten. Dasselbe sage ich dir, Johanna, und dir, Valeria.»

«Ich werde Fausta noch vor der geplanten Zeit mit Thusnelda nach Bether schicken. Sie sollten eigentlich erst nach dem Fest dorthin gehen.»

«Ich will mich nicht von den Kindern trennen. Ich werde sie im Haus behalten. Und ich werde Anna sagen, daß sie die ihren ebenfalls dorthin bringen soll. Diese Frau hat böse Söhne; aber sie werden sich durch meine Einladung geehrt fühlen und der Mutter nicht widersprechen. Und ich ...»

«Ich möchte ...»

«Was, Meister?»

«Ich möchte, daß ihr in diesen Tagen alle eng beisammenbleibt. Ich werde die Schwester meiner Mutter, Salome, Susanna und die Schwestern des Lazarus bei mir behalten. Aber euch möchte ich beisammen wissen, sehr nahe beisammen.»

«Aber können wir nicht hingehen, wo du bist?»

«Ich werde dem Blitz gleichen, der aufleuchtet und verschwindet, in diesen Tagen. Ich werde am Morgen zum Tempel hinaufgehen und dann die Stadt verlassen. Außer jeden Morgen im Tempel könntet ihr mich nicht finden.»

«Letztes Jahr bist du bei mir gewesen ...»

«Dieses Jahr werde ich in keinem Haus sein. Ich werde ein Blitz sein, der enteilt...»

«Aber das Passahfest ...»

«Ich möchte es mit meinen Aposteln verbringen, Johanna. Wenn dein Meister es so will, hat er gewiß seine Gründe.»

«Das ist wahr... Dann werde ich also allein sein... denn meine Brüder haben mir gesagt, daß sie in diesen Tagen frei sein wollen, und Chuza...»

«Meister, ich ziehe mich zurück. Es regnet stark. Ich gehe zu den Kindern, die sich, wie ich höre, unter dem Vordach aufhalten», sagt Valeria und zieht sich diskret zurück.

«Auch in deinem Herzen regnet es stark, Johanna.»

«Das ist wahr, Meister. Chuza ist so... sonderbar. Ich verstehe ihn nicht mehr. Ein dauernder Widerspruch. Vielleicht hat er Freunde, die seine Gedanken beeinflussen... oder vielleicht hat ihm jemand gedroht, und er fürchtet für seine Zukunft.»

«Er ist nicht der einzige. Ich kann dir sagen, daß es nur wenige und sehr vereinzelte hier und dort sind, die wie ich keine Angst vor der Zukunft haben. Und es werden bald immer weniger sein. Sei sehr sanft und geduldig mit ihm. Er ist nur ein Mensch...»

«Aber er hat so viel von Gott, von dir erhalten, er müßte...»

«Ja, er müßte! Aber wer in Israel hat nichts von mir erhalten! Ich habe Freunden und Feinden Gutes getan. Ich habe verziehen, geheilt, getröstet und belehrt... Du siehst, und du wirst immer besser erkennen, daß nur

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Gott unveränderlich ist, während die Menschen unterschiedlich reagieren; und wer am meisten bekommen hat, ist oft der erste, der seinen Wohltäter schlägt. Man wird wahrlich sagen können: "Der mein Brot ißt, hat seine Ferse gegen mich erhoben."»

«Ich werde es nicht tun, Meister.»

«Du nicht, aber viele andere.»

«Ist mein Mann etwa unter ihnen? Wenn es so wäre, dann würde ich heute abend nicht mehr nach Hause zurückkehren.»

«Nein. Er ist nicht unter ihnen an diesem Abend. Aber selbst, wenn er unter ihnen wäre, dein Platz ist immer dort. Denn wenn er sündigt, darfst nicht auch du sündigen. Wenn er wankt, mußt du ihm Stütze sein. Wenn er dich schlägt, mußt du ihm verzeihen.»

«Oh, schlagen... Nein! Er liebt mich. Aber ich wünschte, er wäre sicherer. Er hat großen Einfluß auf Herodes. Und ich möchte, daß er dem Tetrarchen ein Versprechen für dich abnimmt. So wie Claudia versucht, Pilatus eines abzunehmen. Aber Chuza hat mir nur vage Worte von Herodes überbracht... und mir versichert, daß Herodes nur den Wunsch hat, dich ein Wunder wirken zu sehen, und dich nicht verfolgen wird... Er hofft, dadurch seine Gewissensbisse wegen Johannes zum Schweigen zu bringen. Chuza sagt: "Mein König sagt immer: 'Selbst wenn der Himmel es mir gebieten würde, ich würde die Hand nicht erheben. Ich habe zu große Angst.-»

«Er sagt die Wahrheit. Er wird die Hand nicht gegen mich erheben. Viele in Israel werden es nicht tun, da sie Angst haben, mich offen zu verurteilen. Aber sie werden verlangen, daß andere es tun. Als ob es in den Augen Gottes einen Unterschied gäbe zwischen dem, der unter dem Druck des Volkswillens verurteilt, und dem, der diese Verurteilung herbeiführt.»

«Oh! Das Volk liebt dich aber! Man bereitet große Feiern für dich vor. Doch Pilatus liebt keine Tumulte. Er hat die Wachen in den letzten Tagen verstärken lassen. Ich hoffe sehr, daß... Ich weiß nicht, was ich hoffe, Herr. Ich hoffe und verzweifle. Meine Gedanken sind so veränderlich wie diese Tage, da Sonne mit Regen abwechselt...»

«Bete, Johanna, und sei im Frieden. Denke immer daran, daß du deinen Meister nie betrübt hast, und daß er sich daran erinnert. Geh.»

Johanna, die in wenigen Tagen blaß und mager geworden ist, geht nachdenklich hinaus.

Nun zeigt sich das liebliche Gesicht Annalias.

«Komm näher. Wo hast du deine Gefährtin gelassen?»

«Dort drüben, Herr. Sie will nach Hause; alle sind am Aufbrechen. Martha hat meinen Wunsch verstanden und wird mich bis morgen abend hierbehalten. Sara kehrt nach Hause zurück, um dort zu sagen, daß ich noch bleibe. Sie möchte deinen Segen, weil... Doch das werde ich dir nachher sagen.»

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«Sie soll kommen. Ich werde sie segnen.»

Das Mädchen geht und kommt mit der Freundin zurück, die vor dem Herrn niederkniet.

«Der Friede sei mit dir, und die Gnade des Herrn möge dich auf den Wegen geleiten, auf die dich jene geführt hat, die dir vorangegangen ist. Sei liebevoll zu ihrer Mutter und danke dem Himmel, der dir Bindungen und Schmerzen erspart hat, um dich ganz zu besitzen. Eines Tages wirst du noch glücklicher als heute darüber sein, daß du aus freiem Willen unfruchtbar geblieben bist. Geh nun!»

Das Mädchen geht sichtlich bewegt hinaus.

«Du hast ihr alles gesagt, was sie erhofft hat. Diese Worte waren ihr Traum. Sara hat immer gesagt: "Mir gefällt dein Los, obgleich es so neu in Israel ist. Und ich möchte dasselbe. Da ich keinen Vater mehr habe und meine Mutter sanft wie eine Taube ist, fürchte ich nicht, der Berufung nicht folgen zu können. Aber um sicher zu sein, daß ich ihr entsprechen kann und daß sie für mich heilig ist, wie sie es für dich ist, möchte ich es aus seinem Mund hören." Nun hast du es ihr gesagt. Und auch ich bin glücklich, denn ich hatte schon befürchtet, einem Herzen falsche Hoffnungen gemacht zu haben...»

«Seit wann ist sie bei dir?»

«Seit... Als das Synedrium den Bann verkündet hat, sagte ich mir: "Die Stunde des Herrn ist gekommen, und ich muß mich auf den Tod vorbereiten." Denn ich hatte dich darum gebeten, Herr... Heute erinnere ich dich daran... Wenn du zum Opfer gehst, gehe ich, die Hostie, mit dir.»

«Hast du immer noch den festen Willen?»

«Ja, Meister. Ich könnte nicht leben in einer Welt, in der du nicht bist... und ich könnte deine Marter nicht überleben. Ich habe so große Angst deinetwegen! Viele von uns machen sich Illusionen... Ich nicht! Ich fühle, daß die Stunde gekommen ist. Der Haß ist zu groß. Ich hoffe, daß du mein Opfer annimmst. Ich habe nichts als mein Leben, denn ich bin arm, du weißt es. Mein Leben und meine Reinheit. Deshalb habe ich meine Mutter überredet, ihre Schwester zu sich zu rufen, damit sie nicht allein bleibt... Sara wird ihr Tochter sein an meiner Stelle, und die Mutter Saras wird sie trösten. Enttäusche mein Herz nicht, Herr. Die Welt hat keine Anziehungskraft für mich. Sie ist für mich ein Kerker, in dem mich vieles stark abstößt. Vielleicht deshalb, weil ich an der Schwelle des Todes gestanden und verstanden habe, daß die Freuden dieser Welt nur Leere sind, die nicht befriedigt. Ich wünsche nichts anderes als das Opfer... und daß ich dir vorausgehen darf... um nicht sehen zu müssen, wie der Haß der Welt meinen Herrn wie ein Marterwerkzeug quält... und um dir im Schmerz ähnlich zu sein...»

«Dann werden wir die gebrochene Lilie auf den Altar legen, auf dem das Lamm geopfert wird. Und sie wird sich röten vom erlösenden Blut.

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Und nur die Engel werden wissen, daß die Liebe der Opferpriester eines ganz weißen Lammes war, und sie werden den Namen des ersten Opfers der Liebe, der ersten Nachfolgerin Christi aufzeichnen.»

«Wann, Herr?»

«Halte die Lampe bereit und warte im Hochzeitsgewand. Der Bräutigam naht. Du wirst seinen Triumph, nicht seinen Tod schauen; und du wirst mit ihm triumphieren beim Einzug in sein Reich.»

«Oh, ich bin die glücklichste Frau Israels! Ich bin die mit deinem Brautkranz gekrönte Königin! Darf ich dich als solche um eine Gnade bitten?»

«Welche?»

«Ich habe einen Mann geliebt, du weißt es. Ich habe ihn nicht als Gatten geliebt, denn eine größere Liebe hat von meinem Herzen Besitz ergriffen, und er hat mich dann nicht mehr geliebt, weil... Aber ich will nicht an seine Vergangenheit denken. Ich bitte dich, dieses Herz zu erlösen. Darf ich das? Es ist doch keine Sünde, wenn ich an der Schwelle des Lebens an den denke, den ich geliebt habe, und ihm das ewige Leben schenken möchte, nicht wahr?»

«Es ist keine Sünde. Du führst die Liebe zu einem heiligen Ende durch das Opfer, zum Wohl des Geliebten.»

«Segne mich also, Meister. Sprich mich los von jeder Sünde. Bereite mich vor auf die Hochzeit und dein Kommen. Denn du bist es, mein Gott, der da kommt, um seine arme Dienerin aufzunehmen und sie zu seiner Braut zu machen.»

Das Mädchen, strahlend vor Freude und Gesundheit, neigt sich zu Boden, um die Füße des Meisters zu küssen, während Jesus es segnet und über ihm betet. Und der lilienweiße Saal bildet wahrlich eine würdige Umgebung für diese Zeremonie und paßt zu den beiden jungen, schönen, weißgekleideten Menschen, die in engelgleicher, göttlicher Liebe erstrahlen.

Jesus verläßt das in seiner Freude ganz entrückte Mädchen und geht leise hinaus, um die Kinder zu segnen, die mit Freudenschreien zu dem Wagen eilen und zusammen mit den Frauen, die abreisen, einsteigen. Elisa und Nike bleiben noch, um am folgenden Tag Annalia in die Stadt zurückzubringen. Es hat aufgehört zu regnen, das Blau des Himmels leuchtet durch die aufgerissenen Wolken, und die Sonne sendet ihre Strahlen und läßt die Regentropfen blitzen. Ein schwacher Regenbogen spannt sich von Bethanien nach Jerusalem. Der Wagen fährt quietschend durch das Tor und verschwindet.

Lazarus, der am Rand der Säulenhalle neben Jesus steht, fragt: «Haben dir die Jüngerinnen Freude bereitet?» und dabei beobachtet er den Meister.

«Nein, Lazarus. Sie haben mir alle, mit einer einzigen Ausnahme, ihre Schmerzen mitgeteilt, und sie hätten mich auch enttäuscht – wenn ich mich hätte täuschen können.»

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«Willst du damit sagen, daß dich die Römerinnen enttäuscht haben? Haben sie von Pilatus gesprochen?»

«Nein.»

«Dann muß ich es tun. Ich habe gehofft, daß sie von ihm sprechen würden, und deshalb habe ich gewartet. Gehen wir in dieses ruhige Zimmer hier. Die Frauen haben sich mit Martha an ihre Arbeit begeben. Maria ist im anderen Haus bei deiner Mutter. Deine Mutter ist lange mit Judas zusammen gewesen und hat ihn nun mit sich genommen... Setz dich, Meister... Ich bin beim Prokonsul gewesen. Ich hatte es versprochen und habe es gehalten. Aber Simon des Jonas würde mit dem Ergebnis meiner Mission nicht sehr zufrieden sein... Glücklicherweise denkt Simon nicht mehr daran. Der Prokonsul hat mich angehört und dann geantwortet: "Ich? Ich soll mich darum kümmern? Ich denke nicht im geringsten daran, das zu tun! Ich sage dir nur: Nicht wegen des Mannes – also wegen dir, Meister – sondern wegen all des Ärgers, den ich seinetwegen habe, bin ich fest entschlossen, mich nicht mehr um die Angelegenheit zu kümmern, weder im Guten noch im Bösen. Ich wasche mir die Hände in Unschuld. Ich werde die Wachen verstärken, denn ich will keine Unordnung. Auf diese Weise wird der Caesar zufrieden sein, und auch meine Frau und ich selbst. Die einzigen also, denen ich verpflichtet bin. Und im übrigen rühre ich keinen Finger. Das sind doch nur Zwistigkeiten dieser ewig Unzufriedenen. Sie schaffen sie sich selbst, sie sollen sie auch genießen. Den Mann, ich kenne ihn nicht als Übeltäter, ich kenne ihn nicht als Tugendhaften, ich kenne ihn nicht als Weisen. Und ich will ihn gar nicht kennen, will ihn auch in Zukunft nicht kennen. Trotzdem, obwohl ich es nicht will, gelingt es mir nur schlecht, denn die Führer Israels klagen ihn bei mir an, Claudia lobt ihn, und die Jünger das Galiläers beschweren sich über das Synedrium. Wäre nicht Claudia, würde ich ihn gefangennehmen lassen und ihn ihnen übergeben, damit sie die Angelegenheit unter sich ausmachen und ich nichts mehr von ihm höre. Dieser Mann ist der ruhigste Untertan des ganzen Imperiums. Aber dennoch habe ich seinetwegen so viel Ärger gehabt, daß ich eine Lösung finden möchte..." Bei dieser Stimmung, Meister ...»

«Du willst sagen, daß es keine Gewißheit gibt. Bei den Menschen ist man nie sicher ...»

«Mir scheint aber doch, daß das Synedrium ruhiger ist. Der Bann ist nicht in Erinnerung gebracht worden, und man hat die Jünger nicht belästigt. Bald kommen sie aus der Stadt zurück. Dann werden wir hören... Man wird dir immer widersprechen. Aber etwas unternehmen? ... Das Volk liebt dich zu sehr, und es wäre unklug, es jetzt herauszufordern.»

«Wollen wir auf die Straße gehen und den Zurückkehrenden entgegengehen?» schlägt Jesus vor.

«Gehen wir.»

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Sie gehen in den Garten und sind auf halbem Weg, als Lazarus fragt: «Aber wann hast du denn etwas gegessen? Und wo?»

«Um die erste Stunde.»

«Es ist fast Abend. Kehren wir zurück.»

«Nein. Ich habe nicht das Bedürfnis und ziehe es vor zu gehen. Ich sehe ein armes Kind, das sich dort an das Tor klammert. Vielleicht hat es Hunger. Es hat zerrissene Kleider und ist sehr mager. Ich beobachte es seit einer ganzen Weile. Es stand schon dort, als der Wagen hinausfuhr, und ist weggelaufen, um nicht gesehen und fortgejagt zu werden. Dann ist es zurückgekommen, und nun schaut es immer zum Haus und zu uns herüber.»

«Wenn es Hunger hat, dann wird es gut sein, wenn ich etwas zu essen hole. Geh weiter, Meister. Ich komme gleich nach.» Lazarus eilt zurück, während Jesus seine Schritte in Richtung auf das Tor beschleunigt.

Das Kind mit seinem eingefallenen und unregelmäßigen Gesicht, in dem nur zwei schöne, lebhafte Augen strahlen, schaut ihn an.

Jesus lächelt ihm zu und sagt sanft, während er sich mit dem Schloß beschäftigt: «Wen suchst du, Kind?»

«Bist du der Herr Jesus ?»

«Der bin ich.»

«Ich suche dich.»

«Wer schickt dich?»

«Niemand. Aber ich möchte mit dir reden. So viele kommen, um mit dir zu reden. Auch ich. So viele erhörst du. Erhöre auch mich.»

Jesus läßt das Schloß aufspringen und bittet das Kind, das Gitter loszulassen, das seine mageren Hände noch immer halten, um das Tor öffnen zu können. Das Kind tritt zur Seite, und durch diese Bewegung verschiebt sich das verwaschene, ärmliche Kleid auf dem schiefgewachsenen Körperchen, und man erkennt, daß es ein armes rachitisches Kind ist mit einem tief zwischen den Schultern sitzenden Kopf und einem beginnenden Buckel, das nur unsicher gehen kann und nun mit gespreizten Beinen dasteht. Wirklich ein kleiner Unglücklicher. Vielleicht ist er älter, als es den Anschein hat, denn die Statur ist die eines etwa Sechsjährigen, aber das Gesicht schon das eines Mannes, etwas verwelkt und mit einem spitzen Kinn, fast ein Greisenantlitz.

Jesus beugt sich über den Jungen, um ihn zu streicheln, und sagt: «Sage mir also, was du willst. Ich bin dein Freund. Ich bin der Freund aller Kinder.» Mit welch liebevoller Zartheit nimmt Jesus das magere Gesichtlein in seine Hände und küßt es auf die Stirn!

«Ich weiß es. Deshalb bin ich gekommen. Siehst du, wie ich aussehe? Ich möchte sterben, um nicht mehr leiden zu müssen... und um niemandem mehr anzugehören. Du, der du so viele heilst und die Toten zum Leben erweckst, laß mich sterben, denn niemand liebt mich, und ich werde nie arbeiten können.»

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«Hast du keine Eltern? Bist du eine Waise?»

«Ich habe einen Vater. Aber er liebt mich nicht, weil ich so bin. Er hat die Mama fortgejagt, ihr einen Scheidebrief gegeben, und mich hat er mit ihr fortgejagt. Die Mama ist gestorben. Durch meine Schuld, weil ich ein solcher Krüppel bin.»

«Aber bei wem wohnst du denn?»

«Als die Mutter gestorben ist, haben mich die Diener zum Vater zurückgebracht. Aber er, der wieder geheiratet und schöne Kinder hat, hat mich fortgeschickt. Er hat mich seinen Landarbeitern übergeben. Aber diese machen es wie ihr Herr, um sich seines Wohlwollens zu versichern... und sie quälen mich.»

«Schlagen sie dich?»

«Nein, aber sie behandeln die Tiere besser als mich und verspotten mich; und da ich oft krank bin, bin ich ihnen lästig. Ich werde immer krummer, und ihre Kinder äffen mich nach und stellen mir ein Bein. Niemand liebt mich. Und diesen Winter, als ich starken Husten hatte und Arznei brauchte, wollte mein Vater kein Geld ausgeben und sagte, das einzig richtige, was ich tun könne, sei bald zu sterben. Seitdem warte ich auf dich, um dich zu bitten: "Laß mich sterben."»

Jesus nimmt das Kind in seine Arme, ohne auf dessen Worte zu achten: «Meine Füße sind schmutzig, und auch mein Kleid ist schmutzig, weil ich mich auf die Straße gesetzt habe.»

«Kommst du von weit her?»

«Von einem Hof in der Nähe der Stadt. Der, bei dem ich jetzt bin, wohnt dort. Ich habe deine Apostel vorbeigehen sehen. Ich weiß, daß sie es waren, denn die Landarbeiter haben gesagt: "Seht, da kommen die Jünger des Rabbi von Galiläa. Aber er ist nicht dabei." Also bin ich gekommen.»

«Du bist ganz naß, Kind. Armer Junge! Du wirst wieder krank werden.»

«Wenn du mich nicht erhörst, wird mich wenigstens die Krankheit töten! Wohin bringst du mich denn?»

«Ins Haus. So kannst du nicht bleiben!»

Jesus betritt mit dem verkrüppelten Kind in den Armen den Garten und ruft Lazarus zu, der soeben zurückkommt: «Schließe du das Tor. Ich trage dieses ganz durchnäßte Kind ins Haus.»

«Wer ist es denn, Meister?»

«Ich weiß es nicht. Nicht einmal seinen Namen weiß ich.»

«Den werde ich dir auch nicht sagen. Ich will nicht erkannt werden. Ich will das, worum ich dich gebeten habe. Die Mama hat zu mir gesagt: "Mein Kind, mein armes Kind. Ich sterbe. Und ich wollte, du würdest mit mir sterben, denn im Jenseits wärest du nicht mehr verkrüppelt und müßtest nicht mehr an Leib und Seele leiden. Dort bekommen die, die unglücklich geboren werden, keinen Spottnamen. Denn Gott ist gut zu den Unschuldigen und den Unglücklichen." Schickst du mich zu Gott?»

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«Das Kind möchte sterben. Es ist eine traurige Geschichte...»

Lazarus schaut den Knaben näher an und sagt auf einmal: «Bist du denn nicht der Sohn des Sohnes Nahums? Bist du nicht der, der in der Sonne an der Sykomore am Rand der Ölgärten Nahums sitzt? Und hat dich dein Vater nicht seinem Landarbeiter Josias anvertraut?»

«Ich bin es. Aber warum hast du es gesagt?»

«Armes Kind. Nicht, um dich zu verspotten. Glaube mir, Meister, das Los eines Hundes in Israel ist nicht so traurig wie das Schicksal dieses Kindes. Wenn es nicht mehr in das Haus, aus dem es gekommen ist, zurückkehren würde, würde niemand nach ihm suchen. Weder die Knechte noch die Herren. Hyänen mit harten Herzen! Joseph kennt die Geschichte nur zu gut... Sie hat seinerzeit großes Aufsehen erregt. Aber ich war damals so sehr betrübt wegen Maria... Nach dem Tod der unglücklichen Frau kam der Junge zu Josias. Ich habe ihn manchmal gesehen... vergessen in der Sonne oder im Wind auf dem Feld; denn er hat erst spät gehen gelernt... und konnte auch nie weit gehen. Ich weiß nicht, wie er es heute geschafft hat, hierher zu kommen. Wer weiß, wie lange er schon unterwegs ist!»

«Seit Petrus dort vorbeigekommen ist.»

«Und jetzt? Was machen wir mit ihm?»

«Nach Hause gehe ich nicht mehr zurück. Ich will sterben. Ich will fortgehen. Gnade und Erbarmen für mich, Herr!»

Sie sind ins Haus gegangen, und Lazarus befiehlt einem Diener, eine Decke zu bringen und Noemi zu holen, die sich um das in seinen nassen Kleidern vor Kälte zitternde Kind kümmern soll.

«Er ist der Sohn eines deiner ärgsten Feinde, eines der Schlimmsten in Israel! Wie alt bist du, Kind?»

«Zehn.»

«Zehn! Zehn Jahre des Leidens!»

«Das ist genug!» sagt Jesus laut und stellt den Jungen auf den Boden.

Er ist wirklich schief gewachsen. Die rechte Schulter ist höher als die linke, die Brust ist zu stark gewölbt, der dünne Hals verschwindet zwischen den hohen Schlüsselbeinknochen, und die Beine sind krumm...

Jesus schaut ihn mitleidig an, während Noemi ihn entkleidet und abtrocknet, bevor sie ihn in eine warme Decke hüllt. Lazarus schaut ihn ebenfalls mitleidig an.

«Ich werde ihn in mein Bett legen, Herr, nachdem ich ihm heiße Milch gegeben habe», sagt Noemi.

«Aber läßt du mich nicht sterben? Hab Erbarmen! Warum soll ich weiterleben, wenn ich so bin und so viel leiden muß?» Und er fügt hinzu: «Ich habe so sehr auf dich gehofft, Herr!» Ein Tadel, eine Enttäuschung liegt in seiner Stimme.

«Sei lieb. Gehorche, und der Himmel wird dich trösten», sagt Jesus

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und neigt sich zu ihm, um ihn noch einmal zu liebkosen, indem er mit der Hand über die armen verkrüppelten Glieder streicht.

«Bringe ihn zu Bett und wache bei ihm. Das weitere... wird sich ergeben.»

Das Kind wird weinend fortgetragen.

«Und solche Leute halten sich für heilig!» ruft Lazarus aus, als er an Nahum denkt...

Die Stimme des Petrus ruft den Meister...

«Oh, Meister! Hier bist du? Alles ist in Ordnung, keine Belästigung. Alles ist sogar sehr ruhig. Im Tempel hat uns niemand gestört. Johannes hat gute Nachrichten. Man hat die Jünger in Ruhe gelassen. Die Leute erwarten dich in festlicher Stimmung. Ich bin glücklich. Und du, was hast du getan, Meister?»

Sie unterhalten sich weiter, während sie sich entfernen und Lazarus sich zu Maximinus begibt, der ihn gerufen hat.

639. DER SABBAT VOR DEM EINZUG IN JERUSALEM;

1. DAS WUNDER AN MATHUSALEM ODER SCHALEM

Das Wetter ist nun nach den Regenfällen der letzten Tage wieder schön geworden, der Himmel wunderbar klar, und die Sonne strahlt. Die Erde ist durch den Regen so sauber wie die Luft. Sie scheint erst vor wenigen Stunden erschaffen worden zu sein, so frisch und rein ist sie. Alles glänzt und singt an diesem herrlichen Morgen.

Jesus geht langsam auf abseits gelegenen Wegen des Gartens spazieren. Nur einige Diener, die Gärtner, sehen ihm bei diesem einsamen Spaziergang in den ersten Morgenstunden zu. Doch keiner stört den Meister. Sie ziehen sich vielmehr leise zurück, um ihm seinen Frieden zu lassen.

Außerdem ist ja Sabbat, Ruhetag, und die Gärtner sind nicht bei der Arbeit. Aus lebenslanger Gewohnheit halten sie sich im Freien auf und beobachten die Pflanzen, die Bienenstöcke und die Blumen, für die es keinen Sabbat gibt, die duften, im Aprillüftchen rauschen und in der Sonne summen. Dann belebt der Garten sich langsam. Zuerst kommen die Diener des Hauses und die Mägde, dann die Apostel und die Jüngerinnen, und zuletzt Lazarus. Jesus geht zu ihnen und begrüßt sie.

«Seit wann bist du hier, Meister?» fragt Lazarus und streift dabei Tautropfen aus dem Haar Jesu.

«Seit Sonnenaufgang. Die Vöglein haben mich gerufen, Gott zu loben. Also bin ich hier herausgekommen. Gott in der Schönheit des Erschaffenen betrachten bedeutet, ihn ehren und ihn mit bewegtem Herzen anbeten. Die Erde ist schön. Und in diesen frühen Stunden des Tages, an

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einem Tag wie heute, erscheint sie uns frisch wie in den ersten Tagen der Schöpfung.»

«Es ist wirklich Passahwetter. Und es wird anhalten, da es sich in der ersten Mondphase eingestellt hat und der Wind günstig ist», bemerkt Petrus.

«Darüber bin ich sehr froh, denn ein regnerisches Passahfest ist traurig.»

«Mehr noch: Es schadet der Ernte. Das Korn braucht Sonne, nun da es bald gemäht wird», sagt Bartholomäus.

«Ich bin glücklich, daß ich hier meine Ruhe habe. Heute ist Sabbat, und niemand wird kommen. Kein Fremder wird bei uns sein», sagt Andreas.

«Da irrst du dich. Wir haben einen Gast, einen kleinen Gast. Er schläft noch, Meister. Ein weiches Bett und ein voller Magen sorgen für einen langen Schlaf. Ich habe nachgesehen. Noemi wacht bei ihm», sagt Lazarus.

«Wer ist es denn? Wann ist er gekommen? Wer hat ihn gebracht? Denn du sprichst so, als wäre es ein Kind», fragen Frauen und Männer gleichzeitig.

«Es ist ein Kind, ein armes Kind. Sein Leid hat es hierher gebracht. Es stand am Gitter des Tores und schaute zum Haus. Der Meister hat es aufgenommen.»

«Wir haben nichts davon gewußt... Warum das?»

«Weil das Kind Ruhe nötig hatte», antwortet Jesus, und sein Gesicht nimmt einen nachdenklichen Ausdruck an, während er hinzufügt: «Im Haus des Lazarus versteht man zu schweigen.»

Ein Diener kommt, um Martha etwas zu sagen, zieht sich dann zurück und kehrt mit anderen wieder, die Servierbretter mit Milchkrügen, Tassen, Brot, Butter und Honig bringen. Alle bedienen sich und setzen sich auf die überall vorhandenen Sitzgelegenheiten. Aber dann rücken sie näher zum Meister heran und bitten ihn, ein Gleichnis zu erzählen, «ein schönes Gleichnis», sagen sie, «so schön wie dieser Tag des Nisan».

«Nicht nur eines, sondern zwei werde ich euch erzählen. Hört zu.

Ein Mann wollte eines Tages zwei Lampen entzünden, um den Herrn an einem seiner Festtage zu ehren. Er nahm also zwei Gefäße von gleicher Größe, füllte Öl in gleicher Menge und Qualität in jedes, versah sie mit zwei gleichen Dochten und zündete sie zur selben Stunde an, damit die beiden Lampen für ihn beteten, während er arbeitete, wie es erlaubt war. Nach einiger Zeit kam der Mann zurück und sah, daß eine Lampe mit großer Flamme brannte, während das Flämmchen der anderen nur ganz klein und unscheinbar war, kaum ein Lichtpünktchen in der Ecke, in der die Lampen standen. Der Mann gab dem Docht die Schuld. Er schaute nach. Aber der Docht war in Ordnung. Er wollte jedoch nicht so fröhlich brennen wie die andere Lampe, deren Flamme züngelte und etwas sagen

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zu wollen schien; und so fröhlich tanzte und loderte sie, daß sie wirklich leise flüsterte.

"Diese Lampe singt wahrlich das Lob des allerhöchsten Herrn!" sagte der Mann zu sich selbst. "Während diese hier aussieht – schau sie dir nur an, meine Seele – als falle es ihr schwer, den Herrn preisen zu müssen, so wenig Eifer zeigt sie!" Darauf kehrte der Mann wieder zu seiner Arbeit zurück.

Nach einiger Zeit kam er wieder. Die eine Flamme war noch größer geworden, während die andere noch kleiner geworden war und um so ruhiger brannte, je stärker die erste leuchtend flackerte. Der Mann kam noch ein zweites Mal, doch nichts hatte sich geändert; er kam ein drittes Mal, und es war dasselbe. Als er zum vierten Mal wiederkam, war das Zimmer voll von schwarzem, übelriechendem Qualm, und nur ein einziges Flämmchen leuchtete durch die dicken Rauchwolken. Der Mann ging an das Wandbrett, auf dem die Lampen standen, und stellte fest, daß die Lampe, die vorher so stark gebrannt hatte, nun ausgebrannt und schwarz war und ihre züngelnde Flamme sogar die weiße Wand beschmutzt hatte. Die andere Lampe brannte immer noch gleichmäßig zur Ehre Gottes.

Der Mann wollte alles in Ordnung bringen. Da hörte er in seiner Nähe eine Stimme: "Laß die Dinge so, wie sie sind. Denke darüber nach, denn sie sind ein Symbol. Ich bin der Herr."

Der Mann warf sich anbetend zu Boden und wagte zitternd zu sagen: "Ich bin unwissend. Erkläre mir, o Weisheit, das Symbol der Lampen, von denen die eine, die dich mit größerem Eifer zu ehren schien, Schaden verursacht hat, während die andere immer noch gleichmäßig brennt."

"Ja, ich werde es dir erklären. So wie bei diesen Lampen ist es auch bei den Herzen der Menschen. Es gibt solche, die anfangs brennen und leuchten und von den Menschen bewundert werden, da ihre Flamme vollkommen und beständig zu sein scheint. Und es gibt solche, die nur ein sanftes Licht verbreiten, das die Aufmerksamkeit nicht auf sich zieht und als Lauheit im Dienst des Herrn erscheinen kann. Aber nach dem ersten Aufflammen, oder dem zweiten, oder dem dritten, zwischen dem dritten und dem vierten, richten die ersteren Schaden an und erlöschen dann für immer, denn ihr Licht war unzuverlässig. Sie wollten mehr für die Menschen leuchten als für den Herrn, und der Stolz hat sie in kurzer Zeit verbraucht und einen schwarzen, schweren Rauch erzeugt, der auch die Luft trübt. Die anderen hatten nur den einen, ausdauernden Willen, Gott allein zu ehren, und es kümmerte sie nicht, ob sie von den Menschen gelobt würden. Sie haben sich selbst verzehrt in einer steten, reinen Flamme, ohne Rauch und üblen Geruch. Wisse das ausdauernde Licht nachzuahmen, denn nur dieses ist Gott wohlgefällig."

Der Mann hob das Haupt... Der Rauch hatte sich verzogen, und der Stern der getreuen Lampe leuchtete nun allein, rein und ruhig zur Ehre

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Gottes und ließ das Metall so schimmern, daß es wie pures Gold glänzte. Und er sah die Lampe Stunde um Stunde gleichmäßig leuchten, bis ihr Licht sanft, ohne Rauch und üblen Geruch und ohne sein Gewand zu beschmutzen, in einem letzten Aufflammen erlosch, als wolle sie sich zum Himmel erheben, zu den Sternen aufsteigen, nachdem sie den Herrn bis zum letzten Tropfen und bis zur letzten Faser würdig geehrt hatte.

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, viele gibt es, die zu Anfang mit großer Flamme brennen und die Bewunderung der Welt, die nur die Oberfläche der menschlichen Werke sieht, hervorrufen, die aber dann sterben, verkohlen und alles mit ihrem beißenden Rauch erfüllen. Und wahrlich, ich sage euch, Gott schenkt ihrer Flamme keine Beachtung, denn er sieht, daß sie nur aus menschlichen Gründen so stolz brennt.

Selig jene, die es der zweiten Lampe nachtun und nicht verkohlen, sondern sich mit dem letzten Herzschlag ihrer beständigen Liebe zum Himmel erheben.»

«Welch eigenartiges Gleichnis! Aber es ist wahr! Schön! Es gefällt mir. Ich würde gerne wissen, ob wir Flammen sind, die zum Himmel aufsteigen.» Die Apostel tauschen ihre Eindrücke aus.

Judas findet auch hier Gelegenheit, bissig zu werden. Sein Angriff gilt Maria von Magdala und Johannes des Zebedäus: «Seid vorsichtig, Maria, und du, Johannes. Ihr seid unter uns die lodernden Flammen... Daß dies nur keine bösen Folgen hat!»

Maria von Magdala will antworten, aber sie preßt die Lippen zusammen, um die Worte nicht auszusprechen, die aus ihrem Herzen aufsteigen. Sie schaut Judas an. Sie beschränkt sich darauf, ihn anzuschauen. Doch dieser Blick ist so glühend, daß Judas das Lachen vergeht und er die Augen senkt.

Johannes, sanftmütig von Herzen, obgleich brennend vor Liebe, antwortet ruhig: «Was meine geringen Fähigkeiten betrifft, könnte es mir schon passieren. Doch ich vertraue auf die Hilfe des Herrn und hoffe, mich bis zum letzten Tropfen und bis zur letzten Faser zur Ehre unseres Herrn verzehren zu können.»

«Und das andere Gleichnis? Du hast uns zwei versprochen», sagt Jakobus des Alphäus.

«Hier ist mein zweites Gleichnis. Da kommt gerade...» und er zeigt auf die Tür des Hauses, die mit einem Vorhang verhangen ist, der leicht im Wind weht und den soeben die Hand eines Dieners beiseite schiebt, um die alte Noemi durchzulassen. Diese wirft sich Jesus zu Füßen und ruft aus: «Das Kind ist gesund! Es ist nicht mehr verkrüppelt! Du hast es über Nacht geheilt. Der Junge war gerade aufgewacht, und ich bereitete das Bad vor, um ihn zu waschen und ihm dann die Tunika und das Kleid anzuziehen, die ich während der Nacht aus einem abgelegten Gewand des Lazarus genäht hatte. Aber als ich zu ihm sagte: "Komm Junge", und die

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Decken zurückzog, sah ich, daß sein kleiner Körper, der gestern noch so verkrüppelt war, nun ganz gesund ist. Ich schrie auf. Sara und Marcella, die nicht einmal von dem Kind wußten, das in meinem Bett schlief, liefen herbei; und ich ließ sie stehen und rannte fort, um dir zu berichten...»

Alle sind neugierig. Sie stellen Fragen und wollen sehen. Jesus beruhigt die Aufgeregten mit einer Geste. Er befiehlt Noemi: «Geh zu dem Kind, wasche es, kleide es an und bringe es hierher zu mir.»

Dann wendet er sich seinen Jüngern zu: «Und nun das zweite Gleichnis, das man mit den Worten zusammenfassen kann: "Die wahre Gerechtigkeit macht keine Unterschiede und kennt keine Rache."

Ein Mensch, vielmehr: Der Mensch, der Menschensohn, hat Freunde und Feinde. Wenige Freunde und viele Feinde; und Feinde, deren Haß und deren Gedanken ihm nicht unbekannt sind und deren Willen und Absichten er kennt. Er weiß, daß sie vor keiner Tat zurückschrecken, so furchtbar sie auch sein mag. Sie sind in dieser Hinsicht stärker als seine Freunde, deren Stärke durch Schrecken oder Enttäuschung, oder auch durch übermäßige Zuversicht wie durch zerstörerische Mauerbrecher gelitten hat. Dieser Menschensohn mit den vielen Feinden, den man vieler unwahrer Dinge beschuldigt, ist gestern einem armen Kind begegnet, dem traurigsten der Kinder, dem Sohn eines Feindes. Und das Kind war verkrüppelt und hinkte und bat um eine sonderbare Gnade: sterben zu dürfen. Alle erbitten Ehren und Freuden vom Menschensohn, erbitten Gesundheit, erbitten Leben. Dieses arme Kind hat darum gebeten, sterben zu dürfen, um nicht mehr leiden zu müssen. Es hat alle erdenklichen körperlichen und seelischen Schmerzen ausgestanden, denn sein Vater, der einen grundlosen Haß gegen mich hegt, haßt auch das unglückliche, unschuldige Kind, das er gezeugt hat. Ich habe es geheilt, damit es nicht mehr leidet, damit es über die physische Gesundheit hinaus die geistige Gesundheit erlangt. Auch seine kleine Seele ist krank. Der Haß des Vaters und die Verachtung der Menschen haben es verwundet und ihm die Liebe geraubt. Nur der Glaube ist ihm geblieben, an den Himmel und an den Menschensohn, von dem, vielmehr, von denen es erbat, sterben zu dürfen. Da ist das Kind. Nun wird es euch selbst erzählen.»

Das Kind kommt nun ordentlich und sauber und mit dem weißen Wollgewand bekleidet, das Noemi ihm eiligst über Nacht genäht hat, an der Hand der alten Amme auf sie zu. Es ist klein, obgleich es, da nicht mehr verkrüppelt und gebeugt, größer als gestern aussieht. Es hat ein unregelmäßiges und etwas welkes Gesichtlein, das durch den Schmerz schon vorzeitig den Ausdruck eines Erwachsenen angenommen hat. Aber es ist nicht mehr verkrüppelt. Die nackten Füßchen treten nun sicher auf, und sein Schritt ist nicht mehr das Humpeln der Hüftlahmen. Und die mageren Schultern sind bei aller Magerheit gerade. Der dünne Hals scheint im Vergleich zu gestern, als er zwischen den ungleichen Schultern steckte, lang zu sein.

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«Aber... das ist doch der Sohn der Anna des Nahum! Was für ein verschwendetes Wunder! Meinst du, sein Vater und Nahum würden dadurch deine Freunde? Sie werden dich nur noch mehr hassen. Denn sie erhofften sich den Tod dieses Kindes, der Frucht einer unglücklichen Ehe», ruft Judas von Kerioth aus.

«Ich wirke keine Wunder, um dadurch Freunde zu gewinnen, sondern aus Mitleid mit den Geschöpfen und um meinen Vater zu ehren. Ich mache keine Unterschiede und bin nicht berechnend, wenn ich mich mitleidig über ein armseliges menschliches Geschöpf neige. Und ich räche mich nicht an denen, die mich verfolgen ...»

«Nahum wird deine Tat als Rache ansehen.»

«Ich wußte nicht einmal etwas von diesem Kind. Ich kenne noch immer nicht seinen Namen.»

«Mathusalah oder Mathusalem wird es genannt, im Spott.»

«Die Mama hat mich Schalem genannt. Die Mama hat mich gern gehabt. Sie war nicht böse, wie du es bist und die, die mich hassen», sagt das Kind mit einem Glimmen in den Augen, dem Glimmen des ohnmächtigen Zornes aller Menschen und Tiere, die man lange Zeit gequält hat.

«Komm her, Schalem. Hierher, zu mir. Bist du glücklich, daß du nun gesund bist?»

«Ja... aber ich wäre lieber gestorben. Man wird mich trotzdem nicht lieben. Wenn die Mama noch leben würde, dann wäre es schön gewesen. Aber so... ich werde immer unglücklich sein.»

«Er hat recht. Gestern haben wir dieses Kind getroffen. Es hat uns gefragt, ob du in Bethanien bei Lazarus bist. Wir wollten ihm ein Almosen geben, denn wir hielten es für einen Bettler. Doch es wollte nichts annehmen. Es war am Rand eines Feldes...» sagt der Zelote.

«Nicht einmal du hast ihn gekannt? Seltsam», sagt Judas von Kerioth.

«Viel seltsamer erscheint mir, daß du so viel über diese Dinge weißt. Du vergißt, daß ich bei den Verfolgten und dann bei den Aussätzigen war, bevor ich zum Meister kam.»

«Und du vergißt, daß ich ein Freund von Nahum bin, der der Vertraute des Annas ist. Ich habe euch dies nie verheimlicht.»

«Schon gut. Das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß wir nun überlegen, was wir mit diesem Kind anfangen. Sein Vater liebt es nicht, das ist wahr. Aber er hat trotzdem ein Anrecht auf ihn. Wir können ihm den Sohn nicht ohne sein Wissen wegnehmen. Wir müssen vorsichtig vorgehen und dürfen ihn nicht reizen, gerade jetzt, wo sie sich etwas gebessert zu haben scheinen», sagt Nathanael.

Judas lacht laut und höhnisch, ohne eine Erklärung für sein Gelächter zu geben.

Jesus, der das Kind zwischen seine Knie genommen hat, sagt langsam: «Ich werde Nahum zur Rede stellen... Ich werde deshalb nicht noch mehr

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gehaßt werden. Sein Haß kann nicht größer werden, das ist unmöglich. Er hat schon das absolute Höchstmaß erreicht.»

Annalia, die bisher ganz in einen Gedanken versunken, der sie beseligt, geschwiegen hat, öffnet nun den Mund und sagt: «Wenn ich dableiben würde, hätte ich das Kind gern zu mir genommen. Ich bin jung, aber ich habe ein mütterliches Herz.»

«Gehst du denn fort? Wann?» fragen die Frauen.

«Bald.»

«Für immer? Wohin gehst du? Verläßt du Judäa?»

«Ja, ich gehe weit fort. Sehr weit fort und für immer. Und ich bin so glücklich.»

«Was du nicht tun kannst, können andere tun, wenn der Vater es erlaubt.»

«Ich werde es Nahum sagen, wenn euch so viel daran liegt. Seine Meinung ist maßgebend, mehr als die des eigentlichen Vaters. Morgen werde ich es ihm sagen», verspricht Judas von Kerioth.

«Wenn nicht Sabbat wäre, würde ich zu diesem Josias gehen, dem das Kind übergeben wurde», sagt Andreas.

«Um zu sehen, ob sie traurig sind, weil sie es verloren haben?» fragt Matthäus.

«Ich glaube, wenn eine ihrer Bienen sich verirren würde, wäre das für sie ein viel größerer Kummer...» brummt Maximinus, der sich vor einer Weile zu ihnen gesellt hat.

Das Kind sagt nichts. Es schmiegt sich an Jesus und studiert die Gesichter ringsum mit dem durchdringenden Blick, den kränkliche und schmerzgeplagte Geschöpfe oft haben. Es scheint, daß es mehr die Seelen als die Gesichter studiert, und als Petrus fragt: «Was denkst du von uns?», antwortet das Kind und legt seine Hand in die des Petrus: «Du bist gut.» Dann verbessert es sich: «Alle seid ihr gut. Aber... ich wäre lieber unerkannt geblieben. Ich habe Angst...» und es schaut dabei Judas von Kerioth an.

«Vor mir, nicht wahr? Du hast Angst, daß ich mit deinem Vater spreche? Gewiß muß ich es tun, wenn ich ihn fragen soll, ob du bei uns bleiben kannst. Doch er wird dich nicht holen.»

«Das weiß ich. Ich meine etwas anderes... Ich würde gerne weit, weit fortgehen, wie diese Frau... Ins Land meiner Mutter. Dort gibt es ein blaues Meer inmitten grüner Berge. Man kann es unten sehen, mit weißen Segeln, die darüber hinfliegen, und schönen Städten ringsherum. Und in den Bergen sind viele Höhlen, in denen die wilden Bienen süßen, süßen Honig machen. Ich habe keinen Honig mehr gegessen, seit meine Mama gestorben ist und man mich zu Josias gebracht hat. Philippus, Joseph, Elisa und die anderen Kinder, die haben Honig gegessen. Aber ich nicht. Wenn sie den Honigtopf unten aufbewahrt hätten, hätte ich ihn gestohlen,

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denn ich hatte so große Lust darauf. Aber sie haben ihn immer auf die höchsten Regale gestellt, und ich konnte nicht auf die Tische klettern wie Philippus. Ich möchte so gerne Honig essen!»

«Armes Kind! Ich gehe und hole dir, so viel du willst», sagt Martha gerührt und entfernt sich eilends.

«Aber woher war denn seine Mutter?» fragt Petrus.

«Sie hatte Häuser und Besitz bei Sefed. Sie war das einzige Kind, Waise und Erbin. Schon alt, häßlich und ein wenig hinkend. Aber sehr reich. Der alte Sadok vermittelte die Ehe, und der Sohn des Lieblings von Annas bekam sie zur Frau... Ein Vertrag, der ein wahrlich unwürdiger Handel war, alles nur Berechnung, keine Liebe. Nachdem der Besitz der Frau verkauft worden war, angeblich weil er zu weit entfernt lag von hier – mit Ausnahme eines Häuschens, das dem Verwalter gehörte, der es vom vorigen Herrn auf Lebenszeit für sich selbst und seine Kinder bis in die vierte Generation erhalten hatte – ging das ganze Geld bei unglücklichen Spekulationen verloren... Aber ich glaube das nicht. Denn ich weiß, daß er schöne Ländereien am Ufer besitzt... die er vorher nicht hatte... Dann, einige Jahre nach der Hochzeit, die Frau war schon recht alt, kam dieses Kind zur Welt... Und der Mann nahm es zum Anlaß, die Frau zu verstoßen und eine andere aus der Ebene von Saron zu heiraten, die jung, schön und reich war... Die Geschiedene flüchtete zu dem alten Verwalter und ist dort gestorben. Ich weiß nicht, weshalb sie dieses Kind nicht behalten haben. Der Vater hielt es für tot», erklärt Iskariot.

«Weil Johannes und auch Maria gestorben sind, und ihre Söhne als Knechte anderswo arbeiten. Wer sollte mich denn zu sich nehmen, da ich weder jemandes Sohn noch zur Arbeit zu gebrauchen war? Sie waren gut, Michael und Isaak, und auch Esther und Judith waren gut. Sie sind gut. Wenn sie zu den Festen kommen, bringen sie mir immer etwas mit; aber Josias nimmt es mir weg und gibt es seinen eigenen Kindern.»

«Aber sie wollen dich nicht zu sich nehmen», erwidert Judas.

«Nun, da ich aufrecht gehe und stark bin, werden sie mich schon haben wollen. Sie sind Knechte, wie ich schon sagte, und konnten nicht zu ihrem Herrn sagen: "Nimm diesen kranken Krüppel zu dir." Aber jetzt können sie es ...»

«Aber wenn du von Josias weggelaufen bist, wie können sie dich dann finden?» gibt Bartholomäus zu bedenken.

Das Kind ist betroffen durch diese so richtige Bemerkung und denkt nach. Die Krankheit hat es frühreif im Denken gemacht, ebenso wie sein Gesicht zu früh erwachsen wirkt. Es sagt traurig: «Das ist wahr! Daran hatte ich nicht gedacht.»

«Kehre zu Josias zurück. In einigen Tagen werden sie kommen ...»

«Dorthin? Nein. Dort gehe ich nicht mehr hin. Ich will nicht mehr dorthin. Eher bringe ich mich um!» Sein Gesicht ist wild und von Zorn

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entstellt; aber dann wird es von Tränen überwältigt, legt den Kopf auf die Knie Jesu und schluchzt: «Warum hast du mich nicht sterben lassen?»

Martha, die mit einem Honigtopf zurückkommt, ist erstaunt über diese Trostlosigkeit, und Bartholomäus, der sie verursacht hat, ist betrübt und entschuldigt sich: «Ich war der Meinung, einen guten Rat zu geben. Gut für alle. Für das Kind, für dich, Meister, für Lazarus... Keiner von euch und von uns kann noch mehr Haß brauchen...»

«Das ist wahr! Eine wirklich schwierige Situation!» ruft Petrus aus. Er denkt über den Fall nach, trifft innerlich Entscheidungen und beschließt sie mit dem typischen Pfiff, der seinem Gemütszustand Ausdruck verleiht, wenn er Probleme vor sich hat, die schwer zu lösen sind.

Der eine schlägt dies, der andere das vor. Zu Nahum gehen. Zu Josias gehen und ihm sagen, er solle Michael und Isaak zu Lazarus schicken oder anderswohin, wo sie das Kind abholen können; denn es ist angebracht, Lazarus nicht noch verhaßter zu machen, als er es durch seine Freundschaft mit Jesus schon ist. Wieder andere meinen, man solle niemandem etwas sagen und das Kind verschwinden lassen, indem man es einem vertrauenswürdigen Jünger übergibt.

Judas von Kerioth sagt nichts. Es scheint, als interessiere ihn die Diskussion nicht. Er spielt mit den Fransen seines Gewandes, kämmt sie mit den Fingern und verwirrt sie dann wieder.

Auch Jesus sagt nichts. Er liebkost und beruhigt das Kind, richtet seinen Kopf auf und gibt ihm das Honigtöpfchen in die Hände.

Schalem ist ein Kind, ein armes zehnjähriges Kind, das immer gelitten hat; aber er ist trotzdem noch ein Kind, auch wenn er durch den Schmerz reifer geworden ist. Und vor einem solchen Schatz wie dem Honig hier gehen die letzten Tränen in verzücktes Staunen über. Er blickt auf. Die großen braunen, intelligenten Augen, das einzige Schöne in seinem Gesicht, schauen abwechselnd Jesus und Martha an, während er fragt: «Wieviel darf ich nehmen? Einen oder zwei Löffel?» Dabei zeigt er auf den runden Silberlöffel, der langsam in dem blonden Honig versinkt.

«So viel du willst, Kind. So viel du magst. Den Rest kannst du morgen essen oder später. Es gehört alles dir», sagt Martha und liebkost ihn.

«Alles mir?! Oh! So viel Honig habe ich noch nie bekommen. Alles für mich! Oh!» Und er drückt ehrfürchtig den Honigtopf an seine Brust, als ob es ein Schatz wäre.

Doch dann merkt er, daß wertvoller als der Honig die Liebe ist, die ihm den Honig geschenkt hat; und er stellt das Töpfchen auf die Knie Jesu, fällt der über ihn gebeugten Martha um den Hals und gibt ihr einen Kuß. Das ist alles, was seine Dankbarkeit vermag, alles, was er, das verlassene Kind, das nichts zu verschenken hat, geben kann.

Die anderen unterbrechen ihre Überlegungen und betrachten die Szene. Petrus sagt: «Dieses Kind ist noch unglücklicher als Margziam, der doch

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wenigstens die Liebe des Großvaters und der anderen Landarbeiter besaß. Es ist wahr, es gibt immer noch größeres Elend als das, was wir für groß gehalten haben.»

«Ja, den Abgrund des menschlichen Elends hat niemand jemals ausgelotet. Wer weiß, was sich da noch alles verbirgt... Und was in den künftigen Jahrhunderten zum Vorschein kommen wird», sagt Bartholomäus nachdenklich.

«Du hast also kein Vertrauen in die Frohe Botschaft? Du glaubst nicht daran, daß sie die Welt verändern wird? Bei den Propheten steht es geschrieben. Und der Meister wiederholt es. Du bist ein Ungläubiger, Bartholomäus», sagt Iskariot mit leichter Ironie.

Der Zelote antwortet ihm: «Ich sehe nicht, worin der Unglaube von Bartholomäus besteht. Die Lehre des Meisters wird ein Trost in allem Unglück sein und auch die Härte der Sitten und Gebräuche mildern; doch den Schmerz wird sie nicht aus der Welt schaffen. Sie wird ihn erträglich machen durch ihre göttlichen Verheißungen künftiger Freuden. Um den Schmerz aus der Welt zu schaffen, oder wenigstens einen großen Teil davon, denn es wird immer Krankheiten, Tod und Naturkatastrophen geben, wäre es nötig, daß alle ein Herz wie Christus hätten; aber...»

Iskariot unterbricht ihn: «So muß es auch werden. Was hätte es sonst für einen Sinn, daß der Messias auf die Welt gekommen ist?»

«Sagen wir: so sollte es werden. Aber sage mir, Judas: Ist es bei uns so geworden? Wir sind zwölf und leben seit drei Jahren mit ihm zusammen. Wir nehmen seine Lehre in uns auf wie die Luft, die wir atmen. Und? Sind wir zwölf alle heilig? Was machen wir anders als Lazarus, Stephanus, Nikolaus, Isaak, Manaen, Joseph, Nikodemus, die Frauen und die Kinder? Ich spreche von den Gerechten unserer Heimat. Sie alle, ob sie nun gelehrt und reich oder unwissend und arm sind, tun, was auch wir tun: ein wenig Gutes und ein wenig Böses, aber ohne sich völlig zu erneuern. Ja, ich muß sogar sagen, daß viele, sehr viele, uns übertreffen. Viele Jünger übertreffen uns, die Apostel... und du verlangst, daß alle auf der Welt ein Herz bekommen, wie Christus, wenn nicht einmal wir, die Apostel, dazu fähig sind? Wir haben uns mehr oder weniger gebessert... Jedenfalls hoffen wir, daß es so ist; denn es ist schwer für den Menschen, sich selbst und den Bruder, der an seiner Seite lebt, zu kennen. Zu undurchsichtig und dicht ist der Schleier des Fleisches; und zu sehr ist der Mensch darauf bedacht, nicht durchschaut zu werden, als daß der Mensch den Menschen verstehen könnte. Ob man sich selbst oder andere betrachtet, man bleibt immer an der Oberfläche. Prüfen wir uns selbst, wollen wir uns nicht erkennen, damit unser Stolz nicht leidet oder wir uns nicht etwa genötigt sehen, uns zu ändern. Prüfen wir andere, so macht uns unser Stolz als Prüfer zu ungerechten Richtern, und der Stolz der Geprüften läßt diese ihr Innerstes verschließen wie eine Auster ihre Schale», sagt der Zelote.

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«Gut gesagt, Simon. Du hast wirklich weise gesprochen», lobt Judas Thaddäus, und die anderen pflichten ihm bei.

«Wozu ist er dann gekommen, wenn sich nichts ändern wird?» erwidert Iskariot.

Jesus ergreift das Wort: «Vieles wird sich ändern. Nicht alles; denn was schon heute meine Lehre bekämpft, wird es auch in Zukunft tun: der Haß jener, die das Licht nicht lieben. Der Macht meiner Nachfolger wird die Macht der Anhänger Satans gegenüberstehen. Und wie viele werden es sein! Mit vielerlei Gesichtern! Meiner unveränderlichen, weil vollkommenen Lehre werden immer wieder neue Irrlehren gegenübergestellt werden. Wieviel Leid wird daraus erwachsen! Ihr kennt die Zukunft nicht! Ihr meint, der Schmerz, der jetzt in der Welt ist, sei groß... Aber der Wissende sieht Schreckliches, das ihr nicht verstehen könntet, selbst wenn ich es euch erklären würde... Wehe, wenn ich nicht gekommen wäre! Gekommen, um den späteren Menschen ein Gesetz zu geben, das die Instinkte bei den Besten zügelt, und das Versprechen zukünftigen Friedens! Wehe, wenn der Mensch nicht durch mein Kommen die geistigen Hilfsmittel, die das Leben seines Geistes "lebendig" erhalten, und die Gewißheit einer Belohnung erlangt hätte... ! Wenn ich nicht gekommen wäre, dann wäre aus der ganzen Welt im Laufe der Jahrhunderte ein großes irdisches Inferno geworden, und die menschliche Rasse hätte sich gegenseitig zerfleischt und wäre, ihrem Schöpfer fluchend, untergegangen.»

«Der Allerhöchste hat versprochen, daß er keine universalen Strafen wie die Sündflut mehr schicken wird. Und Gott bricht ein gegebenes Versprechen nie», sagt Judas.

«Ja, Judas des Simon, das ist wahr. Der Allerhöchste wird keine universalen Geißeln wie die Sündflut mehr schicken. Doch die Menschen werden selbst immer grausamere Geißeln ersinnen, und im Vergleich zu diesen waren die Sündflut und der Feuerregen, der Sodom und Gomorrha zerstörte, noch milde Strafen. Oh... !»

Jesus steht auf mit einer Geste besorgten Mitleids für die Menschen der Zukunft.

«Nun gut, du weißt... Aber was machen wir inzwischen mit diesem hier?» fragt Judas und zeigt auf das Kind, das seinen Honig in kleinen Portionen genießt und selig ist.

«Jeder Tag hat seine Plage. Morgen sieht man weiter. Es nützt nichts, sich um den morgigen Tag zu sorgen, wenn wir nicht einmal wissen, wer morgen noch am Leben ist.»

«Ich denke nicht wie du. Und ich meine, wir sollten wissen, wo wir wohnen und wo wir das Abendmahl einnehmen werden. So vieles. Wenn wir warten und warten, wird die Stadt überfüllt sein. Wohin gehen wir dann? Nach Gethsemane? Nein. Zu Joseph von Sephoris nicht, zu Johanna nicht, zu Nike nicht, zu Lazarus nicht. Also wohin dann?»

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«Dorthin, wo der Vater seinem Wort eine Zuflucht bereiten wird.»

«Du glaubst vielleicht, ich will es wissen, um Bericht zu erstatten?»

«Das sagst du. Ich habe nichts gesagt. Komm, Schalem. Meine Mutter weiß von dir, hat dich aber noch nicht gesehen. Komm, ich führe dich zu ihr.»

«Ist deine Mutter denn krank?» fragt Thomas.

«Nein, sie betet. Sie hat das Bedürfnis, viel zu beten.»

«Ja. Sie leidet viel. Sie weint viel. Und Maria findet nur Trost im Gebet. Ich habe sie immer viel beten gesehen. In den Augenblicken größten Leidens lebt sie vom Gebet, könnte man sagen ...» erklärt Maria des Alphäus, während Jesus sich entfernt. Er führt das Kind an der Hand und auf der anderen Seite geht Annalia, die er aufgefordert hat, ihn zur Mutter zu begleiten.

640. DER SABBAT VOR DEM EINZUG IN JERUSALEM; II. PILGER UND JUDEN IN BETHANIEN

Liebe und Mißgunst treiben viele der in Jerusalem versammelten Pilger und selbst Bürger von Jerusalem nach Bethanien. Sie warten nicht einmal das Ende des Sonnenunterganges ab. Vielmehr hat der Sonnenuntergang eben erst begonnen, als schon die ersten beim Haus des Lazarus ankommen. Und Lazarus, den die Diener herbeigerufen haben, wundert sich über diese Übertretung des Sabbatgebotes, da die ersten gerade zu denen unter den Juden gehören, die als die Unnachsichtigsten bekannt sind. Doch diese geben die wahrhaft pharisäische Antwort: «Vom Herdentor aus konnte man die Sonnenscheibe nicht mehr sehen, und so haben wir uns auf den Weg gemacht, da wir dachten, daß wir die vorgeschriebene Strecke gewiß nicht überschreiten würden, bevor die Sonnenscheibe hinter den Kuppeln des Tempels untergegangen ist.»

Lazarus antwortet mit einem spöttischen Lächeln auf dem mageren Antlitz; denn er ist gesund und sieht gut aus, aber dick ist er ganz sicher nicht. Er sagt liebenswürdig, wenn auch mit leichtem Sarkasmus: «Und was wollt ihr sehen? Der Meister ehrt seinen Sabbat. Er ruht sich aus. Er begnügt sich nicht damit, den Sonnenball verschwinden zu sehen, um die Ruhezeit für beendet zu halten. Er wartet, bis der letzte Sonnenstrahl erloschen ist, bevor er sagt: "Der Sabbat ist zu Ende."»

«Wir wissen, daß er vollkommen ist. Wir wissen es! Aber wenn wir gefehlt haben, haben wir um so mehr Grund, ihn zu sehen. Nur kurz, nur bis er uns von unserer Schuld losgesprochen hat.»

«Es tut mir leid, aber ich kann nicht. Der Meister ist müde und ruht. Ich werde ihn nicht stören.»

immer mehr Leute kommen. Es sind Pilger aus allen möglichen

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Gebieten, die bitten und betteln, Jesus sehen zu dürfen. Mit den Hebräern sind auch Heiden und Proselyten gekommen. Sie betrachten und bestaunen Lazarus wie ein unwirkliches Wesen. Und Lazarus erträgt die Last seiner unfreiwilligen Berühmtheit und beantwortet geduldig alle Fragen. Aber er gibt den Dienern keine Anweisung, das Tor zu öffnen.

«Bist du der von den Toten zurückgekehrte Mann?» fragt einer, der dem Aussehen nach ein Mischling ist, denn von den Hebräern hat er nur die große, etwas herabhängende Nase, während der Akzent und die Kleidung auf einen Ausländer schließen lassen.

«Ich bin es, zur Ehre Gottes, der mich dem Tod entrissen hat, um mich zum Diener seines Messias zu machen.»

«Aber bist du denn wirklich tot gewesen?» fragen andere.

«Fragt doch diese ehrenwerten Juden hier. Sie waren bei meinem Begräbnis, und viele waren auch bei meiner Auferweckung zugegen.»

«Aber was hast du denn gespürt? Wo warst du? An was erinnerst du dich? Was ist in dir vorgegangen, als du wieder lebendig wurdest? Wie hat er dich auferweckt ... ? Kann man das Grab sehen, in dem du gelegen hast? Woran bist du gestorben? Geht es dir jetzt wirklich gut? Nicht einmal die Narben der Wunden hast du mehr?»

Lazarus ist bemüht, allen geduldig zu antworten. Es fällt ihm nicht schwer zu bestätigen, daß es ihm jetzt sehr gut geht, und daß auch die Narben der Wunden in den Monaten seit der Auferweckung verschwunden sind; aber er kann nicht sagen, was er empfunden hat und wie er auferweckt wurde. Er antwortet: «Ich weiß es nicht. Ich befand mich auf einmal lebend in meinem Garten, zwischen den Dienern und den Schwestern. Nachdem man das Schweißtuch entfernt hatte, sah ich die Sonne, das Licht, hatte Hunger, aß, erfreute mich des Lebens und der großen Liebe des Meisters zu mir. Alles übrige wissen jene, die dabei gewesen sind, besser als ich. Zum Beispiel die drei, die dort miteinander reden, oder die beiden, die gerade kommen.» (Letztere sind die Synedristen Johannes und Eleazar, während die drei, die miteinander reden, zwei Schriftgelehrte und ein Pharisäer sind, die ich bei der Auferweckung des Lazarus gesehen habe, deren Namen ich aber nicht mehr weiß.)

«Die sprechen doch nicht mit uns Heiden! Geht ihr sie fragen, ihr seid Juden; du aber, zeige uns das Grab, in dem du gelegen hast.»

Sie betteln so sehr, daß Lazarus sich entschließt. Er sagt etwas zu den Dienern und wendet sich dann wieder an die Leute: «Geht auf die Straße zwischen diesem und meinem anderen Haus. Ich komme euch entgegen und führe euch zum Grab, obwohl es nichts zu sehen gibt als ein offenes Loch in einer Felswand.»

«Das macht nichts! Gehen wir! Gehen wir!»

«Lazarus! Warte! Können auch wir mitkommen? Oder verweigerst du uns, was du den Fremden gewährst?» sagt ein Schriftgelehrter.

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«Nein, Archelaos. Komm nur, wenn du dich durch die Nähe des Grabes nicht verunreinigt fühlst.»

«Es ist keine Verunreinigung zu befürchten, denn es liegt kein Toter darin.»

«Aber es war vier Tage lang ein Toter darin. Gewöhnlich genügt viel weniger, um als unrein zu gelten in Israel. Wenn jemand nur mit seinem Gewand eine Person streift, die mit einem Toten in Berührung gekommen ist, bezeichnet ihr ihn als unrein. Und aus meinem Grab steigt immer noch Leichengeruch auf, obwohl es schon so lange offen steht.»

«Das macht nichts. Wir werden uns reinigen.»

Lazarus sieht die beiden Pharisäer Johannes und Eleazar an und sagt zu ihnen: «Kommt ihr auch mit?»

«Ja, wir kommen.»

Lazarus geht rasch an die Seite des Gartens mit den Hecken, die so hoch und dicht wie Mauern sind. Er öffnet ein Tor, das sich in einer dieser Hecken befindet, schaut hinaus auf die Straße, die zum Haus des Simon führt, gibt den Wartenden ein Zeichen zu kommen und geht dann mit ihnen zum Grab. Ein blühender Rosenstock rankt sich um den Eingang, ohne ihm aber den Schrecken nehmen zu können, der von einem offenen Grab ausgeht. Auf dem schrägen Felsen unter dem blühenden Bogen, stehen die Worte: «Lazarus, komm heraus!»

Die Übelwollenden sehen es als erste und sagen sofort: «Warum hast du diese Worte einmeißeln lassen? Das hättest du nicht tun dürfen!»

«Warum? In meinem Haus kann ich tun, was ich will, und niemand kann mich einer Sünde beschuldigen, wenn ich die Worte des göttlichen Befehls, die mich dem Leben wiedergeschenkt haben, unauslöschlich und für immer in den Felsen eingraben ließ. Wenn ich einmal dort drinnen liege und die barmherzige Macht des Rabbi nicht mehr preisen kann, dann soll die Sonne sie noch auf dem Stein lesen, die Bäume sollen sie von den Winden vernehmen, die Vögel und die Blumen sollen sie liebkosen und an meiner Stelle fortfahren, den Befehl des Christus zu preisen, der mich dem Tod entrissen hat.»

«Du bist ein Heide! Du bist ein Gotteslästerer! Du lästerst unseren Gott. Du preist die Zauberei des Sohnes Beelzebubs! Nimm dich in acht, Lazarus!»

«Ich erinnere euch daran, daß ich in meinem Haus bin und ihr in meinem Haus seid; ungerufen und aus unwürdigen Gründen seid ihr gekommen. Ihr seid schlechter als diese hier, die Heiden sind, und doch in meinem Erwecker einen Gott erkennen.»

«Anathema! Wie der Meister, so der Jünger! Schrecklich! Gehen wir! Weg von dieser Kloake. Du Verderber Israels, das Synedrium wird sich deiner Worte erinnern.»

«Und Rom sich eurer Verschwörungen. Hinaus!»

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Der sonst so sanfte Lazarus erinnert sich, daß er der Sohn des Theophilus ist, und vertreibt sie wie Hunde. Zurück bleiben die Pilger aus allen möglichen Ländern, stellen Fragen, schauen umher und betteln, Christus sehen zu dürfen.

«Ihr werdet ihn in der Stadt sehen. Jetzt nicht. Ich kann nicht.»

«Ach, wird er denn in die Stadt kommen? Wirklich? Sagst du auch nicht die Unwahrheit? Kommt er, obwohl sie ihn so sehr hassen?»

«Er kommt. Geht nun beruhigt. Seht ihr, wie still es im Haus ist? Man sieht und hört niemanden. Ihr habt gesehen, was ihr sehen wolltet: den Auferweckten und den Ort seines Begräbnisses. Nun geht. Aber sorgt dafür, daß eure Neugier nicht unfruchtbar bleibe. Möge der Anblick des lebendigen Beweises der Macht Jesu Christi, des Lammes Gottes und allerheiligsten Messias euch alle auf seinen Weg führen. Eine Hoffnung macht mich glücklich, auferweckt worden zu sein: denn ich hoffe, daß das Wunder die Zweifelnden aufrüttelt, die Heiden bekehrt und alle davon überzeugt, daß nur einer der wahre Gott und nur einer der wahre Messias ist: Jesus von Nazareth, der heilige Meister.»

Die Leute zerstreuen sich nur ungern, und für einen der geht, erscheinen zehn neue, denn immer mehr Leute kommen. Aber Lazarus gelingt es mit Hilfe einiger Diener, alle hinauszuschieben und die Tore zu schließen.

Er will sich schon zurückziehen und ordnet an: «Gebt acht, daß sie die Tore nicht aufbrechen oder darübersteigen; bald bricht die Nacht herein, und sie werden zu ihren Unterkünften zurückkehren», als er hinter einem Myrtengebüsch Johannes und Eleazar hervorkommen sieht.

«Wie? Ich hatte euch nicht mehr gesehen und glaubte...»

«Schicke uns nicht fort. Wir haben uns in diesen Büschen versteckt, um nicht gesehen zu werden. Wir müssen mit dem Meister sprechen. Wir sind gekommen, da man uns weniger verdächtigt als Joseph und Nikodemus. Aber wir wollen von niemandem gesehen werden, mit Ausnahme von dir und dem Meister. Ist auf deine Diener Verlaß?»

«Im Haus des Lazarus ist es üblich, daß man nur sieht und hört, was der Hausherr will, und Fremden gegenüber nichts weiß. Aber kommt. Gehen wir diesen Weg zwischen den beiden grünen Wänden, die undurchdringlicher sind als eine Mauer.» Er führt sie auf den Weg zwischen den dichten Lorbeer- und Buchsbaumhecken. «Wartet hier. Ich werde Jesus holen.»

«Daß aber niemand etwas bemerkt... !»

«Habt keine Angst.»

Sie müssen nicht lange warten, denn bald erscheint Jesus auf dem durch das Gewirr der Zweige halb dunklen Weg, ganz weiß in seinem Linnengewand. Lazarus bleibt am Beginn des Weges stehen, wie um Wache zu halten oder aus Diskretion. Doch Eleazar gibt ihm ein Zeichen und sagt: «Komm her.»

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Lazarus kommt näher, während Jesus die beiden, die sich tief verneigen, begrüßt.

«Meister, und auch du, Lazarus, hört zu. Kaum hatte sich die Nachricht verbreitet, daß du angekommen bist und dich hier aufhältst, hat sich das Synedrium im Haus des Kaiphas versammelt. Alles, was geschieht, ist gesetzwidrig... Man hat beschlossen... Laß dich nicht täuschen, Meister! Sei wachsam, Lazarus! Laßt euch nicht täuschen durch den falschen Frieden, durch das scheinbare Desinteresse des Synedriums. Es ist nur eine Falle, Meister, um dich anzulocken und dich, ohne Aufsehen zu erregen, gefangenzunehmen, und ohne daß das Volk sich vorbereiten und dich verteidigen kann. Dein Schicksal ist besiegelt und das Dekret wird nicht geändert. Ob morgen oder in einem Jahr, es wird vollstreckt werden. Das Synedrium vergißt niemals seine Rache. Es wartet, es kann die passende Gelegenheit abwarten, aber dann... ! Und auch du, Lazarus. Sie wollen dich aus dem Weg schaffen, dich gefangennehmen, dich beseitigen; denn deinetwegen werden zu viele dem Synedrium untreu und folgen dem Meister. Du selbst hast ganz richtig gesagt, daß du der Beweis seiner Macht bist. Und sie wollen diesen Beweis vernichten. Das Volk vergißt rasch, sie wissen es. Wenn ihr, der Meister und du, nicht mehr existiert, werden viele Flammen erlöschen.»

«Nein, Eleazar! Sie werden erst recht aufflammen!» sagt Jesus.

«Oh Meister! Aber was wird geschehen, wenn du tot bist? Was nützt es, wenn der Glaube an dich aufflammt – selbst wenn es so ist – du aber nicht mehr unter uns bist? Ich hatte gehofft, dir nur eine freudige Nachricht überbringen und dich einladen zu können, denn meine Frau wird bald das Kind gebären, das wir deiner Gerechtigkeit verdanken, die unseren entzweiten Herzen den Frieden wiedergeschenkt hat. Es wird an Pfingsten zur Welt kommen. Ich wollte dich bitten, bei uns zu sein und es zu segnen. Wenn du unter mein Dach kommst, wird für immer jedes Unheil von uns fernbleiben», sagt der Pharisäer Johannes.

«Ich gebe dir schon jetzt meinen Segen...»

«Ach, du willst nicht zu mir kommen! Du traust mir nicht! Ich bin dir treu, Meister! Gott sieht mich!»

«Ich weiß es. Nur... Ich werde an Pfingsten nicht mehr unter euch sein.»

«Aber das Kind wird im Landhaus zur Welt kommen ...»

«Ich weiß es. Aber ich werde nicht mehr da sein. Doch du, deine Frau, das ungeborene Kind und die Kinder, die du schon hast, ihr alle habt meinen Segen. Ich danke euch, daß ihr gekommen seid. Nun geht. Begleite sie auf dem Weg bis hinter das Haus des Simon, damit sie nicht gesehen werden... Ich kehre ins Haus zurück. Der Friede sei mit euch ...»

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641. DER SABBAT VOR DEM EINZUG IN JERUSALEM; III. DAS GASTMAHL IN BETHANIEN

Das Gastmahl ist in dem ganz weißen Saal vorbereitet, in dem Jesus mit den Jüngerinnen gesprochen hat. Alles glänzt in Weiß und Silber, was etwas kalt wirken könnte, wenn nicht Apfel-, Birn- oder andere Obstbaumzweige diesen Eindruck mildern würden. Ihre makellosen Blüten schimmern in einem so leichten Hauch von Rosa, daß sie an Schnee erinnern, den der Kuß einer fernen Morgenröte streift. Die Zweige stecken in bauchigen Vasen oder schlanken silbernen Amphoren auf den Tischen, Kästen und Anrichten entlang den Wänden, und ihre Blüten erfüllen den Saal mit dem typischen Duft von Obstbaumblüten, Frische und Herbheit des reinen Frühlings...

Lazarus betritt an der Seite Jesu den Saal. Hinter ihnen kommen zu zweit oder in größeren Grüppchen die Apostel. Zuletzt die beiden Schwestern des Lazarus mit Maximinus.

Ich sehe die Jüngerinnen nicht, und nicht einmal Maria. Vielleicht haben sie es vorgezogen, zusammen mit der betrübten Mutter im Haus des Simon zu bleiben.

Der Tag neigt sich seinem Ende zu. Aber die letzten Strahlen der Sonne fallen noch auf die rauschenden Wipfel einiger Palmen, die nur wenige Meter vom Saal entfernt beisammen stehen, und die Krone eines gigantischen Lorbeerbaumes, in dem die Spatzen streiten, bevor sie schlafen gehen. Hinter den Palmen und dem Lorbeerbaum, den Rosen- und Jasminhecken, den Beeten mit Maiglöckchen, sonstigen Blumen und duftenden Pflänzchen leuchtet ein schneeweißer, mit dem zarten Grün der ersten Blättchen gesprenkelter Fleck: einige spätblühende Apfel- oder Birnbäume im Obstgarten. Es sieht aus, als sei eine Wolke in den Zweigen hängengeblieben.

Jesus bemerkt, als er an einem Krug mit blühenden Zweigen vorübergeht: «Sie haben schon kleine Früchte, seht nur. Oben sind noch Blüten , weiter unten aber sind sie bereits abgefallen, und der Fruchtknoten beginnt anzuschwellen.»

«Es war Maria, die sie pflücken wollte. Sie hat auch deiner Mutter einige Sträuße gebracht. Sie ist schon bei Sonnenaufgang aufgestanden, da sie befürchtete, daß ein weiterer Sonnentag die empfindlichen Blüten vernichten könnte. Ich habe jetzt erst von dieser Verwüstung erfahren. Aber ich habe mich nicht darüber empört wie die Landarbeiter. Ich habe vielmehr gedacht, es ist nur recht und billig, dir, dem König aller Dinge, alle Schönheiten der Schöpfung zu schenken.»

Jesus setzt sich lächelnd an seinen Platz und betrachtet Maria, die sich mit ihrer Schwester anschickt, wie eine Magd zu dienen. Sie bietet die

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Gefäße für die Reinigung und die Handtücher an, gießt dann den Wein in die Kelche und stellt nach und nach die Platten mit den Speisen auf die Tische, sowie sie die Diener aus der Küche bringen oder sie von den Anrichten herüberreichen, auf denen sie sie aufgeschnitten haben.

Obwohl die beiden Schwestern alle Geladenen zuvorkommend bedienen, konzentriert sich ihre Aufmerksamkeit natürlich auf die beiden, die ihnen am teuersten sind: Jesus und Lazarus.

Auf einmal sagt Petrus, der herzhaft zugreift: «Sieh einer an! Erst jetzt bemerke ich, daß alle Gerichte so zubereitet sind wie in Galiläa. Ich fühle mich... Ja, ich fühle mich wie bei einem Hochzeitsmahl. Doch hier fehlt es nicht an Wein, wie damals in Kana.»

Maria mischt dem Apostel lächelnd einen neuen Kelch mit bernsteinfarbenem, klarem Wein. Aber sie sagt nichts.

Es ist wieder Lazarus, der erklärt: «Es war auch wirklich die Absicht meiner Schwestern, besonders Marias, ein Mahl zu bereiten, bei dem sich der Meister wie in Galiläa fühlen würde; wie in seinem Galiläa, das, wenngleich auch nicht vollkommen, so doch besser, viel besser als diese Gegend hier ist ...»

«Damit er sich wie zu Hause fühlt, müßte Maria mit am Tisch sein. In Kana war sie dabei. Und ihretwegen hat der Meister das Wunder gewirkt», bemerkte Jakobus des Alphäus.

«Es muß ein großartiger Wein gewesen sein!»

«Der Wein ist das Sinnbild des Frohsinns und müßte auch das der Fruchtbarkeit sein, da er der Saft der fruchtbaren Rebe ist. Aber mir scheint nicht, daß er viel genützt hat. Susanna ist immer noch kinderlos», bemerkt Iskariot.

«Oh, und ob es ein guter Wein war! Er hat unseren Geist befruchtet ...»sagt Johannes etwas träumerisch, wie immer, wenn er im Geist die von Gott gewirkten Wunder betrachtet. Und er fügt hinzu: «Für eine Jungfrau wurde das Wunder gewirkt... Und wer davon getrunken hat, hat die Wirkung der Reinheit gefühlt.»

«Hältst du Susanna denn für eine Jungfrau?» fragt Iskariot lachend.

«Das habe ich nicht gesagt. Die Mutter des Herrn ist Jungfrau, und Jungfräulichkeit strahlt aus allem, was für sie getan wird. Ich habe immer das Gefühl, daß alles, was man für Maria tut, jungfräulich ist ...» und Johannes träumt wieder und lächelt wer weiß welcher Vision zu.

«Selig dieser Jüngling! Ich glaube, er ist sich im Augenblick gar nicht bewußt, daß er auf der Welt ist. Seht ihn euch nur an», sagt Petrus und zeigt auf Johannes, der auf seinem Lager liegt, gedankenverloren mit Brotstückchen spielt und ganz vergißt zu essen.

Auch Jesus dreht sich etwas um und schaut Johannes an, der sich an einer Seite der in U-Form angeordneten Tische befindet und daher hinter dem Rücken des Meisters. Dieser liegt in der Mitte am mittleren Tisch,

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seinen Vetter Jakobus zur Linken und Lazarus zur Rechten. Nach Lazarus kommen der Zelote und Maximinus, neben Jakobus der andere Jakobus und Petrus. Johannes befindet sich zwischen Andreas und Bartholomäus. Dann kommt Thomas, und gegenüber sind Judas, Philippus, Matthäus und Thaddäus, letzterer an der Ecke, wo der lange mittlere Tisch beginnt.

Maria des Lazarus verläßt den Saal, während Martha Tabletts auf die Tische stellt mit den schönsten ersten Feigen, grünen Fenchelstengeln, frischen geschälten Mandeln, goldenen Orangen und Erdbeeren oder Himbeeren – ich weiß es nicht – die noch röter leuchten neben dem blassen Smaragdgrün des Fenchels und der Blumen und dem milchigen Weiß der Mandeln und der kleinen Melonen, oder einem ähnlichen Obst... es scheinen die kleinen grünen Melonen aus Unteritalien zu sein.

«Gibt es denn schon solche Früchte? Ich habe noch nirgends reife gesehen», sagt Petrus, der die Augen weit aufreißt, als er die Erdbeeren und die Melonen sieht.

«Sie sind zum Teil vom Küstengebiet jenseits von Gaza, wo ich einen Garten mit diesen Früchten habe, zum Teil von den Sonnenterrassen über dem Haus, den Gewächshäusern für die empfindlicheren Pflanzen, die vor dem Frost geschützt werden müssen. Ein römischer Freund hat mir gezeigt, wie man sie anbaut... Es war das einzige Gute, das er mich gelehrt hat...» Sein Gesicht verfinstert sich. Martha seufzt... Doch Lazarus wird sofort wieder der perfekte Gastgeber, der seine Gäste nicht traurig stimmen möchte. «Auf den Landgütern um Baiae und Syrakus und am weiten Golf von Sybaris pflegt man diese Köstlichkeiten so anzubauen, um sie vor der Zeit genießen zu können. Eßt: die letzten Früchte der Orangenbäume Libyens, die ersten der sonnigen Melonenfelder Ägyptens und der Gärten Latiums, die weißen Mandeln unserer Heimat, die zarten Bohnen, die verdauungsfördernden Stengel, die nach Anis schmecken... Martha, hast du an das Kind gedacht?»

«Ich habe an alles gedacht. Maria war ganz gerührt bei der Erinnerung an Ägypten.»

«Wir hatten einige Pflanzen in dem armseligen Garten. Bei der großen Hitze war es ein Fest, wenn man die Melonen in den tiefen, kühlen Brunnen des Nachbarn hängen konnte, um sie dann am Abend zu essen... Ich erinnere mich noch daran... Und ich hatte eine naschhafte Ziege, auf die man achtgeben mußte, denn sie hatte eine Vorliebe für zarte Pflanzen und Früchte...» Jesus, der bis dahin mit leicht geneigtem Haupt gesprochen hat, hebt nun den Kopf und betrachtet die Palmen, die im leichten Abendwind rauschen. «Wenn ich diese Palmen sehe... Immer wenn ich Palmen sehe, sehe ich Ägypten wieder, seinen gelben, sandigen Boden, den der Wind so leicht davontrug. Und in der Ferne flimmerten die Pyramiden in der dünnen Luft... und die hohen, schlanken Stämme der Palmen... und

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das Haus, in dem... Aber es ist besser, nicht davon zu reden. Jede Zeit hat ihre Plage. Und mit der Plage auch ihre Freude... Lazarus, würdest du mir einige dieser Früchte geben? Ich möchte sie Maria und Matthias bringen. Ich glaube nicht, daß Johanna solche hat.»

«Nein, sie hat keine. Sie hat es gestern gesagt und sich vorgenommen, sie in Bether anzupflanzen, wenn die Gewächshäuser errichtet sind. Aber ich kann sie dir jetzt noch nicht geben. Ich habe alle gepflückt, die es gab, und die anderen werden erst in einigen Tagen reif sein. Dann schicke ich sie dir, oder du kannst sie bis Donnerstag abholen lassen. Wir werden einen hübschen Korb für die Kinder vorbereiten, nicht wahr, Martha?»

«Ja, mein Bruder. Und wir werden die kleinen Lilien der Maiglöckchen dazulegen, die Johanna so sehr liebt.»

Maria Magdalena kommt wieder herein. Sie bringt eine Amphore mit schlankem Hals, der in einem Schnabel endet und elegant wie eine Vogelkehle geschwungen ist. Der wertvolle gelbliche Alabaster hat einen leichten Rosaton, wie die Haut mancher Blondinen. Die Apostel sehen sie an, vielleicht in Erwartung einer besonderen Leckerei. Aber Maria geht nicht in die Mitte des U, das die Tische bilden und wo ihre Schwester sich befindet. Sie geht hinten an den Liegen vorbei und bleibt zwischen Jesus und Lazarus auf der einen und den beiden Jakobus auf der anderen Seite stehen.

Sie öffnet das Alabastergefäß und hält die Hand unter den Schnabel, um einige Tropfen einer dicken Flüssigkeit aufzufangen, die langsam aus dem geöffneten Krug quillt. Der intensive Geruch von Tuberosen und anderen Essenzen, ein herrlicher Duft, verbreitet sich im Saal. Doch Maria ist nicht zufrieden mit dem wenigen, das heraustropft. Sie bückt sich und schlägt den Hals der Amphore kurz und fest gegen die Lehne des Ruhebettes Jesu. Der dünne Hals fällt zu Boden und bespritzt den Marmor mit duftenden Tropfen. Nun hat die Amphore eine größere Öffnung und das zähflüssige Öl läuft heraus.

Maria stellt sich hinter Jesus und träufelt das dicke Öl auf das Haupt ihres Meisters, befeuchtet damit alle Locken, reibt sie ein und bringt sie dann wieder in Ordnung mit einem Kamm, den sie aus ihrem Haar zieht * Das angebetete Haupt ihres Jesus! Sein rotblondes Haar glänzt und leuchtet wie dunkles Gold nach dieser Salbung. Das Licht des Leuchters, den die Diener angezündet haben, spiegelt sich auf dem blonden Haupt wie auf einem herrlich verzierten Bronzehelm. Der Duft ist betäubend. Er dringt in die Nase, steigt in den Kopf und reizt fast wie Nießpulver, so stark ist er, da das Öl im Übermaß verwendet wird.

Lazarus, der hinter sich schaut, lächelt, als er sieht, mit welcher Sorgfalt Maria die Haare Jesu salbt und dann kämmt, damit alles wieder schön in Ordnung ist nach dieser duftenden Einreibung. Sie achtet nicht darauf, daß ihre Zöpfe immer weiter auf den Hals und bald schon auf den

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Rücken herabgleiten, da nun der Kamm fehlt, der sie zuvor zusammen mit den Nadeln gehalten hat. Auch Martha schaut zu und lächelt. Die anderen unterhalten sich leise und mit unterschiedlichem Gesichtsausdruck.

Aber Maria ist noch nicht zufrieden. Es ist noch viel Öl in dem Gefäß mit dem abgebrochenen Hals, und das dichte Haar Jesu ist schon genug gesalbt. Da wiederholt Maria die Liebesgeste eines fernen Abends. Sie kniet vor dem Ruhebett nieder, löst die Schnallen der Sandalen Jesu und zieht sie ihm aus. Dann taucht sie die Finger ihrer schönen schlanken Hand in das Gefäß, entnimmt ihm so viel Salbe als möglich und reibt damit die nackten Füße ein, Zehe um Zehe, dann die Fußsohle, die Ferse und den Knöchel, nachdem sie den Saum des Leinenkleides zurückgestreift hat, und schließlich den Rist. Sie verweilt an der Stelle, wo die furchtbaren Nägel ihn durchbohren werden. Als sie keinen Balsam mehr findet in dem Gefäß, zerbricht sie es auf dem Boden. Und da ihre Hände nun frei sind, zieht sie die großen Haarnadeln aus dem Haar, löst die schweren Zöpfe auf und wischt mit diesen goldenen, lebenden, weichen, fließenden Strähnen das überflüssige Öl von den Füßen Jesu.

Judas – der bisher geschwiegen und mit lüsternen, neidvollen Blicken die schöne Frau und den Meister, dessen Kopf und Füße sie salbt, betrachtet hat – spricht jetzt laut. Es ist die einzige Stimme lauten Tadels; denn die anderen, nicht alle, nur einige, haben ihrem erstaunten Unmut nur durch Gesten oder leiser Worte Luft gemacht. Judas hingegen, der sogar aufgestanden ist, um die Salbung der Füße Christi besser sehen zu können, sagt unfreundlich: «Was für eine unnütze, heidnische Verschwendung! Mußte das sein? Und dann sollen die Vorsteher des Synedriums nicht von Sünde sprechen! Das sind Handlungen einer unzüchtigen Kurtisane, und sie passen nicht zu dem neuen Leben, das du jetzt führst, o Frau. Sie erinnern zu sehr an deine Vergangenheit!»

Die Beschimpfung ist so unverschämt, daß alle bestürzt sind. Keiner bleibt ruhig. Einige setzen sich auf ihren Lagern auf, andere springen auf die Füße, und alle starren Judas an, als ob er plötzlich den Verstand verloren hätte.

Martha wird rot, und Lazarus springt auf, schlägt mit der Faust auf den Tisch und ruft: «In meinem Haus...» Doch dann schaut er Jesus an und beherrscht sich.

«Ja, ihr schaut mich an. Alle habt ihr in euren Herzen gemurrt. Aber nun, da ich es ausgesprochen habe, da ich offen gesagt habe, was ihr denkt, seid ihr sofort bereit, mir Unrecht zu geben. Ich wiederhole, was ich gesagt habe. Ich will nicht sagen, daß Maria die Geliebte des Meisters ist. Aber ich möchte betonen, daß gewisse Handlungen sich weder für sie noch für ihn geziemen. Maria hat unklug und auch ungerecht gehandelt. Ja! Warum diese Verschwendung? Wenn sie die Erinnerung an ihre Vergangenheit tilgen wollte, hätte sie das Gefäß und das Öl mir geben können. Es war

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mindestens ein Pfund reinstes Nardenöl. Und sehr wertvoll. Ich hätte es für wenigstens dreihundert Denare verkauft, denn Nardenöl dieser Art kostet so viel. Und ich hätte auch das Gefäß verkaufen können, denn es war sehr schön und kostbar. Das Geld hätte ich den Armen gegeben, die uns immer umlagern. Es reicht ja nie für alle. Und morgen in Jerusalem werden uns unzählige um Almosen bitten.»

«Das ist wahr», stimmen die anderen bei. «Sie hätte etwas für den Meister verwenden können und das übrige ...»

Maria von Magdala scheint taub zu sein. Sie trocknet immer noch die Füße Jesu mit ihren aufgelösten Haaren, die nun unten schon schwer von Öl und dunkler als oben auf dem Kopf sind. Die Füße Jesu, von der Farbe alten Elfenbeins, sind so glatt und weich, als hätten sie eine neue Haut bekommen. Maria legt Jesus wieder die Sandalen an und küßt jeden Fuß vorher und nachher noch einmal. Sie ist taub für alles, was nicht ihre Liebe zu Jesus ist.

Jesus verteidigt sie, legt eine Hand auf das zum letzten Kuß über seinen Fuß gebeugte Haupt und sagt: «Laßt sie. Warum betrübt und kränkt ihr sie? Ihr wißt nicht, was sie getan hat. Maria hat nicht unziemlich gehandelt, sondern ein gutes Werk an mir vollbracht. Die Armen werdet ihr immer unter euch haben. Ich aber verlasse euch bald. Sie werdet ihr immer haben, mich aber habt ihr nicht immer. Den Armen werdet ihr immer Almosen geben können. Mir, dem Menschensohn unter den Menschen, könnt ihr bald keinerlei Ehre mehr erweisen, weil die Menschen es so wollen und weil die Stunde gekommen ist. Die Liebe ist für Maria Erleuchtung. Sie fühlt, daß meine letzte Stunde naht, und da sie dieses Salböl über meinen Leib ausgegossen hat, hat sie es für mein Begräbnis getan. Wahrlich, ich sage euch, wo immer die Frohe Botschaft verkündet wird, da wird auch dieser Tat ihrer prophetischen Liebe gedacht werden. Auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten. Wollte Gott, daß aus jedem Geschöpf eine andere Maria würde, die den Wert der irdischen Dinge nicht berechnet, keine Anhänglichkeit an sie nährt und nicht die geringste Erinnerung an die Vergangenheit bewahrt, sondern alles vernichtet und mit Füßen tritt, was fleischlich und weltlich ist, die sich selbst vernichtet und sich verausgabt, wie sie es mit dem Nardenöl und dem Alabaster getan hat, aus Liebe zu ihrem Herrn. Weine nicht, Maria. Ich wiederhole dir in diesem Augenblick die Worte, die ich zu Simon, dem Pharisäer, und zu Martha, deiner Schwester, gesagt habe: "Alles ist dir verziehen, denn du hast vollkommen geliebt." Du hast den besseren Teil erwählt, und er wird dir nicht genommen werden. Geh in Frieden, mein sanftes, wiedergefundenes Lamm. Geh in Frieden. Die Weideplätze der Liebe werden auf ewig deine Nahrung sein. Steh auf. Küsse auch meine Hände, die dich gesegnet und losgesprochen haben... Wie viele haben meine Hände losgesprochen, gesegnet und geheilt, wie vielen haben sie Wohltaten erwiesen! Und doch sage ich euch,

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das Volk, dem ich Wohltaten erwiesen habe, ist schon bereit, diese Hände zu durchbohren ...»

Ein beklemmendes Schweigen erfüllt die schwere, stark duftende Luft. Maria, deren offenes Haar wie ein Mantel über ihre Schultern fällt und ihr Gesicht verschleiert, küßt die rechte Hand, die Jesus ihr reicht, und kann ihre Lippen nicht mehr von ihr lösen...

Martha ist gerührt. Sie kommt herbei, nimmt das offene Haar, flicht es unter Liebkosungen in Zöpfe und versucht, die Tränen auf den Wangen damit zu trocknen.

Niemand hat mehr Lust zu essen... Die Worte Jesu stimmen nachdenklich. Der erste, der sich erhebt, ist Judas des Alphäus. Er bittet um Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen. Jakobus, sein Bruder, folgt ihm, und ebenso Andreas und Johannes. Die anderen bleiben, haben sich aber erhoben und waschen sich die Hände in den silbernen Becken, die ihnen die Diener reichen. Maria und Martha bedienen Jesus und Lazarus.

Ein Diener kommt herein und beugt sich zu Maximinus, um mit ihm zu sprechen. Dieser sagt, nachdem er ihn angehört hat: «Meister, es sind Leute da, die dich sehen möchten. Sie sagen, daß sie von weither kommen. Was sollen wir tun?»

Jesus ruft Philippus, Jakobus des Zebedäus und Thomas und ordnet an: «Geht, predigt und heilt in meinem Namen. Verkündet allen, daß ich morgen zum Tempel hinaufgehen werde.»

«Ist es gut, dies zu sagen, Herr?» fragt Simon der Zelote.

«Es verschweigen zu wollen, würde nichts nützen; denn die Feinde haben diese Nachricht in der heiligen Stadt schon mehr als die Freunde verbreitet. Geht.»

«Nun, solange es die Freunde wissen... Diese verraten nichts. Ich verstehe nicht, von wem es die anderen erfahren haben.»

«Unter vielen Freunden gibt es immer einen Feind, Simon des Jonas. Es sind nun schon zu viele... Freunde, und sie werden zu leicht als solche akzeptiert. Wenn ich daran denke, wieviel ich beten und warten mußte... ! Aber es war in der ersten Zeit, und da war man noch vorsichtig. Dann kamen die Siege und machten blind, und man wurde unvorsichtig. Das war ein Fehler. Aber so ergeht es allen Siegern. Die Siege trüben den Blick und verleiten zu weniger umsichtigem Handeln. Ich spreche natürlich von uns Jüngern. Nicht vom Meister. Er ist vollkommen. Wären wir zwölf allein geblieben, bräuchten wir keinen Verrat zu befürchten», lügt Judas von Kerioth schamlos.

Der Blick, den Jesus dem verräterischen Apostel zuwirft, ist unbeschreiblich. Ein mahnender Blick, voll unsäglichem Leid. Aber Judas achtet nicht darauf. Er geht an dem Tisch vorbei und will den Raum verlassen. Jesus folgt ihm mit den Augen, und als er sieht, daß er wirklich hinausgehen will, fragt er: «Wohin gehst du?»

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«Hinaus», antwortet Judas ausweichend.

«Aus diesem Raum oder aus dem Haus?»

«Hinaus... Nur so... um mich ein wenig zu bewegen.»

«Geh nicht, Judas. Bleib bei mir, bei uns ...»

«Deine Brüder und auch Johannes und Andreas sind gegangen. Warum soll ich nicht gehen?»

«Du willst nicht gehen, um dich auszuruhen, wie sie...»

Judas antwortet nicht, sondern geht eigensinnig hinaus. Niemand spricht mehr im Saal. Die Gastgeber und die vier zurückgebliebenen Apostel, Petrus, Simon, Matthäus und Bartholomäus, schauen sich an.

Jesus schaut hinaus. Er ist aufgestanden und an ein Fenster gegangen, um die Bewegungen des Judas zu verfolgen. Als er sieht, daß Judas, den Mantel um die Schultern, das Haus verläßt und sich zum Tor begibt, das man von hier aus nicht sieht, ruft er ihn laut: «Judas, warte auf mich. Ich muß dir etwas sagen.» Dann wehrt er sanft Lazarus ab, der ihm einen Arm um die Taille gelegt hat, da er ahnt, daß Jesus leidet, verläßt den Saal und holt Judas ein, der zwar etwas langsamer gegangen, aber nicht stehengeblieben ist. Er erreicht ihn, als dieser gut ein Drittel der Entfernung zwischen dem Haus und der Umzäunung zurückgelegt hat und sich bei einem Gebüsch aus dichtbelaubten Gewächsen befindet; diese haben fette Blätter, die dunkelgrüner Keramik gleichen, und unzählige Büschel kleiner Blüten. Jede Blüte ist ein Kreuzchen aus dicken, wächsernen, leicht gelblichen und stark duftenden Blütenblättern. Ihren Namen kenne ich nicht.

Jesus zieht Judas hinter dieses Gebüsch und hält ihn am Arm fest. Er fragt noch einmal: «Wohin gehst du, Judas? Ich bitte dich, bleibe hier!»

«Warum fragst du, da du doch alles weißt? Wenn du in den Herzen der Menschen lesen kannst, dann brauchst du doch nicht zu fragen. Du weißt, daß ich zu meinen Freunden gehe. Du erlaubst mir nicht, zu ihnen zu gehen. Sie drängen mich zu kommen, und ich gehe.»

«Deine Freunde? Deine Verderber, mußt du sagen! Du gehst ins Verderben. Du gehst zu deinen Mördern. Geh nicht, Judas! Geh nicht! Du gehst, um ein Verbrechen zu begehen... Du ...»

«Ah, du hast Angst?! Du hast endlich Angst?! Du fühlst dich endlich Mensch! Du bist ein Mensch! Nichts als ein Mensch! Denn nur der Mensch hat Angst vor dem Tod. Gott weiß, daß er nicht sterben kann. Wenn du Gott wärest, wüßtest du, daß du nicht sterben kannst und hättest keine Angst. Du aber hast jetzt, jetzt, da du den Tod nahen fühlst, diese Angst, die alle Menschen haben. Und du versuchst mit allen Mitteln, sie zu vertreiben und siehst in allem und überall nur Gefahr. Wo ist denn dein schöner Mut? Wo sind die überzeugenden Beteuerungen, daß du glücklich bist, daß du danach dürstest, das Opfer zu vollbringen? Nicht einmal ein Echo davon ist dir im Herzen geblieben! Du hast geglaubt, diese Stunde

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würde niemals kommen, hast den Starken gespielt, den Großmütigen, und feierliche Worte gesprochen. Geh! Du bist nicht anders als die, die du scheinheilig nennst! Du hast uns geschmeichelt und uns verraten. Und wir, wir haben alles für dich verlassen! Wir, die wir jetzt deinetwegen gehaßt werden! Du bist die Ursache unseres Verderbens...»

«Genug. Geh! Geh! Es sind noch nicht viele Stunden vergangen, seit du mir gesagt hast: "Hilf mir zu bleiben! Verteidige mich!" Ich habe es getan. Und was hat es genützt? Sage mir nur noch eines und überlege, bevor du mir antwortest. Ist es dein eigener freier Wille, daß du zu deinen Freunden gehst und sie mir vorziehst?»

«Ja, das ist es. Ich brauche nicht erst nachzudenken, denn schon lange will ich nur dies.»

«Dann geh. Gott zwingt den Willen des Menschen nicht.»

Jesus kehrt ihm den Rücken und geht langsam zum Haus zurück. Als er schon fast angekommen ist, hebt er den Kopf, da er den auf ihn gerichteten Blick des Lazarus, der noch an derselben Stelle steht, fühlt. Es ist ein sehr blasses Gesicht, das sich nun bemüht, dem treuen Freund zuzulächeln.

Jesus kehrt in den Saal zurück, in dem die vier Apostel mit Maximinus sprechen, während Maria und Martha die Arbeit der Diener überwachen, die den Saal wieder in Ordnung bringen und das Geschirr und die Tischwäsche abräumen, die man beim Mahl gebraucht hat.

Lazarus ist auf der Schwelle erschienen, hat Jesus wieder einen Arm um die Hüfte gelegt und im Vorbeigehen einem Diener befohlen: «Bringe mir die Schriftrolle, die auf dem Tisch in meinem Arbeitszimmer liegt.»

Lazarus geleitet Jesus zu einem der bequemen Sitze in den Fensternischen und bittet ihn, Platz zu nehmen. Doch Jesus bleibt stehen und gibt sich Mühe, Lazarus zuzuhören... Aber man sieht deutlich, daß seine Gedanken anderswo sind und daß sein Herz sehr betrübt ist; und als er merkt, daß seine Apostel ihn beobachten und nähergekommen sind, lächelt er, um den Verdacht der ihn Umgebenden zu zerstreuen, die mit ihren Nachbarn flüstern, einander vielsagende Blicke zuwerfen und auf den Meister zeigen.

Der Diener kehrt mit der Schriftrolle zurück, und Petrus, der sieht, daß der Inhalt dieses Pergaments seinen Verstand übersteigt, zieht sich zurück mit den Worten: «Die Fische beißen bei gewissen Ködern nicht an. Es ist besser, wenn ich mit Maximinus über Pflanzen und Kulturen rede.»

Martha setzt ihre Arbeit fort, während Maria schweigend Lazarus zuhört, der den Meister auf einige Stellen in den Pergamentrollen aufmerksam macht und sagt: «Hat dieser Heide nicht eine außergewöhnliche Fähigkeit, die Dinge vorauszusehen? Mehr als viele von uns. Vielleicht... wenn er hier gelebt hätte, jetzt, da du unser Meister bist, wäre er einer deiner Jünger geworden, und einer der besten. Er hätte dich verstanden wie

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wenige von uns. Und welches Epos hätte sein Genie aus der Bewunderung für dich gemacht! Deine Worte, gesammelt und bewahrt von einem trotz seines Heidentums erleuchteten Geist. Dein Leben, beschrieben von diesem offenen und klaren Geist! Wir haben keine Dichter und Schriftsteller mehr. Du bist zu spät auf die Welt gekommen. Wie haben doch der Egoismus des Lebens und der religiös-soziale Verfall alle Poesie und alle Genialität in uns zum Erlöschen gebracht! Was unsere Weisen und Propheten von dir geschrieben haben ohne dich zu kennen, hat in keiner der lebenden Stimmen deiner Jünger ein Echo gefunden. Deine Bevorzugten, deine Getreuen sind zum großen Teil ungebildete Leute. Und die anderen... Nein, wir haben keine Kohelet mehr, um den Menschen deine Weisheit und deine Gestalt zu überliefern. Wir haben sie nicht mehr, denn es fehlt mehr der Geist und der Wille als die Fähigkeit, es zu tun. Der aus menschlicher Sicht gehobenere Teil Israels ist taub und stumm wie ein Fisch und kann nicht mehr die Herrlichkeit und die Wunder Gottes besingen. Ich fürchte, daß man alles vergessen oder verfälschen wird, teils aus Unfähigkeit, teils aus bösem Willen ...»

«Das wird nicht geschehen. Wenn der Geist des Herrn sich in den Herzen niedergelassen hat, wird er meine Worte wiederholen und ihren Sinn erklären. Der Geist Gottes ist es, der durch den Mund des Christus spricht... Später wird er direkt zu den Seelen sprechen und sie an meine Worte erinnern.»

«Oh, wenn dies nur bald geschehen würde! Bald, denn nur wenige hören deine Worte an und noch wenigere verstehen sie. Ich glaube, daß das Brausen des Geistes Gottes mächtig, gleich dem Brausen lodernden Feuers, sein wird, um den Seelen mit Gewalt einzubrennen, was sie nicht annehmen wollten, als es süß und sanft war. Ich denke, daß der flammende Geist mit seinem Feuer die lauen und gleichgültigen Gewissen verbrennen und ihnen deine Worte einprägen wird. Die Welt wird dich lieben müssen. Der Allerhöchste will es! Aber wann wird dies geschehen?»

«Wenn ich mich im Opfer der Liebe verzehrt habe, wird die Liebe kommen. Sie wird wie eine schöne Flamme sein, die von dem dargebrachten Opfer aufsteigt. Und diese Flamme wird nicht erlöschen, denn das Opfer wird kein Ende haben. So wie es begonnen hat, wird es bestehen, solange die Welt besteht.»

«Aber dann... mußt du wirklich geopfert werden, damit dies geschieht?»

«So ist es.» Jesus macht die übliche Bewegung, mit der er seine Ergebung in sein Schicksal ausdrückt. Er breitet die Arme aus, mit nach außen gekehrten Händen, und neigt das Haupt. Dann erhebt er es wieder, lächelt dem betrübten Lazarus zu und sagt: «Die unkörperliche Stimme des Geistes der Liebe wird nicht wie ein gewaltiges Brausen sein, sondern sanft wie die Liebe, die zart wie der Wind des Nisan und doch auch stark wie der Tod ist. Das unergründliche Wirken der Liebe! Die Ergänzung,

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die Vervollständigung meiner Sendung... Ich fürchte nicht, so wie du, daß etwas von dem, was ich gegeben habe, verlorengehen wird. Vielmehr sage ich dir, wahrlich, Lichtstrahlen werden auf meine Worte fallen, und ihr werdet ihren Geist erkennen. Ich gehe beruhigt, denn ich vertraue meine Lehre dem Heiligen Geist an und meinen Geist dem Vater.»

Jesus neigt nachdenklich das Haupt. Dann legt er die Schriftrolle, der Anlaß des Gespräches, auf eine Art Anrichte oder Truhe aus Ebenholz oder einem anderen dunklen Holz, die ganz mit gelblichem Elfenbein eingelegt ist und die vier Diener aus dem anliegenden Zimmer hereingetragen haben, um nach den Anweisungen Marthas das wertvolle Geschirr darin aufzubewahren. Er sagt zu Lazarus: «Komm mit mir hinaus. Ich muß mit dir sprechen.»

«Sofort, Herr.» Lazarus erhebt sich von dem Stuhl, auf den er sich gesetzt hat, und folgt Jesus in den Garten, der schon fast im Dunkeln liegt, da am Himmel das letzte Tageslicht erlischt und der erste schwache Schein des Mondes sich noch kaum bemerkbar macht.

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Gepriesen sei Gott unser Vater, unser Schöpfer,
Gepriesen sei Jesus Christus, der sich aus Liebe für uns geopfert hat,

Gepriesen sei der Hl. Geist, der unser Lehrmeister sein möchte.

 

 

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